Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller: Band 106 August 1907 [Reprint 2021 ed.] 9783112468043, 9783112468036

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Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller: Band 106 August 1907 [Reprint 2021 ed.]
 9783112468043, 9783112468036

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Behandlungen, Mitteilungen

Berichte

CeilllglVkrbMdks Dkutslhkl Industrieller M 106. ^erausgegeben

Geschäftsführer M. M. Kueck, Berlin W., Karlsbad ^a. Telephon: Nr. 2527 Amt VI

August 1907.

Berlin 1907. I. Gnttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H.

Inhaltsverzeichnis. Seite

I. Wilhelm von Starborff t

7

................................................................

n. Sozialpolitik im neuen Reichstage von H. A. Bueck

11

Die Auflösung des Reichstags und die Neuwahlen....................

11

Die allgemeine Stellung derJndustriellen und des Centralverbandes

13

Die groben, in die Verhältnisse der Industrie eingreifenden Fragen

14

Die Sozialpolitik..................................................................................

16

Die Stellung des Fürsten von Bismarck zur Sozialpolitik und der neue Kurs.........................................................................................17 Der § 153 der R G. O. und die sogenannte Zuchthausvorlage

.

Die veränderte Haltung der Regierung.......................................

18 19

Die Mehrheit des Reichstags und die Sozialpolitik.......................... 20

Die Verhandlungen über sozialpolitische Angelegenheiten im neuen Reichstag...................................................................................................23

Die Stellung des Zentrums.............................

24

Bassermann für die Nationalliberalen... Der Reichskanzler . Bebel.................................................

26

... ....

Die zweite Rede des Reichskanzlers

29 31

36

Der Redner der Deutsch-Konservativen..................................................42 Die deutsch-freifinnige Volkspartei.................................................

43

Gamp als Redner der Reichspartei.......................................................44 Die Vertreter der übrigen Parteien und das Bemerkenswertere aus den weiteren Verhandlungen.......................................................48

Singer und die Farbwerke Friedrich Bayer L Co................................ 51 Graf von Posadowsky über die Zölle.................................................. 52 Der Vertreter der christlich-nationalen Arbeiter................................... 54

4 Seite

Der Staatssekretär gegen den Abg. Gamp und dessen Erwiderung

56

Die sozialpolitischen Initiativanträge — Inhalts - Uebersicht und Wortlaut derselben....................................................................

60

Bemerkungen zu den Initiativanträgen

.108

Der zweite Akt der sozialpolitischen Verhandlungen: Die Interpellation Trimborn und deren Begründung........................ 111

Die Beantwortung der Interpellation durch Graf von Posadowsky

117

Die Besprechung der Interpellation: Der Nationalliberale Dr. Hieber

122

Der Konservative Hennig

127

.

Der Sozialdemokrat Hue.......................................

129

Die Fortsetzung der Besprechung am zweiten Tage: Dr. Mugdan für die deutsch-freisinnige Volkspartei.

137

Das Mitglied der Reichspartei von Dirksen........................

138

Die weiteren Reden, insbesondere die des Führers der christlichen Gewerkschaften Giesberts....................................................................140 Das Ergebnis der zweitägigen Besprechung.............................

150

Die Interpellation der Abgg. Heul zu Herrnsheim und Dr. Sttresemann betreffend die Verhältnisse der Privatbeamten . .

151

Der dritte Akt: Die sozialpolitischen Verhandlungen bei der Be­ ratung des Etats des Reichsamts des Innern

152

Die sozialpolitischen Forderungen des Zentrums .

.

154

Die Abgg. Bassermann, Raab und Mugdan

.

156

Dr. Naumann..............................................................................

158

Graf von Posadowsky gegen die Ausführungen Naumanns

172

Das sozialpolitische Programm des Staatssekretärs, insbesondere auch hinsichtlich der Arbeiter-Bersicherungsgesetze

176

Abg. Pauli zur Witwen- und Waisenversicherung

183

Abg. Dr. Stresemann

...

.

.................................................183

Die Bedeutung der Anerkennung oder Nichtanerkennung Arbeiterorganisationen..........................................................

der

Schluß der Ausführungen des Abg. Dr. Stresemann ....

186 188

Abg. Giesberts............................................................................................ 188 Graf von Posadowsky, Beantwortung der im Laufe der Verhand­ lungen an ihn gerichteten Fragen..................................................... 189

Abg. Dr. Semler, Streik und sonstige Verhältnisse im Hamburger Schiffahrtsgewerbe

195

Abg. von Dirksen....................................................................................... 195

Die sozialdemokratische „Regel der Psychologie" und der frühere Agitator John Burns .196 Fortsetzung der Rede des Abg. von Dirksen........................

197

Graf von Posadowsky über den Schutzder Arbeitswilligen

200

D



Seite Der christlich-nationale Gewerkschaftsführer Abg. Schiffer

...

201

Erklärung des Kaiserl. Geh. Regierungsrat Dr. Beckmann zu der Resolution betr. § 34 des Gew.-Unfallvers.-Ges. v. 5. Juli 1900 (Beiträge zum Reservefonds)...............................................................203

Abg. von Staudy, besonders Anfrage betr. Zusammenlegung der Arbeiter-Versicherungsgesetze.............................................................. 203

Graf von Posadowsky über die Zusammenlegung der ArbeiterVersicherungsgesetze .................................................

205

Abstimmung über die zum Etat des Reichsamts des Innern ein­ gebrachten sozialpolitischen Resolutionen . ....

207

Schlußwort

.

.

209

III. Die Einführung des Koalitionszwangs durch den 8 4 des zwischen dem „Deutschen Buchdrucker-Verein" und dem „Verband der Deutschen Buchdrucker" abgeschlossenen Garantieoertrags.

Eingabe des Centralverbandes Deutscher Industrieller an Se. Durch­ laucht den Reichskanzler Fürst von Bülow, mitgeteilt an die Ministerien der Bundesstaaten und die größeren Kommunal­ verwaltungen und an die Presse....................................

IV. Die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Betriebs­ krankenkassen. Rede des Herrn Finanzrats Klüpfel auf der Versammlung zu Eisenach am 29. Juni 1907

214

Wilhelm von Aardorff f. Am 2(. Juli ist auf seinem Gute Nieder-Wabnitz Wilhelm von Karöorff im 80. Lebensjahre verschieden. Er war seit dem Jahre (866 Mitglied des Hauses der Abgeordneten und seit (868 bis zur Auflösung im Dezember (906 auch Mitglied des Reichstags gewesen. Bei den Neuwahlen hatte er, mit Rücksicht auf sein hohes Alter, auf die Wiederwahl verzichtet. Mit Aar dorff ist ein Mann aus dem Leben geschieden, der seit der Begründung des neuen Deutschen Reiches, bedeutungsvoll und wirksam wie nicht viele andere, in die Entwickelung des neuen Staatswesens eingegriffen hat. Der gemäßigten konservativen Richtung angehörend hat er, von unwandelbarer monarchischer Gesinnung und glühendem Patriotismus durchdrungen, sowie in begeisterter Ver­ ehrung für den großen Kaiser und seinen unvergeßlichen Kanzler, den wärmsten und tätigsten Anteil an allen Fragen genommen, die bestimmt waren die Größe und Macht des Vaterlandes, das Wohl­ ergehen des Volkes zu fördern. Sein größtes, unsterbliches Verdienst hat Kardorff sich aber auf wirtschaftlichem Gebiete erworben.

Der gewaltige Aufschwung nach der ruhmvollen Begründung des neuen Deutschen Kaiserreiches war zusammengebrochen. Ihm folgte eine schwere, jahrelange Krisis, die um so verheerender in das wirtschaftliche Leben eingriff, da der bedingungslose Freihandel dem, in vielen Beziehungen noch überlegenen Wettbewerbe des Auslandes die Grenzen bereits zum großen Teile geöffnet hatte. Ohne Rück­ sicht auf die ungemein schwierige Lage der Industrie waren die er­ barmungslosen Theoretiker weiter erfolgreich bemüht, auch die letzten schützenden Schranken niederzureißen. Das Dogma des Freihandels übte die Herrschaft über die gesetz­ gebenden Faktoren und über die öffentliche Meinung derart aus,

8

daß, wer es wagen wollte, noch den Schutzzoll zu befürworten, sicher fein konnte in der Oeffentlichkeit den schwersten Angriffen ausgesetzt zu sein oder der Lächerlichkeit zu verfallen. Daher widerstrebten auch in der Industrie nur noch wenige entschlossene Männer der zur Herrschaft gelangten Freihandelspolitik; die anderen halten sich mut­ los ihrem Schicksal, dem vermeintlich unabwendbaren Niedergänge ihrer Industrien ergeben. Da trat Kardorff in die Schranken. Dem Stande der damals entschieden freihändlerischen Landwirte angehörig, war er durch seine juristische Vorbildung und hohe Begabung mehr als viele andere befähigt, die allgemeinen Interessen, die Erfordernisse des Gemeinwohls zu erfassen und zu würdigen; durchdrungen von den höchsten und edelsten Empfindungen für Nationalität und Vaterland, erkannte er, daß das neue Reich, daß die große deutsche Nation zum Bestände und zur gedeihlichen Entwickelung auf allen Gebieten der Kultur und des Lebens auch einer nationalen Wirtschaftspolitik be­ nötigten. Eine Kampfnatur im reellen Sinne des Wortes, daher Schwierig­ keiten und schwächliche Rücksichtnahme mißachtend, veröffentlichte Kardorff im Jahre 1875 seine Schrift „Gegen den Strom", die ungeheures Aufsehen erregte. Denn er hatte ausgesprochen, was der herrschenden Strömung in den Regierungen und in der öffent­ lichen Meinung gegenüber auszusprechen kaum noch gewagt worden war, daß die deutsche Wirtschaftspolitik wieder zum Schutz­ zoll umkehren müsse. Damit hatte er, der einzelne, mutvoll den Kampf ausgenommen, für den er nun begann, die Truppen in der Industrie zu werben, indem er ihr zurief, sich wieder auf sich selbst zu besinnen. Zum Dezember 1875 berief Kardorff einen kleinen Kreis von Industriellen nach Berlin, mit denen er am 15. Februar 1876 den „Eentralverband Deutscher Industrieller zur Förderung und Wahrung nationaler Arbeit" begründete. Damit hatte er der Industrie die Organisation gegeben, anfangs ein verhältnis­ mäßig kleines, von den übermächtigen Gegnern verhöhntes und ver­ spottetes Häuflein. Aber unter Kardorffs, des ersten Vorsitzenden einsichtsvoller, energischer Leitung breitete sich der neue Verband schnell über Deutschlands Industriebezirke aus. Durch seine ernste, intensive und unermüdliche Arbeit gelang es ihm, die öffentliche Meinung derart zu beeinflussen, daß nach der Auflösung des Reichstages im Sommer 1878 eine schutzzöllnerisch gesinnte Mehrheit aus den Neu­ wahlen hervorging.

9 Diese von Aardorff angefachte mächtige Bewegung in der In­

dustrie

hatte unverkennbar auch auf den Fürsten Reichskanzler ein­

gewirkt. Nachdem der große Aaiser, weitblickend in seiner Sorge für alle, auch für die Industrie, die erste Anregung gegeben hatte, ent­ wand sich Bismarck dem freihändlerischen Einfluß seiner Berater, denen er, von den rein politischen Angelegenheiten im Reiche voll in Anspruch genommen, bis dahin das Gebiet der wirtschaftlichen Fragen hatte überlassen müssen. Mit dem Eintreten Bismarcks war der Aampf für die Umkehr zu

einer nationalen Wirtschaftspolitik entschieden.

Die von Aar­

dorff angefachte Bewegung hatte den Sieg errungen. Ihm, dem weitblickenden, unerschrockenen, aufrechten Manne gebührt der größte Anteil an dem hervorragenden Verdienste, dem Deutschen Reiche die

sichere, feste wirtschaftliche Grundlage gegeben zu haben für seine Wohlfahrt, Große und Macht. Und noch einmal, über ein Vierteljahrhundert später, hatte der inzwischen an Jahren altgewordene Mann die Gelegenheit, seine erprobte Umsicht, sein ungeschwächtes Verständnis und seine un­ vergleichliche Energie zu erweisen. Als es galt den neuen Zolltarif, die Grundlage für den Abschluß der neuen Handelsverträge, vor der Obstruktion der Sozialdemokraten und der anderen, noch immer in

ihre Theorien verkapselten, bedingungslosen Freihändler zu retten, da zeigte Aardorff den Weg zur Ueberwindung dieser Widerstände. Den Vorsitz im Eentralverbande legte Aardorff, nachdem er

ihm die Wege gewiesen, nieder, weil er zu sehr von seinen doppelten parlamentarischen Pflichten in Anspruch genommen wurde. Im Reichstage, wie im Abgeordnetenhause blieb er der energische, wirkungsvolle, treue Vertreter der industriellen Interessen, auch im Aampfe gegen die Sozialdemokratie, die in ihm einen ihrer gefähr­

lichsten Gegner erblickte. Aardorff wurde das erste und für lange Jahre das einzige Ehrenmitglied des Tentralverbandes, der, un­ wandelbar im Geiste seines Begründers wirkend,

sich im Laufe der

Jahre zu der bedeutendsten Vertreterschaft fast der gesamten deutschen Industrie emporgearbeitet hat.

Daher ist Heute fast die gesamte deutsche Industrie in tiefe Trauer versetzt durch den Verlust des Mannes, der das Fundament gelegt,

auf dem sie sich,

glänzend entwickelt hat,

zum Segen des Vaterlandes,

so groß und

des Mannes, dessen hervorragende Eigen­

schaften des Geistes und Tharakters jetzt, nach dem Tode, einmütig auch von denen voll anerkannt und gewürdigt werden, die im Leben seine Gegner waren.



10



Wie in der Geschichte die Verdienste Aardorffs um das wirt­ schaftliche Wohl des Vaterlandes, die Vorbedingung für allen Aulturfortfchritt und für die Betätigung von Wacht und Größe, unver­ gänglich fein werden, so wird die höchste, unwandelbare Verehrung, die wärmste Dankbarkeit und treues Gedenken an seinen Begründer und ersten Führer unvergänglich sein im «Lentralverbande Deutscher Industrieller, so lange er bestehen wird.

S. A. Bueck.

II. Die Sozialpolitik im neuen Reichstage/ ' Von H. A. Bueck.

Aie Auflösung des Reichstages vom 13. November v. I. war

den weiten national gesinnten Kreisen des deutschen Volkes rettende

Tat,

Erlösung

eine

wie

von

Zentrum

Widerstand

gelastet,

demokraten

gebildete Mehrheit der Regierung

die vom

nationalen Fragen entgegengesetzt hatte, der und

Stellung somit

unserer

Deutschen

des

auch

auf

Kolonien

die

Reiches

Hebung,

bezogen

hatten.

eine

schwerem Banne gekommen.

Tief niederdrückend hatte auf diese Kreise der jahrelange den

wie

die

besonders

anderen

den

Förderung

Im

in solchen

auf die Kräftigung

sich

unter

erfolgreiche den Sozial­

von

und

und

Hinblick

Mächten

Ausgestaltung

auf

diese

war

besonders erkannt worden, daß, wenn gewisse Schwierigkeiten vielleicht

nicht

gänzlich

hätten

Menschenleben doch

vermieden werden können, an Geld, Blut und

nicht so unverhältnismäßig,

wenn

beugenden

die

bezw.

unerhört

der deutschen Herrschaft erforderlich

Opfer zur Behauptung

wären,

so

Mehrheit

des

erleichternden

Reichstages

Maßnahmen

die

nicht

große

gewesen

Mittel zu vor­ Jahr

für

Jahr

verweigert hätte. Diese Vorgänge

hatten

Teil des Volkes gewirkt,

tief

besonders

beschämend

auf

den

übergroßen

angesichts der Tatsache,

den gesetzgebenden Körperschaften der anderen

die schärfsten Parteigegensätze sofort zurücktreten

daß

in

großen Staaten selbst

und

voller Einigkeit

den Platz räumen, wenn es sich um das Ansehen, um die Größe und *) Dieser Aufsatz ist bestimmt, den Besuchern der nächsten Delegierten­ versammlung des Centraloerbandes als Einführung in die Verhandlungen über sozialpolitische Gesetzentwürfe zu dienen, mit denen sie sich unzweifelhaft zu be­ schäftigen haben wird. Der Verfasser.

12 die Ehre der Nation, um

den

Schutz und

Machtstellung des

die

Vaterlandes handelt. Diese Empfindungen regten sich mächtig, als es nach dem entscheidenden Schritte des Reichskanzlers galt, durch die Neuwahlen

eine andere Zusammensetzung des Reichstages herbeizuführen. Und Die häufigen und schweren Verletzungen des National­

es gelang.

gefühls hatten auch die den öffentlichen Angelegenheiten sonst lau und gleichgültig Gegenüberstehenden aufgerüttelt; sie strömten zur Urne, um ihr erwachtes Gewissen zu beruhigen. Ganz besonders aber waren zahlreiche Mitläufer der Sozialdemokratie, durch deren vaterlandsloses Treiben doch endlich abgeschreckt, zu ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zurückgeführt worden. Der große nationale Zug, der, die Masse begeisternd, das Volk bis in die Tiefe mächtig erregt hatte, erbrachte

dem Reichskanzler den Beweis und die Genugtuung, daß er die Seele des deutschen Volkes richtig erfaßt, daß er das rechte Mittel ergriffen hatte. Eine national gesinnte Mehrheit bürgerlicher Parteien hielt ihren Einzug in den neuen Reichstag. Dieses Ziel hatte nicht erreicht werden können durch eine sieg­ hafte Wahlschlacht gegen das Zentrum. Darüber konnte niemand im Zweifel gewesen sein, der die Materialien kennt, aus denen die Grundfesten und Fundamente dieses vorläufig unerschütterlichen Turmes

bestehen. Wer glauben sollte, den Kampf, nicht gegen das katholische Glaubensbekenntnis, denn diesem ist der Bestand und die volle Gleichberechtigung

durch

die

Verfassungen

im

Reiche

und

die

Verfassungstreue der deutschen Fürsten für alle Zeit gewährleistet, sondern gegen die, den angeblichen Schutz ihrer Religion nur als Deckmantel gebrauchende politische Partei des Zentrums, mit den Wahlen erfolgreich führen zu können, der würde sich als ein schlechter

Kenner der tatsächlichen

Verhältnisse erweisen.

Gegen

diese Partei

werden Erfolge im Sinne des letzten Wahlkampfes erst errungen werden können, wenn die Schule ihrer wirklichen aufklärenden Aufgabe mit fester Hand zugeführt sein und sie diese Aufgabe ein Menschen­ alter hindurch unwandelbar verfolgt haben wird. In dieser Erkenntnis war der Wahlkampf in der Hauptsache gegen die Sozialdemokratie gerichtet worden. Der zynische Uebermut, mit dem sie sich ihrer Vaterlandslosigkeit und des Mangels jeder religiösen Empfindung rühmt, der erbarmungslose Terrorismus, mit dem sie die außerhalb der Partei stehenden Arbeiter bedrückt und verfolgt, die

Not und Elend in den betroffenen Arbeiterkreisen verbreitenden, den Nationalwohlstand untergrabenden mutwilligen Störungen der Arbeit, die Unfruchtbarkeit ihrer nur auf die Verneinung bedachten,

jeder

13 Mitwirkung an der das Volkswohl fördernden Arbeit abgewendeten Tätigkeit, kurz, das Abstoßende in ihrem ganzen Treiben, konnte die

Hoffnung erwecken,

daß in diesem, für die höchsten nationalen Güter

geführten Wahlkampfe Erfolge gegen die reichsfeindliche, internationale Sozialdeniokratie erzielt werden könnten. Dieses Ziel wurde erreicht.

Jni schweren Ringen wurde die Sozialdemokratie derart aufs Haupt geschlagen, daß sie nur mit etwa der Hälfte ihres früheren Bestandes

in dem neuen Reichstag erscheinen konnte. Das genügte, um der Regierung und dem Volke eine wirklich aufrichtig und treu national gesinnte Mehrheit im Reichstage zu sichern. Die Freude, die Begeisterung über dieses Ergebnis der Wahlen war groß und tiefgehend. Sie äußerte sich ungemein bezeichnend in den unvermittelten Kundgebungen, die in der Hauptstadt des Reiches am Wahltage nach dem Bekanntwerden des Wahlergebnisses noch spät in der Nacht vor dem Schlosse des Kaisers und dem Palais des Reichskanzlers von Volksmasfen veranstaltet wurden, die sich aus den verschiedensten Schichten und Klassen der Bevölkerung einmütig gebildet hatten. Die anders gearteten Vorbedingungen für die Haltung der Mehrheit des neuen Reichstages konnten jedoch nicht lediglich in Bezug gebracht werden zu den auf nationalem Gebiete liegenden äußerst be­ deutungsvollen Fragen.. Es mußte erwartet werden, daß die neue Mehrheit auch auf die inneren Verhältnisse des Landes ihren Einfluß ausüben würde, somit auf die Gestaltung der allgemeinen politischen Lage und auf die Behandlung der sonst in Betracht kommenden öffentlichen Angelegenheiten. Hier lag die Frage nahe, ob die bisher innegehaltene

Richtung auch für die Zukunft festgehalten werden solle oder ob über­ haupt

bezw.

auf

welchen

Gebieten ein

anderer Kurs eingeschlagen

werden würde. Die zum allergrößten Teile im Centralverbande Deutscher In­ dustrieller vereinigten Industriellen hatten an der ganzen Bewegung den lebhaftesten Anteil genommen. Es ist kaum nötig hervorzuheben,

daß ihre politischen Anschauungen,

wenn auch im einzelnen nach

Maßgabe der von den größeren politischen Parteien verfolgten ver­ schiedenen Richtungen auseinandergehend, doch fest und unwandelbar

in der nationalen Grundanschauung wurzeln. Dementsprechend hatten sich die Industriellen nicht nur persönlich an den Wahlen eifrig be­ teiligt und für diese in ihren eigenen Wahlkreisen erhebliche Beiträge geleistet, sondern sie hatten, der Aufforderung des Centralverbandes willig folgend, auch eine sehr bedeutende Summe aufgebracht, die allen auf nationaler Grundlage stehenden bürgerlichen Parteien, nach

14 Maßgabe der Stärke ihrer bisherigen Vertretung im Reichstage, gleichmäßig für die Wahlen zur Verfügung gestellt wurde. Die hier erwähnte politische Grundanschauung der deutschen Industrie ist auch bei den Bestrebungen und der Tätigkeit des Centralverbandes stets unwandelbar zum Ausdruck gekommen. Der Centralverband ist begründet worden zur Wahrung und Förderung der wirtschaftlichen Interessen der deutschen Industrie. Die Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist aber in mannigfachen höchst wesent­ lichen Beziehungen beeinflußt und abhängig von der allgemeinen politischen Lage und der von ihr bedingten und aus ihr hervor­ gehenden Gesetzgebung. In Erfüllung seiner Aufgabe war daher der Centralverband verpflichtet, häufig genug auch die außerhalb des streng begrenzten wirtschaftlichen Gebietes liegenden Bestrebungen der Regierung und der gesetzgebenden Faktoren in den Kreis seiner Tätigkeit einzubeziehen. Ganz besonders hat sich das als notwendig erwiesen in Bezug auf die mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in innigem Zusammenhang stehende Sozialpolitik im allgemeinen und auf die sozialpolitische Gesetzgebung im einzelnen. In Erfüllung seiner Pflicht hat der Centralverband, je nachdem die ihm zur Wahrung anvertrauten Interessen berührt wurden und es erforderten, die Be­ strebungen der Gesetzgeber, besonders auf dem letztbezeichneten Gebiete entweder unterstützt und gefördert, oder er ist bemüht gewesen Aenderungen zu erstreben, oder die betreffenden Maßregeln gänzlich zurückzuweisen und zu bekämpfen. Dem Centralverbande wird von den maßgebenden Stellen das Zeugnis nicht versagt werden können, daß er seine Bestrebungen stets in angemessene Formen gekleidet und in loyaler Weise betätigt hat. Die Rolle einer bedingungslosen Opposition hat er stets weit von sich gewiesen und insbesondere niemals den innigen Zusammenhang über­ sehen und unterschätzt, der zwischen der Regierung bezw. den Macht­

habern auf dem Gebiete der Gesetzgebung einerseits und der Industrie andererseits bestehen muß, wenn auch die allgemeinen Interessen der Bevölkerung und des Staates gebührend gewahrt und gefördert werden

und gedeihen sollen. Daher hat mit den deutschen Industriellen auch deren Vertretung, der Centralverband Deutscher Industrieller, lebhaftesten

Anteil an der mit der Auflösung des Reichstages eingeleiteten großen

Bewegung genommen, und alles, was in seiner Macht stand, auf­ geboten, um die Regierung in dem von ihr aufgenommenen schweren Kampfe zu stützen und ihr zum Siege zu verhelfen.

Die Entscheidung ist im günstigen Sinne gefallen; die Erledigung der nationalen Fragen in staatserhaltendem Sinne ist durch die

15 Mehrheit im neuen Reichstage gesichert.

Nun ist es nur natürlich,

daß der Industrie die Frage

äußerst naheliegt, welche Haltung der neue Reichstag in den Angelegenheiten einnehmen wird, von denen

ihre Interessen tiefeingreifend berührt werden. Die großen handelspolitischen Fragen sind, wenn auch nicht in allen Einzelheiten befriedigend, so doch im Sinne der von der großen Masse der deutschen Erwerbsstände, der Industrie, dem Gewerbe und der Landwirtschaft verfolgten Grundprinzipien auf Jahre hinaus ge­ regelt worden. Man darf der Ueberzeugung leben, daß auch die auf diesem Gebiete in der Zwischenzeit aufkommenden Angelegenheiten so­ wohl von der Regierung wie vom Reichstage eine gleiche Behandlung

erfahren werden. Die Regelung des für das wirtschaftliche Leben so bedeutungs­ vollen Verkehrswesens ist dem Reichstage fast vollständig entzogen; sie liegt in der Hand der Einzelstaaten. Soweit die Interessen der Gesamtheit auf diesem Gebiete in Frage kommen, ist deren Wahrung dem Verständnis und dem guten Willen der einzelnen Regierungen wie ihrer Landtage mit Bezug auf die Notwendigkeit gegenseitiger Verständigung anheimgegeben. Die in das Wirtschaftsleben jedes Staatsbürgers und somit auch in die Interessen der Industrie tief eingreifende Finanzwirtschaft des Reiches, wohl den Verhältnissen in den ersten Zeiten des neuen großen Staatsgebildes einigermaßen angepaßt, hat sich im Laufe der Jahre als unzureichend erwiesen. Als verfehlt muß auch der jüngste Versuch bezeichnet werden, die finanzielle Lage des Reiches der Ge­ sundung zuzuführen. In weiten Kreisen wird die Ursache des Fehlschlagens dieses an sich so notwendigen Unternehmens darin er­ blickt, daß es der Regierung an Entschlossenheit gefehlt hat, diejenigen

Mittel in Vorschlag zu bringen und durchzuführen, von denen eine gründliche und dauernde Abhilfe, hinsichtlich der für das Reich so entwürdigenden, zerrütteten Finanzlage zu erwarten gewesen wäre. Soweit ihre Vorschläge, wenn auch als unzulänglich, so doch als ge­ eignet erachtet werden mußten, wenigstens eine teilweise Abhilfe zu schaffen, fehlte es an deni festen Willen und an der eisernen Hand,

dem Widerstände des Reichstages entgegenzutreten und ihn unschädlich zu machen.

Dieser Widerstand der übergroßen Mehrheit des Reichs­

war, soweit die bürgerlichen Parteien in Frage kamen, ein­ gegeben von dem Streben, dem Vorurteil und der Engherzigkeit der verständnislosen Masse der Wähler, der unteren Volksschichten, Rechnung tages

zu fragen. In diesem Streben gingen, da die gänzliche Verneinung gegenüber der Notlage des Reiches doch zu übel angebracht gewesen

16 wäre, aus der Initiative des Reichstages Steuern hervor, die, jeder

modernen Finanzpolitik Hohn sprechend, den Verkehr teilweise recht schwer belasteten. Sie riefen in den Kreisen der Industrie Besorgnis und Unzufriedenheit hervor, über welche sich freilich die betreffenden

Parteien im Reichstage ruhig hinwegsetzten, denn die Industriellen stellen ja nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Wähler dar, gegenüber der Masse der Arbeiter und der diesen gleichgestellten Volks­ kreise. Ob und wann die Regierung mit neuen Vorschlägen zur Sanierung der Reichsfinanzen an den Reichstag herantreten wird, ist nicht bekannt. Fraglich muß es aber erscheinen, ob der neue Reichstag in der Rücksichtnahme auf den Widerstand der Wählermassen sich stärker erweisen wird, als sein Vorgänger. Diese schwächliche Rücksichtnahme seitens der übergroßen Mehr­ heit der Mitglieder des Reichstages hat sich in bedenklichstem Maße bemerkbar gemacht auf dem Gebiete der machtvoll in die Interessen der Industrie eingreifenden Sozialpolitik. Daher ist die Frage, wie der neue Reichstag sich zur Sozialpolitik stellen wird, für die Industrie und damit für den Centralverband von

höchster Bedeutung. Seit Begründung des Centralverbandes sind 31 Jahre verlaufen. In dieser ganzen Zeit ist wohl der größte Teil seiner ernsten und umfassenden Tätigkeit den sozialpolitischen Fragen gewidmet worden. Gewaltig große auf diesem Gebiete liegende Probleme sind zum höchsten Ruhme der deutschen Nation in dieser Zeit gelöst worden, vorbildlich für alle anderen, aber noch von keinem anderen zivilisierten Volke in ähnlicher Vollkommenheit erreicht. In dem zweiten und dritten Bande der vor zwei Jahren erschienenen Geschichte des Central­ verbandes ist der Beweis geführt worden, daß er, in Vertretung des hervorragendsten Teiles der deutschen Industrie, ganz besonders die

Sozialpolitik des großen Kaisers Wilhelm und seines unvergeßlichen Kanzlers, von denen jene großen Probleme gestellt und gelöst worden sind, in treuer, unablässiger Arbeit, wie wenige andere, gestützt und

gefördert hat. Der Versuch, diesen Nachweis zu entkräften, ist bisher noch von keiner Seite unternommen worden, obgleich in dem um­ fassenden Bilde von der Tätigkeit des Centralverbandes auf diesem Gebiete nicht minder klar und deutlich auch die Widerstände ihren Platz gefunden haben, die der Centralverband den leider vielfach er­ folgreichen Bestrebungen entgegensetzte, die Sozialpolitik auf Ziele zu

lenken, welche die Industrie mit ihren Interessen wie mit denen der Arbeiter und der Gesamtheit für unvereinbar erachtete. Inzwischen hatte sich die Sozialdemokratie immer weiter aus-

17 gebreitet.

Das Sozialistengesetz hatte der Bewegung wenig Abbruch

tun können,

da es nur ungenügende Waffen in die Hände der Be­

hörden gelegt hatte und selbst diese nicht mit dem erforderlichen Nach­

druck angewendet worden waren. Die Versuche des Reichskanzlers Fürsten von Bismarck, die sozialdemokratische Agitation weiter einzuschränken und das Sozialisten­ gesetz zu verschärfen, waren an dem Widerstände des Reichstages gescheitert. Der erste Reichskanzler hatte die von dem großen Kaiser auf sozialpolitischem Gebiete gestellten gewaltigen Aufgaben glänzend gelöst. Mit dem ihm eigenen weiten staatsmännischen Blick hatte Bismarck erkannt, daß dem Drängen der Sozialisten nach immer

weiterer Musdehnung der sozialpolitischen Gesetzgebung, im Interesse der friedlichen Arbeit des Volkes, und um die sozialdemokratische Bewegung nicht uferlos anschwellen zu lassen, gewisse Schranken gesetzt werden müßten. Als aber der junge Kaiser wesentlich andere Ansichten und Ziele zur Geltung brachte, trat der Alt-Reichskanzler zurück, das Sozialistengesetz wurde nicht wieder erneuert und der neue Kurs in der Sozialpolitik hatte begonnen. Dieser neue Kurs trat sofort deutlich hervor in dem Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung und die Errichtung von Gewerbegerichten, der bereits am 26. Mai 1890 dem Reichstage vorgelegt wurde. Er machte sich fast noch mehr bemerkbar in den Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, die vom Bundesrat erlassen wurden. Die Tendenz in dem neuen Gesetze und in den

Verordnungen war darauf gerichtet, den auch vom Centralverbande in angemessenen Grenzen als durchaus notwendig anerkannten Arbeiter­ schutz weiter auszudehnen. Nach der im Centralverbande ver­

tretenen Ansicht war dieses Streben über das sachlich erforderliche Maß hinausgegangen, wodurch die gewerbliche Tätigkeit auf nicht wenigen Gebieten über Gebühr eingeengt wurde. Noch bedenklicher mußten die gesetzlichen Bestimmungen erscheinen, die eine Schwächung und Untergrabung der Stellung des Arbeitgebers und Unternehmers den Arbeitern gegenüber unzweifelhaft zur Folge haben mußten. Un­

verkennbar waren Kräfte bei der Regierung wirksam und maßgebend, die von dem ungezügelten Drange getrieben wurden, nach ihrer Art

die Arbeiter zu beglücken, denen jedoch das Verständnis für das Er­ reichbare und ein ausreichendes Urteil darüber fehlte, was mit den berechtigten Forderungen des praktischen Lebens und mit der natür­ lichen Entwickelung der Dinge vereinbar war. Was in dieser Richtung

geschah, hatte den Zweck, die Sozialdemokratie zufrieden zu stellen, die für sich in Anspruch nahm, die gesamte deutsche Arbeiterschaft zu verHeft 106.

2

18 treten.

Aber weit davon entfernt,

durch

die Zugeständnisse der Re­

gierung befriedigt zu sein und die Verhetzung gegen den Staat und die Gesellschaft aufzugeben, stellte die Sozialdemokratie immer weiter­ gespannte Forderungen, breitete sich immer mehr aus, indem sie durch ihre wüste Agitation und ihren Terrorismus immer weitere Kreise der Arbeiter an sich zog. Sie eroberte in schnellem Vorschreiten, mit wenigen Ausnahmen, die Wahlkreise der größten Städte und der Jndustriebezirke. Die Hauptplätze an der See, die Emporien des deutschen Handels, wurden durch Sozialdemokraten vertreten. Die starke Zunahme dieser Bewegung, das Auftreten und Wirken dieser antimonarchischen, revolutionären, Vaterlands- und religionslosen Partei, besonders der schwere, gewaltige Druck, den die sozialdemo­ kratisch organisierten Arbeiter auf die Nichtorganisierten, und bei den zahlreich von ihnen angestifteten Ausständen in äußerst brutaler Weise auf die Arbeitswilligen ausübten, konnte von der Regierung doch nicht unbeachtet bleiben; sie entschloß sich zu Gegenmaßregeln. Der den Mißbrauch des Koalitionsrechts mit Strafe bedrohende § 153 der R. G. O. war zu einer Zeit entstanden, als die von Lassalle angefachte, jedoch auf nationaler Grundlage beruhende Arbeiterbewegung, der „Allgemeine deutsche Arbeiterverein", nach dem frühen Tode seines Begründers zu einem Teile in die „Internationale Arbeiterassociation", zum anderen in die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" überzugehen

begann. Die Verabschiedung der G. O. durch den Reichstag des Norddeutschen Bundes und der Eisenacher Kongreß, auf dem eine Einigung zwischen den beiden sozialdemokratischen Richtungen noch nicht erzielt werden konnte, hat in demselben Jahre 1869 stattgefunden. Die Entwickelung der Sozialdemokratie zu einer schweren Gefahr für den Staat, die Gesellschaft und das wirtschaftliche Leben wurde damals noch von niemand vorausgesehen. Die für die damalige Zeit anscheinend ausreichenden Bestimmungen des § 153 erwiesen sich je­ doch als durchaus unzureichend, als die Sozialdemokratie mit ihrer Erstarkung begonnen hatte, die Koalitionsfreiheit tatsächlich in den

Daher hatte die Regierung mit ihrer Novelle zur Reichsgewerbeordnung im Jahre 1890 eine Verschärfung deS § 153 Beantragt. Trotzdem der damalige Handelsminister, Frei­ KoaliüonSzwang umzuwandeln.

herr von Berlepsch,

als preußischer Kommissar beim Bundesrat

sehr energisch und wahrlich mit guten Gründen im Reichstage für die Vorlage der Regierung eingetreten war, wurde die Aenderung deS § 153 doch bereits in der Kommission abgelehnt. Bei der zweiten

und dritten Lesung wurde die Aenderung des § 153 von keinem Ab­

geordneten mehr erwähnt, nur der Minister bemühte sich, jedoch ver-

19 geblich,

sie zu retten.

Freilich kündigte er damals an,

daß Be-

stimmungen im Sinne der beantragten Aenderung wiederkommen würden.

Im Jahre 1896 hatte die preußische Regierung versucht, dem von der Sozialdemokratie in ihren Vereinen und Versammlungen ge­ triebenen Unfug durch eine Aenderung des Vereins- und Versamm­ lungsrechtes zu steuern.

Aber selbst im Abgeordnetenhause wurden

die wesentlichsten Anträge von einer aus dem Zentrum und den liberalen Parteien gebildeten Mehrheit abgelehnt. Diese Haltung der Volksvertreter im Reichstage und in den Einzelstaaten steigerte das verwerfliche Treiben der Sozialdemokratie zum bösesten Uebermut. Selbst der Kaiser, der seine weitgehende Arbeiterfreundlichkeit deutlich

genug bekundet hatte, glaubte dieses Treiben nicht länger dulden zu können; er erachtete es für geboten, den Ausschreitungen der Sozial­ demokratie Einhalt zu tun und scharfe gesetzliche Maßregeln gegen sie in Aussicht zu stellen. In diesem Sinne brachte Graf von Posadowsky, der inzwischen an die Stelle des langjährigen Staats­ ministers und Staatssekretärs des Innern, von Bötticher, getreten war, am 26. Juni 1899 den Gesetzentwurf „Zum Schutze des ge­ werblichen Arbeitsverhältnisses", bekannter unter der ihm von der Sozialdemokratie gegebenen Bezeichnung „Zuchthausgesetz" ein. Die Geschichte dieser Gesetzesvorlage ist wohl noch in guter Erinnerung. Sie wurde von der übergroßen Mehrheit des Reichstages, in der sich das Zentrum und die liberalen bürgerlichen Parteien, bis auf ein kleines Häuflein Nationalliberaler, gänzlich in das Schlepptau der Sozialdemokraten begeben hatten, durch Verweigerung der Beratung in einer Kommission, also in der denkbar schroffsten Form abgelehnt. Die Regierung hatte eine schwere Niederlage erlitten, durch die, wie ihr späteres Verhalten erweist, ihre Widerstandskraft gegen die Sozialdemokraten und die Sozialisten in den bürgerlichen Parteien in- und außerhalb des Reichstages gebrochen war. Der Staats­ sekretär Graf von Posadowsky gab es auf, die Sozialdemo­ kratie als eine revolutionäre, staatsfeindliche Partei anzusehen; in der Sitzung des Reichstages vom 23. Juni 1902 hat er erklärt, daß er die Sozialdemokratie als eine Arbeiterpartei betrachte. Unter seiner Führung

bekundete die

Regierung

den starken sozialen Be­

strebungen gegenüber weitgehendes Entgegenkommen. Wohl den stärksten Beweis ihrer geringen Widerstandskraft lieferte die Haltung der Regierung gegenüber der Behandlung, welche die Sozialisten im Reichstage dem von ihr am 19. Februar 1903, kurz vor dem Ab­ lauf der Legislaturperiode, eingebrachten „Gesetzentwurf, betreffend Aenderungen des Krankenversicherungsgesetzes", zu teil werden ließen.

20 Mit dem Gesetz sollte eine schwer empfundene Lücke in der Arbeiierversicherung ausgefüllt und den Arbeitern auch sonst erhebliche

Vorteile gewährt werden. Der Gesetzentwurf war aber auch bestimmt, der von der Sozialdemokratie verübten Mißwirtschaft in den Kranken­ kassen wenigstens einigermaßen zu steuern. Die Sozialdemokratie

sicherte sich zwar die Vorteile für die Arbeiter, die letztgenannten Be­ stimmungen aber wies sie als Eingriffe in das von ihr freilich arg mißbrauchte Selbstverwaltungsrecht entweder ganz zurück, oder sie wurden bis zur Unwirksamkeit abgeschwächt. Die Regierung ließ sich das gefallen, freilich in voller Uebereinstimmung mit den Parteien, die, bis auf die Deutsch-Konservativen, in schmählichster Weise vor den Sozialdemokraten kapitulierten. Selbst die Reichspariei vollzog die Beugung vor dem Willen der Sozialdemokraten, trotz einer von ihrem Vertreter gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie gerichteten ge­ harnischten Rede. Ein zweites Beispiel gibt das Verhalten der Regierung bei dem

großen Bergarbeiterstreik im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier im Winter 1904 und 1905. Während dieses mutwillig vom Zaune ge­ brochenen, unter Kontraktbruch begonnenen Ausstandes, kündigte sie einen Gesetzentwurf zur Befriedigung der Forderungen der streikenden Arbeiter an und rettete mit dessen Einbringung die Sozialdemokratie vor der schwersten Niederlage, die sie jemals zu erleiden hatte und die ihr mit Sicherheit in kürzester Zeit bevorstand. Diese flüchtige Darstellung der sozialpolitischen Haltung der Re­ gierung, seit der Alt-Reichskanzler die Zügel niedergelegt hatte, läßt schon fast genügend die von der Mehrheit des Reichstages in der­ selben Zeit den sozialpolitischen Fragen gegenüber eingenommene Stellung erkennen. Die durch das allgemeine gleiche Wahlrecht in die Hände der Arbeiter gelegte politische Macht war diesen unverkennbar mehr und mehr zum Bewußtsein gelangt. Diese Wahrnehmung wurde für viele,

die nach Einfluß im politischen Leben, und, um ihn auszuüben, nach Sitz und Stimme im Reichstag strebten, Veranlassung, sich besonders um die Gunst der Arbeiter zu bewerben.

Dieses Werben hat nicht

nur viele einzelne, sondern ganze Parteien dahin geführt, den Forde­ rungen der Arbeiter sehr großes Entgegenkommen zu erweisen. Da die Forderungen unter sozialdemokratischer Führung hauptsächlich

auf dem Gebiete der Sozialpolitik gestellt wurden, so bewegte sich auch die Sozialpolitik der übergroßen Mehrheit des Reichstages in dieser Richtung. Das trat hervor in zahlreichen Anträgen, Re­ soluttonen und Gesetzentwürfen, mit denen die Abgeordneten bezo. die

21 Parteien sich in Arbeiterfreundlichkeit und fortgeschrittenster Sozial­ politik zu überbieten suchten. Dieser merkwürdige Wettlauf erreichte seinen Höhepunkt bei Beginn der Legislaturperioden und Sessionen.

Es bildete sich die Sitte, oder vielmehr die Unsitte aus, den Reichs­ tag und auch die Regierungen zu Anfang der Session mit einem wahren „Lawinensturz" — eine jüngst von dem Grafen von Posadowsky gebrauchte Bezeichnung — von sozialpolitischen Anträgen zu

überschütten. Diese Gepflogenheit ist seinerzeit selbst von großen an­ gesehenen, in der Sozialpolitik sehr weit links stehenden Zeitungen verhöhnt und verspottet worden; sie wurde aber selbst von den führenden Männern im Reichstage mit großer Beflissenheit mitgemacht. In das Bereich solcher, im Grunde genommen wesentlich agitatorischen Tätigkeit, wurden alle überhaupt denkbaren sozialen Fragen gezogen. In der Hauptsache richteten sie sich auf folgende Punkte: auf die Erweiterung des Koalitionsrechtes, und da es, nach der Meinung der Sozialdemokraten, in vielen Beziehungen vom „Scharfmachertum" bedroht und eingeengt wurde, auch auf die Sicherung dieses Rechtes; auf die Reform des Vereins- und Versammlungsrechtes; auf die Verkürzung der Arbeitszeit aller Klassen der Arbeiter und der Arbeiterinnen; auf die Erweiterung des Schutzes in den verschiedensten Beziehungen und auf immer größere Kreise von Angestellten und Arbeitern; auf die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine und die Schaffung von Organisationen für die Vertretung der Arbeiter, wobei die Frage

der sogenannten Gleichberechtigung eine hervorragende Rolle spielte; auf die Schaffung von Ausnahmegerichten für die verschiedenen Be-

rufsgruppen von Arbeitern und Angestellten und auf noch manche ähnliche Punkte mehr. Bis zur Entwickelung dieser Bewegung hatte sich, nicht nur bei zahlreichen, die Sozialpolitik gewissermaßen als ihre Domäne be­ trachtenden Abgeordneten, sondern auch bei den Sozialpolitikern im allgemeinen, den berufenen und unberufenen, die Praxis ausgebildet, jeden, auch nur den schüchternsten Hinweis auf die Tatsache, daß neben den Interessen der Arbeiter im wirtschaftlichen und sozialen Leben der Nation doch auch noch andere der Berücksichtigung werte

Interessen vorhanden seien, als einen Verstoß gegen den Kultur­ fortschritt und gegen die, mit den Rechten der Arbeiter identifizierten Menschenrechte, als äußerste Rückständigkeit zu behandeln. Im Zu­ sammenhänge mit den sozialen Fragen Rücksicht auch auf>andere als auf die Arbeiter zu nehmen, war verpönt. Wer versuchte, gelegentlich auch die Interessen der Arbeitgeber zur Geltung zu bringen, konnte sicher sein, als Scharfmacher erster Ordnung bezeichnet zu werden.

22 Die Unternehmer und Arbeitgeber, die doch wohl einen hervorragen­ den Faktor unseres Wirtschaftslebens und

eine der Hauptstützen des

Staates und der Gesellschaft wie des Kulturfortschrittes bilden, waren überhaupt vogelfrei. Gelegentlich, wie beispielsweise bei den Ver­

handlungen über den Gesetzentwurf, betreffend den Schutz des gewerb­ lichen Arbeitsverhältnisses, wetteiferten die Redner der bürgerlichen liberalen Parteien mit den Sozialdeniokraten in Verunglimpfungen der Arbeitgeber. Wie schimpflich diese bei den Zusammenkünften der

professionsmäßigen Vertreter der sozialen Wissenschaften von einzelnen derselben behandelt wurden, wenn soziale Fragen zur Erörterung

standen, das haben die Generalversammlungen des Vereins für Sozialpolitik, der Kathedersozialisten, sattsam erwiesen, insbesondere die letzte dieser Versammlungen in Mannheim. ES konnten ins­

besondere diejenigen Antragsteller mit größter Sicherheit auf Beifall und Zustimmung rechnen, deren Anträge gegen die Stellung der Arbeitgeber und Unternehmer in unserem wirtschaftlichen Organismus gerichtet waren. Den Arbeitgeber in seiner Stellung herunterzudrücken, ihm die Autorität seinen Arbeitern gegenüber zu rauben, die Gleich­ berechtigung, die der Arbeiter im Staatsleben hat, ihm auch im industriellen Betriebe zu gewähren, das schien das Ziel aller vor­ geschrittenen Sozialpolitiker geworden zu sein. Bei der Betrachtung dieser Art der Behandlung sozialpolitischer

Fragen war der Gedanke nur schwer zurückzuweisen, daß die fort­ geschrittenen Sozialpolitiker die Arbeit mit der Hand, mit den Werk­ zeugen, an der Maschine als ein Unglück ansehen, das aus der Welt geschafft werden müßte.

Die frühere Lehre, daß Deutschland seine in

jeder Beziehung große und hervorragende Stellung erreicht habe durch Arbeit, durch unablässige, ernste, mühevolle Arbeit auf allen Gebieten, schien gänzlich abgetan zu sein und ersetzt werden zu sotten durch den Glaubenssatz, daß die möglichst höchste irdische Glückseligkeit

nur erreicht werden könne durch die äußerste Einschränkung der Arbeit. Das Wort des berühmten Historikers Treitschke scheint in der Gegenwart nicht mehr gelten zu sotten. Er sagte: „Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können. Der Sozialismus versucht umsonst durch leeres Wutgeschrei diese herbe Erkenntnis aus der Welt zu schaffen." Das Forschen und Bücherschreiben, die Hantierung mit dem Pinsel, die Verwaltung eines großen Staatswesens, die Vorbereitung von Gesetzen und dergleichen mehr ist doch auch Arbeit, nicht selten eine bei weitem härtere, aufreibendere Arbeit als das Ackern, das Schmieden und Hobeln. Ebenso verhält es sich mit dem Sprichwort:

23 „Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert," in der natürlich weiteren Be­ deutung, daß der Lohn bemessen werden müsse nach dem Werte der Arbeit. Denn das Verlangen gleichen Lohnes für alle, wenn auch bei ungleicher Leistung, die Quintessenz der sogenannten Tarifverträge, und die Forderung gleichmäßig verkürzter Arbeitszeit und erhöhten Lohnes, bewegen sich in unvermitteltem Gegensatz zu jenem Sprichwort.

Alle jene weitgehenden Anschauungen haben bei der Behandlung sozialer Fragen im alten Reichstag ihre Vertretung gefunden. Sie haben in sehr verschieden formulierten Anträgen und Resolutionen, klar und unklar, ihren Ausdruck gefunden und sind der Regierung und dem Reichstage zur Annahme empfohlen worden. Da alle diese Fragen und Anschauungen tief in die Verhältnisse und Interessen der Arbeitgeber und Unternehmer eingreifen, so ist es selbstverständlich, daß, wie eingangs bereits gesagt worden ist, die Industrie lebhaft bewegt wird von der Frage: „Wie wird die Stellung des neuen Reichstages zu den sozialen Fragen sein?" Einen genügenden Anhalt zur Beantwortung dieser Frage geben die umfangreichen Verhandlungen über sozialpolitische Angelegenheiten in der ersten Session des neuen Reichstages.

Der neue Reichstag wurde am 19. Februar d. I. eröffnet. Die Thronrede enthielt mit Bezug auf die Sozialpolitik den folgenden Absatz: „Der gesunde Sinn in Stadt und Land hat im Wahl­ kampfe einer Bewegung Halt geboten, die sich, alles be­ stehende Gute und Lebenskräftige verneinend, gegen Staat und Gesellschaft in ihrer stetigen feindseligen Entwickelung richtet. Die großen grundlegenden Gesetze zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen sind gegen den Widerstand der Fraktion geschaffen worden, die sich als die wahre Ver­ treterin der Arbeiterinteressen bezeichnet, selbst aber nichts für sie und für den Kultursortschritt geleistet hat. Gleich­ wohl zählen ihre Wähler immer noch nach Millionen. Der deutsche Arbeiter darf darunter nicht leiden. Jene Gesetz­ gebung beruht auf dem Grundsatz der sozialen Verpflichtung gegenüberden arbeitenden Klassen unb ist daher unabhängig von der wechselnden Parteigestaltung. Die verbündeten Regierungensindentschlossen, das soziale Werk indem er­ habenen Geiste Kaiser Wilhelms des Großen fortzusetzen."

Die großen sozialpolitischen Erörterungen im Reichstage voll­ zogen sich in drei verschiedenen Absätzen: Bei der ersten Lesung des Etats, bei einer vom Zentrum eingebrachten Interpellation und

24

bei der Beratung des Etats des Reichsamts des Jnnem. In der dritten Sitzung des Reichstages am 25. Februar 1907 stand auf der Tagesordnung: 1. „Beratung des Entwurfes eines Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rechnungs­ jahr 1907 in Verbindung mit der ersten Beratung des Entwurfes eines Gesetzes betreffend die Feststellung des HaushaltungSetatS für die Schutzgebiete für das Rechnungs­ jahr 1907." Im Reichstage herrscht der Gebrauch bei der ersten Lesung des Etats, und mit gewissen Einschränkungen auch bei der zweiten und dritten Lesung, den Rednern zu gestatten, ihre Ausführungen nach ihrem Gutdünken auf alle möglichen Gebiete zu erstrecken. Daher haben bereits seit Jahren bei den Beratungen des Etats die umfassendsten Verhandlungen über sozialpolitische Fragen stattgefunden. DaS war auch im neuen Reichstage der Fall. Es war durchaus naheliegend, daß nach der Eröffnung der ersten Session des neuen Reichstages zunächst eine eingehende Aussprache über die Auflösung des alten Reichstages, über die Vorkommnisse bei den Wahlen, die Stellung der Parteien zu einander, und die durch das Ergebnis der Wahlen geschaffene allgemeine politische Lage statt­ finden würde. Dabei ist jedoch die Sozialpolitik nicht zu kurz gekommen. Nach der einleitenden Rede des Staatssekretärs des Reichsschatzamtes, Frecherrn von Stengel, die sich selbstverständlich nur mit dem Etat beschäftigt hatte, ergriff der Abgeordnete Dr. Spahn das Wort als Vertreter des Zentrums. Mit Bezug auf die Sozialpolitik begrüßte er freudig die auf sie bezüglichen Sätze in der Thronrede. Er verwies darauf, daß seine Fraktion, wie im Vorjahre, so auch in diesem mit einer Anzahl von Initiativanträgen und Interpellationen an das Haus herangetreten sei und weitere Resolutionen beantragen werde. Die Anfragen sollten sich darauf beziehen, wie es sich mit den Gesetz­ entwürfen verhalte, betreffend die Regelung der öffentlich-rechtlichen der Berufsvereine aller Art Md betreffend die Errichtung von Arbeitskammern zum freien und friedlichen und privatrechtlichen

Verhältnisse

Ausdruck der Wünsche und Beschwerden der Arbeiter. Ferner verlangte der Redner namens seiner Partei die Vorlegung folgender Gesetz­ entwürfe: Eines solchen, betreffend die Sicherung und den weiteren Ausbau des Koalitionsrechtes, ferner die Sicherung und die weitere Ausgestaltung der Tarifgemeinschaften zwischen Arbeitgeber und Arbeit­

nehmer. Hierzu bemerkte Dr. Spahn: „Der leitende Gedanke für das Zentrum in der sozialen Gesetzgebung sei, daß für alle diejenigen,

25 die in abhängiger Lebensstellung sind, gesorgt werde für Gesundheit und Leben, für Sittlichkeit und Religion, und daß, soweit die Gesetz­ gebung

darauf einwirken kann,

auch gesorgt werde für einen der

ehrlichen Arbeit angemessenen Lohn." Gefordert wurde von dem Redner weiter ein „Gesetzentwurf, der sich bezieht auf die den Arbeitern zu gewährende Ruhe für Sonn- und Festtag mit mindestens 36 und für zwei aufeinanderfolgende Sonn- und Festtage mit 60 Stunden". Ferner ein Gesetzentwurf, „welcher die Arbeitszeit der Handlungs­

gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter, soweit sie nicht in offenen Ver­ kaufsstellen beschäftigt werden, regelt, und welcher eine Arbeits­

zeit an Sonn- und Festtagen von nur zwei Stunden haben will". Weiter forderte er eine ortsstatutarische Regelung der Sonntags­ ruhe. „Wir wollen den in Gast- und Schankstätten beschäftigten Personen den Besuch des Gottesdienstes an Sonn- und Feiertagen sichern. Wir wollen die Sonntagsruhe auch auf die in der Binnen­ schiffahrt beschäftigten Personen ausgedehnt haben." Ferner wurde ein Gesetzentwurf verlangt zur Beschränkung der regelmäßigen Arbeits­ zeit der Arbeiter über 16 Jahre in Fabriken und in diesen gleich­ gestellten Anlagen auf 10 Stunden täglich, oder aber, wenn sich eine Verständigung darüber nicht erreichen lassen sollte, wenigstens zur Beschränkung der Arbeitszeit für Arbeiterinnen, wobei an den Vor­ tagen an Sonn- und Festtagen die Arbeitszeit auf nur 9 Stunden zu beschränken und die Arbeitszeit der Arbeiterinnen, welche ein Haus­ wesen zu besorgen haben, in Fabriken und den diesen gleichgestellten Anlagen auf höchstens 9 Stunden und an Vorabenden von Sonn- und Festtagen auf höchstens 6 Stunden festzusetzen wäre. Sodann forderte

der Redner die Vorlegung eines Gesetzentwurfes und die Anordnung bestimmter Erhebungen und Maßregeln bezüglich der Privatbeamten und hinsichtlich der technischen Beamten. Mit Bezug auf das Hand­ werk forderte Dr. Spahn, „daß einer Abgrenzung von Handwerk und Fabrik näher getreten werde, damit die Art der Ausbildung der Lehrlinge in

besserer Weise geregelt werde."

Weiter verlangte er,

„daß bei Vergebung öffentlicher Lieferungen für das Reich, unter Berück­ sichtigung der für das betreffende Gewerbe bestehenden Tarifverträge, also nicht nur unter Berücksichtigung des Mindestgebots, die Handwerks­ genossenschaften, die Handwerker, welche den Handwerkertitel zu führen berechtigt sind, tunlichst bevorzugt werden." Zudem wurde die Aus­ gestaltung des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb verlangt. Zur

Durchführung dieses Gesetzes forderte der Redner die Anstellung von Handelsinspektoren in der Kaufmannschaft, wobei erwogen werden sollte, ob und wie diese Handelsinspektoren für die Kontrolle des

26 Ausverkaufswesens, der Wanderlager, der Wanderlageroeisteigerungen, sowie der Abzahlungsgeschäfte benutzt werden könnten. Schließlich verlangte er Erhebungen über die Lage des kaufmännischen Mittel­

standes

auf dem Lande,

in den kleinen, mittleren und größeren

Städten unter Anhörung der Jnteressentengruppen. Bei diesen zahlreichen und weitgehenden Forderungen verdient besondere Beachtung das Streben, die Arbeitszeit auf den verschiedensten Gebieten zu kürzen und zu beschränken. Nach dem Redner des Zentrums folgte als Führer der National­ liberalen der Abgeordnete Bassermann. Er setzte sich zunächst mit

dem Zentrum und den Sozialdemokraten hinsichtlich der Vorgänge bei den Wahlen auseinander. Dann bemerkte er, daß die, durch die Zurückdrängung der Sozialdemokratie geschaffene neue Lage mit Not­ wendigkeit soziale Reformen und Mittelstandspolitik in den Vorder­ grund der inneren Aufgaben gestellt habe. Mit Freuden begrüße er „das Bekenntnis der Thronrede zur Sozialreform, aber auch die Aus­ führungen, die der Herr Reichskanzler in seinem Briefe gemacht hat, den er an das Direktorium des Centralverbandes Deutscher Industrieller gerichtet hat, und daß gerade diesem Verbände gegen­ über das Bekenntniß in dieser programmatischen Erklärung abgegeben ist, daß der Herr Reichskanzler hofft, daß ihm bei den künftigen Bemühungen der verbündeten Regierungen zur Abstellung sozialer Mißstände und zur Milderung der wirtschaftlichen Gegensätze die Unterstützung des Centralverbandes zu teil wird." Dies weise darauf hin, „daß der Herr Reichskanzler sich der Hoffnung hingibt, daß man nunmehr alle scharfmacherischen Projekte in den Hintergrund treten läßt und dafür die positive Sozialreform in den Vordergrund schiebt. Meine Herren, das ist ein Verdienst des heutigen Kurses, daß wir seit der Leitung der Geschäfte durch den Fürsten Bülow verschont

geblieben sind mit solchen Gesetzen, wie es das und Zuchthausgesetz war. Ich meine, gerade Wahlen, die Tatsache, daß es uns gelungen ist, Tausenden und aber Tausenden, früher unter

verflossene Umsturzdas Resultat dieser das Vertrauen von sozialdemokratischem

Einfluß stehender Arbeiter zurückzugewinnen muß dazu führen, uuf diesem Wege zu verharren, und unter keinen Umständen diese gesunde

Entwickelung zu unterbrechen durch Polizeigesetze, die am letzten Ende

nur den Erfolg haben können, die Genossen enger aneinander zu scharen, aber auch über den Kreis der sozialdemokratischen Genossen hinaus in den Kreisen aller deutschen Industriearbeiter und der damit zusammenhängenden Berufsklaffen größtes Mißtrauen gegen Staat und

Gesellschaft hervorzurufen".

Hieran knüpfte der Abgeordnete Basser-

27 mann den Ausdruck seiner Ueberzeugung, daß in der Sozialdemokratie

eine rückläufige Bewegung eingetreten sei. Diese Ueberzeugung steht doch wohl in einem gewissen Wider­

spruch zu den eigenen Worten, mit denen der Redner seine Bemerkungen über die Sozialpolitik einleitete. Denn er hatte gesagt: „Es ist eine neue

Lage

hervorgerufen

durch

die

Zurückdrängung

der Sozial­

demokratie, nicht in der Stimmenzahl — sie haben ja bekanntlich an Stimmen wohl noch, es ist eine Viertel-Million, zugenommen —

aber doch in ihrem Einfluß."

Es

muß zum mindesten sonderbar

erscheinen, wenn der Abgeordnete fast in einem Atem die Zunahme der abgegebenen Stimmen um 1/i Million feststellt und dann von

einer außer Zweifel stehenden rückläufigen Bewegung der Sozialdemo­ kratie in den Kreisen der Arbeiter spricht. Auch die Vorkommnisse im wirtschaftlichen Leben, die seit der Zeit der Wahlen von den sozial­ demokratischen Gewerkschaften veranlaßten schweren Kämpfe in der

Textil- und Metallindustrie,

ganz besonders aber im Baugewerbe und

in den Schiffahrtsbetrieben unserer großen See- und Handelsplätze, sind wohl genügende Beweise für die Irrtümlichkeit der Ueberzeugung des Abgeordneten Bassermann. Diese Ausführungen des Führers der Nationalliberalen stellen ferner fest, daß seine Partei entschieden Stellung nimmt gegen gesetzliche Maßregeln jeder Art,

die ergriffen

werden könnten, um dem verwerflichen, zügellosen Treiben der Sozial­ demokratie und ihrer Gewerkschaften ein Ziel zu stecken. In dieser Beziehung muß immer wieder hingewiesen werden auf den erbarmungslosen Terrorismus, mit dem die Nichtorganisierten und Arbeitswilligen behandelt werden, auf die vorgekommenen Exzesse in Hamburg und auch auf die skandalösen, fast an Tumulte grenzenden

Vorkommnisse in neuester Zeit auf den Berliner Bahnhöfen, die von den Posten der für den Achtstundentag kämpfenden Bauarbeiter täglich veranstaltet werden,

um die zuziehenden Arbeitswilligen wieder zur

Abreise zu nötigen.

Bei diesem Ausstande sind in Berlin und dessen

Umgebung schwere Gewalttaten gegen Arbeitswillige verübt worden. Gesetzliche Maßregeln um solchem Unwesen zu steuern, die vor nicht

gar langer Zeit von den verbündeten Regierungen und selbst von dem Grafen von Posadowsky, dessen arbeiterfreundliche Gesinnung mit

vollem Recht in den höchsten Tönen gepriesen wird, für durchaus not­

wendig

gehalten

wurden,

bezeichnete der Abgeordnete

namens seiner Partei als Polizeigesetze,

die,

Bassermann nach seinen oben ange­

führten Worten, nur dazu beitragen würden die Sozialdemokratie zu starken und weite Klassen der Bevölkerung gegen den Staat und die Gesellschaft aufzuregen.

28 Der Abgeordnete sprach dann über die Organisation des Reichs­

amts des Innern. Er bezweifelte ob es auf die Dauer möglich sein würde, in diesem Reichsamt „die ganze Sozialrefonn, die ganze Mittel­ standspolitik zu behandeln und gleichzeitig dieses Amt fungieren zu lassen als Handelsministerium zur Vorbereitung von Handelsverträgen und zur Erledigung der ganzen Zollfragen". Er bestätigte, daß die Sozialpolitik des Grafen von Posadowsky im Reichstage seit Jahren Vertrauen gefunden habe. Schon oft aber sei der Eindruck hervor­ gerufen worden, „daß die Projekte, die er uns bringt, nicht seiner ursprünglichen Meinung entsprachen, sondern daß seine weit­ schauende Sozialpolitik sich gepaart hätte mit engherzigen Auffassungen aus dem preußischen Staatsministerium und daß aus dieser Paarung dann solch ein Wechselbalg entstanden ist, wie beispielsweise das Gesetz über die Berufsvereine". Diesen Gesetzentwurf verurteilte der Abge­ ordnete Bassermann in schärfster Weise. Er meinte, daß auch die Staatsministerien für Preußen und Sachsen zu der Auffassung kommen

sollten, daß solche Gesetze aus einem freiheitlichen Geiste heraus geboren werden müßten und nicht aus einer Auffassung, als wenn man die Arbeiter nur gängeln und reglementieren und überwachen wollte. „Man muß die Anschauung aufgeben, daß man durch kleinliche polizeiliche Maßregeln, die sehr oft auch zur Schikane werden, etwas erreichen

könnte." Der Abgeordnete teilte dann mit, daß seine Partei die Errichtung eines Reichsarbeitsamts unter Beteiligung einer gleichen Zahl von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und von paritätischen Arbeitskammern verlange. Diese Fragen seien nach seiner Meinung spruchreif. Auch auf dem Gebiete der Mittelstandspolitik erachtete der Redner eine Reihe gesetzlicher Aufgaben für spruchreif. Seine Partei vertrete den Standpunkt, „daß der Staat Sozialpolitik nicht einseitig machen kann für die Industriearbeiter, sondern daß er anderen notleidenden Schichten, die im heutigen Konkurrenzkampf nicht mehr recht mitkommen,

auch die Wohltaten der Gesetzgebung geben muß".

Den Beweis der

Dortrefflichkeit der bisherigen Mittelstandspolitik erblicke er in dem Ab­ zweigen zahlreicher Mitläufer der Sozialdemokratie aus dem Stande

der kleinen Bauern, Kaufleute und Handwerker bei den letzten Wahlen. Als zunächst zu erledigende Fragen bezeichnete er die des kleinen Be­ fähigungsnachweises. Hinsichtlich der staatlichen PensionS- und In­ validenversicherung der Privatbeamten verwies Bassermann auf die

von den Abgeordneten seiner Partei, Freiherrn Heyl zu Herrnsheim und Dr. Stresemann eingebrachte Interpellation. Dann kündigte er an, daß seine Partei wieder die Anträge einbringen würde, betreffend die

29 Rechtsverhältnisse der Handelsgehilfen und technischen Beamten. Im Zusammenhänge damit hielt er auch die Regelung der Arbeitszeit in Kontoren des Handelsgewerbes für spruchreif. Der Redner forderte

ein freiheitliches Vereins- und Versammlungsrecht.

Er begründete die

Forderung u. a. wiederum damit „daß man große Klassenbewegungen, wie es die sozialdemokratische Bewegung ist, nicht bekämpfen und nicht Herr über sie werden kann durch Polizeimaßregeln, sondern daß das gemacht werden muß durch organische Reformgesetze und durch ein solches Verhalten von Staat und bürgerlicher Gesellschaft den Arbeitern gegenüber, welches das Vertrauen zurückgewinnt". Dieser Ansicht des Abgeordneten Bassermann gegenüber wäre vielleicht die Frage gerechtfertigt, ob es ein Verhalten geben könne, das mehr geeignet erscheine das Vertrauen der Arbeiter zurück­ zugewinnen, als das des großen Kaisers und seines Kanzlers, durch welches den Arbeitern Wohltaten erwiesen sind, wie sie die Geschichte der Menschheit bisher noch nicht verzeichnet hat. Und dennoch ist es ihnen nicht möglich gewesen das Vertrauen der Arbeiter zurück­ zugewinnen. Trotzdem hält, nach den weiteren Ausführungen ihres Vertreters, die nationalliberale Partei an der Ansicht fest, daß die Sozialdemokratie lediglich mit geistigen Waffen bekämpft werden dürfe, und zur Anwendung dieser Waffen eine wesentlich freiere Gestaltung des Versammlungsrechtes, nach seiner persönlichen Auffassung ganz besonders die Gleichstellung der Frauen mit den Männern in diese Rechte gehöre. Ob auf diesem Wege dem Mißbrauch sollte gesteuert werden können, den die Sozialdemokratie mit dem Versammlungsrecht betreibt — von dem Mißbrauch der Presse hier gar nicht zu reden —, werden besonders die Industriellen in dem rheinisch-westfälischen Kohlenrevier stark bezweifeln. Denn sie haben ausreichende Gelegenheit gehabt

aus nächster Nähe zu betrachten, wie die in den sonntäglichen Ver­ sammlungen getriebene Verhetzung die Arbeiter schließlich dahin ge­ führt hat, in frivolster Weise einen der größten Ausstände zu be­ ginnen, der jemals in unserem Vaterlande stattgefunden hat. Es ist

zu vermuten, daß die von dem Abgeordneten Dr. Bassermann dar­ gelegte künftige Stellung der Nationalliberalen zur Sozialpolitik, die Arbeitgeber und Unternehmer im Kohlenrevier ganz besonders inter­ essieren wird. Nach dem Abgeordneten Dr. Bassermann

ergriff das Wort

der Reichskanzler Fürst von Bülow, [um in der Hauptsache mit Bezug auf die Auflösung des Reichstags seine Stellung zum Zentrum, zu der neuen Mehrheit, zu den Wahlen und zu den allgemeineu

30 politischen Verhältnissen

klarzulegen.

Ziemlich

am Schlüsse seiner

hierauf bezüglichen Ausführungen verwies der Reichskanzler auf die

eigentümlichen Verhältnisse „in unserer ganzen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und konfessionellen Struktur", die auf der Gmndlage unseres Wahlrechts das Zustandekommen einer homogenen Mehrheit ver­ hindern. Er wies nach, daß selbst im Zentrum Gegensätze, „wie sie

etwa zwischen dem Herrn von Heydebrand und dem Herrn Fisch­ oder Herrn von Payer bestehen", vorhanden seien, und daß

beck

diese verschiedenartigen Elemente nur durch das konfessionelle Band zusammengehalten würden. Diesen Nachweis führte der Reichskanzler, um als durchaus erklärlich darzustellen, daß auch die aus den Wahlen hervorgegangene Mehrheit über manche Punkte auseinandergehe. Wenn diese Mehrheit positive Arbeit leisten solle, dann werde auch jeder leitende Staatsmann mit der Verschiedenartigkeit ihrer Zusammen­ setzung rechnen müssen. Mit der hier anschließenden Bemerkung: „Ich, meine Herren, werde ihr Rechnung tragen" entwickelte der Reichskanzler nunmehr in kurzen, aber höchst bedeutungsvollen Sätzen ein großzügiges Programm. Er sagte: „Meine Herren, ich habe hier mal gesagt, daß ich keine Vorurteile hätte. Das soll nicht bedeuten, daß ich heute konservativ und morgen liberal regierm könnte, heute die nach pflichtmäßiger Ueberzeugung von mir vertretene Wirtschafts­ politik führen, morgen mich dem Freihandel zuwenden könnte. Nein, meine Herren, in dem Schutz aller nationalen Arbeit, in der gleich­ mäßigen Berücksichtigung der Interessen aller Erwerbsziveige, in dem Schutze, dem vollen Schutze für die Landwirtschaft, in der Förderung der Industrie, in der Fürsorge für die Arbeiter werde ich mir treu bleiben. Diese Politik betrachte ich als mein eigenstes Werk, das ich

nicht zerstören werde. Dazu habe ich um so weniger Veranlassung, als sich diese Politik durchaus bewährt hat, wirtschaftlich und auch politisch bei den Wahlen." „Das schließt aber nicht aus, meine Herren, daß ich denjenigen

Wünschen entgegenkomme, die auf anderen Gebieten von der bürger­ lichen Linken gehegt werden. Der Herr Abgeordnete Bassermann hat ja soeben eine Reihe solcher Wünsche geäußert, über die sich reden

läßt. Ich denke da an eine Reform unseres Vereins- und Ver­ sammlungsrechtes. Ich denke an Ersparnisse durch Vereinfachung, auch in der Armee; ich denke an die Reform des Strafrechtes und der Strafprozeßordnung,

an die Aufbesserung der Beamten in ihren

Bezügen." „Durch die hochherzige Initiative unseres Kaisers soll, wie Sie

aus

der Thronrede

ersehen

haben,

durch

die

Beschränkung

der

31 Majestätsbeleidigungsprozesse

einem

in weiten

Kreisen

herrschenden

Wunsche entsprochen werden." „Im Interesse des Staatskredits und unseres ganzen Wirtschafts­ lebens werden, wie ich hoffe, Rechte und Linke dahin wirken, daß unser Kapitalsmarkt gekräftigt wird, und daß unsere Börse in den Stand gesetzt wird, ihrer Aufgabe als wichtiges nationales Wirtschafts­ instrument gegenüber den Börsen des Auslandes besser als bisher gerecht zu werden. Die Praxis hat zweifellos ergeben, daß durch einzelne Bestimmungen der gegenwärtigen Gesetzgebung die deutschen Börsen in ihrem Wettbewerb mit den ausländischen Börsen in eine nachteilige Stellung gedrängt sind, die dem Gesamtinteresse des Landes nicht entspricht." Zur Sozialpolitik übergehend sagte der Reichskanzler weiter: „Wir werden uns, meine Herrn, auch wie ich hoffe, einig finden in der Fortführung einer gesunden, kräftigen, vorurteilslosen, vernünftigen Sozialpolitik. Auf diesem Gebiete wird nicht Rückschritt und nicht Stillstand, sondern Fortschritt unsere Losung sein. Die Sozialpolitik soll aber nicht Halt machen, wenn für den Arbeiter gesorgt ist, sie soll nach meiner Ueberzeugung auch in verständigen Grenzen dem Mittel­ stände zu gute kommen, der vielfach mindestens ebenso schwer zu kämpfen und zu leiden hat, wie die eigentlich arbeitende Bevölkerung."

Diese Ausführungen des Reichskanzlers waren von wiederholtem lebhaften Beifall der Mehrheitsparteien unterbrochen. Ihnen ist auch

der Beifall in der gesamten deutschen Industrie sicher; denn diese will keinen Rückschritt oder Stillstand in der Sozialpolitik, sondern sie ist durchaus einverstanden mit deren künftiger Fortführung, wenn dabei „vorurteilslos" verfahren wird, und wenn bei ihr „vernünftige" Grund­

sätze zur Geltung gelangen. In der vierten Sitzung des Reichstages am 24. Februar hielt zuerst der Abgeordnete Bebel eine sehr lange Rede, in der er sich hauptsächlich mit anderen Dingen, als dem Etat, und auch mit der

Sozialpolitik beschäftigte. Mit Bezug auf die von dem Abgeordneten Bassermann behauptete „rückläufige Bewegung" in der Sozial­ demokratie machte er Mitteilungen über das Stimmenverhältnis in seiner Partei. Bebel sagte: „Wir hatten 1903 3 010000 Stimmen und mit Hilfe der Stichwahlen 81 Mandate. Im Jahre 1907 haben wir auf unsere Kandidaten 3 260 000 Stimmen vereinigt und haben

nur 43 Mandate. Das ist ja bedauerlich für eine Partei, wenn sie derart an Mandaten verliert, aber zum Krankwerden ist es nicht, das kann ich Ihnen sagen!

Wir sind so munter, wie nur jemals vorher Was Sie uns diesmal mit

und wir haben die feste Ueberzeugung:

32 allen Mitteln abgejagt haben, das holen wir uns das nächste Mal wieder! Die Tatsache steht fest, daß von den 13 Millionen Wählern im Deutschen Reich der vierte Mann, über 25 Jahre alt ein Sozial­

demokrat ist, und wenn Sie (nach rechts) das vergnügt macht (auf der rechten Seite des Hauses war gelacht worden) nun, wir haben nichts dagegen! Wenn ein gerechtes Wahlsystem im Reiche bestände, so hätten wir mit unseren 3 260 000 Stimmen 117 Mandate statt 43." Auch die Behauptung in der Thronrede, daß der sozial­ demokratischen Bewegung Halt geboten worden sei, bezeichnete Bebel als eine objektive Unwahrheit, die durch die Wahhiffern wiederlegt sei. Die Zahl der Mandate entscheide nicht, die hänge in zahlreichen Fällen von Zufälligkeiten ab. Mit Bezug auf die Sozialpolitik behauptete Bebel, daß alles was seither auf sozialpolitischem Gebiete erreicht worden sei und was jetzt aus der Initiative der Partei beantragt werde, von den Sozial­ demokraten, besonders in dem von seiner Partei im Jahre 1884 ein» gebrachten Arbeiterschutzgesetz, bereits verlangt, aber damals als un­

möglich zurückgewiesen worden sei. In der Thronrede sei gesagt worden, daß die Sozialdemokratie den Staat und die Gesellschaft in ihrer fried­ lichen Entwickelung bekämpfe. Mit Bezug hierauf nahm Bebel für seine Partei nicht nur das Verdienst in Anspruch, alle Anregungen zu der sozialpolitischen Bewegung gegeben zu haben, das treibende Moment bei allen sozialpolitischen Gesetzen gewesen zu sein, sondern er behauptete, daß überhaupt alle reformierende und organisierende Kulturarbeit von ihr ausgegangen sei. Dafür berief sich Bebel auf die Aus spräche deutscherGelehrten und Staatsmänner, so u.a. auf Professor Schmoller, der Ende September 1899 gesagt hatte: „Ich muß gestehen, so sehr ich auch die Irrlehre der Sozialdemokratie bekämpfe, so sehr begrüße ich das Fortschreiten der Arbeiterbewegung im Interesse der Bildung, Gesundheitspflege und Kultur überhaupt. Ich stehe nicht an, es aus­ zusprechen, daß ich für die meisten sozialdemokratischen Führer eine große persönliche Hochachtung habe." Ferner berief er sich auf den badischen Minister des Innern Dr. Schenkel, der am 22. Februar 1904 gesagt hatte: „Die Sozialdemokratie ist zu einem großen Teile eine

berechtigte, aus gesunden Motiven hervorgegangene Bewegung. Ich möchte daher ihre Vertreter hier im Hause nicht missen." Solche Aussprüche, besonders der letztere, legen Zeugnis ab von einer gänzlichen Verkennung der von den Führern der Sozialdemokratie verfolgten Ziele. Diese stellen durchaus nicht die wichtige und er­ strebenswerte Aufgabe dar, die unteren Klassen zu heben, sondern vielmehr ihren wirtschaftlichen Aufstieg zu hemmen, um sie empfäng-

33 licher für die, alle Autorität untergrabende Hetzarbeit zu machen.

Wie

könnten die Führer sonst — um nur das eine heroorzuheben — in

zahllosen mutwillig veranstalteten Ausständen kalten Blutes Hunderte von Arbeitern mit ihren Familien in Not und Elend stürzen. Die angeführten Aeußerungen sind

in der Tat sehr wohl geeignet,

die

Selbstgefälligkeit und Ueberschätzung der sozialdemokratischen Führer zu steigern und ihr Ansehen bei den Arbeitern und ihren Einfluß auf

die unteren Volksschichten zu vermehren. Bebel hob dann den Satz aus der Thronrede hervor, die ver­ bündeten Regierungen seien entschlossen, die sozialen Werke des Kaiser Wilhelm I. fortzuführen. „Aber, meine Herren," so fuhr er fort, „es ist doch charakteristisch, daß in demselben Augenblick, in dem in der Thronrede eine derartige Ankündigung erfolgt, bereits in einem Teil der konservativen Presse ein Geschrei darüber entsteht, daß die Sozial­ politik fortgesetzt werden solle. Ich erinnere an das Verhalten des Centralverbandes der Großindustriellen." Auf den Zuruf von rechts: „Das sind keine Konservativen!" rief Bebel zurück: Sie nur, die kommen nachher!"

„Warten

Was Bebel mit dem Hinweis auf den Centralverband gemeint hat, ist nicht zu verstehen, denn in der Zeit von der Eröffnung des Reichstages und dem Bekanntwerden der Thronrede bis zum Tage, an welchem Bebel seine Rede hielt, hat seitens des Centralverbandes keine Kundgebung irgend welcher Art mit Bezug auf sozialpolitische Angelegenheiten stattgefunden. Nach dem langen Hin und Her seiner Rede kam Bebel endlich, ziemlich am Schluß, dazu, einigermaßen zusammenhängend die For­ derungen der Sozialdemokratie auf sozialpolitischem Gebiete darzulegen. „Ich verlange ein demokratisches Vereins- und Versammlungsrecht." Dabei berief er sich auf den sogenannten Silvesterbrief des Reichs­ kanzlers, in dem dieser gesagt habe, der deutsche Arbeiter sei der gebildetste der Welt. „Nun gut, Herr Reichskanzler," so rief der Abgeordnete Bebel, „wenn das Ihre Ueberzeugung ist — und ich be­ zweifele das nicht — so ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den deutschen Arbeiter genau so zu behandeln,

wie die minder ge­

bildeten Arbeiter in anderen Ländern schon behandelt werden. So hat der Schweizer Arbeiter, der nach Ihnen nicht der gebildetste Arbeiter ist, schon mit 20 Jahren das Wahlrecht für die Kommune,

für den Kanton, für den Nationalrat und er hat ein absolut freies Vereins- und Bersammlungsrecht dazu. Auch der belgische, der

englische Arbeiter haben ein absolut freies Vereins- und Versammlungs­ recht. Frau und Mann werden gleich behandelt. Wir verlangen für Heft 106.

34 den „gebildetsten Arbeiter der Welt" dasselbe Recht an Freiheit der Vereine und Versammlungen, welches die Arbeiter anderer Länder längst haben. Also, Herr Reichskanzler, hier werden Sie mit Ihren Der Phrasen sind genug gewechselt, wir wollen endlich Taten sehen! Wir wollen uns nicht länger hinhalten lassen mit schönen Versprechungen." Aus diesen Worten Bebels ist zu ersehen, wie vorsichtig man, im Hinblick auf die Sozialdeniokratie, mit Aussprüchen über die Arbeiter sein sollte. Denn die sozialdemokratischen Führer verstehen es, eigenen Worten angenagelt!

solche Aeußerungen vollkommen gegen den Sinn und gegen die Bezie­

hungen, in denen sie gemacht worden sind, zu ihren Gunsten auszulegen. Bebel verlangte weiter „die Sicherung des Koalitionsrechtes

der Arbeiter gegen polizeiliche und richterliche Uebergriffe. Wir ver­ langen die Gleichheit der Behandlung der Unternehmer und der Arbeiter. Wir wollen, daß der Arbeiter und der Unternehmer mit dem gleichen Masstabe behandelt werden, was ja heute leider nicht der Fall ist. Wir verlangen, daß der Arbeiter von seinem Menschenund Staatsbürgerrecht Gebrauch machen und die Arbeit einstellen kann, ohne daß mit Gewalt, Drohung, Mord und Totschlag gegen die streikenden Arbeiter vorgegangen wird". Und nun kam Bebel zu der fast un­ glaublichen Behauptung, daß die armen Streikenden von den Arbeits­ willigen und Streikbrechern mißhandelt und terrorisiert würden. Bebel forderte weiter die Beseitigung der Klassenjustiz, so daß Recht und Gerechtigkeit für alle im Deutschen Reiche gelte. Er ver­ langte die Schaffung eines Reichsberggesetzes, eines Bergarbeiterschutzes, der Unglücksfälle, wie jüngst auf der Grube Rheden, unmöglich macht. Für die Arbeiter verlangte er eine Organisation, in der sie ihre Inter­ essen nach allen Richtungen, im vollen Maße, in voller Freiheit

und Unabhängigkeit gegenüber den Unternehmern und der Staats­

gewalt vertreten können. Er verlangte volle Gleichheit der politischen Rechte ohne Unter­ schied des Geschlechts und des Standes, und Strafe jedem, der es wagt, eine Person wegen ihrer religiösen oder politischen Ueberzeugung zu maßregeln oder zu schädigen. Er forderte endlich für die Beamten und Staatsarbeiter das Recht, frei ihre Ueberzeugung sagen zu dürfen, ohne befürchten zu müssen, gemaßregelt oder existenzlos gemacht zu

werden. Bebel schloß seine Rede mit folgenden großen Worten: „Meine Herren, unser Ziel ist die demokratische Organisation des Staates. Wir wollen die höchste Hebung der körperlichen, der geistigen und der politischen Bildung des Volkes. Auf diesem Gebiete geht keine Partei in diesem Hause auch nur annährend so weit wie

35 die Sozialdemokratie. Wir wollen ein Staatswesen, das auf der Höhe der Kultur steht, in dem auch dem letzten seiner Staatsangehörigen die Möglichkeit gegeben wird, ein menschenwürdiges Dasein zu führen und als Kulturmensch sich auszuleben." „Wir wollen den Fortschritt auf allen Gebieten. Wir bekämpfen die Standes- und die Klassenherrschaft. Wir wollen, daß Deutschland

ein Land werde,

das in der Welt hochgeachtet und geehrt dasteht,

als ein Muster für alle Staaten! — Das mit Ihnen zu machen ist unmöglich. Der preußische Junker ist die reaktionärste Klasse, die es auf der Welt gibt. So lange in Deutschland das Junkertum existiert, ist von einem wirklichen kulturellen Fortschritt nicht die Rede. So lange das Junkertum der maßgebende Faktor im Staatswesen ist,

wie heute in Preußen und im Deutschen Reich, kann an wirkliche Kulturzustände für alle nicht gedacht werden. Meine Herren, wir werden arbeiten wie bisher. Für uns heißt es: vorwärts auf allen Gebieten ohne Ruh' und Rast und darum: unser die Zukunft trotz alledem und alledem!" Dieser pathetische Schluß rief, wie selbstverständlich, stürmische Beifallsbezeugungen seitens der Sozialdemokraten hervor. Er war be­ sonders von der rechten Seite des Hauses von Widerspruch, Heiter­ keit und Gelächter begleitet. Diese 17 Seiten des stenographischen Berichts füllende Rede Bebels, des hervorragendsten Führers der Sozialdemokratie, hatte wesentlich den Zweck, durch schwere Angriffe auf den Reichskanzler, insbesondere durch schamlose Verunglimpfungen des preußischen Staats und seiner Regierung und durch ähnliche Angriffe auf die Parteien

der neuen Mehrheit, die Niederlage der Sozialdemokratie bei den Wahlen zu verschleiern und zu beschönigen. In dieser Beziehung er­ fuhr die Rede Bebels seitens des Reichskanzlers, der sofort das Wort ergriffen hatte, eine köstliche Charakteristik. Der Reichs­ kanzler sagte: zu benehmen.

„Geschlagene Feldherren pflegen sich ja verschiedenartig Entweder sie hüllen sich in Schweigen — das ist wohl

das würdigste — (Heiterkeit), das tat z. B. der tapfere Benedek; oder sie bringen sich selbst um, wie der alte Cato (große Heiterkeit) — das läßt sich auch sehen — (wiederholte große Heiterkeit);

Niederlage

erhöht noch

oder aber die

die Redseligkeit (stürmische Heiterkeit),

eine

gewisse gereizte Redseligkeit. Ich glaube aber, daß in unserem heutigen Falle das keinen großen Eindruck machen wird — außerhalb der Partei (große Heiterkeit), und ich möchte beinahe sagen, außerhalb der nächsten persönlichen Anhängerschaft des Herrn Abgeordneten Bebel (sehr richtig!), seiner allerintimsten persönlichen Umgebung."

36 Wie die erste Rede des Reichskanzlers gegen das Zentrum, so

war diese zweite Rede in wirkungsvollster Weise gegen die Sozial­ demokratie gerichtet. Der Reichskanzler erinnerte zunächst daran, daß Bebel vor wenigen Jahren auf dem sozialdemokratischen Partei­ tag in Dresden gesagt habe, „er sei ein Todfeind der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, und er werde nicht eher ruhen und rasten, als bis er diese gesellschaftliche Ordnung zerstört und vernichtet habe". Wenn ihm, dem Reichskanzler, im Gegensatz zu seinem großen Vorgänger, dem Fürsten von Bismarck, Parteilichkeit gegen die Sozialdemokratie vorgeworfen werde, so erividere er darauf, „daß, so lange die Sozialdemokratie die Monarchie bekämpft, welche die Grundlage unserer Verfassung ist, jeder Minister, der seine Schuldig­ keit tut, Partei nehmen muß gegen die Sozialdemokratie, das hat Fürst Bismarck getan und das wird jeder seiner Nachfolger tun." Der Reichskanzler bezeichnete die von den Sozialdemokraten erlittene Niederlage als wohlverdient; zunächst wegen der vorher­ gegangenen Großsprecherei. Aber auch, „weil sie die Strafe war für einen engherzigen, dogmatischen, kleinlichen, philiströsen Geist, der blind gegen alle anders Denkenden wütete, und trotz allem Gerede von Kulturhöhe an der Schwelle des 20. Jahrhunderts eine Unter­ drückung ausübte, ein Zwangssystem betätigte, eine Gesinnungs­ schnüffelei betrieb, ein geistiges Joch vorbereitete, wie es die Welt kaum im Mittelalter gesehen hat." Die wegen dieser Anschuldigungen ausgebrochene Unruhe untzr den sozialdemokratischen Abgeordneten, veranlaßte den Reichskanzler,

zahlreiche Belege für die Richtigkeit des

der Sozialdemokratie vor­

gehaltenen Sündenregisters beizubringen. Weiter bezeichnete der Reichskanzler die Niederlage der Sozial­ demokratie als eine wohlverdiente Strafe „für eine politische Kampfes­ weise und für eine publizistische Methode,

wie sie so brutal die ze-

bildete Welt doch wohl kaum gesehen hat." .... „Ich bin," so fuhr der Reichskanzler fort, „viel herumgekommen, ich habe infolge meires Lebensganges viel im Auslande gelebt, ich entsinne mich aber nicht, irgendwo derartige Rüpeleien erlebt zu haben, wie sie namentlich seit dem Dresdener Parteikongreß die sozialdemokratische Presse in unser früher anständiges und vornehmes, von idealistischem Schwünge zetragenes öffentliches Leben einzubürgern sucht. Und das war ane

logische Entwickelung.

Aus dem Haß geboren,

mußte die sozial­

demokratische Presse schließlich bei dem Sauherdenton anlangen.

Nicht

nur die Monarchie, die Armee, nein, das Vaterland, die Nation, aLs, was der großen Mehrheit unseres Volkes heilig und teuer ist, wurde

37 mit

einer Wut, mit einem Ingrimm verfolgt,

mit dem

der große

Dichter seinen Caliban alles Hohe und Edle angreifen läßt. Und dieser Tonart, das will ich ganz besonders konstatieren, ist die sozialdemo­ kratische Partei auch in diesem Wahlkampf treu geblieben. Wie ein

Jndianerstamm auf dem Kriegspfad sind sie in diesen Wahlkampf gezogen. Unglaubliches ist geleistet worden, nicht nur im Herunter­ ziehen nationaler Empfindungen und Gefühle, sondern auch in der

Beschimpfung der Gegner." Auch hierfür brachte der Reichskanzler drastische Belege bei. So unter anderem, daß die „Frankfurter Zeitung" — sie steht bekanntlich in ihren sozialpolitischen Anschauungen der Sozialdemokratie sehr nahe — gesagt habe: „Sie, die Sozialdemokratie, habe im Wahl­ kampfe von den verwerflichsten Mitteln der Fälschung und Ver­ leumdung den umfassendsten Gebrauch gemacht." Die Niederlage der Sozialdemokratie sei aber auch die gerechte Strafe „für den so rücksichtslos von ihr geführten Klassenkampf, für ihre Gehässigkeit, für ihre Taktik der Verhetzung; sie wäre wohlverdient wegen der terroristischen Art und Weise, in der die Sozialdemokratie mit Einschüchterungen auf Unterdrückung arbeitet, wegen ihrer des­ potisch-terroristischen Allüren." Indem der Reichskanzler auf die verschiedenartigen von der Sozialdemokratie auch nach den Wahlen verübten Ausschreitungen verwies, sagte er weiter: „Ich hoffe, meine Herren, daß die Anhänger der bestehenden Ordnung der Dinge — die .Ordnungslümmell, wie sie die sozialdemokratische Presse geschmackvoll nennt — solchen Exzessen fest und mutig die Stirne bieten werden! Ich erwarte, daß die Be­ hörden ihre Schuldigkeit tun und daß sie die öffentliche Ordnung und die Freiheit der Bürger gegenüber sozialdemokratischem Terrorismus mit Energie schützen werden!"

Weiter sei die Niederlage wohlverdient gewesen als Strafe für ihre öde Verneinungs- und Nörgelpolitik.

Mit Bezug auf die gegenteiligen Behauptungen Bebels, der für die Sozialdemokratie in Anspruch genommen hatte, daß alle An­ regungen in Bezug auf den Gang der sozialpolitischen Gesetzgebung von ihr ausgegangen seien, sagte der Reichskanzler:

„Ja, weshalb diese Anregungen? Sie waren darauf zurück­ zuführen, daß die Sozialdemokratie auch damit die Erregung von

Unzufriedenheit betrieb, indem sie Forderungen aufstellte, die in diesem Umsang niemand erfüllen kann, indem sie Wünsche erweckte, die völlig zu befriedigen niemandem gegeben ist. Wenn aber dann die ver­ bündeten Regierungen aus solchen phantastischen oder perfiden Forde-

38 rungen und

Wünschen

einen

vernünftigen,

gesunden, realisierbaren

Kern herausschälten, so hat die Sozialdemokratie fast immer dagegen

gestimmt, sich fast regelmäßig dagegen erklärt." Der Reichskanzler beschäftigte sich dann mit dem Revisionismus. Es habe Zeiten gegeben, in denen ernsthafte Hoffnungen auf ihn gesetzt worden seien. Er, der Reichskanzler selbst sei vielleicht von solchen Hoffnungen nicht ganz frei gewesen. In äußerst abfälliger Weise schilderte der Reichskanzler, wie der Revisionismus auf dem Parteitag in Dresden vor Bebel „wie ein Taschenmesser zusammen­ geklappt sei", wie er stets nachgegeben habe, immer tanze, wie der Radikalismus pfeife, und in absehbarer Zeit keine Rolle mehr spielen

werde. „Ich habe Ihnen, meine Herren," so fuhr der Reichskanzler zu den Sozialdemokraten gewandt, fort, „vor Jahren zugerufen: betreten Sie den Boden der Legalität, betreten Sie den Boden der Vernunft, hören Sie auf, Gefühle zu verletzen die der großen Mehr­ heit des deutschen Volkes heilig sind! und — so schloß ich — manche Gegensätze können sich mildern. Sie haben meine Aufforderung mit Gelächter ausgenommen. Sie haben sie nicht befolgt. Die deutsche Sozialdemokratie hat zum Schaden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Streiks in mutwilliger Weise hervorgerufen, sie hat mit der Idee des Massenstreiks, mit der Idee der Revolution ein frivoles, ein ruchloses

Spiel getrieben, sie ist immer fanatischer, immer terroristischer, immer kulturwidriger geworden. Solange sie sich in dieser Beziehung nicht wandelt, ist kein Paktieren, ist keine Verständigung mit ihr möglich." Die Niederlage sei ferner zurückzuführen auf die Unwahrhastig­ keit der Agitation; das habe einer der guten Köpfe unter den Sozial­ demokraten, Herr Schippe!, selbst in einem Artikel hervorgehoben und gemeint, viele Wähler hätten das „Geflunker" satt bekommen. Endlich sei die Niederlage wohlverdient gewesen wegen der unpatriotischen Haltung der Sozialdemokratie. „Nur die deutsche

Sozialdemokratie stellt internationale Ideale über die nationalen, nur den deutschen Sozialdemokraten fehlt bedauerlicherweise noch immer jeder Sinn für nationale Bedürfnisse und Forderungen. Die Sozial­

demokraten aller anderen Länder stehen mit verschwindenden Aus­ nahmen in großen nationalen Fragen zu ihrem Volke. Wann hat je ein namhafter ausländischer Sozialdemokrat erklärt, daß der Sozialdemokrat das Vaterland nur dann verteidigen könne, wenn das Parteiprinzip das zulasse? Glauben Sie, daß Jaurös, daß Millerand, daß Turani je so etwas sagen würden? Nie und

nimmermehr! Und das war doch der Sinn mancher Ausführungen, die wir hier von dem Abgeordneten Bebel in früheren Jahren

39 gehört haben.

Das

nenne ich eben unpatriotisch und vaterlandslos,

wenn man die Partei über das Vaterland stellt, Vaterlande

ein

Sedan,

ein Jena

wünscht,

wenn man dem vorausgesetzt, daß die

Partei dabei prosperiert." Jüngst sei in einem Artikel des „Vorwärts" behauptet worden, Deutschland halte nur deshalb Südivestafrika fest, um von dort aus

den englischen Besitz in Südwestafrika zu bedrohen. Der Reichs­ kanzler bezeichnete diese Insinuation als eine „niederträchtige Ver­ leumdung" und einen „Hellen Unsinn"; sie sei dazu bestimmt gewesen, im Auslande Mißtrauen zu erwecken und das Ausland Deutschland

auf den Hals zu hetzen. Die Bedeutung der Niederlage der Sozialdemokraten erblickte der Reichskanzler in zwei Momenten. Zunächst sei durch sie zu Tage getreten, daß die sozialdemokratische Bewegung nicht, „wie dies gewisse Bonzen der sozialdemokratischen Lehre behaupten", mit Notwendigkeit steigen, mit elementarer Gewalt alles überschwemmen müsse. Wenn die bürgerliche Gesellschaft zum Schutze ihrer Freiheit und Kultur die nötigen Schutzdämme und -Deiche aufführt, so würden die trüben Gewässer der Sozialdemokratie weichen und zurückgehen. Zum andern erblickte der Reichskanzler die Bedeutung der Niederlage in dem Umstande, daß der Sieg erfochten sei durch die

eigene Kraft des Bürgertums mit dem Stimmzettel in der Hand. Denn die Heilung durch die eigene Kraft des Organismus, von innen heraus, sei „solange sie möglich ist und wenn sie möglich ist" besser als operative Eingriffe. Falsch würde es sein, sich der Illusion hinzugeben, daß die sozialdemokratische Gefahr dauernd und ganz überwunden wäre; sie

sei nur suspendiert, nur gebannt, so lange das Bürgertum einig sei und auf dem Posten bleibe. Es müßte wach bleiben, und vor allem müßten die bürgerlichen Parteien die Organisation für den Wahlkampf,

die sie sich endlich geschaffen haben, weiter ausbilden und ausbaucn. Ganz besonders betonte der Reichskanzler noch, daß dieser Wahlkampf nicht dem deutschen Arbeiter, sondern „der politischen und revolutionären Sozialdemokratie" gegolten habe. Und nun kam

der Reichskanzler auch

indem er fortfuhr:

auf die Sozialpolitik zu

sprechen,

„Das werden die Regierungen, das werden die

bürgerlichen Parteien, das wird dies Hohe Haus dem deutschen Arbeiter beweisen durch die Fortführung jener Sozialpolitik, in der

Deutschland bis heute noch allen anderen Ländern voraus ist." Der Reichskanzler schloß seine Rede mit folgenden höchst bedeutungsvollen Worten:

40 „Meine Herren, die deutsche Sozialdemokratie teilt die

ganze

Gesellschaft ein in zwei große Lager: das Lager der Bourgeoisie und das Lager des Proletariats, zwischen denen eine unüberbrückbare Kluft bestehe, zwischen denen ein unversöhnlicher moderne

Klassenkampf unvermeidlich sein soll.

Ich behaupte zunächst,

daß die

Annahme, als ob die Gegensätze zwischen reich und arm, zwischen gebildet und ungebildet sich immer mehr verschärfen, irrig ist, ich be­

haupte, daß die Doktrin von der Unüberbrückbarkeit dieser Gegensätze, von der Unversöhnlichkeit von Arbeit und Kapital, von der Unver­ meidlichkeit eines unversöhnlichen Klassenkampfes, — daß diese Doktrin durch die tatsächliche Entwickelung der Dinge widerlegt wird. Die

mittlere Schicht, die sich zwischen diesen beiden Polen gebildet hat und sie in geistiger wie in materieller Beziehung einander nähert, ist in der Zunahme begriffen. Und jedenfalls hoffe ich, daß die verbündeten Regierungen, daß die bürgerlichen Parteien, daß alle diejenigen, die eine friedliche und — ich füge hinzu — eine freiheitliche Entwickelung unserer inneren Verhältnisse wünschen, nicht erlahmen werden in dem Bestreben, diese Kluft zu mildern und, soweit dies in menschlicher Macht liegt, zu überbrücken. Ich hoffe, daß weder die verbündeten Regierungen noch die bürgerlichen Parteien sich durch die Sozial­ demokratie irre machen lassen werden in dem Bestreben, durch gewissen­ hafte Erfüllung ihrer sozialen Pflichten die vorhandenen Gegen­

sätze auszugleichen. Ich glaube, daß im letzten Ende die wahren Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer solidarisch sind. Ich glaube, daß, wenn auch erst nach langen und schweren Kämpfen, der Tag kommen wird — ja, er wird kommen! — wo

Kopf und Hand einträchtiger zusammenwirken werden als heute, wo wir auf die sozialdemokratische Bewegung zurückblicken werden wie

der Genesende zurückblickt auf eine böse Krankheit, wie der Erwachende zurückblickt auf einen wüsten Traum." Diese, wie der stenographische Bericht verzeichnete, mit stürmischem

Beifall von rechts und links aufgenommene Rede des Reichskanzlers,

muß als ein schweres, über die Sozialdemokratie abgehaltenes Straf­ gericht charakterisiert werden. Mit Befriedigung werden die Mitglieder des Centralverbandes dieser Rede entnehmen, daß das Urteil des Reichskanzlers über das Wesen und die Ziele der Sozialdemokratie,

über ihr verhetzendes, feindseliges, vaterlandsloses, revolutionäres Treiben, vollständig mit den Anschauungen zusammensällt, die im Centralverbande stets über die Sozialdemokratie geherrscht haben und vertreten worden sind. Besonders sei hervorgehoben, daß die in

diesem Aufsatze mehrmals aufgestellte Behauptung, die Sozialdemokratie

41 rufe zum Schaden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Streiks in mut­ williger Weise hervor, von dem Reichskanzler gleichfalls vertreten wird. Der Reichskanzler hat sich mit dieser Rede, wie es auch der Centralverband stets getan hat, in entschiedenster Weise gegen

die fortgeschrittenen Sozialpolitiker in den bürgerlichen Parteien inund außerhalb des Reichstages gewendet, die stets bemüht sind, die

Sozialdemokratie als ungefährlich, als eine zwar sehr weit links stehende, aber doch nur als eine Oppositionspartei, wie es auch die anderen links liberalen Parteien sind, als eine Arbeiterpartei, dar­ zustellen. Mit diesem Vertuschungssystem, mit dieser Wahnvorstellung, hat der Reichskanzler gründlich aufgeräumt, indem er die wahre Natur der Sozialdemokratie so scharf und treffend, wie es bisher wohl noch niemals von so maßgebender Stelle geschehen ist, darstellie. Auch darin stimmt die im Centralverbande herrschende Auffassung mit der des Reichskanzlers überein, daß die sozialdemokratische Gefahr nicht mit Notwendigkeit wachse, daß die Sozialdemokratie nicht mit

elementarer Gewalt alles überschwemmen müsse. Im Central­ verbande, besonders von dem Schreiber dieser Zeilen, ist immer die Ansicht vertreten worden, daß es mit der Erreichung des auf den Umsturz des Staates und der Gesellschaft gerichteten Zieles der Sozial­

demokratie gute Wege habe, daß vorläufig die große und schwer­ wiegendste von ihr ausgehende Gefahr in der böswilligen und erfolg­ reichen Störung der friedlichen Arbeit liege, von deren Fortgang der Kulturfortschritt unseres Volkes auf allen Gebieten abhänge. Mit dem Reichskanzler ist auch der Centralverband stets überzeugt

gewesen, daß diese Gefahr zurückgedrängt,

daß die Sozialdemokratie

überwunden werden könne, wenn die „nötigen Schutzdämme und -Deiche aufgeführt würden". Treu und fest und opferwillig wird die im Centralverbande vereinigte deutsche Industrie aber auch zu der

Absicht des Reichskanzlers stehen, der deutschen Arbeiterschaft als solcher, mit Fortführung der Sozialpolitik in des Reichskanzlers Sinne, d. h. einer gesunden, kräftigen, vorurteilslosen, ver­ nünftigen Sozialpolitik, zu beweisen, daß der Kampf nicht

gegen sie, die Arbeiterschaft, geführt worden ist und geführt werden soll. Die Ansicht, daß der Gegensatz zwischen reich und arm, zwischen gebildet und ungebildet sich immer mehr verschärfe und vergrößere, wird nicht nur von der Sozialdemokratie verbreitet. Von zahlreichen anderen Sozialpolitikern und von ganzen Parteien solcher, die sonst auf nationalem, bürgerlichen Boden stehen, wird die Auffassung daß unsere mit Hilfe der mächtigen Kapitalbildung immer mehr zum Großbetriebe drängende Wirtschaftsentwickelung, in Auf-

genährt,

42 saugung des Mittelstandes, zu einem Zustande führe, in dem es nur

verhältnismäßig sehr wenige, aber sehr Reiche, im übrigen aber nur Arme geben werde. Im hohen Maße ist es dankbar anzuerkennen, daß der Reichskanzler am Schluffe seiner Rede dieser den Klassenkampf

beschönigenden und nährenden Lehre entgegengetreten ist. Denn mit weitem Blick und mit vollem Recht hat der Reichskanzler den sozial­ demokratischen Hetzern und den Pseudo-Mittelstandspolitikern gegenüber darauf hingewiesen, „daß die mittlere Schicht, die sich zwischen diesen beiden Polen gebildet hat und sie in geistiger wie in materieller Beziehung einander nähert, in der Zunahme begriffen ist", mit anderen Worten, daß der Mittelstand durch die moderne wirtschaftliche Entwickelung

nicht beeinträchtigt und vernichtet, sondern, wenn auch auf manchen Gebieten in anderen Formen, gedeiht und in erfreulichem Fortschritt begriffen ist. Auch diese Ansicht ist im Centralverbande stets ver­ treten gewesen, ebenso im vollsten Maße die Ueberzeugung, welcher

der Kanzler mit den herrlichen Worten Ausdruck gegeben hat: „daß im letzten Ende die wahren Interessen der Arbeitgeber und Arbeiter solidarisch sind." Leider betrachtet es die Sozialdemokratie als eine ihrer wichtigsten im Parteiinteresse liegenden Aufgaben, durch ihre Agitation und Verhetzung den Arbeitern dieses Solidaritätsgefühl zu rauben und an dessen Stelle Mißtrauen und Haß zu setzen. Es ist bedauerlich, daß die Tätigkeit nicht weniger Politiker und Gelehrten, die sich zu den bürgerlichen Parteien zählen, auf dem hier in Rede stehenden Gebiete ganz ebenso wirkt wie das verhetzende Treiben der Sozialdemokratie. Der Vertreter

der

Deutsch-Konservativen,

Freiherr

von

Richthofen-Damsdorf erklärte, daß es nicht in seiner Absicht liegen

könne, seine Partei für die Zukunft auf ein bindendes sozialpolitisches Programm sestzulegen; aus praktischen Politikern bestehend, werde sie

die zu erwartenden Vorlagen nach ihrem Inhalte beurteilen.

Dabei

würden die Grundgedanken der Partei jedoch niemals verleugnet werden. Durch die beiden Reden des Reichskanzlers sei wie ein roter Faden die Betonung der Notwendigkeit einmütigen Kampfes gegen die Sozialdemokratie gegangen. Die Freude über die Nieder­

lage der Sozialdemokratie habe auch seine Partei geteilt; überzeugt sei er und seine Partei jedoch nicht, daß die Niederlage eine endgültige sei, bezw. daß in Zukunft mit einem ähnlichen Rückgänge der Sozial­ demokratie gerechnet werden könne. In dieser Beziehung könne er die Ausführung des Abgeordneten Bebel nicht für falsch erachten. Ein Gegengewicht gegen die Sozialdemokratie könne nur gefunden werden in dem Zusammenhalten der bürgerlichen Parteien. So lange

43

die Sozialdemokratie an den Grundsätzen festhalte,

die sie ein für

allemal proklamiert habe, so lange müsse sie bekämpft werden.

Diese

Grundsätze habe der Abgeordnete Bebel in einer am 31. März 1881 gehaltenen Rede in folgende Worte gekleidet: „Wir erstreben auf politischem Gebiet die Republik, auf dem ökonomischen Gebiet den Sozialismus und auf dem, was man heute das religiöse Gebiet nennt, den Atheismus." So scharf wie gegen die Sozialdemokratie vorgegangen werden

müßte, ebenso notwendig sei es, zu betonen, daß durchaus nicht daran gedacht werde, den Kampf gegen die deutsche Arbeiterschaft zu führen. Seine Partei sei weit davon entfernt, die Sozialdemokratie für eine Arbeiterpartei zu erklären; sie sei keine Arbeiterpartei, sondern eine Partei von Genossen. Seine, die deutsch - konservative Partei werde

zu allen Zeiten bestrebt sein, das wahre Wohl der Arbeiter zu fördern. Deswegen werde es an ihr auch nicht fehlen bei der Fortarbeit an dem sozialen Werke in dem erhabenen Sinne Kaiser Wilhelms des Großen, das nach der Thronrede in Aussicht genommen sei. Allerdings vertraue seine Partei darauf, „daß bei der Vorlage der weiteren Gesetzentwürfe zwei Gesichtspunkte niemals aus dem Auge gelassen werden: Der eine ist die Rücksicht auf die Lebensfähigkeit der Arbeitgeber, der andere ist der notwendige Schutz der Arbeits­

willigen, von dem auch heute hier schon die Rede gewesen ist. Aber es ist bisher mehr die Rede davon gewesen, als daß dieser Schutz in die Gesetzgebung eingeführt ist. Wir werden uns auch nicht dadurch irremachen lassen, daß da, wie es der Herr Abgeordnete Wassermann getan hat, uns ein Wort wie Polizeigesetz entgegengehalten wird. Daß hier etwas geschieht, wird von dem größten Teil des Volkes als ebenso notwendig anerkannt wie die Fortführung der Sozialreform selbst. Wir glauben auch, daß in dieser Beziehung nicht allein die

Legislative etwas tun kann, sondern — und die letzten Worte des Herrn Reichskanzlers haben mich in dieser Auffassung bestärkt — wir meinen, daß auch die Administrative für einen größeren Schutz der Arbeitswilligen wirken muß."

Der Redner trat sodann für die vom Reichskanzler ange­ kündigte Mittelstandspolitik ein und beendigte damit den mit der Sozialpolitik in Beziehung stehenden Teil seiner höchst bemerkenswerten

Ausführungen.

Die Verhandlungen wurden in der fünften Sitzung am 27. Februar fortgesetzt. Die deutsch-freisinnige Volkspartei ließ durch ihren Redner

Dr. Wiemer erklären,

daß sie durch die Ankündigung einer Reform

des Vereins- und Versammlungsrechtes,

die,

wie sie annehme, in

44 freiheitlichem Sinne erfolgen werde, befriedigt worden sei. Sie ver­ lange die Fortführung der Sozialpolitik, vor allem den Ausbau und die Sicherung des Koalitionsrechtes und die Förderung all der Ein­ richtungen zur friedlichen Verständigung zwischen Arbeitgebern und

Arbeitnehmern.

Besonders erklärte der Redner,

daß die Partei auch

eintreten werde für die berechtigten Forderungen der Privatbeamten, „jenes Heranwachsenden neuen Mittelstandes, der bei unserem sich rasch entwickelnden vielgestaltigen Erwerbsleben immer größere Bedeutung gewinnt". Für seine Partei sprach er ferner die Bereüwilligkeit aus,

dem Mittelstände in Handel und Gewerbe erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hervorzuheben ist noch, daß der Redner der deutsch­ freisinnigen Volkspartei, um die Gegnerschaft auch seiner Partei gegen die Sozialdemokratie zu begründen, dieser fast dasselbe Sündenregister vorhielt, wie es der Reichskanzler am Tage vorher getan hatte, be­ sonders den Klassenkampf, die Art ihrer Agitation, die Zügellosigkeit und den Terrorismus in ihrem Auftreten. Hierauf kam die deutsche Reichspartei durch ihr Mitglied, den Abgeordneten Gamp, zu Worte. Seine Ausführungen zum Etat berührten u. a. eine bisher noch nicht erwähnte, unzweifelhaft auch dem sozialpolitischem Gebiete zugehörige Angelegenheit.

Bekanntlich war bei der Beratung des neuen Zolltarifs vom Zentrum beantragt worden: „Der auf den Kopf der Bevölkerung des Deutschen Reichs berechnete Nettozollbetrag der nach bestimmten Tarifstellen zu verzollenden Waren, im besonderen von Lebensmitteln, welcher den nach dem Durchschnitt der Rechnungsjahre 1898 bis 1903 auf den Kopf der Bevölkerung

entfallenden Nettozollbetrag

derselben

Ware übersteigt, soll zur Erleichterung der Durchführung der Witwenund Waisenversorgung verwendet werden. Falls dieses Gesetz bis zum 1. Januar 1910 nicht in Kraft treten sollte, so sind von da ab

die Zinsen der angesammelten Mehrbeträge sowie die eingehenden Mehrbeträge selbst den einzelnen Jnvalidenversicherungsanstalten, nach Maßgabe der von ihnen im vorhergehenden Jahre aufgebrachten Derficherungsbeiträge zum Zwecke der Witwen- und Waisenversorgung

der bei ihnen Versicherten zu überweisen." Dieser Antrag war augenscheinlich

gestellt worden,

um

den

Wählern des Zentrums aus den unteren Volksschichten das Eintreten ihrer Partei für die wesentliche Verteuerung ihrer Lebensmittel durch

die hohen landwirtschaftlichen Zölle weniger bedenklich

erscheinen zu

lassen. Der Antrag war angenommen worden, und auch die Regierung, die ihn aus naheliegenden Gründen lebhaft bekämpft hatte, fügte sich schließlich dem Willen des Zentrums. Durch die Vorenthaltung dieses

45 bedeutenden Betrages wird die an sich so

Reiches noch mehr erschwert, vorjährigen Finanzreform.

schwierige Finanzlage des auch für das laufende Jahr, trotz der

Auf diese Verhältnisse hatte der Staats­

sekretär des Reichsschatzamtes, Freiherr von Stengel, in seiner ein­ leitenden Rede in der dritten Sitzung am 25. Februar hingewiesen.

Von dem Fehlbeträge sprechend, hatte er gesagt: „Das noch vor­ handene Defizit ist nämlich in der Hauptsache dadurch veranlaßt, daß

wir gesetzlich verpflichtet sind, aus den ordentlichen Einnahmen an Zöllen einen für 1907 auf rund 48 Millionen geschätzten Betrag aus­ zusondern und für einen erst in späteren Jahren zu erfüllenden Reichs­ zweck, die Witwen- und Waisenversorgung der Arbeiter, im voraus in Ausgabe zu stellen und einstweilen zu thesaurieren. Das wird in späteren Jahren ohne Zweifel der Durchführung jener hochwichtigen

sozialpolitischen Aufgaben zu gute kommen, nur in der Gegenwart und zumal in der ersten Uebergangszeit nach Einführung des neuen Zoll­ tarifs macht sich die schwere Last für das Reich doppelt fühlbar. Aber das Reich hat nun einmal jene Verpflichtung übernommen,, und wir müssen jetzt durchhalten. Nur dürfen wir dabei auch nicht übersehen, daß die eigentlich Leidtragenden zunächst die Einzelstaaten sind, die gemäß der Verfassung, wie für jeden Fehlbetrag im Reichshaushalt, so schließlich auch für jene 48 Millionen insolange und insoweit auf­ zukommen haben, als sie nicht durch anderweite Besserung der eigenen Reichseinnahmen eine Entlastung erfahren. Eine solche indirekte Ab­ wälzung der Fürsorge für die Arbeiterwitwen und -waisen auf die Haushalte der Einzelstaaten lag ohne Zweifel auch gar nicht in der ursprünglichen Absicht der lex Trimborn." Der Redner des Zentrums, der Abgeordnete Dr. Spahn, hatte in derselben Sitzung bezüglich dieses Punktes gesagt: „Es tut mir leid, daß der Herr Staatssekretär auch nur bemängelt hat, daß der Beschluß bei dem Zolltarifgesetz gefaßt wurde, die 48 Millionen Mark jetzt schon dafür zu reservieren,

aber ich freue mich, daß nicht daran ge­

rüttelt werden soll." Die weiteren Redner waren auf diese Angelegenheit nicht ein­ gegangen. Der Abgeordnete Wiemer hatte sie wieder ausgenommen.

Er hatte gesagt:

„Meine Herren, die Etatsgestaltung für das Reich

würde ja wesentlich günstiger sein, wenn aus den Zöllen nicht die Mehreinnahme von 48 Millionen Mark für die Witwen- und Waisen­

versorgung

der Arbeiter beiseite gestellt würde.

Der Herr Schatz­

sekretär hat diesen Punkt mit einem gewissen Bedauern berührt, und der Herr Abgeordnete Dr. Spahn hat sich beeilt, die lex Trimborn

ihm gegenüber in Schutz zu nehmen.

Meine Herren, ich bin durch-

46

aus bereit, an der Durchführung der Witwen- und Waisenversorgung

der Arbeiter mitzuwirken, und meine Freunde gewiß alle mit mir.

Aber ein Bedauern über die finanzpolitische Gestaltung in diesem Etat kann auch ich nicht unterdrücken. Es ist kein Zweifel, daß durch die Beiseitestellung

eines so hohen Betrages die Finanzgebarung des

Reiches erschwert wird."

Darauf erwiderte der Abgeordnete Gamp: Der Herr Staats­ sekretär des Reichsschatzamtes habe mit sehr begehrlichen Augen nach den 48 Millionen hingeschaut, die zur Reichs-Witwen- und Waisen­ fürsorge zurückgelegt seien. Er bedauere, daß der Abgeordnete Wiemer

ein gewisses Entgegenkommen des Hauses, die 48 Millionen für all­ gemeine Reichszwecke zu verwenden, in Aussicht gestellt habe. Seine

politischen Freunde würden eS unter allen Umständen ablehnen an diesen 48 Millionen zu rühren. Wenn der Herr Staatssekretär gesagt habe, es seien die Einzelstaaten die Leidtragenden, so müsse er sagen, die Einzelstaaten könnten viel eher die Leidtragenden sein als die Witwen und Waisen. Die Witwen- und Waisenfürsorge könne unter keinen Umständen durchgeführt werden, wenn nicht ganz erhebliche Reichsmittel zur Verfügung gestellt würden und es würde die ganze Witwen- und Waisenfürsorge preisgegeben werden, wenn darin gewilligt würde, diese Thesaurierung nicht stattfinden zu lassen. Seine Ausführungen über die Sozialpolitik knüpfte der Ab­ geordnete Gamp an die Bemerkung des Abgeordneten Bassermann, daß die Sozialpolitik frei sein solle von polizeilichen Schikanen. Der Abgeordnete Gamp wünschte, daß die Sozialpolitik nicht nur frei sei von polizeilichen Schikanen für die Arbeiter, sondern auch frei von solchen gegen die Arbeitgeber, das werde leider bei den Verordnungen des Bundesrats vielfach vermißt. Er erinnere nur an die Bäckerei- und die Gastwirtsverordnung. Er möchte überhaupt den verbündeten Regierungen den Gedanken nahelegen, das ihnen durch die R.-G.-O. eingeräumte Verordnungsrecht einzuschränken und keinen Gebrauch davon zu machen, vielmehr die betreffenden Fragen im Wege der Gesetzgebung

zu regeln. Eine Reihe von. zur Einführung bestimmter und daher teilt Reichstag zur Genehmigung vorgelegter Verordnungen hätten dessen Genehmigung nicht gefunden. Sie hätten daher zurückgezogen werden müssen.

Der Reichstag werde diese Fragen anders beurteilen, weil er in engerer Fühlung mit dem praktischen Leben stehe als die „dem praktischen Leben doch imnierhin fernstehenden, sonst selbstverständlich

hervorragend tüchtigen Beamten des Reichsamts des Innern". Partei wolle eine großzügige Sozialpolitik.

Seine

Sie wolle aber nicht,

47 diese ihre Spitze richte gegen die Arbeitgeber. Daher müsse er die Auffassung des Abgeordneten Bassermann entschieden zurückweisen,

daß

der der Reichsregierung empfohlen habe, in dieser Beziehung auf die preußischen Ressorts keine Rücksicht zu nehmen. Er müsse im Gegen­ teil sagen, „daß der Herr Minister Delbrück ein so hervorragender Kenner der industriellen und gewerblichen Verhältnisse ist, daß er sich so ernstlich bemüht, nicht nur den Interessen der Arbeiter auf sozial­

politischem Gebiet gerecht zu werden,

sondern auch die Interessen der

Arbeitgeber sachgemäß zu vertreten, daß es nicht würde verantwortet werden könrien, wenn die verbündeten Regierungen auf die Mitwirkung des Herrn Minister Delbrück verzichten würden". Mit Bezug auf die Vereinfachung der Sozialpolitik — der Redner hatte hier ersichtlich die Arbeiterversicherungsgesetze im Auge — wies der Redner darauf hin, daß sie mit jedem Jahre schwieriger werden würde, da die wohlerworbenen Rechte von Jahr zu Jahr steigen. Deshalb sei es notwendig, daß das Reichsamt des Innern in absehbarer Zeit erklären möge, die Vereinfachung ist durchführbar oder nicht durchführbar. Mit jedem halben Dezennium, das ins Land laufe, würde die Reform schwieriger werden. Deshalb hege er den dringenden Wunsch, der Herr Staatssekretär möge der öffentlichen Meinung bald Gelegenheit geben, sich wenigstens über die Grundzüge der geplanten Reform zu äußern. Der Abgeordnete befürwortete sodann die möglichst baldige Ein­ bringung des Gesetzes, betreffend den kleinen Befähigungsnachweis. Er verlangte ferner, daß seitens der betreffenden Ressorts eingehend geprüft werden möchte, welche handwerksmäßigen Arbeiten den Handwerkerorganisationen übertragen werden könnten.

Er befürwortete

überhaupt dringend, daß seitens der Behörden besser als bisher für die Beschäftigung des Handwerks, „dieses königstreuen, vaterlands­

liebenden Standes", gesorgt werden möchte. Auch den Privatbeamten wolle seine Partei eine verstärkte Für­ sorge zu teil werden lassen. Als Muster dafür empfahl der Redner die von der österreichischen Gesetzgebung geschaffenen Organisationen.

Der Abgeordnete Gamp teilte mit, daß seine Partei beschlossen habe, vorläufig von der Einbringung eines Gesetzentwurfes zum Schutze der Arbeitswilligen Abstand zu nehmen. Auf die Be­ hauptung Bebels verweisend, daß die Streikenden von den Arbeits­ willigen mit Mord und Totschlag bedroht würden, richtete er an den

Staatssekretär des Reichsjustizamtes die Bitte, durch eine Umfrage bei den verbündeten Regierungen festzustellen, in welchem Umfange streikende Personen von Arbeitswilligen mit Mord und Totschlag be­

droht oder gar getötet worden seien.

48

Die Ausführungen des Vertreters der wirtschaftlichen Ver­ einigung, des Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg, ent­ hielten mit Bezug auf die Sozialpolitik, abgesehen von der Befriedigung

über den betreffenden Satz der Thronrede, nichts, was besonders her­ vorzuheben wäre. Charakteristisch hinsichtlich der in seiner Partei herrschenden wirtschaftlichen Ansichten war der Ausspmch des Redners, daß die gerechte Verteilung der Last im Reiche nicht genügend be­ achtet werde. Der deutsche Mittelstand, die kleineren und mittleren Kaufleute, die Handwerker, die kleinen und mittleren Landwirte seien zu schwer belastet und die besitzenden und wohlhabenden Klaffen, be­ sonders die Vertreter des mobilen, des internationalen Kapitals, trügen viel zu wenig zu den „friedenspendenden Einrichtungen" bei,

von denen sie den größten Vorteil hätten. Der Staatssekretär des Reichsschatzamts, Freiherr von Stengel, ergriff dann noch das Wort, um zu erklären, daß seine Bemerkungen über die „lex Trimborn" mißverstanden seien. Er habe allerdings keinen Zweifel darüber gelassen, daß die 48 Millionen Mark, die auf Grund der lex Trimborn im Jahre 1907 thesauriert werden müssen, in dem Haushalt des Reiches gerade für dieses Jahr als eine schwere Last empfunden werden. Er habe aber ausdrücklich die Erklärung hinzugefügt, daß, nachdem das Deutsche Reich nun einmal die Ver­ pflichtung übernommen habe, sie auch durchgeführt werden müsse, so schwer auch die Last drücken möge. In der sechsten Sitzung am 28. Februar begann die Verhandlung mit einer Rede des Mitgliedes der freisinnigen Vereinigung, des Ab­ geordneten Schrader. In seinen Erörterungen über Sozialpolitik ist zunächst, mit Bezug auf die von allen Parteien ausgesprochene Ver­ sicherung, bereitwillig an der Förderung der Sozialpolitik mitzuwirken, die sehr treffende Bemerkung des Redners heroorzuheben, daß nichts leichter sei, als eine Uebereinstimmung zu erzielen, wenn es sich darum handele, die einzelnen Themata zu bezeichnen. Sehr groß würden

aber die Meinungsverschiedenheiten seien,

wenn es sich zeigen werde,

wie diese Themata ausgestaltet werden sollen. Als Beispiel führte er an, daß nach seiner Ueberzeugung das Bestreben nach einer Vereinigung der drei großen Arbeiterversicherungen bei jeder der verschiedenen Parteien eine andere Bedeutung habe. Trotzdem vertrat der Redner die Ansicht, daß sich ein ziemlich weites Gebiet finden werde, auf dem

alle Parteien zusammenkommen könnten. Mit Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Mittelstandes erklärt sich der Abgeordnete Schrader einverstanden. Er hob jedoch nachdrücklich hervor, daß im vermeintlichen Interesse dieses Stander

49 auch

Forderungen

aufgestellt würden,

deren

Erfüllung ihm nichts

nutzen könnte. Dazu rechnete der Abgeordnete auch den kleinen Be­ fähigungsnachweis. Nach seiner Ansicht leide der Mittelstand haupt­ sächlich durch die Verteuerung der Lebensmittel, die indirekt auch eine Verteuerung der Geschäftskosten verursache. Die Folge dieser Ver­ teuerung werde sich stärker fühlbar machen, wenn mit dem Rückgänge der sogenannten Hochkonjunktur auch der Erwerb zurückgehen werde. Mit Bezug auf den Rückgang der Konjunktur hatte der Ab­ geordnete Eamp in seiner Rede auf die Syndikate hingewiesen, die durch ihr einsichtiges Verhalten die üblen Folgen eines etwa ein­ tretenden Rückganges mildern würden. Der Abgeordnete Gamp hatte den Syndikaten und deren Wirken eine wohlwollende Beurteilung zu

teil werden lassen. Gegen diese Ausführungen wandte sich der Ab­ geordnete Schrader. Er behauptete, daß, wenn die Syndikate den Rückgang verhindern oder abschwächen sollten, dies nur zum Schaden der kleinen Gewerbetreibenden geschehen werde. „Dann werden mehr und mehr die großen Syndikate die Geschäfte in die Hand nehmen und der Mittelstand wird dabei den Schaden haben. Die Syndikate, begünstigt durch Ihre Wirtschaftspolitik, sind für unsere Mittelstands­ politik außerordentlich gefährlich. Namentlich in unseren Zeiten, das möge man bedenken!" Der Abgeordnete schloß diesen Teil seiner Rede mit dem Wunsche, daß eine wirklich freiheitliche, den Interessen der Arbeiter gerecht werdende Sozialpolitik getrieben werden möge. Das

könnte und sollte für die nächste Zeit, vielleicht für einige Sessionen, die Hauptaufgabe sein. Der Redner der deutschen Reformpartei, Zimmermann, brachte mit Bezug auf die Sozialpolitik keine neuen Gesichtspunkte vor. Der Vertreter der deutschen Volkspartei und der zweite Redner vom Zentrum, Payer und Gröber, beschäftigten sich ausschließlich mit den Vorgängen während der Wahlbewegung und mit den durch das Ergebnis der Wahl herbeigeführten allgemein politischen Ver­ hältnissen. Der Redner des Zentrums hatte sich besonders scharf gegen den Reichskanzler und das von ihm entwickelte politische Programm

geäußert. Der Staatssekretär des Innern, Graf von PosadowSky, erhob sich als letzter Redner in dieser Sitzung, lediglich um einige der gegen den Reichskanzler gerichteten Angriffe des Abgeordneten Gröber zurückzuweisen.

Im Laufe lang

ausgedehnter Verhandlungen pflegen sich

die

zweiten und dritten Redner aus ein und derselben Partei haupffächlich die Aufgabe zu stellen, die von den anderen auf ihre Vormänner ge­ richteten Angriffe zu widerlegen, bezw. zu entkräften. Diese Gepflogen-

Hest 106.

50 heit führte bei der Eigenart der maßgebenden Verhältnisse zu einer mit unendlichen Wiederholungen verbundenen Vertiefung in die mit der Auflösung des Reichstags verbundenen Wahl- und Parteiangelegen­ heiten. Die Sozialpolitik kam dabei immer weniger zur Sprache und, wenn es geschah, waren es meistens nur in der Form etwas ge­

änderte Wiederholungen des von anderen bereits Gesagten. Die weiteren Verhandlungen geben daher nur noch Veranlassung zu einer Auslese bemerkenswerter Aeußerungen. In der siebenten Sitzung, am 1. März, betonte das Mitglied der Reichspartei, Fürst von Hatzfeld, die Notwendigkeit bei der Ver­ einheitlichung und Vereinfachung der verschiedenen Versicherungs­

gesetze eine Revision des Krankenkassengesetzes vorzunehmen. „Wir werden danach streben müssen", so sagte der Redner, „daß die Kranken­ kassen nicht, dem Geiste der Gesetzgeber zuwider, zu einer Kamps­ organisation einer bestimmten Partei gemacht werden. Und ich hoffe,

daß der Abgeordnete Mugdan uns wertvolle Fingerzeige geben wird, welchen Weg wir dabei zu beschreiten haben." Der Sozialdemokrat Singer glaubte in derselben Sitzung den Ausführungen des Abgeordneten Gamp gegenüber darauf verweisen zu sollen, daß die meisten Streiks den Arbeitern von den Arbeitgebern aufgezwungen würden, daß sie also sogenannte Abwehrstreiks gewesen seien. Der Abgeordnete Gamp hatte energisch einen wirkungsvolleren Schutz der Arbeitswilligen gefordert. Singer schloß sich entschieden der merkwürdigen Behauptung Bebels, an, daß die Streikenden von den Arbeitswilligen verfolgt und terrorisiert würden. Er glaubte die Richtigkeit und Unwiderleglichkeit dieser Behauptung ein für allemal mit einer Photographie erweisen zu können, die er vorlegte. Sie

stellte dar einen bestreikten Arbeitgeber in der Mitte der von ihm geworbenen Arbeitswilligen, diese mit Revolvern in den Händen. Singer behauptete, daß sie mit dieser Waffe ausgerüstet wären, um

die Streikenden zu terrorisieren. Daß der Arbeitgeber mit dem Auftrage zur Anfertigung dieser Photographie klug oder geschmackvoll gehandelt hat, wird niemand behaupten können. Nach allen bisher vorliegenden Erfahrungen ist jedoch anzunehmen, daß der Arbeitgeber die Arbeitswilligen nur bewaffnet hatte, damit sie im stände seien, Leib und Leben gegen die

Angriffe der Streikenden schützen zu können. Es ist wohl anzunehmen, daß die lebhaften Zurufe der Reichspartei und von den Nätionalliberalen, die der stenographische Bericht bei der vorstehenden Aeuße­ rung Singers verzeichnete, erfolgt sind.

im Sinne des vorstehenden Einwandes

51 Um noch weiter zu beweisen, daß der Terrorismus nicht von den sozialdemokratischen Arbeitern, sondern von den Arbeitgebern geübt werde, verlas Singer zwei im Jahre 1904 von der Direktion der Farbwerke Friedrich Bayer & Co. in Elberfeld erlassene

Bekanntmachungen an ihre Arbeiter. In dem Werke war von den organisierten Arbeitern in mutwilliger Weise ein Ausstand veranlaßt worden, durch den die Inhaber schwer geschädigt worden waren; sie waren außerdem im Verlause des Ausstandes in schimpflichster Weise angegriffen und beleidigt worden. Von den 3097 in dem Werke beschäftigten Arbeitern hatten sich nur rund 300 an dem Ausstande beteiligt; sie gehörten den Organisationen der Metallarbeiter, der Holzarbeiter und den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen an. Der

Streik ging für die Arbeiter vollständig verloren. Für die an ihm beteiligten mißleiteten Arbeiter war die Folge, daß sie ihre guten Arbeitsstellen einbüßten. Die beiden von Singer verlesenen Bekannt­ machungen — Ukase nannte sie der Abgeordnete — hatten den Zweck, den in dem Werke beschäftigten Arbeitern die Verpflichtung aufzu­ erlegen, aus den bezeichneten Verbänden auszuscheiden oder die Arbeit niederzulegen. Ein organisierter Arbeiter würde wegen des dem Werk zuge fügten schweren Schadens und der beschimpfenden Beleidigungen gegen die Direktion niemals wieder in der Fabrik beschäftigt werden. Um in dieser Beziehung volle Klarheit zu schaffen, wurden die Arbeiter aufgefordert, durch die Unterschriften eines Scheines zu bestätigen, daß sie zur Zeit keiner der obengenannten Gewerkschaften und Verbände angehören und auch, so lange sie in den Farbwerken arbeiten, keiner derselben beitreten wollten. Außerdem hieß es in der Bekanntmachung vom 11. August 1904 wörtlich: „Den Arbeitern unserer sämtlichen deutschen Fabriken, welche in

dem uns aufgezwungenen Kampfe treu zu uns gestanden haben, wollen wir unsere besondere Anerkennung dadurch zum Ausdruck bringen, daß

wir in Ergänzung unserer zahlreichen Wohlsahrtseinrichtungen, obgleich wir schon heute zu unseren Krankenkassen außer dem gesetzlichen Bei­ trag einen freiwilligen Beitrag entrichten, von jetzt ab jedem, der ein

Jahr lang bei uns gearbeitet hat und anderen Krankenkassen als derjenigen der Fabrik angehört, in Krankheitsfällen 50 pCt. Kranken­ geld zahlen." Der Abgeordnete Singer hatte sich stark vergriffen, indem er eine derartige Betätigung des Wohlwollens glaubte als Beweis für den von den Arbeitgebern geübten Terrorismus gebrauchen zu können. Es ist in weiten Kreisen bekannt, daß die Farbwerke Friedrich Bayer & Co.

52 zu den besteingerichteten ihrer Art, ihre Arbeiter zu den bestgelohnten in der Industrie gehören, daß ihre Wohlfahrtseinrichtungen höchst

umfangreich und mustergültig sind. Daher hat das energische Vor­ gehen der Werksleitung gegen die Streikenden und die Organisationen, die den Streik veranlaßt hatten, in den weitesten Kreisen der rheinisch­ westfälischen Industrie Billigung und Anerkennung gefunden. Der Staatssekretär Graf von Posadowsky beschränkte sich

auch in seiner zweiten Rede auf die höchst wirkungsvolle Widerlegung einiger von dem Vorredner, dem Sozialdemokraten Singer, aufge­ stellten Behauptungen. Einige die Zölle betreffenden Bemerkungen sollen

hier eingehend wiedergegeben werden, weil sie mit der Sozialpolitik in wesentlichem Zusammenhänge stehen und hohe Bedeutung verdienen. Der Abgeordnete Singer hatte gesagt, durch den Zolltarif würden die besitzlosen Klassen ausgeraubt zum Besten der Agrarier. Darauf erwiderte Graf von Posadowsky: „Man stellt immer, wenn man die Zollbelastung Deutschlands beurteilt, Deutschland dem „Freihandels­ lande" England gegenüber. Wer eigentlich das Märchen aufgebracht hat, daß England ein Freihandelsland ist, das zu wissen, wäre mir außerordentlich interessant. Ich erlaube mir zunächst, um den Urkunden­ beweis für meine Behauptung anzutreten, auf die Verhandlungen des englischen Unterhauses über die Adreßdebatte vom 19. Februar d. I. hinzuweisen. Dort sagte der Hauptberichterstatter Mr. Hills, in Durham gewählt, folgendes: „Natürlich, meine Herren, wir sind nicht ein Schutz­ zollland, aber der Betrag, der per Kopf an Zöllen in England bezahlt wird, ist höher als in irgend einem anderen Lande der Welt. Hier wird per Kopf 12 Schilling 2 Pence, in den Vereinigten Staaten 11 Schilling 8 Pence und in Deutschland 8 Schilling 2 Pence bezahlt. Die zollbelasteten Artikel sind solche allgemeinen Ver­ brauchs." Wenn solche Zahlen in parlamentarischen Verhandlungen genannt werden, ist es aber immer nützlich, eine objektive Probe auf

dieselben anzustellen, und das habe ich auch im vorliegenden Falle getan. Ich habe nachrechnen lassen, wie viel in Großbritannien und in den Bereinigten Staaten von Amerika auf den Kopf der Be­ völkerung an Zölleu entfällt, und da habe ich auf Grund sehr ein­ gehender Berechnungen festgestellt, daß in Großbritannien zur Zeit auf den Kopf der Bevölkerung an Zöllen 15,80 M. gezahlt worden, in den Vereinigten Staaten von Amerika 14,95 M. und in Deutsch­

land 10,49 M. Also in Deutschland ist der Verbrauch pro Kopf mit weniger Zöllen belastet als in dem sogenannten Freihandelsland Eng­ land. Auch ist die Zollbelastung in Deutschland in den letzten Jahren wesentlich weniger gewachsen als in England. In Großbritannien,

53 um mich richtig auszudrücken, ist die Zollbelastung pro Kopf der Be­ völkerung seit dem Fiskaljahr 1899/1900 bis zum Fiskaljahr 1905/06

von 11,20 M. auf 15.80 M. gewachsen, in den Vereinigten Staaten

von Amerika ist sie in demselben Zeitraum gewachsen von 12,64 M. auf 14,95 M. und in Deutschland ist sie nur gewachsen von 9,89 M. auf 10,15 M. und für das Kalenderjahr 1906 auf 10,15 M. Nun werden in Großbritannien bekanntlich die Zölle, die dort den Charakter

der Finanzzölle tragen, erhoben auf Tee, auf Zucker, auf Wein, auf Branntwein und andere Spirituosen, auf Tabak, auf Kakao, auf Kaffee und auf getrocknete Früchte. — Die meisten dieser Gegenstände sind bei den englischen klimatischen Verhältnissen und bei den Er­ nährungsverhältnissen der dortigen Bevölkerung unzweifelhaft not­ wendige Lebensmittel. — Aus welchen wirtschaftlichen Gründen der Steuerpflichtige belastet wird — und die Zölle, wie der Redner im Parlament selbst zugibt, werden dort alle erhoben direkt vom Ver­ braucher — das ist für den Unbemittelten selbstverständlich vollkommen gleichgültig; ob er die Zölle zu tragen hat als Schutzzoll oder als Finanzzoll, darauf kommt es nicht an, sondern die entscheidende Frage ist die, ob er Zölle zu tragen hat, durch welche die Gegenstände, die für ihn ein notwendiger Gegenstand zum Verzehr sind, belastet und eventuell in ihrem Preise erhöht werden. Und ich glaube hier den Beweis zu führen, daß in Deutschland die Zollbelastung der unbemittelten Klassen wesentlich geringer ist, als in dem häufig gepriesenen Freihandelsland England. Das sind Zahlen, die Sie nicht bestreiten können und diese Behauptung, meine Herren, ist meines Erachtens um so zu­ treffender, weil in Deutschland sich die Zollbelastung von 10,15 M.

pro

Kopf der Bevölkerung auf eine große Reihe von Verbrauchs­

artikeln verteilt, die gar nicht Gegenstand des Verbrauchs der un­ bemittelten Volksklassen sind, und weil die Zölle nur zum Teil

Finanzzölle, überwiegend aber Schutzzölle sind, während sich in Groß­

britannien die Zollbelastung eigentlich nur auf Gegenstände verteilt, die unentbehrliche Gegenstände des Verbrauchs der unbemittelten Klassen bilden. Ich behaupte also, daß die Annahme eine vollkommen irrige

ist, daß in Deutschland durch unsere Zolltarife das Volk mehr belastet sei als in anderen großen Kulturstaaten."

Der konservative Abgeordnete Winckler hatte in einer Polemik gegen den Abgeordneten Fürsten von Radziwill von der Polen­ gefahr und im Anschluß daran von der sozialdemokratffchen Gefahr gesprochen. Er gab dem Wunsche Ausdruck, daß die Regierung dieser doppelten Gefahr mit einem größeren Maße von Tatkraft als bisher entgegentreten möchte. Im weiteren Verlaufe seiner Ausführungen

54

stimmte er der von dem Reichskanzler ausgesprochenen Meinung vollständig zu, daß die von der Sozialdemokratie ausgehende Gefahr

nur suspendiert sei und daß ihr daher auch ferner ins Auge gesehen werden müsse. Der Reichskanzler hübe auch mit vollem Recht auf die brutale Methode der Sozialdemokratie und deren Terrorismus,

namentlich den Arbeitgebern gegenüber, hingewiesen. „Es ist soweit gekommen," sagte der Redner „daß eigentlich kein Arbeitgeber mehr Herr darüber ist, wen er in seinem Betriebe einstellen darf." Der Redner verwies als Beispiel auf die besonderen Verhältnisse im Bau­ gewerbe, in dem die Mehrzahl der Arbeiter nicht aus Ueberzeugung der Sozialdemokratie angehöre. An den Unsinn, der ihnen da vor­ getragen werde, glaubten sie schon lange nicht mehr, aber die Sorge ums Leben, ums Brot, das sie sich verdienen müssen, lasse ihnen gar keine andere Möglichkeit! Die Leute sagten sich, wenn sie sich nicht

zur sozialdemokratischen Partei rechneten, könnten sie auf keinem Bau mehr mit Sicherheit arbeiten; denn sie seien nicht sicher, daß ein Stein einmal so falle, daß er sie träfe. Die Sozialdemokratie bilde einen Staat im Staate, der drückende Steuern erhebe; das öffne den Leuten allmählich die Augen. Daß den Leuten auch das ewige Hetzen zur Arbeitseinstellung mit der Zeit über werde, sei nicht zu verwundern. Mit Bezug auf die merkwürdigen Aeußerungen der Ab­ geordneten Singer und Bebel, daß nicht die Arbeitswilligen geschützt werden müßten gegen die Streikenden, sondern die armen Streikenden gegen die Arbeitswilligen, beklagte der Redner lebhaft im Namen seiner Partei „daß noch nicht wieder ein gesetzgeberischer Versuch zum Schutze der Arbeitswilligen unternommen worden sei, nachdem ein früherer Versuch gescheitert wäre". Wir haben von dem Regierungstisch die Antwort hören müssen: „Wie soll in diesem Reichstage eine Mehrheit dafür geschaffen werden?" Der Umstand, daß der Reichstag jetzt eine andere Zusammensetzung habe, sollte der Regierung das Ge­ wissen schärfen, noch einmal einen derartigen Versuch zu machen. Der keiner Fraktion angehörende Abgeordnete Hilpert, Privatier und Landwirt in Mittelfranken, verlangte die Zusammenlegung der drei Versicherungsgesetze, die er bei Anwendung des vollen Ernstes

für erreichbar erachtete. In der neunten Sitzung, am 4. März, wurde die Verhandlung eröffnet mit einer Rede des Mitgliedes der wirtschaftlichen Vereinigung Behrens, Generalsekretär des Gewerkoereins christlicher Bergarbeiter Deutschlands. Der Redner sprach zunächst sein Mißfallen über die Haltung des preußischen Landtages bei Behandlung des Bergarbeiter­ schutzgesetzes und des Knappschaftsgesetzes aus. Sein Unwillen richtete

55 sich besonders gegen die Nationalliberalen, die sich im Reichstage sehr arbeiterfreundlich aussprächen, an der unfreundlichen Behandlung der Bergarbeiterfragen im Landtage aber zumeist Schuld gewesen seien. Behrens mißbilligte ferner, daß in der Thronrede kein einziges soziales Gesetz angekündigt, sondern nur im allgemeinen die Fort­ führung der sozialen Reform versprochen sei. Die auf christlich­ nationaler Grundlage stehende Arbeiterschaft bringe jedoch, trotz mancher nicht günstigen Erfahrung der vergangenen Jahre, der Regierung und dem Reichstage noch Vertrauen entgegen.

Die christliche Arbeiterschaft verlange an erster Stelle „die gesetz­ lichen Reformen, die durch den Frankfurter Kongreß 1903 gefordert

worden sind.

Leider sei von diesen bis heute noch

keine einzige

Gesetz geworden." Die zahlreichen, in den Versammlungen vielfach erwähnten sozialen Gesetze betrachte er zwar für außerordentlich wertvoll, „aber der Kern­ punkt der Wünsche sei, daß den Arbeitern die Koalitionsfreiheit ge­ sichert werde". Ganz im sozialdemokratischen Sinne, schien der Redner den Koalitionszwang nicht als eine Beeinträchtigung der Koalitions­ freiheit anzusehen, denn er erklärte, daß djx christlich-nationale Arbeiter­ schaft mit großer Entschiedenheit jedes Gesetz zum Schutze der Arbeitswilligen ablehnen würde. Behrens erkannte zwar an, daß sich Sozialdemokraten des Terrorismus sehr häufig schuldig machen, aber auch die Arbeitgeber seien vom Terrorismus nicht frei. Er beklagte besonders, daß diese keinen Unterschied zwischen den An­ gehörigen der Sozialdemokratie und denen der christlichen Gewerk­

schaften machten. In dieser Beziehung ist leider von keiner Seite im Reichstage der Abgeordnete Behrens darauf verwiesen worden, daß in der Ver­ anstaltung von Ausständen, Aussperrungen und sonstigen Störungen der Arbeit, die christlichen Gewerkschaften, trotz ihrer angeblich nationalen Gesinnung, hinter den sozialdemokratischen Gewerkschaften nicht, zurück­

geblieben, sondern meistens mit ihnen gegangen sind.

Hinsichtlich seiner

Klagen, daß von den auf dem Frankfurter Kongreß 1903 verlangten

Reformen noch keine Gesetz geworden sei, hätte ihm wohl auch geantwortet werden können, daß die Forderungen dieses Kongresses sich von denen der Sozialdemokratie nicht unterschieden, sie wären ebenso weitgehend und maßlos und daher blieben sie unberücksichtigt. Behrens verlangte dann die Anerkennung der Arbeiterorgani­ sationen seitens der Arbeitgeber und gesetzlichen Schutz für die Tarif­

verträge.

Der Redner erkannte die vielen entgegenkonimenden arbeiter-

56 freundlichen Versicherungen der Nationalliberalen, besonders die des Abgeordneten Bassermann, dankend an, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß dessen Partei, in Betätigung ihrer Arbeiterfrenndlichkeit,

bei den Wahlen im nächsten Jahre

„ein paar Dutzend

Arbeiter-

Abgeordnete in den preußischen Landtag entsenden würde". In derselben Sitzung ergriff auch noch der Staatssekretär des Innern, Graf von Posadowsky, das Wort, um zunächst die vielen irrtümlichen Aeußerungen mit Bezug auf die Frage richtig zu stellen, welche Maß­ regeln der Reichskanzler zu treffen gedenke, gegenüber der Höhe des Diskontosatzes, der schwer auf dem wirtschaftlichen Leben laste. Zur Sozialpolitik übergehend, griff der Staatssekretär auf die von dem Abgeordneten Gamp in der Sitzung am 27. Februar ge­ haltene Rede zurück. Er führte an, daß der Abgeordnete gesagt habe, wir sollten eine großzügige Sozialpolitik treiben und bemerkte: „Herr Abgeordneter Gamp, dieses Wort hat mich sehr gefreut. Ich hoffe aber, Sie kommen wegen dieses kecken Wortes nicht in Verlegenheiten mit näheren politischen Freunden." Der Staatssekretär führte dann aus der Rede des Abgeordneten Gamp folgenden Satz an: „Die Sozialpolitik soll nicht bloß frei sein von Polizeischikanen gegen die Arbeiter, sondern auch gegen die Arbeit­ geber. Das haben wir vielleicht vermißt. Ich erinnere nur an die Bundesratsverordnung für die Bäckereien. Hier muß die Gesetzgebung Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Zahlreiche Verordnungen des

Bundesrats auf diesem Gebiete haben ohnehin nicht die Genehmigung des Reichstages erhalten und mußten abgeändert werden oder unterbleiben." Als Erwiderung verwies Graf Posadowsky auf die Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten, die bewiesen, wie häufig jetzt noch die Vorschriften zum Schutze von Leben, Gesundheit und Sittlichkeit bet Arbeiter übertreten würden. Er bat ferner auch, die Tabellen nach­ zusehen, die in dieser Beziehung von dem Justizminister vcröffentlickt würden. „Da wird der Herr Abgeordnete sehen, daß eine Aufsicht notwenhig ist. Wo keine oder keine genügende Aufsicht stattfindet, dort stehen viele Vorschriften nur auf dem Papier." Nach einer tatsächlichen Berichtigung bezüglich der, auf Grund der Gewerbeordnung zu erlassenden Verordnungen des Bundesrats stellte

der Staatssekretär fest, daß hinsichtlich dieser nur ein einziges Mal, und zwar bezüglich der kleinen Ziegeleien, eine Differenz zwischen dem Bundesrat und dem Reichstag stattgefunden habe. Graf von Posadowsky verteidigte dann die Bäckereiverordnung und die Ver­ ordnung über die Sonntagsruhe im Gastwirtsgewerbe. Er verbreitete sich sehr eingehend über die Entstehung der Verordnungen des Bundes-

57

rates im allgemeinen und sagte dabei unter anderem: „Wenn der Bundesrat, wenn der Reichskanzler oder der Staatssekretär des Innern in Vertretung des Reichskanzlers derartige Verordnungen erläßt zum Schutze von Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiter, so ist das nicht eine ideologische Marotte, sondern so ist das gegenüber unseren

wachsenden Kulturgefahren eine sehr ernste hygienische Maßregel zum besten der Erhaltung der Volkskraft, und, meine Herren, solange ich an dieser Stelle stehe, werde ich mich durch keine Angriffe, wenn sie auch noch so giftig und verleumderisch sind, abhalten lassen, in dieser Beziehung meine Pflicht zu tun " Auf diese Ausführungen des Staatssekretärs erwiderte der Abgeordnete Gamp in der zehnten Sitzung am 5. März. Er teilte mit, daß seine Partei ihre Stellung zur Sozialpolitik noch an demselben Tage eingehend erörtert habe und daß nicht die m i n d e st e n Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden haben, daß sie an einer großzügigen Sozialpolitik wie bisher, so auch in Zukunft stets sich aktiv beteiligen werde, ein Standpunkt, den auch seine politischen Freunde im Abgcordnctenhause unbedingt teilten. Seine

Partei habe ihre Mitwirkung niemals versagt, wenn es sich um finanzielle Opfer handle, die den Arbeitgebern auferlegt werden. „Ich brauche den Herrn Staatssekretär nur daran zu erinnern, daß im Jahre 1903 meine Partei die einzige war, die wünschte, die Leistungen der Arbeitgeber zu den Krankenkassen zu erhöhen, und entsprechend der Mehrleistung, den Arbeitgebern einen angemessenen Einfluß an der Verwaltung zu sichern. (Aha! bei den Sozialdemokraten). Meine Partei war damals die einzige, die hier und in der Kommission diesen Standpunkt vertrat, dabei aber leider nicht die Unterstützung der Reichsregierung und der anderen Parteien fand." Seine Partei habe unter der Führung des Freiherrn von Stumm schon anfangs

der 70er Jahre Anregungen zu sozialpolitischen Gesetzen gegeben, die damals auf vielen Seiten des Hauses Hohn und Spott begegnet seien. Der Abgeordnete wünschte eine „Sozialpolitik, die sich frei hält von polizeilichen Schikanen gegen die Arbeitgeber. Wenn die Herren von der Regierung doch wirklich einmal Gelegenheit hätten, unerkannt

in die Kreise dev Industrie und namentlich der Handwerker zu kommen, sie würden vielfach einem Mißmut begegnen, der sich nicht gegen die

Zahlung richtet,

sondern

gegen die Art und Weise, wie die Gesetz­

gebung gegen sie Partei nimmt "

Der Abg. Gamp stellte fest, daß seine Partei, in voller Ueber­ einstimmung mit der Regierung, großzügige Sozialpolitik getrieben habe, wenn es gegolten habe, die Interessen der Arbeiter, deren Leben

58 und Gesundheit zu schützen. „Aber glauben Sie wirklich," so fuhr der Redner gegen den Staatssekretär gewandt, mit Bezug auf die

Bäckereiverordnungen fort, „daß im Volke Verständnis dafür ist, daß eine schwere Belastung der Arbeitgeber davon abhängt, ob in den Teig, der gebacken wird, etwas Zucker hineingestreut wird oder nicht? So liegt doch die Sach?. In dem einen Fall ist es Backware, und dann fällt der Gewerbetreibende unter die scharfen Bestimmungen der

Bäckereiverordnung, in dem anderen Fall ist cs Zuckerware, dann fällt der Betreffende nicht unter diese Bestimmungen. Ist das eine einwandfreie .großzügige' Sozialpolitik?" Der Abgeordnete hob besonders hervor, daß bei diesen Ver­ ordnungen die praktischen Bedürfnisse des kleinen Verkehrs, die Unterschiede zwischen Groß- und Kleinbetrieben nicht berücksichtigt und auch andere maßgebende Verhältnisse nicht beachtet worden seien. Es sei ein großer Unterschied zwischen größeren Betrieben und einer kleinen Gastwirtschaft auf dein platten Lande, wo der Gastwirt nur einen Gehilfen hat, oder in einem Nordseebad, wo die ganze Saison nur sechs Wochen dauert. „Dadurch haben Sie, Herr Staatssekretär, in weite Kreise Mißstimmung gebracht, die ich gerade im Interesse

der Fortführung.der Sozialpolitik tief bedauere. Ich will Ihnen die Briefe zeigen, die ich bekommen habe' Sie würden darüber nicht sehr erfreut sein. Und diese Kleingewerbetreibende sind durchweg königs­ treue, loyale Bürger. War es denn notwendig diese Vorschriften zu erlassen? Konnten sic denn nicht für den Kleinbetrieb anders ge­ staltet werden?" „Der Herr Staatssekretär meinte,

hervor,

wie notwendig

diese

aus den vielen Strafen gehe Verordnungen und die Kontrolle der

Gewerbetreibenden sei. Das ist nicht richtig. Nach meiner Meinung geht daraus nur hervor, daß diese Bestimmungen in der Praxis sich vielfach gar nicht durchführen lassen. Als der Herr Kollege Trimborn hier einmal sich beschwerte über die geringen Strafen, die seitens der Gerichte ausgesprochen würden bei Verfehlungen gegen diese Polizei­ verordnungen, habe ich mich an eine Reihe Handwerksorganisationen gewandt und gebeten, mir die betreffenden Anwaltsakten zu schicken.

Da habe ich nicht einmal, sondern in vielen Fällen die Ausführung

in den Erkenntnissen gefunden, man müsse diese armen Kerle zwar bestrafen, aber verbrochen hätten sie eigentlich nichts, es ständen ihnen auch wesentliche Milderungsgründe zur Seite, zum Beispiel Krankheit der Frau usw. Diese Bestrafungen bringen Verbitterung in die

weitesten Kreise. Wenn der Herr Staatssekretär mehr Fühlung hätte mit den Kreisen der Arbeitgeber — nicht der großen, sondern auch

59 der kleinen — so würde er sich davon überzeugen, ein wie lebhaftes Widerstreben gegen die Art der Sozialpolitik besteht, wie sie in

diesen Verordnungen zum Ausdruck gekommen ist." „Der Herr Staatssekretär hat vor ein oder zwei Jahren sehr scharfe Worte gegen die Arbeitgeber gerichtet,' er hat sie nachher modifiziert: ich will deshalb nicht weiter auf die Sache eingehen. Aber daß in den Kreisen der Arbeitgeber die Auffassung besteht, daß die sozialpolitische Gesetzgebung nicht in richtiger Weise zwischen den

Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu vermitteln sucht, das steht außer Zweifel. Deshalb, glaube ich, Herr Staatssekretär, ist man nicht berechtigt, solchen Leuten, die das glauben, den Vorwurf der Verleumdung oder einen noch schärferen Vorwurf zu machen. Da steht eben Ansicht gegen Ansicht. Ich weiß, daß in weiten Kreisen die Ansicht herrscht, die ich hier ausgesprochen habe. Das werden mir die Herren, die im praktischen Leben stehen, bestätigen."

Der Abgeordnete Gamp wünschte ferner eine Erweiterung der Kom­ petenz der Bemfsgenossenschaften, indem man sie verpflichte, den Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeiter systematisch auszubauen. Dann würde eine Regelung nicht gegen die Arbeitgeber, sondern unter deren sachverständiger Mitwirkung stattfinden. Es sei schwer zu be­ greifen, weshalb man nicht diesen Weg beschreite. Eine gesetzliche Bestimmung, welche die Berufsgenossenschaften dazu berechtigt, würde nicht nachteilig sein. Wenn es sich um irgend eine praktische Frage handle, z. B. die Beschränkung der Frauenarbeit, könnten einfach die Berufsgenossenschaften beauftragt werden, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Durch kommissarische Verhandlungen würde das Reichs­ amt sich leicht davon überzeugen können, daß die Berufsgenossenschaften, die Arbeitgeber freudig an der Lösung dieser Fragen mitarbeiten

würden.

„Ich

glaube,

meine Herren,

wir haben alle Veranlassung,

uns nicht gegenseitig solche Vorhaltungen zu machen, wie sie der Herr Staatssekretär zu machen für gut befunden hat. Das führt zu einer

Verschärfung der Gegensätze, die für die sachliche Behandlung dieser Materie durchaus unerwünscht ist." Der Abgeordnete Gamp gab weiter der Ansicht Ausdruck, die, wie er besonders betonte, keinen persönlichen Vorwurf enthalte, die aber viel­ fach geäußert werde, daß das Reichsamt des Innern zu weltfremde An­ schauungen habe. „Das liegt eben in der ganzen Natur der Verhält­ nisse.

Das Reichsamt des Innern hat

keine eigene Verwaltung.

Die Herren sind 10, 15, 20 Jahre aus der Verwaltung, aus der Fühlung mit dem praktischen Leben heraus; wie sollen sie denn über­ haupt zu dieser Berührung mit dem praktischen Leben kommen?"

60 Graf von

PosadowSky

hatte in seiner vorerwähnten Rede

gesagt, daß Verordnungen des Bundesrates nur erlassen würden, nachdem sie den betreffenden preußischen Ministern vorgelegen hätten, die vor ihrer Entscheidung die Gutachten der einzelnen Verwaltungs­

behörden einholten.

Mit Bezug auf diese Aeußerung bemerkte der Ab­

geordnete Gamp, er wolle auf die Sache nicht weiter eingehen, „ich glaube, ich befände mich in der Lage zu beweisen — ich erinnere an

die Erklärungen der Minister Brefeld, von Möller, Delbrück — daß die Erklärungen, die viele preußische Minister abgegeben haben, in vielen wesentlichen Punkten nicht in voller Uebereinstimmung stehen mit den Auffassungen des Reichsamts des Innern. Selbstverständlich legen sich diese Herren eine große Reserve auf; aber es geht aus jenen Aeußerungen doch hervor, daß erhebliche Meinungsverschieden­ heiten bestehen" „WaS uns trennt, ist, daß wir wünschen, im

Interesse des sozialen Friedens, im Interesse der Veiständigung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, daß zunächst die Reichsregierung den Versuch machen möchte, in Gemeinschaft zwischen Arbeiter und Arbeitgeber die großen wichtigen sozialen Fragen zur Lösung zu bringen." Nachdem dann noch der Abgeordnete Fürst Radziwill eine zweite Polenrede gehalten hatte, war die Rednerliste erschöpft. Nach achttägigen Verhandlungen, in denen am allerwenigsten über den Etat gesprochen worden war, wurde die erste Lesung über die Etats­ vorlagen geschlossen. Damit hatte auch der erste Akt dir Erörterungen über die Sozialpolitik im neuen Reichstage sein Ende erreicht. Mit Beginn der ersten Session des neuen Reichstags hatte sich gezeigt, daß die hier bereits als Unsitte bezeichnete Gewohnheit der Parteien, die Negierung und den Reichstag mit sozialpolitischen Anträgen, Gesetzentwürfen und Resolutionen zu überschütten, im stärkeren Maße als früher geübt wurde. Die Zahl dieser Kundgebungen war

in der Tat erstaunlich groß, im höheren Maße waren es aber noch die phantastischen Vorstellungen von den auf sozialpolitischem Gebiete zu erstrebenden Zielen. Bezüglich dieser soll zunächst hier eine nach den verschiedenen Materien geordnete kurze Inhaltsangabe der haupt­ sächlichsten dieser Anträge gegeben werden. Arbeiterversicherung: Vereinfachung der Reichsversicherungsgesctze Nr. 59, 177*). — Herabsetzung der Altersgrenze bei der Invalidenversicherung auf das 65. bezüglich auf das 60. Lebensjahr. Nr. 65 und 522. — Die Er*) Die Nummern beziehen sich auf die Anlagen zu den stenographischen Berichten des Reichstags.

61 richtung einer neuen Lohnklasse über 2000 M. Nr. 69. — Obliga­ torische Ausdehnung der Invalidenversicherung auf die Kleingewerbe­

treibenden und die Pcivatbeamten mit geringem Einkommen, unter wesentlicher Beteiligung des Reiches an den Kosten. Nr. 59 Ziffer 3. — Ausdehnung der freiwilligen Invalidenversicherung auf selbständige

Handwerker und Kleingewerbetreibende.

Nr. 21 Ziffer 4. — Aus­

dehnung der Krankenversicherung und Unfallversicherung in ange­ messenen Grenzen auf Prioatbeamte. Nr. 59 Ziffer 3. — Die Bildung von Versicherungsvereinen nach dem Muster von Knappschaftskassen für die Arbeiter der Eisen- und Zinkhütten, der Kesselschmieden,

Walzwerke und ähnlicher Betriebe zur Versicherung ihrer Angehörigen

gegen Krankheit, Invalidität, Alter, Tod und Störung der Erwerbs­ fähigkeit. Nr. 166. — Unfallsürsorge bei freiwilligen Arbeiten zur Rettung von Personen und Bergung von Gegenständen. Nr. 87. — Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen durch Beseitigung der gegenwärtigen Zersplitterung. Nr. 128 Ziffer 1. — Ausdehnung der Arbeiteroersicherung auf die Land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, die Dienstboten und die Familienangehörigen der Versicherten. Nr. 128 Ziffer 2. — Erleichterung des Beitritts für Kleingewerbetreibende, für Handwerker und Landwirte und für alle Personen mit einem jährlichen Gesamteinkommen von weniger als 3000 M. Nr. 128 Ziffer 3 und Nr. 21 Ziffer 4. — Schiedsgerichte zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Aerzten und Krankenkassen. Nr. 128 Ziffer 4. — Erstreckung

der Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung auf Privatbeamte. Nr. 128 Ziffer 4. — Ausdehnung der Krankenversicherung auf land­ wirtschaftliche Arbeiter und Gesinde. Nr. 160. Knappschafts lassen: Vorlegung eines Gesetzes zur einheitlichen Regelung des Knapp­ schaftswesens für das ganze Reich. Nr. 146 und 97. — Zusatz zu

§ 74 Absatz 2 des' Krankenversicherungsgesetzes : Die Vertretung der Versicherten in der Generalversammlung (Knappschaftsälteste) und im Vorstände muß in geheimer Wahl gewählt werden. — Ein Gesetzentwurf, betreffend die vollständige Ausgestaltung der Knapp­ schaftskassen im sozialdemokratischen Sinne. Nr. 99. — Andere Fassung

des § 74 Absatz 3 des Krankenversicherungsgesetzes: Die Vorschriften des § 26 Absatz 1 und Absatz 2, Satz 1; § 37 Absatz 3, der §§ 56a und 57a finden auch auf die Knappschaftskassen Anwendung.

Nr. 99.

Reichsvereins- und Versammlungsrecht:

Verschiedene Gesetzentwürfe und Anträge auf Erlaß eines solchen Gesetzes im liberalen Sinne, das auch den Frauen die Teilnahme

62

ermöglicht. Nr. 29, 110, 78 und 131. — Das Recht soll ohne irgend welche Beschränkung gewährt, besonders nicht abhängig gemacht werden von Anmeldung bei bezw. Genehmigung von irgend einer Behörde.



Nr. 153.

Ein vollständiger Gesetzentwurf, eingebracht

von den Sozialdemokraten.

Nr. 94.

Reichsgewerbe-Ordnung: Ausdehnung der §§ 105—133e und des § 152 auf Arbeiter in Gärtnereien usw. Nr. 32. — Die Ausbildung von Lehrlingen soll nur solchen Personen gestattet sein, die den Meistertitel (§ 133) führen

dürfen. Nr. 21 Ziffer 3. — Anstellung von besonderen Beamten und gewählten Vertretern der Arbeiter zur Baukontrolle (§ 139b). Nr. 34a. — Verordnungen zum Schutze der Bauarbeiter (§ 120e). Vor Erlaß derselben gutachtlich zu hören die Handwerkskammern, die Jnnungsverbände und die Gesellenausschüsse. Nr. 43c. — Ein­ beziehung und Verschärfung der Bestimmungen des preußi­ schen Berggesetzes und der Novelle zu diesem Gesetze vom Jahre 1905 über die Bergarbeiter in die Reichsgewerbe­ ordnung. Nr. 45. — Jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen sollen Arbeiten nach Hause nicht mitgegeben werden. (§ 139a Absatz 1). Ausnahme für bestimmte Industriezweige (§ 137 a). Nr. 181 Ziffer 3. — Aenderungen zu Gunsten der Angestellten der §§ 113, 133 c Absatz 2,

§ 130d‘ (neu), 133s Absatz 2, 133g (neu), 133h (neu). Nr. 181. — Durch besonderes Reichsgesetz Regelung des Vertragsverhältnisses zwischen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitern und ihren Arbeitgebem und des Gesindes. Nr. 101. — Gänzliches Verbot der Konkurrenzklausel

durch Aufhebung der betreffenden Bestimmungen (§ 133k). Nr. 123. — Besondere gesetzliche Bestimmungen für Haus- und Heimarbeiter und für Hausgewerbetreibende. Nr. 125. — Verordnungen betreffend Schutzvorschriften in der Glasindustrie. Nr. 217. — Regelung der Arbeitsverhällnisse in der Hausindustrie (Heimarbeit). Nr. 142.

Sonntagsruhe: Beseitigung der Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe. Nr. 26. — Allgemeine Regelung, besonders zur Verbesserung der Verhältnisse im

Handelsgewerbe. Nr. 259. — Arbeitsruhe für jeden Sonn- und Fest­ tag 36 Stunden und für zwei aufeinanderfolgende Sonn- und Festtage 60 Stunden. Arbeitszeit in Kontoren höchstens zwei Stunden. Nr. 49. — Ermöglichung des Besuches des Gottesdienstes für alle in Gast- und Schankwirtschasten beschäftigten Personen. Nr. 49 Ziffer 4. — Ausdehnung der Sonntagsruhe auf die in der Binnenschiffahrt beschäftigten

Personen.

Nr. 176.

— Regelung der Sonntagsruhe für Techniker.

63

Nr. 186 Ziffer 2. — Gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und Sonntags­ ruhe in kaufmännischen Geschäften, die nicht mit offenen Verkaufsstellen verbunden sind. Nr. 175 und 244. Arbeitszeit: Beschränkung der Arbeitszeit in Fabriken und den diesen gleich­ gestellten Anlagen (§ 154 R. G. O.) auf höchstens 10 Stunden. Nr. 108. — Für Arbeiterinnen über 16 Jahre auf höchstens 10 Stunden. An Vorabenden der Sonn- und Festtage auf 9 Stunden. Für Arbeiterinnen, die einen Haushalt zu besorgen haben, höchstens 9 Stunden, an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen 6 Stunden. Nr. 108. — Für Frauen in Fabriken, Eisen- und Zinkhütten bezw. über Tage 8 Stunden, an den Vorabenden der Sonn- und Festtage nur bis 12 Uhr mittags. Nr. 164. — Für unter Tag arbeitende Bergleute, für am Feuer und in giftigen Gasen, in Zink-, Eisenhütten und Walzwerken und ähnlichen Betrieben beschäftigte Arbeiter 8 Stunden. Nr. 165. — Für junge Leute vom 14. bis 18. Lebensjahr in Fabriken nicht länger als 10 Stunden. Arbeiterinnen über 18 Jahre 10 Stunden. An Vorabenden der Sonn- und Festtage 9 Stunden. Nr. 181. — Für alle im Lohn-, Arbeits- und Dienstverhältnis, in der Industrie, im Handel und Verkehrswesen beschäftigten Personen regelmäßige Arbeitszeit 8 Stunden und an den Nachmittagen des Sonnabends frei. Nr. 95. — In den Betrieben mit ununterbrochenem Feuer und in unterirdischen Betrieben längstens 8 Stunden. In unterirdischen Betrieben mit mehr als 28° C. 6 Stunden. Nr. 95. — Regelung der Arbeitszeit für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und für das Gesinde durch Gesetz. Nr. 101.

Koalitionsrecht: Verleihung des Koalitionsrechtes an die Angestellten und Arbeiter des Reiches, der Bundesstaaten und Gemeinden. Nr. 35. — Weitere Sicherung und weiterer Ausbau des Koalitionsrechtes. Nr. 19. — Ausdehnung auf die landwirtschaftlichen Arbeiter. Nr. 160. — Be­ seitigung der dem Koalitionsrecht noch entgegenstehenden Beschränkungen. Nr. 132. — Erweiterung des § 152 derart, daß er nicht nur Anwendung findet auf die Besserung, sondern auch auf die Erhaltung bestehender Arbeits- und Lohnverhältnisse, weiter daß sich die Verabredung und Vereinigung nicht nur beziehen darf auf individuelle Verhältnisse, sondern auch auf allgemeine Verhältnisse der Gesetzgebung.

Arbeitervertretung: Errichtung von paritätischen Angestellten- und Arbeitskammern. Nr. 25 und 19 Ziffer 3. — Errichtung eines Reichsarbeitsamtes,

64

Nr. 243, und von Arbeitsämtern und ArbeitSkaminern. Nr. 163. — Errichtung eines Reichsarbeitsamts mit der Maßgabe, daß auf dieses die Obliegenheiten der Kommission für Arbeiterstatistik überzehen, usw. Nr. 85. — Gesetzliche Bestimmung über die Form, in der die Arbeiter durch Vertreter an der Regelung gemeinsamer Angelegenheit!« beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung:» mit den Arbeitgebern und den Organen der Behörden befähigt werden. Nr. 85 Ziffer 2. — Errichtung eines Reichsarbeitsamter mit An­ gliederung eines ständigen Arbeitsrates aus Arbeitgebern und Arbeitern in gleicher Zahl und unparteiischen Sachverständigen. Nr. 243. — Errichtung von Arbcitskammern. Nr. 127.

Berufsvereine: Gesetzliche Regelung der privaten und öffentlichen Rechtsver­ hältnisse. Nr. 19 Ziffer 2.

Tarif- und Lohnverträge: Gesetzliche Anerkennung und Regelung der Kollektiv- bezw. Tarifund Lohnverträge. Nr. 39. — Sicherung und weitere Ausgestaltung. Nr. 19 Ziffer 4. Gewerbegerichte:

Nach ihrer Art und unter Anlehnung an sie und an die Kaufmanns­ gerichte, Einführung von Gerichten zur Entscheidung von Streitigkeiten aus den Arbeitsocrhältnissen der landwirtschaftlichen Arbeiter und des Gesindes. Nr. 100. — Ausdehnung der Gewerbegerichte auf die Techniker. Nr. 186.

Gewerblicher Mittelstand. Umgrenzung von Fabrik und Handiverk mit Bezug auf die Zugehörigkeit zu den Handwerker- und Handelskammern. Nr. 21.

Handwerk: Verschiedene Anträge zu Gunsten des Handwerkerstandes. Nr. 21A. — Regelung der Beitragspflicht der großen Handelsbetriebe zu den Handwerkskammern. Nr. 68. — Heranziehung der mit handwerks­ mäßig ausgebildetem Personal arbeitenden Fabriken zu den Beiträgen der Handwerkskamnrern. Nr. 68. — Fabriken mit handwerksmäßig ausgebildeten Arbeitern sollen zu den Kosten herangezogen werden, welche den Handwerkerorganisationen aus der gewerblichen Ausbildung des Handwerks erwachsen. Nr. 21 Ziffer 2. — Sicherung der For­ derungen der Bauhandwerker. Nr. 21 Ziffer 5. — Gesetzentwurf

65

betreffend die Baubetriebe: Unterkunftsräume, Bedürfnisanstalten, Unfall­ verhütungsoorschriften, Baukontrolle, Schlußbestimmungen. Nr. 124. Kaufmännischer Mittelstand:

Verlangt wird ein Gesetz betreffend den unlauteren Wettbewerb, das Auskunfts- und Ausverkaufswesen und die Abzahlungsgeschäfte. Nr. 21 B. — Anstellung von Handelsinspektoren. Nr. 21 B Ziffer 2. — Erhebungen über die Lage des kaufmännischen Mittelstandes auf dem Lande, in den kleineren, mittleren und größeren Städten, unter öffentlicher und kontradiktorischer Anhörung der Jnteressentengruppen. Nr. 21 B II.

Technische Beamte und Angestellte: Rechtliche Gleichstellung mit kaufmännischen Angestellten. Nr. 44 BI. — Monatliche Gehaltszahlung. Nr. 44 B la. — Fortzahlung des Gehalts bei militärischen Uebungen bis 8 Wochen. Nr. 44 G Ziffer lb. — Verbot des Abzugs von Bezügen aus Krankenkassen

oder Unfallversicherung. Nr. 44 B Ziffer le. — Ausstellung des Dienstzeugnisses schon bei der Kündigung. Nr. 44 B Ziffer ld. — Gesetzliche Regelung der Sonntagsruhe. Nr. 44 B Ziffer 2. — Aus­ dehnung der Gewerbe- oder Kaufmannsgerichte auf die Techniker. Nr. 31 II 44 B Ziffer 3 186. — Anwendung der Nr. 144 B Ziffer 1 bis 3 auf die Techniker und Angestellten in landwirtschaftlichen Nebenbetrieben. — Vorlegung eines Gesetzentwurfes, betreffend zwingende Vorschriften für den Dienstvertrag der technischen Angestellten. Nr. 31 I. — Ueberwachung der Sonntagsruhe der technischen An­ gestellten durch die Gewerbeaufsichtsbeamten. Nr. 186 II. Privatbeamte: Ausdehnung der Erhebungen der Kommission für Arbeiter­ statistik auf die Verhältnisse aller Privatbeamten. Nr. 44 A Ziffer 1. — Errichtung von Ausschüssen der Privatbeamten in größeren Betrieben. Nr. 44 A Ziffer 2. — Vertretung der Privatbeamten in den Arbeitskammern. Nr. 44 A Ziffer 3. — Gesetzliche Aufsicht über

die Durchführung der Schutzbestimmungen für Prioatbeamte. Nr. 44 A Ziffer 4. — Ausdehnung der Kranken-, Unfall- und Invaliden­ versicherung auf Privatbeamte. Nr. 136 und 44 A Ziffer 5. — Einführung einer staatlichen Pensions-, Invaliden- und Hinter­ bliebenenversicherung. Nr. 44 A Ziffer 6. — Sicherung der Kaution

im Falle des Konkurses der Arbeitgeber.

Nr. 44 A Ziffer 7.

Wohnungsverhältnisse: Vorschriften zur Verbesserung und Regelung der Wohnungs­ verhältnisse der mittleren Volksklassen. Nr. 114 und 143. — Erlaß Heft 106.

66

von Normalivbestimmungen über die Beschaffenheit der Wohnungen.

Nr. 114 A Ziffer 1 und 102. — Einführung von besonderen Aufsichts­ beamten. Nr. 102. — Erwägungen wie die Invalidenversicherung mehr wie bisher für die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses der mittleren Bolksklassen tätig sein könnte.

Nr. 114 A II. — Anstellung von Erhebungen über die Wirkungen des Erbbaurechts. Nr. 114 Ain. — Sorge zu tragen für die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses der Beamten und Arbeiter des Reiches Nr. 114 BI. — Ueberlassung von Geländen des Reichsfiskus. Nr. 114 B II. — Zur Förderung eines gesunden Wohnungswesens Verständigung der einzelnen Bundes­

staaten untereinander einzuleiten.

Nr. 114 B III.

Aenderung des Patentgesetzes:

Daß Erfindungen der technischen Angestellten und Arbeiter in geistiger und materieller Beziehung mehr als bisher geschützt werden. Nr. 30.

ES ist möglich, daß im Verlaufe der Verhandlungen des Reichs­ tages einzelne dieser eingebrachten Gesetze und Anträge zur Erörterung gelangen könnten; wahrscheinlich aber wird bei den späteren Ver­ handlungen auf eine oder die andere dieser Kundgebungen verwiesen bezw. zurückgegriffen werden. Da die vorstehende Uebersicht nur ein sehr unvollkommenes Bild von den Absichten und Zielen der Parteien gibt, so erscheint es im Interesse der Mitglieder des Centralverbandes, die sich nicht im Besitze dec stenographischen Berichte und der zu ihnen

gehörigen Anlagen befinden, zweckmäßig, sächlichsten Anträge hier folgen zu lassen.

den Wortlaut der haupt­

Anträge der Deutsch-Konservativen:

Nr. 65.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, spätestens bei Gelegenheit der in Aussicht gestellten Vorlage, betreffend die Vereinfachung und organische Verbindung der sozialpoliti­ schen Versicherungsgesetze, die Gewährung der Alters­ rente gemäß § 15 Abs. 3 des JnvalidenversicherungSgesetzes schon bei Vollendung des 65. Lebensjahres in die Gesetz­

gebung einzuführen. Nr. 68.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, in den in Aussicht gestellten Gesetzentwurf, betreffend Aenderung der Gewerbe­ ordnung, Bestimmungen aufzunehmen, welche

67 1. verhindern, daß sich die großen Handelsbetriebe mehr und mehr der Beitragspflicht zu den Handwerks­

kammern entziehen, 2. die Heranziehung der mit handwerksmäßig ausgebildetem Personal arbeitenden Fabrikbetriebe zu den Kosten der Handwerkskammern gewährlüsten. Nr. 69.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen um baldige Vorlegung eines Gesetzentwurfes zu ersuchen, welcher den für die Alters- und Invalidenversicherung bestehenden Lohnklassen eine neue Lohnklasse für Selbstversicherer mit einem Einkommen über 2000 M. hinzufügt.

Antrag der Reichspartei: Nr. 59. Der Reichstag wolle beschließen: den Reichskanzler zu ersuchen: 1. Die Vereinfachung der Reichsversicherungsgesetze (Krankenversicherungsgesetz, Unfallversicherungsgesetz, Invaliden- und Altersversicherungsgesetz) mit möglichster Beschleunigung zur Durchführung zu bringen. 2. Die Zeitgrenze, von welcher ab die Altersrente gewährt wird, von 70 auf 65 Jahre herabzusetzen und zur Deckung der dadurch erforderlich werdenden Mehrbeträge

in erster Reihe die durch die Vereinfachung der Reichsversicherungsgesetze zu erzielenden Ersparnisse an

Verwaltungskosten zu verwenden. 3. Die obligatorische Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung auf die Kleingewerbtreibenden, sowie die Privatbeamten mit geringem Einkommen unter wesentlicher Beteiligung, des Reichs an den Kosten dieser Versicherung auszudehnen.

Anträge der Wirtschaftlichen Bereinigung: Nr. 25. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigst einen Gesetz­

entwurf betreffend die Einrichtung paritätischer Angestelltenund Arbeitskammern vorzulegen.

Nr. 26. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen um schleunigste Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Beseitigung der SonntagSarbeit im Handelsgewerbe zu ersuchen, mit Ausnahme derjenigen

68 Art eiten, deren Verrichtung an Sonntagen in Mfällen oder

im öffentlichen Interesse unbedingt erforderlich ft.

(§ 105c

der G -O.) Nr. 29. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigsteinen Gesetz­ entwurf vorzulegen, welcher das Vereins- und Versamm­ lungsrecht für das ganze Reich an Stelle der eineistaatlich en Vereinsgesetze im freiheitlichen Sinne regelt und den Fra uen die Teilnahme und Mitwirkung an sozialpollischen Be­

strebungen in Vereinigungen und Versammlunger emögli cht.

Nr. 30. Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, einen Gesetzentmrrf vor­ zulegen, durch den das Patentgesetz dahin abgeindert wird,

daß die Erfindungen der technischen Angestellten und

Arbeiter diesen

in geistiger und materieller Bezihung mehr

als bisher geschützt werden.

Nr. 31. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen um Vorlage von Geetzentwürscn zu ersuchen, durch die

I. zwingende Vorschriften erlassen werden über den Dien ft» vertrag der technischen Angestellten, wonah 1. die Zahlung des Gehaltes am Schluffe eines jeden

Monats zu erfolgen hat;

2. die Fortzahlung des Gehaltes in Kranktieitsfillen, jedoch nicht über die Dauer von sechs Wochen hinaus, fest­ gelegt wird;

3. die Aufhebung des Dienstverhältnisses im Fäle einer militärischen Uebung, die die Dauer von icht Wochen nicht übersteigt, für unzulässig erklärt wird; 4. die Berechtigung der Angestellten, die Ertalung eines Zeugnisses vom Tage der Kündigung an zu verlangen, bestimmt wird; 5. das Verbot einer Beschränkung des Angestellen hin­ sichtlich seiner gewerblichen Tätigkeit für die Mit xiaä)

der Beendigung des Dienstverhältnisses ausgsproch en wird; II. die Zuständigkeit der Gewerbegerichte auf die technichen An­

gestellten ausgedehnt wird, tunlichst unter Errichung be­ sonderer Abteilungen, in denen die Beisitzer zur Hälfte

technische Angestellte sein müssen.

69 Nr. 32. Der Reichstag wolle beschließen: folgende Bestimmung dem § 154 der Gewerbeordnung einzufügen: Die Bestimmungen der §§ 105 bis 133e und 152 finden auf Arbeitgeber, Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter in der gewerblichen Gärtnerei (Baumschulgärtnerei, Obst­ gärtnerei, Gemüsegärtnerei, Blumentreiberei, Gemüse­ treiberei, Samenzüchterei, Freilandblumengärtnerei, Kranz- und Blumenbinderei, Blumenhandlung, Kunstund Handelsgärtnerei, Landschaftsgärtnerei, Dekorations­ gärtnerei, Gewerbliche Gutsgärtnerei und sonstige Zweige der Gärtnerei nach dem Vorkommen) entsprechende An­ wendung.

Nr. 35. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Negierungen um Vorlegung eines Gesetz­ entwurfs zu ersuchen, durch welchen den Arbeitern und An­ gestellten des Reiches, der Bundesstaaten und der Gemeinden das Organisationsrecht zur legalen Wahrung ihrer öffent­ lichen Interessen, durch Betätigung der Selbsthilfe durch Unter­ stützungskassen rc. und zur Ausübung des Petitionsbeschwerdeund Versammlungsrechts gesichert wird.

Nr. 39. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Negierungen um Vorlage eines Gesetzent­ wurfes zwecks rechtlicher Anerkennung und Regelung der Kollektiv- bezw. Tarif-Lohnverträge zu ersuchen.

Nr. 259. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Vorarbeiten für eine allgemeine Regelung der Sonntagsruhe, namentlich zur Verbesserung der Verhältnisse im Handelsgewerbe, der­ art zu fördern, daß bei Beginn der nächsten Reichstagssession ein entsprechender Gesetzentwurf zur Vorlage gelangen kann.

Anträge des Zentrums: Nr. 19. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen um alsbaldige Vorlegung von Gesetzentwürfen zu ersuchen, welche bezwecken: 1. die Sicherung und den weiteren Ausbau des Koali­ tionsrechts der Arbeiter (§ 152 G.O.); 2. eine auf freiheitlicher Grundlage aufgebaute Regelung der privatrechtlichen und öffentlichrechtlichen Verhältnisse der Berufsvereine aller Art;

70 3. die Errichtung von Arbeitskammern zum „freien und friedlichen Ausdruck der Wünsche und Beschwerden der

Arbeiter"; 4. die Sicherung und weitere Ausgestaltung der Tarif­ gemeinschaften zwischen Arbeitgebern und Arbeit­ nehmern.

Nr. 21.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, zur Erhaltung und

Förderung des gewerblichen Mittelstandes folgende Maßnahmen zu treffen:

A. Zu Gunsten des Handwerkerstandes

I. Gesetzentwürfe vorzulegen, durch welche

1. Bestimmungen zur Umgrenzung von Fabrik und Handwerk, insbesondere soweit die Zugehörigkeit zur Handiverks- und Handelskammer in Betracht kommt, festgesetzt und unter Zuziehung der beteiligten Kreise Instanzen zur Entscheidung der bezüglichen Streitig­ keiten geschaffen werden;

2. die Fabrikbetriebe mit handwerksmäßig ausgebildeten Arbeitern zu denjenigen Kosten herangezogen werden, welche den Handwerkerorganisationen für die gewerb­ liche Ausbildung des Handwerkerstandes erwachsen; 3. die Ausbildung von Lehrlingen in handwerksmäßigen Betrieben nur solchen Personen gestattet wird, welche den Meistertitel (R. G. O. § 133) zu führen berechtigt sind; 4. die Grenzen der Zulassung zur freiwilligen Invaliden­ versicherung für selbständige Handwerker und andere

Kleingewerbetreibende erweitert werden; 5. die Sicherung der Forderungen der Bauhandwerker herbeigeführt wird; II. bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen für das Reich unter Berücksichtigung der für die betreffenden

Gewerbe bestehenden Tarifverträge 1. die Handwerkergenossenschaften, 2. die Handwerker, welche den Meistertitel zu führen

berechtigt sind, tunlichst zu bevorzugen;

71 III. ein Handiverkerblatt nach Vorbild des Reichs- Arbeits­

blattes herauszugeben. B. Zu Gunsten des kaufmännischen Mittelstandes I. Gesetzentwürfe vorzulegen, durch welche

1. das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb entsprechend erweitert, das Ausverkaufswesen geregelt und das Gesetz über die Abzahlungsgeschäfte einer, seine Härten

beseitigenden Revision unterzogen wird; 2. besondere, tunlichst aus dem Kaufmannsstande zu berufende Aussichtsbeamten — Handelsinspektoren — eingeführt werden, welche an Stelle der Polizeibeamten die Durchführungen der Bestimmungen zum Schutz der Gehilfen und Lehrlinge überwachen; dabei auch in Erwägung darüber einzutreten, ob und wie diese Aufsichtsbeamten für die Kontrolle des Ausverkaufswesens, der Wanderlager und Wander­ versteigerungen sowie der Abzahlungsgeschäfte heran­ gezogen werden können. II. Erhebungen über die Lage des kaufmännischen Mittel­

standes auf dem Lande, in den kleinen, mittleren und größeren Städten unter öffentlicher und kontradiktorischer Anhörung der verschiedenen Jntcressentengruppen in die Wege zu leiten. Nr. 43.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen: a) tunlichst bald einen Gesetzentwurf, betreffend Aenderung der Gewerbeordnung oorzulegen, in welchem vor­ geschrieben wird, daß besondere Beamte für die Bau­ kontrolle (§ 139 b) in genügender Zahl angestellt und

gewählte Vertreter der Arbeiter bei der Kontrolle zu­

gezogen werden; b) Verordnungen zum Schutze der Bauarbeiter auf Grund

des § 120 e der Gewerbeordnung zu erlassen; c) zur Sicherung einer zweckmäßigen Gestaltung der Vor­ schriften sub a und b vor Erlaß derselben beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter besonderer Berück­ sichtigung der bezüglichen gesetzlichen Vertretungen (Hand­

werkskammern,

Jnnungsverbände,

Gesellenausschüsse

usw.) Gelegenheit zu gutachtlicher Aeußerung zu geben.

-

Nr. 44.



72

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen um Vorlegung von Gesetz­ entwürfen und um Anordnungen zu ersuchen, welche bezwecken:

A. bezüglich der Privatbeamten: 1. Ausdehnung

der

Erhebungen

der

Kommission

für

Arbeiterstatistik auf die Verhältnisse aller Privatbeamten; 2. Errichtung von Ausschüssen der Privatbeamten in größeren Betrieben;

3. Vertretung der Privatbeamten in den zu schaffenden Arbeitskammern; 4. Schaffung einer gesetzlichen Aufsicht über die Durch­

führung der Schutzbestimmungen zu Gunsten der Privatbeamten; 5. Ausdehnung der Kranken- und Unfallversicherung auf Privatbeamte in angemessenen Grenzen; 6. Einführung einer staatlichen Pensions- und Hinter­ bliebenenversicherung für Privatbeamte; 7. Sicherung der Dienstkautionen Konkurs des Arbeitgebers;

der Privatbeamten im

B. bezüglich der technischen Angestellten:

1. rechtliche Gleichstellung der technischen Angestellten mit den kaufmännischen Angestellten, insbesondere in Bezug auf

a) die

Zahlung

obligatorische

Monatsschluß, b) die Fortzahlung

des

des

Gehalts

bei

Gehalts

an,

militärischen

Uebungen bis zur Dauer von acht Wochen, c) das Verbot der Abzüge vom Gehalt hinsichtlich der Beträge aus einer Kranken- oder Unfallversicherung, d) die Ausstellung des Dienstzeugnisses schon bei Kündigung des Dienstverhältniffes,

e) die Konkurrenzklausel;

2. Gewährung angemessener Ruhezeiten, insbesondere der Sonntagsruhe, in erhöhtem Maße; 3. Ausdehnung der Zuständigkeit der Gewerbe- oder Kaufmannsgerichte auf die technischen Angestellten; 4. Anwendung der Bestimmungen Ziffer 1 bis 3 auf die

technischen

Angestellten

in

landwirtschaftlichen Neben­

betrieben im Verkehrsgewerbe und im Bergbau.

73 Nr. 45. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz,

betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung vom 26. Juli 1900. Artikel I. § 115

der Gewerbeordnung

enthält folgende Absätze 3, 4, 5

und 6: (Abs. 3.) Im Betrieb von Bergwerken ist es verboten, genügend und vorschriftsmäßig beladene Fördergefäße bei der Lohnberechnung in Abzug zu bringen. Ungenügend oder vorschriftswidrig beladene

Fördergefäße müssen insoweit angerechnet werden, als ihr Inhalt vor­ schriftsmäßig ist. Der Bergwerksbesitzer ist verpflichtet zu gestatten, daß die Arbeiter auf ihre Kosten durch einen aus ihrer Mitte von dem ständigen Arbeiterausschusse oder, wo ein solcher nicht besteht, von ihnen gewählten Vertrauensmann das Verfahren bei Feststellung der ungenügenden oder vorschriftswidrigen Beladung und des bei der Lohnberechnung anzurechnenden Teiles der Beladung überwachen lassen; durch die Ueberwachung darf eine Störung des Betriebes nicht herbei­ geführt werden. Der Bergwerksbesitzer ist ferner verpflichtet, den Lohn des Vertrauensmanns auf Antrag des ständigen Arbeiterausschusses oder der Mehrzahl der beteiligten Arbeiter vorschußweise zu zählen;

er ist berechtigt, den vorschußweise gezahlten Lohn den beteiligten Arbeitern bei >der Lohnzahlung in Abzug zu bringen. Erfolgt die Lohnberechnung nach Zahl und Rauminhalt der Fördergefäße, so müssen diese geeicht sein.

(Abs. 4.) Sofern im Betrieb von Bergwerken der Lohn nach Gedinge bemessen wird, muß die Vereinbarung desselben spätestens

binnen zehn Tagen nach Belegung eines Betriebspunktes (Uebernahme der Arbeit) erfolgen; ist das Gedinge nicht in der vorbezeichneten Frist beziehungsweise bis zu dem in der Arbeitsordnung zu bestimmenden Zeitpunkt abgeschlossen, so ist der Arbeiter berechtigt, die Feststellung seines Lohnes im Falle der Fortsetzung der Arbeit vor demselben Arbeitsort nach Maßgabe des in der vorausgegangenen Lohnperiode für dieselbe Arbeitsstelle gültig gewesenen Gedinges, in allen anderen Fällen nach Maßgabe des Schichtlohnes gleichartiger Arbeiter zu verlangen.

(Abs. 5.) Soweit in Bergwerken Einrichtungen bestehen, zu denen die Arbeiter ohne gesetzliche Verpflichtung Beiträge leisten, sind

von den beteiligten großjährigen Arbeitern in geheimer Wahl gewählte Vertreter oder der ständige Arbeiterausschuß an der Verwaltung ent­ sprechend den Beiträgen zu beteiligen.

74 (Abs. 6.)

Wird im Bergwerksbetriebe das

Arbeitsoerhältnis

infolge Kündigung des Arbeitgebers aufgelöst, so muß dem Arbeit­

nehmer auf sein Verlangen die ihm vom Arbeitgeber überlassene Wohnung bis zum Schluffe des der Auflösung des Arbeitsverhältnisses folgenden Monats

werden.

gegen Erstattung der bisherigen Miete belassen

Entgegenstehende Vereinbarungen sind rechtsungültig. Artikel II.

§ 1. In § 134b der Gewerbeordnung werden folgende Absätze 3 und 4 eingeschaltet: (Abs. 3.)

Die im Laufe eines

Kalendermonats gegen einen

Arbeiter in Bergwerken wegen ungenügender oder vorschriftswidriger Beladung von Fördergefäßen verhängten Geldstrafen dürfen in ihrem Gesamtbeträge fünf Mark, Geldstrafen überhaupt den doppelten Betrag

seines durchschnittlichen Tagesarbeitsverdienstes nicht übersteigen. (Abs. 4.) In solchen Bergwerken, für welche ein ständiger Arbeiterausschuß vorgeschrieben ist (§ 134h der Gewerbeordnung), müssen die Strafgelder einer Unterstützungskasse zu Gunsten der Arbeiter überwiesen werden, an deren Verwaltung der ständige Arbeiterausschuß mit der Maßgabe beteiligt sein muß, daß den von den Arbeitern ge­ wählten Mitgliedern mindestens zwei Drittel der Stimmen zustehen. Die Grundsätze für die Verwendung und Verwaltung müssen nach Anhörung der volljährigen Arbeiter oder des ständigen Arbeiteraus­ schusses in der Arbeitsordnung oder in besonderen Satzungen festgelegt und dem Oberbergamt zur Genehmigung unterbreitet werden. Eine Uebersicht der Einnahmen und Ausgaben und des Vermögens dieser Kasse ist alljährlich in einer vom Oberbergamte vorgeschriebenen Form aufzustellen und diesem, nachdem sie zwei Wochen durch Aushang zur Kenntnis der Belegschaft gebracht ist, einzureichen. (Abs. 5): wie der seitherige Abs. 3. § 2. § 134 e Abs. 1 erhält folgenden Zusatz: „Bei Bergwerken erfolgt

die Einreichung der Arbeitsordnung beim Oberbergamt, welches diese zu genehmigen hat." Dem § 134e Abs. 2 ist folgender Satz 4 anzufügen: „In Berg­ werken beschäftigten fremdsprachigen Arbeitern ist dieselbe in ihrer

Muttersprache zu behändigen." § 3. § 134h der Gewerbeordnung erhält folgende Absätze 2 bis 5: (Abs. 2.) Vorstehende Bestimmungen finden auf Bergwerke mit

75

der Maßgabe Anwendung,

daß, wenn auf diesen in der Regel min­

ein ständiger ArbeiterauSschuß vorhanden sein muß. Für die in Abs. 1 Ziffer 3 genannten Arbeiter­ ausschüsse ist für Bergwerke der 1. Januar 1892 maßgebend. (Abs. 3.) Die Mitglieder des Arbeiterausschusses in Bergwerken

destens 20 Arbeiter beschäftigt sind,

müssen mindestens fünfundzwanzig Jahre alt sein, mindestens ein Jahr auf dem Bergwerke gearbeitet haben, die bürgerlichen Ehren­ rechte und die deutsche Reichsangehörigkeit besitzen. Ihre Zahl muß mindestens fünf betragen. Die Wahl findet nach den Grundsätzen der Verhältniswahl statt derart, daß neben den Mehrheitsgruppen auch die Minderheitsgruppen entsprechend ihrer Zahl vertreten sind. Ueber die Organisation, Wahl, Zuständigkeit und Geschäftsführung des ständigen Arbeiterausschusses sind in der Arbeitsordnung oder in be­ sonderen Satzungen nähere Bestimmungen zu treffen, die das Ober­ bergamt zu genehmigen hat. Bezügliche Streitigkeiten entscheidet das Oberbergamt. (Abs. 4.) Der ständige Arbeiterausschuß in Bergwerken hat die in den §§ 115 Abs. 3 und 5, 134b Abs. 3, 4 und 5, 134d, 135« und 137« bezeichneten Aufgaben. Er kann ferner Vertreter bestellen, welche befugt sind, die Grube in Bezug auf die Sicherheit zu befahren sowie sich über die daselbst vorgekommenen Unfälle zu unterrichten. Die näheren Bestimmungen über die Ausübung dieser Befugnis trifft das Oberbergamt. Dabei findet die Vorschrift des § 115 Abs. 3 Satz 3 entsprechende Anwendung. Durch die Arbeitsordnung können ihm noch weitere Aufgaben zugewiesen werden. Außerdem hat er die Befugnis, Anträge, Wünsche und Beschwerden der Belegschaft zur Kenntnis des Bergwerksbesitzers zu bringen und sich darüber gut­ achtlich zu äußern. (Abs. 5.) Dem Bergwerksbesitzer und seinen Angestellten ist untersagt, die Arbeiter in der Uebernahme oder Ausübung eines in Gemäßheit dieses Gesetzes ihnen übertragenen Amtes, ArbeiterauSschuß,

Grubenbefahrer (§ 134h Abs. 2 und 4) oder Vertrauensmann (§ 165 Abs. 3) zu beschränken. Vertragsbestimmungen oder Arbeitsordnungen, welche diesem Verbote zuwiderlaufen, haben keine rechtliche Wirksamkeit.

Artikel III. Nach § 137 werden folgende Paragraphen einglschaltet: § 137 a. (Abs. 1.) In Bergwerken darf die regelmäßige tägliche Arbeits­ zeit vom 1. Oktober 1907 ab 8 Vs Stunden, vom 1. Oktober 1908

ab 8 Stunden nicht überschreiten.

76 (Abs. 2.)

Die

Oberbergämter

sind

ermächtigt,

für einzelne

Gruben oder Grubenabteilungen diese Anfangstermine um höchstens zwei Jahre hinauszuschieben, wenn dies zur Verhütung eines unverhältnismäßigen Schadens erforderlich erscheint. (Abs. 3.) Als Arbeitszeit gilt die Zeit vom Beginn der Seil­

fahrt bis zu ihrem Wiederbeginn. (Abs. 4.) Die den Bergbehörden in der Landesgesetzgebung bei­ gelegte Befugnis zum Erlasse von den Arbeitnehmern günstigeren An­ ordnungen bleibt durch diese Vorschriften unberührt.

§ 137 b. Für Arbeiter in Bergwerken, welche an Betriebspunkten, an

denen die gewöhnliche Temperatur mehr als + 28° C. beträgt, sowie bei nassen Arbeiten nicht bloß vorübergehend beschäftigt werden, darf die Arbeitszeit 6 Stunden, an Betriebspunkten mit mehr als + 26° C. 7 Stunden täglich nicht übersteigen. Als gewöhnliche Temperatur gilt diejenige Temperatur, welche der Betriebspunkt bei regelmäßiger Be­ legung und Bewetterung hat.

§ 137c. Wenn im Bergwerksbetriebe Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Arbeiter oder für die Sicherheit der Baue besteht, so ist auf Verlangen der Betriebsleitung die Arbeit über die regelmäßige Zeit hinaus fortzusetzen. § 137 d. (Abs. 2.) Den Arbeitern in Bergwerken darf nicht gestattet werden: a) an Betriebspunkten, an denen die gewöhnliche Temperatur mehr als + 28° C. beträgt, sowie bei nassen Arbeiten, Ueber-

oder Nebenschichten zu verfahren, b) wöchentlich mehr als eine achtstündige Nebenschicht oder mehr als zwei Ueberschichten bis zur Gesamtdauer von vier Stunden

zu verfahren. (Abs. 3.) Vor dem Beginn sowohl einer regelmäßigen Schicht als einer Nebenschicht muß für den einzelnen Arbeiter eine mindestens achtstündige Ruhezeit liegen. (Abs. 4.) In der Zeit von Sonntag abends 6 Uhr bis Montag morgens 6 Uhr dürfen Ueber- und Nebenschichten nur in den Fällen

des § 105c verfahren werden.

(Abs. 1.)

§ 137 e. Die Oberbergämter können bezüglich einzelner Gruben

oder Grubenabteilungen für einzelne Arbeiterklassen eine Verlängerung

77 der im § 137 a zugelassencn

täglichen Arbeitszeit insoweit gestatten,

als dies zur Wiederaufnahme und Durchführung des vollen werk­ tägigen Betriebs erforderlich ist und die Art der zugelassenen Be­

schäftigung eine scheinen läßt.

Gefährdung

der

Gesundheit

ausgeschlossen

er­

(Abs. 2.) Die Oberbergämter sind außerdem ermächtigt, für einzelne Gruben oder Grubenabteilungen Ausnahmen von der Vor­ schrift im § 137d Abs. 1 unter b auf bestimmte Zeit zuzulassen, wenn dies aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Interesses geboten

erscheint. (Abs. 3.)

Die vorstehend in Abs. 1

und 2 und in § 137 a

Abi. 2 erwähnten Verfügungen sind schriftlich zu erlassen. Eine Ab­ schrift ist in das Zechenbuch einzutragen und durch Aushang auf dem Werke zur Kenntnis der Arbeiter zu bringen. Eine Nachweisung der bewilligten Ausnahmen ist alljährlich der Landeszentralbehörde ein­ zureichen.

§ 137 f. Auf jedem Bergwerke müssen Einrichtungen vorhanden sein, welche die Feststellung der Zahl und Dauer der von den einzelnen Arbeitern in den letzten zwölf Monaten verfahrenen Ueber- und Neben­ schichten ermöglichen.

Artikel IV. § 1. § 146 Abs. 1 Ziffer 2 erhält folgende Fassung: 2. Gewerbetreibende, welche den §§ 134h Abs. 5, 135 bis 137,

137a, 137b, 137d, 139c oder den auf Grund der §§ 137a, 139, 139a getroffenen Verfügungen zuwiderhandeln. § 2. § 147 Abs. 1 Ziffer 5 wie folgt zu fassen: 5. wer eine Fabrik oder ein Bergwerk betreibt oder eine offene

Verkaufsstelle hält, für welche eine Arbeitsordnung (§§ 134 a, 139m) oder der in § 134h vorgeschriebene Arbeiterausschuß nicht besteht, oder wer der endgültigen Anordnung der Be­ hörde wegen Ersetzung oder Abänderung der Arbeitsordnung nicht nachkommt.

§ 3. In § 148 wird folgende Ziffer 12a eingeschaltet:

12a. wer es unterläßt, den durch § 137 e Abs. 3 Satz 2 und 3 und durch § 137 f für ihn begründeten Verpflichtungen nachzukommen.

78

Artikel V. In § 154a Abs. 2 die Worte „unter Tage" zu streichen und folgenden Absatz 3 einzufügen : Bestimmungen von Reichs- und Landesgesetzen, welche für die Bergarbeiter günstiger sind, werden hierdurch nicht berührt.

Artikel VI. Schluß- und Uebergangsvorschristen. Die durch dies Gesetz erforderlich werdenden Abänderungen der Arbeitsordnungen müssen spätestens drei Monate, die Einrichtung der ständigen Arbeiterausschüsse muß spätestens vier Monate nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt sein. Urkundlich usw. Gegeben usw. Nr. 49. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, tunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen bezüglich der gewerb­ lichen Sonntagsruhe bestimmt wird, daß 1. die den Arbeitern zu gewährende Ruhe (§ 105b R.G.O.) mindestens für jeden Sonn- und Festtag sechsunddreißig,

für zwei aufeinanderfolgende Sonn- und Festtage sechzig Stunden beträgt; 2. die Arbeitszeit der Handlungsgehilfen, -Lehrlinge und -Arbeiter, soweit sie nicht in offenen Verkaufsstellen beschäftigt werden (§ 139c R.G.O.), auf höchstens zwei Stunden an Sonn- und Festtagen beschränkt wird; 3. eine ortsstatutarische Regelung der Sonntagsruhe (§ 105b R.G.O.) auch dahin ermöglicht wird, daß die Zulassung der Beschäftigung an bestimmte Bedingungen geknüpft wird; 4. den in Gast- und Schankwirtschaften beschäftigten Personen tunlichst an jedem Sonn- und Feiertag, mindestens aber an jedem zweiten Sonntag der Besuch

des Gottesdienstes ihrer Konfession ermöglicht wird (§ 105 i R.G.O.); 5. die Sonntagsruhe auf die in der Binnenschiffahrt be­ schäftigten Personen ausgedehnt wird. Nr. 108.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen: I. tunlichst bald einen Gesetzentwurf dem Reichstag vor­ zulegen zum Zwecke der Beschränkung der regelmäßigen



79



Arbeitszeit der Arbeiter (über 16 Jahren) in Fabriken und den diesen gleichgestellten Anlagen (§ 154 R.G.O.) auf höchstens zehn Stunden täglich;

II. im Falle der Ablehnung des unter 1 gestellten Antrags

tunlichst bald einen Gesetzentwurf dem Reichstag vor­ zulegen zum Zwecke der Beschränkung der regelmäßigen Arbeitszeit der Arbeiterinnen (über 16 Jahren) in Fabriken und den diesen gleichgestellten Anlagen (§ 154 R.G.O.) auf höchstens zehn Stunden täglich, an Vor­

abenden von Sonn- und Festtagen auf höchstens neun Stunden täglich; III. tunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die regelmäßige Arbeitszeit der Arbeiterinnen, welche ein Hauswesen zu Besorgen haben, in Fabriken

und den R.G.O.) abenden Stunden

diesen gleichgestellten Anlagen (§ 154 Abs. 1 auf höchstens neun Stunden, an den Vor­ von Sonn- und Festtagen auf höchstens sechs festgesetzt wird.

Nr. 110. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen um Einbringung eines Gesetz­ entwurfs zu ersuchen, welcher die öffentlichrechtliche Seite des Vereinswesens und das Versammlungsrecht in freiheit­ lichem Sinne regelt und insbesondere auch den Frauen die

Teilnahme an sozialpolitischen Bestrebungen in Vereinen und Versammlungen gestattet.

Nr. 114. Der Reichstag wolle beschließen: A. Die verbündeten Regierungen zu ersuchen: I. in Ausführung des Art. IV Nr. 15 der Reichsoerfassung dem Reichstage einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen allgemeine Vorschriften zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der minderbemittelten Volks­

klassen: Schlaforte rc. staaten,

Lage, Luftraum, Licht und Luft der Wohn-,

und Arbeitsräume, Zahl und Anlage der Ab­ erlassen werden, mit Verpflichtung der Einzel­ die Durchführung dieser allgemeinen Vorschriften

durch spezielle Verordnungen unter Anpassung an die

besonderen Verhältnisse von Stadt und Land zu regeln und durch Anstellung von besonderen Aufsichtsbeamten, sei es des Staates, sei es der Gemeinden, jedoch unter Oberaufsicht von Staatsbeamten, zu sichern;

80 II. in Erwägung darüber einzutreten, in welcher Weise die Jnoalidenversicherungsanstalten mehr als bisher für die

Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses der minderbe­ mittelten Volksklassen tätig sein können, ob insbesondere

nicht eine weitere Erleichterung in Gewährung von Dar­ lehen für gemeinnützigen Wohnungsbau, eine Verstär­

kung der Mittel eine Unterstützung ständigen Rat rc. eine entsprechende

durch Ausgabe von Baupfandbriefen, des Wohnungsbaues durch sachver­ möglich erscheint, und gegebenenfalls Gesetzesvorlage zu machen)

III. Erhebungen über die bisherigen Wirkungen des Erb­ baurechtes zu veranstalten und je nach Bedürfnis einen

entsprechenden Gesetzentwurf dem Reichstage vorzulegen. B. Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen: I. für Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses der Arbeiter

und Beamten des Reiches auch fernerhin — und in weiterem Maße als bisher —, sei cs durch Errichtung von Wohnungen, sei es durch Unterstützung entsprechen­ der gemeinnützigen Unternehmungen, Sorge zu tragen; II. durch Ueberlassung von freiiverdendem oder auch, wo

besondere Rücksichten es empfehlen, zu erwerbendem Ge­ lände des Reichsfiskus (Militär-, Marine-, Postverwal­

tung rc.) den gemeinnützigen Wohnungsbau zu unter­ stützen;

III. zur Förderung eines gesunden Wohnungswesens eine Verständigung der einzelnen Staaten einzuleiten zum Zwecke a) steuerlicher Erleichterungen für die Wohnungen der minderbemittelten Volksklassen; der Erschwerung wucherischer Grundstücksspekulation durch Einfüh­

rung der Besteuerung nach dem gemeinen Wert, der Wertzuwachssteucr rc., b) die Fortbildung der Bauordnung und' der Be­ bauungspläne im Sinne einer weiträumigen Be­ bauung und Dezentralisation der Besiedelung (z. B. im Anschluß an Kanäle und Wasserläufe), c) einer zeitgemäßen Reform des Enteignungsrechts und der Umlegung von zur Bebauung bestimmten Grundstücken.

Nr. 146. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag tun-

81

lichst bald

einen Gesetzentwurf zur Regelung des Knapp­

schaftswesens vorzulegen. Nr. 147. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz, betreffend die Abänderung des Gesetzes, betreffend die Krankenver­ sicherung, vom 15. Juni 1883. Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden

Deutscher Kaiser, König von Preußen rc., verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags,

waS folgt:

Artikel I. Im § 74 des Krankenversicherungsgesetzes wird dem Absätze 2 folgender Satz beigefügt: Die Vertreter der Versicherten in der Generalversammlung (Knappschaftsältesten) und im Vorstande müssen in ge­ heimer Wahl gewählt werden. Artikel II. Dieses Gesetz tritt am Tage der Verkündigung in Kraft. Urkundlich rc. Gegeben rc. Anträge der Fraktion der Polen:

Nr. 153.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigst einen Gesetz­ entwurf vorzulegen, durch welchen den Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts das Recht, sich zu versammeln und Vereine zu bilden, gewährleistet wird, und zwar ohne irgend welche Beschränkungen dieses Rechts, insbesondere ohne die Ausübung desselben von einer Anmeldung bei einer Behörde oder einer Genehmigung durch dieselbe abhängig zu machen.

Nr. 160. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,

baldigst Gesetz­

entwürfe vorzulegen, betreffend a) das Koalitionsrecht der Landarbeiter, und b) die Erweiterung der Krankenversicherung auf dieselben

sowie auf da- Gesinde.

Nr. 161. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf, betreffend die Gewährung der Altersrente schon bei Voll­

endung deS 60. Lebensjahres, vorzulegen. Heft 106.

82 Nr. 163. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,

dem Reichstage

tunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, kraft dessen ein .Reichsarbeitsamt, Arbeitsämter und Arbeitskammern ge­ schaffen werden zwecks Erhebungen über die Lohn-, Arbeits­ und Lebensverhältnisse des Arbeiterstandes, Kontrolle über die Ausführung der Arbeiterschutzbestimmungen und friedlicher Bei­ legung der aus dem Arbeitsverhältnis entstehenden Streitig­ keiten zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Nr. 164. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, möglichst bald dem Reichstag einen Gesetzentwurf zugehen zu lassen, durch welchen die Maximalarbeitszeit der in Fabriken, Eisen- und Zink­ hütten und der in Bergwerken über Tage arbeitenden Frauen auf 8 Stunden täglich beschränkt wird und an Vorabenden von Sonn- und Feiertagen die Beschäftigung derselben höchstens bis Mittag 12 Uhr stattfinden darf. Nr. 165. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage bis

zur nächsten Session einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen der Maximalarbeitstag der unter Tage beschäftigten

Bergleute und der am Feuer und in giftigen Gasen arbeitenden Zink- und Eisenhütten-, Walzwerkarbeiter und Arbeiter in ähnlichen Betrieben auf 8 Stunden verkürzt wird.

Nr. 166. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, tunlichst bald dem Reichstag einen Gesetzentwurf zugehen zu lassen, durch welchen

für die Arbeiter der Eisen-, Zinkhütten, Kessel- und Walzwerke und ähnliche Betriebe nach dem Muster der Bergknappschafts­ kassen Versicherungsvereine begründet werden, die ihren Mitgliedern beziehungsweise deren Angehörigen Versicherung gegen die durch Krankheit, Invalidität, Alter und Tod bedingten Störungen der Erwerbsfähigkeit gewähren. Anträge der Nationalliberalen:

Nr. 78. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher das VereinSund Versammlungsrecht für alle Bundesstaaten einheitlich

ordnet, soweit dasselbe nicht schon Gesetzbuch geregelt ist.

durch das Bürgerliche

83 Nr. 85. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem

Reichstag

baldigst einen Gesetzentwurf oorzulegen, welcher 1. die Einrichtung eines Reichsarbeitsamtes schafft, mit der Maßgabe, daß auf dasselbe die Obliegenheiten und Befugnisse der Kommission für Arbeiterstatistik übergehen, und daß ihm je in gleicher Zahl Vertreter der Arbeit­

geber und Arbeitnehmer als ständige Beisitzer angehören; 2. gesetzliche Bestimmungen über die Formen trifft, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern und mit den Organen der Regierung befähigt werden.

Nr. 87. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage tunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, betreffend die Unfallfürsorge bei Arbeiten, welche freiwillig zur Rettung von Personen und zur Bergung von Gegenständen vorgenommen werden unter besonderer Berücksichtigung der bei solcher Tätig­

keit vorkommenden Feuer-, Wasser- und anderer Gefahren.

Nr. 175. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Arbeitszeit und die Sonntags­ ruhe in Kontoren und sonstigen kaufmännischen Betrieben, die nicht mit offenen Verkaufsstellen verbunden sind, geregelt wird.

Nr. 176. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, tunlichst bald einen

Gesetzentwurf

vorzulegen,

durch

welchen

für die

in der

Binnenschiffahrt beschäftigten Personen Bestimmungen über Sonntagsruhe getroffen werden. Nr. 177. Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, die Vereinfachung der

Reichsversicherungsgesetze (Kranken-, Unfall- und JnvalidenversicherungSgesetz) mit möglichster Beschleunigung zur Durchführung zu bringen. Nr. 181. Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag alsbald

einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach der Titel VII der Gewerbeordnung wie folgt abgeändert wird:

84

1. Der § 135 Absatz 3 erhält folgende Fassung: Junge Leute zwischen vierzehn und achtzehn Jahren dürfen in Fabriken nicht länger als zehn Stunden beschäftigt werden. 2. Der § 137 Absatz 2 erhält folgende Fassung: Die Beschäftigung von Arbeiterinnen über achtzehn Jahre darf die Dauer von zehn Stunden,

an den Vorabenden der Sonn- und Festtage die Dauer von neun Stunden nicht überschreiten. 3. Hinter den § 137 wird eingeschaltet: § 137 a. Jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen darf Arbeit nach Hause nicht mitgegeben werden. 4. Dem § 139a Absatz 1 wird hinzugefügt: 5. für bestimmte Industriezweige Ausnahmen von den Bestimmungen des § 137 a zuzulassen. 5. Im § 146 Absatz 1 Ziffer 2 werden die Worte „§§ 135 bis 137" ersetzt durch die Worte: „§§ 135 bis 137a". Nr. 181. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwürfe die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz,

betreffend Abänderung der Gewerbeordnung.

Artikel I. Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich erhält folgende Abänderungen: I. In § 113 wird statt der Worte „Beim Abgänge" gesetzt:

„Vom Tage der Kündigung an." II. In § 133c Ziffer 4 wird hinter den Worten „oder Abwesen­

heit" eingeschaltet: „oder durch eine die Zeit von acht Wochen übersteigende

militärische Dienstleistung."

III. § 133c Absatz 2 wird aufgehoben und als § 133 da eingefügt: „Wird einer der im § 133a bezeichneten Ange­ stellten durch unverschuldetes Unglück an der Leistung der Dienste verhindert, so behält er seinen Anspruch auf Gehalt und Unterhalt, jedoch nicht über die Dauer von sechs Wochen hinaus. Dies gilt auch dann, wenn das Dienstverhältnis auf Grund des § 133c aufgehoben wird, weil der Angestellte durch unverschuldetes Unglück

längere Zeit an der Verrichtung seiner Dienste ver­

hindert ist.

85 Der Angestellte ist nicht verpflichtet, sich den Be­ trag anrechnen zu lassen, der ihm für die Zeit der Ver­ hinderung aus einer Kranken- oder Unfallversicherung

zukommt. Eine Vereinbarung, durch welche von diesen Vor­ schriften zum Nachteile des Angestellten abgewichen wird,

ist nichtig." IV. Folgender § 133 db (neu) wird eingeschaltet: „Die Zahlung des dem Angestellten zukommenden

Gehalts hat am Schlüsse jeden Monats zu erfolgen. Eine Vereinbarung, nach der die Zahlung des Gehalts später erfolgen soll, ist nichtig." V. In § 133f wird als Absatz 2 folgende Bestimmung einge­ schaltet: „Die Beschränkung kann nicht auf einen Zeitraum von mehr als drei Jahren von der Beendigung des Dienstverhältnisses an erstreckt werden, es sei denn, daß während der Dauer der Beschränkung dem Angestellten das zuletzt von ihm bezogene Gehalt fortbezahlt wird."

VI. Folgender § 133 g (neu) wird hinzugefügt: „Gibt der Gewerbe-Unternehmer durch vertrags­ widriges Verhalten dem Angestellten Grund, das Dienst­ verhältnis gemäß den Vorschriften der §§ 133b, 133d aufzulösen, so kann er aus einer Vereinbarung der in § 133 f bezeichneten Art Ansprüche nicht geltend machen. Das gleiche gilt, wenn der Gewerbe-Unternehmer das Dienstverhältnis auflöst, es sei denn, daß für die Auf­ lösung ein erheblicher Anlaß vorliegt, den er nicht ver­ schuldet hat, oder daß während der Dauer der Beschrän­

kung dem Angestellten das zuletzt von Gehalt fortgezahlt wird.

ihm bezogene

Hat der Angestellte für den Fall, daß er die in der Vereinbarung übernommene Verpflichtung nicht erfüllt,

eine Strafe versprochen, so kann der Gewerbe-Unter­ nehmer nur die verwirkte Strafe verlangen; der Anspruch auf ErfMung oder auf Ersatz eines weiteren Schadens ist ausgeschlossen. Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Herabsetzung einer unverhältnis­ mäßig hohen Vertragsstrafe bleiben unberührt.

Vereinbarungen, welche diesen Vorschriften zuwider­ laufen, sind nichtig."

86 VII. Folgender § 133h (neu) wird hinzugefügt:

„Die Vorschriften des § 133k Absatz 2 und des § 133g finden keine Anwendung, .wenn die Angestellten

ein Gehalt von mindestens 8000 Mark für das Jahr beziehen."

Artikel II. (Neu.) Die Bestimmungen der §§ 133f, 133g und 133h der Gewerbe­ ordnung finden vom 1. Januar 1910 ab auch auf die schon vor dem Inkrafttreten der Paragraphen bestehenden Vereinbarungen Anwendung. Nr. 186.

Der Reichstag wolle beschließen:

I. den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Zuständig­

keit der Gewerbegerichte auf die technischen Angestellten, deren Jahresarbeitsverdienst an Gehalt fünftausend Mark nicht übersteigt, ausgedehnt wird, tunlichst unter Errichtung be­ sonderer Abteilungen, in denen die Beisitzer zur Hälfte tech­ nische Angestellte sein müssen;

II. den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, sich mit den ver­ bündeten Regierungen ins Benehmen zu setzen, daß die Ge­ werbeaufsichtsbeamten der Einhaltung der den technischen An­ gestellten durch §§ 105 a ff. der Gewerbeordnung gewähr­ leisteten Sonntagsruhe besondere Aufmerksamkeit widmen;

III

den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, eine Prüfung und wägung der Frage herbeizuführen, ob Anlaß vorliegt, maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen in der Mchtung zuändern, daß in Zukunft auf Verlangen die Zeugnisse

kaufmännischen

und

technischen

Angestellten

im

Er­ die ab­ der

Auslande

seitens der Konsulatsbehörden gebührenfrei beglaubigt werden.

Nr 243. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,

dem Reichstag

baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach 1. ein vom Reichsamt des Innern reffortierendeS ständiges

Amt unter der Bezeichnung Reichsarbeitsamt geschaffen wird, auf welches die Obliegenheiten und Befugnisse

der arbeiterstatistischen Abteilung des Statistischen Amtes übergehen und welchem die besondere Aufgabe obliegt, in Ansehung der Lohnarbeiter und anderen Angestellten

kaufmännischer und

gewerblicher Betriebe,

sowie des

kaufmännischen und gewerblichen Mittelstandes

87

a) die Feststellung und wissenschaftliche Verarbeitung ihrer Arbeits-, Dienst- und Erwerbsverhältnisse sowie sonstigen Lebensbedingungen, b) die Anregung und Vorbereitung einer hierauf ge­

gründeten fortschreitenden und zusammenfassenden sozialpolitischen Gesetzgebung,

c) die Feststellung und wissenschaftliche Verarbeitung

der bei der Anwendung der sozialpolitischen Ge­ setze im Reiche und den Bundesstaaten sowie im Auslande gemachten Erfahrungen, d) eine regelmäßige Veröffentlichung des gesamten sozialpolitischen Materials; 2. diesem Reichsarbeitsamt ein ständiger ArbeitSrat an­ gegliedert wird, dem Arbeitgeber und Arbeiter in gleicher

Zahl sowie unparteiische Sachverständige angehören. Nr. 244. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf

vorzulegen, durchweichen die Arbeitszeit und die Sonntags­ ruhe der Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter in Kontoren und solchen kaufmännischen Betrieben, die nicht mit offenen Ver­ kaufsstellen verbunden sind, geregelt wird.

Anträge der deutschen freisinnigen Volkspartei: Nr. 127. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,

dem

Reichstage

baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher zur Wahr­ nehmung der Interessen der in der Industrie und in Berg­ werken beschäftigten Arbeiter und zur Regelung der den Betriebsunternehmern und den Arbeitern gemeinsamen An­

gelegenheiten Arbeitskammern einrichtet. Nr. 128. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, tunlichst bald einen Gesetzentwurf, betreffend Aenderung des Krankenversiche­

rungsgesetzes, vorzulegen, durch welchen 1. zwecks Erhöhung der Leistungsfähigkeit die gegenwärtige Zersplitterung des Krankenkaffenwesens beseitigt wird, 2. die Versicherungspflicht auf land- und forstwirtschaftliche Arbeiter, auf Dienstboten und die Familienangehörigen

der Versicherten ausgedehnt wird, 3. der Beitritt zur Krankenversicherung für Kleingewerbe­ treibende, Handwerksmeister, Landwirte, sowie für alle

88

Personen mit einem jährlichen Gesamteinkommen unter 3000 Mark erleichtert wird, 4. Einigungskommissionen (Schiedsgerichte) zur Entscheidung

von Streitigkeiten zwischen Kassenärzten und Kranken­ kassen eingerichtet werden. Nr. 131.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, in Ausführung des Art. 4 Abs. 16 der Reichsverfassung dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf, betreffend das Vereins- und Versamm­ lungsrecht, vorzulegen, nach welchem alle Deutschen ohne Unterschied des Geschlechts berechtigt sind, friedlich und unbewaffnet Versammlungen abzuhalten und zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine zu bilden. Nr. 132. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher die dem Koalitionsrecht noch entgegenstehenden Beschränkungen beseitigt und insbesondere I. den § 152 der Gewerbeordnung dahin ändert, a) daß derselbe nicht nur auf Erlangung besserer, sondern auf Erhaltung bestehender Arbeits- und Lohnverhältnisse Anwendung findet,

b) daß sich die entsprechenden Verabredungen und Vereinigungen nicht nur auf die individuellen Interessen dersich Verabredenden oder Vereinigenden, sondern auch auf die Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen im allgemeinen, sowie auf Ver­

änderungen der Gesetzgebung richten dürfen,II. den § 153 der Gewerbeordnung dahin erweitert, daß zugleich mit dem Mißbrauch des Koalitionsrechtes auch die rechtswidrige Verhinderung am gesetzmäßigen Gebrauch unter Strafe gestellt wird.

Nr. 136. Der Reichslag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen um Vorlegung

eines Gesetz­

entwurfes zu ersuchen, durch den die reichsgesetzliche Kranken-, Unfall- und Jnvalidenversicherungsgesetzgebung für Privatbeamte erweitert wird. Ein

Antrag

Nr. 140

Nationalliberalen Nr. 186. Die Beantragung eines

gleichlautend

mit

dem Antrag

der

Gesetzes Nr. 191 vollkommen gleich

dem Anträge der Nationalliberalen Nr. 181.

89 Es

folgt

unter

Nr.

256

die

nochmalige

Einbringung

des

Antrages Nr. 132.

Anträge der Sozialdemokraten:

Nr. 94. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz, betreffend das Recht der Versammlung und Vereinigung und das Recht der Koalition.

Die Reichsangehörigen

§ 1. ohne Unterschied des Geschlechts haben

das Recht, sich zu versammeln. Zur Veranstaltung und Abhaltung von Versammlungen bedarf es weder einer Anmeldung bei einer Behörde, noch einer Erlaubnis durch eine Behörde. Versammlungen und Umzüge, die auf öffentlichen Straßen und Plätzen stattfinden, sind spätestens sechs Stunden vor ihrem Beginn durch den Veranstalter oder Einberufer bei der mit der Ordnung des öffentlichen Verkehrs betrauten Ortsbehörde an­

zuzeigen. § 2. Die Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts haben das Recht, Vereine zu bilden. § 3. Alle den vorstehenden Bestimmungen widersprechenden Gesetze und Verordnungen einschließlich derer, welche die Verabredung und

Vereinigung zum Behufe Beschäftigungsbedingungen

der Erlangung günstigerer Lohn- und hindern, untersagen oder unter Strafe

stellen, sind aufgehoben. § 4. Wer die Ausübung der in vorstehenden Paragraphen gewähr­ leisteten Rechte hindert oder zu hindern versucht, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt. § ö. Die landesgesetzlichen Bestimmungen über das Versammlungs­ und Bereinsrecht sind aufgehoben. § 6. Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündigung in Kraft. Urkundlich rc. Gegeben rc.

90 Nr. 95.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die tägliche regelmäßige Arbeitszeit für alle im Lohn-, Arbeits- und Dienstverhältnis im Industrie-, Handels- und Verkehrswesen

beschäftigten Personen unter Festsetzung angemessener Uebergangsvorschriften auf längstens 8 Stunden festgesetzt und der Sonnabend Nachmittag freigegeben wird. In Betrieben mit ununterbrochener Arbeitszeit, sowie in unterirdischen Betrieben soll eine tägliche regelmäßige Arbeitszeit von längstens 8 Stunden und in unterirdischen Betrieben, in welchen die Temperatur 28° Celsius übersteigt, von längstens 6 Stunden zugelassen werden.

Nr. 97. Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, baldigst einen Gesetz­ entwurf vorzulegen, durch welchen das Knappschafts­ kassenwesen unter Beobachtung folgender Grundsätze für das gesamte Reich einheitlich geregelt wird:

1. Aufhebung der sogenannten Unständigkeit und der Klasseneinteilung der Mitglieder. Für die Beamten mit über 2000 M. Gehalt sind besondere Pensionskassen

zu bilden,' 2. Selbstverwaltung der Kassen unter Teilnahme der Arbeiter in mindest gleich starker Anzahl wie der Werksbesitzer auf Grund des allgemeinen, auch die freiwilligen und invaliden Mitglieder umschließenden geheimen, direkten Wahlrechts; Zulassung der Beamten nur als Vertreter der Werksbesitzer, Fortdauer der Amtsperiode der Vor­

standsmitglieder trotz Entlassung aus der Arbeit;

3. Rückzahlung der Beiträge an solche Mitglieder, welche länger als 200 Wochen Beiträge gezahlt haben und aus der Kasse ausscheiden, ohne freiwillige Mitglieder oder Mitglieder ähnlicher Kassen werden

zu können;

4. Ausschluß der Anrechnungsfähigkeit von Unfall- oder Invalidenrenten oder Militärpensionen, sofern durch die

Anrechnung nicht der Durchschnittslohn überschritten wird, den der Betreffende in den letzten 10 Jahren verdient hat; 5. Errichtung von Schiedsgerichten für Knappschaftsstreitig­ keiten unter Zuziehung von mindestens je zwei Beisitzern zu jeder Schiedsgerichtssitzung;

91

6. freie Wahl unter den Aerzten, die sich bereit erklärt haben, für die vom Knappschaftsverein mit anderen

Aerzten vereinbarten Sätze die Behandlung

zu über­

nehmen.

Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwürfe die verfassungsmäßige Ge­ nehmigung zu erteilen: Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883.

Nr. 99.

Artikel 1. Der Absatz 3 des § 74 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883 erhält folgende Fassung: „Die Vorschriften des § 26 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1, § 37 Absatz 3 §§ 56a und 57 a finden auch auf Knapp­ schaftskaffen Anwendung."

Artikel 2. Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. Urkundlich rc. Gegeben rc. Nr. 100. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,

dem Reichstage baldigst den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, durch welches nach Art und in Anlehnung an die Gewerbegerichte und Kaufmannsgerichte Gerichte zur Entscheidung von Streitig­ keiten aus dem Arbeitsverhältnis zwischen ländlichen Ar­ beitern und deren Arbeitgebern sowie aus dem Gesinde­

verhältnis eingerichtet werden. Nr. 101.

Der Reichstag wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag baldigst den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen,- durch welches das Bertragsverhältnis zwischen den in landwirtschaft­ lichen oder forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeitern und ihren Arbeitgebern sowie das Bertrags­ verhältnis des Gesindes und deren Arbeitgeber durch reichs­ gesetzliche Vorschriften geregelt wird, welche insbesondere 1. alle landesgesetzlichen Vorschriften, welche Straf­ bestimmungen gegen ländliche Arbeiter oder gegen das Gesinde

wegen

Nichtantritt

oder

wegen

Verlassens

des Arbeitsverhältnisses oder wegen Vertragsverletzungen, Ungehorsams oder Widerspenstigkeit, wegen Verabredung

92 und

Bereinigung zum Behuf der Erlangung günstiger

Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder wegen Aufforderung zu 2.

solchen Verabredungen, enthalten, aufheben; den in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben be­

schäftigten Arbeitern und dem Gesinde das Recht ge­ währleisten, zur Wahrung und Förderung von Berufs­ und Standesinteressen, namentlich zurErlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit, Vereinigungen zu bilden und Verabredungen zu treffen und diesen Vereinigungen das Recht einzuräumen, öffentliche und Vereinsversammlungen zur Erörterung und Beschlußfassung über alle den Beruf und den Stand der Mitglieder betreffenden Angelegen­ heiten, mit Einschluß einer Einwirkung auf die Gesetz­ gebung und die Verwaltung, zu veranstalten; 3. eine reichsgesetzliche Krankenversicherung für das Gesinde und die ländlichen Arbeiter einführen; 4. die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so regeln, wie es die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung fordern.

Nr. 102. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag baldigst einen Gesetzentwurf, betreffend Regelung des Wohnungs­ wesens, vorzulegen; insbesondere Normativ-Bestimmungen bezüglich der Beschaffenheit der Wohnungen und der Durch­ führung der Wohnungsinspektion, sowie Schaffung eines Reichs-Wohnungsamts.

Nr. 123.

Der Reichstag wolle beschließen:

dem nachstehendm

Gesetzentwurf seine Zustimmung zu erteilen: Gesetz, betreffend Ab­ änderung der Gewerbeordnung und des Handelsgesetzbuchs.

Artikel I. In § 105 der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich wird folgender Absatz eingefügt: Eine Vereinbarung zwischen dem Gewerbeunternehmer und einem unter diesen Titel fallenden Angestellten, durch die der Angestellte für die Zeit nach Beendigung des Dienst­ verhältnisses in seiner gewerblichen Tätigkeit beschränkt wird,

ist nichtig.

93 Artikel II.

Der § 133 f der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich wird

aufgehoben.

Artikel III. § 74 des Handelsgesetzbuchs erhält folgende Fassung: Eine Vereinbarung zwischen dem Prinzipal und dem Handlungsgehilfen, durch welche dieser für die Zeit nach der Beendigung des Dienstverhältnisses in seiner gewerblichen Tätigkeit beschränkt wird, ist nichtig.

Artikel IV. § 75 des Handelsgesetzbuches vom 10. Mai 1897 wird aufgehoben.

Artikel V. In § 76 Absatz 1 des Handelsgesetzbuchs „74, 75" gestrichen. Urkundlich 2C. Gegeben rc.

werden

die Ziffern

Nr. 124. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwürfe die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz,

betreffend den Schutz der Arbeiter des Baugewerbes. I. Einrichtungen der Baubetriebe. § 1. 1. Die Bauunternehmer und Bauherrn sind solidarisch ver­ pflichtet, die Materialien, Gerüste, Schutzvorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften in solcher Güte anzuliefern nnd so einzurichten und zu

unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit geschützt sind. 2. Wenn im Winterhalbjahr im Innern der Bauten Arbeiter

(Putzer, Stuckateure, Ofensetzer, Maler usw.) beschäftigt werden, so sind die Tür- und Fensteröffnungen derjenigen Räume, in denen ge­ arbeitet wird, wind- und wetterdicht zu verschließen. 3. Die Anwendung des offenen Koksfeuers (Kokskörbe) zur Austrocknung und Erwärmung der Bauten oder einzelner Räume ist

verboten, desgleichen die offene Holzkohlenfeuerung bei Arbeiten der Klempner und Mechaniker im Innern der Bauten.

4.

Säuren, Laugen,

gifthaltige Farben und explosionsfähige

Stoffe sind in sicheren Gefäßen und in gesonderten Räumen unter Verschluß zu halten, nur von den in Ziffer 5 genannten verantwort­ lichen Personen herauszugeben, und zwar in Mengen, die sofort in Benutzung genommen werden sollen.

Die Verwendung von bleihaltigen Farben ist verboten.

94 5. Die Bauleitung hat Fürsorge zu treffen, daß täglich vor Beginn der Arbeit die Lausbrücken, Leitern und Leitergänge, Gerüste, Maschinen und sonstige Gerätschaften, sowie Schutzvorrichtungen aller Art auf ihre Standfestigkeit und Sicherheit geprüft werden und daß die Ingebrauchnahme schadhaft und mangelhaft befundener Gerüste,

Geräte und sonstiger Betriebsmittel verhindert wird. Diese Fürsorge hat sich auch auf die Unterkunftsräume, Bedürfnisanstalten und sonstige dem sanitären Schutze der Arbeiter dienende Einrichtungen zu erstrecken. Insbesondere ist für genügendes, gesundes und frisches Trinkwasser Sorge zu tragen. Die Prüfung und Sicherung der

Gerüste usw. besorgt, sofern der Bauunternehmer oder Bauherr sie nicht selbst ausführen, der Polier, oder falls ein solcher nicht vorhanden, die von der Bauleitung besonders beauftragte Person, die mit dem Gerüstbau und der Durchführung der Sicherheitsvorschriften völlig vertraut sein muß. Diese Personen sind den am Bau beschäftigten Arbeitern und der Baupolizei bekannt zu geben.

II. Unterkunftsräume. § 2. 1. In unmittelbarer Nähe aller Neubauten und größerer Erweiterungs- und Umbauten sind für die am Bau beschäftigten Arbeiter Unterkunftsräume zu errichten. 2. Die Unterkunftsräume müssen im Mittel mindestens 2,50 m im Lichten hoch und so groß sein, daß auf jeden am Bau beschäftigten Arbeiter eine Bodenfläche von 1 qm entfällt. Sie müssen wind- und regensichere Wände und ein ebensolches Dach und einen aus ge­ spundeten Brettern bestehenden Fußboden haben, mit einer verschließbaren Tür, sowie mit zum Oeffnen eingerichteten Fenstern versehen sein. Der Fußboden muß mindestens 20 cm über der Terrainhöhe liegen.

3. Die Unterkunftsräume müssen im Jnnem enthalten: a) einen feuersicher aufgestellten Ofen, der so eingerichtet ist, daß die Arbeiter ihre Speisen auf demselben anwärmen können; b) Bänke und Tische in solchem Umfange, daß jeder am Bau

beschäftigte Arbeiter am Tische Platz findet; c) in einem besonderen Abteil auf je fünf Arbeiter ein Waschgeschirr;

d) Spucknäpfe in genügender Anzahl; e) zum Zweck der ersten Hilfeleistung bei Unglücksfällen einen Verbandkasten mit dem erforderlichen Zubehör; f) Einrichtungen zum Unterbringen der Kleider,

Speisen und

des Geschirrs; g) Gefäße mit Trinkwasser und Trinkgeschirr in genügender Menge.

95

4. Soll der Unterkunftsraum in der Zeit vom 1. Oktober bis 15. April zum Aufenthalt von Arbeitern dienen, so hat die Umfassung aus doppelten Bretterwänden, deren Zwischenräume auszufüllen sind, oder aus Fachwänden mit Ziegelsteinausmauerung zu bestehen.

5.

Sobald die

Außentemperatur in der Zeit vom 1. Oktober

bis 15. April unter plus 12 Grad Celsius sinkt, ist der Unterkunfts­ raum genügend zu erwärmen.

6. In den Unterkunftsräumen dürfen keinerlei Baumaterialien aufbewahrt werden. 7. Die Unterkunftsräume müssen genügend erhellt sein und im Innern (Wände, Fußboden, Tische, Waschgeschirr, Spucknäpfe rc.) stets in reinlichem Zustand erhalten werden.

8. Mit dem Abbruch oder dem Fortschaffen des Unterkunfts­ raumes darf nicht vor der völligen Fertigstellung des Baues be­

gonnen werden. 9. Bei Bauarbeiten der nicht in Ziffer 1 genannten Art können den Arbeitern Unterkunftsräume in fertigen Gebäuden, welche dem Aufenthalt von Menschen dienen, angewiesen werden. Auch diese Unterkunftsräume müssen den Bestimmungen in Ziffer 2 bis 7 entsprechen. 10. Für am Bau beschäftigte Frauen sind besondere Unterkunfts­ räume zu errichten, welche den Bestimmungen in Ziffer 2 bis 7 ent­ sprechen müssen. III.

Bedürfnisanstalten.

§ 3. 1. Bei jedem Bau muß mindestens ein Abort für je 15 Arbeiter vorhanden sein. Die Aborte müssen folgenden Anforderungen genügen:

a) Die Aborte sind mindestens 10 m von den Unterkunftsräumen und möglichst weit abseits von öffentlichen Verkehrswegen anzu­ legen, mit Wänden dicht zu umschließen und mit ausgeschnittenen Brettsitzen, einem Fußboden und wasserdichtem Dach zu ver­ sehen und so einzurichten, daß von außen nicht hineingesehen werden kann. Die einzelnen Sitze müssen durch eine Wand voneinander getrennt werden. b) Für die Aborte dürfen keine durchlässigen Grubm angelegt

werden. Sie sind entweder an eine öffentliche Entwässerungs­ anlage vorschriftsmäßig anzuschließen, oder es müssen wasser­ dichte Tonnen aufgestellt werden.

c) Die Aborte sind regelmäßig, und zwar in der wärmeren Jahreszeit täglich, zu desinfizieren und möglichst geruchlos

96 zu halten.

Die Tonnen

sind

nach Bedarf, längstens

aber

wöchentlich, durch andere zu ersetzen. 2. Die Abortanlage muß mit einem Pissoir versehen sein, und

in den Bauten sind in jedem Geschoß Urineimer aufzustellen. Urineimer und die Behälter für mindestens täglich, zu entleeren.

die Pissoirs

sind

nach

Die

Bedarf,

3. Die Aborte müssen stets genügend erhellt und gelüftet sein, sowie in reinlichem Zustande erhalten werden. 4. Die Aborte müssen vorschriftsmäßig fertiggestellt sein, bevor mit den Arbeiten begonnen wird, und sind auch während der ganzen Dauer des Baues in vorschriftsmäßigem Zustande zu erhalten.

5. Für am Bau beschäftigte Frauen sind besondere Bedürfnis­ anstalten zu errichten, welche den Bestimmungen Ziffer 1 bis 4 ent­

sprechen müssen. § 4. 1. Die Bestimmungen über Unterkunftsräume und Bedürfnis­ anstalten finden Anwendung auf Zimmerplätze und Bauhöfe, auf Tiefbauten (Straßenbau, Kanalisation) und auf die Werkplätze der

Steinmetzen und Steinbildhauer. 2. Bei Tiefbauten dürfen die Unterkunftsräume und Aborte bis zu höchstens 500 m von der Arbeitsstelle entfernt liegen. IV. Unfallverhütungsvorschriften.

§ 5. Das Reichsversicherungsamt hat, entsprechend

dem jeweiligen

Stand der Bautechnik, Normalvorschriften zu erlassen für Sicherheitsoorrichtungen bei Abbruchsarbeiten, Ausschachtung der Baugruben, für Hoch- und Tiefbauten, Herstellung der Gerüste und Transportwege und für den Auf- und Ausbau jeglicher Bauten unter Berücksichtigung ihrer Eigenarten und des zu verwendenden Materials. Zur Beratung und Beschlußfassung über diese, sowie zur Genehmigung der von den Kommissionen (§ 6) beschlossenen Vor­

schriften sind die zum Reichsversicherungsamt gewählten Vertreter der Unternehmer und Arbeiter des Baugewerbes zu gleichen Teilen hinzuzuzieben. § 6. Für den Bezirk jeder höheren Verwaltungsbehörde ist mindestens eine Kommission zu wählen, die für den Bezirk oder Teile desselben

auf Grund der Normalvorschriften Unfallverhütungsvorschriften zu er­ lassen und sie mindestens alljährlich einmal nachzuprüfen hat. Die

von den Kommissionen erlassenen Unfallverhütungsvorschriften unter-

97

liegen

der

Genehmigung

des

Reichsversicherungsamts.

Unfall-

welche nicht nach den Vorschriften Gesetzes zu stände gekommen sind, sind ungültig.

vcrhütungsvorschriften,

dieses

§ 7Die Kommissionen bestehen aus je fünf Vertretern der bau­ gewerblichen Arbeiter und Unternehmer, unter Leitung eines vom

Reichsoersicherungsamt zu ernennenden Vorsitzenden.

Sie sind befugt,

zu deren Sitzungen Sachverständige mit beratender Stimme hinzu­ zuziehen. Bei Abstimmungen entscheidet die einfache Mehrheit, bei Stimmengleichheit gibt der Vorsitzende den Ausschlag. handlungen der Kommissionen sind öffentlich.

Die

Ver­

§ 8Die Kommissionsmitglieder werden in gleicher Höhe für Arbeits­ versäumnis und Aufwendungen entschädigt. Die Höhe der Entschädi­ gung setzt das Reichsversicherungsamt fest. Die Kosten trägt die für den Bezirk zuständige Baugewerks-Berufsgenossenschaft.

§ 9. Die Wahl der Vertreter zu den Kommissionen erfolgt auf die Dauer von drei Jahren nach dem für die Gewerbegerichtswahlen vorgeschriebencn Verfahren, mit der Maßgabe, daß alle im Bezirk der Kommission beschäftigten oder wohnhaften großjährigen baugewerblichcn Arbeiter und Unternehmer wahlberechtigt und auch wählbar sind. Die Wahl ist gleichzeitig mit der der Bautenkontrolleure (§§ 13 und 15) zu vollziehen. § 10. Erstmalig sind spätestens sechs Wochen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes für jede Kommission je zehn Vertreter der Arbeiter und der Unternehmer zu wählen, davon je fünf als Ersatzmänner. Alle drei Jahre sind Neuwahlen vorzunehmen.

§ n. Die Kommission muß erstmalig spätestens vier Wochen nach

erfolgter Wahl zusammen treten. Die Einberufung der Kommission und die Bestimmung über Ort und Zeit der Sitzung geschieht durch den Vorsitzenden. Auf Antrag von fünf Mitgliedern muß der Vor­ sitzende die Kommission einberufen. V.

Baukontrolle.

§ 12. Die Aufsicht über die Ausführung der Bauten und die Durch­ führung der Schutzvorschriften untersteht ausschließlich besonderen BauHeft 106.

98

Diese sind von den Landesregierungen in der Regel für jede Gemeinde mit mehr als 10 000 Einwohnern (Baupolizeibezirk)

Polizeibehörden.

einzurichten. Kleinere Gemeinden können zu einem Baupolizeibezirk zusammen­ gefaßt werden.

Die

§ 13. Baupolizeibehörde ist für diesen Zweck zusammenzusetzen

aus technischen Beamten und Baukontrolleuren. § 14. Die Zahl der Baukontrolleure ist so zu bemessen, daß jeder Bau

mindestens einmal wöchentlich kontrolliert werden kann. Baukontrolleur ist ein Ersatzmann zu wählen.

Für jeden

§ 15. Die Baukontrolleure und deren Ersatzmänner sind von den voll­ jährigen baugewerblichen Arbeitern nach dem zum Gewerbegericht eingeführten Wahlverfahren auf drei Jahre zu wählen. § 16Die Tätigkeit der Baubeamten und Baukontrolleure wird durch Dienstinstruktioncn geregelt, die vom Reichsversicherungsamt zu er­ lassen sind. § 17. Die Geschäftsführung der Baupolizeibehörden unterliegt der Auf­ sicht deS Reichs. Sie haben Jahresberichte über ihre amtliche Tätigkeit zu erstatten, die dem Bundesrate und Reichstage vorzulegen sind.

§ 18. Die Kosten der Baupolizei tragen die Gemeinden. Werden mehrere Gemeinden zu einem Baupolizeibezirk zusammengefaßt, so sind die Kosten der Bauaufsicht aus gemeinsamen Mitteln zu tragen.

Die Baukontrolleure sind vom Staate zu besolden. § 19Ein Abdruck dieses Gesetzes sowie der Unfalloersicherungs­ vorschriften ist an geeigneter, allen Arbeitern zugänglicher Stelle sowie in den Unterkunftsräumen auszuhängen. Der Aushang muß stets in

lesbarem Zustande erhalten werden. In denjenigen Bezirken, in denen fremdsprachige Arbeiter be­ schäftigt werden, ist er auch in deren Muttersprache auszuhängen.

Schlußbestimmungen. § 20. Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz sowie gegen die erlassenen Unfallverhütungsvorschriften werden, sofern nach dem allgemeinen

99 Strafgesetz nicht eine höhere Strafe eintritt, mit Haft oder mit Geld­ strafe bis zu 1000 M. bestraft. Auch kann die Baupolizeibehörde

das Bauverbot verhängen. § 21.

Dieses Gesetz tritt am 1. Januar .... in Kraft. Urkundlich usw. Gegeben usw. Nr. 125. Der Reichstag wolle beschließen: dem nachstehenden Gesetzentwurf seine Zustimung zu geben: Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Haus- und Heimarbeiter und die Hausgewerbe­

treibenden.

§ 1-

Im Sinne dieses Gesetzes sind: a) Heimarbeiter diejenigen Personen, welche allein Familienangehörigen in der eigenen Wohnung oder Arbeitsstätte (Platzarbeiter) im Auftrag und für von Unternehmern oder Hausgewerbetreibenden

oder mit in fremder Rechnung gewerblich

tätig sind, und zwar auch dann, wenn sie die Roh- und Hilfsstoffe selbst beschaffen,

b) Hausarbeiter diejenigen Personen, welche im Auftrag und für Rechnung von Hausgewerbetreibenden in deren Wohnung oder Arbeitsstätte gewerblich tätig sind, und zwar auch dann, wenn sie die Roh- und Hilfsstoffe selbst beschaffen, c) Hausgewerbetreibende diejenigen Personen,

welche im Auf­

trage und für Rechnung von Unternehmern oder vorüber­

gehend für eigene Rechnung in eigener oder fremder Wohnung oder Arbeitsstätte Hausarbeiter oder Heimarbeiter beschäftigen. § 2. Räume, in denen Haus- oder Heimarbeiter mit der Anfertigung, Bearbeitung, Verpackung, Ausbesserung, Reinigung oder Zurichtung

sind so einzurichten und zu unterhalten, daß diese Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Ge­ sundheit geschützt sind. Insbesondere müssen die Räume hell, trocken,

gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt sind,

heizbar und leicht zu lüften sein und mindestens 12 Kubikmeter Luft­ raum für jede darin beschäftigte Person enthalten. Zum Schlafen

oder zum Kochen dürfen sie nicht benutzt werden. Die vorstehenden Bestimmungen stehen weitergehenden landes­ gesetzlichen Vorschriften nicht entgegen.

100 § 3. Wer an Hausgewerbetreibende oder Heimarbeiter Arbeitsstätten vermietet, hat dieses

der nach den Landesgesetzen zuständigen Orts­

behörde innerhalb drei Tage zu melden. § 4. Hausgewerbetreibende oder Heimarbeiter,

welche Räume der in

§ 2 bezeichneten Art innehaben, haben hiervon der nach den Landes­ gesetzen zuständigen Ortsbehörde unverzüglich Anzeige zu machen und derselben die Räume genau zu bezeichnen. Die Ortsbehörde hat über die erfolgte Anzeige und darüber, daß die Räume den Bestimmungen

des § 2 dieses Gesetzes entsprechen, innerhalb drei Tagen nach er­ folgter Anzeige eine Bescheinigung in zwei Exemplaren kostenlos aus­ zustellen. Die Bescheinigung muß eine Angabe über den Kubikinhalt der zu benutzenden Räume enthalten und über die Personenanzahl,

welche nach den Bestimmungen des § 2 dieses Gesetzes darin be­ schäftigt werden darf. Entsprechen die Räume den Bestimmungen des § 2 dieses Gesetzes nicht, so ist die Bescheinigung zu versagen. § 5. Unternehmer und Hausgewerbetreibende dürfen nur solche Haus­ gewerbetreibende oder Heimarbeiter beschäftigen, welche ihnen die behördliche Bescheinigung über die Anzeige ihrer Arbeitsräume vor­ legen. Sie haben eine Liste der von ihnen beschäftigten Hausgewerbe­ treibenden und Heimarbeiter mit Angabe der Arbeitsräume derselben

anzulegen und der nach den Landesgesetzen zuständigen Ortsbehörde einzureichen. Aenderungen und Ergänzungen dieser Liste sind innerhalb drei Tagen, nachdem sie eingetreten, der Behörde anzuzeigen. § 6. Die nach den Landesgesetzen zuständige Ortsbehörde hat ein

Gesamtverzeichnis der Heimarbeiter und Hausgewerbetreibenden ihres Bezirkes anzulegen und eine Abschrift desselben der Gewerbeinspektion sowie auf Verlangen der Berufsorganisation der Unternehmer und

Arbeiter einzuhändigen.

Unternehmer

§ 7. und Hausgewerbetreibende,

welche Hausarbeiter

oder Heimarbeiter beschäftigen, haben für jeden von ihnen beschäftigten Heim- oder Hausarbeiter ein Lohnbuch anzulegen. Auf dieses Lohnbuch finden die Bestimmungen des § 114a der Gewerbeordnung entsprechende Anwendung.

Das Lohnbuch bleibt in den Händen des Haus- oder Heimarbeiters.

101

§ 8. Die gewerbliche Herstellung oder Bearbeitung von NahrungSund Genußmitteln durch Hausgewerbetreibende oder durch Heimarbeiter ist untersagt. Ferner kann durch Beschluß des Bundesrats die Her­

stellung oder Bearbeitung von Waren durch Hausgewerbetreibende oder durch Heimarbeiter verboten werden, wenn durch diese Herstellung das Leben oder die Gesundheit der bei derselben beschäftigten Personen gefährdet wird oder wenn durch die hergestellten oder bearbeiteten Waren eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Konsu­ menten eintreten kann. Der Beschluß des Bundesrats ist durch

das Reichs-Gesetzblatt

zu veröffentlichen und dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritt zur Kenntnisnahme vorznlegen. § 9In der Heimarbeit und im Hausgewerbebetrieb darf die Arbeits­ zeit nicht vor 6 Uhr morgens beginnen und nicht über 8 Uhr abends, am Sonnabend sowie an Vorabenden der Festtage nicht über 51/» Uhr nachmittags dauern. An Sonn- und Festtagen ist jede Arbeit unter­ sagt, ausgenommen diejenige, welche in Notfällen oder im öffentlichen Interesse unverzüglich vorgenommen werden muß.

§ io. Die §§ 135 bis 138 der Gewerbeordnung finden auf die in der Heimarbeit oder im Hausgewerbe beschäftigten Kinder, jugendlichen

Arbeiter und die Arbeiterinnen entsprechende Anwendung. §11Personen, welche in Fabriken oder im Hausgewerbebetrieb be­ schäftigt sind, darf Arbeit zur Verrichtung außerhalb der Fabrik oder

des Hausgewerbebetriebes nicht übertragen werden. §12. Arbeiten des Reiches, der Einzelstaaten und der Gemeinden dürfen nur an solche Unternehmer vergeben werden, welche diese in eigenen gewerblichen Betrieben unter Ausschluß jeglicher Zwischen­

unternehmer ausführen und sich verpflichten, bei der Ausführung der­ selben die Tarifverträge oder die von den Berufsorganisationen der

Arbeiter festgesetzten Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erfüllen. § 13. In jedem Hausgewerbebetrieb, in dem mehr als fünf Personen beschäftigt sind, ist eine Arbeitsordnung gemäß §§ 134a bis 134g der Gewerbeordnung zu erlassen und auszuhängen.

102

§ 14. Hausgewerbetreibende und Heimarbeiter sowie deren mitarbeitende Familienangehörige sind versicherungspflichtig. Sie unterliegen den für Versicherungspflichtige im Krankenversicherungsgesetz, im Jnoalidenund in den Unfallversicherungsgesetzen gegebenen Die näheren Bestimmungen erläßt der Bundesrat mit

versicherungsgesetz

Vorschriften.

der folgenden Maßgabe: a) die Unternehmer

gelten als Arbeitgeber der Hausgewerbe­

treibenden, welche in ihrem Auftrag und für ihre Rechnung direkt oder durch Zwischenpersonen beschäftigt sind, b) die Unternehmer sind verpflichtet, die Versicherungsbeiträge für die von ihnen beschäftigten Heimarbeiter und Hausgewerbe­

treibenden und für die bet letzteren in Arbeit stehenden Haus­ und Heimarbeiter sowie deren mitarbeitende Familienangehörige zu zahlen und berechtigt, sich den gesetzlichen Beitragsanteil dieser Heimarbeiter von diesen, der Hausgewerbetreibenden und der bei denselben in Arbeit stehenden Haus- und Heim­ arbeiter von den Hausgewerbetreibenden erstatten zu lassen. Die Verordnungen des Bundesrats sind durch das Reichs-Gesetz­ blatt zu veröffentlichen und dem Reichstag bei seinem nächsten Zu­ sammentritt zur Kenntnisnahme vorzulegen.

§ 15. Sofern im Hausgewerbebetrieb oder in der Heimarbeit in einer Werkstatt, einem Zimmer oder einer damit verbundenen Wohnung Personen beschäftigt werden oder sich aufhalten, die mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind, so hat der Inhaber solcher Räume der Gewerbeaufsichtsbehörde davon sofort Mitteilung zu machen. Diese

hat sich unverzüglich davon zu überzeugen, ob die mit einer derartigen

Krankheit behafteten Personen mit den zu be- und verarbeitenden Materialien oder Gegenständen derart in Berührung kommen, daß die Gefahr einer Uebertragung nach außen hin besteht. Zutreffenden Falls hat sie eine Desinfektion der in diesen Räumen vorhandenen Materialen und Gegenstände anzuordnen.

Ist die Desinfektion nicht

ausführbar oder im Verhältnisse zum Wert der Materialien und Gegen­ stände zu kostspielig, so kann deren Vernichtung angeordnet werden.

Den Schaden und die Kosten, welche durch die Desinfektion oder Vernichtung entstehen, hat der Unternehmer zu tragen, für dessen Rechnung die Materialien oder Gegenstände be- oder verarbeitet werden.

§16. Die Aufsicht über die Ausführung der vorstehenden Bestimmungen untersteht der Gewerbeinspektion und deren Hilfsorganen unter ent-

103 sprechender Anwendung des § 139b der Gewerbeordnung, sowie den durch die Mitglieder der gewerblichen Berufsorganisationen der Unter­

nehmer und Arbeiter in direkter, gleicher und geheimer Wahl zu diesem

Behuf gewählten Vertretern. Die Zahl dieser Vertreter bestimmt die nach den Landesgefetzen zuständige Ortsbehörde; sie muß so bemessen sein, daß durch diese Vertreter jeder Betrieb des Hausgeiverbes und der Heimarbeit monat­ lich mindestens einmal kontrolliert werden kann.

Die Ortsbehörde erläßt das Wahlreglement nach Anhörung der in Frage kommenden Berufsorganisationen der Unternehmer und Arbeiter.

§17. In den Räumen und Arbeitsstätten der Heimarbeit und des Hausgewerbebetriebs ist der Text dieses Gesetzes, sowie ein Exemplar der int § 4 vorgeschriebenen Bescheinigung in Plakatform an geeigneter, allen Beteiligten Arbeitern zugänglicher Stelle auszuhängen. § 18. Unternehmer oder Hausgewerbetreibende, welche Haus- oder Heimarbeiter zwingen oder zu zwingen versuchen, freien Hilsskasfen oder Prioatversicherungen beizutreten oder sich als selbständige Gewerbeteeibende anzumelden, um sich dadurch den Verpflichtungen auf Grund des § 14 dieses Gesetzes zu entziehen, werden mit Geldstrafe nicht unter 100 M. und bis zu 300 M. und im Unvermögenssall mit

Haft Bestraft. Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher die ihm nach § 15 obliegende Mitteilung unterläßt oder Materialien oder Gegen­ stände verbirgt, um sie der in § 15 vorgeschriebenen Desinfektion oder Vernichtung zu entziehen. § 19. Uebertretungen der §§ 2 bis 11, sowie der §§ 13, 14, 17 dieses Gesetzes werden mit Geldstrafe nicht unter 100 M. bis zu 2000 M., im Unvermögensfalle mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. Für die Entscheidung

Heimarbeitern,

§20. von gewerblichen Streitigkeiten zwischen

Hausarbeitern und Hausgewerbetreibenden

einerseits

und ihren Arbeitgebern andererseits sowie zwischen Heimarbeitern, Hausarbeitern und Hausgewerbetreibenden desselben Arbeitgebers sind die Gewerbegerichte zuständig. In § 5 des Gewerbegerichtsgesetzes, lautend: s„Zur Zuständigkeit der Gewerbegerichte gehören ferner Streitigkeiten der im § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 bezeichneten

Art zwischen Personen, welche für bestimmte Gewerbetreibende

104 außerhalb der Arbeitsstätte der letzteren mit Anfertigung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt sind (Heimarbeiter, Haus­ gewerbetreibende), und ihren Arbeitgebern, sofern die Be­ schäftigung auf die Bearbeitung oder Verarbeitung der den ersteren von den Arbeitgebern gelieferten Rohstoffe oder Halb­

fabrikate beschränkt ist. Das gleiche gilt von Streitigkeiten der im § 4 Abi. 1 Nr. 6 bezeichneten Art zwischen solchen Hausgewerbetreibenden untereinander. Streitigkeiten derjenigen Hausgewerbetreibenden, welche die Rohstoffe oder Halbfabrikate selbst beschaffen, unterliegen

der Zuständigkeit der Gewerbegerichte, soweit dies durch das Statut bestimmt ist."] werden im Abs. 1 Satz 1 die Worte „sofern die Beschäftigung auf die Bearbeitung oder Verarbeitung der den ersteren von den Arbeitgebern gelieferten Rohstoffe oder Halbfabrikate beschränkt ist" und im Abs. 2

die Worte „soweit dies durch das Statut bestimmt ist" gestrichen. § 21. Auf Antrag von Arbeitern der Heimarbeit, der Hausarbeit oder des Hausgewerbebetriebs oder ihrer Organisation hat das Gewerbe­ gericht als Einigungsamt für den Bezirk seiner Zuständigkeit die Lohn­ sätze in der Branche, welche es angerufen hat, für eine bestimmte Dauer festzusetzen. An Orten, an denen ein Geiverbegericht nicht besteht, müssen Kommissionen gebildet werden, welche auf entsprechenden Antrag diese Festsetzung bewirken. Die näheren Bestimmungen erläßt der Bundesrat mit der Maßgabe, daß di'e Kommissionen zur Hälfte aus Unternehmern Arbeitern, unter Vorsitz eines Vertreters der Gewerbeinspektion, bestehen müssen. Die Verordnungen des Bundesrats sind durch das ReichsGesetzblatt zu veröffentlichen und dem Reichstag bei seinem nächsten

und zur Hälfte aus

Znsammentritt zur Kenntnisnahme vorzulegen. Die Lohnsätze dürfen nicht niedriger festgesetzt werden, als die in Fabriken und Werkstätten für entsprechende Arbeit gezahlten. Sie sind von den Einigungsämtern bezw. den Kommissionen zu ver­ öffentlichen und sind nach ihrer Veröffentlichung für Unternehmer und

Arbeiter der betreffenden Branche während der Dauer, für welche sie festgesetzt sind, rechtsverbindlich.

§ 22. Dieses Gesetz tritt ein Jahr nach dem Tage seiner Verkündung

in Kraft. Urkundlich 2C.

105

Nr. 217. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen: 1. auf Grund des § 120 e der Gewerbeordnung eine Verordnung zu erlassen, durch welche in Glashütten geeignete Schutz­ vorrichtungen an den Glas- und Feuerungsöfen zu treffen sind, die der Starbildung bei den Bläsern und Schmelzern entgegenwirken, sowie durch ausreichende Ventilation (Aus­ stellung von Exhaustern) für die Arbeiter die Gefahr der Ver­ giftung durch Teerdämpfe, Kohlenoxydgase und Fluorwasser­ stoffsäure möglichst verhindern; 2. eine Verordnung zu erlassen, durch welche für die in der Glasindustrie beschäftigten Arbeiter die Dauer der Arbeits­ schicht auf 8 Stunden des Tages beschränkt und in Glashütten die Nachtarbeit an den Glas- und Strecköfen behufs Ver­ arbeitung der Glasmasse, sowie die Arbeit an Sonn- und Festtagen mit Ausnahme der erforderlichen Arbeiten zur Unterhaltung der Gas- und Glasöfen verboten wird; an Glas- und Strecköfen, bei denen Schichtwechsel eingeführt ist, die erste Schicht nicht vor 4 Uhr morgens beginnt und die zweite nicht nach 10 Uhr abends beendet wird.

Antrag der Deutsch-Konservativen, der Reichspartei, der Wirtschaftlichen Vereinigung, des Zentrums, der Polen, der Nationalliberalen, der deutsch-freisinnigen Vereinigung: Nr. 142. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen: I. möglichst bald dem Reichstage einen Gesetzentwurf zur Rege­ lung der Arbeitsverhältnisse in der Hausindustrie (Heimarbeit) vorzulegen, und zwar unter tunlichster Berücksichtigung folgender Gesichtspunkte: daß 1. auf Anordnung des Bundesrats, oder soweit dieser von seiner Vollmacht keinen Gebrauch macht, der LandesZentralbehörden oder der zuständigen Polizeibehörden die Gewerbetreibenden (einschließlich Zwischenmeister, Faktoren rc.), welche außerhalb ihrer Arbeitsstätten Personen mit der Anfertigung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigen, verpflichtet sind, ein Verzeichnis dieser Personen (Name, Geschlecht, Wohnort, Wohnung, Arbeitsstätte; falls es jugendliche Personen unter 16 Jahren sind, Angabe des Lebensalters) zu führen

106 und regelmäßig der Ortspolizeibehörde oder einer von dieser bezeichneten Meldestelle mitzuteilen; 2. soweit Lohnbücher für die Heimarbeit eingeführt werden (G.O. § 114 a), entsprechend den Rubriken der Lohn­ bücher über die gegebenen Arbeitsaufträge Buch geführt und dieses den Aussichtsbeamten auf Verlangen vor­ gelegt wird;

3. die Gewerbeaufsicht (G.O. § 139b)

auf

die

in der

Heimarbeit beschäftigte» Personen ausgedehnt und möglichst durch besondere Beamte, auch weibliche, aus­

geübt wird; 4. auf Antrag der Gewerbeaufsichtsbeamten die Polizei­ behörden befugt sind, zum Schutz der Gesundheit der Beschäftigten oder der Konsumenten oder der Sittlichkeit im Wege der Verfügung für einzelne Arbeitsstätten Vorschriften zu erlassen oder die Beschäftigung von be­ sonderen Bedingungen abhängig zu machen oder auf Zeit zu untersagen;*) 5. der Bundesrat, oder falls dieser von seiner Berechtigung keinen Gebrauch macht, die Landes-Zentralbehörden oder die zuständigen Polizeibehörden befugt sind, im

Wege der Verordnung solche Vorschriften (Ziff. 4), sei es allgemein, sei es für bestimmte Gewerbszweige oder Bezirke zu treffen;*) 6. den jugendlichen Personen und Arbeiterinnen, soweit ihnen nicht schon durch das Kinderschutzgesetz von 1903 oder durch die Gewerbeordnung (§§ 135 bis 139a, 154) ein weitergehcnder Schutz gesichert ist, die Sonntags­

und Nachtarbeit (von abends 10 bis morgens 6 Uhr)

verboten ist; 7. dem Bundesrat

das Recht gegeben wird,

für solche

Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täg­ lichen Arbeitszeit die Gesundheit gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit auch für die Erwachsenen vorzuschreiben, sowie solche

Arbeiten, welche mit besonderen Gefahren für Gesundheit und Sittlichkeit verbunden sind, gänzlich zu untersagen oder von besonderen Bedingungen abhängig zu machen;*) 8. den Arbeitgebern es untersagt ist, die für Fabriken und Werkstätten

festgesetzte Arbeitszeit

(G.O.

*) Bergt. Gewerbeordnung §§ 120a bis 120s, 189a.

§§ 135 bis

107 139 a, 154) dadurch zu umgehen, daß den Arbeitern Arbeit nach Hause mitgegeben wird; 9. für solche Bezirke, in denen die Hausindustrie stärker vertreten ist, SchutzcomitöS als Hilfsorgane der Gewerbe­ aufsicht gebildet werden; 10. die Gewerbegerichte allgemein und auch dann für zu­ ständig erklärt werden, wenn die Hausgewerbetreibenden die Rohstoffe selbst liefern (Gewerbegerichtsgesetz § 5); 11. für den Fall der Errrichtung von Arbeitskammern ge­ sonderte Abteilungen für die Hausindustrie (Heimarbeit) insbesondere auch zur Förderung von Tarifverträgen gebildet werden; 12. die Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung tunlichst ausgedehnt wird. II. auf Grund des § 154 Abs. 3 und 4 der Gewerbeordnung die Arbeiterschutzbestimmungen (G O. §§ 135a bis 139b) tunlichst auf alle Werkstätten der Hausindustrie auSzudehnen.

Antrag der Nationalliberalen und der freisinnigen Volkspartei: Nr. 143. Der Reichstag wolle beschließen: in Erwägung, daß das Vorgehen einzelner deutschen Staaten auf dem Gebiete der Wohnungsreform dringend zusammen­ fassender allgemeiner Zielpunkte bedarf, durch welche dieses Vorgehen geklärt, gekräftigt und einheitlicher wird, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen: I. eine Kommission einzuberufen, die aus amtlichen Ver­ tretern des Reichs und einzelner Bundesstaaten, aus Mitgliedern des Reichstages und anderen in der Wissen­ schaft und Praxis der Wohnungsfrage erfahrenen Männern bestehen, ein einheitliches Programm für' Lösung der Wohnungsfrage schaffen, besonders auch folgende Punkte klären soll: 1. ob die Heranziehung fremder, privater, besonders aber auch staatlicher und kommunaler Mittel für den Klein­ wohnungsbau allgemeiner und weitgehender als bisher ins Werk zu setzen sei, teils durch Vermittelung der Jnvalidenversicherungsanstalten, teils durch Einrichtungen, welche für diesen Zweck besonders zu schaffen seien; 2. welche Maßregeln in Bezug auf die bau- und wohnungSpolizeilichen Vorschriften sowie für die Behandlung der

108 Bodenfrage vorzuschlagen seien, damit die Wohnungen der minderbemittelten Klassen einerseits gemäß den

Ansprüchen der Gesundheit und Sittlichkeit, andererseits

auch

zu

wirtschaftlich

erschwingbaren

Mietpreisen

hergestellt werden können;

II. das Kaiserliche Statistische Amt, insbesondere die Abteilung

für Arbeiterstatistik zu beauftragen, baldmöglichst in einigen ausgewählten typischen Orten verschiedener Größe und Charakters wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und zu veröffentlichen:

1. über die Art, wie dort die Stadterweiterung, besonders die private Aufschließungstätigkeit vor sich geht, über die Schwächen dieses Systems und über die Frage, ob sich die vielfach hervorgetretenen Uebelstände der über­ mäßigen Bodenpreise, des Bauschwindels usw. nicht zum guten Teil aus diesen Schwächen erklären; 2. über die Organisation, die Leistungsfähigkeit und die tatsächlichen Leistungen der privaten Bautätigkeit gegen­ über dem auf diese Bautätigkeit angewiesenen Wohnungs­ bedürfnisse.

Wenn man die Masse und den Inhalt dieser Anträge überblickt, so fällt zunächst ins Auge, daß sich bei deren Einbringung die beiden konservativen Parteien, besonders die deutsch-konservative Partei, eine anerkennenswerte Reserve auferlegt haben. Sodann liegt wohl die

Frage am nächsten, ob die Erwählten des deutschen Volkes, die doch, gemäß der landläufigen Auffassung, die Elite der Nation bilden, daher die

besten, verständigsten und vernünftigsten Männer des Volkes sind, wirklich haben annehmen können, daß irgend eine Regierung im stände wäre, alle

die Erhebungen, Gesetze und Anträge anzustellen, vorzubereiten und zu erfüllen „noch im Laufe der Session", oder „zu Beginn der nächsten Session", oder „tunlichst bald", ober „so bald wie möglich", wie die Einleitung meistens lautet. Sollten wirklich die Abgeordneten überzeugt sein, daß insbesondere der Deutsche Reichstag, in dem bei Erörterung

sozialpolitischer Fragen, die Vielrederei mit unendlichen Wiederholungen

Sitte geworden ist, in der Lage sein sollte, die gestellten Aufgaben in einer oder in zwei Sessionen zu erfüllen? Jeder, der auch nur einigermaßen mit den betreffenden Verhältnissen vertraut und über sie zu urteilen in der Lage ist, wird sich sagen müssen, daß zur Erledigung aller dieser Anträge und

Gesetzentwürfe

nicht

eine,

sondern

auch

109 mehrere Legislaturperioden kaum ausreichen dürften. Diese Ansicht wird nicht nur hier ausgesprochen. Die „Frankfurter Zeitung"

Nr. 105 vom 16. April d. I. beispielsweise klagte, daß der Reichstag

sich nun schon in fünf Sitzungen mit der sozialpolitischen Debatte beschäftigt habe, „ohne daß etwa das Interesse und die Teilnahme gewachsen wäre" und sagte weiter: „Alle Einsichtigen sind sich darüber klar, daß das, was auf den weiten sozialpolitischen Gebieten diesmal wieder durch Anträge, Resolutionen und Reden angeregt und verlangt

wird,

ein Arbeitspensum,

wenigstens

wie die Dinge bei uns liegen,

von mehreren Legislaturperioden sein würde." erreichen, ist also unmöglich; Unmögliches zu

Das Verlangte zu verlangen, ist aber

unvernünftig. Weiter muß man fragen: können die Abgeordneten wirklich voll­

kommen überzeugt gewesen sein, daß, was sie verlangt haben, alles durchführbar ist und daß die Durchführung in der Tat dem Interesse der Arbeiter und der Gesamtheit förderlich sein würde? Dabei kann

von den Anträgen der Sozialdemokratie ganz abgesehen werden, denn diese liegen, wie beispielsweise der Antrag auf Einführung des gesetz­ lichen Achtstundentages und des freien Sonnabend Nachmittag für alle in Lohn, Gehalt und im Dienstverhältnis stehenden Personen, auf dem Gebiete der Anträge, die der Reichskanzler als „phan­ tastische und perfide Forderungen" bezeichnet hat. Aber können wirklich ernste Männer annehmen, daß die preußische Regierung auf ihr Recht verzichten wird, die Verhältnisse im preußischen Bergbau gesetzlich zu regeln oder daß sie zustimmen wird, den Unternehmern und Arbeitgebern im Bergbau bezüglich des Arbeitsverhältnisses Bedingungen aufzuerlegen, die geignet sind, sie und ihre naturgemäß gefährlichen Betriebe unter die Herrschaft der Arbeiter zu stellen? Kann wirklich jemand glauben, daß die verbündeten Regierungen ein­ willigen würden, ihren Angestellten das Organisationsrecht zu ver­ leihen? Oder nehmen die Nationalliberalen wirklich an, der Arbeiter­ schaft und der Gesamtheit zu nützen, wenn sie die für jugendliche

Arbeiter geltenden Bestimmungen für die jüngeren Arbeiter vom 16. bis 18. Lebensjahre in Wirksamkeit setzen? Oder glaubt man wirklich

einem sichtbaren Bedürfnis abzuhelfen

und unsere Rechts­

pflege zu bessern durch Vermehrung der Ausnahmegerichte, indem solche auch zur Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis in der Land- und Forstwirtschaft und im Gesindeoerhältnis errichtet werden? Es fällt in der Tat ungemein schwer anzunehmen, daß für die Einbringung solcher und zahlreicher anderer Anträge wirklich feste

Ueberzeugung und guter Glauben maßgebend gewesen sind.

110

Dann muß man aber doch weiter fragen: was ist denn eigentlich Zweck und Ziel dieser Ueberstürzung und Ueberflutung mit sozialpoli­

tischen Kundgebungen bei Eröffnung jeder Session des Reichstages? Es gibt keine andere Antwort, als daß dieser „Lawinensturz" wesentlich nur im Hinblick auf die Wahlen einen günstigen Eindruck aus die Wähler, d. h. auf die Masse der Wähler, und speziell auf die Arbeiter auszuüben. Jede Partei will zeigen, daß sie

veranstaltet wird, um

bereit ist, den Arbeitern und deren Forderungen äußerstes Entgegen­ kommen zu zeigen und daß sie in dieser Beziehung jede andere Partei übertrifft. Auf diesem Gebiete liegt auch der abstoßende, vielen Raum in den Verhandlungen einnehmende Streit der Parteien untereinander, um die Priorität der im Interesse der Arbeiter geäußerten Gedanken

und gestellten Anträge. Daß dieses Urteil durchaus nicht zu hart ist, sondern vollkommen dem Sachverhalt entspricht, geht aus den Aeußerungen der Presse der verschiedensten Richtungen und selbst aus den im Reichstage gehaltenen Reden hervor. So gab der Führer der Nationalliberalen, der Abgeordnete Bass ermann, in der Sitzung am 13. Mai dem Abgeordneten Bebel recht, daß noch niemals die Zahl der Initiativanträge so groß gewesen sei wie in diesem Reichstage. Er versuchte diese Tatsache mit der Gewohnheit einzelner Parteien zu erklären, besonders ihre sozialpolitischen Parteiprogramme

in einzelne Initiativanträge „aufzulösen" und sagte dann wörtlich: „Einem derartigen Vorgehen einzelner Fraktionen müssen sich natur­ gemäß die übrigen Fraktionen anschließen, sonst kommen sie bei der Wählerschaft eben ins Hintertreffen. Dem kann sich keine einzige Fraktion dieses Hauses entziehen. So kommen wir zu der großen Zahl von Initiativanträgen." Also Wettlauf der Parteien um die Gunst der Wähler! Wunderbar muß es freilich erscheinen, wie das in einer Fraktion

verkörperte hohe Verständnis einer größeren Zahl von Abgeordneten an der Illusion festhalten kann, daß mit Anträgen und Reden irgend­ welcher Eindruck auf die Arbeiter als Wähler gemacht werden oder Stimmen gewonnen werden könnten. Den Abgeordneten scheint das Empfinden für den Hohn und Spott verloren gegangen zu sein, mit

dem sie von den Arbeitern, von denen das ganze Treiben vollkommen durchschaut wird, überschüttet werden. In der sozialdemokratischen

Presse ist genügend zu lesen, daß jene Flut von Anträgen nur Wahl­ manöver sind, nur ein Wettlaufen um die Gunst der arbeitenden Klassen darstellen.

Wie im Ausland über dieses Vorgehen der Fraktionen des deutschen Reichstags geurteilt wird, dafür hier nur ein Beispiel. Der

111 in Bern erscheinende „Bund" Nr. 136 vom 21./22. März d. I. spricht in einem Artikel „Zur inneren Lage des Deutschen Reiches" von den schönen Ideen, mit denen Parade gemacht wird, und fährt dann fort: „Wirklich findet in dieser Richtung ein schier ungeheuerlicher Wettlauf

statt, obschon man sich allmählich sagen müßte, daß damit schließlich selbst der dümmste Bauer nicht mehr zu fangen ist und meistenteils

nur die Zeit fruchtlos totgeschlagen wird. Im Reichstag sind bis jetzt über 150 Anträge aus dem Hause eingebracht, meistenteils sozial­ politischer Natur, weil man dabei am leichtesten sein gutes Herz für die Arbeiter oder den jüngst auch in den Vordergrund der Fürsorge gezogenen „Mittelstand" zeigen kann. Eine Partei beschuldigt die andere des unlautern Wettbewerbs und des Stehlens von wohltätigen Vorschlägen, wobei selbst der harmloseste Wähler die Absicht merken und verstimmt werden muß. Stoff wird aufgetischt, der für zehn oder zwanzig Sessionen reichen würde, und durch die resultatlose Vielrederei wird die Zeit auch für die dringenden Aufgaben verschleudert." Von solchen Anträgen ist im Verlaufe der Session des Reichs­

tages gewöhnlich gar nicht mehr die Rede gewesen. Sie werden meistens in den Drucksachen niedergelegt, nicht wenige von ihnen, um

bei Eröffnung der nächsten Session wieder abgeschrieben zu werden. In diesem Jahr haben die Fraktionen in größerem Umfange als früher ein anderes Verfahren eingeschlagen. Um die Anträge ihrem gewöhnlichen Schicksal zu entziehen, wurden sie als Resolutionen zum Etat umgearbeitet und so ist von ihnen eine große Zahl, gewisser­ maßen im Ramsch, mit dem Etat angenommen worden.

Zu dem zweiten Akte der sozialpolitischen Verhandlungen in der ersten Session des Reichstages hatte Veranlassung gegeben die von dem Abgeordneten Trimborn und seinen Genossen aus dem Zentrum

eingebrachte Interpellation, betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, den Befähigungsnachweis, das Ausverkaufswesen, die Arbeitszeit der Fabrikarbeiterinnen und die Arbeitskammern. Die Verhandlungen über diese Interpellation begannen in der vierzehnten Sitzung am 9. März und nahmen auch noch die ganze

fünfzehnte Sitzung am 11. März in Anspruch. Nachdem der Staatssekretär des Innern, Graf von Posadowsky, sich bereit erklärt hatte, die Interpellation sofort zu beant­

worten , erhielt zur Begründung das Wort der Abgeordnete Trimborn. Er stellte fest, daß der alte Reichstag auf dem Gebiete der Sozialpolitik, trotz fleißiger Arbeit, an positiven, gesetzlichen Leistungen

112 nur eine, das Gesetz betreffend die Errichtung von Kaufwannsgerichten, aufzuweisen habe. Die Schuld an der geringen positiven Leistung

trage nicht der Reichstag, sondern die mangelnde Initiative der Regierung in der Einbringung positiver Gesetzesvorlagen; die An­ regungen und Verhandlungen des Reichstages hatten die Regierung jedoch veranlaßt, nach verschiedenen Richtungen bestimmte Zusagen zu machen. Demgemäß konnte man sich im vergangenen Herbste an­

schicken, Hand ans Werk zu legen und die betreffenden Materien gesetzgeberisch in Angriff zu nehmen, so die Regelung des Rechts­ verhältnisses der Berufsvereine, die Beschränkung der Maximal­ arbeitszeit für Arbeiterinnen und, auf dem Gebiete der Mittelstand­

politik, die Einführung des sogenannten kleinen Befähigungsnachweises. „Das waren die Fäden, die im vergangenen Herbste schon gesponnen

waren; wir schickten uns schon an, an die fernere Arbeit zu gehen, da rissen alle Fäden durch die plötzliche Auflösung des Reichs­ tags." Unter Hinweis auf die veränderten Mehrheits- und Parteiverhältnisse im neuen Reichstage fragte der Redner: „Wie werden die verbündeten Regierungen es nunmehr mit der Sozialpolitik halten? Wird ein neuer Kurs eingeschlagen? Wird gebremst oder wird Dampf dahinter gesetzt? Werden — und das ist die nächstliegende praktische Frage — die eben abgerissenen Fäden wieder ausgenommen werden?" Bezüglich der künftigen Sozialpolitik glaubte der Interpellant zunächst die öffentlichen Kundgebungen her­ vorheben zu sollen, den betreffenden Satz der Thronrede und die Aeußerungen des Reichskanzlers in dessen am 25. und 26. Februar gegen das Zentrum und gegen die Sozialdemokratie gehaltenen Reden. In der letzteren habe der Reichskanzler mit Bezug auf die Auflösung des Reichstages gesagt: „Der Kampf galt nicht dem sondern er galt der politischen und revolutionären Sozialdemokratie. Das werden die Regierungen, das werden die bürgerlichen Parteien, das wird das Hohe Haus dem deutschen Arbeiter beweisen durch die Fortführung jener Sozialpolitik, in der Deutschland bis heute noch allen anderen Ländern voraus ist." Und

deutschen Arbeiter,

an

einer

anderen

Stelle

derselben

Rede

habe

der

Reichskanzler

gesagt: „Ich hoffe, daß weder die verbündeten Regierungen noch die bürgerlichen Parteien sich durch die Sozialdemokratie irre machen

lassen werden in dem Bestreben, durch gewissenhafte Erfüllung ihrer sozialen Pflichten die vorhandenen Gegensätze auszugleichen." Als

noch bedeutender in sozialpolitischer Beziehung bezeichnete der Inter­ pellant die mit Bezug auf die künftige politische Tätigkeit der neuen Mehrheitsparteien in Verbindung mit den Regierungen gemachten

113 Aeußerungen des

Reichskanzlers

in

der Rede

vom

25. Februar;

wörtlich habe er gesagt:

„Ich denke da an eine Reform unseres Vereins- und Ver­ sammlungsrechts. Wir — d. h. die neue Mehrheit und der Kanzler, so fügte Abgeordneter Trimborn hinzu — werden uns, meine Herren,

auch, wie ich hoffe, einig finden in der Fortführung einer gesunden, kräftigen, vorurteilslosen, vernünftigen Sozialpolitik. Auf diesem Gebiete wird nicht Rückschritt und nicht Stillstand, sondern Fortschritt unsere Losung sein. Die Sozialpolitik soll aber nicht Halt machen, wenn für den Arbeiter gesorgt ist, sie soll nach meiner Ueberzeugung auch in verständigen Grenzen dem Mittelstände zu gute kommen, der vielfach mindestens ebenso schwer zu kämpfen und zu leiden hat wie die eigentlich arbeitende Bevölkerung."

„Meine Herren, ich beschränke mich heute auf diese kurzen An­ deutungen, die Ihnen nur zeigen sollen, daß nach meiner festen Ueber­ zeugung es sehr wohl möglich ist, eine fruchtbare zielbewußte Politik mit derjenigen Mehrheit zu treiben — hier sind wir im Zentrum

nicht gemeint, so bemerkte der Abgeordnete Trimborn dazu —, die uns das deutsche Volk durch die Wahlen gegeben hat." Diesen Kundgebungen stellte der Interpellant das Zeugnis aus, daß sie sich mindestens günstig anhören, er kritisierte sie aber ziemlich abfällig. Positiv versprochen werde nur die Reform eines Verein s-

und Versammlungsrechtes. Da der Kanzler sich auch bezüglich der Sozialpolitik lediglich an die neue Mehrheit gewandt habe, mache seine Kundgebung den Eindruck einer Absage an das Zentrum auch

auf sozialpolitischem Gebiete.

Das Zentrum sei aber in erster Linie

Vertreter und Stütze der bisherigen Sozialpolitik gewesen. Daher sei der Gedanke schwer abzuweisen, daß die Absage vom Zentrum, die Absage auch von der bisherigen Sozialpolitik bedeute. Bezüglich der im alten Reichstage, hauptsächlich unter Mithilfe des Zentrums für die gesetzgeberische Bearbeitung bereitgestellten Dinge, sei man aber bisher vollständigem Schweigen begegnet. Alles das sei Grund genug,

dem Reichskanzler und der neuen Mehrheit Gelegenheit zu geben, sich über ihre sozialpolitischen Absichten auszusprechen. „Aber nicht aus­ zusprechen in allgemeinen Redensarten, in vagen Andeutungen, sondern unter Aufführung ganz konkreter Programmpunkte. . . Auch im Lande

verlangt man unbedingt nach einer solchen Klarstellung." Diese Klarstellung wollte der Redner durch die Bezeichnung einzelner Punkte und durch die Darstellung seiner Ansicht über deren

Ausgestaltung vorbereiten. Heft 106

8

114

Die Reform des Vereins- und Versammlungsrechtes im freiheit­

lichen Sinne sei höchst dringlich. Die Rückständigkeit dieser Gesetz­ gebung habe zu schweren Beeinträchtigungen des Koalitionsrechtes der Arbeiter geführt. Als notwendige Reform sei zu bezeichnen, die Be­ seitigung der Einreichung der Mitgliederlisten, die Abschaffung der polizeilichen Ueberwachung geschlossener Mitgliederversammlungen, die

Freigabe der Teilnahme der Frauen an politischen und sozialpolitischen Versammlungen. Alles das und sehr viel anderes habe das Zentrum auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungsrechtes als dringend reformbedürftig erklärt. Da genüge es nicht, wenn der Reichs­ kanzler sage, er denke an eine Reform; das müsse von ihm längst durchgedacht sein, daher frage er den Reichskanzler: „Welches sind denn die konkreten Grundlinien der beabsichtigten Reform? Wird diese Reform insbesondere der Interessenvertretung, den Berufs­ vereinen endlich die so lange ersehnte und dringend notwendige Be­ wegungsfreiheit bringen?" In dieser Beziehung handle es sich um die Erfüllung langjähriger dringender Forderungen. Nach langem Drängen sei endlich am 13. November 1906 die Vorlage betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine erschienen. Nach der Einsetzung der Kommission sei aber die Auflösung gekommen. „Soll das alles, so frage er die verbündeten Regierungen, nun einfach in der Versenkung verschwinden?" Die Vorlage sei, abgesehen von der Rechten, von allen Parteien, besonders von dem Abgeordneten Wassermann scharf kritisiert worden. Der geübten Kritik gegen­ über sei der Verdacht aufgestiegen, es würde die Vorlage überhaupt nicht mehr eingebracht werden. In Anknüpfung an diese Möglichkeit wandte sich der Interpellant direkt mit folgenden Worten an den Herrn Reichskanzler: „Wenn in einem solchen Augenblick der erste Schritt nach vorwärts wieder zurück gemacht werden sollte, das wäre allerdings außerordentlich merkwürdig. Nein, Herr Reichskanzler, dieser Ausweg: zu tun, als wenn bezüglich der Regelung der Rechtsstellung der Berufsvereine gar nichts vorläge, und die Sache kurzerhand zu ignorieren, — ist einfach unmöglich. Die verbündeten Regierungen müssen bezüglich dieses Punktes Farbe bekennen; auf dieser Bahn gibt es kein Zurück mehr. Wir werden schon dafür sorgen, daß nach der Richtung hin den verbündeten Regierungen der Rückweg ver­ barrikadiert wird. Hier gibt's nur ein Vorwärts. Aus dem Gewebe der alten Vorlage niuß der bureaukratische, polizeiliche Einschlag schwarz­ weißer Färbung herausgearbeitet werden und dann muß das verbesserte,

verfeinerte Gewebe als neue Vorlage kommen oder wenigstens zu einer sicheren, zweifelsfreien Ankündigung in diesem Hohen Hause gelangm.

115

Wenn wir im Zentrum auch sozialpolitisch ausgeschaltet werden sollen, und wenn auf uns weiter keine Rücksicht mehr genommen werden

soll, so gilt es doch für den Herrn Reichskanzler, die Hoffnungen der Linken zu erfüllen. Hier muß doch die neue Aera zeigen, was sie dem Volke zu bieten vermag. Der Sperling der Berufs vereine, der

doch schon in einer konkreten Gestalt vor uns stand, ist uns lieber als die Taube, die wir in dem vagen Hinweis auf die Reform der

Vereinsgesetzgebung auf einem sehr hohen Dache erblicken." Der Redner ging dann über zu der Herabsetzung der täglichen Maximalarbeitszeit für Arbeiterinnen, die er materiell für den Arbeiter­ stand als hochbedeutsam erklärte. Auch bezüglich dieser Frage sei seitens der verbündeten Regierungen keine Zusage erfolgt. Sie sei nicht erwähnt worden. Diese Frage sei über das Stadium des

Denkens hinaus. Es lägen amtliche Erhebungen und ein von der großen Mehrheit des Reichstages angenommener Antrag, ferner eine

höchst bedeutsame Erklärung des Grafen von Posadowsky vom 3. Februar 1906 vor. Sie lautet wörtlich: „Grundsätzlich ist meines Erachtens diese Frage bereits entschieden, um so mehr entschieden, als beispielsweise der preußische Herr Eisenbahnminister sich ver­ anlaßt gesehen hat, die Arbeitszeit in den Eisenbahnwerkstätten 9 Stunden herabzusetzen. Ich glaube deshalb, daß man bei dem heutigen angreifenden Gang der Maschinen einer Frau im Interesse des lebenden und des künftigen Geschlechts eine größere Arbeitszeit als 10 Stunden nicht zumuten kann. Es kann sich auf

deshalb nur um den Zeitpunkt der Einführung des zehnstündigen Arbeitstags handeln und um die Bedingungen, unter denen die Ein­

führung erfolgt." Der Herr Staatssekretär habe dann gemeint, es sollten zunächst die Ergebnisse der Berner Arbeiterschutzkonferenz über die Nachtarbeit der Frauen abgewartet werden. Dann habe er weiter gesagt: „Ich glaube also, wenn dieses Berner Abkommen raliftziert

wird, wird kein Bedenken mehr bestehen, eine Aenderung der Gewerbe­ ordnung, vielleicht mit einigen Uebergangsbestimmungen für einige Jahre, herbeizuführcn, eine Aenderung, die als Endziel die Ermäßigung der Arbeitszeit der Frauen auf 10 Stunden vorsieht." Der Redner

glaubte, daß diese Bedingung inzwischen bereits erfüllt sei. Da auch die Industrie beginne, sich mit dem zehnstündigen Maximalarbeitstag für Frauen abzufinden, so sei er durchaus berechtigt Taten zu verlangen. Auch die, wohl mit Rücksicht auf die Konservativen, vom Reichs­ kanzler dem Mittelstände gewidmeten freundlichen Worte seien be­ deutungslos, da weder die Thronrede, noch die Rede des Reichskanzlers ein konkretes Programm oder eine konkrete Zusage enthielten. Der

116 Redner verlangte die Einführung des sogenannten kleinen Befähigungs­ nachweises. Er stellte fest, daß auch die Nationalliberalen allmählich für ein solches Gesetz gewonnen seien und daß der Staatssekretär des

Innern am 14. Februar 1906 gesagt habe: „Ich muß schon heute die Erklärung abgeben, daß in den allernächsten Tagen dem Bundesrat

eine Vorlage zugehen wird, in der das Recht zur Ausbildung von Lehrlingen an die Erwerbung des Meistertitels geknüpft ist." In diesen Fragen seien die Rechte, das Zentrum, die Nationalliberalen einig. „Nun frage ich mich angesichts aller dieser Tatsachen," so fuhr

der Redner fort, „warum redet der Herr Reichskanzler nicht vom kleinen Befähigungsnachweis? warum redet er nur vom Vereinsgesetz? Von einer so überreifen Sache konnte er doch gerade so gut reden wie von dem Vereinsgesetz. Hat der Herr Reichskanzler vielleicht etwa Furcht gehabt vor seinen neuen liberalen Freunden, den Herren Frei­ sinnigen, den alten Gegnern der Mittelstandspolitik?" Zu der Mittelstandspolitik gehöre auch der Schutz des kleinen Kaufmannsstandes. Auch in dieser Beziehung fehle jedes Programm, jede Zusage. Es handle sich um die Verschärfung des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb, in deren Mittelpunkt die Regelung der Nachschübe bei Ausverkäufen stehe. Zu dieser Frage habe der Staats­ sekretär bereits am 3. Februar 1906 sehr präzis und scharf Stellung genommen, auch habe in dieser Angelegenheit die Vernehmung von Sachverständigen stattgefunden. Nach allen diesen Vorgängen bitte er, daß endlich etwas geschehen möge. Als sein letztes „Kapitel" und als große Forderung der christlich­

nationalen Arbeiterschaft bezeichnete der Interpellant die Arbeits­ kammern. Bezüglich dieser Frage habe der Staatssekretär Graf von Posadowsky am 30. Januar 1904 auf eine damalige Interpellation des Zentrums die folgende Erklärung abgegeben: „Was die Schaffung einer Arbeitsvertretung, der Arbeitskammern, betrifft, so hat § 75 Absatz II des Gewerbegerichtsgesetzes von 1901 die Fassung erhalten: „Das Gewerbegericht ist berechtigt, in gewerb­ lichen Fragen Anträge an Behörden, an Vertretungen von Kommunal­ behörden und gesetzgebende Körperschaften der Bundesstaaten oder des

Reichs zu richten."

Damit war bereits

ein grundlegender Schritt

geschehen zur Bildung von Arbeitsvertretungen, welche in der Aller­ höchsten Botschaft vom 4. Februar 1890 verheißen sind. Die ver­ bündeten Regierungen sind bereit, auf dieser Grundlage Arbeiterver­

tretungen weiter auszubauen, welche dem allgemeinen Grundsätze des genannten Allerhöchsten Erlasses entsprechen. Unter Hinweis darauf, daß seit den Februarerlassen, also feit

117

17 Jahren, vom Zentrum und

auch von anderen Parteien um die

Errichtung von Arbeitskammern gekämpft worden sei, fragte der Redner, ob die verbündeten Regierungen noch auf dem Boden der Erklärung

der verbündeten Regierungen vom 30. Januar 1904 ständen und wie weit man in der Verfolgung dieses Zieles gelangt sei. Die Zweckmäßigkeit der Angliederung der Arbeitskammern an die Gewerbegerichte sei bezweifelt worden. Ferner sei die Frage auf­ geworfen worden, ob die Handlungsgehilfen den Arbeitskammern an­ zuschließen seien. Die Beteiligung der Arbeiterinnen an den Arbeits­ kammern betrachte das Zentrum als selbstverständlich. Graf von Posadowsky habe wiederholt erklärt, vor den Arbeitskammern müßte zuerst das Gesetz über die Berufsvereine gemacht werden. An diese bedeutsame Erklärung müsse die ebenso bedeutsame Frage geknüpft werden, wie sich der Reichskanzler das Verhältnis zwischen den Berufs­ vereinen und den künftigen Arbeitskammern denke. In jedem Falle

sollte die Vorlage,

betreffend die Berufs vereine,

recht bald vorgelegt

werden und alle Arbeiterklassen umfassen. Zum Schlüsse versicherte der Interpellant noch einmal, daß die Reform des Vereins- und Versammluugsrechts dem Zentrum nicht genügen werde. Die Linke, in deren Mitte jetzt ja auch Herr Nau­ mann sitze, „muß ja förmlich danach lechzen, ihren ernsten Willen zu einer fortgesetzten großzügigen Sozialpolitik noch einmal urbi et orbi kundzutun, aber kundzutun in einer konkreten Darlegung, in der An­

führung ganz bestimmter Programmpunkte". Von der Rechten erwarte er ein energisches Eintreten für die Mittelstandspolitik. Das Zentrum werde an seiner bisherigen Sozial­

politik, was die allgemeine große Richtlinie und das Tempo anlange, unentwegt festhalten und es werde ihm nur lieb sein, wenn andere Parteien es übertrumpfen wollten.

Nach dieser von dem lebhaftesten Beifall des Zentrums be­ gleiteten Rede erhob sich der Staatssekretär, Graf von Posadowsky, zur sofortigen Beantwortung der Interpellation. Er stellte zunächst fest, daß die von dem Interpellanten angeführten amtlichen Aeuße­ rungen den festen Entschluß der verbündeten Regierungen verkünden, die Sozialpolitik fortzuführem Ob Sozialpolitik zu treiben sei, dar­

über seien die Ansichten in der Welt verschieden. Es gäbe einen Standpunkt, der sich auch in Deutschland, wenn auch in ver­ schleierter Form, bisweilen Geltung mache, der, wenn er offen sprechen wollte, sagen würde: „die Sozialpolitik war ein verhängnis­ voller Schritt; der Kräftige in der Welt wird sich schon selbst be­ haupten, der Schwache wird untcrgehen; für den Schwachen muß nur

118 das Notwendigste geschehen, und das hat die Armenpflege zu besorgen. Es liegt in der Sozialpolitik für die Entwickelung der Kraft eines

Volkes etwas Entnervendes; eine Anzahl von Staaten haben sich deshalb auf den Weg der Sozialpolitik noch nicht begeben; diese Staaten sind besser daran als diejenigen Staaten, die Sozialpolitik treiben." Auf diesem Standpunkt stehe der Reichskanzler nicht, eS ständen auf ihm auch nicht die verbündeten Regierungen. Ein Volk, das in der Bildung und dem Kulturstand so vorgeschritten sei wie das deutsche, werde die Sozialpolitik nicht aufhalten und aufgeben, trotz aller stillen und offenen Gegner. Der Reichskanzler habe in großen Zügen seinen sozialpolitischen Standpunkt entwickelt. Als leitender Staatsmann habe er um so weniger auf Einzelheiten eingehen können, als er den Bundesregierungen in Bezug auf Gesetzentwürfe, die noch im Bundesrat zur Beratung stehen, nicht vorgreifen könne. Die Regierung sei bei Beginn der Session „mit einem wahren Lawinensturz von Anträgen überschüttet". (Sehr richtig! und Heiter­ keit.) Wenn jemand aber „praktische Politik treiben und sachlich vor­ wärts kommen will", halte er es für einen schnelleren, und darum besseren Weg, einzelne große Aufgaben herauszugreifen und sich mit ihnen wirklich ernst zu beschäftigen. Daher wolle er sich zu den in

ganz bestimmter Form in der Interpellation an den Reichskanzler ge­ richteten Frage in ganz bestimmter knapper Form äußern. Der Staatssekretär besprach zunächst die Anfrage wegen des Schicksals des Gesetzentwurfes über die Berufsvereine. Es sei ihm selten vorgekommen, daß ein Gesetz und seine Absicht so mißverstanden sei wie bei dieser Vorlage. Zwischen den Auffassungen der verbündeten Regierungen und der Parteien bestehe ein tiefliegender sachlicher Unter­ schied, der auf einem Mißverständnis beruhe. „Die Forderung auf Einführung der Rechtsfähigkeit der Berufsvereine ging von dem Wunsche aus, die verwickelten Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zu beseitigen und für die Verleihung der Rechtsfähigkeit ein anderes Verfahren einzuführen, als das des Bürgerlichen Gesetzbuches, welches die Verleihung der juristischen Person an Vereine in das arbiträre

Ermessen von Verwaltungsbehörden stellt. Diese Forderung war aber in dem Gesetzentwurf über die Berufsvereine unzweifelhaft erfüllt. Aber wie im Leben, so auch in der Gesetzgebung, kommt manchmal der Appetit beim Essen, und man knüpfte an die Regelung der Rechts­ fähigkeit der Berufsvereine Forderungen an, die früher in Verbindung mit der Aenderung des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht erhoben worden sind:

man

wollte eine Regelung des gesamten Rechts der Gewerbe-

119 vereine, man wollte eine Neuregelung des Koalitionsrechts, man wollte schließlich auch eine Regelung des gesamten Vereins- und Ver­

sammlungsrechts — Dinge,

die auf einem wesentlich anderen,

recht­

lichen Gebiete beruhen." Der Gesetzentwurf sei in seiner Wertschätzung auch geschädigt worden durch die Behauptung, daß das Gesetz über die Arbeits­ kammern aufgebaut werden solle auf dem Gesetz über die Berufs­ vereine. Daraus sei geschlossen worden, daß nur die Arbeiter in den rechtsfähigen Berufsvereinen an den Arbeitskammern sollten beteiligt werden, daß die rechtsfähigen Berufsvereine privilegiert und dadurch auf Umwegen eine Art politischen Einflusses auf diese Berufsvereine und mittelbar auch auf die übrigen Arbeitervereine ausgeübt werden solle. Diese Auffassung sei irrig. Nach dem Standpunkte der ver­ bündeten Regierungen solle das Gesetz über die Arbeitskammern nicht aufgebaut werden auf dem Gesetz über die Rechtsfähigkeit der Berufs­ vereine. Dieses solle überhaupt mit jenen nicht in Zusammenhang ge­ bracht werden. Um jedes Mißtrauen in dieser Beziehung zu beseitigen,

würde er es für praktisch halten, wenn zuerst das Gesetz über die Arbeitskammern und dann das Gesetz über die Berufsvereine ein­ gebracht würde. Es sei selbstverständlich, daß nach der Kritik, die an dem Gesetz über die Berufsvereine von den verschiedenen Parteien im Reichstage geübt worden sei, die Regierungen erwägen würden, ob

welche Veränderungen vorzunehmen seien. Bei dem jetzigen Stande der Verhandlungen könne er darüber bestimmte Erklärungen nicht abgeben.

und

Bezüglich des Gesetzentwurfes über die Arbeitskammern nehme er nach dem Stande der Vorarbeiten an, daß in der nächsten Session des Reichstags eine Vorlage gemacht werden würde.

Der Gesetzentwurf, betreffend den sogenannten kleinen Be­ fähigungsnachweis, sei in dem Ausschüsse des Bundesrats bereits beschlossen worden. Der Bundesrat selbst werde sich sehr bald über ihn schlüssig machen. Ob und wann das Gesetz vorgelegt werden wird, hänge lediglich von der Geschäftslage des Hohen Hauses ab.

Wegen des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb sei von ihm, infolge der vielfachen Beschwerden über das Gesetz aus allen Beteiligten Kreisen, am 15. und 16. Februar d. I. eine eingehende Prüfung durch Sachverständige veranlaßt worden. Insgesamt seien 34 Sachver­ ständige aus den verschiedensten Kreisen des Handels, des Handwerks

und der Industrie, sowie Vertreter der gewerblichen Vereine und je ein Mitglied des Reichsgerichts und des Kammergerichts gehört worden.

Dabei sei auch die Frage des Ausverkaufswesens erörtert

120 worden. Daß auf diesem Gebiete große Mißstände bestehen, sei un­ zweifelhaft. Die Verhandlungetl der Sachverständigen unterlägen jetzt der Prüfung der Ressorts und würden dann Gegenstand der Prüfungen innerhalb der verbündeten Regierungen sein.

Hinsichtlich der Arbeitszeit weiblicher Personen sei er, seinen früheren Aeußerungen entsprechend, der Ansicht, „daß in einer Zeit, wo die preußische Staatsregierung in einer großen Anzahl fiskalischer Betriebe zur neunstündigen Arbeitszeit der Männer übergegangen ist, die elfstündige Arbeitszeit der Frauen nicht länger aufrecht zu erhalten ist." „Ich meine, der gesunde Körper der Frau, der uns das künftige

Geschlecht liefern soll, ist in unserem Volksleben ein so wichtiger Faktor, daß wir bei unserer fortschreitenden Industrie, die zuni Teil auch mit erhöhten Gefahren für Gesundheit und Leben verbunden ist, dieser Frage ein ernstes Augenmerk zuwenden müssen. Ich bin deshalb mit dem Herrn Handelsminister in Preußen darüber einverstanden, daß der zehnstündige Arbeitstag der Frauen eingeführt werden muß, und ich hoffe, daß die verbündeten Regierungen einer Vorlage die Zustimmung erteilen, daß diese Einführung erfolgen soll. Ich hoffe, daß in der nächsten Session eine entsprechende Vorlage dem Hohen Hause unterbreitet werden kann. Aber es wird notwendig sein, für die Einführung des zehnstündigen Arbeitstages für Frauen eine gewisse Uebergangszeit zu schaffen und auch gewisse Ausnahmen zuzu­

lassen. Unter dieser Voraussetzung bin ich mit dem Herrn preußischen Handelsminister einig, daß die Gesetzgebung in dieser Richtung alsbald zu ändern ist." Zum Schluffe wies der Staatssekretär auf die zahlreichen Gesetze aus der letzten Session und die Menge anderer gesetzlichen Fragen, die einer schnellen Lösung unbedingt bedürften. Daß die Gesetzgebung nicht schneller, wie dem Interpellanten erwünscht, fortgeschritten sei, liege in. dem Umstande,

daß man bei neuen Gesetzesvorlagen zuviel

auf einmal verlange, daß jeder, der an dem Gesetze interessiert sei, gleich einen idealen Zustand erstrebe. Er glaube, daß man in der

Gesetzgebung weiterkommen würde, wenn man mit Abschlagszahlungen vorlieb nehme und zu der Höhe, auf die man gelangen wolle, zunächst auf einzelnen Stufen vorschreite.

praktische Erfolge erzielt werden.

Auf diese Weise würden schneller Dabei kam Graf von Posadowsky

auch auf die Aeußerung des Reichskanzlers, betreffend die Reform des Vereins- und Versammlungsrechtes zu sprechen. Dieses Recht unter­ liege nach § 4 der Reichsverfassung der Beaufsichtigung des Reiches. Dieser Artikel verspreche ein einheitliches Reichsvereinsgesetz in Deutsch­

land.

Die Erklärung des Reichskanzlers,

er denke an eine Reform

121 -es Vereins- und Versammlungsrechtes, habe daher mit der Vorsicht und Zuriickhaltung abgegeben werden müssen, die er dem Bundesrat und den gesetzgebenden Versammlungen im Deutschen Reiche schuldig sei. Aber er erachte es schon als einen erheblichen Fortschritt, daß

der Reichskanzler erklärt habe, er halte eine Reform des Vereins- und Versammlungsrechtes für wünschenswert und notwendig, und er sei

bereit, die Frage in die Hand zu nehmen. Damit habe der Reichs­ kanzler ein Programm geäußert. Aber bei allen diesen Fragen auf sozialpolitischem und allgemeinpolitischem Gebiet sei die Voraus­ setzung, daß die Forderungen sich in den wirtschaftlich und sozialpolitisch möglichen Grenzen halten. Auf verschiedene vorhandene und im Reichstag behandelte Uebel­

stände verweisend, gab der Staatssekretär zu, daß der Staat gegen solche Uebelstände einschreiten müsse. Zugleich aber wies er darauf hin, daß die Gesetzgebung allein eine sichere Heilung der Uebelstände nicht auf sich nehmen könne. Ein berühmtes römisches Wort sage: plurimae leges, pessima res publica — je mehr Gesetze desto schlechter das Gemeinwesen. „Die Gesetzgebung ist nur die äußere zwingende Form; aber jeder in seinem Kreise muß auch dazu beitragen, um solche Zustände, wie sie hier dargestellt sind, durch Hebung der Sittlichkeit, durch Förderung von Treu und Glauben und Redlichkeit in unserem gesamten Volksleben zu bekämpfen." Der Staatssekretär schloß mit folgenden Worten: „Meine Herren, es gibt in einem großen Volke selbstverständlich viele soziale Mißstände;

aber die sozialen Mißstände

dürfen nicht nur mit der

Gesetzgebung bekämpft werden, sondern der anständige und gerechte Sinn des Volkes und namentlich die Führung der gebildeten Klassen muß dazu das größte Teil tun, und da kann jeder in seinem Kreise

sehr nützlich, sehr heilsam zur Besserung unserer sozialen und geschäft­ lichen Zustände in Deutschland beitragen. Meine Herren, ich schließe damit die Beantwortung dieser Interpellation: was an mir liegt, was an den Reichsinstanzen liegt, wird geschehen, um diese großen

gesetzgeberischen Aufgaben, die hier berührt sind, so schnell wie möglich zu fördern. Ich bitte Sie dann aber auch, die Vorlagen mit einem wohlwollenden Blick entgegenzunehmen und, meine Herren, in den Forderungen, die Sie stellen werden, sich auf das wirtschaftlich Mögliche und politisch Zulässige zu beschränken."

Die Ausführungen des Grafen Posadowsky wurden mit leb­ haftem Beifall ausgenommen. Auf Antrag des Abgeordneten Dr. Spahn trat das Haus in die Besprechung der Interpellation ein. Der erste Redner der

122 Nationalliberalen, Dr. Hieber, versicherte zunächst, daß auch im neuen Reichstage für eine positive Fortführung der Sozialreform eine sichere Mehrheit vorhanden sei. Er wies den Versuch des Inter­ pellanten zurück, die Sachlage so darzustellen, „als ob der neue Reichstag weniger Gewähr für eine positive Fortführung der Sozial­ reform biete, als der alte Reichstag unter der führenden Stellung des Zentrums gerade in diesen Dingen sie gegeben habe." Die Sozial­ politik sei durchaus nicht bisher eine bloße Domäne des Zentrums gewesen. Alle, die auf sozialpolitischem Gebiete für fortschrittliche Ein­ richtungen sind, haben „die erfreuliche Tatsache zu konstatieren, daß seit einer Reihe von Jahren in allen Parteien von der Rechten bis zur Linken diejenigen Männer an Zahl und Einfluß gewachsen sind, die eben eine positive Sozialreform im Deutschen Reiche wünschen

und energisch gefördert wünschen." Daß die von dem Abgeordneten Trimborn angeregten speziellen

Fragen für die Gesetzgebung reif seien, erkenne er an. Auch halte er für richtig, daß nicht nur sozialpolitische Fragen im engeren und engsten Sinne angeregt werden, sondern, daß man auch Fragen, die man sonst als Mittelstandspolitik bezeichne, als Bestandteil einer richtigen Sozialpolitik erkenne. Aus der Schwächung der Sozialdemokratie im letzten Wahl­ kampfe sei vor allem die Lehre zu ziehen, „daß wir verpflichtet sind, den Beweis zu liefern in diesen Jahren, daß der Deutsche Reichstag auch ohne und gegen die Sozialdemokratie eine gute Sozialreform pflegen und gedeihlich entwickeln kann, die Erkenntnis zu pflegen und namentlich auch in den Arbeiterkreisen draußen wachsen zu lassen, daß man die Sozialdemokratie nicht brauche, um soziale Reformen

im Deutschen Reiche durchzuführen, daß wir das auch ohne sie und, wenn es sein muß, gegen sie besser machen können. Der Herr Staatssekretär hat vorhin auf gewisse Richtungen angespielt, welche

überhaupt von der Sozialpolitik nichts wissen wollen, dies aber offen auszusprechen nicht recht den Mut gehabt. Er hat damit voll­ ständig recht, und

wenn da und

dort in der Presse in den letzten

Wochen Stimmen laut geworden sind und sich Ratgeber an den Herrn Staatssekretär und auch an verschiedene Parteien dieses Hauses

herangedrängt haben, die uns zuraunen wollten, daß es jetzt genug sei mit der Sozialpolitik, daß man jetzt endlich einmal Halt machen oder wenigstens bremsen sollte, so möchte ich demgegenüber der Ueber­ zeugung Ausdruck geben — und ich glaube, daß meine sämtlichen

Freunde darin mit mir einig sind —: es gäbe gar keinen geeigneteren und sichereren Weg, der in den letzten Wahlen so schwer aufs Haupt

123 geschlagenen Sozialdemokratie neue Kräfte und Hilfstruppen zuzu­ führen, als wenn wir diesen Ratgebern Folge leisten würden." Einer Parole des Stillstandes gegenüber erachtete es der Redner jetzt für die doppelte Pflicht, den Beweis zu liefern, daß auch

auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung die Unbemittelten und Dürftigen zu besseren Verhältnissen gelangen können. Darüber

seien der Reichskanzler und

die verbündeten Regierungen von vorn­ wie das auch aus den „Das ist uns entgegen­

herein mit den Abgeordneten einig gewesen, Worten der Thronrede herausgeklungen habe.

getreten," so fuhr der Redner fort, „aus den Worten, welche der Reichs­ kanzler neulich an den Centralverband Deutscher Industrieller geschrieben hat, einen Verband, in welchem solche Stimmen ja da und

dort laut geworden sind, wie wir sie vorhin haben charakterisieren hören. .Ich vertrau auch fernerhin auf die ausgleichende Wirkung einer gewissenhaften und besonnenen Sozialpolitik'." Für die hier von dem Abgeordneten Dr. Hieber erwähnte Aus­ legung des von dem Herrn Reichskanzler an den Centralverband gerichteten Dankschreibens, hatte einer der entschiedensten, am meisten voreingenommenen Gegner des Centralverbandes, das „Berliner Tageblatt" die Parole ausgegeben. Sie war von der dem Centralverbande feindlichen Presse mit Vergnügen ausgenommen worden. Daß diese Auslegung vollkommen unzutreffend ist, wird jeder objektive Leser jenes Schreibens unumwunden zugeben müssen. Es

wird die im Centralverbande vereinigten sehr weiten industriellen Kreise eigentümlich berühren, daß gerade der Redner der national­ liberalen Partei es für notwendig erachtete, sich diese gehässige Aus­ legung des „Berliner Tageblattes" zu eigen zu machen und sie von

der Tribüne des Reichstages aus zu verkünden. Ein Abgeordneter ist wegen seiner von der Tribüne gemachten Aeußerungen nicht ver­ Wäre das anders, so würde man dem Abge­ ordneten Dr, Hieber wenigstens die moralische Verpflichtung auferlegen können anzugeben, wann und wo im Centralverband Stimmen zu

antwortlich zu machen.

hören gewesen seien, auf welche die von dem Staatssekretär gegebene

Charakteristik angewendet werden könnte. Der Redner ging nun dazu über, die Stellung der national­ liberalen Partei zu den einzelnen sozialen Fragen darzulegen. Die Vereinheitlichung und Vereinfachung der Arbeiterversicherungsgesetze erkenne er als eine Aufgabe für die nächsten Jahre an. Zu Erörterungen, die ins einzelne gehen, sei es jetzt noch nicht Zeit. Die Zeit werde aber kommen, meinte Dr. Hieber, jetzt lägen die

wichtigsten

Aufgaben

der

Sozialpolitik

auf

dem

Gebiete

der

124 Organisation, und zwar „die Fortbildung, Sicherung und Erweiterung

des Koalitionsrechts, und wenn ich dabei hereinnehmen darf die Beseitigung aller fesselnden und rückständigen Bestimmungen des politischen Vereins- und Versammlungsrechts, die Anerkennung der Berufsoereine ohne engherzige und schikanöse Polizeiaufsicht, die Errichtung von Arbeitskammern, den Ausbau von Tarifverträgen und die Einreihung derselben in unsere bürgerliche und wirtschaftliche Gesetzesordnung — das sind meines Erachtens die wichtigsten sozialen Aufgaben der Regierung und' des Reichstages in diesem Jahre." Speziell den Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufs­ vereine hervorhebend, glaubte Dr. Hieber feststellen zu sollen, daß eine Reihe von Paragraphen „Angstgeburten" gewesen seien, und daß der Entwurf niemand in dem Hohen Hause, besonders diejenigen nicht befriedigt habe, zu deren Gunsten er gedacht gewesen wäre

Ausgeschlossen sei, daß die einmütige Ablehnung des Entwurfes seitens der organisierten Arbeiterschaft lediglich auf dem Mißverständnis einzelner Paragraphen beruht habe, „vielmehr hätten," so sagte der Redner, „die Arbeiter und ihre Organisationen eben den auch von ganz unbefangenen Beobachtern — ich denke an bU theoretischen Sozialreformer — geteilten und anerkannten Eindruck, daß durch den ganzen Entwurf mit allen seinen Paragraphen ein Geist des Miß­ trauens und der Polizeiaufsicht gehe, der nicht hineinpaßt in eine positive Fortführung der Sozialreform." Sodann vertrat der Redner die Ansicht, daß die korporative Zu­ sammenfassung der Berufsstände, selbst „der gelehrten und geistigen Berufe", immer weiter fortschreiten werde; keine Gesetzgebung werde hier einen hemmenden Einfluß ausüben können. Die im Anschluß hieran von dem Abgeordneten Dr. Hieber gemachten Aeußerungen sind ungemein bezeichnend für die von der nationalliberalen Partei ver­ tretene Ansicht. Er sagte: „Ich hege auch die Befürchtung in gar

keiner Weise, daß durch eine liberale Ausgestaltung eines Gesetzent­ wurfes über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine der politische Ein­

fluß der Sozialdemokratie gestärkt werden könnte." Als ihm von der rechten Seite „Na! na!" zugerufen wurde, wandle er sich zu dieser Seite und machte sie darauf aufmerksam, daß der verstorbene Dr. Kropatscheck gesunden und konservativen

in den Organisationen einen durchaus

Gedanken unserer politischen und wirtschaftlichen Entwickelung gefunden habe. Der Redner behauptete, daß alle anderen Stände sich organi­ sieren, zum Teil auf gesetzlicher Grundlage; die Industrie in Ringen,

Kartellen, Syndikaten und Trusts. Im Hinweis auf diese sich un­ aufhaltsam vollziehende Entwickelung sagte der Redner: „mit welchem

125 Recht will man dann den Arbeitern Hemmschuhe, Fesseln anlegen, wenn sie sich auch ihrerseits zusammenschließen und organisiere» wollen? Wie läßt es sich irgendwie begründen, gegenüber derartigen Organi­ sationen das Gesetz strenger anzuziehen, als man es gegenüber anderen

Organisationen tut? Wenn man das tut, so steckt eben darin ein Geist des Mißtrauens, der nicht berechtigt ist gegenüber der deutschen Arbeiterschaft als solcher, ein Geist des Mißtrauens, der sich viel zu sehr beeinflussen läßt von den momentanen Erfolgen,

welche die So­

zialdemokratie früher da und dort gehabt hat." Diesen Aeußerungen gegenüber dürfte wohl

der Wunsch be­ rechtigt sein, zu erfahren, von wem, bezw. von ivelchen Kreisen ver­ langt werde, daß durch Hemmschuh und Fesseln die Arbeiter gehindert werden sollen, sich zu organisieren oder daß, soweit cs auf die grund­ legenden Prinzipien und Vorbedingungen für die Organisationen an­ kommt, schärfere Gesetze erlassen werden sollen, wenn es sich um die Organisation von Arbeitern handelt. Dem Schreiber dieser Zeilen ist nicht bekannt, daß solches Verlangen in einer Weise und von Kreisen gestellt worden sei, die irgend Erwähnung verdienen könnte». Die Industrie kann und will nicht verlangen, daß den Arbeitern das Recht, sich zu organisieren, durch gesetzliche Hemmschuhe und Fesseln verkümmert werde. Sie kann und will es nichts weil sie für sich selbst in vollem Umfange das Recht beansprucht sich nach Maßgabe ihrer Interessen und der von ihr verfolgten Zwecke zu organisieren. Auf einem gänzlich anderen Gebiete aber liegt die Frage, ob besondere Garantien und Gesetze erforderlich sind zum Schutz gegen gemeingefährliche Tendenzen und Bestrebungen der Organisationen. In dieser Beziehung ist ein gewisser Geist des Miß­ trauens nicht der deutschen Arbeiterschaft als solcher, sondern den sozialdemokratischen Organisationen der Arbeiter gegenüber durchaus

berechtigt. Die Stellung des Abgeordneten Dr. Hieber, der solches Mißtrauen für durchaus unberechtigt hält, findet ihre Erklärung ■ in seiner Annahme, daß „die Sozialdemokratie früher nur da und dort momentane Erfolge gehabt hat". Diese Auffassung von dem Wesen und Wirken und der Bedeutung der sozialdemokratischen Bewegung in unserem Vaterlande, ist so außerordentlich weit entfernt von einer

sachgemäßen Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse, auch wie sich diese nach der Niederlage der Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen gestaltet haben, daß eine ernstliche Beschäftigung mit ihr hier wohl erübrigt werden kann.

Bezüglich der Arbeitskammern vertrat der Abgeordnete Dr. Hieber die Ansicht „daß über die Sache selbst als solche im Prinzip ja wenig

126 Streit herrsche".

„Ich möchte sagen," so fügte er hinzu, „auch in Unter­

nehmerkreisen ist die Anerkennung der Notwendigkeit von Arbeits­

kammern im Laufe der letzten Jahre sehr stark gewachsen. Und es wäre auch auffallend, wenn es anders wäre, sofern ja die Unter­

nehmer auch ihrerseits in solchen Organisationen sich längst zusammen­ geschlossen haben." Nach diesen

letzten Ausführungen scheint der Abgeordnete Dr. Hieber selbst über das Prinzip nicht ganz klar zu sein, denn der Hinweis auf die von den Unternehmern ihrerseits geschlossenen Organi­ sationen berechtigt zu der Annahme, daß Dr. Hieber auf der anderen Seite Organisationen der Arbeiter, also Arbeiterkammern im Auge hat.

Von dem Staatssekretär des Innern und von dem Interpellanten war

aber von Arbeitskammern gesprochen worden, d. h. von paritätischen Organen von Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, von Unternehmern und Arbeitern. Ich glaube nicht, daß die Anerkennung der Notwendigkeit solcher Organisationen, in denen die gemeinsamen Angelegenheiten der Beteiligten geregelt werden sollen, im Laufe der Jahre in den Kreisen der Unternehmer stark gewachsen ist. Ich glaube das Gegenteil ist richtig. Denn ich nehme an, daß das immer schärfere Vorgehen der Arbeiterorganisationen gegen die Arbeitgeber, die immer empfindlicheren und umfangreicheren Störungen der Arbeit, bei denen die Forderungen bezüglich Löhne und Arbeitszeit gewöhnlich nur den Deckmantel für die versuchte Durchsetzung von Machtfragen bilden, bei den Unternehmern immer mehr die Ueberzeugung gefestigt haben, daß die Verhandlungen in jenen paritätisch zusammengesetzten Arbeits­ kammern nicht zu

befriedigenden Ergebnissen, sondern zu einer Ver­

schärfung der Gegensätze und wohl auch zu einer Schwächung der notwendigen autoritativen Stellung des Unternehmers und Arbeitgebers

führen würden. Hinsichtlich

der

Mittelstandspolitik

erklärte

der

Abgeordnete

Dr. Hieber zunächst, daß seine Partei für den kleinen Befähigungs­ nachweis stimmen werde; auch würde sie mit einer Verschärfung des Ge­ setzes über den unlauteren Wettbewerb in den bereits angedeuteten

Richtungen einverstanden sein.

Mit Bezug

auf

die

Kürzung

des

Maximalarbeitstages für Frauen auf 10 Stunden sagte der Ab­ geordnete: „Ich glaube, daß eine gesetzliche Regelung dieser Frage

spruchreif ist und,

ohne viel in die Einzelheiten der Erörterung ein­

zutreten, vom Reichstag seinerzeit ohne weitere Umstände angenommen werden wird." Darin wird der Abgeordnete Hieber wohl recht haben. Aber spruchreif ist diese Frage wohl nur für den Herrn Staatssekretär und

127

für den Reichstag.

Weite

Kreise der Industrie sind anderer Ansicht.

Arbeitszeit der Arbeiterinnen ist nach der Feststellung des 11 stündigen Maximalarbeitstages ohne weitere gesetzliche Eingriffe, voll­ kommen freiwillig, von zahlreichen Industriellen bereits bis auf 9 und

Die

8 y2 Stunden gekürzt worden. Angesichts dieser Tatsache hält man die Einführung eines gesetzlichen 10-Stunden-Tages, mit Rücksicht auf die vielen, namentlich kleineren und die sonstigen aus irgendwelchen Gründen mit höheren Selbstkosten arbeitenden Betriebe, für bedenklich. Denn diese

können ihre Wettbewerbsfähigkeit und damit ihren Bestand den großen, äußerst kapitalkräftigen und mit den modernsten technischen Hilfsmitteln arbeitenden Unternehmen gegenüber häufig nur durch eine etwas längere Arbeitszeit aufrecht erhalten. Hier liegt auch ein Stück wohlberechtiger Mittelstandspolitik, das, weil es in die fortgeschrittene so­ zialpolitische Richtung nicht hineinpaßt, im Reichstage geflissentlich

unbeachtet bleibt. Der Abgeordnete schloß, sehr wenig in Uebereinstimmung mit seinen vorhergegangenen die Sozialdemokratie betreffenden Ausführungen, indem er mahnte, sich angesichts des Wahlerfolges gegenüber der Sozialdemokratie nicht dem laisser faire, laisser aller oder einem „tatenlosen übermütigen Siegesgefühl" hinzugeben. Die richtige Konsequenz aus der durch die Wahlen neugeschaffenen Lage sei, daß nach wie vor in der Sozialreform fortgefahren werde. „Nur in diesem Zeichen werden wir die neue Situation im neuen Reichstag richtig ausnützen, und wird auf die Dauer die Sozialdemokratie weiter geschwächt

und schließlich überwunden werden können." Der konservative Abgeordnete Hennig trat zunächst der von dem Abgeordneten Trimborn geäußerten Befürchtung entgegen, daß infolge der Neugestaltung des Reichstages ein Stillstand in der Sozialpolitik eintreten werde. Diese Befürchtung könne seine Partei um so weniger teilen, da der Staatssekretär des Innern positiv erklärt habe, „mit ruhigem, besonnenem Fortschritt die Sozialpolitik weiter betreiben zu wollen". Allerdings sei bei den vielen Reden von einer großzügigen Sozial­ politik und deren Zielen und Gesichtspunkten das von dem Staats­ sekretär gebrauchte geflügelte Wort: plurimae leges perditissimae wohl angebracht. Eine Ueberschwemmung mit Gesetzen könne für einen in so machtvoller Entwickelung befindlichen Staat, wie das Deutsche Reich, nicht ohne Gefahr sein. Wenn seine Partei auch immer der sozialpolitischen Entwickelung fördernd, helfend und

reipublicae

beratend zur Seite gestanden habe, so könnte das Uebermaß neuer Gesetzentwürfe, wie es in den 140 und einigen Initiativanträgen sämtlicher Parteien zu Tage trete, doch stutzig machen. In den Streit,

128 wer in dieser Beziehung die vorgeschrittenste Partei sei, wolle er nicht eintreten, sondern nur erklären, daß seine Partei den Fortschritt, den die Sozialdemokratie betreibe,

nicht mitmachen könne.

Durch

die

Zurückdrängung der Sozialdemokratie sei der Weg für eine gesunde und besonnene Sozialpolitik frei geworden. Der Abgeordnete wandte sich dann gegen den Nationalliberalen Dr. Hieber, der unter Hinweis auf das viel freiere Vereins- und Versammlungsrecht in seiner süddeutschen Heimat ungemein abfällig

über den besonders in Preußen herrschenden vielverbreiteten kleinlichen Polizeigeist gesprochen hatte. Diese Bemerkungen könne er, so sagte der Abgeordnete Hennig, als „alter passionierter Preuße" nicht unwidersprochen lassen. „Unser altes Preußen ist schon von jeher ein rocher de bronze gewesen gegen innere und äußere Feinde, und wir wissen nicht, ob nicht die Zeit kommen wird, wo es in ähnlicher Weise noch einmal der Mittelpunkt sein wird, an welchem sich die Wellen der inneren Revolution, der inneren und äußeren Feinde brechen werden." Zu den Einzelheiten übergehend, erklärte der Abgeordnete, daß seine Partei den in der vergangenen Session eingebrachten Gesetzentwurf, betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, „solange er in den Grenzen bleibt, die ihm regierungsseitig gesteckt sind", für eine Vorlage

erachte, die durchaus geeignet sei, eine Grundlage für eine besonnene weitere gesunde sozialpolitische Entwickelung zu bilden. ES sei kein katexochen sozialpolitisches Gesetz, sondern eine Novelle zum B. G. B.,

durch die eine gesetzlich organisierte Interessenvertretung für alle Kreise eingeleitet werden solle. Der Abgeordnete begrüßte mit besonderer Genugtuung, daß der Staatssekretär damals in der die Vorlage be­

gründenden Rede sich besonders an diejenigen Elemente unter den Abgeordneten und der arbeitenden Bevölkerung gewendet habe, die sich auf nationalem und monarchisch-christlichem Boden befänden.

Diese

hätten sich nicht als Gegner der Vorlage bekundet, sondern ihre Bereit­ willigkeit zu erkennen gegeben mitzuarbeiten, im vollen Gegensatz zu den sozialdemokratischen Organisationen.

Der christlich-nationalen Bewegung stehe seine Partei freundlich gegenüber und nach seiner Ansicht wachse die Sympathie mit dieser, je näher die betreffenden Elemente seiner Partei den großen industriellen

Zentren ständen.

Sie hatten den in weiten Kreisen der Arbeitnehmer be­

stehenden Wunsch erkannt, einer geordneten Vertretung anzugehören, um einer sie knebelnden Zwangsvertretung zu entrinnen. „Der Druck, der auf sie auSgeübt wird, unter dem Vorwande, ihr Interesse zu fördern, wird nachgerade als ein so lästiger empfunden, daß das Bestreben ständig wächst, von diesem-Drucke befreit zu werden."

Nach seiner An-

129 sicht biete die Vorlage, betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine,

eine geeignete Grundlage für ein späteres Vereins- und Versammlungs­ recht, wie vielleicht auch für Arbeitskammern und Arbeiterrecht. Der Redner glaubte aber auch auf die Schwierigkeiten Hinweisen zu sollen, die bei einer sozialpolitischen Gesetzgebung zu überwinden seien, von der die Versicherungsgesetze, das Koalitionsrecht, das Vereins­ und Versammlungsrecht, die Vertretung der erwerbstätigen Frauen,

die Stellung der Minderjährigen, die aus der Rechtsfähigkeit herzu­ leitende Haftpflicht umfaßt werden sollen. DieStellungderMinderjährigen bezeichnete der Redner als einen besonders wichtigen Punkt, da diese Kategorie von Arbeitern im heutigen Staate bereits einen unheilvollen Druck auf ihre Berufsgenossen ausübten. Um diese schwierige Aufgabe zu lösen, erachte seine Partei ruhige Arbeit für erforderlich. Bezüglich des Befähigungsnachweises vertrat der Abgeordnete

den bekannten Standpunkt der konservativen Parteien. Hinsichtlich des Ausverkaufswesens, unter Verschärfung des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb, gab der Redner jedoch zu, daß es sehr leicht sei, mit idealen Gedanken und Forderungen hervorzutreten, daß die Schwierig­ keit aber darin bestehe, „diese idealen Forderungen in eine praktische Währung umzusetzen". Für die Festsetzung der Arbeitszeit für Fabrikarbeiterinnen werde seine Partei eintreten. „Damit sei allerdings die Frage des Normal­ arbeitstages nicht berührt." ES ist anzunehmen, daß der Abgeordnete Henning sich mit diesem letzten Satze gegen die Anträge auf Ein­ führung eines Maximalarbeitstages für erwachsene Männer hat aus­ sprechen wollen.

Der Abgeordnete stellte dann noch fest, daß seine Partei der Errichtung von Arbeitskammern, nicht der von Arbeiterkammern, sym­ pathisch gegenüberstehe. Schließlich verlangte der Redner, daß die Sozialpolitik nur etappenweise fortgeführt werden möchte. „Wir werden," so schloß der Vertreter der Konservativen, „von einer Etappe vorgehen zur anderen, sobald wir die Etappenlinie als sicheren Boden betrachten können, und müssen immer im Auge behalten: Ordnung regiert die Welt und auf eine ordnungsmäßige Entwickelung müssen wir unter allen Umständen halten und sind überzeugt, damit einer gesunden Sozialpolitik den besten Dienst zu leisten."

Dem konservativen Abgeordneten folgte der Abgeordnete Hue, einer der einflußreichsten Führer iin sozialdemokratischen alten Verband

der Bergarbeiter.

Das Feld seiner Tätigkeit ist der rheinisch-west­

fälische Bergbaubezirk.

Sein agitatorisches Wirken ist besonders bekannt

aus dem letzten großen Ausstande der Bergarbeiter in jenem Bezirk. Heft 106.

130 Hue war zuerst bestrebt, ebenso wie es sein Parteigenosse Bebel

bereits getan hatte, alles, was auf sozialpolitischem Gebiete geschehen

sei, auf das Drängen und auf das Antreiben der Sozialdemokratie zurückzuführen. Er glaubte den Beweis dafür in den Worten des

Abgeordneten Hieb er zu finden, der gesagt hatte: Nunmehr soll be­ wiesen werden, daß auch ohne die Sozialdemokratie etwas gemacht werde.

„Das heißt doch," so fügte Hue hinzu, „es dreht sich alles bei ihm um die Sozialdemokratie." Daß Hue erst recht in die Klagen über die Untätigkeit der Regierung auf sozialpolitischem Gebiete einstimmte, war selbstverständlich. Der Befähigungsnachweis gab dem Abgeordneten Veranlassung, die Handwerkerfrage eingehend zu erörtern. Alles was bisher auf dem Wege der Gesetzgebung für das Handwerk geschehen sei, bezeichnete er als verfehlt und als einzige Ursache der Not und des Niederganges im Handwerk das Großkapital und die im Interesse dieses eingeführte Zollpolitik. Die einzigen wahren und hilfreichen Freunde des Hand­ werks seien die Sozialdemokraten. Zu bieten hatte Hue freilich wenig. Er verlangte die Aufbesserung der Besoldungen der Unterbeamten, besonders im Eisenbahn- und Postbetriebe, damit deren Kaufkraft im Interesse des Handwerks erhöht würde und er forderte besonders die Nationalliberalen, „die ja sehr potente Leute unter sich haben", auf, die Handwerker mit genügendem Kapital zur Anschaffung von Maschinen zu unterstützen. Das war alles, was der Sozialdemokrat zur Hebung des Handwerks vorzuschlagen wußte. Zu der Arbeitszeit für Arbeiterinnen übergehend, glaubt der Redner nach den neuesten Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten be­ haupten zu dürfen, daß Arbeiterinnen in Oberelsaß bis 13, im Lippischen bis 17 Stunden beschäftigt würden.

Es würde wohl Sache der Behörden sein, Aufklärung darüber zu verschaffen, ob diese Angaben tatsächlich richtig sind bezw. wie es möglich sei, daß derart unerhörte Ueberschreitungen der gesetzlich vor­ geschriebenen höchsten elfstündigen Arbeitszeit für Arbeiterinnen vor­ kommen können. Den Umstand, daß im Jahre 1900 in der Industrie rund 937 000, im Jahre 1905 aber schon über 1 177 000 Arbeiterinnen

beschäftigt worden seien, betrachtet der Redner als eine Verschlimmerung der betreffenden Verhältnisse. Die Zunahme der Bevölkerung und

der industriellen Tätigkeit in dieser Zeit wurde von Hue

keiner Be­

achtung gewürdigt. Er verwies auf den bereits im Jahre 1877 von Bebel und Genossen beantragten Maximalarbeitstag für Männer von 10 Stunden und für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter auf

131 8 Stunden und glaubte damit den Beweis erbracht zu haben für das Bestreben der Sozialdemokratie, praktische Arbeit zu leisten. Dar­ über, ob die Sozialdemokratie diese Anträge auch jetzt wieder stellen werde, äußerte sich der Redner nicht. Er mußte jedoch zugeben, daß jetzt bereits für Arbeiterinnen Arbeitszeiten von 9'/2, 9 und 8 Stunden eingeführt seien und sagte mit Bezug hierauf: „also günstige Er­ fahrungen der Praxis liegen vor, und ich glaube, wir können, zumal nach dem Appell des Herrn Staatssekretärs an die Anständigkeit nichts Besseres tun, als die anständigen Werke, die schon die kürzere Arbeits­

zeit für Frauen eingeführt haben, vor der Schmutzkonkurrenz der anderen Werke zu beschützen durch schleunige Erledigung des ArbeiterinncnschutzgesetzeS." Hier lediglich die größere oder geringere „Anständigkeit"

der Unternehmer als Ursache der kürzeren oder längeren Arbeitszeit anzunehmen mtb diejenigen, die in der jetzt durch das Gesetz gezogenen Grenze Arbeiterinnen längere Zeit beschäftigen, uneingeschränkt mit der Bezeichuung „Schmutzkonkurrenz" zu belegen, ist durchaus verfehlt und unzulässig. Die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Verhältnisse und Grundlagen kann es, wie vorhin bereits angedeutet, dem einen ermöglichen mit einer kürzeren Arbeitszeit auszukommen, während es

dem anderen, ohne Schmutzkonkurrenz zu treiben, nur möglich ist durch eine längere Arbeitszeit seine Wettbewerbsfähigkeit bezw. seine Existenz aufrecht zu erhalten. Mit Bezug auf die Vertretungskörperschaften der Arbeiter stellte Hue zunächst fest, daß der Staatssekretär des Innern sich für die Errichtung von Arbeitskammern ausgesprochen habe. Er verwies ferner darauf, daß durch die Gesetze über die Landwirtschaftskammern, Handelslammern und Handwerkskammern reine Interessenvertretungen für die Unternehmer und Arbeitgeber geschaffen seien. Diese sollten durch

das von dem Abgeordneten Trimborn im preußischen Landtage ge­ stellte Verlangen nach einer Vorlage, betreffend Einrichtung von Detaillistenkmmern noch erweitert werden. Mit Bezug auf diese Tat­

sachen sagte der Redner: „Ich meine, nachdem wir nun einmal auf diesem Erbiete reine Unternehmervertretungen geschaffen haben, sollten doch gemde diejenigen Herren, die vorhin mit Emphase von der Gleichberechtigung der Arbeiter redeten, auch für reine Arbeitervertre­

tungen Lädieren." Hue gab zu, daß die Sozialdemokraten in dem von ihnen in den Jahren 1878 und 1885 eingebrachten Entwurf für eine um­ fassende Arbeiterschutzgesetzgebung Arbeitskammern verlangt hatten. Nachdem sich aber der Kongreß der freien Gewerkschaften im Jahre 9*

132 1905 in Köln für Arbeiterkammern ausgesprochen habe, sei dieser Be­ schluß auch von dec sozialdemokratischen Partei angenommen worden.

Auch die Hirsch-Dunckerschen und die christlichen Gewerkoereine hätten sich für Arbeiterkammern ausgesprochen. Demgemäß sei die Mehrheit der organisierten Arbeiter nicht für Arbeits-, sondern für Arbeiter­ kammern. Hue führte an, daß Professor Harms, „der auf dem betreffen­

den Gebiete auch wohl für Herrn Trimborn Autorität ist", in seinem Buche über die Arbeitskammern gesagt habe: „Bürgerliche Sozial­ reformer betonen das Gleichheitsprinzip. Mir ist das unverständlich. In staatsrechtlicher Beziehung garantiert die Reichsverfassung den Arbeitern Gleichberechtigung mit den Unternehmern. Daraus folgt aber nicht, daß auch in der Vertretung wirtschaftlicher Interessen der Arbeiter gleichberechtigt dem Unternehmer an die Seite gestellt werden könne. Nach meiner Iseberzeugung kann davon absolut nicht die

Rede sein." Der sozialdemokratische Abgeordnete konnte sich hierbei nicht ent­ halten, die Bueck, Tille, Reiswitz und Genossen anzugreifen. Er sagte, daß der Standpunkt des Professor Harms auch von diesen geteilt werde und, in durchaus verfehlter Identifizierung der wirt­ schaftlichen Gleichberechtigung der Arbeiter mit dem Begriffe der Menschenrechte, legte er diesen „Uebermenschen" die Worte in den Mund: „Bleibt uns mit dem Geschwätz von den Menschenrechten vom Leibe, das gehört in die Rumpelkammer." Auch in den stenographi­ schen Berichten sind diese letzten Worte mit Anführungszeichen versehen, doch wohl nur um zu zeigen, daß sie wirklich von diesen „Ueber­ menschen" verlautbart worden sind. Würde Hue diese Worte nicht von der ihn schützenden Tribüne des Reichstages gesprochen haben, so würde es ihm leicht ergehen können, wie jenen sozialdemokratischen Rednern und Redakteuren, die dem Schreiber dieser Zeilen seinerzeit, gleichfalls mit Bezug auf die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Arbeiter, eine ähnlich schnöde und frivole Aeußerung in den Mund gelegt hatten, dafür aber von verschiedenen deutschen Gerichten teils mit Geldstrafen, teils mit Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten belegt worden sind. Der Abgeordnete führte dann aus, Professor Harms habe, trotz seiner Ansichten über die Gleichberechtigung, festgestellt, daß in

Belgien, Holland und Frankreich legalisierte Arbeitskammern voll­ ständig versagt, ihre Aufgaben nicht erfüllt hätten. Dagegen habe er den italienischen Arbeiterkammern das Zeugnis ausgestellt, „daß sie außerordentlich günstig wirkten, und für die Arbeiterschaft schon soviel

133 getan haben, daß dies nicht hoch genug angeschlagen werden könne". Für Arbeiterkammern hätten sich auch die Professoren Mataja und

Herkner ausgesprochen.

Er und seine politischen Freunde fordern

daher die Errichtung von reinen Arbeiterkammern. Hinsichtlich des Gesetzentwurfes über die Rechtsfähigkeit der Berufsvercine behauptete Hue, daß dieser Entwurf von den Ver­ tretungen der Arbeiter aller Richtungen verurteilt und zurückgewiesen

worden sei. Daraus könne man ersehen, daß, wenn es sich um Arbeiterfragen handle, „der Arbeiter mit dem Arbeiter" übereinstimme. „ES wird sich zeigen, daß die Spekulation auf die dauernde Trennung der Arbeiter in .christlich-nationale', in ,unchristliche', in .unnationale'

und dergleichen nur eine Spekulation ist, die vor der Praxis zer­ schellt." Das Hervorragendste bei der Sache sei, daß die Gewerk­ schaften aller Richtungen „sich gegen diesen Gesetzentwurf erklärt haben und gegen jeden Gesetzentwurf, der die Bewegungsfreiheit der Gewerkschaften irgendwie einengen will, gegen jeden Gesetzentwurf, der den polizeilichen, bureaukratischen Geist atmet, wie der jetzt be­ sprochene". Viel wichtiger und notwendiger sei für die Sozial­ demokratie eine einheitliche und freie Regelung des Vereins- und Versammlungsrechtes. „Lassen Sie den Gesetzentwurf über die Berussvereine ruhig noch in dem Aktenschrank liegen, bringen Sie uns ein Vereins- und Bersammlungsgesetz, das auf dem Boden freiheitlicher sozialer Gesinnung steht, dann können Sie ruhig ihren Gesetzentwurf über Berufsvereine noch einige Jahre trocknen lassen; wir weinen ihm keine Träne nach." Der sozialdemokratische Abgeordnete kam nun auf eine von dem Grafen von Posadowsky bei der ersten Lesung des in Rede stehenden Gesetzes gemachte Aeußerung zu sprechen, „die er von ihm lieber nicht gehört hätte". Der Staatssekretär hätte gesagt, „es liege im Interesse des Staates und sei die Ausgabe der Reichsregierung, die .Unter­ schiede', die in der Arbeiterschaft beständen, zu .vertiefen'." Bei den

Verhandlungen über den Etat habe der Abgeordnete Behrens von der Wirtschaftlichen Vereinigung schon auf die neuesten Gründungen „christlicher",

vielmehr „nationaler" Arbeitervereine hingewiesen, die

„gelben Gewerkschaften", die Streikbrecherverbände. „Meine Herren, das ist auch eine Konsequenz des unsozialen Gedankens, daß man die Unterschiede in der Arbeiterschaft .vertiefen' solle." Die Verschiedenheit der sozialpolitischen Ansichten bestände nun einmal, man könne sie nicht aus der Welt schaffen. Da sei es die Aufgabe des Gesetzgebers, die Kluft nicht zu vertiefen, sondern Mittelwege zu gehen, um wenig­ stens einigermaßen die Verständigung zu fördern. Die Gründung

134 von Streikbrecherverbänden,

von gelben Gewerkschaften, die von dem

„Reichslügenverbande" auSgehe, halte er für eines der außerordentlich unmoralischesten Mittel, die man int sozialen Kampfe verwenden könne. „Und ich versichere," so fuhr der Abgeordnete Hue fort, „kommt es zu einer Aktion dieser Streikbrecherverbände z. B. in der Bergwerksund Hüttenindustrie, dann werden die Väter dieser Streikbrecher­ verbände keine Freude daran erleben."

(Oho! und hört! hört! rechts.) Höchst interessant und bezeichnend sind die an diese Ausführungen geknüpften Bemerkungen des Abgeordneten Hue über Tarif­ verträge. Der Redner verwies auf die von der Regierung dem Reichs­ tag unterbreitete Denkschrift über Tarifverträge. In dieser sei im ersten Bande auf Seite 70 gesagt: „Am besten seien die Tariforgani­ sationen und die Einhaltung der Tarife gewährleistet durch große leistungsfähige Organisationen." „Wenn Sie aber," so sagte Hue weiter, „große leistungsfähige, die Einhaltung der Tarife gewähr­ leistende Organisationen haben wollen, dann dürfen Sie nichts unter­ nehmen, was die Einheitlichkeit der Arbeiterbewegung dauernd hintan­ halten soll, dürfen Sie kein Gesetz beschließen, das darauf hinaus­ läuft, die großen leistungsfähigen Gewerkschaften zu zerschlagen. Und das ist es gerade, worauf der Gesetzentwurf, betreffend die Berufs­ vereine tatsächlich hinausläuft. Die Herren theoretischen Sozialpolitiker

waren ja recht schnell bei der Hand, dem Gesetzentwurf ihren Segen zu geben. Lesen Sie mal die sozialpolitische Literatur vor der Reichs­

tagsdebatte über diesen Gegenstand. Ganz anderer Meinung waren die Arbeiter, die Gewerkschaftler, ganz gleich welcher Richtung. Die haben die Gesetzentwürfe gelesen — auch die Motive, Herr Staats­ sekretär! — und haben gerade als Gewerkschaftler, ausgehend von der Praxis des Gewerkschaftslebens, gefunden, daß die großen leistungs­

fähigen Gewerkschaften zerschlagen, zertrümmert werden sollten. Damit wäre die Institution der Tarifgemeinschaft, auf die vielseitig große Hoffnung gesetzt wird, auf das äußerste gefährdet."

Der Redner hob hervor, daß der freie Maurerverband — die sozialdemokratische Gewerkschaft der Maurer — 1895 13, 1898 37, 1900 117, 1905 allein 367 Tarifverträge abgeschlossen habe, daß somit der Abschluß von Tarifverträgen sich in fortschreitender Linie

bewege. Man befinde sich daher in einem Entwicklungsstadium, „daß, wenn überhaupt eine wenn auch nur zeitweilige Verständigung zwischen den widerstrebenden Interessengruppen erzielt werden soll, dies nur geschehen kann durch gesetzliche Sicherung der Tarifverträge und nicht durch gesetzliche Maßnahmen, die die großen leistungsfähigen Gewerk­ schaften zu Grunde richten sollen."

135

Es ist in hohem Maße bezeichnend, aus dem Munde eines der rührigsten und einflußreichsten sozialdemokratischen Führer und Ab­

geordneten zu hören,

daß die Tarifverträge in innigem Zusammen­

hänge stehen mit dem Bestände und dem Gedeihen der sozialdemo­ kratischen Gewerkschaften, eine Tatsache, die bereits lange und genügend

im Centralverbande erkannt worden ist. Der letzte Teil der Rede des Abgeordneten Hue war eine Ver­ herrlichung der Leistungen und Bestrebungen

der Sozialdemokratie

und ihrer Gewerkschaften. Er nannte u. a. die Summe, die von den Gewerkschaften in den Jahren von 1891 bis 1905 für sogenannte humanitäre Zwecke verausgabt worden sei. Die Summen, die im Kampfe gegen die Arbeitgeber, für Ausstände, ausgegeben worden sind, und die schweren Verluste, welche die armen mißleiteten Arbeiter in diesen schweren Kämpfen erlitten haben, erwähnte der Abgeordnete nicht. Dafür hob er hervor, daß die freien Gewerkschaften, trotz der Niederlage bei den letzten Wahlen, doch an der Spitze stehen und an

der Spitze bleiben werden. Er rühmte, daß sie im Jahre 1906 einen Zuzug von über 300 000 neuen Mitgliedern erhalten hätten und jetzt mindestens 1800 000 Mitglieder zählten, „zerbrechen Sie sich erst einmal Ihre Zähnchen an diesen 1 800 000! Wir wollen abwarten, ob Ihnen nicht der Kampf eher leid sein wird, als uns". Der Abgeordnete Hue unternahm es auch den Vorwurf, daß die Gewerkschaften die nicht organisierten Arbeiter terrorisieren, als vollkommen unberechtigt zurückzuweisen. Demgegenüber hätte darauf hingewiesen werden können, daß die Regierung selbst gelegentlich der Vorlage des Gesetzes zur Regelung des gewerblichen Arbeitsverhält­ nisses, des sogenannten Zuchthausgesetzes, das Beweismaterial für den furchtbaren, brutalen, von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern ausgehenden Terrorismus in einer umfassenden Denkschrift

dem Reichstage unterbreitet hat. Trotzdem hatte der Abgeordnete Hue die Stirn, auszurufen: „Ich frage Sie: welcher Gewerkschafts­ vorstand und welche gewerkschaftliche Instanz hat schon jemals, wenn

irgend ein Fall von Terrorismus vorgekommen ist, diesen Terrorismus gutgeheißen, die Leute dazu aufgemuntert? Das hat weder eine freie Organisation, noch eine christliche, noch die Hirsch - Dunckersche getan. Alle verantwortlichen Gewerkschaftsleiter stehen auf dem Standpunkt, daß der Gewerkschaftsbewegung durch Terrorismus, der, wie zugegeben

ist, hier und da vorkommt, nur geschädigt wird." .... „Ich bedaure auf das tiefste, wenn in der Arbeiterschaft Fälle von Terrorismus vorkommen; ich bin wiederholt in der schärfsten Weise dagegen auf­ getreten."

136 Der Redner schloß mit der sehr wortreichen Versicherung,

daß

die Sozialdemokratie immer zur Mitarbeit bereit gewesen sei und bereit sein werde, wenn nur gute Gesetzentwürfe vorgelegt werden möchten. Alles was bisher auf sozialpolitischem Gebiete geschehen sei — also auch die große so überaus rühm- unb wirkungsvolle

Bersicherungsgesetzgebung für die Arbeiter —, bezeichnete Hue als „die ersten Gehversuche". In diesem Zusammenhänge sprach er von geradezu skandalösen Zuständen, die eingerissen seien; er stellte diese als Beweis dafür aus, „daß, .roenn überhaupt hier etwas zu stände gebracht werden soll, es nur geschehen wird dadurch, daß die Arbeiter sich auf die Hinterbeine setzen. Soll wirklich den Arbeitern geholfen werden, dann müssen sich die Kräfte der Arbeiter vereinigen. Alle Organisationen müssen sich verständigen, als Arbeiterkollegen. Wir müssen einen

konzentrierten Angriff richten gegen die Scharfmacher und gegen die Herren, die hier anders reden, als sie im Landtage handeln". Der Abgeordnete verlangte, daß die Versprechungen eingelöst werden möchten, die bei den Wahlen von allen Parteien, besonders von den Nationalliberalen, den Arbeitern gemacht worden seien und rief: „Sorgen Sie dafür, daß wir nicht auch diese Session schließen müssen mit der Konstatierung: es ist wieder nichts für die Arbeiterschaft gemacht worden, wie in so vielen anderen Sessionen, die hinter uns liegen, nicht weil die Sozialdemokratie nicht wollte — wir befanden und befinden uns in der Minorität —, sondern weil die bürgerliche Mehrheit nicht wollte!"

Die nun folgende Rede des Abgeordneten Bruhn von der Deutschen Reformpartei war für die hier vorliegenden Fragen un­

wesentlich. Der größte Teil seiner Ausführungen richtete sich, in Vertretung der rückständigsten Mittelstands- und Handwerkerpolitik, gegen das Großkapital, die Börse und die Warenhäuser. In gleichem Sinne behandelte er die Frage des unlauteren Wettbewerbes und des Ausoerkaufswesens. Bezüglich der Verweigerung des Koalitionsrechts

für die landwirtschaftlichen Arbeiter stellte er sich auf den Standpunkt des Redners der konservativen Partei, wobei er die Interessen der Landwirtschaft gegenüber den früher geäußerten Ansichten eines frei­ sinnigen Abgeordneten recht wirkungsvoll vertrat. Ebenso stellte er sich an der Hand von positiven Tatsachen dem Abgeordneten Hue bezüglich der Behauptung entgegen, daß der Terrorismus der Sozialdemokratie

und ihrer Gewerkschaften nur ein Märchen sei.

Er schloß mit der

Mahnung, für eine gesunde Mittelstandspolitik und für weitgehende

Fürsorge für die Arbeiter einzutreten. Damit schlossen die Verhandlungen.

Die Besprechung

der

137

Interpellation Trimborn wurde in Reichstages am 11. März fortgesetzt.

der

folgenden

Sitzung

des

Als erster Redner ergriff das Wort der Abgeordnete Dr. Mugdan von der Deutsch-Freisinnigen Volkspartei. Er hielt dem Abgeordneten Trimborn vor, daß dieser als Interpellant mit Stolz über die frucht­

bare sozialpolitische Tätigkeit seiner politischen Freunde und von dem sozialpolitischen Zentrumskurse der Gesetzgebung gesprochen habe, der für die Richtung der sozialpolitischen Gesetzgebung der letzten Jahre maßgebend gewesen sei. Derselbe Abgeordnete habe aber, als er im letzten Jahre die Debatte über den Etat des Reichsamts des Innern einleitete, das Jahr 1904 als sozialpolitisch wenig fruchtbar und das Jahr 1905 als noch unfruchtbarer bezeichnet. Wenn der Abgeordnete Trimborn in wenigen Tagen wieder die Debatte über den Etat des Reichsamts des Innern eröffnen werde, so werde er

voraussichtlich tief beklagen, daß auch das Jahr 1906 keine nennens­ werte sozialpolitische Tätigkeit gezeigt habe. Bei ihm, dem Redner, und seinen politischen Freunden werde er keinen Widerspruch finden. Das seien die drei Jahre gewesen, in denen das Zentrum im Reichs­ tage eine ausschlaggebende Stellung gehabt habe, die regierende Partei gewesen sei. Die Freisinnige Volkspartei und die mit ihr verbundenen libe­ ralen Parteien seien jedoch mit dem vom Zentrum eingeschlagenen Kurse nicht zufrieden. „Wir werden uns nicht begnügen, eine papierne Sozialpolitik zu treiben. Wir werden unsere sozialpolitische Tätigkeit nicht in der Stellung von Anträgen, von Interpellationen, von Reso­

lutionen erschöpfen, sondern wir werden vielmehr verlangen, daß die sozialpolitischen Leistungen in der Gesetzgebung sich mehren, und daß diejenigen Forderungen des Arbeiters, der Handwerker und des Mittelstandes, die von allen Seiten als berechtigt anerkannt werden, auch ihre Erfüllung finden, weil wir der Ueberzeugung sind, daß nur dadurch die Zufriedenheit unseres Volkes gesichert werden kann."

Die Antwort des Staatssekretärs mit Bezug auf das Gesetz, betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, habe ihn nicht be­ friedigt. Nach seiner und seiner politischen Freunde Auffassung stelle

die Verleihung der Rechtsfähigkeit keine sozialpolitische Wohltat dar, sondern die Aufhebung eines Unrechts, die Beseitigung eines Aus­ nahmezustandes für die Berufsvereine. Hinsichtlich der Arbeitskammern halte er, im Gegensatz zu der vom Staatssekretär in Aussicht gestellten Reihenfolge, für erforderlich, daß zuerst die rechtliche Stellung der

Berufsvereine geregelt, und dann das Gesetz über die Arbeitskammern eingebracht werde.

Denn

die Berufsvereine

der Arbeiter seien die

138 geborenen Träger des Wahlkörpers der Vertreter der Arbeiter in den Arbeitskammern. Schon aus diesem Grunde allein müsse bei dem Gesetz über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine alles vermieden

werden, was deren selbständige Tätigkeit beeinträchtigen könnte. Der Redner verwies auf die vielen Organisationen anderer Berufsstände und schloß daraus, daß bei den Wahlen zur Standesvertretung der Arbeiter — als solche bezeichnet der Redner die Arbeiterkammern — die

Organisationen die Hauptrolle spielen werden. Daher sollte die Er­ langung der Rechtsfähigkeit nicht mit den in dem letzten Entwurf enthaltenen belästigenden Bestimmungen umgeben werden.

Mit der Feststellung eines gesetzlichen Maximalarbeitstages von 10 Stunden für Fabrikarbeiterinnen, mit Maßregeln gegen die Miß­ bräuche im Ausverkaufswesen und mit der Einführung des kleinen Befähigungsnachweises erklärte sich der Redner namens seiner Partei einverstanden. Die weiteren Ausführungen des Abgeordneten Mugdan standen nicht im Zusammenhänge mit sozialpolitischen Fragen. Der Redner der Reichspartei, Abgeordnete von Dirksen, sprach zunächst seine Befriedigung darüber-aus, daß durch die veränderte Zusammensetzung des Reichstages die Vorherrschaft des Zentrums auf dem Gebiete der Sozialpolitik endlich gebrochen sei, daß Sozial­ politik betrieben werden könne, wenn auch nicht ohne das Zentrum, so doch nicht unter seiner Führung. Seine Partei werde bereit sein, wie bisher, für eine großzügige, aber verständige Sozialpolitik ein­ zutreten. Mit Bezug auf die von den Interpellanten besonders erwähnten fünf Punkte erachtete der Redner die Frage des kleinen Befähigungsnachweises und des unlauteren Wettbewerbs für vollkommen spruchreif. Auch der 10 stündige Maximalarbeitstag für Arbeiterinnen sei eine höchst wichtige Frage, die als spruchreif bezeichnet werden könne. Allerdings glaube er, „daß diese wichtige Frage nur mit den Kautelen, die der Herr Staatssekretär schon vorgesehen hat, namentlich mit vorsichtigen Uebergangsbestimmungen in Angriff zu nehmen sein wird, und daß dabei nicht schematisch, sondern etwas individualisiert verfahren werden muß." Dabei errinnerte er daran, daß der Abgeordnete Gamp

namens seiner politischen Freunde es für praktisch erachtet hatte, die Kompetenz der Berufsgenossenschaften für solche Fragen zu erweitern, und ihnen die Initiative in derartigen Sachen zu übertragen. Auf die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine und die Arbeitskammern näher einzugehen, hielt der Redner nicht für erforderlich, da sie den Reichstag

in der laufenden Session nicht mehr beschäftigen würden. In der Hauptsache hatte der Abgeordnete v on Dirksen sich die Auf­ gabe gestellt, den sozialpolitischen Abgeordneten Bebel und Hue ent-

139 gegenzutreten.

Ueberzeugend wies der Redner nach, daß in den letzten

Jahrzehnten die Sozialpolitik ohne oder gegen die Sozialdemokratie

habe getrieben werden müssen, und daß, nach dem Eingeständnis von Genossen selbst, die unfruchtbare, verneinende Politik der Führer vielen

Mitläufern die Veranlassung gegeben habe, sich bei den letzten Wahlen von der Partei abzuwenden. Der verächtlichen Unterschätzung der deutschen Sozialpolitik gegenüber warf er die Frage auf: „Welches

Land steht denn auf sozialpolitischen Gebieten so unerreicht da, wie unser Deutsches Reich? Welches von den Ländern, die die Regierungs­ form haben, die den Sozialdemokraten als Ideal erscheint, nämlich die republikanische, kann sich auch nur entfernt mit uns messen? Man zeige uns doch, was Frankreich, was die Vereinigten Staaten von Amerika auf diesen Gebieten geleistet haben!" An der Hand zahl­ reicher Zitate und Aussprüche aus der sozialdemokratischen Presse und in sozialdemokratischen Kongressen und Versammlungen führte der Abgeordnete von Dirksen den Beweis, daß die Sozialdemokratie dem Mittel- und Handwerkerstände nicht nur nicht freundlich gesinnt sei, wie Bebel und besonders Hue behauptet hätten, sondern daß sie danach streben, den Mittelstand zu Grunde zu richten und zu ver­ nichten, da er bei den Wahlen zunieist mit den bürgerlichen Parteien gehe. Mit Bezug auf die von den sozialdemokratischen Rednern der Rechten

und den Mittelparteien zur Last gelegte Verteuerung der Nahrungs­ mittel hob der Abgeordnete von Dirksen hervor, „daß durch unsere Wirtschaftspolitik die Konsumenten des Handwerks und vor allen Dingen die kleinen Landwirte, die gerade den Handwerkern in den kleinen Städten etwas abkaufen und bar bezahlen können, erheblich gestärkt worden sind. Es ist doch bekannt, welche Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land bestehen, und daß, wenn es dem Bauern­ stand gut geht, der Handwerkerstand auch zu leben hat." Der Ab­

geordnete von Dirksen wandte sich dann gegen das Verlangen des Abgeordneten Hue, vor allem die Gewerkschaften zu berücksichtigen, und gegen die Lobsprüche, die letzterer diesen gespendet hatte. Er wies

nach, was auch hier bereits angedeutet worden ist, daß den von den Gewerkschaften für humanitäre Zwecke ausgegebenen Beträgen viel größere, von denArbeitern erpreßte, lediglich zu agitatorischen Zwecken und für Streiks verausgabte Summen gegenüberständen. Der Abgeordnete stellte auch, der behaupteten Neutralität der Gewerkschaften gegenüber, fest, daß die Sozialdemokratie erfolgreich bestrebt sei, „die Gewerkschaften

möglichst mit sozialdemokratischem Gifte zu durchdringen und sie zur Sozialdemokratie hinüberzuziehen". Besonders scharf ging der Redner gegen den Abgeordneten Hue vor wegen des von diesem ausgesprochenen

140 Verdammungsurteils über die Bewegung zur Gründung nationaler, sogenannter gelber Arbeiterorganisationen. Unter äußerst mannhafter Verteidigung des Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdeniokratie führte er den unwiderleglichen Nachweis, daß die national und religiös gesinnten Arbeiter ebenso berechtigt seien, sich zusammen-

zuschließen, wie die Sozialdemokraten sich zu organisieren. Wenn das Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften in Deutschland behauptet

habe, „daß der deutsche Arbeiter den Begriff der gelben Gewerkschaften als eine Beleidigung seiner persönlichen Ehre ausfasse, so seien die Begriffe von „Ehre" durchaus verschieden". Die Sozialdemokraten

Bebel und Hue hätten auch geleugnet, daß von den Gewerkschaften und von den Sozialdemokraten irgendwie Terrorismus auf die Nicht­ organisierten Arbeiter ausgeübt werde. „Bebel hatte die schöne Idee," so sagte der Abgeordnete von Dirksen, „daß man dahin wirken solle, daß die armen (organisierten) Arbeiter nicht von den verruchten Arbeitswilligen terrorisiert würden." Demgegenüber erwies der Abgeordnete mit höchst treffend gewählten Tatsachen und Beispielen den furchtbaren, von den Gewerkschaftlern ausgeübten Terrorismus über die Nichtorganisierten und Arbeitswilligen. Schließlich wendete sich der Redner gegen den Ausspruch des Staatssekretärs, es gebe Leute, die die Freude zur Sozialpolitik nur auf den Lippen, aber nicht im Herzen trügen. Der Abgeordnete sprach die Ueberzeugung aus, daß diese Charakteristik auf keine der Parteien im Hause passe. Er glaubte aber, daß es klug sein werde, den Mahnungen des Grafen von Posadowsky zu folgen und sich mit einzelnen Abschlagszahlungen zu begnügen, statt große Ziele auf einmal erreichen zu wollen. Er glaube nicht, daß die Arbeitskraft des Reiches und die Leistungs­ fähigkeit der Bevölkerung so groß sei, daß alle die Fragen, die jetzt

und in der nächsten Legislaturperiode zur Erörterung ständen, auf einmal erledigt werden können. Die Sozialdemokraten begleiteten die Rede

des

Abgeordneten

von Dirksen mit sehr häufigen stürmischen Unterbrechungen und Zurufen. Hierin lag wohl der beste Beweis, daß die Ausführungen

des Redners der Reichspartei sehr glücklich und wirkungsvoll und daher den Sozialdemokraten sehr unbequem gewesen waren. Der Redner der Wirtschaftlichen Vereinigung, der Abgeordnete Schack, erklärte, daß seine Partei nicht minder sehnsüchtig, wie das Zentrum, auf die Einbringung der in der Interpellation bezeichneten Vorlagen warte, und daß sie sich an Eifer bei der Förderung und Bearbeitung dieser Vorlagen von keiner Fraktion übertreffen lassen

werde.

Sie rverde alles das, was an grundsätzlichen Einzelheiten

141 darüber von dem Abgeordneten Trimborn ausgesührt worden sei, auch das, was der Abgeordnete Hieb er in dieser Beziehung gesagt habe, Wort für Wort unterschreiben können. Des Redners weiteren Ausführungen, die sich hauptsächlich auf dem Gebiete der Mittelstands­ politik bewegten, können hier übergangen werden. Hervorzuheben ist nur, daß er neben den Arbeitskammern noch die Errichtung von „Angestelltenkammern" und „Handlungsgehilfenkammern" für notwendig erachtet. Indem der Redner schließlich die Ansicht vertrat, daß alle Fraktionen des Hauses durch die Neuwahlen in viel höherem Maße mit sozial denkenden und sozialpolitisch geschulten Elementen durchsetzt seien, legte er dem Reichstage ans Herz, eine besondere ständige Kommission für sozialpolitische Angelegenheiten

zu errichten. Die nun folgende Rede des Polen und Sozialdemokraten Korfanty enthielt in der Hauptsache Verunglimpfungen und Herab­ setzungen der preußischen Regierung und des preußischen Hauses der

Abgeordneten bezüglich der Tätigkeit beider auf sozialpolitischem Ge­ biete. Abgesehen von der Forderung, daß die Beschäftigung von Arbeiterinnen auf den oberschlesischen Berg- und Hüttenwerken gänzlich verboten werden müßte, waren seine Ausführungen zur Sache un­ wesentlich. Der Abgeordnete Giesberts, Mitglied des Zentrums und Führer der christlichen Gewerkschaften, stellte zunächst als Ergebnis der zweitägigen Verhandlungen fest, daß die von seiner Partei eingebrachte

Interpellation notwendig gewesen sei, und daß alle Parteien ein offenes, freies Bekenntnis zu den fortgeschrittenen Sozialreformen ab­ gegeben hätten. Der Redner bezeichnete sodann als eine weitere er­ freuliche Tatsache, „daß im Hause hier keine einzige Stimme laut ge­ worden ist, die jene Richtung unterstützt hätte, die, wie der Herr Staatssekretär sie bezeichnet hat, sich zwar öffentlich für die Sozial­ politik ausspricht, aber dann heimlich ihren Einfluß geltend macht,

um sie möglichst zu hintertreiben". Es sollte aber nicht vergessen werden, daß jene Kreise, wenn sie auch im Reichstag nicht zu Wort gekommen seien, draußen im Lande doch einen außerordentlichen Einfluß hätten. „Die verschiedenen Richtungen draußen, die wir als Scharfmacherrichtungen bezeichnen, und die ihre Vertretungen meist im Centralverband Deutscher Industrieller und in der Arbeitgeber­ zeitung haben, können aus dieser zweitägigen Besprechung das eine

entnehmen, daß sie in Deutschland, soweit die Volksvertretung in Be­ tracht kommt, vollständig isoliert dastehen, und daß hier kein Boden vorhanden ist für Zuchthausgesetze und scharfmacherische Pläne."

142 Den Mitgliedern des Centralverbandes ist es wohl bekannt, daß alle Bemerkungen dieser Art, von welcher Stelle sie auch ausgehen mögen, in der Hauptsache gegen den Centraloerband und die zu seiner Leitung berufenen Männer abzielen, denn oft genug ist das auch öffentlich ausgesprochen worden. Wenn von „Scharfmachern"

gesprochen wird, so geschieht es selten, ohne damit das eine oder an­ dere Mitglied des Centralverbandes in Verbindung zu bringen. Wer jedoch die Tätigkeit des Centralverbandes auf sozialpolitischem Gebiet

nur einigermaßen kennen gelernt hat, wer besonders die ernsten, um­ fassenden und langjährigen Arbeiten verfolgt hat, die der Central­ verband zur Förderung des Arbeiterversicherungswesens geleistet hat, wer beispielsweise sich daran erinnert, daß die so überaus segensreich wirkende Unfallversicherung ohne die werktätige Hilfe und Mitwirkung des Centralverbandes nicht so schnell, wie es in der Tat geschehen ist, hätte in Wirksamkeit gesetzt werden können, der wird nicht sagen dürfen, daß der Centralverband zu den Kreisen zu rechnen sei, die der Herr Staatssekretär als solche bezeichnet hatte, die Freude an der Sozialpolitik nur heucheln. Es wäre wohl besser gewesen, wenn der Herr Staatssekretär, der es für notwendig erachtete, solche Beschuldigung auszusprechen, deutlicher zu erkennen gegeben hätte, auf. welche Kreise sich seine Worte bezögen. Dann würde der Böswilligkeit, die, wie in dem vorliegenden Falle, schnell bei der Hand war Verdächtigung und Verunglimpfung weiter zu tragen, nicht ein so weiter Spielraum eingeräumt gewesen sein. Von dem Ab­ geordneten Giesberts, dem die Christlichkeit nur den Deckmantel für seine, der Sozialdemokratie und deren Streben sehr nahestehende Ge­ sinnung bietet, kann freilich nicht envartet werden, daß er eine Ver­ einigung von Arbeitgebern und Unternehmern, wie der Centralverband

Deutscher Industrieller sie bildet, in gerechter Weise würdigt. Der Centralverband darf sich nicht beklagen, angesichts der Tatsache, daß

der Abgeordnete es sogar für angebracht erachtet hatte, in Zweifel zu ziehen, ob die Abgeordneten, die bei Besprechung der Interpellation zu Worte gekommen waren, bezw. die Parteien, in deren Namen sie ihre Erklärungen abgegeben hatten, ihr Wort bezüglich der vor­ geschrittenen Sozialpolitik halten würden. druck,

Der Abgeordnete gab dann seiner Befriedigung darüber Aus­ daß die neue Mehrheit so einmütig willens sei, „sich nicht nur

mit Sozialpolitik zu beschäftigen, sondern zu versuchen, sogar dem Zentrum den Rang abzulaufen". Ganz besonders beglückwünschte er

die nationalliberale Partei wegen des offenen Bekenntnisses, das sie zur Sozialpolitik abgelegt habe. Das hinderte den Abgeordneten

143 Giesberts

jedoch

nicht,

auch

seinerseits

zu behaupten,

daß

die

Sozialpolitik im Deutschen Reichstage bisher nur von dem Zentrum gemacht worden sei. Das lasse sich das Zentrum nicht abstreiten und wenn „die Herren" auf sozialpolitischem Gebiete Erfolge haben sollten, dann würden sie solche nur infolge der Vorarbeiten haben, die das

Zentrum seit 25 Jahren zu leisten bestrebt gewesen sei. Giesberts verwies darauf, daß der Abgeordnete Hieber die Förderung der nationalen Arbeiterbewegung und die Ausschaltung der

Bewegung gefordert habe, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehe. Sehr bezeichnend sagt Giesberts, daß er dem Worte „national" vorläufig noch das Wort „christlich" voranstelle. Und nun stellte er sich überhaupt auf den christlichen Boden und behauptete von ihm aus, daß „die Arbeiter von der Zentrumspartei", d. h. die unter seiner Führung stehenden christlich-sozialen Gewerkschaften, seit Jahrzehnten den Kampf gegen die Sozialdemokratie und für das Christentum geführt hätten. Das zu hören, wird höchst befremdlich für die Arbeitgeber, be­ sonders für diejenigen in den westlichen Kohlenrevieren sein. Dort wird noch nicht vergessen sein, wie die „Christlichen" Schulter an Schulter mit den unchristlichen Sozialdemokraten den unter Kontraklbruch vom Zaune gebrochenen großen Ausstand der Kohlenarbeiter inszeniert haben. Widerspruch erhob Giesberts ferner gegen die Rechtfertigung der sogenannten gelben Gewerkschaften seitens des Abgeordneten von Dirksen. Der deutschen Arbeiterbevölkerung könne kein schlimmerer Dienst geleistet werden, als wenn nach dem Muster Frankreichs solche gelben Gewerkschaften gebildet würden. Er be­ zeichnete sie als Organisationen, „in denen die Arbeiter nicht selbst­ ständig und frei entscheiden, sondern in denen sie lediglich unter der

Botmäßigkeit der Arbeitgeber stehen". Mit solchen Palliatiomitteln werde der Emanzipationskampf der Arbeiter und ihr berechtigtes Streben nach Freiheit und Gleichberechtigung nicht aufgehalten werden. „Stellen Sie sich doch ehrlich auf den Boden der Gleichberechtigung

der Arbeiter,"

so rief er aus,

„und erkennen Sie freiwillig ihre

Organisation an." Diese Ausführungen fanden mehrfache Zustimmung und Beifall seitens des Zentrums und der Sozialdemokraten. Die anderen Parteien werden den Widerspruch wohl empfunden haben, in dem sich der Abgeordnete Giesberts bewegte, als er sich rühmte, seit Jahrzehnten die Sozialdemokratie bekämpft zu haben, und gleichzeitig für die An­ erkennung der sozialdemokratischen Gewerkschaften und für die wirt­ schaftliche Gleichberechtigung der sozialdemokratischen Arbeiter plädierte.

144 Recht interessant waren die

richteten Ausführungen.

gegen den Abgeordneten Hue ge­

Dieser hatte, wie erinnerlich sein wird, seine

Rede mit einem Hymnus auf die Einigkeit aller Arbeiterorganisationen geschlossen. Giesberts wies das Vorhandensein einer sehr starken Strömung in der Sozialdemokratie nach, die „das Tischtuch zwischen der christlichen und sozialdemokratischen Organisation zerschneidet und offen die Bekämpfung und Vernichtung der Organisation der christlichen Arbeiter ankündigt". Diese Bestrebungen seien besonders im Ruhr­ revier freudig von den Genossen begrüßt worden. Dort sei der Gewerkverein der christlichen Bergleute so verhaßt,, daß man ihm gern

das „schmerzstillende Halsband" umlegen möchte. Erst müßten die christlichen Organisationen von der Sozialdemokratie als selbständige und berechtigte Organisationen anerkannt sein, dann erst könne von einem einmütigen und geschlossenen Angriff gegen die Scharfmacher die Rede sein. Das Zusammengehen mit dem sozialdemokratischen alten Berg­ arbeiterverein scheint dem Abgeordneten Giesberts gänzlich aus dem Gedächtnis entschwunden zu sein. Offenbar schien es dem Redner nicht notwendig zu sein, seine Ausführungen im Reichstage wenigstens einigermaßen in Uebereinstimmung zu halten mit den Handlungen der den erwähnten Ausstand der Kohlenarbeiter leitenden Siebener­ kommission, der er doch nicht sehr ferne stand.

Zur Sache übergehend erklärte Giesberts, daß die christlich­ nationalen Arbeiter bereit seien, alle Bestrebungen zu unterstützen, die

geeignet seien, das Handwerk zu heben und zu halten, also auch den kleinen Befähigungsnachweis. Auch die Maßregeln gegen das Aus­ verkaufswesen fanden die Zustimmung des Redners, da die Arbeiter­

frauen bei den Schwindelausverkäufen am allermeisten „beschummelt" würden. Hieran schloß sich die Versicherung, daß die christlich-nationalen Arbeiter an dem Kampf ffür die Erhaltung eines kaufkräftigen und leistungsfähigen Mittelstandes, der sich zwischen Großkapital und Proletariat einschiebt, regen Anteil nehmen würden. Dabei setzte der Redner voraus, daß der Mittelstand den Arbeitern helfen werde, gegen

die Auswüchse des Kapitals zu kämpfen, ebenso wie die Arbeiter ihm, dem Mittelstand, in dem Kampfe gegen die Umklammerung durch das Großkapital helfen würden.

Bezüglich der Differenzen und Gegensätze,

die sich zwischen den Arbeitern und dem Mittelstand, soweit letzterer als Arbeitgeber in Frage kommt, herausgebildet hätten, hoffte er, daß es den Christlich-Nationalen gelingen werde, sie allmählich zu beseitigen. Hier hatte der Redner offenbar die überaus zahlreichen Ausstände im

145 Auge, die ganz besonders dem Handwerk so schwere Wunden schlagen. Daß diese Hoffnung nicht falsch sei, so meinte Giesberts, beweise der Umstand, daß die Tarifverträge wesentlich in den kleineren

Betrieben des Mittelstandes abgeschlossen worden seien. Diese Schlußfolgerung des Abgeordneten Giesberts ist durchaus irrtümlich. Die im Handwerk so zahlreich geschlossenen Tarifverträge

sind durchaus keine Zeichen friedlicher Annäherung zwischen den Arbeit­ gebern im Kleingewerbe und ihren Arbeitern, sondern nur die Folge der Schwäche des Handwerks, wohl auch der Uneinigkeit dieser Arbeit­ geber, den viel mächtigeren Organisationen der Arbeiter gegenüber. Wird doch von den Arbeitern selbst der Tarifvertrag nur als Waffen­ stillstand vor der Wiederaufnahme und Fortführung des Kampfes

bezeichnet. Der Redner ging dann zu dem Gesetzentwurf, betreffend die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, über; er erklärte ihn für unbrauchbar. Gegen die Zurückstellung dieser Sache zu Gunsten der vorhergehenden Erledigung eines Gesetzes über die Arbeitskammern äußerte er Bedenken, wollte sich aber in der Hoffnung zufrieden geben, daß die Zwischenzeit zur Ausarbeitung einer besseren Vorlage benutzt werden würde. Der Abgeordnete Giesberts hielt es dann für erforderlich, auf eine von ihm im vergangenen Winter gemachte Aeußerung zurückzugreifen. Im Hinblick auf den Ausschluß der landwirtschaftlichen Arbeiter vom Koalitionsrecht habe er gesagt, „das käme schließlich soweit, daß man sich bezüglich dieses Zustandes draußen im Lande schämen müsse, sich als Preuße zu bekennen". Diese Aeußerung sei vielfach als Mangel an vaterländischer Gesinnung und an Patriotismus ausgelegt worden.

Diesem Vorwurf gegenüber glaube er auf die von den „christlichen Arbeitern" Tag für Tag bewiesene „vaterländische christliche Gesinnung" verweisen zu sollen. Ob sich dieser sehr geschickt gewählte Ausdruck vollständig mit Patriotismus deckt, erscheint recht fraglich. Im übrigen bemerkte Giesberts, daß sein Ausspruch lediglich der Ausdruck der Mißstimmung über die in Preußen herrschenden Zustände gewesen sei.

In dieser Beziehung habe sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Zum Beweise, „daß die preußischen Behörden sich durchaus noch nicht mit den Rechten

der Organisation

und Koalition

ausgesöhnt

haben",

verlas Giesberts den folgenden, vor wenigen Tagen von der König­ lichen Berginspektion Vienenburg erlassenen Anschlag. Er lautet: „Die Königliche Berginspektion rät der Belegschaft dringend ab, irgend einem Bergarbeiterverbande beizutreten, da es ihr sehr fraglich erscheint, ob diejenigen, die Mitglieder eines Verbandes geworden sind, für die zu leistenden Beiträge, die im Laufe der Jahre eine stattliche Höhe Heft 106.

10

146 erreichen, jemals eine entsprechende Gegenleistung seitens des Verbandes erhalten werden.

Andererseits steht zu befürchten, daß das gute Ver­

hältnis, welches bisher zwischen Bergverwaltung und Belegschaft be­ standen hat, durch die Einmischung fremder Elemente eine Trübung erfahren kann, und die Bergwerksverwaltung vielleicht weniger geneigt ist, den Wünschen der Belegschaft entgegenzukommen. Haben Mitglieder

der Belegschaft irgend welche Wünsche an die Bergwerksverwaltung, so ist der Arbeiterausschuß das geeignete Organ, derartige Wünsche bei der Bergverwaltung geltend zu machen. Mit außerhalb der Beleg­ schaft stehenden Personen, Verbänden usw. wird sich die Bergwerks­ verwaltung über ihr Verhältnis zur Belegschaft keinesialls in Ver­ handlungen einlassen." Der Abgeordnete bemerkte nach Verlesung dieses Anschlages sehr richtig, „die Anschauung, die in diesem letzten Satz zum Ausdruck kommt, ist ganz genau dieselbe, wie sie seinerzeit die Scharfmacher des Ruhrgebietes der Siebenerkommission gegenüber geltend gemacht haben;

das ist derselbe Geist, der alle Verhandlungen mit den Arbeitern ab­ lehnt, auch wenn die Organisationen den festen Willen zum Frieden haben." Was die Berginspektion Vienenburg für richtig befunden hat, ist schon bisher, nicht nur von bergbaulichen Vereinen, sondern auch von den meisten und hervorragendsten Mitgliedern des Central­ verbandes befolgt worden und wird auch in Zukunft als maßgebend erachtet werden, ganz besonders aber im Bergbau, für den die Bildung von Arbeiter-Ausschüssen obligatorisch gemacht worden ist. Denn diese Organe, für die von den Gesetzgebern eine so große Vorliebe be­ wiesen worden ist, würden ihre Bedeutung vollständig verlieren, sie würden ganz an die Wand gedrückt werden,

wenn die Arbeitgeber

über ihren Kopf weg mit den Organisationen verhandeln und Ab­ machungen treffen wollten. Diese Auffassung wird wohl auch für die Königliche Berginspektion Vienenburg maßgebend gewesen sein, als

sie ihren durchaus korrekten Anschlag erließ. Die Verhältnisse auf dem Gebiete des Vereins- und Versamm­ lungsrechts bezeichnete der Abgeordnete Giesberts als unhaltbar und als solche, die ein ungeheures Maß von Erbitterung in der Arbeiterschaft erzeugen. Als Beispiel für die unhaltbaren Zustände führte er unter anderem an, daß „wir" im verflossenen Herbst einen Prozeß in Metz gehabt hätten, der auf den Notizen Les die betreffende

Versammlung überwachenden Polizeikommissars fußte. Er beklagte sich auch, daß über Vorgänge in Arbeiterversammlungen, die der polizeilichen Ueberwachung unterlägen, am anderen Tag der Unter-

147 nehmer vollkommen informiert sei.

Giesberis behauptete schlankweg,

jedoch ohne irgend welche Btweise dafür zu erbringen, daß diese In­

formationen von dem übrrwachenden Polizeibeamten gegeben würden. Der erfahrene Geschäftsführer hätte doch wohl wissen sollen, daß die

Arbeitgeber des Polizeibeamten zu derartigen Informationen nicht be­ dürfen; ihnen steht ein viel einfacherer Weg zur Verfügung. Denn, wenn der Arbeitgeber überhaupt Interesse daran hat, über die Vor­ gänge in einer Arbeitcrversammlung unterrichtet zu sein, so steht cS ihm frei, einen treu zu ihm haltenden Arbeiter — an solchen fehlt es erfreulicherweise in keinem Betriebe — in die Versammlung zu schicken und sich durch diesen informieren zu lassen. Diese Erklärung für die Tatsache, daß der Unternehmer meistens Kenntnis von den Vorgängen in den Versammlungen seiner Arbeiter habe, liegt wohl viel näher,

aus welcher der Abgeordnete Giesberts seine Klagen über Mißstände int Vereins- und Versammlungsrecht herleitete. D er Abgeordnete sprach sodann seine Befriedigung darüber aus, daß das Gesetz über die Arbeitskammern „nun mit ganz besonderer Wärme forciert werden solle". Er tadelte jedoch, daß vorher nicht Vertreter der Arbeiterorganisationen gehört worden seien, denn „wenn eine Vorlage so aus der Pistole geschossen an den Reichstag kommt und kein Mensch weiß wie vorher die Sache gelaufen ist, dann kann die Regierung sich nicht wundern, wenn falsche Auffassungen Platz als diejenige,

greifen". Der Redner wandte sich nochmals gegen den Abgeordneten Hue, der den Arbeiterkammern den Vorzug gegeben hatte. Er glaubte feststellen zu können, daß diese Ansicht mit den Wünschen „der extremsten Scharfmacher in Deutschland übereinstimme" und erklärte, daß er und seine Partei unter allen Umständen an dem paritätischen Charakter

der Arbeitskammer festhaltcn würden. Im Wettbewerb mit dem Abgeordneten Hue, der mit großer Befriedigung über die Zunahme der Mitgliederzahl der sozialdemo­ kratischen Gewerkschaften und über deren Leistungen berichtet hatte, teilte der Abgeordnete Giesberts mit, „damit es auch den Akten des Reichstags einverleibt werde", daß sich der Mitgliederbestand der christlichen Gewerkschaften seit dem Jahre 1902 gehoben habe von

179 000 auf 335 000. Davon befanden sich im Gesamtverband der christli chen Gewerkschaften allein 260 000. Die Jahreseinnahme habe sich in dem gleichen Zeitraum von

183 684 M.

auf 3 400 000 M.

gehoben. Hinsichtlich des zehnstündigen Maximalarbeitstages für Arbeite­ rinnen freute GriesbertS sich ganz besonders über die nunmehr io*

148 auch erfolgte Zustimmung der Reichspartei. Damit sei der ganze Reichstag einig. Da auch der preußische Handelsminister sein Einver­ ständnis erklärt habe, so erachte er die Annahme des Gesetzes für gesichert. Er hoffe aber, daß man bei den Arbeiterinnen nicht stehen bleiben,

sondern den zehnstündigen Maximalarbeitstag auch für männliche Arbeiter durch Gesetz einführen werde. Denn „wenn die staatlichen Betriebe schon heute dazu übergehen, den Zehnstundentag einzuführen, und wenn alle halbwegs anständigen Industriellen den Zehnstundentag einführen, dann solle man gegen diejenigen, die ohne ersichtlichen Grund noch immer dieser allgemeinen sozialpolitischen Regelung sich nicht

fügen, mit der Gesetzgebung vorgehen". Nach dem „Christlich-Sozialen" ergriff der Sozialdemokrat Hue

noch einmal das Wort, um zunächst wiederholt zu versichern, daß die Sozialdemokraten die besten Freunde des Handwerks und des Mittel­ standes seien. Dann suchte er die von seinen Genossen so bitter empfundenen Darstellungen des Abgeordneten von Dirksen über die Sozialdemokratie und die Zustände in der Partei zu entkräften. Dem Vorwurf der Erpressung von Arbeitergroschen glaubte er mit dem Hinweis begegnen zu können, daß die Angestellten der Unternehmer­ verbände viel besser bezahlt würden, als die Beamten der Gewerk­ schaften. Hue wandte sich dann gegen die Beschuldigung, daß die

Ausgaben der Gewerkschaften für humanitäre Zwecke verhältnismäßig gering seien, gegenüber den viel größeren Aufwendungen für Streiks. Er behauptete in dieser Beziehung, daß die Führer der Gewerkschaften es vorzögen, auf friedlichem Wege Erfolge für die Arbeiter zu erzielen, und daß es ihnen höchst unangenehm sei, in Streiks verwickelt zu werden. Die Dreistigkeit dieser Behauptung muß Staunen erregen gegen­

über der allgemein bekannten Tatsache, daß die Kämpfe gegen die Arbeitgeber von der Sozialdemokratie gewissermaßen als Uebungen, als Manöver ihrer Truppen betrachtet und daher sehr häufig mut­ willig aus nichtssagenden Gründen und, wie hier bereits hervor­ gehoben ist, in den meisten Fällen nicht zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, sondern zur Durchkämpfung von Machtfragen von den Führern angestiftet werden. Die großen Ausgaben für Streiks wollte Hue den Arbeitgebern wegen der von ihnen vorgenommenen Aussperrungen zur Last legen.

Er stellte sich an, als wenn es ihm vollständig unbekannt sei, daß Aus­ sperrungen die notwendige Folge der neueren Taktik der Gewerkschaften seien, die durch den Ausstand der Arbeiter einer kleineren Abteilung des Werkes, deren Arbeit für den Fortgang des ganzen Betriebes erforder­

lich ist, das ganze Werk zum Stillstand zu bringen suchen. In dieser

149

Weise werden die Aussperrungen seitens der Arbeitgeber von den Führern der Gewerkschaften mit kühler Berechnung geradezu provoziert,

ohne Rücksicht auf die Not und auf daS Elend, in das viele Arbeiter

mit ihren Familien gestürzt werden. Hue führte an, daß im Jahre 1900 in Deutschland 35 Aus­ sperrungen mit 9085 Arbeitern von den Unternehmern vorgenommen worden seien. Im Jahre 1903 seien es 70 Aussperrungen mit 35 000 Teilnehmern und 1905 254 Aussperrungen mit 118460 Teil­

nehmern gewesen. Diese Zahlen beiveisen lediglich, daß die von den Gewerkschaften veranstalteten Kämpfe gegen die Arbeitgeber immer häufiger und immer schärfer werden. Diesen bekannten Tatsachen gegenüber hatte der Abgeordnete Hue den Mut, zu sagen: „so hat also die Aussperrungslust in unerhörtem Maße viel stärker als die

Streiklust an Ausdehnung gewonnen. So lange die Herren Unter­ nehmer sich auf den Herrenstandpunkt ä la Bueck, Tille, Reiswitz und Konsorten stellen, werden wir allerdings aus diesen großen Kämpfen vorerst nicht herauskommen." Im Anschluß hieran behauptete Hue, daß die Bergarbeiter an dem großen Streik des Jahres 1905 durchaus schuldlos seien. Die Schuld treffe lediglich den Bergbaulichen Verein, denn wenn dieser

sich nicht geweigert hätte, mit der Siebenerkommission, den Vertretern der Organisationen, zu unterhandeln, „dann wäre es zu diesem großen Ausstande nicht gekommen". Der Abgeordnete Hue scheint ein sehr schwaches Gedächtnis zu haben; er hat vergessen, daß der Streik ausgebrochen war und daß die Belegschaften mehrerer Zechen, ohne irgend welche Forderungen an ihre Arbeitgeber gestellt zu haben, in

den Ausstand

getreten waren,

noch bevor die

Siebenerkommission

gewählt worden war und bevor sie sich an den Bergbaulichen Verein gewandt hatte. In einer Beziehung aber hatte Hue vollkommen recht. Er ver­ wies darauf, daß Giesberts, der Vertreter der Christlich-Sozialen, die „gelben Gewerkschaften" als „eine Unmoral erster Güte" bezeichnet

hätte. daß,

„Damit",

so sagte Hue, „ist wieder einmal bewiesen worden,

wenn die Arbeiterfragen zur Entscheidung kommen, Ihre ganze

künstliche Trennung der Arbeiter in „christlich-nationale", „christlich­ soziale", in „Hirsch-Dunckersche Verbände" usw. nichts nutzt. In Be­

zug auf das Urteil über die „gelben Gewerkschaften" stehe ich voll­ kommen auf dem Standpunkte, den Kollege Giesberts eingenommen

hat.

Ich stehe, was ich schon Sonnabend sagte, auch vollständig auf

dem Standpunkt, den er in Bezug auf die Notwendigkeit des Zu­ sammengehens eingenommen hat. Ich habe schon am Sonnabend

150 darauf hingewiesen und werde alles daran setzen, was die Einmütigkeit des Zusammengehens der Arbeiter praktisch herbeiführt." In diesen Ausführungen liegt die Bestätigung der im Centralverbande mehrfach vertretenen Anschauung, daß die „ChristlichSozialen" und die „Christlich-Nationalen" sich in den Kämpfen gegen

die Arbeitgeber und in Betätigung des Klassenhasses und Klassen­ kampfes von der Sozialdemokratie nicht unterscheiden. Aus der letzten Rede in dieser zweitägigen Verhandlung, der des konservativen Abgeordneten Pauli, ist nur heroorzuheben, daß er Fort­ schritten und Verbesserungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik nur zu­ stimmen könne, wenn der Mittelstand und das Handwerk von der Mehr­ belastung freigelassen werde. „Wir können," so sagte er, „demHandwerker­ stande, dem Mittelstände nicht mehr zumuten, daß sie eine erhöhte Belastung durch die sozialpolitische Gesetzgebung tragen sollen." Die Mehrkosten sollten „auf die breiteren Schultern des gesamten deutschen Volkes nach Maßgabe des Einkommens, oder wie Sie sonst meinen, verteilt werden". Nach dieser Rede wurde die Besprechung geschlossen. Als Er­ gebnis dieser zweitägigen Verhandlungen über die Sozialpolitik kann sestgestellt werden, daß die Parteien aufs äußerste bemüht gewesen waren, nicht nur den Beweis zu führen, daß sie an den bisherigen

Ergebnissen der Sozialpolitik eifrig mitgearbeitet hätten, sondern auch ihre Bereitwilligkeit zur weiteren Förderung der im Interesse der Arbeiter zu ergreifenden sozialpolitischen Maßnahmen im hellsten Lichte erscheinen zu lassen. Nur die konservativen Parteien hatten, neben der Versicherung ihres bestens Willens, doch eine gewisse Reserve bewahrt,

indem sie nur die Unterstützung vernünftiger Maßnahmen zuzesagt und vor jeder Ueberstürzung gewarnt hatten. Die Bereitwilligkeit zur äußersten Förderung der Sozialpoliti war auch von dem Staatssekretär des Innern im Namen der Regierung ausgesprochen worden, freilich, dem Uebereifer der Mehrzahl der Parteien gegenüber, mit der Einschränkung, daß bei allen diesen Fragen auf sozialpolitischem wie auf allgemein-politischem Gebiete, Voraussetzung sei, daß die Forderungen sich in den wirtschaftlich und

politisch möglichen Grenzen halten müßten.

Der Staatssekretär hat

ja auch wohl im Hinblick auf den „Lawinensturz" von Anträgen im

Interesse des Gemeinwohls vor dem Erlaß zu vieler Gesetze gewarnt. Wie gewöhnlich bei Verhandlungen über sozialpolitische Verhältnisse im Deutschen Reichstage, so hatte es auch diesmal an schmählichen

und gehässigen Angriffen auf die Arbeitgeber, das Unternehmertum und das Großkapital nicht gefehlt. Durchaus einseitige Hervorhebung

151 und Vertretung

der Interessen der Arbeiter hatte auch diesmal den

Grundton der Verhandlungen gebildet. Nur einer der Redner, der Abgeordnete von Dirksen, hatte, als Vertreter der Reichspartei,

es für nötig erachtet und den Mut bewiesen,

wenn auch nur flüchtig

und fast schüchtern daran zu erinnern, daß doch auch Interessen der Arbeitgeber vorhanden seien. An die Mahnung des nationalliberalen Dr. Hieber anknüpfend, man solle nicht in den Fehler verfallen, die Gefahr der Sozialdemokratie zu unterschätzen;

man solle nicht ein

laisser faire, laisser passer obwalten lassen, sondern fleißig arbeiten, hatte der Abgeordnete von Dirksen gesagt, „meine Herren, das ist ein Standpunkt, glaube ich, den das ganze Haus teilt; aber wir

möchten dabei doch die Kautelen haben, daß mit einer gewissen moderierten Geschwindigkeit vorgegangen würde; daß die Gesetzgebung auch im Einklang stehe mit den Interessen der Arbeitgeber, die doch schließlich auch Menschen sind und deren Existenz für die Arbeiter doch auch recht wichtig ist". Damit war der zweite Akt der sozialpolitischen Verhandlungen im neuen Deutschen Reichstag beendet. Gewissermaßen als Zwischenspiel — um bei dem Vergleiche zu bleiben — erschien vor dem Beginn des letzten großen dritten Akts die Verhandlung über die Interpellation der Abgeordneten Freiherr Heyl zu Herrnsheim und Dr. Stresemann in der 18. Sitzung

vom 14. März, betreffend die Verhältnisse der Privatbeamten. Die Erörterungen griffen mehrmals auf das Gebiet der allgemeinen Sozial­ politik über. Das war nicht anders zu erwarten. Neues wurde

dabei nicht zu Tage gefördert. Der, die Interpellation begründende Abgeordnete Freiherr Heyl zu Herrnsheim begann damit, im Auftrage seiner nationalliberalen Freunde zu erklären, daß sie die

verbündeten Regierungen nicht frei von Schuld sprechen könnten in Bezug auf die Vorgänge, die sich bei Beratung des Etats und bei der Einbringung von Anträgen abspielten, und zwar deshalb nicht,

weil sie der Ansicht seien, daß, was die sozialpolitische Gesetzgebung anbelange, seitens der verbündeten Regierungen ein klares System

der Behandlung der betr. Gesetze fehle. In den letzten 10 Jahren der Beschäftigung mit Sozialpolitik hätten von den Abgeordneten immer dieselben Anträge gestellt und deswegen auch dieselben Reden gehalten werden müssen, beispielsweise mit Bezug auf die Heimarbeit und die Arbeitskammern, den Schutz der Arbeiterinnen und jugend­ lichen Arbeiter in Fabriken. Die Vertreter der Negierung hätten sich aber immer sehr zurückhaltend benommen und dem Reichstag niemals ein klares Bild von ihren Absichten gegeben. Seine, die national-

152 liberale Fraktion, habe ihn beauftragt, nunmehr dem Wunsche Aus­ druck zu geben, „die verbündeten Regierungen möchten doch geneigt sein, ein Arbeitsprogramm mit dein Reichstage zu vereinbaren über

die Hauptpunkte, die bei der Sozialpolitik jetzt in Betracht kämen." Sodann erklärte der Redner, zu seinem eigentlichen Thema über­ gehend, daß seine Partei zu den Hauptpunkten die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die Privatbeamten zähle. Nach eingehenden, sachlichen Darlegungen schloß der Redner mit dem Hinweis auf die Ansicht der Mehrheit des Hauses, die von der Ueberzeugung durch­ drungen sei, daß die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die Privatbeamten durchgeführt werden müsse. Die Ansicht der Mehrheit, der übergroßen Mehrheit des Reichs­

tages, zu der von ihm vertretenen Frage hatte der Abgeordnete Freiherr Heyl zu Herrnsheim richtig dargestellt. Die Erklärungen aller Parteien lauteten durchaus zustimmend. Dabei hatte freilich wieder das Gezänk darüber, welche Partei sich zuerst der Privat­ angestellten angenommen habe, einen breiten Raum eingenommen. Der Staatssekretär des Innern konnte sich der Verpflichtung nicht entziehen, an der Hand der statistischen Erhebungen und der das Ergebnis dieser zusammenfassenden Denkschrift, die Schwierigkeiten und Bedenken hervorzuheben, die bei der verlangten Fürsorge für die Privatangestellten zu überwinden seien. Er schloß seine Rede aber mit folgendem für die Sache selbst freundlich und hoffnungsvoll lautendem Satze: „Also, meine Herren, über die wirtschaftliche Not­ wendigkeit, über die sittliche Berechtigung einer solchen Versicherung

kann, glaube ich, kein Zweifel unter den beteiligten Kreisen sein, und ich habe bei den früheren Verhandlungen von keiner Seite des Hohen

Hauses gehört,

daß darüber ein Zweifel besteht.

Im Gegenteil, ich

glaube, das ganze Hohe Haus war in der Auffassung, daß eine solche Vorsorge getroffen werden müsse, einig. Zweifelhaft kann man nur

über die Wege sein, und über die Frage, wie die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen sind, und diese Frage kann erst Gegenstand der Erwägungen sowohl der verbündeten Regierungen wie des Hohen Hauses und der Beteiligten selbst sein, wenn sie von der Ihnen noch heute zugehenden Denkschrift Kenntnis genommen haben."

Die sozialpolitischen Hauptverhandlungen vollzogen sich bei der zweiten Beratung des Reichshaushalt-Etats, Reichsamt des Innern, die Besoldung des Staatssekretärs und des Unter-Staatssekretärs. Die Verhandlungen über diesen Titel, bei denen gewöhnlich die innere Politik im allgemeinen und die Sozialpolitik im ganz besonderen

153

erörtert wurde, zogen sich Jahr für Jahr schier unendlich lange dahin, denn bei der chronischen Beschlußunfähigkeit des Hauses gaben sie den Sozialdemokraten die erwünschte Gelegenheit ihre Brand- und Hetz­ reden unbegrenzt an Zahl und Dauer zum Fenster hinaus zu halten. In unerhörter Weise war es dahin gekommen, daß die Verhandlungen zu diesem Titel 1903 13, 1905 15 und im Jahre 1906 wieder

13 Sitzungen in Anspruch genommen hatten. Daß der Redefluß dabei in unendlichen, höchst ermüdenden Wiederholungen verlies, war selbst­

verständlich. Die Oede im Reichstag bei diesen Verhandlungen war zwar an sich der Bedeutung und Würde dieser hohen parlamentarischen Körperschaft nicht entsprechend, aber doch sehr erklärlich und entschuldbar. So schlimm, wie in den Vorjahren, konnte es in diesem Jahre nicht werden, da die Gewährung von Diäten den Parteiführern die Möglichkeit gab, für eine bessere Präsenz in den Sitzungen zu sorgen und damit den Schluß der Verhandlungen herbeizuführen. Dieser Vorgang hatte sich bereits bei den Verhandlungen über die Inter­ pellation Trimborn vollzogen. Sie waren, abgehend von der ge­ bräuchlichen Behandlung solcher Anfragen, über einen zweiten Tag aus­ gedehnt worden, dann aber, gegen den Widerspruch der Sozial­ demokraten, durch Beschluß der Mehrheit geschlossen worden. Immerhin nahmen die Verhandlungen zu dem vorerwähnten Titel noch sechs Sitzungen vom 10.—16. April in Anspruch und auch in diesem Jahre bildete die Sozialpolitik ihren hauptsächlichsten Inhalt.

Nach den umfangreichen, bei der ersten Lesung des Etats und gelegentlich der Interpellation Trimborn, über sozialpolitische Fragen bereits geführten Erörterungen, konnte es sich in dem letzten großen Akte in der Hauptsache nur um Wiederholungen handeln. Um die Ermüdung, die diese Verhandlung regelmäßig im Reichstage hervorruft, nicht auch auf die Mitglieder des Central­ verbandes zu übertragen, soll hier darauf verzichtet werden, sie ein­

gehend zu behandeln, wie es mit Bezug auf die vorhergegangenen geschehen ist. Nur ein allgemeines Bild mit Hervorhebung der wesentlich bemerkenswerteren Vorgänge soll hier gegeben werden.

Wie gewöhnlich

wurde die Verhandlung

eingeleitet mit einer­

großen Rede des Zentrumsabgcordneten Trimborn.

Er klagte über

die „totale sozialpolitische Unfruchtbarkeit des verflossenen Jahres in Verbindung mit der fast gleich großen Unfruchtbarkeit der Jahre 1904

und 1905". Seit mehreren Jahren herrsche auf dem Gebiet der Sozialpolitik nach der gesetzgeberischen Seite hin geradezu ein Stillstand.

Der Reichstag habe daran keine Schuld. Die beklagte Unfruchtbarkeit falle auch nicht dem Staatssekretär des Innern, Graf von Posa-

154

dowsky zur Last; das sei notorisch.

Die Schuld trügen allein die

verbündeten Regierungen, der Bundesrat und der Reichskanzler. Die allgemeinen Bekenntnisse zur Sozialpolitik in Thronreden, Botschaften, in gelegentlichen Ansprachen, in Reden im Reichstage von feiten des Bundesrats, des Reichskanzlers und „einer noch höheren Stelle", hätten nachgerade jeden Wert verloren. Auch das Gebiet der bundesrätlichen Verordnungen sei im Jahre 1906 wenig ergiebig gewesen. Es sei nur die Verordnung vom 23. März 1906 über die Sonntags­ ruhe in der Glasindustrie gekommen. Dieser seien freilich im Jahre 1907 zwei weitere Verordnungen gefolgt. Die Unzufriedenheit des Abgeordneten Trimborn ist zu ver­ stehen, wenn man die Liste der Wünsche und Forderungen überblickt, die der Abgeordnete vorlegte. In sehr bestimmter Form verlangte und forderte er von dem Staatssekretär über den Stand der Behandlung der einzelnen Fragen Auskunft zu geben, bezw. durch die tunlichst baldige Vorlage der betreffenden Gesetze sie zur endgültigen Erledigung zu bringen. In dieser Weise sich dabei auch auf die von dem Zentrum eingebrachten Anträge beziehend, zählte der Abgeordnete Trimborn die folgenden der Erledigung harrenden Punkte auf: 1. Das Vereins- und Versammlungsrecht. 2. Die Arbeitskammern. 3. Die Herabsetzung des Maximalarbeitstages für Frauen. 4. Den kleinen Befähigungsnachweis.

5. Die Regelung des Ausoerkaufswesens. 6. Die Regelung der Arbeiterversicherung in der Hausindustrie. 7. Die Zusammenfassung der verschiedenen Versicherungsarten.

8. Die Witwen- und Waisenversorgung. 9. Die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Landwirtschasisarbeiter und auf das Gesinde. 10. Die Unfallfürsorge für die freiwilligen Feuerwehren.

11. Die Arbeitslosenversicherung. 12. Die Einführung des lOstündigen Maximalarbeitstages in Fabriken und den diesen gleichgestellten Anlagen. 13. Darüber hinaus weitere Kürzung der Arbeitszeit für Frauen, die ein Hauswesen zu versorgen haben. 14. Weitere Reformen auf dem Gebiete der gewerblichen Sonntags­ ruhe, auch für Handlungsgehilfen in Comptoiren. 15. Einführung der Sonntagsruhe im'.Binnenschiffahrtsgewerbe. 16. Revision

der

bisherigen Ausnahmebestimmungen bezüglich

Sonntagsruhe. 17. Verbot der Sonntagsarbeit in den Glashütten.

der

155

18. Einführung eines sanitären Maximalarbeitstages für die Indu­ strien, welche sich mit der Verarbeitung von giftigen und explosiven Stoffen beschäftigen, für die Glasindustrie — die bisherigen Ver­ ordnungen für diese Industrie werden nicht für ausreichend er­ achtet — und für die Walz- und Hammerwerke. 19. Bauarbeiterschutz.

20. Anstellung von Beamten für die Baukontrolle in genügender Zahl, unter Hinzuziehung gewählter Arbeiter. 21. Ein Gesetz, betr. die Sicherung und weitere Ausgestaltung der Tarifgemeinschaften zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 22. Abgrenzung zwischen Fabrik und Handwerk. 23. Erlaß einheitlicher Bestimmungen über die Zuchthaus- und Ge­ fängnisarbeit. 24. Heranziehung der Fabrikbetriebe zu denjenigen Kosten, die den Handwerkerorganisationen für die gewerbsmäßige Ausbildung des Handwerks erwachsen. 25. Gesetz zur Sicherung der Forderungen der Bauhandwerker. 26. Erlaß einheitlicher Submissionsbedingungen für das deutsche Reichs­ gebiet. 27. Herausgabe eines Handwerkerblattes. 28. Die Anstellung von Handelsinspektoren auch für die Kontrolle des Ausverkaufswesens, der Wanderlager, der Wanderlagerversteige­

rungen und der Abzahlungsgeschäfte; ferner auch zur Ueberwachung des kaufmännischen Lehrlingswesens. 29. Pensions- und Invalidenversicherung für die Privatbeamten. 30. Gesetzlich eingerichtete Kammern auch für die Vertretung der wirt­ schaftlichen und sozialen Interessen der Privatbeamten. 31. Die rechtliche Gleichstellung der technischen mit den kaufmännischen

Angestellten. 32. Regelung der Verhältnisse der Angestellten bei den Rechtsanwälten, Notaren und Gerichtsvollziehern. 33. Beschäftigung des Reichstags mit der Wohnungsfrage.

34. Unterstützung des Instituts Deutschen Reichs.

für Sozialbibliographie seitens des

Das ist das sozialpolitische Programm nicht nur des Abgeord­ neten Trimborn und des Zentrums, sondern des ganzen Reichs­ tages; denn Widerspruch gegen einen dieser Punkte ist im Laufe der weiteren Verhandlungen von keiner Seite erhoben worden.

In einem kurzen Rückblick auf die sozialpolitischen Ereignisse des Berichtsjahres widmete der Abgeordnete Trimborn zunächst Worte der Anerkennung und des Dankes den drei um die Sache der Sozial-

156 Politik hervorragend

verdienten,

im verflossenen Jahr verstorbenen

Männern, dem Unterstaatssekretär von Rottenburg, den er an die Spitze stellte, dem Präsidenten des Reichs-Bersicherungsamts Boediker und dem Staatsminister von Bötticher. Sodann hob er den großen Mandatsverlust der Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen hervor,

aus dem sich für die anderen Parteien, und namentlich für die Re­ gierungen, die ernste Mahnung ergebe, nun erst recht eine energische Fortsetzung der Sozialpolitik in die Hand zu nehmen. „Wenn die verbündeten Regierungen — und damit schließe ich — nunmehr nicht ernst voranmachen mit sozialpolitischer Tätigkeit, dann handeln sie meiner Meinung nach geradezu un­

verantwortlich." Zu diesen Ausführungen bekannte sich ausdrücklich der nächste Redner, der Abgeordnete Bassermann, der Führer der National­ liberalen. Wegen seiner angeblich weitgehenden Sozialpolitik werde er „im bürgerlichen Lager" besonders von den „Hamburger Nach­ richten" kritisiert und angeseindet. Das lasse ihn kalt. „Ich bin den Weg, den ich für richtig erachte, trotz dieser Kritik weiter gegangen und werde es auch künftig so halten." Diese Versicherung wurde von den Nationalliberalen mit Bravo! quittiert. In das Klagelied über die Unfruchtbarkeit der sozialpolitischen Gesetzgebung stimmte auch Bassermann ein. Auch er erblickte die Schuld in der mangelhaften Initiative der verbündeten Regierungen

auf dem Gebiete

der sozialen Reformen.

Auch Bassermann

ent­

lastete den Staatssekretär des Innern, von dem er annehme, „daß er vielfach beengt sei durch Auffassungen, die bei einzelnen

Staatsministerien der Einzelstaaten, vor allem der größeren Staaten herrschten". Vielleicht liege die Schuld an der unzureichenden Organi­ sation des Reichsamts des Innern; darauf beziehe sich der auf die Schaffung eines Reichsarbeitsamts gerichtete Antrag seiner Partei.

Im übrigen habe er den Eindruck, daß es dem Reichsamt des Innern an einem genau aufgestellten Arbeitsprogramm fehle. Der Abgeordnete hob besonders die Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung der Tarif­ verträge hervor. Die wirtschaftlichen Kämpfe hätten sich dahin entwickelt, daß sich an die Arbeiterorganisationen die Arbeitgeberorganisationen „angeschloffen" hätten. Der wirtschaftliche Kampf organisiere sich hüben und drüben. „In dem Augenblick, in dem die bürgerliche Gesellschaft dies klar erkennt, in dem diese Tatsache auch jedem im Parlament klar sein muß, werden diejenigen doch recht haben, die, da sie den wirtschaftlichen Kampf nicht beseitigen können, wenigstens

nach

Friedensorganisationen rufen, und aus

diesen Gesichtspunkten

157 heraus haben wir die Einrichtung von Arbeitskammern befürwortet." Eine Friedenseinrichtung sei auch der Tarifvertrag. Daß die sozialdemokratischen Organisationen die Tarifverträge nicht als Friedensinstrument, sondern nur als Abschluß eines Waffen­

stillstandes vor der Aufnahme neuer Kämpfe betrachten, wie das hier bereits ausgeführt worden ist, wurde von dem Abgeordneten nicht in Erwägung gezogen. Dann bestätigte Bassermann ausdrücklich die Zustimmung zu den die Glasindustrie weiter beschränkenden Anträgen. Eingehend beschäftigte er sich mit Einführung der Nacht- und Sonntagsruhe im

Binnenschiffahrtsgewerbe, die nicht so sehr von dem arbeitenden Personal, vielmehr dringend von den Schiffern selbst, den sogenannten „Partikulierschiffern" verlangt werde. Der Abgeordnete Bassermann konnte die Erwähnung des Verlustes von Mandaten der Sozialdemokratie nicht umgehen. Dieser

Verlust räume das der Sozialpolitik entgegengehaltene Argument aus, „daß diese soziale Reform doch keinerlei politische Wirkung zu äußem vermag, daß die Masse durch die Sozialreform doch nicht zufrieden­ gestellt werde". Durch die Wahlen sei der Gegenbeweis geliefert. Bassermann behauptete, daß in den Kreisen der organisierten, auch der sozialdemokratisch organisierten Arbeiter sich gewisse Wandlungen

vollziehen, daß die Scharen nicht mehr so fest stehen wie früher. Bezüglich der in den früheren Verhandlungen angeführten, die erhebliche

Zunahme der sozialdemokratische» und der Hirsch-Dunckerschen Gewerk­ schaften bezeugenden Zahlen, sagte Bassermann, „nun, meine Herren, glaube ich, gerade eine kräftige Fortführung der Sozialreform, das Ein­

gehen auf die berechtigten Forderungen der Arbeiterorganisationen wird am besten geeignet sein, die Organisationen, die auf nationalem Boden

stehen, zu stärken und die sozialdemokratischen Organisationen zu schwächen". Auch diese Bemerkung, deren Richtigkeit von weiten, dem praktischen Leben mehr nahe stehenden Kreisen stark bezweifelt werden dürfte, wurde von den Nationalliberalen mit den Rufen: richtig! Sehr gut!" begleitet.

„Sehr

In der am zweiten Verhandlungstage, der 26. Sitzung am 11. April, gehaltenen langen Rede des Mitglieds der wirtschaftlichen Vereinigung, des Abgeordneten Raab war besonders bemerkenswert, daß er, im Gegensatz zu der bisher allseitig vertretenen Ansicht, die Schuld an der Unfruchtbarkeit der Gesetzgebung auf sozialpolitischem Gebiete nicht allein den verbündeten Regierungen, sondern auch dem Reichstag zur Last legte, der zu viel und zu viel auf einmal verlangt habe. Im übrigen beschäftigte sich Raab, als Kleingewerbetreibender,

158

sehr eingehend mit der Mittelstandspolitik, und, als Hamburger, besonders mit den Arbeitsverhältnissen im Schiffahrtsgaverbe und den in der letzten Zeit dort geführten Kämpfen. Dem Abgeordneten Raab folgte Dr. Mugdan vcn dev frei­ sinnigen Volkspartei. Zunächst kamen die üblichen Versichrrungen der vollen Uebereinstimmung seiner Partei mit den sozialpolitischen Zielen der Vorredner. Im übrigen war seine Rede hauptsächlich eine Aus­ einandersetzung mit dem Abgeordneten Trimborn, der ihn, wegen nicht genügend respektierlicher Behandlung des Zentrums in einer früheren Rede, scharf angegriffen halte. Nun folgte, allseitig mit Spannung erwartet, das neue Mitglied des Reichstags Dr. Naumann. Die Stellung, die dieser Mann seit Jahren in der sozialpolitischen Bewegung eingenommen hat, rechtfertigt eine eingehendere Beschäftigung mit ihm und seinen Ausführungen. Friedrich Naumann, von der Universität Heidelberg 1903 zum Ehrendoktor ernannt, war nach Beendigung der Universitäts­ studien im Jahre 1883—85 Oberhelfer int Rauhen Hause in Hamburg, 1886—90 Pfarrer in Langenberg, 1890—97 VereinSgeistlicher für innere Mission in Frankfurt a. Main. Politisch gehörte er zunächst der christlich-sozialen (Stöckerschen) Richtung an. Er hat 1890 die Abhandlung veröffentlicht: „Das soziale Programm der evangelischen Kirche", 1894 „Was heißt christlich-sozial?" Seit 1896—1903 war er Vorsitzender des national-sozialen Vereins, der am 24. November 1896 in Erfurt begründet worden war. Er hat den „National-sozialen Katechismus" veröffentlicht, in welchem unter vielen anderen der folgende Ausspruch vorkommt: „Das Nationaleinkommen soll in erster Linie der Arbeit gehören." Seit 1903 ist Naumann Vorstandsmitglied des Wahlverbandes der Liberalen. Er lebt jetzt als politischer Schriftsteller in Schöneberg. Innerhalb der politischen Partei „der freisinnigen Vereinigung" hatte sich in den letzten Jahren die Gruppe der sogenannten „Sozial­ liberalen" gebildet. Diese hat durch den Zuzug der Nationalsozialen unter Naumanns Führung eine Verstärkung erfahren. Zur allgemeinen Charakteristik seines sozialpolitischen Stand­ punktes, den er allmählich eingenommen hat, mögen die folgenden kurzen Mitteilungen dienen: Nach Naumanns Worten ist der geistige Mittelpunkt auf der bürgerlichen Linken da zu suchen, wo Bebel und Auer sitzen. In seinem neuesten Werke: „Neudeutsche Wirtschaftspolitik" Seite 442 ff., letztes Kapitel „der neue Liberalismus" sucht Naumann nachzu-

159

weisen, daß der Liberalismus und die Sozialdemokratie gemeinsame Ziele zu verfolgen haben. Auf Seite 429 weist er nach, daß Sozialdcinokraten und Liberale schon jetzt zusammengehen in der Handelspolitik, Verkehrspolitik, Mittelstandsfrage, Rechtspolitik

(Koalitionsrecht, Arbeiterschutz) rc. Ferner heißt eS auf Seite 427: „Der Liberalismus muß, um seiner eigenen Selbsterhaltung willen, für die Jndustrieverfassung sein, für freie Koalition, für Tarifverträge,

für Arbcüerschutz, für alles, was den Wert der einzelnen Person in der Menge der Angestellten und Arbeiter erhöht." Auf der Schlußseite dieses Abschnittes heißt es: „Die neudeutsche Kultur muß eine Methode der Mitbeteiligung aller an Leitung und Ertrag der Produktion zum Ziele haben." Naumanns Rede war, wie gesagt, mit allgemeiner Spannung erwartet worden, denn seine Parteipresse war äußerst bemüht gewesen,

sein erstes Auftreten im Reichstage in der öffentlichen Meinung so vorzubereiten, wie es sonst gewöhnlich bei dem Debüt eines Künstlers ersten Ranges der Brauch zu sein pflegt. Naumann stimmte mit den Vorrednern überein in der Klage über die Unfruchtbarkeit der sozialpolitischen Gesetzgebung in dem letzten Jahre. Er fragte, woher es komme, daß in einer Zeit, „in der die Fülle sozialpolitischer Pläne, Ideen, Anregungen und Debatten Legion ist", die po­

sitive Arbeit auf diesem Gebiete seit Jahren so minimal sei. Er stellte fest, daß trotz der auch von dem Abgeordneten Bassermann beklagten »unharmonischen Art und Weise, in der sozialpolitische Anträge und Wünsche von den Parteien an den Reichstag gebracht werden", die zu einem gewissen „Weltkampf der Parteien unter sich führe", es eine geschlossene sozialpolitische Mehrheit im alten Reichstag gegeben habe und im neuen Reichstag gebe. Diese Mehrheit repräsentiere ein genau zu formulierendes Quantum sozialpolitischen Willens und sozial­

politischer Tendenzen, das einheitlich formuliert werden könne, als Majoritätswillen, sowohl des vergangenen, wie dieses Reichstags. „So stehe es fest",

daß für ein freiheitliches Vereinsgesetz,

für ein

Berufsvereinsgesetz ohne Polizeicharakter, für eine gesetzliche Sicherung des Koalitionsrechts der Arbeiter, für den Zehnstundentag der Arbeiterinnen in den Fabriken und für ein Pensionsgesetz für Privat­

beamte unter allen Umständen die Majorität auf dem Tisch des Hauses bereit liege. Wahrscheinlich sei diese Mehrheit auch vorhanden für Fragen auf dem Gebiete der Heimarbeit und des Wohnungs­ wesens. Daraus ergebe sich, daß die Schuld an der Unfruchtbarkeit

der Sozialpolitik nicht der Reichstag trage, sondern der andere Faktor der deutschen Reichsgesetzgebung, der Bundesrat.

ICO Wenn der Abgeordnete Trimborn den Vertreter des Reichsamts des Innern für schuldlos erklärt und die Schuld dem anderen Faktor zu­ gewiesen habe, so vertrete er den Standpunkt, daß es eine interne Angelegenheit des anderen Faktors der Gesetzgebung sei, wie er seine persönlichen Stellungen untereinander regeln wolle. Die hohen per­ sönlichen Vorzüge des Vertreters des Reichsamts des Jnnein können „für die auf Sozialpolitik wartende Bevölkerung" keine Entschädigung sein für den unbeachteten Majoritätswillen des Parlaments. Die Schwäche des Parlamentarismus in Deutschland trete handgreiflich hervor „eben in dieser sozialpolitischen Elementarsache, daß es seit langem eine Majorität auf diesem Gebiete gibt, und daß diese Majorität von Jahr zu Jahr referierend und bittend immer wieder vor derselben Bundesratstür steht wie bisher. Und zwar sieht man daran, wie das Machtverhältnis zwischen den zwei Faktoren der Gesetzgebung in Deutschland so ungleich verteilt ist. Wenn nämlich die Majorität des Bundesrats ihrerseits eine gewisse Gesetzgebung für lebensnotwendig hält, so appelliert sie von einem gewesenen Reichstag an einen neuen

Reichstag. Es ist aber der Majorität des Reichstags durch Ver­ fassung und Geschichte versagt, wenn sie eine Gesetzgebung ihrerseits ebenso für lebensnotwendig hält, von einem Bundesrat an einen anderen Bundesrat zu appellieren, und einfach in diesem grund­ sätzlichen Verschiedenheitsverhältnis der beiden Mächte liegt das, woran die Sozialpolitik in Deutschland nicht vorwärts kommt, und was wir in dieser Hinsicht tun können, ist einfach, der Bevölkerung dieses Sach­

verhältnis so eindringlich klarzulegen, als es überhaupt möglich ist." Das war der erste große Gedanke des Abgeordneten Dr. Nau­ mann. Von diesem Mann darf nicht angenommen werden, daß er mit Gedanken spielt, sondern es muß von ihm vorausgesetzt iverden, daß er seine Aeußerungen reiflich überlegt hat und daß sie der Aus­

druck seiner ernsten festen Ueberzeugung sind. Naumann ist also davon überzeugt, daß die jetzige durch die Verfassung festgestellte staats­

rechtliche Stellung der Bundesstaaten im Reiche geändert werden muß, indem, um den Parlamentarismus in Deutschland zu stärken, dem Reichstag das Recht zu verleihen ist, „von einem Bundesrat an einen anderen Bundesrat zu appellieren", d. h. den bestehenden Bundesrat aufzulösen. Es ist außerordentlich zu bedauern, daß Naumann über diesen, bisher noch in keinen sozialpolitischen Verhandlungen hervor­ getretenen, durchaus neuen und originellen Gedanken so schnell hinweg­ gegangen ist. Es würde ungemein interessant gewesen sein, zu hören, wie der Abgeordnete sich die Ausführung und die Folgeerscheinungen gedacht hat. Von beiden muß er sich vorher doch ein Bild gemacht

161 haben,

das er freilich noch

für

sich

behalten

hat.

Als ernster,

von seiner hohen reformatorischen Aufgabe erfüllter Mann, wird er sich der Aufgabe nicht entziehen können, seinen großen Gedanken auch mit Bezug auf die praktische Durchführung und Ausgestaltung weiter

auSzusühren. Die unzulängliche Arbeitskraft des Reichsamts des Innern will

er als Grund für die negierende Haltung des Bundesrats der sozial­ politischen Mehrheit des Reichstags gegenüber nicht anerkennen, zumal längst kaum große und neue Vorarbeit notwendig ,,in jener Quantität von Forderungen, die als Einheitsbesitz der sozialpolitischen Majorität des Hauses zu gelten hat, von der ich vorhin sprach und zu der vielleicht

auch noch etliche andere Anträge gehören". Es seien formelle einfache Dinge, die hierbei zu erledigen sind. „Umständlich sind immer nur unliberale Gesetzgebungen; denn unliberale Gesetzgebungen haben ihrer Natur nach den Charakter, daß bei ihnen Ausnahmebestimmungen und Beschränkungen übereinandergebaut und ineinandergeschachtelt werden, während liberale Bestimmungen solche Bestimmungen sind, die für jeden Staatsbürger gelten, und die darum ihrer Natur nach einen gewissen Charakter der Durchsichtigkeit und Einfachheit tragen." Diese von der linken Seite des Hauses mit den wiederholten Zurufen: „Sehr gut! und sehr richtig!" begleitete Charakteristik der Gesetzgebung ist in gewissen Graden zutreffend. Ein Gesetz über das Vereins- und Versammlungsrecht z. B., das den bestehenden, so außer­ ordentlich verschiedenartigen politischen und sozialen Bestrebungen und Zielen, den mannigfachen Interessen des Staates und der Gesellschaft angepaßt und ihnen gerecht werden soll, ist sicherlich viel schwerer zu machen, als ein Gesetz, durch welches lediglich alle vorbeu­ genden und beschränkenden Btstimmungen aufgehoben und abgeschafft

werden sollen. Nach des Abgeordneten Dr. Naumann Auffassung würde das erstere ein unliberales, das letztere ein liberales Gesetz sein. Es fragt sich nur, ob die gesetzgeberische Arbeit als hauptsächlichsten Zweck den Schutz und die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu verfolgen hat, oder ob es lediglich darauf ankommt, in tunlichst kürzester Frist möglichst viel Gesetze, in den vorliegenden Fällen mit

Bezug auf die „Legion sozial-politischer Pläne, Ideen und Anregungen", fertig zu stellen und in Wirksamkeit zu setzen. Die den „anderen Faktor der deutschen Reichs-Regierung" bildenden verbündeten Regierungen scheinen, im vollen Bewußtsein ihrer schweren Verantwortlichkeit, den

ihnen zufallenden Teil an der Gesetzgebung in voller Würdigung der Gesamtinteressen des Vaterlandes und des Volkes, demgemäß nicht im

Sinne Naumanns, ausüben zu wollen. Der unverantwortliche Agitator Hest 106.

11

162 Volksredner denkt eben anders und dieser unverantwortlichen Auffassung huldigen allem Anschein nach auch der Abgeordnete

und

Dr. Naumann und seine Anhänger. Mit Bezug auf die als Entschuldigung angeführte Unzulänglich­

keit der Arbeitskräfte des Reichsamts des Innern, sagte der Abgeordnete Dr. Naumann weiter, daß sicherlich nicht dieses formale Element der notwendigen Beamtenarbeit den Bundesrat hindere, ixr sozial­ politischen Mehrheit des Reichstags entgegenzukommen, sondern es seien sachliche Gründe, „die mit dem Wesenscharakter der ganzen sozial­ politischen Periode Zusammenhängen, in der wir stehen". Als den Charakter dieser Periode bezeichnete Naumann das Doppelverhältnis, das in einer Zeit eingetreten sei, in der „die Großindustrie in Deutsch­ land in ungeahnter Weise wächst und sich ausdehnt, in einer Zeit, wo die syndikatsmäßige Zusammenfassung der großen und schweren Industrien die gewaltigsten Fortschritte macht, wo die Fusionierung der Großunternehmungen die Führung des Arbeitsprozesses in immer weniger wirklich führende Hände hineindrängt, kurz in derselben Zeit, wo Deutschland erst eigentlich, vor allem in seinen Rohstoff- und Halbfabrikatindustrien ein großindustrielles Land wird". In dieser selben Zeit sei eine Sozialreform entstanden, die an sich zwar dankens­ wert und gut sei, die sich aber „sozusagen fast immer auf den Außen­

forts dieser Volkswirtschaft bewegt; denn die eigentliche Zentral­ frage der gegenwärtigen Sozialpolitik, die Frage der Arbeitsverfassung in den großen Industrien, ist es nicht, die von der deutschen Sozialpolitik in Angriff genommen wird". Die Kaiserlichen Erlasse des Jahres 1890, so führte Naumann weiter aus, hätten das Problem klar herausgehoben, daß es sich um großindustrielle Verhältnisse handle. Demgemäß sei die gesetzgeberische Arbeit „der erste große Ruck der Arbeiterschutzgesetzgebung in das

Gebiet der Großindustrie" gewesen. Verfolge man aber, was in den fast zehn Jahren, in denen Graf von Posadowsky das Reichsamt des Innern vertreten habe, sozialpolitisch geschehen, so sei jene Grund­ lage der Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung in erfreulicher und anerkennenswerter Weise über die ursprünglichen

Grenzen hinaus ausgebaut worden. Aber es handle sich jetzt nicht darum, ob die einzelnen Gesetze als solche gut gewesen seien, sondern um die Richtung der Gesetzgebung im allgemeinen. In dieser Be­ ziehung aber sei, „was das eigentliche Zentrum der Sozial­ politik ist, eben jene Frage der Arbeitsverfassung in der zentralisierten Großindustrie, in dieser Zeit liegen ge­ blieben".

163 Dreimal in diesem Zeitraum „sei das Rad der sozialpolitischen

Arbeit an der Großindustrie vorübergegangen", bei der Zuchthaus­ vorlage, bei der Frage, ob die Arbeiterausschüsse in den Bergwerks­

industrien vom Reichstag

oder vom preußischen

Landtag zu ver­

handeln seien und zuletzt bei der Frage der Rechtsfähigkeit der Berufsvereine. In diesen drei Vorkommnissen habe sich der Reichstag

mit dem eigentlichen Kernproblem der Sozialpolitik beschäftigt. Von den drei Gesetzen seien zwei verflossen, eins im Landtag erledigt worden, und zwar alle drei aus dem Gefühle heraus, daß ihr gemein­ samer Charakter eben gewesen sei „das Mißtrauen gegen die organisa­ torische Kraft und Leistung der Arbeiter, der eigentliche Ausgangspunkt

der Erwägungen auf diesem Gebiete". . . . „Denn woher kommt jene Ueberladung mit polizeilichen und anderen belastenden Vorschriften in dem zuletzt vorgelegten Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, als eben aus demselben Mißtrauen heraus, aus dem seinerzeit die Formulierungen der sogenannten Zuchthausvorlage gekommen sind? Das ist also die Kernfrage jetzt, ob jenes tiefe sachliche Mißtrauen, das der Deutsche Bundesrat offenbar der Organisalionssrage der Arbeiter gegenüber hat,

auf

die Dauer fest­

gehalten werden kann." Die Organisation der Arbeiter habe sich, ohne daß die Gesetz­ gebung den Weg eigentlich frei gemacht habe, ganz von selbst „durch­ gedrückt", in allen Betrieben des Handwerks und in den kleineren und mittleren Industrien. „In Wirklichkeit fehlt heute die freie Organi­ sation der Arbeiter nicht dort, wo schon jene zahlreichen Tarifverträge vorhanden sind, nicht im Gebiete der kleinen Betriebe, sondern nur

dort fehlt sie, wo die eigentlich modernste Form der großen Massen­ industrien vorhanden ist." Wenn der kleinere Unternehmer klage, er halte es nicht aus mit den organisierten Arbeitern, so helfe ihm kein Gesetz, da heiße es: „siehe du selbst zu, wie du fertig wirst! Die ganzen Hemmnisse der Gesetzgebung gegenüber den Organisationen der Arbeiter und Angestellten helfen dem kleineren Unternehmer nichts,

und kommen in Wirklichkeit nur zum Ausdruck dort, wo große industrielle und gewerbliche Anlagen und Machtverhältnisse vorliegen."

Die von den Vorrednern, besonders von dem Abgeordneten Raab, über die Verhältnisse in den Schiffahrtsbetrieben gemachten Mitteilungen hätten gezeigt, wie der einzelne Mann „bei all seiner Tüchtigkeit" nicht einmal — Herr Raab sagte mit Recht — das „Menschenrecht" hat, sich einem Berufsverein anzuschließen, „jenes wirtschaftliche Grundrecht des modernen Menschen, sich zu assoziieren, um seine Lebensverhältnisse zu verbessern". Dieses „elementare li*

164

Grundrecht", auf dem die ganze neuere Entwickelung aufgebaut sei,

werde von den Reedereien oft genug und oft genug von den Staats­ betrieben versagt. Der Gewerbeordnung von 1869 habe die Theorie der früheren liberalen Epoche zu Grunde gelegen, daß der „Einzelmensch als Wirt­ schaftssubjekt" seine Arbeitskraft verkaufen könne, so gut es ihm gelinge. Ein Verhandeln über irgendwelche persönliche Bedingungen sei jetzt für den Arbeiter unmöglich; jetzt heiße es einfach: ein Platz für eine Nummer sei frei und der Mann müsse in die Stelle hinein,

wie sie eben da sei. Das sei kein Vorwurf, sondern es liege im Wesen der industriellen Entwickelung der Großbetriebe. Deswegen aber müsse dem einzelnen das elementare Recht der freien Organisation dadurch gesetzlich festgestellt werden, daß sich der strafbar macht, der ihm oder irgend einem Staatsbürger dieses Recht verkürzt. So lange die Strafbarkeit der Rechtsverletzung nicht dahinterstehe, sei es ein unfertiges Recht. Heute versage das Recht, wo es dem einzelnen notwendig sei, denn „heute gibt es nicht mehr den Arbeitsvertrag des einzelnen Mannes in der Großindustrie, sondern entweder gibt es den Kollektivvertrag oder es gibt überhaupt keinen Vertrag". Für die in der Großindustrie beschäftigten Arbeiter sei die Er­ möglichung des Kollektivvertrages die einzige ihnen zu gewährende „positive Wirtschastshoffnung". Die Organisierung der Arbeiter in der Großindustrie sei allein der gesunde Unterbau, ohne den die

Arbeitelverfassung auseinandergehe. Wenn dieser Unterbau nicht vor­ handen sei, gebe es keine Arbeiterausschüsse, Arbeiterkammern oder Arbeits kammern. Der Redner führte im Anschluß hieran aus, daß die Arbeits­ kammer als höchstes Organ zur Voraussetzung die Organisierung der Interessengruppen habe. Für die Unternehmer und Arbeitgeber be­ ständen solche Organisationen in den Handels-, Handwerker- und Landwirtschaftskammern; diesen gleichzustellen seien die Organisationen der Arbeiter, gleichviel ob christliche, Hirsch-Dunckersche oder sozial­

demokratische, gleichsam als Arbeiterkammern. Daher gäbe es für den ganzen Aufbau der Jndustrieverfassung nichts anderes, als „daß man zu allererst jene Koalitionsfreiheit herschafft, die es auch in den Gebieten großer, entscheidender Industrien unmöglich macht, die Arbeiteroerbände überhaupt zu hindern oder auf einem so niedrigen

Entwickelungsniveau zu halten, daß aus ihnen positiv nichts Richtiges herauskommt. Es entsteht also für uns die Notwendigkeit, den Auf­ bau einer nach

oben

steigenden Jndustrieverfassung von Grund auf

165

zu erarbeiten,

durch eine alte liberale Forderung,

die der einfachen,

wirklichen Sichernng des Koalitionsrechts und von da aus Schritt für Schritt in die Höhe, bis zu einem — nennen wir es: Industrie­

parlamentarismus, bis zu einem System der Mitwirkung der Angestellten und Arbeiter an der ArbeitsVerfassung der Industrien im ganzen durch Arbeiterausschüsse, Arbeiterkammern usw." Daß „dieses Problem der Arbeitsverfassung kommen werbe", ist für Naumann außer Zweifel. Deswegen dürfe dauernd nicht nur Sozialreform getrieben werden an den Stellen, an denen nicht die eigentliche Zukunftsentscheidung der deutschen Nation in wirtschaft­ licher Hinsicht liege. Diese Zukunftsentscheidung liege darin, „ob wir jene große Produktionssteigerung in Deutschland erreichen werden, die darin besteht, daß auch die großindustrielle Arbeit freudige und selbstgewollte Leistung und Eigeninteresse der arbeitenden Personen wird". Auf die vor 100 Jahren von der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung durchgeführte Emanzipation der Bauern ver­ weisend, stellte Naumann mit Bezug auf die Industrie die Frage, „ob es in alle Zeit nur fremde Arbeit ist, die von der Menge der Arbeiter und Angestellten getan werden muß, oder ob es die Möglich­ keit gebe, verfassungsmäßig im Laufe vieler Jahre einen Zustand herbeizuführen, wie er im Staatswesen — vielleicht noch nicht voll­ ständig, aber wie er dort doch im Laufe der letzten 100 Jahre ent­

standen ist, einen Zustand, wo aus Untertanen Bürger gemacht wurden. So gilt es auch für die Industrie, aus Industrie­ untertanen Jndustriebürger zu gestalten, und dieses Problem in seinen ersten Anfängen ist eben die Koalitionsfreiheit." Naumann fürchtet, und wohl mit Recht, daß sein System auf Widerstände — er bezeichnet sie als „Sorgen" — sowohl von feiten der industriellen Unternehmer wie auch der Staatsregierung stoßen werde. Die industrielle Sorge würde sein, daß die freie Koalition

der Arbeiter Ordnung und Disziplin,

und damit die Produktivität

schädigen müßte. Diese Sorge glaubt Naumann mit folgenden Worten abtun zu können: „Daß die Organisation der Arbeiter nicht

die Beseitigung des autoritären Prinzips an sich sein kann, ergibt sich schon daraus, daß auch die demokratisch angelegten Organisationen der Arbeiter selbst, und seien es Konsumvereine, alle zu der Form einer einheitlich disziplinierten Verwaltung ihrem Wesen nach hin­ drängen.

Es wird also, wie selbst in Arbeiterorganisationen,

immer

dasselbe Problem im Staate und auch in der Industrie vorhanden fein, daß Autorität und Mitwirkung aller ausgeglichen werden müssen." Diese wohlklingenden, aber ziemlich inhaltslosen Sätze werden

166 zur Beseitigung der

industriellen

„Sorge" nicht ausreichen,

zumal

sie auf irrtümlicher Anschauung beruhen. Zunächst ist es wohl nicht zulässig für die von Naumann hier ins Auge gefaßte tief ein­ schneidende Entwickelung, von einem Konsumverein aus ein großes

industrielles Unternehmen zu exemplifizieren. Wenn ferner der letzte Satz überhaupt Sinn hat, so kann es doch nur der sein, daß „selbst in Arbeiterorganisationen" die Autorität zur Geltung gelange. Das ist nach den bisherigen Erfahrungen nicht der Fall. Gerade bei höchst bedeutungsvollen Veranlassungen hat sich gezeigt, daß die organisierte Masse keine Bedenken trägt über ihre Führer, die doch wohl in der Organisation die Autorität darstellen sollen, hinwegzugehen. Solche gänzliche Mißachtung der Autorität vollzog sich z. B. bei dem Berg­ arbeiterstreik im rheinisch-westfälischen Bezirk im Winter 1905. Sie hat sich jüngst vollzogen bei dem bedeutenden Ausstande der Bau­ arbeiter in Berlin. In diesen und in nicht wenigen anderen Fällen haben die Führer sich noch immer der Masse unterworfen. Sie sind mit ihr gegangen, um den Anschein ihrer zweifelhaften Autorität zu

retten und um an der Spitze zu bleiben. Also mit der Autorität in den Arbeiterorganisationen ist es nicht weit her. „Voraussichtlich wird aber," so sagte Naumann weiter, „in der Industrie dasselbe eintreten, was wir im Staatswesen in der Ver­

gangenheit erlebt haben, daß durch parlamentarische Mitwirkung an Elastizität der nationalen Kraft ungeheuer viel gewonnen wurde, da­ durch, daß es möglich geworden ist, das Interesse der einzelnen Bürger dem Staatsganzen zuzuführen." Die Existenz der Staaten gehe am ruhigsten in solchen dahin, „in denen liberale Staatsgesinnung am weitesten in Volkssitte und Verfassung hineingegangen ist", während die Staatsverhältnisse am schwankendsten sind, „wo man dieses zweite Prinzip neben dem der Autorität, die Mitwirkung der Bevölkerung am Gemeinwesen, am wenigsten beachtet hat." Naumann ist also über­ zeugt, daß das parlamentarische Regiment die beste Staatsform sei. Daher gehören nach seiner Ansicht „dieselben Grundsätze, die wir in

der Geschichte der Staatswesen erfahren haben,

ebenso hinein in die

Geschichte unseres Wirtschaftslebens". Aber auch die hochbedeutungsvolle Frage, „ob der Staat als Staat eine Gefährdung seiner Ordnung zu besorgen hat bei diesem Prinzip der wachsenden Freiheit", glaubt Naumann mit wenigen

Worten beseitigen zu können. Die gefährlichen Menschen in den Staaten sind die, die nichts zu hoffen haben. „Die Organisation der Arbeiter

auf dem Boden der Freiheit öffnet die Tür den geordneten Hoffnungen und wird unter Umständen in nicht zu ferner Zeit dem Staat selbst

167

eine Hilfe werden bei einer großen und schweren Auseinandersetzung,

der er entgegengeht mit der Macht der größten Syndikate."

Damit

sind für Naumann die Bedenken erledigt, die von der Staatsregierung gegen die Einführung des „Jndustrieparlamentarismus" erhoben werden könnten. Das ist also der zweite große Gedanke des Abgeordneten Dr. Naumann, die Einführung des Parlamentarismus in die industriellen

Betriebe, und damit die Erhebung der Arbeiter von „Industrie­ untertanen" zu „Jndustriebürgern". Dieser Gedanke ist nicht neu.

Naumann selbst hat, wenn auch mit anderen Worten, so doch dem Sinne nach, ganz dasselbe in der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik — der Kathedersozialisten — am 26. September 1905 in Mannheim gesagt. Und Legten, der Vorsitzende der General­ kommission der deutschen Gewerkschaften, hat als Abgeordneter bereits in der 19. Sitzung des Reichstages am Dienstag, den 18. Januar 1898, erklärt: „Der Absolutismus der Arbeitgeber muß der konstitutionellen Fabrik weichen; der frühere absolutistische Arbeitgeber muß es sich ge­ fallen lassen neben sich eine Vertretung der Arbeiterschaft zu haben, die mitbestimmend zu wirken hat." Die Ausführungen des Abgeord­ neten Naumann haben also in diesem Falle auf Originalität keinen Anspruch. Neu an der Sache ist nur, daß im Deutschen Reichstage von einem Mitgliede der bürgerlichen Parteien die gesetzliche Einführung des „Jndustrieparlamentarismus" gefordert worden ist. Es ist nicht gut angängig diese große Idee hier eingehend zu besprechen; es ist das auch nicht erforderlich; denn wenn die Möglich­ keit auch nicht ausgeschlossen erscheint, daß der neue Reichstag sich

von der ersichtlich starken sozialen Strömung zu Beschlüssen in dieser Richtung fortreißen lassen könnte, so steht doch außer Zweifel, daß kein deutscher Bundesrat solchen Beschlüssen zustimmen würde. Wenn aber kein gesetzlicher Zwang vorliegt, wird sich dem Andrängen der So­ zialisten, der sozialdemokratischen wie der bürgerlichen, die Industrie wohl erfolgreich und dauernd selbst zu erwehren wissen. Die Be­ achtung aber, die Naumann als Parlamentsredner gefunden hat, läßt es doch zweckmäßig erscheinen, wenigstens einige Schwächen seiner

Argumentation hier heroorzuheben; zu diesen Schwächen gehören be­ sonders die von ihm angestellten Vergleiche. Für die Erhebung der Arbeiter von „Jndustrieuntertanen" zu „Jndustriebürgern" glaubt Naumann sich auf die Emanzipation der Bauern vor 100 Jahren, auf die Stein - Hardenbergsche Gesetzgebung berufen zu können. Die Lage der heutigen Industriearbeiter mit den Zuständen zu ver­

gleichen,

in denen

die damaligen Bauern lebten,

ist durchaus un-

168 zulässig.

Die damals

auf diesen lastende Erbuntertänigkeit war nur

eine etwas mildere Form der früheren Hörigkeit und Leibeigenschaft.

Die freie Bewegung war dem Bauer versagt, er war an die Scholle gefesselt, konnte aber auch von ihr verjagt werden. Seine Söhne und Töchter mußten im herrschaftlichen Hofe dienen; nur wenn dieser ihrer nicht bedurfte, konnten sie sich ihr Brot an einem anderen Platze suchen. Der Bauer mußte im herrschaftlichen Felde „scharwerken", wenn es dem Herrn beliebte,

wie nötig auch

die Arbeit in des Bauern

eigener Wirtschaft gewesen wäre. Diesen von Zwang und Unfreiheit umgebenen und gedrückten Mann mit dem heutigen Industriearbeiter

zu vergleichen, der sich in vielen kleinen und mittleren Betrieben bereits als Herr zu fühlen beginnt, ist eine starke Verkennung der maßgebenden Verhältnisse, die auch in der weiteren Verfolgung des Beispiels zu Tage tritt. Denn durch die damalige Emanzipation der erbuntertänigen Bauern wurden vollkommen freie unabhängige Existenzen mit eigenen Produktionsstellen geschaffen. Der Jndustriebürger des Abgeordneten Naumann bleibt aber immer Arbeiter, auch wenn seine Stellung dem Unternehmer und Arbeitgeber gegenüber durch die Gewährung gewisser idealer Rechte eine andere geworden ist. Denn

ein weiteres geht nicht klar aus den Naumannschen Darlegungen hervor. An Andeutungen freilich fehlt es nicht, die vermuten lassen, daß er den Arbeitern noch etwas mehr zugedacht hat. Wenn Naumann z. B. sagt: „die Zukunstsentscheidung liegt darin, ob wir jene große Produktionssteigerung erreichen werden, die darin besteht, daß auch die großindustrielle Arbeit freudige und selbstgewollte Leistung und Eigeninteresse der arbeitenden Personen wird", so könnte man wohl annehmen, daß Naumann für seinen „Jndustriebürger" auch einen Anteil an dem Unternehmen selbst und an desseir Erträgen in An­ spruch nimmt. Diese Andeutungen sind jedoch, wie manches andere in seiner Rede, so unklar, daß der zu Grunde liegende Gedanke nicht so

erfaßt werden kann, wie es notwendig wäre, um auf ihn näher ein­ gehen zu können. Ebenso unglücklich ist der Vergleich des Jndustrieparlamentarismus, der konstitutionellen Fabrik, mit dem auf konstitutioneller Verfassung beruhenden Staate.

In der Geschichte der konstitutionellen Staaten

fehlt es nickt an Beispielen parlamentarischer Mißwirtschaft. Wenn durch diese ein Staatswesen heruntergewirtschaftet, ruiniert wird, so

werden alle Staatsbürger gleichmäßig darunter leiden. Wenn der gleiche Fall in der konstitutionellen Fabrik eintreten sollte, so kann jeder mit dem Zustande unzufriedene oder unter ihm leidende Arbeiter,

auch als Jndustriebürger, jederzeit sein Ränzel schnüren und in einer

169 anderen, von einem . besseren oder einsichtigeren Jndustrieparlament geleiteten Fabrik Arbeit nehmen. Denn bei „jener großen Produktions­ steigerung in Deutschland", die Naumann als sichere Folge der Herrschaft seines Systems voraussieht, werden unzweifelhaft Arbeiter immer fehlen, wird jeder Jndustriebürger zu jeder Zeit und überall mit offenen Armen ausgenommen werden. Nur für den Unternehmer und den Arbeitgeber gibt es keinen Ausweg, keine Rettung von solcher

industrieparlamentarischen Mißwirtschaft.

Denn Naumann will dem

Jndustrieparlamentarismus die unerschütterliche Grundlage der sozial­ politischen Gesetzgebung schaffen; der Kraft des Gesetzes aber kann sich der Arbeitgeber nicht entziehen. Auch das ist in dem konstitutionellen

Staatswesen anders. In diesem hat die Staatsautorität die Macht, unter Umständen der „parlamentarischen Mitwirkung" ein Halt zu gebieten und dadurch die Mißwirtschaft abzuwenden. An solchen Bei­ spielen fehlt es nicht in der Geschichte, auch nicht in der Geschichte unseres Vaterlandes. Wenn der König von Preußen nicht die Ent­ schlossenheit besessen hätte, die von ihm für notwendig erachtete Reor­ ganisation des Heeres auch gegen den Willen der zur „parlamen­ tarischen Mitwirkung" bestimmten Vertreter des Volkes durchzusühren, so würde es kein neues Deutsches Reich und keinen Kaiser Wilhelm den Großen gegeben haben, den höchsten Stolz der deutschen Nation, den Gegenstand unvergänglicher Verehrung und Dankbarkeit. Und in

der Vergangenheit, auf die sich die Vergleiche Naumanns beziehen, ist im äußersten Falle noch immer der obersten Autorität des Staates die ultima ratio der Könige geblieben, und selbst in Staaten mit der vielgerühmten freiesten republikanischen Staatsverfassung als äußerste letzte Hilfe angewandt worden. Das wird für absehbare Zeit auch in der Zukunft so bleiben. Alles das und noch manches, was weiter angeführt werden könnte, zeigt die außerordentlich große Verschiedenheit

zwischen der Lage und den Verhältnissen eines konstitutionellen Staats­

wesens und der nach Maßgabe des Naumannschen Jndustrie­ parlamentarismus eingerichteten, sogenannten konstitutionellen Fabrik. Auch dieser Vergleich muß daher als vollkommen unzutreffend zurück­ gewiesen werden. Endlich möge hier nur noch dem Zweifel Ausdruck gegeben werden, ob die von Naumann mit der Herrschaft seines Systems

vorausgesagte „große Produktionssteigerung" in Deutschland eintreten würde. Glaubt der Abgeordnete Naumann wirklich, daß sich das Kapital, dieser unentbehrliche Faktor der Produktion, so willig, wie bisher den absolutistisch geleiteten Betrieben, der Industrie auch zuwenden

würde, wenn der Jndustrieparlamentarismus seinen Einzug gehalten

170 haben wird?

Das Gegenteil ist wohl mit Sicherheit anzunehmen.

Mit dem Augenblick der Einführung des Naumannschen Systems

in die sozialpolitische Gesetzgebung des Reiches würde das so außer­ ordentlich bewegliche Kapital der Industrie entfliehen, die Produktion würde schwinden, und der „Jndustriebürger" würde sehnsüchtig, aber vergebens, nach den Fleischtöpfen des „Jndustrieuntertanen" zurück­ schauen. Der Abgeordnete Naumann beschädigte sich dann mit den Kartellen und Syndikaten; er behauptete, daß die von diesen einge­ führte „Regelung der Produktion" vollkommen gleichbedeutend sei mit dem, was in dieser Bedeutung von der Sozialdeniokratie und dem Marxismus erstrebt werde. „Was überhaupt an dem Marxismus geschichtlich verwirklicht wird, kommt durch die Herren der vereinigten großen Industrien von Kohle und Eisen mit Gewalt jetzt über uns alle." Auf diese gänzliche Verkennung der neuesten und bedeutendsten Wirtschaftsform hier näher einzugehen, dürste sich wohl erübrigen. Nachdem Naumann dann noch der Regierung nahegelegt hätte, daß

der Zeitpunkt „geschichtlich sehr leicht" kommen könnte, in welchem die Staatsregierung nicht unzufrieden sein würde, wenn ihr die organisierten Arbeiter gegen die „Syndikatsmacht" zu Hilfe kämen, schloß er mit folgenden Worten: „Jetzt gilt es noch als Staatsweisheit, den Uebergang vom Jndustrieuntertan zum Jndustriebürger, selbst wenn er einmal kommen sollte,

möglichst in ferne Zukunft hinauszu­

schieben, da er in der Gegenwart ohne Zweifel schwierig sein würde. Die Mehrheit des Reichstags für Sozialpolitik tritt aber ein für jene

elementaren Grundforderungen, auf denen sich die freiere Arbeits­ verfassung auch der stärksten Großindustrien in der Zukunft aufbauen kann. Die Majorität ist da! Was aber nicht für diese Arbeit vor­ das ist die Mitwirkung des anderen Faktors in der Gesetzgebung!" Diesen Bemerkungen gegenüber kann sich Deutschland

handen ist,

wohl glücklich schätzen, daß es noch einen Bundesrat hat, von dem seitens der Mehrheit des Reichstags noch nicht an einen anderen Bundes­ rat appelliert werden kann; er wird das deutsche Volk vor den Beglückungstheorien des Abgeordneten Naumann bewahren. Die Rede Naumanns wurde sehr verschieden beurteilt. Im

Reichstage folgte ihr, nach dem stenographischen Bericht, lebhafter Beifall von links und von der Mitte. In der Presse wurde sie von dem Hauptorgan der „Freisinnigen Vereinigung" bejubelt. Das „Berliner Tageblatt" bezeichnete die Rede als ein Ereignis und einen parlamentarischen Erfolg. Naumann habe „aus der Fülle der Erkenntnis moderner Lebensbedingungen heraus, die großen Gedanken

171 der

liberalen

Weltanschauung

mit

den

sozialen

Forderungen

der

Gegenwart in harmonischen Zusammenhang gebracht". . . . „Wie seine Rede voll reichsten und tiefsten Wissens war, frei vorgetragen und

doch ein rhetorisches Meisterwerk, voll origineller Gedanken und dabei ohne Ueberschwänglichkeit, wirkte sie auch unmittelbar." Die übrige Presse verhielt sich, je nach ihrem politischen Standpunkt, reserviert oder gänzlich ablehnend. Die außergewöhnliche rednerische Begabung Naumanns wurde allgemein anerkannt, er selbst aber als Ideologe, als Phantast, als ein Mann bezeichnet, der den Anforderungen des praktischen Lebens durchaus fernstehe. Seine Rede wurde als arm an wirklichem Inhalt bezeichnet, und teilweise recht abfällig beurteilt. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" bezeichnete ihn als den „Künstler und Meister des Vortrags", der „das Wort mit großer Virtuosität zu behandeln verstehe". Sie sagte dann aber nach einer kurzen Darlegung des Inhalts: „An die Kehrseite der Medaille, an die Verwandlung der Koalitionsfreiheit in einen Koalitionszwang, durch den seitens der sogenannten freien, d. h. sozialdemokratischen Gewerkschaften auf den Arbeitsstätten ausgeübten Terrorismus, hat Naumann bei seinen Schilderungen allerdings nicht gedacht. . . . Die Bedeutung der freien Unternehmer-Persönlichkeit, der doch der unvergleichliche Aufschwung von Industrie und Handel in neuerer Zeit, der Siegeszug des modernen Wirtschaftslebens in erster Linie zu danken ist, findet keinen Platz in einem System, das die Kollektiv­ persönlichkeit der Arbeiterorganisation an die Stelle des freien Leiters der Unternehmen setzen möchte." Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" erkennt an, daß sich eine gewisse Umbildung der freien Unternehmungen durch die Syndikate und Kartelle vollzogen habe. Mit Bezug hierauf sagte sie weiter: „Etwas anderes aber ist, was von

Naumann und Genossen gefordert wird, die Sozialisierung der Betriebe durch den staatlichen Zwang der Anerkennung der Arbeiter­

organisationen, auch solcher, die dem Staate grundsätzlich oppositionell gegenüber stehen, und die dadurch bedingte Einräumung eines MitbestimmungsrechteS über die wesentlichsten Grundlagen der Produktion, auf denen nicht zum wenigsten auch die Konkurrenzfähigkeit unserer Industrie dem Auslande gegenüber beruht. Daß gegen eine solche gesetzliche Einschränkung der Hausherrenfreiheit des Unternehmers,

angesichts der Gefahren sozialdemokratischer Verhetzung, lebhafte Bedenken auch von manchen mit einer reichlichen Dosis sozial­ politischen Geistes begabten Abgeordneten geäußert wurden, ist nicht weiter verwunderlich, wie denn das ideale Phantasiegebilde Nau­ manns von Anfang

an nicht unwesentlicher Korrekturen seitens der

172 erfahrenen und nüchternen Männer der Praxis bedürftig

erscheinen

mußte." Die sozialdemokratische „Bremer Bürgcrzeitung" schrieb nach der

Lektüre der Rede: „Und was fanden wir? Welches ist Inhalt und Wirkung der Naumannschen Rede? Sie hat unseren politischen Sprachschatz um ein „neues Schlagwort" bereichert, das Schlagwort

„Jndustriebürger". Das ist aber auch alles!" Im übrigen schließt sich, hinsichtlich des Inhaltes, die „Bremer Bürgerzeitung" dem End­ urteil der „Deutschen Tageszeitung" an, welche sagte: „Uebrig blieb nur die rethorische Lufterschütterung." Die Ausführungen Naumanns hatten ersichtlich auch am Regierungstische Bedenken hervorgerufen, denn nachdem er geschlossen hatte, erhob sich sofort der Staatssekretär des Innern, Graf von Posadowsky, um an ihnen Kritik zu üben, die nach der Natur dieses Vertreters der Regierung, in der Form vornehm und maßvoll, aber darum nicht weniger scharf und treffend war. Graf von Posc»dowSky bezeichnete die Ausführungen Naumanns, denen die AbgEökßtlkten mit großem Interesse gefolgt seien, „als ein philosophisches Bild, als ein philosophisches Programm" — aber wenn man lange in der

Praxis des Lebens stehe, sehen die Dinge nüchterner aus. Wenn die Bestrebungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik, die mit Recht von den arbeitenden Klassen gefordert werden, praktisch gefördert werden sollen, müßten die Dinge mehr im einzelnen und nüchterner aufgefaßt und betrachtet werden.

Wenn ein Ausländer die Rede gehört hätte,

würde er schließen müssen: „daß Deutschland gegenüber anderen Staaten, die nach der Auffassung des Herrn Vorredners eine wesentlich liberalere Verfassung haben, weit zurücksteht." Dem wolle

er — der Staatssekretär — „mit aller Schonung sich erlauben" zwei Tatsachen aus der neuesten politischen Geschichte gegenüberzustellen.

Graf von Posadowsky verwies zunächst auf Frankreich, eine Republik, wo man sich seit Jahrzehnten bemühe eine Einkommensteuer cinzuführen.

Eine Reihe Ministerien sei über diese Frage gestürzt und

in der französischen Presse werde, wegen der gegenwärtigen Einkommen­ steuervorlage, der Finanzminister bezichtigt, Helfershelfer der Sozialisten und Revolutionäre zu sein. In den meisten Staaten Deutschlands und besonders in Preußen sei die Einkommensteuer, und zwar eine

progressive Einkommensteuer, eine selbstverständliche Einrichtung. In England, dem liberalen Musterlande, wolle man jetzt erst eine Invalidenversicherung für die Arbeiter einführen. Man wolle ferner ungefähr das machen, was in der Stein-Hardenbergschen

Periode in Preußen durchgeführt sei.

Man wolle die Entvölkerung

173 Schottlands dadurch heilen, daß man Staatsmittel bereit stellt, um kleine Bauern anzusiedeln. „Da tritt aber ein Führer der englischen Liberalen, der einst Ministerpräsident in England war, auf und macht

der gegenwärtigen englischen Regierung den Vorwurf, daß diese Maß­ regeln zu Revolutionen und zum Staatssozialismus führen. „Also, mein verehrter Herr Abgeordneter, wenn Sie in die vergleichende Geschichte der europäischen Staaten hineinsteigen, dann werden Sie finden, daß wir in Deutschland noch immer recht günstig abschlicßen." Der Staatssekretär wandte sich nun zu den wegen seiner Sozial­ politik auf ihn gerichteten zahlreichen Angriffen, bei denen er starke Gegen­ sätze der Auffassung habe feststellen können. In einem Artikel der „Hilfe", dem Organ des Abgeordneten Naumann, sei gesagt worden, er treibe eine „peinlich ausgearbeitete Sozialpolitik der Bevormundung". Die am Tage vorher von den Abgeordneten Trimborn, Bassermann und Raab gestellten zahlreichen Forderungen seien alle darauf hinausgegangen, den Staat zu veranlassen, seine Vormundschaft im Wege der Gesetzgebung geltend zu machen, um die Schwachen zu schützen. Alle diese Forderungen, alle im Reichstag eingebrachten Anträge und Interpellationen verlangten Eingriffe der Gesetzgebung in die wirtschaftliche Sphäre des einzelnen und trügen damit einen gewissen Charakter der Bevormundung. Dem Artikel des Abgeordneten Naumann gegenüber wäre er sehr gespannt gewesen zu hören „wie er sich denkt, daß eigentlich die Sozialpolitik im einzelnen, im praktischen Wege der Gesetzgebung betrieben werden solle". In feiner, köstlich sarkastischer Weise sagte der Staatssekretär

gegen die Sozialdemokraten gewendet: „Meine Herren, wenn wir alle so edle Menschen sein würden, wie die Herren von der Sozialdemokratie voraussetzen, daß sie es im Zukunftsstaat sein werden, Menschen, die alles tun aus Liebe zum Nächsten, zum Bruder, die alles tun um der Gemeinsamkeit zu dienen, die ihre ganze Selbstsucht unterdrücken und nur die allgemeine Wohlfahrt im Herzen tragen, — meine Herren, dann brauchten wir freilich keine Gesetzgebung der Bevormundung,

keine Gesetzgebung der Repression; dann würde sich alles wie in den ersten christlichen Gemeinschaften im Wege der gegenseitigen Liebe, der

gegenseitig dienenden Unterordnung erledigen."

Verzeichnisse

der Strafen

für Uebertretungen

.Aber wenn man die der Arbeiterschutzgesetze

sehe, dann würden sich auch der Abgeordnete Naumann und seine Leser überzeugen, daß bei der Verfolgung sozialpolitischer Ziele „eine

kräftige Staatshand da sein muß, um auch die Gesetze durchzuführen und dabei Ordnung und Ruhe im Lande zu erhalten". Bon anderer Seite sei ihm vorgeworfen, seine Sozialpolitik

174 „hätte nirgends ein Gefühl der Freude und Erleichterung ausgelöst". In seiner zweiundzwanzigjährigen Tätigkeit als praktischer Verwaltungs­ beamter habe er den verschiedensten Verhältnissen nahegestanden und als solcher sei man auch sehr häufig gezwungen in privatrechtliche

Sphären einzugreifen, den Staatsbürgern Lasten aufzuerlegen, die ihnen unsympathisch sind. „Ich habe aber allerdings nie gefunden, selbst bei der Veranlagung der Einkommensteuer, daß ich Gefühle der Erleichterung und Befriedigung damit ausgelöst hätte." (Große Heiterkeit.) „Bei einem Staatsbürger, dem Lasten auferlegt werden zu Gunsten eines anderen Staatsbürgers, wird niemals das Gefühl

der Freude und Erleichterung ausgelöst werden." Im Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer sei eine Rede gehalten worden — der Staatssekretär verlas den betreffenden Teil — in der einerseits verlangt worden sei, die Arbeiter zu exproletarisieren und ihnen ihre produktiven Mittel wiederzugeben, andererseits aber beklagt wurde, daß das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht aufgelöst werde. Wie das zu verstehen sei, dafür habe er kein Ver­ ständnis.

Aus allem gehe hervor wie verschieden die sozialen Auf­

fassungen find. „Gegenüber diesen rein theoretischen Erörterungen handelt es sich für die verbündeten Regierungen m. E. darum, Schritt

für Schritt im Wege der Gesetzgebung vorzugehen." Und nun übte der Staatssekretär an dem sozialpolitischen Verhalten und den sozialpolitischen Bestrebungen der Parteien im Reichstag eine Kritik, die, zwar äußerst vorsichtig und zurückhaltend im

Ausdruck, in dem sachlichen Inhalte aber scharf und vernichtend war. Der Staatssekretär erklärte zunächst, daß die häufigen Klagen gewisser Kreise über das zu schnelle Tempo der Gesetzgebung eigentlich überraschend für ihn seien. Er fragte, woran das liege, und gab die Antwort auf diese Frage selbst, indem er sagte: „Weil so außer­ ordentlich viele sozialpolitische Forderungen zugleich gestellt wurden, so weitgehend, daß sie gleichzeitig in keinem Staatswesen realisiert werden

können, ganz abgesehen von der Zahl der Arbeitskräfte. So etwas muß durchdacht und sozusagen innerlich verdaut werden inner­ halb der Regierung, innerhalb der öffentlichen Meinung und inner­ halb der Parlamente. diesen sozialpolitischen

Man hört aber im Publikum fortgesetzt von Anträgen und den langen sozialpolitischen

Debatten. Man wird dadurch nervös und glaubt, daß der Bevölkerung im Wege der Gesetzgebung viel schwerere Opfer auferlegt werden,

als

dies

tatsächlich

der Fall ist.

Ich

lese so häufig von

diesen schweren sozialpolitischen Lasten, die der Bevölkerung auferlegt werden; aber den Beweis dafür bleibt man schuldig. Daß der

175 Bevölkerung neue sozialpolitische Lasten seit den großen sozialpolitischen Gesetzen und ihrer Reform unter meiner Verwaltung auferlegt wurden, ist durchaus unrichtig. Durch die große Menge der Anträge aber überschätzt man im Lande das, was sozialpolitisch geschieht, und

daraus bildet sich zum Teil eine vollkommen ungerechte Gegnerschaft gegen die sozialpolitischen Ziele der Regierung und des Reichstags. Ich meine, diese vielfachen sozialpolitischen Anträge führen in hohem Maße zur Zersplitterung und am letzten Ende der Rechnung sind sie ein Hemmschuh, so daß wir auf manchen Gebieten nicht schneller vor­

wärts kommen." Unzweifelhaft hat Graf von Posadowsky hier einen der größten Uebelstände in unserem öffentlichen Leben berührt. Das ungezügelte Drängen und Treiben nach neuen sozialpolitischen Gesetzen und Verordnungen, die zu diesem Zwecke vorgelegte Fülle wenig durchdachter, unverdauter und, es muß hinzugefügt werden, in der Ausführung nicht selten unmöglicher Anträge und Resolutionen, erweckt in dem Volke Unbehagen, Beunruhigung und Unzufriedenheit. Eine weiter höchst bedenkliche Folge dieses Vorgehens unserer Parlamentarier ist das sehr natürliche Mißtrauen, das in sehr weiten Kreisen, besonders der Gewerbetreibenden, gegen sozialpolitische Reformen im allgemeinen hervorgerufen und genährt wird, auch wenn sie wohlbegründet sind und den Verhältnissen entsprechen. Mit Bezug auf die von dem Grafen von Posadowsky über die dem Volke aufgelegten sozialen Lasten gemachten Aeußerungen müssen jedoch Bedenken erhoben werden. Der Beweis für die Be­ lastung ist nicht, wie der Staatssekretär sagte, schuldig geblieben, son­ dern häufig genug erbracht worden, auch im Centralverbande. Dies ist meistens geschehen, nicht um über sie zu klagen, sondern um mit dem Hinweis auf sie neue, von der Industrie als unberechtigt

erachtete Belastungen abzuwenden, oder um, im Hinblick auf den inter­ nationalen Wettbewerb, das Verlangen nach einem gewissen Ausgleich auf anderen Gebieten zu begründen. Auch die Behauptung des Staatssekretärs, daß seit der großen sozialen Gesetzgebung und deren Reformen der Bevölkerung neue sozialpolitische Lasten nicht auferlegt seien, entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Denn es kommt

hier nicht nur in Betracht, was bar zu zahlen ist, sondern es müssen auch die mannigfachen Einschränkungen der freien Bewegung, die Ein­ engung der Betriebe, die Entziehung von Arbeitskräften und dergleichen

mehr in Anrechnung gebracht werden. Ins bare übertragen, machen auch sie eine recht erhebliche Belastung aus. Dabei ist doch auch zu erwägen, daß recht deutliche Verlautbarungen,

selbst in den hier be-

176 sprochenen sozialpolitischen Verhandlungen,

die Feststellung enthalten,

daß manche dieser belastenden Vorschriften über die von der Not­ wendigkeit und Zweckmäßigkeit gezogenen Grenzen hinausgegangen sind.

Der Staatssekretär sagte dann,

daß er,

gegenüber der allge­

meinen Auffassung des Abgeordneten Naumann und den vielen am vorhergegangenen Tage an ihn gestellten Einzelfragen — es sei hier

besonders auf die Rede des Abgeordneten Trimborn verwiesen — auf die er bei anderer Gelegenheit Punkt für Punkt antworten werde, es für richtig halte, ein Bild zu geben von dem, was in den nächsten Jahren geschehen solle. „Die Herren werden sich überzeugen, daß dieses Reformprogramm schon ein so weitgehendes ist, daß cs aller Anstrengungen der verbündeten Regierungen und des Hohen Hauses bedürfen wird, um diesen gesetzgeberischen Plan eventuell ins Leben überzuführen." Graf von PosadowSky verwies zunächst darauf, daß aus der

letzten Session, allein aus dem Ressort des Reichsamt des Innern, drei Gesetze rückständig seien: die Maß- und Gewichtsordnung und auf sozialpolitischem Gebiete das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz und das Gesetz über die Hilfskassen. Ferner sei schon fertiggestellt und werde in der nächsten Session vorgelegt werden: das Gesetz, be­ treffend die Herstellung von Cigarren in der Hausarbeit. Mit Bezug auf dieses Gesetz erklärte der Herr Staatssekretär, daß wegen der Verschiedenheit der Verhältnisse in der Hausindustrie die gleichmäßige Regelung durch ein organisches Gesetz nicht möglich sei. Die Ver­ hältnisse in der Hausindustrie der Tabaksarbeiter sei verschieden von denen in der Spielwarenindustrie und diese seien wieder verschieden von der Hausindustrie in der Glasindustrie. Daher sei die Regelung nur durch Spezialgesetze resp, durch Spezialverordnungen möglich. Fertiggestellt sei das Gesetz über den kleinen Befähigungs­ nachweis; es werde im Herbst vorgelegt werden, ferner das Gesetz, betreffend die Abwehr und Unterdrückung der Viehseuchen, das auch eine wichtige sozialpolitische Bedeutung habe. Weiter sei er, der Ankündigung des Herrn Reichskanzlers entsprechend, damit beschäftigt, ein Gesetz, betreffend die Regelung des Vereins- und Versammlungs­ rechtes, auszuarbeiten. „Wenn dieses Gesetz die Gestalt bekommt, die es meines Erachtens bekommen muß, wenn es überhaupt auf An­ nahme in diesem Hause rechnen soll, dann wird es eine Kleinigkeit

sein hierbei durch einige Paragraphen auch das Recht der Berufs­ vereine nach der privatrechtlichen Seite zu regeln; denn die öffentlichrechtliche Seite der Berufsvereine wird schon durch das Gesetz über die Vereins- und Versammlungsfreiheit geregelt werden."

177 Ueber die Zielpunkte, die für die Ausarbeitung des neuen Vereins­ und Versammlungsrechtes maßgebend seien, machte der Staatssekretär

die folgenden höchst interessanten Andeutungen. Er ging von dem Gesetze aus, durch welches seinerzeit das Verbot der Verbindungen mit politischen Vereinen aufgehoben wurde. Einer Zusage des Reichs­ kanzlers Fürsten Hohenlohe entsprechend, sei er verpflichtet gewesen,

dieses Gesetz vor dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches vorzulegen. „Aber welche Angriffe sind damals," so fuhr der Staats­ sekretär fort, „gegen mich dieserhalb gerichtet worden, in der Presse, in dem Hohen Hanse und auch noch an anderen Stellen." Auf den Zuruf eines Sozialdemokraten: „An welchen," erwiderte der Staatssekrekär unter großer Heiterkeit des Hauses: „Das ist eine sehr neu­ gierige Frage, Herr Abgeordneter. Auch noch an anderen Stellen!" Nun fuhr Graf von Posadowsky fort: „Welche Gefahren für Reich und Staat sah man von diesem Gesetze voraus! Nun frage ich Sie: was hat sich in aller Welt seitdem geändert? Die politischen Vereine standen längst durch Telephon, Telegraph und Post miteinander in Verbindung. Die Aufhebung des Verbindungsverbots war nur noch die Beseitigung eines ganz altmodischen Dekorationsstücks." „Und so ist es auch mit unserem Vereins- und Versammlungs­ recht. Dieses arbeitet noch mit einer Reihe von überlebten Be­ stimmungen, die tatsächlich gar nicht mehr auszuführen sind, die der modernen Entwickelung gar nicht mehr entsprechen, die gar keinen politischen Zweck mehr haben und nur das Publikum verärgern." „Meine Herren, man soll sich nicht der Hoffnung hingeben —

ich halte mich trotz aller Angriffe, die gegen mich gerichtet sind, noch immer für einen konservativen Politiker. (Zuruf rechts.) Ja, gewiß, ich halte mich noch dafür. Man soll doch nicht glauben, daß man gewisse Volksstimmungen, gewisse Regungen der öffentlichen Meinung todmacht, unterdrückt durch die polizeilichen Vorschriften eines Vereins­

und Versammlungsrechts.

Die große Aktionskraft unserer Nation

hängt von viel tiefer gehenden Gedanken und Gefühlen ab, als sie erzielt oder unterdrückt werden können durch äußerliche polizeiliche Bestimmungen. Deshalb bin ich allerdings der Ansicht, müssen wir, wenn wir überhaupt ein Vereinsgesetz erlassen, zu einem den modernen Verhältnissen entsprechenden Vereinsgesetz kommen. Will man aber

ein Bereinsgesetz auf dieser Grundlage nicht aufbauen, meine Herren, dann tut man besser, man unterläßt es ganz." Nach diesen Aeußerungen wird es nicht allzu schwer fallen, sich ein Bild davon zu machen, wie ungefähr das neue Gesetz ausfallen wird, wenn die Ansichten des damaligen Staatssekretärs maßgebend Heft 106.

178 geblieben sind. Freilich wird es auch dann, wie die folgenden Be­ merkungen des Staatssekretärs vermuten lassen, nicht ein Gesetz im Sinne des Abgeordneten Naumann und der Sozialdemokraten sein, also nicht ein Gesetz lediglich zur Aufhebung aller bisherigen vor­ beugenden und beschränkenden Bestimmungen. Denn Graf von PosadowSky erklärte, daß er die Ansicht des Abgeordneten Nau­

mann, „ein solches Gesetz zu machen wäre eine ganz kurze Sache", nicht teile. „Ein Vereinsgesetz für Württemberg zu machen ist eine ganz andere Sache als ein Vereinsgesetz für das Deutsche Reich." In diesem lägen die Verhältnisse so verschiedenartig von der französischen bis zur russischen Grenze, daß hier ganz andere Gesichtspunkte zu be­ achten wären, als in einem Mittelstaate. „Meines Erachtens liegen zwischen den äußeren Grenzen für den Aufbau eines Vereinsgesetzes zwei entscheidende Gesichtspunkte: erstens, das Vereinsgesetz muß so aufgebaut sein, daß unter allen Umständen und zu allen Zeiten die bürgerliche Ordnung und Sicherheit aufrecht erhalten werden kann (sehr gut! rechts), das ist eine Forderung des Staatsschutzes. (Heiter­ keit bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, Sie lachen darüber; Sie wollen ja aber alle Ihre Ziele auf friedlichem Wege erreichen! (Große Heiterkeit). Was kann Sie denn ein Gesetz stören, das nur die bürgerliche Ordnung aufrecht erhalten will!" (Sehr gut!) Mit Bezug auf diese letzten Aeußerungen möchte es zweckmäßig sein, hier gleich darauf hinzuweisen, daß die Sozialdemokratie die Sache doch anders ansieht. Gleich von dem nächsten Redner, dem Sozial­ demokraten Hoch, wurde das festgestellt. Er gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß Graf von Posadowsky so lebhaft für den Erlaß eines freien Vereins- und Versammlungsrechtes eingetreten sei. „Als aber der Herr Gras weiter seine Gedanken entwickelte, unter allen Umständen müßte dafür gesorgt werden, daß die bürgerliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit aufrecht erhalten werde, da mußte ich mir sagen: Nun sind wir gerade so klug wie zuvor! Darüber, was man unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung, Ruhe und Sicher­ heit versteht, darüber gehen eben die Ansichten sehr weit auseinander." In seinen Ausführungen fortfahrend, bezeichnete der Staats­ sekretär als zweite Grenze für den Ausbau eines Vereinsgesetzes, „daß nicht die Vereine Stätten sein dürfen, wo verbrecherische Hand­ lungen vorbereitet werden". Das seien die beiden notwendigen Grenz­ linien. Innerhalb dieser könnten eine Reihe von polizeilichen Maß­

nahmen und Kautelen ohne weiteres fallengelassen werden. Graf von Posadowsky wandte sich nun der zweiten großen Frage zu, der Zusammenlegung der Arbeiter-Bersicherungsgesetze. Um

179 die außerordentlich große Bedeutung der nun folgenden Ausführungen des Staatssekretärs richtig erfassen zu können, dürfte es zweckmäßig

sein, zuvor die Stellung in Erinnerung zu bringen, die Graf von Posadowsky wenige Jahre vorher bezüglich dieser schwerwiegenden Fragen eingenommen hatte. Das war geschehen in der Sitzung des

Reichstages am 2. März 1905. Der Staatssekretär hatte in seiner Rede die im Laufe der Zeit bei der Arbeiterversicherung heroorgetretenen

und im Laufe der vorhergegangenen Erörterungen hervorgehobenen Mißstände anerkannt. Die Ursache erblickte er in der Errichtung eines Riesenaufbaues, des Reichsversicherungsamtes, dem der eigentliche

Unterbau fehle. Man habe die großen, immer schwieriger werdenden Aufgaben der sozialpolitischen Gesetzgebung einfach den bisher be­ stehenden Behörden aufgebürdet. Diese könnten die Arbeit nicht in der Weise bewältigen, wie sie im dringenden finanziellen und sozial­ politischen Interesse bewältigt werden müsse. Der Staatssekretär meinte, daß wenn gegenwärtig „res Integra“ bestände, kein vernünftiger Mensch daran denken würde für jeden Zweig der Arbeiterversicherung eine besondere Organisation zu schaffen. Das jetzige sogenannte System unserer sozialpolitischen Gesetzgebung sei lediglich ein Erzeugnis der chronologischen Entwickelung. „Würde man heute die sozialpolitische Gesetzgebung neu aufbauen," so sagte der Staatssekretär, „dann wäre, glaube ich, in diesem Hause nicht der geringste Streit darüber, daß eine einheitliche Organisation ge­ schaffen werden müßte." Der stenographische Bericht verzeichnet an dieser Stelle: „Sehr richtig und lebhaftes Bravo auf allen Seiten des Hauses." Nachdem der Staatssekretär in kurzen Zügen die Vorteile der einheitlichen Organisation angedeutet hatte, sagte er: „Ich glaube, meine Herren, es muß eine Aufgabe der Zukunft sein, diese drei großen Versicherungsgesellschaften in eine einheitliche Form zusammenzufassen." Auch diese Aeußerung hatte Beifall

auf allen Seiten des Hauses hervorgerufen. Die Entwickelung würde, nach der Ansicht des Staatssekretärs, dahin gehen müssen, „daß man einen Unterbau unter berufsmäßiger

Leitung schafft, der die sozialpolitische Gesetzgebung innerhalb beschränkter Verwallungsgebiete in erster Instanz auszuführen hat, der alle An­ träge auf ihren sachlichen Inhalt prüft, die Einziehung der Beiträge leitet, die Rentenempfänger überwacht, das Heilverfahren anordnet und die Zahlung der Renten veranlaßt".

„Ich kann mir ferner sehr

wohl denken," so fuhr der Staatssekretär fort, „daß einem solchen selbständigen Unterbau der Gewerbebeamte, der Kreisarzt angegliedert

180 wird, und daß so besteht, die ein

eine sozialpolitische Behörde für engere Bezirke wirksames öffentliches Organ für die

Ausführung der Sozialpolitik des Staates, seiner sozial­ politischen Fürsorge überhaupt ist." Der Staatssekretär erkannte

die

mit der Durchführung

dieses

Werkes verbundenen gewaltigen Schwierigkeiten in vollstem Maße an; dazu würde, wie er meinte, fast die Allmacht und Kraft eines Diktators gehören. Aber wenn die Sozialpolitik auf einer wirksamen,

auf einer sozialpolitisch und finanziell sicheren Grundlage aufgebaut werden solle, dann werde nichts anderes übrig bleiben, als an eine solche Reform mutig heranzutreten. Aus den kurzen, mit Bezug auf seine Person gemachten Aeußerungen mußte unanzweifelbar geschlossen werden, daß Graf von Posadowsky beabsichtigte, diese Reform in

Angriff zu nehmen und, „wenn seine Amts- und Lebensdauer und Lebenskraft ausreiche", sie durchzuführen.

In der Entwickelung des Programms der Regierung für die künftige Behandlung der großen sozialpolitischen Fragen fortfahrend, sagte der Staatssekretär mit Bezug auf die Zusammenlegung der sozialpolitischen Gesetze nunmehr folgendes: „Das Jnvaliditätsgesetz und das Unfallversicherungsgesetz haben ja vor einigen Jahren eine grundlegende Aenderung erfahren, das Krankenversicheruiigsgesetz trug nur den Charakter eines Notgesetzes. Jede Reform muß deshalb bei der Reform des Krankenvelficherungsgesetzes anfangen, und in diesem Krankenversicherungsgesetz muß be­ sonders auch die Streitfrage der Stellung der Aerzte und der Apo­ theker zu den Krankenkassen erledigt werden. Dieses ganze Kranken­ kaffenwesen muß, wenn ich so sagen darf, ein festeres, klareres Gerippe bekommen. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, daß man das Kranken­ versicherungsgesetz in irgendwie befriedigender Weise reformieren kann, ohne auch gewisse Bestimmungen der übrigen beiden sozialpolitischen Gesetze zu ändern, weil die Beziehungen zwischen dem Krankenver­ sicherungsgesetz einerseits und dem Unfall- und dem Jnvaliditätsgesetz andererseits so vielfache sind, daß eine befriedigende Aenderung des Krankenversicherungsgesetzes gar nicht möglich ist, ohne gleichzeitig

teilweise auch

die beiden anderen Gesetze einer Aenderung zu unter­

ziehen." „Man hat vielfach gesprochen von einer Zusammenlegung der

drei großen Versicherungszweige. Ich habe immer nur gesprochen von einer Zusammenlegung der drei Gesetze, von einer Kodifikation der Gesetzgebung. Auf dem Papier kann man wohl diese drei großen Versicherungszweige zusammenlegen, in der Wirklichkeit würden aber

181 einer solchen automatischen Behandlung

der Frage die allergrößten

Schwierigkeiten entgegenstehen. Da sind große, selbstbewußte Korpo­ rationen, große Krankenkassen, große Berufsgenossenschaften mit eigenem Vermögen, da sind die Knappschaftskassen — das alles nun Bureau» kratisch-schematisch in einen Topf zusammenwerfen, wäre sehr falsch. Wir müssen nicht umreißen, sondern wir müssen das Vorhandene ent­ sprechend den Bedürfnissen auszubauen suchen, und wir müssen die ganze Gesetzgebung vereinfachen. Wenn wir deshalb an diese Reformen gehen, ist es meines Erachtens zunächst unbedingt nötig, den Unterbau zu verbessern. In dem mangelhaften Funktionieren des Unterbaues — und das muß ich hier nochmals sagen — liegen ungeheure Ge­ fahren für die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung überhaupt, namentlich auch auf finanziellem Gebiete." Um gewissermaßen einen Beleg für die Richtigkeit seiner Ansicht zu bringen, beschäftigte sich der Staatssekretär eingehend mit den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Er stellte bei diesen eine

außerordentliche, höchst ungleiche Steigerung der Belastung durch die Renten fest. Nach einer von ihm schätzungsweise aufgestellten Be­ rechnung würde diese Belastung unter der Voraussetzung einer weiteren gleich ungünstigen Entwickelung, für die landwirtschaftlichen Berufs­

genossenschaften Preußens im Beharrungszustande, im einzelnen schwankend zwischen 63 und 148 pCt., im Durchschnitt 105 pCt. der Grundsteuern betragen. Der Staatssekretär konnte dabei aber nachweisen, daß die schwere Belastung heroorgehe „aus dem Mangel an Sorgfalt und Gründlichkeit bei der Bearbeitung der Rentenangelegenheiten und den, besonders in den bäuerlichen Wirtschaften, hinsichtlich der Arbeiter­ versicherung herrschenden höchst unbefriedigenden Zuständen". Mit Bezug auf die Zusammenlegung und Reform der sozialpoliti­

schen Gesetze bezeichnete er nochmals als den Kernpunkt die Reform der Krankenversicherung; sie werde auch in die anderen Gesetze übergreifen. Die unteren Instanzen müßten anders, und zwar so organisiert werden, daß sie in der Lage seien sorgfältig alle Ansprüche zu prüfend Die

Schiedsgerichte müßten anders gestaltet und der Instanzenweg ab­ gekürzt werden. Mit der Reform der Krankenversicherung würde nicht länger hinauszuschieben sein die Einbeziehung der Heimarbeiter,

der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten. Nützlich würde es sein, mit solcher Reform der materiellen Leistungen des Gesetzes gleichzeitig „eine Kodifikation der gesamten sozialpolitischen Gesetze herbeizuführen". Geschehe dies, „so werde man sofort in dieses kodi­ fizierte Gesetz auch die Witwen- und Waisenversicherung hineinnehmen müssen, die nach

dem Zolltarifgesetz

bis 1910 in Kraft treten

182 muß". Der Staatssekretär schloß diesen Teil seiner Ausführungen mit den Worten: „Ich habe hier in diesem Hohen Hause erklärt, daß

ich glaubte, diese Arbeit im Laufe dieses Jahres leisten zu können, und ich habe bis heute keinen Grund anzunehmen, daß ich dieses Versprechen nicht halten werde. Wie man nachher, wenn der Entwurf

fertiggestellt ist, weiter damit verfahren wird, das ist eine Sache, die noch der Erwägung bedarf, und über die ich mich heute zu äußern, keine Veranlassung habe." In Darlegung des weiteren Programms für die künftigen Arbeiten des Reichstags stellte der Staatssekretär in Aussicht eine auch schon fast fertige Novelle zur Gewerbeordnung, betreffend den Arbeiterschutz in der Hausarbeit, „d. h. inwieweit die Schutzbestimmungen der Gewerbeordnung auf die Hausarbeit Anwendung finden sollen".

Ferner Vorlagen über die Nachtruhe derFrauen, nach Maßgabe der Berner Konvention, über den zehnstündigen Arbeitstag der Frauen, über die Arbeitsverhältnisse der Werkmeister und Techniker, die den Handlungs­ gehilfen gleichgestellt werden sollen, jedoch mit einer Ausnahme bezüglich der Konkurrenzklausel, betreffend welcher gänzlich verschiedene Verhältniffe vorlägen. Im Herbste sollte auch ein Gesetz über die Arbeitskammern vorgelegt werden. Mit der preußischen Regierung werde beraten ein Gesetz „über die Unfallversicherung der im öffentlichen Dienst oder in gemeiner Gefahr tätigen Personen", ein Gesetz, das

von konservativer Seite wiederholt beantragt worden sei. Dann solle eine Revision über die Bestimmungen der Sonntags­ ruhe stattfinden, „wobei ich allerdings schon jetzt zugestehe, daß eine Reihe von Ausnahmen, die jetzt noch gestattet sind, in Zukunft

wahrscheinlich nicht mehr notwendig sein werden". Das Apothekergesetz sei der Oeffentlichkeit bereits bekanntgegeben. Es soll ferner das Gesetz über die Seeunfälle revidiert werden, und es sei zu hoffen, daß auch ein Gesetzentwurf über den unlauteren Wettbewerb vorgelegt werden könne. Endlich sei ein Gesetz über die Geheimmittel und die Kur­ pfuscherei in Vorbereitung. Diese im nächsten Jahre allein von dem Ressort des Reichsamts des Innern vorzulegenden Gesetze bezeichnete der Staatssekretär als eine so „ungeheure Masse der Gesetzgebung, daß er sich außerordentlich freuen werde, wenn es der gemeinsamen Arbeit in Plenum und

Kommission gelingen sollte, zum Besten der arbeitenden Klassen und

zum wirtschaftlichen Besten des ganzen Volkes, diese Gesetzgebung zu verabschieden. Ich würde es aber," so schloß der Staatssekretär, „für außerordentlich nützlich halten, wenn man sich jetzt bei diesem Programm einmal beruhigte, wenn man diese

183 Gesetze in Angriff nähme,

möglichst schnell verabschiedete

und weitere Initiativanträge erst stellte,

wenn dieses not­

wendigste, dringendste Programm erledigt ist." Nach dieser Rede des Staatssekretärs des Innern wurden bis zum Schluß der Debatte am sechsten Tage, abgesehen von den Aeußerungen der Vertreter der Regierung, noch 20 sozialpolitische Reden gehalten. Nur ganz vereinzelt wurde von anderen Dingen gesprochen.

Es

ist hier bereits gesagt worden,

daß es sich bei dem

letzten großen Akte der sozialpolitischen Erörterungen wesentlich um Wiederholungen handelte; soweit dies nicht der Fall gewesen ist, sollen

jedoch die bemerkenswerteren Auslassungen auch dieses Teiles der Verhandlungen noch hervorgeheben werden. Der konservative Abgeordnete Pauli sprach von der Witwenund Waisenversorgung. Die Kosten seien von der Regierung auf 225 Millionen Mark jährlich veranschlagt. Dafür würden, soweit ihm

bekannt, aus den Zöllen rund 50 Millionen gedeckt werden. Zu der Frage, wer die Mehrkosten von 175 Millionen Mark tragen werde, erklärte er namens seiner politischen Freunde, „daß, wenn der Gesetz­ entwurf dahin geht, daß der Mehrbetrag wiederum dem Mittelstände und dem Handwerk auferlegt werden soll, wir für ein solches Gesetz nicht zu haben sein werden, sondern nur dann, wenn die Kosten auf eine andere Weise aufgebracht werden". Diese Aeußerung ist unverständlich. Die Kosten für die Arbeiter­ versicherung werden, abgesehen von dem Reichszuschuß zu den Renten der Invalidenversicherung, von den Beteiligten, freilich in verschiedener Weise, aufgebracht. Zu den Beteiligten gehört auch der gewerbliche Mittelstand und auch das Handwerk. Sollen beide, nach der Ansicht der Konservativen, an der Deckung der Kosten für die Versorgung der Witwen und Waisen der von ihnen beschäftigten Arbeiter durchaus

nicht in Anspruch genommen werden,

so würde zu wünschen gewesen

sein, daß der Abgeordnete Pauli nähere Andeutungen darüber gemacht

hätte, wen er für verpflichtet halte, die Kosten für den gewerblichen Mittelstand und für das Handwerk zu tragen.

Mit der gesetzlichen Einführung des zehnstündigen Maximal­ arbeitstages für Fabrikarbeiterinnen erklärte sich der Abgeordnete

Pauli einverstanden. Die Ausdehnung dieser Maßregel auf Ar­ beiterinnen in der Landwirtschaft würde er jedoch für verfehlt halten. Der Abgeordnete Br. Stresemann, Syndikus des Verbandes sächsischer Industrieller, vertrat dem Sozialdemokraten Hoch gegenüber den durchaus richtigen Standpunkt, daß „am letzten Ende das Jnter-

effe des Arbeitgebers und des Arbeiters sich vereinigen muß".

Hoch

184 hatte dies

als unmöglich hingestellt.

Dr. Stresemann verlangte,

daß in der Sozialpolitik, auch im allgemeinen Interesse des Staates, eine Mittellinie gefunden werden müsse, die jenem beiderseitigen Interesse entspreche. Die Sozialpolitik dürfe sich nicht darin erschöpfen, Festsetzungen für einzelne Betriebe, für die Arbeitsbedingungen und dergleichen mehr zu treffen, sondern es liege auch im Lebensintereffe

der deutschen Arbeiter, „daß die Industrie als solche in die Höhe kommt". Er glaube daher, daß es Sozialpolitik im besten Sinne des

Wortes sei, wenn er im Laufe der Etatsberatungen einige Wünsche zur Förderung der Industrie der Regierung nahelegen werde. In dieser Beziehung teilte er mit, daß die führenden deutschen industriellen Verbände die Errichtung einer Auskunftsstelle zur Förderung des deutschen Außenhandels ganz in dem Sinne früherer Aeußerungen des Staatssekretärs beschlossen hätten. Er richtete die Bitte an die Regierung, diese Bestrebungen auch finanziell zu unterstützen. Mehrfach ist von hohen amtlichen Stellen die außerordentlich günstige Lage des Handels und der Industrie, der wunderbare

Aufschwung des ganzen deutschen Wirtschaftslebens in den letzten Jahren als Beweis für die Vortrefflichkeit des neuen deutschen Zoll­ tarifs und der neuabgeschlossenen Handelsverträge angeführt worden. Es ist sehr anzuerkennen, daß Dr. Stresemann den Mut hatte, dieser Auffassung entgegenzutreten, indem er darauf hinwies, daß „der Ueber« gang in die durch die Handelsverträge geschaffene neue Lage zusammen­ gefallen ist mit einer Reihe von Momenten, die jedenfalls die deutsche Industrie in ihrer gegenwärtigen Lage außerordentlich günstig beeinflussen,

von denen wir aber nicht wissen, wie lange sie fortwirken werden." Die deutsche Hochkonjunktur sei bedingt worden durch eine Weltkonjunktur. Glänzende Ernten in anderen Ländern hätten die Kaufkraft unserer

Abnehmer derart gesteigert, daß das Hindernis der erhöhten Zölle jener Länder vorläufig habe überwunden werden können. Rußland habe die günstige Lage, in die es der deutschen Industrie gegenüber durch seinen neuen Zolltarif versetzt worden, infolge der revolutionären Bewegung im Innern nicht ausnutzen können. Die Unsicherheit der

Handelsverhältnisse mit den Vereinigten Staaten habe dazu beigetragen, daß von dort Aufträge in größerem Maße nach Deutschland gekommen seien, als dies unter normalen Verhältnissen der Fall gewesen wäre; wenigstens in der Zeit, in der man keinen Anhalt dafür gehabt habe, ob die

Entwickelung zu einer Verlängerung des Provisoriums oder zum Abschluß eines Handelsvertrages oder gar zu einem Zollkriege führen würde.

Wenn aber diese internationalen Bedingungen

nicht mehr

185 einwirken, dann werden vielleicht jene Bedenken zur Tatsache werden, die auch der Herr Reichskanzler seinerzeit insofern ausgesprochen habe, als er sagte: „Er hoffe von der Intelligenz der deutschen Kaufmann­ schaft und der deutschen Industrie, daß sie die immerhin erschwerte

Exportmöglichkeit überwinden möchten." Der Redner verwies auf eine von ihm schon früher gemachte

Bemerkung, die dahingegangen sei, daß unsere Lage als Exportstaat

durchaus nicht so glänzend ist, „daß man in irgend einer Weise glauben könnte, jene Ausfuhr von mehreren Milliarden, auf der heute unsere Volkswirtschaft mit beruht, sei in irgend einer Weise garantiert, daß wir vielmehr diese Ausfuhr und diese Weltmachtbedürfnisse für unseren Export uns jedes Jahr neu erobern müßten". Diese Aeußerungen des Abgeordneten Dr. Stresem ann sind durchaus zutreffend und geeignet die falschen Schlußfolgerungen zu korrigieren, die aus der Hochkonjunktur des deutschen Wirffchaftslebens auf die Wirksamkeit unseres neuen Zolltarifs und der neuen Handelsverträge gezogen

worden sind. Dr. Stresemann wandte sich auch den Ausführungen des Ab­ geordneten Dr. Naumann zu, zunächst, um darzulegen, daß dessen Ansicht, der Arbeiter sei keine Persönlichkeit mehr, sondern nur noch „eine Zahl, ein Etwas, das an den freigewordenen Platz gestellt würde", in der Allgemeinheit nicht zutreffe. In dieser Beziehung er­

er die Neigung, die industriellen Verhältnisse in Deutschland nur nach den rheinisch-westfälischen Großbetrieben zu beurteilen, für unzulässig. Diesen stellte er die sächsische Industrie gegenüber, in der die kleinen und mittleren Betriebe noch überwiegen, in denen noch vielfach ein persönliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbei­ klärte

tern zu finden sei. Demgemäß seien die Deduktionen des Abgeordne­ ten Naumann „heute noch nicht zutreffend auf das Gesamtverhältnis

der deutschen Arbeiterschaft zur deutschen Industrie". Den Naumannschen Jndustrieparlamentarismus wies Dr.Stresemann zurück, weil dabei unter den verschiedenen, bei der Produktion mitwirkenden Faktoren der Unternehmer und der Arbeitgeber nicht ge­

nügend berücksichtigt würden. „Wenn Sie dem Arbeitgeber, der das ganze Risiko des Unternehmens trägt, der für den Absatz der Produkte zu

sorgen hat, die Direktion im inneren Betrieb insofern nehmen,

daß

man z. B. von einem Majoritätsbeschluß der Arbeiter abhängig machen wolle, ob er Arbeit sparende Maschinen anschaffe oder nicht, an welche Stelle er den einzelnen Arbeiter setzt, wie er die ganze Direktion seines Betriebes schafft, ich glaube, dann drücken Sie ihn in seiner Stellung

herunter, so daß nun bei ihm diejenige Initiative verloren geht, die er

186 bisher in den Dienst der Sache gestellt hat.

Und da,

glaube ich,

könnte sehr leicht ein Defizit in der Produktivität der deutschen In­ dustrie entstehen, für das ich vorläufig noch keinen Ersatz sehe."

Den

sonstigen Ausführungen des Dr. Naumann, „sowohl in Bezug auf den Fortschritt der Sozialpolitik und der moralischen Verpflichtung

des Bundesrats, sich den Majoritätsbeschlüssen des Reichstags nicht entgegen zu stellen, als auch in Bezug auf die Feststellung und Festigung des Koalitionsrechts", erteilte der Abgeordnete Dr. Stresemann seine volle Zustimmung. Dr. Stresemann sagte dann weiter: „Ich bin auch mit ihm — dem Abgeordneten Dr. Naumann — der Meinung, daß dieses Recht, sich zusammen zu tun mit den dem gleichen Berufe Angehörenden zur Erringung besserer Lebensbedingungen, ein Lebens­ recht ist, das dem einzelnen nicht unterbunden werden darf." Dabei richtete er, mit Bezug auf die außerordentliche Erstarkung der Ge­ werkschaften, „an die Herren der äußersten Linken" die Bitte, dem ein­ zelnen Arbeiter die Freiheit zu gewähren, sich derjenigen Organisation anzuschließen, die er für die zweckmäßigste hält. In dieser Beziehung sagte der Abgeordnete wörtlich: „Wenn wir der Ursache nachforschen, weshalb so viele Arbeitgeber — und ich bedauere das — sich noch nicht zur Anerkennung der Arbeiterorganisationen bereit finden, so ist

es, glaube ich, nicht die Ablehnung des Grundgedankens, daß der einzelne Arbeiter dieses Recht und diese Freiheit habe, sondern es ist

die Form, in der die freien Gewerkschaften dem Arbeitgeber entgegen­ treten, als Anhängsel der sozialdemokratischen Partei, in der er nun doch, nach Lage der Dinge, einmal seine Todfeindin sieht, und es ist die Form, in der von den freien Gewerkschaften an den Arbeitsstätten ein Terrorismus gegen alle geübt wird, die ihnen nicht angehören." Was unter Anerkennung oder Nichtanerkennung der Arbeiter-

organisationen verstanden wird, kommt häufig nicht genügend klar zum Ausdruck, auch nicht in den Ausführungen des Abg. Dr. Stresemann. Von den Sozialdemokraten wird die Nichtanerkennung gewöhnlich gleichbedeutend erachtet mit der Negierung des Koalitionsrechts der Arbeiter. Das ist durchaus falsch. Das bestehende Recht der Arbeiter, sich zusammenzuschließen, wird durch die Nichtanerkennung in dem

gewöhnlichen Sinne dieses Wortes in keiner Weise berührt, und soll

auch in keiner Weise angetastet werden. Die Nichtanerkennung bezieht sich lediglich auf den immer energischer hervortretenden Anspruch der Arbeiterorganisationen, regelnd in die Verhältnisse der einzelnen Betriebe, in das Arbeitsverhältnis des Arbeitgebers zu dem von ihm in seinem Betriebe beschäftigten Arbeiter einzugreifen. Dieser Anspruch wird von den Arbeitgebern zurückgewiesen, die ihr gutes Recht, das Arbeits-

187 Verhältnis mit ihren Arbeitern, unter Ausschluß aller außenstehenden Elemente, allein zu regeln, unter allen Umständen wahren wollen.

Nur das

ist unter Nichtanerkennung

der Arbeiterorganisationen zu

verstehen. Wer von den Arbeitgebern diesen selbständigen Standpunkt aufgibt und über die Feststellung der Arbeitsbedingungen in seinem Betriebe mit den Arbeiterorganisationen bezw. mit deren Führern

unterhandelt, der erkennt die Organisationen eben an. Es ist anzunehmen, daß Dr. Stresemann sich für die Anerkennung in diesem Sinne ausgesprochen hat. Sein Bedauern darüber, daß ein gleiches von vielen Arbeitgebern noch nicht geschehen ist, wird von sehr weiten industriellen Kreisen sicher nicht geteilt werden. Bei dieser Gelegenheit ist es wohl zweckmäßig gleich darauf hin­ zuweisen, daß auch der Arbeitgeber, wenn er erklärt nur unorganisierte Arbeiter beschäftigen zu wollen, in keiner Weise dem Koalitionsrecht der Arbeiter entgegentritt oder diesem zuwiderhandelt. Es sei hier an das Vorgehen der Direktion der Friedr. Bayrischen Farbwerke erinnert. Dieses Vorgehen wurde, unter lebhaftester Zustimmung der liberalen Parteien und des Zentrums, als ein gröblicher Verstoß gegen das Koalitionsrecht, als eine Entrechtung der Arbeiter, als Ausfluß des verwerflichsten Scharfmachertums bezeichnet. Hierin liegt eine Auffassung, die durchaus zurückgewiesen werden muß. Der Arbeiter ist gesetzlich berechtigt einer Organisation beizutreten, aber ebenso auch von ihr fern, gewissermaßen allein zu bleiben. Das Gesetz hat sogar Fürsorge, wenn auch ungenügend getroffen, ihn zu schützen, falls er vorzieht sich nicht an irgend einer Organisation zu beteiligen. Daraus muß doch selbst­ verständlich gefolgert werden, daß der Arbeitgeber mit der Beschäftigung solcher Nichtorganisierten Arbeiter durchaus keinen Verstoß gegen das Koalitionsrecht begeht. Denn im anderen Falle müßte dieses Recht so ausgelegt werden, daß Nichtorganisierte Arbeiter überhaupt nicht beschäftigt werden dürfen.

In weiterer Folgerung muß es demgemäß

auch das gute Recht des Arbeitgebers sein, nur unorganisierte Arbeiter in seinem Betriebe aufzunehmen oder in ihm zu dulden. Damit ist durchaus kein Verstoß gegen das Koalitionsrecht oder die Freiheit des Arbeiters verbunden. Denn diesem bleibt sein Recht und seine Frei­ heit vollkommen gewahrt, entweder die Arbeit in dem betreffenden Werke oder die Koalition zu wählen. Er wird die Wahl wahrschein­ lich immer nach Maßgabe der Vorteile treffen, die sich ihm bieten je nachdem er sich der einen oder der anderen Seite zuwendet. Würde der Arbeitgeber mit der Bestimmung, -nur unorganisierte Arbeiter zu beschäftigen, gegen das Koalitionsrecht, also gegen ein bestehendes Gesetz verstoßen, so müßte er wegen Uebertretung bezw. Verletzung,

188 wie jeder andere, der irgend ein Gesetz übertritt, zur Verantwortung gezogen bezw. bestraft werden. Wenn das bisher noch in keinem Falle geschehen ist, so liegt das nicht an der Unachtsamkeit oder Nachlässig­ keit der über die Befolgung der Gesetze wachenden Behörden, sondern darin, daß hier keine Gesetzesverletzung vorliegt. Die scharfe Verur­ teilung und gröbliche Schmähung der Arbeitgeber, die keine organisierten Arbeiter beschäftigen wollen, zeigt, daß der sozialpolitische Uebereifer

schließlich zu einer vollständigen Verwirrung der Begriffe und An­ schauungen über durchaus klare Rechtsverhältnisse führt. Aus der Rede des Abgeordneten Dr. Stresemann, der sich noch scharf gegen den von den sozialdemokratischen Gewerkschaften

geübten Terrorismus wandte, anscheinend aber mit allen in den langen Verhandlungen von den Vertretern der verschiedenen Parteien bezeichneten sozialpolitischen Zielen und Aufgaben einverstanden war, soll nur noch hervorgehoben werden, daß er, im Gegensatz zu dem Abgeordneten Dr. Mugdan, die Möglichkeit der Durchführung eines Zwanges für die Arbeitgeber zum Abschluß von Tarifverträgen bezweifelte. Dr. Stresemann sprach jedoch die Hoffnung aus, „daß diese Tarifver­ träge einmal ein Instrument des sozialen Friedens wären". In richtiger Selbsterkenntnis gab er zu, daß er sich damit „in Gegensatz zu manchen Arbeitgeberorganisationen befände". Nur sind es nicht „manche" Organisationen, sondern es ist, mit vereinzelten Ausnahmen, die gesamte größere, bedeutendere und maßgebendere Industrie, zu der Dr. Stresemann sich mit seiner Ansicht über Tarifverträge im Gegensatz befindet. Der Abgeordnete Giesberts erklärte, sich hauptsächlich mit der Lage der Walz- und Hüttenwerksarbeiter beschäftigen zu wollen. Eine von der sozialdemokratischen Partei eingebrachte Resolution, Er­ hebungen über diese Lage anzustellen, sei bereits im vorigen Jahre vom Reichstage angenommen worden. In diesen Industrien hätten sich allmählich Mißstände angehäuft, die sehr ernstlicher Untersuchungen bedürfen. Die Metallindustrie sei das Rückgrat der deutschen In­ dustrie,

sie werfe erhebliche Gewinne ab, sie zahle auch

im Ver­

hältnis zu anderen Industrien ganz erhebliche Löhne, „sie erfordert aber von den Arbeitern ein ganz außerordentliches Risiko an Gesundheit und Lebenskraft, und

darum ist ein größerer Schutz, eine größere

Fürsorge für die Metall- und Hüttenarbeiter ganz entschieden am Platze und notwendig". Giesberts klagte über die hohen Krankheits­ und Unfallziffern und meinte, „am schlimmsten ist die Sache bei der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlberufsgenoffenschaft". Er sagte

aber gleichzeitig, daß „am schlimmsten" auch die Dinge in dem ober-

189 schlesischen Jndustriebezirk lägen,

in den

und daß ihm über die Zustände

lothringischen Hüttenwerken

so

„schlimme Dinge"

berichtet

worden sei, daß er vor der Hand nicht den Mut habe, sie hier vor­ zutragen, ohne die Sache erst näher untersucht zu haben. Im be­ sonderen verlangte er, daß den in den Betrieben beschäftigten Italienern,

Russen, Galiziern und Böhmen die Unfallverhütungsvorschriften in ihrer Muttersprache übergeben werden sollten. Die Untersuchung würde zu lenken sein auf die Beschaffenheit der Arbeitsräume, die Wasch- und Badeeinrichtungen, ganz besonders auf die Arbeitszeit. Als Ziel bezeichnete er die Einführung des Achtstundentages in der Hüttenindustrie. Als Beweis für die jetzt gebräuchliche zu lange Arbeitszeit in diesen Industrien führte er an, daß die Leute in den sonntäglichen Arbeiterversammlungen schliefen, anstatt aufmerksam zu­ zuhören. Nachdem Giesberts noch hervorgehoben hatte, daß keine Industrie den Organisationsbestrebungen der Arbeiter so viel Wider­

stand entgegensetze wie gerade die große Eisenindustrie,

schloß er mit

folgenden Worten: „Darum sollte das arbeitsstatistische Amt neben den Arbeiten, die es bereits hat, eine Erhebung über die Lage der

Arbeiter in den Hütten- und Walzwerken veranstalten,

um auf deren

Resultaten ein gesetzgeberisches Einschreiten zur Beseitigung dieser Miß­ stände durch Bundesratsverordnung oder auf anderem Wege zn

veranlassen." In der 28. Sitzung am 13. April ergriff der Staatssekretär Graf von Posadowsky das Wort, um zunächst einige Angriffe zurück­ zuweisen, die der Sozialdemokrat Schmidt-Berlin in einer langen Rede gegen ihn gerichtet hätte. Sodann erteilte er Antwort auf die im Hause an ihn gerichteten Fragen. Eine Aenderung zu Gunsten der

Sonntagsruhe

in

der

Binnenschiffahrt halte er für notwendig. Die Erhebungen des Beirats für Arbeitersiatistik über die tägliche Arbeitszeit in der Binnen­ schiffahrt seien indes noch nicht beendet; es könnten daher in dieser so

schwierigen Materie auch noch keine Vorschriften erlassen werden. Er wolle aber darauf hinwirken, daß die Erhebungen mit möglichster Beschleunigung beendet würden, da er die Dringlichkeit, diese Fragen im Wege der Verordnungen zu regeln, mit dem Hause anerkenne. Das Verbot der Sonntagsarbeit im Gewerbe betreffend, so

sei eine allgemeine Revision der mit der Bekanntmachung des Bundes­ rats vom 5. Februar 1895 zugelassenen Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit in Angriff genommen. Für alle in der Bekanntmachung

enthaltenen Gruppen sei ein vorläufiger Entwurf aufgestellt und dem

190 Bundesrat mitgeteilt worden. Nach Verarbeitung der von den Bundesregierungen eingehenden Gutachten werde vorausichtlich im kommenden Winter dem Bundesrat eine Vorlage zur Abänderung der erwähnten Ausnahmebestimmungen zugehen. Wie sich bereits über­ sehen lasse, haben eine Reihe von Ausnahmen von der Ver­ pflichtung zur Sonntagsruhe nicht mehr aufrecht erhalten

werden können. Richtig sei bereits bemerkt worden, daß die Gewerbeinspektionen aufgefordert worden seien, über die Verhältnisse der Glasindustrie im allgemeinen zu berichten. Den verschiedenen Anträgen werde erst stattgegeben werden können nach Eingang jener Berichte. Im Hinblick auf die Sonntagsruhe in den Glashütten seien bereits sehr ein­ schneidende Bestimmungen erlassen worden, die eine wesentliche Besserung des bestehenden Zustandes bedeuten. Sobald die Berichte der Gewerbeinspektionen eingegangen seien, würden alle hier im Hause gestellten Fragen und eingebrachten Anträge zum Gegenstand der Erwägung gemacht werden. Bezüglich des Submissionswesens wies der Staatssekretär darauf hin, daß die preußischen Bestimmungen, mit Ausnahme der Heeres- und Marineoerwaltung, bereits im Reichsdienst Anwendung

fänden. Ein Teil der im Hause geäußerten Wünsche sei durch die preußischen Bedingungen bereits erfüllt. Hierfür erbrachte der Staats­ sekretär den Beweis durch die Verlesung mehrerer dieser Bestimmungen. Alles das seien jedoch nur formelle Bestimmungen. Ob die im Reichs­ tage im Interesse der Handwerker geäußerten Wünsche, die er voll­ kommen teile, erfüllt werden, hänge davon ab, wie die Bestimmungen ausgeführt werden. Solche Bestimmungen müßten mit einer gewissen Liebe, mit einem gewissen inneren Interesse für den Zweck zur Aus­ führung gebracht werden, nicht rein bureaukratisch. Für den, der die Arbeiten leitet, sei es natürlich viel leichter, mit einem großen Unter­ nehmer zu verhandeln, Schwierigkeiten macht.

der alles übernimmt und besorgt und keine Wenn aber eine Reihe kleiner Unternehmungen

berücksichtigt wird, bei denen dann dafür zu sorgen sei, daß Lieferungen

und Arbeiten rechtzeitig ineinandergreifen, sei die Bauleitung wesentlich schwieriger und der leitende Beamte habe natürlich mehr Arbeit und Sorge. Er sei aber der Meinung, daß sozialpolitisch eine liebevolle Detailarbeit hier sehr wertvoll sei. Hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse des Bureaupersonals der Rechtsanwälte und Notare sei die von dem preußischen Justizminister eingenommene Stellung den übrigen Bundesregierungen zur Kenntnis gebracht worden. Die Rückäußerungen lägen aber noch nicht voll­

ständig vor.

191 Es sei ferner eine allgemeine Regelung der Beschäftigung von Arbeiterinnen und von jugendlichen Arbeitern bei gesund­

heitsschädlichen Arbeiten angeregt worden.

Dieserhalb habe der

Staatssekretär sich mit den Bundesregierungen, insbesondere mit dem preußischen Minister für Handel und Gewerbe in Verbindung gesetzt. Dieser habe aber erklärt, er vermöge ein Bedürfnis für die Regelung nicht

anzuerkennen. Der Minister vertrete die Ansicht, es läge bei dem in Aussicht genommenen Vorgehen die Gefahr vor, daß Beschäftigungen verboten würden, die im einzelnen und nicht etwa nur in vereinzelten Fällen zulässig seien. Dieser Stellung des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe gegenüber werde er, der Staatssekretär, die Frage nicht fallen lassen, sondern er werde sich mit ihm weiter darüber

unterhalten. Eine weitere wichtige Frage sei die Erhebung von Beiträgen einerseits wegen Zugehörigkeit zum Handwerk, andererseits wegen Zugehörigkeit zu den Fabriken und ferner die Anwendung der Arbeiterschutzbestimmungen der Gewerbeordnung auf die Einzelbetriebe. Die letztere Frage betreffend, habe er mit dem preußischen Handels­ minister mündlich verhandelt und eine Einigung dahin erzielt, daß, um den zahllosen Zweifeln entgegenzutreten, die streitige Frage, ob ein Gewerbebetrieb oder ein Handwerksbetrieb vorliegt, nach der Zahl der in den einzelnen Betrieben beschäftigten Gehilfen, und auch danach zu entscheiden sei, ob in den einzelnen Betrieben motorische Kraft verwendet werde. Er selbst glaube, man werde zu einer befriedigenden Regelung der Frage nur kommen, wenn man sich an solche Merkmale halte, die

jeder individuellen Erwägung entzogen seien. Die Frage der Beitragsleistung sei noch erheblich schwieriger.

Er habe bereits in der Sitzung vom 3. Februar 1906 ausgeführt, daß

zur Beseitigung der Klagen über die zweifache Heranziehung einzelner Betriebe zu den Beiträgen, sowohl der Zwangsorganisation des Handels als derjenigen des Handwerks, es vielleicht zweckmäßig sein würde, «ine einheitliche Schlußinstanz zu schaffen, die sowohl für die Handels­

Grundzüge zu einer in dieser Richtung sich bewegenden Gesetzesvorlage seien aus­ kammer wie für die Handwerkskammer zu entscheiden habe.

gearbeitet. Eine inzwischen bei den Bundesregierungen gehaltene Rund­ frage habe jedoch ergeben, daß das Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung nicht überall in gleichem Maße bestehe. Auch von dem preußischen Handelsminister sei ein dringendes Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung z. Zt. nicht anerkannt worden. Nach der neueren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts könnten Handwerksbetriebe

nicht aus dem Grunde allein für handciskammerpflichtig erklärt werden,

192 weil sie in das Handelsregister eingetragen seien. Es müsse vielmehr für die Handelskammerpflicht, die unabhängig von der Eintragung in daS Handelsregister feslzustellende Tatsache hinzukommen, daß der Betriebsinhaber Kaufmann sei.

Die Kaufmannseigenschaft sei jedoch

zu verneinen, wenn dem Betreffenden, mit Rücksicht auf seine gesamten Betriebsverhältnisse die Eigenschaft eines Handwerkers zukomme. In anderen Fällen,

in denen

die Natur eines Betriebes es zweifelhaft

erscheinen lasse, ob er zum Handwerk oder zu den Fabriken gehöre, wolle der Handelsminister im Verwaltungswege eine Anordnung treffen, wonach ein Gewerbebetrieb, der durch rechtskräftige Entscheidung der Verwaltungsgerichte als Fabrik erklärt sei, von der Heranziehung zu den Organisationen des Handwerks freizulassen sei. Endlich komme

in Betracht, daß die hier in Rede stehenden Fragen kaum zu regeln sein werden, ohne daß man übersieht, wie weit gleichzeitig etwa die Wünsche der Handwerker befriedigt werden könnten, die dahin gehen, die Fabrikbetriebe, die handwerksmäßig ausgebildete Arbeitskräfte beschäftigen, anteilig zu den Kosten heranzuziehen, die die Handwerks­ kammern für das Gesellen- und LehrlingSwesen aufgewendet haben. Die in dieser Beziehung schwebenden statistischen Erhebungen seien noch nicht zum Abschluß gelangt. Auch bezüglich der Gefangenenarbeit seien statistische Er­ hebungen im Gange, die ebenfalls noch nicht zum Abschluß gelangt seien. Mit Bezug auf die Gastwirtsverordnung versicherte der Staatssekretär, daß kaum eine andere Verordnung des Bundesrates so eingehend auch von den lokalen Instanzen geprüft worden sei, wie gerade diese Gastwirtsverordnung. Man habe zu einer anderen

Regelung nicht kommen können. Eine im preußischen Abgeordneten­ hause gestellte Resolution mit Bezug auf die Aenderung dieser Ver­ ordnung sei abgelehnt worden. Es sei auch über die Schädlichkeit des Hausierhandels

gesprochen worden. Er halte das Angebot von Waren auf dem Wege des Hausierhandels, ebenso wie den allergrößten Teil der Jahrmärkte,

für überlebt. Richtig sei auch, daß von den Hausierern vielfach mangel­ hafte, minderwertige Waren angeboten würden. Er glaube aber, daß ein Gesetzentwurf, betreffend das gänzliche Verbot des Hausierhandels, eine Mehrheit im Hause nicht finbett würde. Beim Hausierhandel

heiße eS eben auch, jeder müsse bezüglich der Ware, die er kauft, die

Augen aufmachen. Ueber die Errichtung einer gewerblich-technischen Reichs-, anstatt könne er gegenwärtig noch keine Auskunft geben. Weitere Erörterungen hätten aber bereits geschwebt über die Errichtung einer

193 chemisch-technischen Reichsanstalt.

Den Interessenten in dieser

Sache sei bereits ein schriftlicher Bescheid zugegangen, aus dem der Staatssekretär folgendes mitteilte: Bei solchen wissenschaftlichen An­ stalten liege bei rein bureaukratischer Organisation immer die Gefahr vor, daß die Personen, die an solchen Anstalten arbeiten und die wissenschaftliche Forschung im Jnjeresse der praktischen Industrie fördern sollen, ihre Fühlung mit der Praxis und der Industrie verlieren, und daß dadurch ihr Erforschungstalent und ihre praktische Auffassung der Dinge, ihr Verständnis dessen, was die Industrie brauche, allmählich

verblasse. Dann sei weiter ein Hindernis, daß hervorragende Tech­ niker und Chemiker Gehälter in der Industrie bezögen, die der Reichs­ tag nicht bewilligen würde, und die mit Rücksicht auf die anderen Beamtenkategorien auch von der Regierung nicht bewilligt werden könnten. Es würde daher außerordentlich schwierig sein, die hervor­ ragendsten Kräfte für den Reichsdienst bezw. für ein solches Institut zu gewinnen. Demgemäß werde schon die Personenfrage außerordent­

liche Schwierigkeiten machen. Weil er, der Staatssekretär, den in der Sache liegenden Kern, nämlich gewisse Daueruntersuchungen, die sich manchmal auf Jahre erstrecken würden, in einer öffentlichen Anstalt zu machen, anerkenne, habe er den Beteiligten anheimgegeben, nament­ lich auch um die Gehaltsfrage zu lösen, zunächst einen größeren Stiftungsfonds zu sammeln. Die Beschäftigung von hervorragenden

Chemikern in der chemisch-technischen Anstalt könnte dann derart er­ folgen, daß sie aus der Praxis nur vorübergehend in den Reichsdienst berufen würden, und nach Maßgabe des Etats als zeitweilige Reichs­ beamte, als Hilfsarbeiter, zwar ein Gehalt aus einem allgemeinen Fonds des Etats bekämen, daß ihnen aber, soweit es nicht möglich sei, diese nur vorübergehend herangezogenen Techniker aus dem Reichs­ fonds angemessen zu besolden, aus den Zinsen jenes Stiftungsfonds der chemischen Industrie entsprechende Zulagen gewährt werden. Die ganze Anstalt würde dann, allerdings unter Aufsicht des Staats­ sekretärs des Innern, doch vorzugsweise unter der Leitung eines freigewählten sachverständigen Kuratoriums stehen. Demgemäß habe

er vorgeschlagen, ein gewisses Mittelding zwischen einem Privatinstitut und einem Reichsinstitut zu schaffen, das aber doch die Möglichkeit biete, jene Beweglichkeit in seinem technischen Personal zu gewährleisten, die unbedingt notwendig sei, um eine derartige Spezialanstalt auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung zu halten.

Ferner liege auch der Antrag auf eine Enquete über die Verhältnisse der Metallindustrie vor. Der preußische Handels­ minister habe sich bereit erklärt, die hier im Reichstage berührten Hest 106.

13

194 seinerzeit einer eingehenden Erörterung zu unterziehen. dieser Erhebungen müsse abgewartet werden. Die Anträge bisher nur auf die Eisenindustrie bezogen; neu sei der nun auf die gesamte Metallindustrie und somit auch auf die Blei- und Zinkindustrie auSzudehnen. Für diese Industrien seien seitens des Bundesrats bereits verschiedene Verordnungen zum Schutze

Verhältnisse Der Erfolg hätten sich Antrag, sie

von Leben und Gesundheit der Arbeiter ergangen. Auf Grund der jetzt gestellten Resolution werde er, der Staatssekretär, zunächst das Reichs­ gesundheitsamt darüber hören und dann erwägen, inwieweit die jetzt von dem preußischen Handelsminister angestellten Erhebungen etwa zu ergänzen sein möchten. Der Staatssekretär versicherte dann gewissermaßen in feierlicher Weise, daß mit Bezug auf das Tempo und den Inhalt der sozialpolitischen Gesetzgebung, zwischen dem Herrn Reichskanzler und ihm nicht die leiseste Meinungsverschiedenheit bestehe. „Wenn ich jetzt Aus­ führungen über den Erlaß eines Vereinsgesetzes gemacht habe, so sind

das Ergänzungen zu der Erklärung, die der Herr Reichskanzler hier abgegeben hat; und auf sozialpolitischem Gebiete ist der Herr Reichs­ kanzler mit mir, in Bezug auf die Ziele und den Umfang der sozial­ politischen Gesetzgebung, vollkommen einer Ansicht."

Der Staatssekretär wies noch die Vorwürfe zurück, die ihm bezw. den Bundesregierungen bezüglich der Langsamkeit des Verfahrens gemacht worden seien, indem er den Gang solcher Verhandlungen in einem Bundesstaat schilderte, die natürlich schwieriger und zeitraubender seien als ähnliche gesetzliche Maßregeln in den Einzelstaaten. Er schloß dann seine eingehenden Darstellungen mit folgenden Worten: „Ich kann also diese Angriffe, soweit sie sich gegen den Bundes­ rat richten, oder soweit von einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit zwischen den Anschauungen des Herrn Reichskanzlers und meinen Anschauungen auf sozialpolitischem Gebiete die Rede ist, als berechtigt und inhaltlich begründet nicht anerkennen." „Außerdem, meine Herren, habe ich Ihnen vorgestern ein Pro­

gramm dessen gegeben, was im nächsten Jahre geschehen soll. Teil der Ausführungen des Programms beruht doch auf sehr fangreichen gesetzgeberischen Vorarbeiten, die bereits gemacht sind die Tätigkeit des Reichsamts des Innern und des Bundesrats gehend in Anspruch genommen haben. Ich glaube, wenn alle

Ein um­ und

ein­ diese

Vorlagen Ihnen bei Begin» der nächsten Tagung zugehen, werden Sie auch dem Bundesrat gern das Zeugnis erteilen, daß er seine Pflichten gegenüber den wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen des deutschen Volkes vollkommen erfüllt hat."

195 Nach dem Staatssekretär des Innern sprachen hintereinander drei

Handwerksmeister, ein Schreiner, ein Bäcker und ein Maler, fast aus­ schließlich über Handwerks- und Mittelstandsfragen, jedoch ohne

wesentlich Neues vorzubringen. Der dann folgende nationalliberale Abgeordnete Dr. Seniler verfolgte den Zweck, die im Laufe der Erörterungen von mehreren Seiten herangezogenen Verhältnisse des Streiks im Hamburger Hafen, in durchaus unbefangener und objektiver Weise darzustellen. Eine solche Mitteilung erschien ihm um so mehr notwendig, weil diese Dinge von den sozialdemokratischen Rednern etwas einseitig geschildet worden seien, was selbstverständlich sei, im Hinblick auf den Umstand, daß die Führung des Streiks tatsächlich in sozialdemokratischen Händen liege. Der Abgeordnete gab ein klares, ausführliches Bild von der Entstehung des Streiks und von den Vorgängen im Verlaufe dieses schweren Kampfes. Er konnte dabei feststellen, daß es sich um eine Macht­ probe handle, denn auch der Beginn des Ausstandes sei durch eine solche herbeigeführt worden, weil die Sozialdemokratie gewollt habe, daß die Schauerleute die Arbeit am 1. Mai niederlegen sollten. Der Abgeordnete besprach auch den Konflikt zwischen den Reedern und dem Verein der Schiffsoffiziere. Er konnte auch hier nachweisen, daß die Verhältnisse in der Oeffentlichkeit nicht immer zutreffend und objektiv dargestellt worden seien. Das möge daher kommen, je nach­

dem die Beurteilung ausgehe „von den wenigen Offizieren, die, weil sie justement unbeschäftigt und mit ihrem Schicksal nicht gerade zu­ frieden am Lande, und daher regelmäßig Besucher jenes Vereins am Lande sind" oder der Offiziere, die an der Fahrt teilnehmen, „die im Berufe auf hoher Fahrt sind und die keine Zeit haben für die Vereinsangelegenheiten besonders zu sorgen, die auch nicht verstimmt

sind, weil sie beschäftigt sind". Wenn diese befragt werden, bekomme man doch ein anderes Urteil zu hören. Die höchst interessanten und

klaren Darstellungen des Abgeordneten Semler sind durchaus geeignet einen Einblick in die so bedeutungsvollen Reederei- und Schiffahrtsangelegenheiten Hamburgs zu gewähren, soweit die Arbeits­ verhältnisse und

die Beziehungen der Reeder zu ihren Offizieren in

Betracht kommen.

In der 29. Sitzung Abgeordnete Horn. Er Glasindustrie und der Schutzes für die in dieser

am 15. April sprach zuerst der sächsische beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Notwendigkeit eines wesentlich erweiterten Industrie tätigen Arbeiter.

Dann kam das Mitglied der Reichspartei von Dirksen zu Worte. Nach dem bisherigen Verlaufe der sozialpolitischen Verf3*

196 handlupgen und nach der Flut der „auf das Haus herabgeregneten"

Initiativanträge glaubte er feststellen zu können „daß dieser neue Reichstag mit einem Tropfen sozialpolitischen Oels gesalbt sei, der

mindestens so groß ist, wie der, welcher auf dem alten Reichstag geruht hat". Daß eine große Majorität bestehe, welche die Kraft und den Mut habe für die Lösung sozialpolitischer Aufgaben einzutreten, erkannte der Abgeordnete an. Auch bestehe eine Reihe von Materien, die nach der Auffassung jener Majorität spruchreif sei, sodaß die Ab­ geordneten nur auf den Augenblick warten, um ihren Arbeitseifer

zu betätigen. Wenn aber die Abgeordneten Bassermann und Trimborn den Arbeitseifer durch den Hinweis darauf anzuspornen versucht

hätten, daß der Sozialdemokratie noch werterer Abbruch zu tun sei durch vertiefte und intensivere sozialpolitische Arbeit, so verkenne er, der Abgeordnete, das Gewicht solcher Erwägungen nicht. „Aber," so fuhr er fort, „ich möchte davor warnen, daß wir bei der Verfolgung unserer Sozialpolitik uns zu sehr leiten lassen durch irgend welche Ausblicke und Rückblicke auf die Sozialdemokratie. Wir müssen unsere Sozialpolitik treiben vollkommen unabhängig von irgend ipelcher Rücksichtnahme auf die extreme Partei. Darüber müssen wir

uns klar sein: recht machen werden wir es der Sozialdemokratie auf diesem Gebiete nie. Die Sozialdemokratie hat bekanntlich die Weisheit auch auf diesem Gebiete mit Löffeln gegessen: sie wird nie zugeben, daß die bürgerlichen Parteien ihr auf diesem Gebiete den Wind aus den Segeln genommen haben, sie wird immer noch mehr verlangen, als wir ihr gewähren wollen und gewähren können, und sie wird, wie sie es bisher getan hat, ihre Mitarbeit auf diesem Gebiete versagen." „Darum halte ich es für durchaus untaktisch und unpolitisch, wenn wir uns immer umsehen und fragen: werden wir mit dieser oder jener Maßregel der Sozialdemokratie Anhänger von ihren Fahnen wegtreiben, werden wir die Sozialdemokratie nicht mit uns ziehen und sie dadurch in den Hintergrund drängen? Diese Rücksichten dürfen bei uns nicht mitsprechen." Zur Begründung dieser Ansicht verlas der Abgeordnete folgenden Abschnitt aus einem Artikel, des „Bolkswillen":

„Der Gedanke, daß mit der Verschlechterung der sozialen Ver­ hältnisse der Arbeiterbevölkerung, die Sozialdemokratie zunimmt und uutgekehrt mit der Verbesserung zurückgeht, ist aber durchaus falsch und,verstößt gegen alle Regeln der Psychologie, gegen alle geschicht­ lichen Erfahrungen der Arbeiterbewegung. Die Erreichung eines

höheren sozialen Niveaus führt niemals zur Zufriedenheit, sondern erweckt immer neue Ansprüche, die einen ewigen Keim der Unzu-

197 friedenheit bilden.

sondern

die

Nicht die gedrücktesten Schichten der Arbeiter bilden das Rückgrat einer aktionsfähigen

gehobenen

Organisation." Diese Ansicht des sozialdemokratischen Blattes ist durchaus zu­

treffend und es ist diese „Regel der Psychologie" bereits viel früher und von einem sehr hervorragenden Sozialisten vertreten worden. Als John Burns noch nicht, wie gegenwärtig, englischer Minister des Innern, sondern im Jahre 1889 noch Agitator und Führer in dem berüchtigten Londoner Dockarbeiterstreik und höchst erfolgreicher

Organisator der sogenannten „ungelernten" Arbeiter — unskilled men — war, bekannte er sich in einem in London mit meinem Freunde,

dem Abgeordneten Generalsekretär Dr. Beumer, dem Fabrikbesitzer Theodor Möller, späteren Handelsminister von Möller und mir geführten langen Gespräche unumwunden zu den Grundsätzen der Sozialdemokratie und zwar in dem Sinne der deutschen Sozial­ demokratie. Er sagte, als Ziel verfolge er zunächst die tunlichste Besserung der materiellen Lage der Arbeiter, denn mit der Besserung ihrer Lage nehme die Unzufriedenheit, und damit die Neigung und Bereitwilligkeit zu, sich der Sozialdemokratie anzuschließen. Wenn es dem Arbeiter erst gut geht, dann habe ich ihn! So sagte John

Burns damals. Der Abgeordnete von Dirksen verwies auch auf die nach der ersten Etatsberatung von der „Leipziger Zeitung" gemachten folgenden Aeußerungen: „Die Auslassungen Davids sind für die Politiker lehr­ reich, die da meinen, die Sozialdemokratie sei nun halb überwunden, und um sie vollends zu zerschmettern, genüge es, immer mehr radikale Sozialpolitik zu treiben. Das wäre ein recht verkehrtes Mittel, um

der Revolutionspartei beizukommen."

Der Abgeordnete sagte dann:

„Das sind doch gewiß Mahnungen, die uns etwas vorsichtig machen sollten. Und ich möchte darauf Hinweisen, daß, soweit wir auch vielleicht in unseren Auffassungen gehen, die Sozialdemokratie uns in den Forderungen, die sie mit der Zeit stellen wird, doch immer noch

übertrumpfen wird." Der Abgeordnete von Dirksen betonte jedoch trotzdem wieder­

holt die Bereitwilligkeit feiner Partei, bei dem weiteren Ausbäu der Sozialpolitik mitzuwirken. „Das verbürge die Geschichte seiner Partei, die die Ehre gehabt habe einen Mann wie den Freiherrn von Stumm in ihren Reihen zu zählen, der trotz seiner anscheinenden Schroffheit ein wahrer Vater seiner Arbeiter gewesen sei." . . . „Aber gerade weil wir auf dem realen Boden der Tatsachen stehen, weil wir uns bemühen, positive und gute Arbeit zu leisten, so möchten wir die eine

198 Warnung aussprechen,

daß wir nicht zu viele und zu weitgehende

Arbeiten ins Auge fassen." Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, erachtete er die von den Abgeordneten Trimborn, Bass ermann und Naumann den Regierungen gemachten Vorwürfe für unbegründet. Dem Vorwurfe der Unfruchtbarkeit der sozialpolitischen Gesetz­ gebung in den letzten Jahren gegenüber, fragte er, „ist es denn das einzige Charakteristikum einer guten Sozialpolitik, daß eine Masse von Gesetzen und Verordnungen erlassen wird? Ich meine, man sollte doch erkennen, daß es wirklich nicht bloß darauf ankommt, daß in einem unendlichen Wettlauf nun fortgesetzt Gesetze und Verordnungen zu stände gebracht werden, sondern es kommt darauf an, daß wir die vielen Verordnungen und Gesetze, die auf dem Gebiete ergangen sind, nun auch sich hineinarbeiten lassen in das Bewußtsein des Volkes ... „Wir, die wir hier an der Gesetzgebungsmaschine stehen, wir, die wir daS Klappern ihres Räderwerkes und ihres Rednerwerkes leider täglich über uns ergehen lassen müssen, wir müssen doch daran denken, wie daS im Lande wirkt, und ich kann versichern, wenn man auf das Land und in die Wahlkreise kommt, hört man sehr oft die Bemerkung, daß auf diesem Gebiete schon so viel und schnell gearbeitet würde, daß zu wünschen sei, man möchte etwas einhalten, man möchte nicht auf das Quantum, sondern mehr auf die gute Qualität der gesetz­ geberischen Arbeit sehen." Mit Bezug auf die Pläne und Ideale des Abgeordneten Nau­ mann sagte der Abgeordnete von Dirksen, daß dies in die Praxis übertragen „denn doch noch ganz andere Anforderungen an unser Staatswesen stellen würde, als dieses vorläufig zu leisten im stände ist.

Ich glaube der Beifall, den Herr Naumann, besonders auf der äußersten Linken gefunden hat, wird ihn haben belehren können, daß er ein wenig die Politik der Sozialdemokratie treibt, wenn er so extreme Forderungen stellt." Der Redner besprach dann, zumeist im zustimmenden Sinne, das Programm des Staatssekretärs, und besonders eingehend die Stellung

„Wir wünschen eine Sonntagsmhe, die nicht nur die Möglichkeit gibt, den Sonntag religiös zu begehen,

seiner Partei zur Sontagsruhe.

sondern den Sonntag auch wirklich zu einem Ruhetag für die arbeitende Bevölkerung macht nach den sechs Arbeitstagen. Aber hüten müssen

wir uns dabei, wenn wir auch von den besten Motiven beseelt sind, vor zu großer Strenge; hüten müssen wir uns vor Auswüchsen und Uebertreibungen. Man muß streng unterscheiden zwischen den ver­

schiedenen lokalen und gewerblichen Verhältnissen, zwischen Stadt und Land, und bei den Städten wieder zwischen großen, mittleren und

199 Landstädten." Deswegen wünschen wir, „daß bei weiteren Erlassen über die Sonntagsruhe individualisiert wird und nicht generalisiert; wir wünschen, daß nicht über einen Kamm geschoren wird, daß nicht Vorschriften ergehen, vielleicht vom besten Geist beseelt, von denen man sagen muß: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage." Der Abgeordnete beschäftigte sich dann eingehend mit den zum Etat des Reichsamts des Innern gestellten Resolutionen, wobei er Gelegenheit fand, eine scharfe Abrechnung mit den Sozialdemokraten wegen der im „Vorwärts" gegen ihn gerichteten Angriffe zu halten. Bei Besprechung der von dem Mitgliede der freisinnigen Volks­ partei Dr. Ablaß und Genossen eingebrachten, auf "die Erweiterung des Koalitionsrechts gerichteten Resolutionen, bemerkte der Abgeordnete von Dirksen: „Wenn wir uns jemals dazu bereitfinden lassen sollten, auf eine Aenderung der §§ 152 und 153 der Gewerbeordnung ein­ zugehen, dann würde ich, wenn denn doch einmal vom Koalitionsrecht die Rede ist, den Wunsch haben, daß der Koalitionszwang, der von der Sozialdemokratie in so unerfreulicher Weise ausgeübt wird, endlich einmal ein Ende findet." Für das Bestehen solchen Zwanges brachte der Abgeordnete eine Reihe von Beispielen. Sodann wies er auch die von den Sozialdemokraten den Arbeitgebern wegen der Aussperrungen gemachten schweren Vorwürfe zurück. Die Aussperrungen seien in jedem Falle nur Akte der Notwehr, unter denen die Arbeitgeber selbst am meisten zu leiden hätten. Mit außerordentlichem Nachdruck nahm der Redner sich der Arbeitswilligen an. Er verwies darauf, daß seine Partei in der vorigen Session einen Antrag gestellt habe, der die Regierung ersuchte eine Vorlage zum Schutze der Arbeits­ willigen einzubringen. Die Vergeblichkeit solchen Bemühens erkennend, habe sie auf die Wiedereinbringung des Antrages verzichtet. „Aber gerade deswegen," so fuhr der Abgeordnete fort, „weil wir auf eine dahingehende Anregung verzichtet haben, habe ich es für meine Pflicht gehalten, die Anregung dem Hause zu unterbreiten, und zu fragen: wollen wir diesen Zustand weiter ertragen? wollen wir, daß so und so viele patriotische Männer, dem physischen Zwange der Sozialdemokratie unterliegend, deren Organisationen beitreten, oder wollen wir auf irgend einem Wege, den ich zu bezeichnen allerdings nicht in der Lage bin, versuchen, teils vermittelst der Selbst­ hilfe, teils im Verwaltungswege solchen Leuten, die patri­ otisch und königstreu sind und bleiben möchten, zu helfen? Ich glaube, diese Frage gehört zu den wichtigsten unseres inneren politischen Lebens, und es wäre Pflicht der Re-

200 gierung, ihr etwas näher zu treten und auf den Mahnruf zu

hören, der, mag er auch schon recht abgedroschen klingen, doch bei dieser Gelegenheit wieder ausgesprochen werden muß: Videant consules, ne quid detrimenti capiat respublica! Wenn wir noch lange warten, kann es leicht zu

spät werden!" Schließlich versichcrle der Abgeordnete von Dirksen nochmals, daß bei der Bereitwilligkeit seiner Partei zur sozialpolitischen Mitarbeit,

sie sich doch vollkommen frei wisse von dem Wunsche, damit etwa die Sozialdemokratie bekämpfen oder ausstechen zu wollen. „Wir haben vor allen Dingen nicht die Idee, uns mit der Sozialdemokratie irgendwie in einen Wettlauf um die Gunst der Massen einzulassen; darin ist sie uns über, im Versprechen leistet sie mehr; im Halten dagegen glaube ich, sind wir es, die mehr leisten." Nachdem der Abgeordnete von Dirksen gesprochen, erhob sich sofort der Staatssekretär des Innern, Graf von Posadowsky, um seine An­ sicht über den Schutz der Arbeitswilligen darzulegen. Jeder rechtlich denkende Mensch, der den Grundsatz der persönlichen Freiheit im bürgerlichenLeben hochhalte, müsse es verurteilen, daß auf dem Gebiet des Arbeits­ marktes Zwang geübt werde gegen irgend jemand, um ihn dadurch zu

veranlassen, gewisse Maßnahmen zu ergreifen oder gewisse Handlungen zu unterlassen. „Wenn man aber im besonderen alle diese Fälle von unberechtigtem Zwang gegen Arbeitswillige, gegen Mitarbeiter... näher prüft, so wird man immer finden, daß dieselben schon jetzt meist unter das bestehende Gesetz fallen." (Lebhafte Zustimmung links). „Daß sie aber nicht verfolgt werden können — ich habe eine Reihe solcher Fälle aktenmäßig vor Augen gehabt —, liegt in den meisten

Fällen nicht daran, daß die gesetzlichen Strafvorschriften nicht aus­ reichend wären, sondern darin, daß sehr häufig sich schließlich kein Kläger findet und, was noch häufiger ist, kein Zeuge (lebhafte Zu­

stimmung rechts — Widerspruch von den Sozialdemokraten), und daß, wenn solche flagrante Fälle, wie man sie häufig in der Presse liest, und wie sie mir auch bisweilen anonym mitgeteilt werden, von den zuständigen Behörden verfolgt werden, die ganze Sache unter den Fingern zerrinnt. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Weil cs nichts ist! — Lebhafter Widerspruch rechts). — Herr Abgeordneter, verzeihen Sie mir! Häufig

habe ich allerdings den Eindruck gehabt: weil der Beschädigte nicht den Mut hat, die Klage öffentlich aufrecht zu halten (lebhafte Zurufe), dann aber auch, weil die Zeugen nicht den Mut hatten, sich zu

melden und Zeugnis mung rechts).

abzulegen — so

liegt es.

(Lebhafte Zustim­

201 Daraus folgerte der Staatssekretär aber, daß auch neue gesetz­

liche Maßregkln an der Sachlage wahrscheinlich

nicht viel ändern

würden. Es komme vielmehr darauf an, daß sich die Geschädigten zusammentun und gemeinschaftlich gegen einen solchen ungesetzlichen Zwang Front machen und die Hilfe in Anspruch nehmen, die Staats­

gewalt und Polizei ihnen gewähren muß,

wenn die Behauptungen

der Körperverletzung wirklich zutreffend sind. Bezüglich der auf der Grenzlinie liegenden Und daher mit dem jetzigen Strafgesetz schwierig zu erfassenden Fälle, verwies der Staatssekretär auf den Entwurf eines neuen Strafgesetz­ buches, den das Reichsjustizamt aufzustellen im Begriff sei. Dabei werde auch die Frage zu prüfen sein, ob es möglich und notwendig des Verrufs, der Nötigung',

der Erpressung,

sei, die Paragraphen, die gegen „Ehrverletzung, Erpressung und Verruf gerichtet sind" juristisch klarer zu fassen, als sie bisher gefaßt waren. Der Staatssekretär vertrat die Ansicht, das vielfach Vorgänge sich ereignen, die sehr bedauerlich seien und unzweifelhaft den Charakter tragen die Freiheit des einzelnen auf dem Arbeitsmarkt ungesetzlich und in einer Weise zu beschränken, die in einem Rechtsstaat unzulässig sei. Durch Beobachtung und Erfahrung sei er aber zu der Ansicht gelangt, daß es falsch sein werde, jetzt mit anderen Maßregeln oor» zugehen als mit solchen, die auf Grund eines allgemeinen Straf­ gesetzes gegen jeden gelten. Daher müßte das Allgemeine Strafgesetz zutreffender und klarer gefaßt werden. Sache der Verwaltungsbehörde und der Gerichtsbehörde müsse es sein, die zu ihrer Kenntnis kommen­ den strafbaren Fälle auch nachdrücklichst zu verfolgen und demjenigen,

der sich nicht selbst wehren könne, den Schutz

angedeihen zu lassen,

auf den jeder Staatsbürger im Interesse seiner individuellen Freiheit unzweifelhaft Anspruch habe.

„Wenn aber häufig," so schloß der Staatssekretär, „Angriffe gegen die Verwaltungsbehörden, gegen die Gerichte gerichtet werden, daß sie nicht gegen solche Beschränkungen der persönlichen Freiheit einschreiten, so liegt die Ursache nicht daran, daß ein Gesetz nicht da ist, auch nicht darin, daß die Behörden lässig sind, ihre Pflicht nicht tun, sondern die Ursache liegt dann daran, daß schließlich weder ein Kläger, noch ein Zeuge da ist."

Der Abgeordnete Schiffer, Vorsitzender des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands und des Centralverbandes christlicher Textilarbeiter Deutschlands, bezeichnete sich beim Beginn

seiner Rede auch als Vertreter der christlich-national gesinnten Arbeiter. Er versagte der bestehenden sozialpolitischen Gesetzgebung nicht eine gewisse Anerkennung, fügte aber hinzu, daß sie den modernen Ver-

202

hältnissen und Bedingungen nicht entspreche.

Mit den Ausführungen

des Abgeordneten Naumann stimmte er im allgemeinen ein, im be­ sonderen mit der Forderung eines Koalitionsrechtes, „das die heute noch vielfach bestehenden schreienden reaktionären Zustände aufhebt, ein Koalitionsrecht, das auch die zum Teil vorhandene Klassenjustiz

und Klassengesetzgebung aus der Welt schafft."

An eine Mehrheit für

gute sozialpolitische Gesetzgebung, die aus den Konservativen und Liberalen bestehe, glaube er nicht, namentlich nicht nach den Aus­ führungen des Abgeordneten von Dirksen. Dieser habe sogar den verstorbenen Freiherrn von Stumm als einen der ersten Sozial­ politiker bezeichnet; da müsse er sagen, daß man in Arbeitcrkreisen über den verstorbenen Freiherrn von Stumm als Sozialpolitiker

doch eine ganz andere Auffassung gehabt habe. „Herr von Stumm habe eine Sozialpolitik getrieben und treiben wollen — und das wollen manche Herren auf der Rechten auch die nichts weiter be­ deutet als einen Ausbau des Patriarchalismus, eine Sozialpolitik der Bevormundung, bei der es wenig Freiheit und Selbstbestimmungsrecht für unsere Arbeiter gibt." Die Bestimmungen der das Koalitionsrecht regelnden §§ 152 und 153 der Gewerbeordnung verurteilte Schiffer in äußerst scharfer Weise. In den Gegenden und Orten, in die die Sozialdemokratie weder politisch noch gewerkschaftlich eingedrungen sei, hätten die christlich-sozial gesinnten Arbeiter „fürchterlich" unter dem Terrorismus der Arbeitgeber zu leiden. Der Antrag Ablaß auf Erweiterung des Koalitionsrechts sei fast wörtlich dem Beschlusse des Kongresses der christlich - nationalen Arbeiter entnommen. Bor allen Dingen dürften die Beamten, und besonders die Unterbeamten, nicht von dem Rechte der Koalition und Organisation ausgeschlossen werden. Die von den Arbeitgebern gebildeten nationalen Arbeitervereinigungen, die leider in Bayem, und ganz besonders in Augsburg schon zu einer gewissen Blüte gelangt seien, wären „regelrechte gelbe Gewerk­ schaften", also Organisationen, die dazu bestimmt seien, der loyal für ihre Interessen wirkenden und für ihre Interessenvertretung tätigen

Arbeiterschaft gegebenenfalls in den Rücken zu fallen. Der Abgeordnete

Schiffer berichtete über derartige, neuerdings in den Fürstentümer» Reuß begründeten Vereine, die von den Arbeitgebern sogar auch mit

Geld unterstützt würden.

Er meinte, daß die Arbeitgeber, die in dieser

Weise Arbeitervereinigungen gründen, an den Arbeitern ein himmel­ schreiendes Unrecht verübten, weil ihnen damit ihr freies Selbst­ bestimmungsrecht und in staatsbürgerlicher Beziehung ihre volle Unabhängigkeit

und

Freiheit

geraubt

werde.

Der

Abgeordnete

203

Schiffer fuhr dann fort:

„Ebenso verbitten wir uns aber, daß die

Unternehmer kommen, und uns, wie sie sagen, „beistehen" wollen. Meine Herren, dieses Beistehen kennen wir; wir bedanken uns dafür. Wenn es nicht gelingt — das mögen sich namentlich die Herren vom Reichsverband merken! —, eine große, mächtige, einflußreiche, aber vor allen Dingen auch selbständig christlich-nationale Arbeiterbewegung zu schaffen — meine Herren, sie wächst ja erfreulicherweise immer mehr trotz aller Schwierigkeiten —, dann wird der ReichSverband nur ab

und zu kleine Erfolge und Scheinerfolge gegenüber der Sozialdemokratie haben. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, daß wir

unsere Organisationen gegründet haben zu dem Zwecke, die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Nein, wir wollen freie, selbständige Organisationen zur loyalen Vertretung der berechtigten Interessen des Arbeiterstandes, und dazu brauchen wir die Unter­

nehmer nicht. Wir brauchen auch dazu den ReichSverband nicht." Diese Mitteilungen aus der Rede des Abgeordneten Schiffer

genügen wohl, um zu beweisen, was hier bereits gesagt und die Ansicht weiter industrieller Kreise ist, nämlich, daß die organisierten christlich­ nationalen Arbeiter, trotz gegenteiliger Versicherungen, die auch in den Schlußbemerkungen des Abgeordneten Schiffer nicht fehlten, sich von

der Sozialdemokratie nicht wesentlich unterscheiden. Als bemerkenswert ist ferner noch hervorzuheben, daß der Kommissar des Bundesrates, Kaiserlicher Geheimer Regierungsrat Dr. Beckmann, mit Bezug auf die von dem konservativen Abgeord­ neten Pauli eingebrachte Resolution, lautend: „Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetz­

entwurf dem Reichstage vorzulegen, durch welchen der § 34 des Gewerbeunfalloersicherungsgesetzes vom 5. Juli 1900 aufgehoben und

die früheren Bestimmungen über Ansammlung eines Reservefonds wieder hergestellt werden", hinweisend erklärte, daß eine Aenderung der jetzigen Bestimmungen über die Ansammlung des Reservefonds von den ver­ bündeten Regierungen abgelehnt werden würde. Die Resolution ist auch im Reichstag abgelchnt worden. Der konservative Abgeordnete von Staudy erklärte die wegen des angeblich langsamen Ganges der sozialpolitischen Gesetzgebung gegen den Grafen von Posadowsky und die verbündeten Regierungen gerichteten Angriffe für unberechtigt, er verzichtete jedoch auf die von

dem Reichskanzler und dem Staatssekretär in Aussicht gestellten sozial­ politischen Gesetze näher einzugehen. Aber eine Bemerkung könne er dem Staatssekretär gegenüber doch nicht unterdrücken, nämlich, daß es nach seiner Ansicht recht schwer sein werde, bei dieser Gesetzgebung

204 überall den Standpunkt festzuhalten, welcher von der Regierung und

auch von seinen politischen Freunden bisher festgehalten worden sei. Der Abgeordnete Naumann habe mit gewisser Befriedigung davon gesprochen, daß auch Mitglieder des Mittelstandes und des Handwerks genötigt seien, sich nunmehr mit den organisierten Arbeitern abzufinden. „Ich glaube," so fuhr der Abgeordnete fort, „es wäre, da bekannt

ist, unter welchen schweren Verhältnissen der Mittelstand und nament­ lich der Handwerker gegenwärtig um seine Existenz ringt, billig ge­ wesen, wenn er auch etwas über die Pflichten des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber gegenüber gesprochen hätte. Dazu hätte er, nach

meiner Ansicht, um so mehr Veranlassung gehabt, als wir ja gerade auf diesem Gebiete die traurigsten Erscheinungen von Tag zu Tag sehen, Erscheinungen von einer Gewalttätigkeit, von einer Roheit, wie sie anderweitig kaum vorkommt, wie man sie schwer bezeichnen kann, wenn man nicht noch krassere und häßlichere Worte gebrauchen will, als ich es getan habe." Mit Bezug auf die Ausführungen des Staatssekretärs über die Arbeitswilligen, sei von diesem geltend gemacht worden, daß die gegenwärtige Gesetzgebung zur Niederhaltung solcher Exzesse und

Roheiten genüge. „Ich will," so sagte der Abgeordnete weiter, „in diesem Stadium oder Debatte nicht auf die gesetzlichen Bestimmungen in dieser Beziehung eingehen; ich will die Frage, ob sie genügen, offen lassen. Es ist ja bekannt, daß die verbündeten Regierungen der Ansicht gewesen sind, sie genügten nicht. Ich lasse also diese Frage offen; aber das will ich doch dem Herrn Staatssekretär und den sonstigen Herrn Vertretern der verbündeten Regierungen sagen,

daß ich nicht der Ansicht bin, daß die Regierungsgewalt mit der nötigen Aufmerksamkeit und Energie gegen diese scheuß­ lichen Vorgänge auftritt. Die Dinge spielen sich vielfach so öffentlich ab, daß bei einiger Aufmerksamkeit und festem Willen solche Exzesse gegen die Arbeitgeber und gegen die Arbeitswilligen nicht vor­ kommen dürften." Der Abgeordnete von Staudy ging dann zu den Arbeiter­

versicherungsgesetzen über, und wünschte Auskunft darüber zu erhalten,

ob in der Tat von der Zusammenlegung der drei verschiedenen Versicherungsgesetze nicht mehr die Rede sein solle. Insbesondere

verurteilte der Abgeordnete scharf die Aufbringung der Beiträge zur Invalidenversicherung und das Markensystem. Der Abgeordnete schloß, indem er sagte: „Ich meine, daß der Herr Vertreter der

verbündeten Regierungen es begreiflich finden wird, wenn weite Kreise den lebhaften Wunsch äußern, daß die Hoffnung, die wir hatten, daß

205 durch die Schaffung eines Arbeiterfürsorgegesetzes die ganze Fürsorge­

verwaltung viel billiger werden würde, und daß namentlich die von

mir durchaus verworfene Art der Aufbringung der Mittel für die Jnvaliditätsversicherung aufhören würde, nicht fehlgehen wird. Möge er nach dieser Richtung

eine befriedigende Aufklärung uns

geben

können." Auf die Reden der Abgeordneten von Dirksen und von Staudy

ist hier näher eingegangen worden, weil beide, entschiedener als es

bisher geschehen war, den von der großen Mehrheit des Reichstages abweichenden Standpunkt der beiden konservativen Parteien hinsichtlich der bei der Sozialpolitik zu verfolgenden Ziele, wie überhaupt der Behandlung sozialpolitischer Fragen zum Ausdruck bringen. Beide Parteien sind bereit die Sozialpolitik zu stützen und zu fördern, aber nur soweit dabei die Grenzen des politisch und wirtschaftlich Zweck­ mäßigen und Notwendigen cingehalten werden. Dies ist im großen und ganzen auch die Stellung der Industrie zur Sozialpolitik. Es ist dankbar anzuerkennen, daß die Redner der konservativen Parteien sich bei ihren Ausführungen auch der Interessen der Unternehmer und Arbeitgeber und auch der Arbeitswilligen angenommen haben, Interessen, die sonst kaum erwähnt und, sozusagen, als nicht vorhanden betrachtet wurden. Hierauf ergriff sofort der Staatssekretär Graf von Posadowsky

das Wort zu folgenden Ausführungen Versicherungsgesetze: „Ich habe in der ein allgemeines Bild zu geben, wie großen sozialpolitischen Gesetze denke.

mit Bezug auf die ArbeiterRede vom 11. Apnl versucht, ich mir die Reform der drei

Wenn diese Reform zu stände

kommt, dann wird meines Erachtens eine außerordentlich große Anzahl von Reibungen zwischen den verschiedenen sozialpolitischen Gesetzen aufhören, die ganze Institution wird einfacher wirken, und es werden meines Erachtens auch sachliche Kosten, die jetzt unberechtigt

verausgabt werden, gespart werden können, weil eine bessere Ver­ waltung in der unteren Instanz eintreten wird. Aber den Schritt zu tun und zwar auf einmal zu tun, die großen Berufsgenossenschaften, die sich aufbauen auf gewaltigen deutschen Industrien, die ein großes Vermögen angesammelt haben, die eine eigene große, durchgearbeitete Verwaltung besitzen, aufzulösen, und ebenso die großen landwirt­

schaftlichen Grundlage

Berufsgenossenschaften, die wieder eine ganz andere der Verwaltung haben, als die industriellen Berufs­

genossenschaften, zu beseitigen, die Krankenkassen aufzuheben, und die Jnvaliditätsversicherung zu verschmelzen mit den Berufsgenossenschaften und

den

Krankenkassen

in

einen Vermögens- und

Verwaltungs-

206 organiSmus, das halte ich für eine Aufgabe, die, wenn sie überhaupt zu lösen ist, in absehbarer Zeit nicht gelöst werden kann, und die nur in einer Reihe von Etappen, in einem längeren Zeitraum, gelöst

werden könnte. Ich bin zwar der Ansicht, daß diese großen sozial­ politischen Einrichtungen in engere Verbindung miteinander treten müssen, das ganze Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden muß; aber diese großen selbständigen vermögensrechtlichen Korporationen in eine Kor­ poration zusammenzuwerfen, würde zunächst den Nachteil haben, daß die

Sachkenntnis, die jetzt in den industriellen Berufsgenossenschaften, in den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, in den Krankenkassen, in der Invalidenversicherung vorhanden ist, die sich aufgespeichert hat in den einzelnen verwaltenden Organen, vollkommen verloren gehen oder wesentlich ausgeschaltrt würde, und gerade diese Sachkenntnis ist so

außerordentlich wichtig, weil die Art der Verwaltung sehr eng zu­ sammenhängt mit der Art des Betriebes, auf den sie sich erstreckt. Ich kann also eine solche radikale Umformung, die etwa für das ganze Reich oder ganze Staaten oder Provinzen einen großen bureaukratischen Organismus schaffen wollte, der nun von einer Zentralstelle aus die gesamten sozialpolitischen Einrichtungen in letzter Instanz verwaltete, in absehbarer Zeit nicht in Aussicht stellen und kann ihn, wie die Dinge liegen, auch nicht einmal empfehlen. Ich

glaube, darin würde jetzt nicht ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt der Verwaltung liegen. Bei der sozialpolitischen Gesetzgebung ist eine Dezentralisation im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der Ver­ hältnisse unbedingt notwendig, und diese Dezentralisation findet in

den

Berufsgenossenschaften, in den Krankenkassen, in den Landes­

versicherungsanstalten und den Provinzialanstalten der Invaliden­ versicherung einen an sich durchaus geeigneten Ausdruck. Meine

Herren, ich habe gewiß — .der Herr Abgeordnete von Staudy hat durchaus richtig zitiert — gesagt: würde man heute noch voll­ kommen freie Hand haben, so würde niemand daran denken, die drei getrennten Organisationen zu schaffen, dann würde man vielleicht auf ein für alle drei Versicherungszweige gemeinsames territoriales

System

abkommen.

Nachdem aber ein paar Jahr­

zehnte diese sozialpolitischen Einrichtungen bestehen, sich in der Be­ völkerung eingelebt haben, nachdem sie eigene Grundsätze aufgestellt, eigene Vermögensmassen angesammelt, eigene Rentenlasten zu tragen haben, wird eS unmöglich sein, jetzt noch zur Verwirklichung des Gedankens zurückzukehren, der seinerzeit vielleicht ein richtiger, praktischer und auch durchführbar gewesen wäre. Ich hoffe aber, auch Herr

von Staudy wird, wenn dies Arbeiterfürsorgegesetz zustande kommt,

207 sich überzeugen, daß es einen sehr wesentlichen Fortschritt gegen­

über dem heutigen Zustand bedeutet. Ich will damit keineswegs be­ streiten, daß es in ferner Zukunft möglich sein wird, wenn man erst einmal diesen ersten Schritt getan hat, noch einen weiteren Schritt in

der Vereinfachung der sozialpolitischen Einrichtungen zu tun." In Bezug auf das Markensystem erkannte der Staatssekretär ohne weiteres an, daß dieses System auch seine Schwächen und seine Belästigungen für die Beteiligten habe.

Nach sehr eingehenden Er­ wägungen und Erörterungen habe sich aber herausgestellt, daß kein anderes Einziehungssystem die Marke ersetzen könne, wenn die wachsende Bevölkerung, die Verschiedenartigkeit der Lohnskalen und der Umstand in Betracht gezogen werde, daß die Rente im Verhältnis

zur Arbeitsdauer und zur Lohnhöhe stehen müsse. Bei unserer „flugsandartigen Bevölkerung" könnten nur durch die Marke die für die künftige Rente wichtigen Faktoren richtig ergriffen werden. Jeder bessere Vorschlag würde ernst geprüft werden, aber er befürchte, jedes System, das man wählen würde und das geeignet wäre die Marke zu ersetzen, würde mit noch größerer Belästigung und größerer Arbeit für die Arbeitgeber verbunden sein. Diese höchst bedeutungsvollen Ausführungen des Staatssekretärs des Innern zeigen, daß der Gedanke, die drei Arten der Arbeiter­ versicherung zu verschmelzen, für absehbare Zeit aufgegeben worden ist. Diese Mitteilungen sind besonders höchst erfreulich, da sie die Beunruhigung beseitigen werden, die derselbe Staatssekretär mit der Entwicklung seiner früheren Ansichten und Pläne in den Berufs­ genossenschaften hervorgerufen hatte. Damit soll die Besprechung der bei Gelegenheit der Beratung des Etats des Reichsamts des Innern geführten umfangreichen sozial­ politischen Verhandlungen abgeschlossen werden. Zum Schluß dieser Verhandlungen wurde in der letzten, dreißigsten Sitzung, am 16. April auch noch über die sozialpolitischen Anträge abgestimmt, die, um sie

überhaupt zur Verhandlung zu bringen, teilweise in etwas veränderter Form, als Resolutionen zu dem Etat des Reichsamts des Innern ein­ gebracht worden waren. Es wurden folgende Resolutionen in der

hier eingehaltenen Reihenfolge teils einstimmig, teils mit sehr großer Mehrheit angenommen; sie betrafen nachstehende Angelegenheiten.

Nr. 199. Die Verarbeitung giftiger und explosiver Stoffe und eine Verordnung, durch welche in der Großindustrie die Arbeit an

Sonn- und Festtagen beschränkt wird. Nr. 217. Schutzvorrichtungen an den Glas- und Feueröfen, Festsetzung einer achtstündigen Arbeitszeit in der Glasindustrie und,

208 unter Gewährung einiger Ausnahmen, Verbot der Nachtarbeit und der Arbeit an Sonn- und Feiertagen. Nr. 224. Revision der bestehenden Ausnahmen von dem Verbot der Sonntagsarbeit im Gewerbebetriebe. Nr. 244. Die gesetzliche Regelung der Sonntagsruhe der Ge­ hilfen, Lehrlinge und Arbeiter in den Kontoren und in kaufmännischen Betrieben ohne offene Verkaufsstellen. Nr. 246. Gesetzliche Regelung der Sonntagsruhe für die in der Binnenschiffahrt beschäftigten Personen. Nr. 243. Die Errichtung eines ständigen Reichsarbeitsamts. Nr. 256. Die Beseitigung der noch bestehenden Beschränkungen des Koalitionsrechtes. Nr. 212. Die Vorlage einer Denkschrift über die Erfolge des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und die der Reichsregierung bekannt gewordenen Vorschläge zur Abänderung des vorgenannten Gesetzes. Nr. 245. Die Unfallfürsorge bei Arbeiten, welche freiwillig zur Rettung von Personen und zur Bergung von Gegenständen vor­ genommen werden. Nr. 257. Regelung des Submissionswesens. Nr. 273. Die Vorlegung eines Gesetzentwurfes zur Regelung des Vereins- und Versammlungsrechtes, nach welchem alle Deutschen, ohne Unterschied des Geschlechts, berechtigt sein sollen, friedlich und unbewaffnet Versammlungen abzuhalten und zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlausen, Vereine zu bilden. Abgelehnt wurde die Resolution, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf dem Reichstage vorzulegen, durch welchen der § 34 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes vom 5. Juli 1900 aufgehoben und die früheren Bestimmungen über Ansammlung eines Reservefonds wiederhergestellt werden. Zurückgezogen, mit dyr Absicht sie beim Etat des Reichs­ gesundheitsamts wieder einzubringen, war die vom Zentrum eingcbrachte Resolution Nr. 102, betreffend Erhebungen über die Arbeitsver­ hältnisse in den Walz- und Hüttenwerken. Sie hatte folgenden Wortlaut: „Der Reichstag wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu er­ suchen, durch den Beirat für Arbeiterstatistik Untersuchungen veranstalten

zu lassen über die Arbeiteroerhältnisse in den Walz- und Hüttenwerken

und den dazu gehörigen Nebenanlagen, insbesondere 1. über die Einwirkung der Arbeit in diesen Anlagen, namentlich der Feuerarbeit, auf Gesundheit und Leben der Arbeiter (Krankheits- und Unfallgefahr);

209

2. über die hygienische Beschaffenheit der Arbeitsräume, der bestehenden Wasch- und Badeeinrichtungen, Speiseräume usw.; 3. über die Dauer der täglichen Arbeitszeit, Zahl der (monatlich, jährlich) verfahrenen Arbeitsschichten, Umfang der Ueberarbeit,

Zahl der daran beteiligten Arbeiter und der auf den einzelnen entfallenden Ueberstunden resp. Ueberschichten;

4. über die Möglichkeit der Einführung der achtstündigen Arbeits­ schicht für schwere Feuerarbeiten; ö. über die Durchführung der Bestimmungen betreffs Sonntags­ ruhe, mit dem Ziel der möglichsten Einschränkung der

Sonntagsarbeit. Eine ganz ähnliche, nur auf die gesammte Metallindustrie aus­ gedehnte, von den Sozialdemokraten gestellte Resolution Nr. 207, war gleichfalls zurückgezogen worden, um sie beim Etat des Reichs­ gesundheitsamts einzubringen. Ein gleiches war geschehen mit der Resolution Nr. 265 der Polen, welche ganz ähnliche Untersuchungen über die Arbeitsverhältnisse der Eisen-, Blei- und Zinkhütten, sowie der Hochöfen und Walzwerke und der ähnlichen Betriebe verlangte.

Aus den hier in ihren haupffächlichsten Teilen wiedergegebenen des neuen Reichs­

sozialpolitischen Verhandlungen tritt die Haltung

tags in dieser überaus bedeutungsvollen Frage klar hervor. Alle Parteien sind bereit eine großzügige Sozialpolitik zu unterstützen und

zu fördern, die meisten außerordentlich weitgesteckte Ziele auf diesem Gebiete zu verfolgen, einzelne in dieser Beziehung weiter zu gehen, als sie es bisher getan haben. In den Gruppen des Freisinns hatten sich bisher noch starke Reste manchesterlicher Anschauungen erhalten. Auf dem Gebiete der Zoll- und Handelspolitik sind sie noch in voller Wirkung. Hin­ sichtlich der sozialen Fragen hatte sich die Wahlpolitik schon lange

stärker drängt Gunst kommt,

erwiesen, als das alte Dogma. Jetzt scheint es gänzlich ver­ und der Freisinn entschlossen zu sein, für den Wettlauf um die der Massen sich, soweit das sozialpolitische Gebiet in Frage zu erleichtern durch die Trennung von alten liberalen und

manchesterlichen Grundsätzen. Den Beweis liefert das Eintreten für den kleinen Befähigungsnachweis; es wäre vor einem Jahre wohl kaum für möglich gehalten worden und beweist die außerordentliche Entwicklungsfähigkeit einer Partei, wenn die Fiktion in Frage kommt, die Masse der Wähler mit den Ergebnissen dieser Entwicklung ködern zu können. Hest 106.

14

210 In der nationalliberalen Partei waren bisher unverkennbar zwei verschiedene sozialpolitische Strömungen vorhanden gewesen. Die eine, unter Führung der Herren Heyl zu Herrnsheim und Bassermann, war bereit, die weitestgesteckten sozialpolitischen Ziele zu ver­

folgen und sich

bei der Initiative auf diesem Gebiete möglichst zur

Höhe der kühnsten Sozialideologen emporzuschwingen, alles, um die tunlichst größte Arbeiterfreundlichkeit zu betätigen. Die Vertreter der anderen Strömung, die sich um den Abgeordneten Dr. Beumer ge­

schart hatten, waren sicher nicht weniger von aufrichtig warmen Em­ pfindungen für das Los der unteren Volksklassen und ganz besonders der Arbeiter erfüllt; aber sie waren bestrebt, den verschiedenen gleich­ berechtigten Interessen und somit auch den Interessen der Unternehmer und Arbeitgeber gerecht zu werden und, unter Berücksichtigung des praktischen Lebens sowie der realen Verhältnisse, in gewissenhafter Abwägung einen harmonischen Ausgleich herbeizuführen. Nun ist Dr. Beumer ausgeschieden. Wer die gewaltigen Anforderungen kannte, die sein Beruf und seine parlamentarischen, in manchen eigen­ tümlichen Beziehungen komplizierten Verpflichtungen an ihn stellten, der wußte, daß er diese Riesenlast nicht länger würde tragen können. Die in der Sozialpolitik mit ihm gegangen waren, haben jetzt den Halt verloren und scheinen so der andern Strömung willig folgen zu

wollen; ein Widerstreben gegen sie ist in den langen Verhandlungen nicht zu erkennen gewesen. Daher ist anzunehmen, daß die ganze nationalliberale Partei im Reichstag, vielleicht mit ganz vereinzelten Ausnahmen, nunmehr dem Freiherrn Heyl zu Herrnsheim und Herrn Bassermann folgen und demgemäß bereit sein wird, in der

Sozialpolitik im neuen Reichstag weiter zu gehen, als früher im alten.

Die Führerschaft in weitgehender Sozialpolitik hat unverkenn­ bar bisher das Zentrum gehabt; der Streit der Parteien darüber ist müßig. Es wird alles daran setzen, diese Stellung zu behaupten. Seine Anträge zeigen, daß es in Verfolgung dieses Zweckes selbst vor den gewagtesten Schritten auf dem Gebiete der Sozialpolitik nicht zurückschreckt. Für das Zentrum ist in dem Gebot der Selbst­

erhaltung das

Streben begründet,

die anderen Parteien zu über­

bieten und daher in der Sozialpolitik weiter zu gehen als früher. Die Konservativen befinden sich allen anderen Parteien gegen­ über insofern in einer günstigeren Lage, als sie ihrer Wähler noch sicher sind.

Um sich diese zu erhalten, haben sie eS noch nicht nötig,

wie die anderen es nötig zu haben glauben, durch sozialpolitischen Uebereifer sich die Gunst der Wähler zu sichern bezw. zu erwerben. Vorläufig ist die größte Sorge der Konservativen, das Eindringen

211 der sozialdemokratischen Tendenzen in ihre Wählerschaft zu hindern. Sie treten daher allen Maßnahmen entgegen, die geeignet sind, die Sozialdemokratie zu begünstigen und zu stärken. Daß nicht wenige Anträge der fortgeschrittenen bürgerlichen Sozialisten im Falle ihrer Durchführung diese Wirkung haben müßten, ist unverkennbar. Liegen somit schon gewichtige Gründe für die Konservativen vor, diese weit­ getriebene Sozialpolitik nicht mitzumachen, so ist für diese Stellung­ nahme ersichtlich auch maßgebend das Streben, Schädigungen von unserem Wirtschaftsleben abzuwenden, die eintreten müssen, wenn in der Sozialpolitik die von der Notwendigkeit gezogene Grenze über­ schritten wird. Daß dafür bei den Konservativen ein volles, reifes Verständnis vorhanden ist, erweisen die Reden der Abgeordneten Gamp, von Dirksen und von Staudy; sie erweisen aber auch, daß die Konservativen durchaus bereit sind, eine großzügige, aber ver­ ständige Sozialpolitik aufrichtig zu fördern und zu unterstützen.

Ueber die Haltung der Regierung läßt sich, nach dem Rücktritt des Grafen Posadowsky, nur mit Bezug auf die Vergangenheit etwas sagen. Es dürfte hier wohl nicht angebracht sein, wie es in der Presse vielfach geschehen ist, sich in Vermutungen darüber zu ergehen, wie der neue Staatssekretär des Innern seine auf dem Gebiete der Sozialpolitik liegenden Aufgaben auffassen, insbesondere ob und wie

er das sozialpolitische Programm seines Vorgängers durchführen wird. Der Wiederzusammentritt des Reichstags in wenigen Monaten wird in dieser Beziehung wohl die erwünschte Klarheit bringen. Die Industrie hat die hervorragenden Eigenschaften des Grafen von Posadowsky, dieses vornehmen, wissensreichen, arbeitsfreudigen, bei seinen Handlungen nur von seiner Ueberzeugung und von seinen Idealen geleiteten Mannes, rückhaltlos anerkannt. In die Hymnen uneingeschränkten Lobes, die nach seinem Abgänge ertönten, hat sie

jedoch nicht einstimmen können. Von einem Manne in der maß­ gebenden Stellung des Grafen von Posadowsky erwartet die In­ dustrie, daß er für seine tief in das gesamte Volksleben eingreifenden Entscheidungen nicht nur seine Ueberzeugung und seine Ideale, sondern auch die Würdigung der Interessen derer als maßgebend erachtet, die

von seinen Anordnungen ganz besonders betroffen werden.

Das hat

Graf von Posadowsky nicht immer getan. Nicht wenige unter seiner Mitwirkung, oder, richtiger wohl, auf seine Veranlassung durch Gesetz

oder bundesrätliche Verordnung verfügten Einengungen und Be­ schränkungen der gewerblichen und industriellen Betriebe haben die Grenze des Notwendigen überschritten und damit die Interessen der Arbeitgeber, wie ganz besonders auch weiter Kreise der Arbeitnehmer verletzt.

14*

212 Daß der von dem Centralverband vertretene übergroße Teil der deutschen Industrie die großzügige Sozialpolitik des Kaiser Wilhelm und seines Kanzlers wirkungsvoll unterstützt und gefördert hat, ist eine Tatsache, die nur von seinen böswilligsten Gegnem und den Sozialdemokraten bestritten wird.

Diese Industrie wird einer gesunden,

kräftigen, vorurteilslosen, vernünftigen Sozialpolitik, wie der Reichs­ kanzler sie bezeichnet hat, sicher nicht entgegentreten, sondern ihr

Förderung angedeihen lassen.

Der Behandlung sozialpolitischer Angelegenheiten im neuen Reichstage muß die Industrie jedoch mit ernster Sorge entgegensehen.

Die Tatsache allein, daß gegen die extremen Tendenzen des Abg. Dr. Naumann, abgesehen von den Konservativen und einigen Aus­ führungen des Abg. Dr. Stresemann, sonst von keiner Seite irgend ernster Widerspruch erhoben wurde, daß vielmehr die bürgerliche linke Seite des Hauses und das Zentrum sie mit jubelndem Beifall aus­ genommen hatten, würde genügen, um jene Sorge reichlich zu be­ gründen.

Der Abgeordnete Dr. Stresemann hatte, freilich in anderem Zusammenhänge, darauf hingewiesen, daß Deutschland die Milliarden seines Exports in scharfem Wettbewerb sich jährlich neu erkämpfen müsse. Das ist richtig. Ich füge dem hinzu, daß der Wettbewerb sich immer schwieriger gestalten wird, daß die Zeit mit Riesenschritten naht, in der Sieg oder Niederlage auf dem Weltmarkt von Bruch­ teilen von Pfennigen im Preise, demgemäß von solchen Bruchteilen ab­ hängen wird, um welche sich die Selbstkosten der Industrie ermäßigen

oder erhöhen. Es kann nicht bestritten werden,

daß die meisten bisher in

Wirkung gesetzten sozialpolitischen Maßnahmen eine Erhöhung der Selbstkosten verursacht haben, sei es durch bare Auflagen, durch Vor­

schriften über die Einrichtung der Betriebe, durch Entziehung von Arbeitskräften, letzteres teils durch direkte Ausschaltung, teils durch Kürzung der Arbeitszeit.

Manches davon ist nicht notwendig gewesen,

und der neue Reichstag schickt sich an, in wesentlichen Beziehungen entschieden nicht Notwendiges zu beschließen und dadurch die Selbst­

kosten der Gewerbebetriebe in überflüssiger Weise zu erhöhen.

Wird der neue Reichstag geneigt sein, dabei zu er­ wägen, wie wir künftig Waren im Werte von Milliarden auf dem Weltmarkt absetzen sollen, um zu bezahlen, was wir zur Ernährung und zur Aufrechterhaltung unserer Wirtschaft vom Auslande brauchen? Werden die Parteien,

-

213

-

die glauben, mit ihrem sozialpolitischen Streben lediglich den Interessen des arbeitenden Volkes zu dienen, bereit sein der Tatsache Rechnung zu tragen, daß Millionen von Arbeitern von dem leben, was wir an Jndustrieerzeugnissen ausführen und daß sie, wenn wir im Wettbewerb auf dem Weltmarkt unterliegen, Arbeit, Brot und Existenz ver­ lieren? Nach den hier erörterten Vorgängen ist leider zu fürchten, daß in der großen Mehrheit des neuen Reichs­ tages keine Geneigtheit besteht, solchen Erwägungen Raum zu geben. Daher ist die Industrie in berechtigter Sorge.

214

III. Eingaben des Eentralverbandes Deutscher Industrieller aus dem Jahre 1907.

Eingabe an den Herrn Reichskanzler, betreffend Einführung de» Koalitionszwanges durch den § 4 des Wischen dem „Deutschen Duchdrucker-Herrin" und dem „Verband der Deutschen Knchdrncker" abgeschlossenen Garantievertrages. Berlin, den 4. Juli 1907.

Zwischen dem „Deutschen Buchdrucker-Verein", dem Verein der Arbeitgeber im Buchdruckergewerbe — hier hinfort „Verein" genannt — und dem „Verband der Deutschen Buchdrucker", Gewerkschaft der Arbeit­ nehmer — hier in der Folge als „Verband" bezeichnet — war im Jahre 1896 ein Tarifvertrag geschlossen worden. Dieser Vertrag ist mehrere Male, zuletzt im vergangenen Jahre, neu abgeschlossen worden. Er ist am 1. Januar d. I. bereits in Kraft getreten. Als Ergänzung des Tarifvertrages ist zwischen den beiden genannten Organisationen im

September 1906 noch ein sogenannter „Garantievertrag" vereinbart

worden. Es liegt nicht in unserer Absicht, hier im allgemeinen Stellung zu der Frage der Tarifverträge zu nehmen. Mit Bezug auf den vorliegenden Fall wollen wir nur bemerken, daß nach dem großen Streik im Buchdruckergewerbe im Jahre 1891 der „Verband", der

damals etwa 18000 Mitglieder umfaßt hatte, gänzlich darniederlag. Unter der Herrschaft des Tarifvertrages und der späteren Neuabschlüsse bezw. Verlängerungen ist die Mitgliederzahl des „Verbandes" auf

215 rund 50 000 angewachsen,' er umfaßt gegenwärtig die übergroße Mehr­ zahl der Arbeiter im Buchdruckergewerbe, und zwar nicht allein der Setzer und Drucker, sondern auch des anderen in den Buchdruckereien

beschäftigten Personals, soweit dieses nicht besonderen Organisationen angehört. Dabei ist zu bemerken, daß bei den Abschlüssen der Verträge die Leitung des „Verbandes" äußerst geschickt und zielbewußt vor­ gegangen ist. Mit Bezug auf die festzustellenden Löhne zeigte sich die

es sich um so­ genannte Machtfragen handelte. So konnte beispielsweise die Er­ neuerung des Tarifes im Jahre 1902 nur erreicht werden dadurch, daß die Führer des „Vereins" den Arbeitsnachweis der Arbeitgeber opferten und dem „Verbände" der Gehilfen den sogenannten pari­ tätischen Arbeitsnachweis zubilligten, in dem tatsächlich der Wille der Gehilfen entscheidend ist. Damals war für den Arbeitsnachweis als grundlegendes Prinzip festgestellt, daß die Vermittelung von Arbeits­ gelegenheit nicht abhängig gemacht werden dürfe von der Zugehörigkeit zu irgend einer Organisation oder Kasse. Merkwürdigerweise besteht dieses Grundprinzip noch gegenwärtig, es ist satzungsgemäß festgestellt, obgleich der Neuabschluß des Tarifvertrages seitens des „Vereins" Leitung stets nachgiebig, unbeugsam jedoch, wenn

dem „Verbände" gegenüber nur zu erreichen war durch die gänzliche Aufgabe dieses Grundprinzips. Denn der den Koalitionszwang zu Gunsten des „Verbandes" bedeutende § 4 des „Garantievertrages" steht im unvermittelten Gegensatz zu jenem Grundprinzip. So hat der „Verband" es verstandm, in echt sozialdemokratischer Weise stets die Macht der Gewerkschaft zu steigern. Dadurch ist erreicht worden, daß der „Verband" gegenwärtig hinsichtlich der ihm den Arbeit­ gebern gegenüber eingeräumten Stellung und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel die machtvollste Arbeiterorganisation in Deutschland geworden ist.

Mit dieser Eingabe beabsichtigen wir lediglich die Aufmerksamkeit Ew. Durchlaucht auf den zwischen den beiden Organisationen abge­ schlossenen sogenannten „Garantievertrag" zu lenken. Dieser bestimmt in seinem § 4 das Folgende:

„Der Tarifvertrag verpflichtet: a) die Mitglieder des Deutschen Buchdrucker-Vereins, nur solche Gehilfen einzustellen, die dem Verbände der Deutschen Buch­ drucker angehören,'

b) die Mitglieder des Verbandes der Deutschen Buchdrucker, nur in solchen Buchdruckereien tätig zu werden, deren Inhaber dem

Deutschen Buchdrucker-Verein angehören."

216 „Gehilfen, die bei Abschluß des Vertrages das 50. Lebensjahr erreicht haben, fallen nicht unter die Bestimmung »des § 4 des

Vertrages." „Die Bestimmungen des § 4 des Vertrages treten für solche Gehilfen, die bei Abschluß des Vertrages noch anderen Kassen an­ gehören, an deren Leitung Prinzipale beteiligt sind, erst dann in Kraft, wenn die beiden vertragschließenden Vereine diesbezüglich einen

befriedigenden Ausweg gefunden haben."

„Der vereinbarte Vertrag läßt für die Zukunft offen, daß auch andere organisierte, für die Tarifgemeinschaft wichtig erscheinende Vereinigungen in

die Vertragsgemeinschaft ausgenommen werden

können, sofern sie den Tendenzen des gedachten Vertrages ent­ sprechen. Ueber eine eventuelle Aufnahme derartiger Vereine ent­ scheidet das Tarifamt."

„Ueber eine gewisse Uebergangszeit zur Durchführung der Be­ stimmungen a und b und über etwaige Erleichterungen derselben beschließt das Tarifamt. Vom Tarifamte festgesetzte Uebergangsbestimmungen sind ebenso verbindlich wie der Tarif und dieser Vertrag." Als Uebergangsfrist zur Durchführung dieser Bestimmungen sind von dem Tarifamte inzwischen zwei Jahre festgesetzt worden, sie sollen mit dem 1. Januar 1909 in Kraft treten.

und

Durch diesen § 4 des zwischen der Organisation der Arbeitgeber derjenigen der Arbeitnehmer abgeschlossenen „Garantievertrages"

wird dem einen Teile, dem „Verbände" der Gehilfen, das Monopol auf Arbeit im deutschen Buchdruckgewerbe zugesprochen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch dem anderen Teile, dem „Verein" der Prinzipale, durch den Abschluß dieses Vertrages die Aussicht auf Erlangung einer gewissen Monopolstellung eröffnet worden ist.

Der „Verein" umfaßt zwar, mit Ausnahme der Reichsdruckerei, fast 'alle Großbetriebe und besonders die Betriebe in den größeren

«Stabten, aber trotz starker Zunahme in den letzten zwei Jahren doch nur etwas über die Hälfte aller in Deutschland befindlichen Betriebe. Der § 4 ist geeignet, ihm die Außenstehenden wohl oder übel zuzutreiben,' denn er verpflichtet die Mitglieder des Arbeiterverbandes, nur in solchen Buchdruckereien tätig zu werden, deren Inhaber dem Deutschen Buchdrucker-Verein angehören. Da jetzt bereits nach der Angabe des „Vereins" etwa vier Fünftel aller Gehilfen dieses Gewerbes dem

angehören, so würden künftig die außerhalb des „Vereins" der Prinzipale stehenden Unternehmer nicht mehr die ge­ nügenden Arbeitskräfte erhalten und schon deshalb gezwungen sein, „Verband"

217 dem „Verein" beizutreten. Das würde auch auf die nicht geringe Anzahl sozialistischer Druckereien zutreffen. Wegen dieses Zwanges und der damit verbundenen Stärkung des Unternehmerverbandes ist der Vertrag von sozialdemokratischer Seite bezw. auch aus den Reihen

der organisierten Buchdruckergehilfen selbst anfangs sehr lebhaft bekämpft worden, ebenso sehr auch wegen der in ihm enthaltenen, den Unter­ nehmern günsügen Bestimmung, wonach beide Organisationen für die Erfüllung der nach dem Vertrage und nach dem Tarife ihren Mit­ gliedern obliegenden Verbindlichkeiten selbstschuldnerisch ein­ zustehen haben. Damit ist den Unternehmern Gewähr geleistet gegen Kontraktbruch des Einzelnen, wie der Gesamtheit des Personals einzelner

oder mehrerer Betriebe. Von dem „Verbände" ist auf diese Haftung wohl nur ein­ gegangen worden im Hinblick auf das ihm erteilte unbedingte Monopol auf Arbeit. Auf dieses Monopol kommt in Wirklichkeit der § 4 des „Garantievertrages" hinaus, trotz der in ihm enthaltenen Einschrän­ kungen^ diesen kann eine besondere Bedeutung nicht beigelegt werden. Der § 4 bestimmt an erster Stelle: „Der Tarifvertrag verpflichtet die Mitglieder des Deutschen Buchdrucker-Vereins, nur solche Gehilfen einzustellen, die dem Verbände der Deutschen Buchdrucker angehören." Zunächst sollen Gehilfen, die bei dem Abschluß bezw. bei dem Inkrafttreten des Vertrages das fünfzigste Lebensjahr erreicht haben, nicht unter die vorstehende Bestimmung fallen. Es liegt auf der Hand, daß der Gehilfenverband Männer in höherem Alter, die vor­ aussichtlich bald seine Unterstützungseinrichtungen belasten würden, überhaupt nicht gern aufnimmt. Auch der zweite Zusatz, wonach die Bestimmungen des § 4 für solche Gehilfen, die bei Abschluß des Vertrages noch anderen Kassen angehören, an deren Leitung Prinzipale beteiligt sind, erst dann in Kraft treten soll, wenn die beiden vertragschließenden Vereine dies­ bezüglich einen befriedigenden Ausweg gefunden haben, hat keine wesentliche Bedeutung. Solche kann anscheinend, wird aber in der Tat nicht dem dritten Satz zukommen, welcher lautet: „Der ver­ einbarte Vertrag läßt für die Zukunft offen, daß auch andere organisierte, für die Tarifgemeinschaft wichtig erscheinende Ver­

einigungen in die Vertragsgemeinschaft ausgenommen werden können, sofern sie den Tendenzen des gedachten Vertrages entsprechen." Schon bisher haben andere Arbeiterorganisationen neben dem übermächtigen „Verbände" nur verhältnismäßig kümmerlich auf­ kommen und sich halten können. Es bestehen nur noch der den christ­

lich-sozialen

Gewerkschaften

nahestehende

Gutenbergbund

mit

etwa

218 3000 Mitgliedern, der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein (Gewerkverein der graphischen Berufe) und der Zentralverein für christliche Arbeiter und Arbeiterinnen im graphischen Gewerbe, beide nur mit wenigen Hundert Mitgliedern. Die Zahl der keiner Organisation angehörigen Gehilfen ist schwer zu schätzen,' es wird angenommen, daß es etwa

6000 bis 7000 sein können. Die letzteren werden durch § 4 geradezu in den vorerst als einzig berechtigt erklärten „Verband" Deutscher Buchdrucker hineingezwungen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen,

nach Ablauf der Uebergangsfrist arbeitslos zu werden. Infolge der jedenfalls zunächst bestehenden Ausschließung der anderen Verbände und ihrer Mitglieder vom Vertrag, somit der letzteren künftighin von Arbeit und Existenzbedingung, werden sich Gehilfen hüten, diesen anderen Verbänden beizutreten. der ganze § 4 durchaus geeignet, die Mitglieder zu veranlassen, aus diesen aus- und in den von als allein maßgebend anerkannten „Verband"

Es ist im Gegenteil der anderen Verbände feiten der Unternehmer Deutscher Buchdrucker

einzutreten. So ist von vornherein die Sache seitens des letzteren aufgefaßt und in der Oeffentlichkeit wiederholt erklärt worden. Im Verbandsorgan, „Der Korrespondent" vom 27. November 1906, schrieb

ein Mitarbeiter, der sich „aufrichtiger Sozialdemokrat" nannte, wie folgt: „Es unterliegt ja gar keinem Zweifel, daß der § 4a uns eine ganze Reihe neuer Mitglieder bringt,' je mehr anerkennende Firmen, desto mehr Verbandsmitglieder. Durch die Ausbreitung des Tarifes bleibt ja den Nicht- und Andersorganisierten nichts anderes übrig, als sich dem „Verbände" anzuschließen, wollen sie nicht sozusagen erdrosselt oder vom Berufe abgetrieben werden." Und

in

der Nummer vom 22. November 1906 desselben

Blattes wurde gesagt:

„Bei einiger Logik hätte man sich sagen müssen, wo denn eigentlich alle diese „für die Tarifgemeinschaft wichtig erscheinenden Vereinigungen Herkommen sollen?" Jedenfalls wird der Gehilfen­

verband alle Kraft einsetzen, sich das ihm durch den Vertrag einmal

in Aussicht gestellte Monopol nicht entgehen zu lassen. Ueberhaupt liegen die Verhältnisse so, daß auf die lediglich auf Beruhigung

abzielenden und zur Erleichterung der Durchführung des § 4 für zweckmäßig befundenen Uebergangsbestimmungen keine Rücksicht braucht genommen zu werden.

Das Endziel bleibt unter allen Um­

ständen dasselbe. Höchstens wird seine volle Erreichung — un­ eingeschränkte Monopolisierung des Gehilfenverbandes — etwas länger hinausgeschoben."

219 Auch den Versuchen des Vorstandes des „Vereins" der Prinzipale, die öffentliche Meinung zu beschwichtigen und den § 4 des „ Garantievertrages" als durchaus harmlos hinzustellen, kann Bedeutung nicht beigelegt werden. Ein solcher Versuch wurde in der Nr. 41 der „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker", dem Organ des

„Vereins", vom 9. Oktober 1906 gemacht. „Wir

dürfen

aber

unseren

Dort war zu lesen:

Mitgliedern

schon

versichern,

daß diese Bestimmung, die ja im Rahmen des Vertrages nichts weiter ausdrückt als: ein jeder Prinzipal hat nur tariftreue Gehilfen zu beschäftigen, und ein jeder tariftreue Gehilfe hat nur bei einem tariftreuen Prinzipal zu arbeitm, um so unbedenklicher ist, als dem Gehilfen-Verbandc schon jetzt vier Fünftel aller Buchdruckergehilfen angehören. Dafür, daß keine Härten irgend welcher Art eintreten, sorgen die getroffenen Uebergangsbestimmungen." Dieser Satz ist durchaus zu bestreiten.

Schon

vor der Er­

neuerung des Tarifvertrages war in Geltung, daß jeder Prinzipal nur tariftreue Gehilfen zu beschäftigen und jeder tariftreue Gehilfe nur bei einem tariftreuen Prinzipal zu arbeiten habe. Wollte man nun diesen Zustand weiter bestehen lassen, so war dazu durchaus nicht erforderlich, daß man den Zwangsparagraphen 4 zu Gunsten einer Organisation, des „Verbandes" der Deutschen Buchdrucker, schuf, den auch ein Teil der tariftreuen Prinzipale und Arbeiter, die jenen

Grundsatz innehalten, perhorresziert. Und die neue Zwangsbestimmung ist deshalb, weil dem Gehilfenverband schon jetzt die fast erdrückende

Mehrheit aller Gehilfen angehört, um so gefährlicher. Wir vermögen auch nicht anzuerkennen,

daß es dem Vorstand

des Deutschen Buchdrucker-Vereins gelungen sei, in der Eingabe, welche er unter dem 10. Juni d. I. an die hohen Staatsregierungen, die Staats- und Komnmnalbehörden rc. gerichtet hat, die gegen sein Vorgehen und den Zwangsparagraphen erhobenen Bedenken

Er beruft sich namentlich auf die wissen­ schaftliche Autorität Professor Brentanos. Dieser hat in einem Auffatz der „Hilfe" über „die neuesten Gegner der Tarifverträge" irgendwie zu beseitigen.

u. a. gesagt: Daß die große Menge der Mitglieder des Gehilfenverbandes aus Sozialdemokraten bestehe, sei ebenso zutreffend, wie das dasselbe

für die meisten der gesetzlich organisierten Krankenkassen der Fall sei. Der Prinzipalverein habe aber wiederholt aufs nachdrücklichste betont,

daß

der

Gehilfenverband deshalb

ebensowenig

als

sozial­

demokratisch bezeichnet werden könne, als etwa unsere Krankenkassen als sozialdemokratisch bezeichnet werden könnten.

220 Wir halten diese Aeußerung für sehr charakteristisch. Ist es doch notorisch, daß die Ortskrankenkassen vorwiegend in sozial­ demokratischen Händen, und dadurch so schwerwiegende Uebel hervor­

gerufen sind,

daß

regierungsseitig

längst die

Notwendigkeit

einer

gründlichen Aenderung der Organisation der Krankenkassen anerkannt ist und vorbereitet wird. Um so undenkbarer ist es, daß gleichzeitig der von Professor Brentano in dieser Beziehung mit den Krankenkassen gleichgestellte Verband der Deutschen Buchdrucker regierungsseitig in seiner Organisation und seinen Tendenzen eine Förderung erfahre. Als eine Kompensation für die im Zwangsparagraphen 4 dem Verband gemachten Zugeständnisse hat der Verein die im § 5 festgelegte Haftbarkeit der Organisationen erlangt, worauf er großen Wert legt. Wenn er indes glaubt, diese Haftung schließe die Möglichkeit

aus, daß die Gehilfenschaft oder Teile derselben das Erscheinen von Büchern und Zeitungen, die ihren Anschauungen nicht entsprechen, hindern und in den Wahlkampf störend eingreifen rc. — so mag das vorerst und unter gewöhnlichen Umständen einigermaßen zutreffen,- gerade für kritische Zeiten und je mächtiger die sozialdemokratischen Gewerkschaften geworden sein werden, aber nicht. Es darf auch darauf hingewiesen werden, daß, wenn die verbündeten Regierungen es nicht für angebracht hielten, die Haftung der Berufsvereine in ihrer vorjährigen Gesetzes­ vorlage neben den betreffenden Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetz­ buchs noch besonders zu stipulieren, was wir bedauert haben, sie kaum die Hand bieten dürften, daß ein einzelner Gewerbszweig zu seinem Vorteil auf Grund gefährlicher Gegenkonzessionen solche Bürgschaft extra durchsetze.

Die vorhin angeführte, in dem „Korrespondent" vom 22. Dezember vorigen Jahres wiedergegebene Auffassung von der Bedeutung des sogenannten „Garantievertrages" und seines § 4 herrschte beim Be­ kanntwerden dieser Abmachungen im vergangenen Herbste allgemein vor.

Auch wir teilen sie vollkommen. Der von uns vertretene Centralverband Deutscher In­ dustrieller hat niemals gegen das in dem bisherigen Umfange durch

die Reichs-Gewerbeordnung den Arbeitern gewährte Koalitionsrecht Einspruch erhoben,- er konnte das schon aus den« Grunde nicht, weil er

das gleiche Recht für die Arbeitgeber in Anspruch nimmt. Der Central­ verband hat dagegen mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen den Zwang angekämpft, der von den Arbeiterorganisationen, insbesondere von den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern, gegen die nicht organisierten Arbeiter ausgeübt wird.

Dieser mit dem äußersten

Terrorismus ausgeübte Zwang ist auch von

den verbündeten Re-

221 gierungen

als ein im höchsten Maße verwerfliches

soziales

Uebel

erkannt worden, und zwar hauptsächlich, weil der von den organisierten Arbeitern ausgeübte Terror den Koalitionszwang bedeutet. Diesen hat die Reichsregierung ebenso zurückgewiesen und zu bekämpfen ver­ sucht, wie es von dem Centralverbande von jeher geschehen ist und

auch jetzt noch geschieht. Wir gestatten uns mit Bezug auf die Stellungnahine der Reichs­ regierung nur zu verweisen auf den Gesetzentwurf zur Abänderung der Gewerbeordnung vom 6. Mai 1890. Mit ihm wurde, um dem Mißbrauch des Koalitionsrechtes vorzubeugen, eine betreffende Aende­

rung des § 153 der Gewerbeordnung beantragt. Wir erinnern ferner an den Gesetzentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältniffes vom 26. Juni 1899. Die Aenderung des § 153 der Gewerbeordnung wurde vom Reichstag abgelehnt, trotzdem der Kommissar der Regierung, der damalige Handelsminister Freiherr von Berlepsch, mit größter Ent­ schiedenheit und mit ausgezeichneter Begründung den Standpunkt der

Regierung vertreten hatte. Der letzterwähnte, von den Gegnern mit der Bezeichnung „Zuchthausvorlage" belegte Gesetzentwurf wurde von der übergroßen Mehrheit des Reichstages in denkbar schärfster Weise

zurückgewiesen. Seit jener Zeit hat die Reichsregierung die Versuche nicht er­ neuert, die unorganisierten, d. h. die nicht sozialdemokratischen Arbeiter gegen den Terrorismus der Arbeiterorganisationen und ihrer Mitglieder zu schützen. In dem vorliegenden Falle handelt es sich aber nicht nur um Zwang und um Ausschreitungen, die gelegentlich besonderer Ver­ anstaltungen ausgeübt werden, sondern um die unumwundene, ver­ tragsmäßige Einführung des Koalitionszwanges in einem sehr be­ deutenden Gewerbe. Dieser Koalitionszwang soll ausgeübt werden von einer bestimmten Organisation der Arbeitgeber auf die übrigen Arbeit­ geber und von einer bestimmten Organisation der Arbeiter auf alle anderen Arbeiter im deutschen Buchdruckereigewerbe. Wir, als Vertreter fast der gesamten deutschen Industrie, erblicken in dem Vorgehen der beiden Organisationen in der deutschen Buch­ druckerei nicht nur eine außerordentliche Gefährdung dieses Gewerbes selbst, sondern auch der Industrie im allgemeinen, sowie der wirtschaft­ lichen und sozialen Interessen der deutschen Nation und des Vaterlandes.

Zum Beweise dessen einige wesentliche Gesichtspunkte anzugeben, be­

halten wir uns hier noch vor. Zunächst möchten wir uns gestatten, durch einzelne Belege den Nachweis zu führen, daß die unumwundene vertragsmäßige Einführung des Koalitionszwanges Bedenken erregt hat, sogar entschieden verurteilt worden ist, auch in solchen Kreisen,

222 die in allen sozialpolitischen, die Arbeiterverhältnisse betreffenden Fragen

auf

der Seite der Arbeiter und teilweise sogar der Sozialdemokratie

sehr nahe stehen. Die „Frankfurter Zeitung" faßte die Folgen des „Garantie­ vertrages" ebenso auf wie wir, indem sie unter deni 6. Oktober 1906 schrieb: „Praktisch bedeutet der Vertrag, daß der Prinzipalverein dem Gehilfenverein ein Monopol auf seine ganze Arbeitsgelegenheit gibt. Das ist also eine bedeutende Stärkung des Gehilfenverbandes und das bedingt natürlich auch eine Gegenleistung rc." Die Naumannsche

„Hilfe" konstatierte am 30. Sept. 1906, selbst das Organ der Gesell­ schaft für Soziale Reform mache Front gegen die geplante einseitige Privilegierung des Buchdruckerverbandes im Herrschaftsbereiche der Tarifgemeinschaft.

Die „Soziale Praxis" hatte am 20. September, wenige Tage vor­ dem Vertragsabschluß, ausgeführt: Die entscheidende Frage bei der Tarifrevision werde die sein, ob die Tarifgemeinschaft nach wie vor ein das gesamte deuffche Buchdruckgewerbe, Gehilfen und Prinzipale, Organisierte und Unorganisierte umfassendes, allgemeines Arbeitsgesetz sein soll, an dessen Aufftellung sämtliche tariftreuen Gehilfen ohne Unter­ schied niitzuwirken berufen seien, und das daher alle ohne Ausnahme zur strikten Befolgung verpflichte, oder ob die Tarifgemeinschaft zu einem korporativen Tarifverträge zwischen bestimmten Organisationen eingeengt werden solle. Nachdem die „Soziale Praxis" dann dem Verband der Buchdrucker alles mögliche Lob erteilt und ihn für die tüchtigste deutsche Gewerkschaft erklärt hatte, sprach sie doch die Befürchtung aus, daß „er und die Prinzipale mit der geplanten einseitigen Privilegierung des Verbandes im Herrschaftsbereiche der Tarif­ gemeinschaft gerade dieser seiner schönsten Schöpfung einen schweren Schaden zufügen würden". Was Tille nicht vermocht habe, nämlich die Hochachtung der öffentlichen Meinung vor der Arbeits- und Friedens­ ordnung des Buchdruckgewerbes zu erschüttern, das könnte unter dem

Organisationsmonopol nur allzu leicht eintreten. Als dann der Buch­ drucker-Verband sich alle Mühe gab, die öffentliche Meinung zu be­ ruhigen, tat auch die „Soziale Praxis" bald in diesem Sinne mit, sagte aber doch am 18. Oktober 1906: „Mit diesem Haftungsprinzip

ist andererseits der sogenannte Organisationszwang verknüpft worden, gegen den sich die Hauptangriffe richten. Gewiß, es ist theoretisch denkbar, daß damit ein heilloser Mißbrauch getrieben werden kann, und zwar nicht sowohl zum Schaden der außenstehenden Verbände, als besonders zum Verderben für die ganze Tarifgemein­

schaft.

Dagegen haben wir unsere warnende Stimme erhoben.

Jedoch

223 fürchten wir nicht, daß faktisch solcher Monopolmißbrauch eintreten wird." Für diese fromme Zuversicht wurden dann einige ganz un­

zulängliche Gründe angegeben. Noch viel schärfer hat der sozialpolitisch sehr weit links, der Sozialdemokratie sehr nahe stehende Professor Jastrow, jetzt Leiter der von dem Aeltestenkollegium der Berliner Kaufmannschaft be­

gründeten Handels-Hochschule, dieses Vertragsverhältnis beurteilt.

Er

sagte in der Monatsschrift „Gewerbe- und Kaufmannsgerichte" u. a.: „Würde die vorgeschriebene Koalitionspflicht durchgeführt, und stellen wir uns vor, die Gewerkschaft beherrschte den Arbeitsmarkt, so würde ein Arbeiter, der von seiner Gewerkschaft ausgeschlossen

wird, brotlos fein; er müßte entweder einen andern Beruf er­ greifen oder aus Deutschland auswandern. Und stellen wir uns vor, eine ähnliche Organisation wäre in allen Gewerben durch­ geführt, so würde die Auswanderung sein einziges Zufluchtsmittel sein. Mag aber der Betreffende begangen haben, was er wolle, die Strafe der Verbannung ist in unseren modernen Gesetzbüchern durchgehends abgeschafft, und es ist mit dem Gedanken bürgerlicher Freiheit nicht vereinbar, sie einer privaten Organisation zu übertragen." „Es scheint, daß die Urheber des Organisationsvertrages sich durch die gute Absicht, von der sie beseelt waren, zu einem Schritte haben verleiten lassen, dessen Tragweite sie nicht vollständig über­ blickten. Man kann ein Anhänger des Grundsatzes sein, daß jeder

Berufsgenosse organisiert sein solle, und kann doch einen derartigen Zwang zur Durchführung eines an sich richtigen Prinzips mit voller Entschiedenheit verwerfen. Der Zwang, der als Mittel dienen soll,

wirkt schärfer als der Zweck, in dessen Dienst er gestellt wird. Unter diesen Umständen wäre es klug gehandelt, wenn die Urheber

des Organisationsvertrages den Rückzug anträten." Auch

das Zentralorgan

der „Gewerkoerein",

der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine,

trat scharf gegen den Vertrag auf.

In seiner

Nr. 35 wurde ausgeführt: „Wir werden es uns daher unter keinen Umständen gefallen lassen, daß die in unserem Verbände organisierten

Schriftsetzer und Buchdrucker gezwungen werden,

einer Organisation

zwangsweise beizutreten, der sie freiwillig nicht angehören wollen. Wir haben die denkbar beste Meinung vom Verband der Deuffchen Buch­ drucker; was uns aber hier zugemutet wird, müssen wir mit aller Schärfe zurückweisen. Es würde den Beginn des Zerfalls der Tarif­ gemeinschaft bedeuten, wenn sie verbunden würde mit dem Beitritts-

224

zwang zu einer bestimmten Organisation. Die staatlichen wie die städtischen Behörden, die den Tarif dadurch zur Anerkennung bringen halfen, daß sie die Vergebung von Arbeiten von der An­

erkennung des Tarifs abhängig machten, werden es fernerhin nicht tun können, wenn der Organisationszwang eine Bedingung des Tarifs geworden ist. Die Gewerkvereine würden bestimmt außer stände gesetzt, die Tarifklausel in ihre Verträge mit Buchdruckereibesitzern zu bringen, wenn sie dadurch sich selbst unmöglich machen müßten."

Die

dem Zentrum

sehr

nahestehende

„Germania"

hatte

am

26. September 1906 in einem „Eine sozialpolitische Zwangsorganisation" überschriebenen Artikel gesagt:

„An Protesten gegen diese Abmachung wird es gewiß nicht fehlen; schon die gestern beschlossene neue Vereinigung der Arbeit­ geber im Buchdruckergewerbe ist ein indirekter Protest dagegen. Gewiß ist bei den neuen Tarifverhandlungen im Buchdruckgewerbe auf die Stärke und Macht des „Verbandes" gebührende Rücksicht zu nehmen, aber dem Verbände ein Monopol einzuräumen und einen Koalitionszwang zu Gunsten der Sozialdemokratie zu schaffen, dazu liegt doch keine Veranlassung vor. Oder soll die

Sozialdemokratie vermittels dieses Koalitionszwanges die ganze deutsche Presse im Verlaufe einiger weniger Jahre durch den „Verband" ganz in ihre Hand bekommen? Die Konsequenzen eines solchen Mißgriffes wären unabsehbar,

nicht nur in konkreten Fällen, z. B. beim Druck von Wahlflugblättern, sondern für die Existenz einzelner Blätter selbst."

„Wir erkennen das freie Koalitionsrecht an, aber wir verwerfen den Koalitionszwang. Wir sind Freunde von freien Tarifverträgen, aber wir müssen Gegner derselben sein, wenn diese unter monopolartigen Konzessionen lediglich an einen Arbeit­ nehmer-Verband abgeschlossen werden. Die Tippelskirch-Ver­ träge sind nachgerade bei allen Parteien in schweren Mißkredit geraten; und da sollten die neuen Tarifverträge, von denen wir im übrigen eine Besserstellung der Buchdruckgehilfen erwarten, auf ein Arbeitsmonopol für Nur-Sozialdemokraten — denn „Sozialdemokratie und Gewerkschaften sind eins" — hinaus laufen?!"

Die „Nordd. Allgem. Ztg.", das offiziöse Organ der Regierung, begleitete in ihrer Nummer vom 27. September 1906 diese Aus­ lassungen mit folgenden Worten: „Das wäre aber, wie die „Germania" mit Recht hervorhebt, nicht nur ein Monopolvertrag, sondern zugleich der Weg zu einer Zwangskoalition im Buchdruckereigewerbe."

225 Bei der Beurteilung des hier in Rede stehenden Vorganges ist auch die Frage von Bedeutung, ob der „Verband", die Gewerk­ schaft der Gehilfen im Buchdruckergewerbe, von sozialdemokratischen

Tendenzen geleitet wird oder nicht. Der „Verein", zum mindesten die ihn leitenden Prinzipale, behaupten, unter Hinweis auf den § 1 der Satzungen des „Verbandes", daß dieser den verschiedenen politischen Parteien und Bestrebungen gegenüber vollkommen neutral gegenüber­ stehe. Diese Behauptung beruht auf einer gänzlichen Verkennung und mangelnder Berücksichtigung der tatsächlichen Vorgänge und Verhältnisse. Allerdings besagt der § 1 der Satzungen

des „Verbandes":

„Dec Verband der Deutschen Buchdrucker hat zum Zivecke die Vertretung der gewerblichen, sowie Förderung der geistigen und materiellen Interessen seiner Mitglieder mit Ausschluß aller politischen und religiösen Fragen." Daraufhin ist bei dem Neuabschluß des Tarifvertrages von den Unternehmen: erklärt worden, daß der „Verband" neutral sei. In der Sitzung des Tarifausschusses von« 30. April d. I. soll indes, gegen­ über den vielfach erhobenen Bedenken, beschlossen worden sein, daß diese „Neutralität" noch mehr dokumentiert und festgelegt werden müsse.

Wie das geschehen soll, bleibt abzuwarten. Jedenfalls muß den be­ treffenden Erklärungen und Schritten, nach allen bisher geinachten Er­

fahrungen, sehr skeptisch entgegengesehen werden. Es ist freilich von den „freien" Gewerkschaften im Laufe der Zeit, je nach Bedürfnis, immer einmal behauptet worden, sie seien neutral. Die Fiktion ist indes im Laufe der letzten Jahre von ihren Urhebern selbst immer mehr aufgegeben worden; an sie glaubt wohl kaum ein urteilsfähiger Mensch mehr. Die vom Präsidenten Bömelburg auf dem Gewerkschafts-Kongreß zu Stuttgart unter dem leb­ haftesten Beifall ausgegebene Parole: Gewerkschaften und Sozial­ demokratie sind eins, ist seither, trotz aller äußeren Differenzen, im Grunde immer mehr verwirklicht und in den beteiligten Kreisen geradezu zum Glaubensbekenntnis geworden. Namentlich die Reichstagswahlbewegung hat beredtes Zeugnis dafür abgelegt.

letzte

Wir erkennen an, daß der „Verband" der Deutschen Buch­ drucker sich der sozialdemokratischen Partei gegenüber selbständiger ge­

halten hat als andere Gewerkschaften. Auch ist feststehend, daß zahl­ reiche Mitglieder des Buchdrucker-Verbandes nicht Sozialdemokraten

sind. Aber ausschlaggebend ist die Tatsache, daß seine Leiter Sozialdemokraten sind und offenkundig die Tendenz verfolgen, alle Mitglieder zu Sozialdemokraten zu machen, Heft 106.

daß sie kundgeben,

226

wie Gewerkschaft und Partei die gleichen Ziele haben und zusammen gehören. Zahllose Aeußerungen des Organs des Buchdruckerverbandes,

des „Korrespondent", und seiner Führer,

Anträge und Beschlüsse

in den Zweigvereinen, vor allem der Umstand, daß der Verbands ­ vorstand Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften ist, beweisen, daß die ausgehängte neutrale Flagge falsch und trügerisch ist. Die Unmöglichkeit, eine solche Täuschung und Zwitterstellung auf­ recht zu erhalten, wurde gelegentlich aus eigenen Kreisen des „Ver­ bandes" anerkannt.

Am 27. November 1906 schrieb im „Korrespondent" ein Mit­ arbeiter, der sich als „aufrichtiger Sozialdemokrat" einführte, der Ver­ band müsse schließlich, was höchlichst zu bedauern wäre, die von seinen Führern gepredigte Neutralität bis zur äußersten Konsequenz fortsetzen, nämlich bis zu seiner Lostrennung von der Generalkommission der Gewerkschaften. Denn nach dem Kölner Gewerkschaftskongresse, wie insbesondere nach dem Mannheimer Parteitage, könne für eine neutrale

Gewerkschaft kein Platz mehr in dieser Kommission sein. Aber obwohl nun nach Abschluß des neuen Vertrages dem Buchdruckerverband alles daran liegen muß, seine Neutralität glaubhaft zu machen, ist er nicht aus der Generalkommission der sozialdemokratischen Gewerkschaften aus­

getreten. Er wird es auch voraussichtlich nicht tun, und selbst wenn er ein solches Opfer bringen wollte, würde man ihm nicht glauben und es würde ihm also nicht entsprechend nützen. Ueber die Parteizugehörigkeit der Arbeiterorganisationen hat sich

der hervorragendste Führer der Gewerkschaften, derReichstagsabgeordnete Legien, in höchst bezeichnender Weise ausgesprochen. Er erklärte bei der ersten Beratung des Gesetzentwurfes betreffend die Verleihung der Rechtsfähigkeit

an

die

Berufsvereine

im

Reichstag

am

23.

No­

vember 1906: „. . . Deshalb brauchen Sie gar nicht besonders zu betonen, daß eine Gemeinschaft zwischen Gewerkschaftsorganisationen und sozialdemokratischer Partei besteht. Es ist keine andere Gemeinschaft, als sie besteht zwischen den christlichen Gewerkschaften und der Zentrumspartei (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) und keine andere Gemeinschaft, als sie besteht zwischen Hirsch-Dunckerschen Gewerk. vereinen und den freisinnigen Parteien. Denn die betreffenden

Organisationen suchen in den genannten Parteien ihre politische

Vertretung." Immer wiederholt ist von einzelnen Gewerkschaften wie von dem Organ der Generalkommission der Gewerkschaften betont worden, daß



die Gewerkschaften

227



gerade so wie die Sozialdemokratie den K lassen -

kampf auf die Fahne geschrieben haben. Ein Beispiel für Hunderte: Das „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften" schrieb in Nr. 36 vom Jahre 1906 folgendes: „Die Gewerkschaften

fußen heute

ebenso

wie vor und nach dem Ausnahmegesetz auf der

Theorie des Klassengegensatzes zwischen Kapitalist und Arbeiter, und sie erkennen den Klassenkampf als die notwendige Folge dieses Gegensatzes und die Aufhebung der Kapitalisten­ klasse, die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung als die einzige Lösung dieses Verhältnisses an. An dieser Lösung mitzuarbeiten, ist die gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organi­

sation nicht niinder als die politische Organisation der Arbeiterklasse berufen." Hat sich auch im ganzen die Gewerkschaft der Buchdrucker, wie vorhin bereits bemerkt, vorsichtiger verhalten als durchschnittlich andere Gewerkschaften, so ist derselbe sozialdemokratische und um­ stürzlerische Standpunkt doch seit langem und oft von ihren Führern vertreten worden. So berichtete der „Korrespondent" z. B. über einen im Frühjahr 1894 von Massini, dem Vorsteher des Berliner Gaues des Buchdruckerverbandes und bekannten sozialdemokratischen Führer gehaltenen Vortrag, in welchem der Redner nach Aufzählung ver­ schiedener hauptsächlicher Arbejterforderungen schloß: „Nicht eher werde als mit dem Falle der Klassenherrschaft selbst", nur eine Etage zu diesem Ziele bildeten jene Forderungen. Dieser selbe Berliner Gauleiter, Genosse Massini, wies auf der Generalversammlung des Verbandes der Deutschen Buchdrucker der Klassenkampf des Proletariats ruhen,

im Jahre 1905 eine ziemlich friedfertige Aeußerung eines Redners mit den Worten zurück: „Der Tarifvertrag ist nicht der Frieden, wer das sagt, sagt Unsinn: er ist ein Waffenstillstand, einen Frieden gibt es nicht, es gibt keinen sozialen Frieden." In der Nr. 139 des „Korrespondent" vom 1. Dezember 1906, also nachdem bereits der neue Vertrag im Buchdruckereigewerbe ab­ geschlossen war und der Gehilfenverband vermehrtes Interesse gehabt

hätte, wenigstens nach außen hin möglichst neutral zu erscheinen, wurde ein Artikel mit der Ueberschrift: „Wie cs nicht sein sollte", veröffentlicht, dem als Motto folgender Ausspruch des orthodoxen Sozialdemokraten

Kautsky vorgedruckt war: „Nicht Kampf zwischen Partei und Gewerk­ schaft! Das wäre politischer Selbstmord. Aber Kampf für die Partei in der Gewerkschaft, das muß die Parole jedes Genossen sein, der im stände ist, gewerkschaftlich tätig zu sein." In diesem Artikel des Organs des Buchdruckerverbandes wird darüber geklagt, daß die

228 „Leipziger Volks-Zeitung"

tarif demjenigen Teil

durch ihre Angriffe auf den Buchdrucker­

der Mitglieder des Gehilfenverbandes

seine

Arbeit sehr schwer mache, welcher auf dem Boden der vom sozial­ demokratischen Parteitage in Mannheim im September 1906 gefaßten

Resolution, betreffend Partei und Gewerkschaft, neue Anhänger der politischen Organisation zuzuführen beabsichtige. Die Wege, die die „Leipziger Volkszeitung" vorschlage, könne der Verband naturgemäß nicht gehen. Es wird dann ausgeführt, wie dieses Organ, das be­

kanntlich mit seinem „Sauherdenton" zu den rohesten und revolutio­ närsten der deutschen Sozialdemokratie gehört, von sozialdemokratischer Seite selbst besser im Zaume und seine „stinkenden Ergüsse über miß­ liebige Führer" hintan gehalten werden sollten. Zum Schluß re­ kapituliert der Artikel des Derbandsorganes der Buchdruckergehilfen seine Ausführungen dahin: „Möchte das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft nach Möglichkeit in dem Sinne gepflegt werden, wie ich es zu Eingang meines Artikels durch ein Citat eines anerkannt hervorragenden Theoretikers der Partei bezeichnet habe, und was auch

von der „Leipziger Volkszeitung" beherzigt werden könnte." Ebenfalls im Dezember 1906 war im „Korrespondent" zu lesen: Das Wesen der Tarifgemeinschaft bestehe darin, die Macht

der Arbeiter zu mehren und diesen eine Errungenschaft nach der anderen zuzuführen. Die Tarifgemeinschaft sei nicht um der realen Verhältnisse selbst, auch nicht um den Kampf unter allen Umständen auszugestalten und den Frieden zu sichern, abgeschlossen worden. Was die Buchdruckergehilfen an Macht dadurch erlangt hätten, sollte vielmehr anderen Organisationen zur Aneiferung dienen. „Darum,

Kollegen, hinein in die politische Partei, mitgearbeitet, ivie sich das von jedem reifen Manne gehört; zeigen wir, daß wir gewillt sind, das

Wort zu erfüllen:

Partei und Gewerkschaft sind eins!"

Ferner mag eine Stelle aus Nr. 143 des „Korrespondent" von 1906 hervorgehoben sein, welche besagt: „Die Forderungen der Arbeiter sind stets berechtigte, ob sie aber durchführbar sind, darauf allein kommt es im Wirtschaftsleben an. An der Wahrheit dieses Satzes wird, so lange das privat-kapitalistische Wirtschaftssystem besteht, leider nichts geändert werden können, darum eben sind wir

nicht bloß Gewerkschaftler, sondern auch Sozialisten, weil wir eine andere Wirtschaftsform erstreben, auf daß der Arbeiter in seiner Gesamtheit im vollen Umfange zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein gelangen kann."

Seitens der schneidigsten Sozialdemokraten ist namentlich dem „Genossen" Rexhäuser, der seit einem Jahrzehnt Redakteur des

229 Buchdrucker-Verbandsorgans ist, vorgehalten worden, er sei nicht genügend sozialdemokratisch geeicht und verläßlich. Nach einem Bericht der sozialdemokratischen „Märkischen Dolksstimme" sprach Rexhäuser.

auf dem Bezirkstag der Buchdrucker in Sorau über die Aufgaben des Verbandes. Er ließ sich über die Neutralität aus, bemerkte aber, er wolle heute auch den schärfsten Gegner seiner Schreibweise im „Korrespondent" davon überzeugen, daß er sich bisher keines Arbeiter­ verrats schuldig gemacht habe, daß er seiner Aufgabe sich bewußt sei und auch für die Zukunft den Boden der modemen Arbeiterbewegung nicht verlassen werde. Jeder Gewerkschaftler müsse unter den heutigen Verhältnissen Sozialist sein und seiner Ansicht nach auch bei der Wahl sozialdemokratisch wählen. Auch auf der zu Berlin vom 19. bis 23. Februar vorigen Jahres abgehaltenen Konferenz der Gewerkschaftsvorstände mit der Partei bekannte sich Rexhäuser rückhaltlos zur sozialdemokratischen Weltanschauung, und sagte nach dem ver­

öffentlichten Protokoll:

„Ich getraue mir überall den Standpunkt zu vertreten, den ich als moderner Arbeiter vertreten muß, nämlich, daß ich Sozialist bin. Ich habe niemals geleugnet, daß ich auf dem Boden des Sozialismus stehe . . . Das Wort, das Bömelburg geäußert hat> Gewerkschaften und Sozialdemokratie sind eins, hat eine gewisse Berechtigung. Das habe ich auch vor kurzem in einer öffentlichen Versammlung in Dresden gesagt. Ich bin als Partei­

genosse nach Leipzig gekommen und fühle mich auch heute noch als Parteigenosse."

Noch Leitartikel:

der „Korrespondent" vom 11. Juni d. I. sagt in einem

„Jetzt heißt es entweder: Stillstand oder Fortschritt! Das letztere ist aber nur möglich, wenn man sich zum Sozialismus bekennt." Freilich sucht sich dann die Redaktion durch eine lahme Fußnote der Verantwortung für solches offene Farbebekennen möglichst zu entziehen. Bekanntlich haben die Gewerkschaften auch bei den jüngsten Reichstagswahlen offen Seite an Seite mit der Sozialdemokratie

gekämpft und haben der politisch-sozialdemokratischen Partei zu ihrem Wahlfonds verhältnismäßig reiche Beiträge aus dem Gewerkschafts­ vermögen geliefert. Unter anderem beschloß auch die Bezirksversammlung des „Verbandes" der Buchdrucker zu Frankfurt a, M., dem sozial­ demokratischen Wahlcomito einen Betrag zu gewähren, obwohl in der

230 Debatte darauf hingewiescn wurde, daß durch ein solches Vorgehen der die Neutralität des Verbandes stipulierende § 1 der Statuten verletzt

würde. Der Hauptvorstand des Verbandes hat denn auch, Schein zu wahren, den Beschluß als satzungswidrig erklärt.

um den

Noch in der Frankfurter Bezirksuerfammlung vom 25. Mai 1906 wurde indes Beschwerde darüber geführt, daß durch die demonstrative Betonung der Neutralität seitens des „Korrespondent" die jüngeren Provinzkollegen dem Klassenkampf entfremdet und die übrigen Kollegen zu Heloten herabgedrückt würden! Der bereits wörtlich angeführte § 1 der Satzungen des „Verbandes" verpflichtet ihn zur unbedingten Neutralität. Dem gegenüber haben wir es für unsere Pflicht erachtet, an der Hand zahlreicher Beispiele,

deren uns noch viele zur Verfügung stehen, den Nachweis zu führen, daß die Leitung des „Verbandes", daß sonstige einflußreiche Mitglieder, daß das Organ des „Verbandes" und daß Gauver­ sammlungen desselben, die in dem § 1 der Satzungen enthaltene Vorschrift vollkommen mißachtend, gänzlich von sozialdemokratischen Tendenzen erfüllt, sie im Verbände zu verbreiten und zur Geltung zu bringen bestrebt sind und fest zur sozialdemokratischen Partei stehen. Diesen Nachweis in unanzweifelbarer Weise zu führen, haben wir um deswillen für unbedingt erforderlich erachtet, weil dadurch die Be­ deutung des zwischen den beiden Organisationen im Buchdruckergewerbc geschlossenen „Garantievertrages" mit seinem, den Koalitionszwang ver­ tragsmäßig einführenden § 4, in das richtige Licht gerückt wird. In diesem Lichte tritt die Gemeinschaft des „Verbandes" der Buch­ druckergehilfen mit den anderen sozialdemokratischen Gewerkschaften deutlich hervor, eine Gemeinschaft, die durch die Zugehörigkeit des Vorstandes des „Verbandes" zu der „Generalkommission der deutschen Gewerkschaften" bereits ihren bezeichnenden Ausdruck ge­

funden hat. Die Gefährlichkeit der sozialdemokratischen sogenannten freien Gewerkschaften für den Staat und die Gesellschaft wie für unser ganzes Wirtschaftsleben ist wohl kaum jemals schärfer und treffender dargelegt worden als von Ew. Durchlaucht selbst in der Sitzung des Reichs­

tages vom 20. Januar 1905, vornehmlich mit den Worten: „Und nun vollends (mit Bezug auf die Förderung der sozialdemokratischen Parteiinteressen) die sozialdemokratischen Gewerkschaften, die von Anfang

an ja gar nichts anderes sein sollten als Exerzierplätze, als Manöver­ felder für eine Partei des Umsturzes, als eine Schule für die Er­ ziehung der Arbeiter zu jenem Kommunismus, der das Ende unserer

Kultur und den Tod der individuellen Freiheit sein würde."

231

Diese Charakteristik trifft nach unseren Darstellungen wesentlich auch auf den „Verband" zu. Seine an sich bereits große Macht wird durch die ihm mit dem § 4 des „Garantievertrages" verliehene Gewalt, den Koalitionszwang auf alle Gehilfen im Buchdruckgewerbe auszuüben, außerordentlich erhöht werden, ihm die Erreichung seines

Zieles, in diesem Gewerbe zu herrschen, unbedingt sichern. Doch abgesehen von dieser, dem Buchdruckgewerbe sehr nahe

gerückten Gefahr, tritt als ungemein gefährlich für die Gesamtheit der Umstand hinzu, daß das hier gegebene Beispiel die anderen Gewerkschaften unzweifelhaft zur Nacheiferung anreizen wird. Bestimmt ist zu erwarten, daß sie mit ihrem aggressiven Vorgehen gegen den Arbeitgeber, das in neuerer Zeit fast in allen Fällen auf den Abschluß von Tarifverträgen gerichtet ist, die Erreichung einer ähnlichen Monopol­ stellung zur Ausübung des Koalitionszwanges auf die noch außerhalb der Gewerkschaft stehenden Gewerbsgenossen als Ziel erstreben werden. Der von uns erwiesenen Tatsache gegenüber, daß der die Neutra­ lität verbürgende § 1 der Satzungen des „Verbandes" von dessen Organen vollkommen mißachtet wird und nur eine Fiktion ist, könnte die Haltung der leitenden Personen im „Verein" der Prinzipale fast unerklärlich erscheinen,' sie wird gekennzeichnet u. a. durch folgende Aeußerung in der Nr. 20 vom 16. Mai d. I. der, „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker", dem Organ des „Vereins". Dort heißt es: „Im Buchdruckereigewerbe — ausschließlich natürlich der 140 Namen des Arbeitgeberverbandes — nimmt man die völlige Neutralität der Gehilfenorganisation und deren ehrliche Ein­

haltung als eine gegebene Tatsache, mit der unbedingt zu rechnen ist. Dabei wird keineswegs übersehen oder geleugnet, daß ein großer Teil der einzelnen Mitglieder des Gehilfenverbandes in parteipolitischer Beziehung sozialdemokratischer Gesinnung ist. Das aber hat mit dem abgeschlossenen Organisationsvertrage nichts

auch eine Erscheinung, die niemanden Wunder zu nehmen braucht." Der „Verein" der Prinzipale ahmt hier dem Vogel Strauß nach, der den Kopf in den Sand steckt, um die Gefahr nicht zu zu tun, nnd ist übrigens

sehen.

Unseres Erachtens ist der Umstand, daß die ehrliche Einhaltung

der völligen Neutralität der organisierten Gehilfen von den Organen des „Vereins" der Prinzipale als eine gegebene Tatsache hingestellt

wird, eine Selbsttäuschung,

für welche die Erklärung nicht fern liegt.

Denn im Buchdruckgewerbe hat man unverkennbar bereits begonnen, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die gute Laune des Personals

232 nicht gestört werde

durch den Inhalt dessen, was ihm zum Setzen

und Drucken gegeben wird.

Solche Rücksichtnahme wird verständlich, wenn man die Ge­ sinnung kennen lernt, die sich in dieser Beziehung bereits in der Ge­ hilfenschaft Geltung zu verschaffen sucht. „Der Korrespondent", das bereits mehrfach angezogene Organ des „Verbandes", brachte in

die Verteuerung der Lebensmittel durch den neuen Zolltarif betreffenden Aufsatz von einem Mitglicdc des Verbandes, in dem cs wörtlich heißt:

seiner Nr. 126 vom 27. Oktober 1906 einen

„Ich kann den Verband, dessen Mitbegründer ich seinerzeit gewesen, nicht von dem Vorwurfe freisprechen, daß er mit zu der Teurung beigetragen hat. Bei der starken Organisation des Ver­ bandes durfte er nicht zulassen, daß seine Mitglieder in Offizinen reaktionärer, auf Verteuerung der Lebensmittel hinarbeitender Zei­ tungen tätig waren. Schon damals hätte der Verband energisch Front machen müssen gegen solche geradezu verbrecherischen Be­ strebungen. Durch die Mithilfe gerade von Verbandsmitgliedern ist es dahin gekommen, daß die Begehrlichkeit der Agrarier aufgestachelt werden konnte, und daß dieser dann der Erfolg zu teil wurde. Wären Setzer und Drucker nicht für die Verbreitung des gedruckten Wortes zu haben gewesen, dann hätte die Agitation für die Ver­ teuerung der Lebensmittel nicht so wirksam werden können. Ich habe als junger Gehilfe schon so viel Gefühl für Recht und Un­ recht gehabt, daß ich z. B. der Druckerei der „Norddeutschen All­ gemeinen Zeitung" im Jahre 1862 nach eineinhalbwöchentlicher Tätigkeit den Rücken kehrte, weil es mir widerstrebte, an einer

reaktionären Zeitung mitzuwirken."

Unverhohlen ist hier ausgesprochen, daß es Pflicht des Ver­ bandes sei, nur das setzen und drucken zu lassen, was er in seinem und im Interesse der Sozialdemokratie für gut und richtig hält.

Alles

andere soll inundtot gemacht werden. Freilich bemerkt der „Korre­ spondent" dazu, das sei doch zu weitgehend, der technische Arbeiter habe sich nicht daruni zu kümmern, zu welchem Zwecke er eine Arbeit

anfertige. Wenn der „Korrespondent" entschieden die Auffassung seines Mitarbeiters verurteilte, so hätte er den Aufsatz überhaupt nicht bringen sollen.

Es mag sein, daß die in dem vorstehend erwähnten Artikel von .einem Mitgliede des Verbandes vertretenen extremen Tendenzen bisher

nur vereinzelt zur tatsächlichen Durchführung gelangt sind. Wir stehen unter dem Eindruck, daß sie bereits einen gewissen Einfluß auf die

233 Haltung der Arbeitgeber im Buchdruckgewerbe

ausgeübt haben.

Die

übertriebene Arbeiterfreundlichkeit gewisser Zeitungen, die von ihnen

unter jeden Umständen und unter Verleugnung der eigenen Urteils­ fähigkeit zur Schau getragene Parteinahme für die Arbeiter bei Aus­ ständen, Boykotts und Exzessen, das Ueberwuchern der sogenannten parteilosen oder Generalanzeigerpresse ist unseres Erachtens wesentlich auf das Streben zurückzuführen, das jetzt bereits übermächtige Personal in guter Laune zu erhalten und dem in jeder namhafteren Druckerei befindlichen Vertrauensmanne des „Verbandes" keinen Anlaß zum Einschreiten zu geben. Wenn jetzt von dem „Verbände" in der vorerwähnten Beziehung noch eine gewisse kluge Vorsicht geübt wird, so zweifeln wir nicht, daß,

wenn der ihm von dem „Verein" der Prinzipale gewährleistete Koali­ tionszwang erst seine volle Wirkung ausgeübt haben wird, der „Verband", vollkommen im Sinne der Sozialdemokratie, ohne alle

Rücksicht gegen die Arbeitgeber vorgehen wird. Ganz in diesem Sinne hat sich auch ein Mann, der als fort­ geschrittener Sozialpolitiker bezeichnet werden muß, der Lizentiat Mumm in der Zeitung „Das Reich" ausgesprochen. Von der Ansicht aus­ gehend, daß die Alleinherrschaft des „Verbandes" im Buchdruckgewerbe ein nationales Unglück sein würde, schrieb er:

„Alle geistigen Bewegungen sind heute auf den Buchdruck angeiviesen,' in Zeiten schärfster sozialer Spannung oder nationaler Gefahren kann das Erscheinen oder Nichterscheinen von Drucksachen von höchster Bedeutung für das staatliche Leben werden. Schon in den Zeiten der Parteikämpfe, etwa bei den Reichstagswahlen, ist die Frage, ob man eine Buchdruckerpresse unbedingt zur Verfügung hat oder nicht, von großer Bedeutung für den Wahlkampf. Es wird schon gegenwärtig versichert, daß wichtige parteipolitische Druck­ sachen in großen Druckereien nur einigen Setzern gegeben werden

können, weil man im anderen Falle eine sofortige Bekanntgabe an die sozialdemokratische Presse erwartet."

„Es wäre töricht, zu meinen, daß die Sozialdenlokratie Macht­ mittel, die sie besitzt, nicht nach Möglichkeit gegen den gegenwärtigen Staat zur Anwendung bringen würde Was helfen nach­ herige Entschädigungsforderungen, wenn durch Weigerung der Buch­

drucker der entscheidende Zeitpunkt versäumt ist? Wohin wir blicken, erscheint ein Zwang für alle deutschen Buchdrucker, dem sozialdemo­ kratischen Verband beizutreten, als ein gleiches Unglück wie etwa eine sozialdemokratische Organisation der Eisenbahner oder Postbeamten."

234 In voller Uebereinstimmung

mit

diesen

Ansichten sehen

wir

voraus, daß es trotz des'Tarifvertrages, der, wie wir nachgewiesen haben, von den zielbewußten Sozialdemokraten im „Verbände" nur als Waffenstillstand angesehen wird, zu schweren Kämpfen kommen

wird und muß. In den bisher von den Arbeitern und ihren Organen angesüfteten wirklich bedeutenden Kämpfen gegen die Arbeitgeber hat diesen noch immer ihre Kapitalkraft zum Siege verholfen. Wir fürchten, daß diese Kraft bei einem Kampfe im Buchdruckgewerbe versagen würde. Es gibt kaum ein Gewerbe, das in dem Grade mit allen Verhält­ nissen im Staat, im öffentlichen und im wirtschaftlichen Leben der Nation in Beziehung steht, wie der Buchdruck. Der Zustand, daß infolge eines Ausstandes der Gehilfen im Deutschen Reiche einige Monate lang nichts gedruckt würde, ist undenkbar. Die öffentliche Meinung würde sich mit solcher Macht gegen einen solchen Zustand auflehnen, daß er kaum einige Tage lang aufrecht erhalten werden könnte. Der „Verband" würde aber heute schon in der Lage sein, mit seiner vier Fünftel aller Gehilfen betragenden Mitgliederzahl und seinen großen Mitteln unerträgliche Störungen im Buchdruckgewerbe herbei­ zuführen und monatelang aufrecht zu erhalten. Wie iverdcn sich diese Verhältnisse erst gestalten, wenn der „Verband" durch den ihm vertragsmäßig gewährten Koalitionszwang alle Gehilfen umfassen wird? Dann wird die Herrschaft des Verbandes, d. h. der Sozialdemokratie, im Buchdruckgewerbe besiegelt sein, dynn wird sich in einem sehr bedeutenden Gewerbe die Beseitigung der kapitalistischen Produktions­ weise durch die Sozialdemokratie vollzogen haben. Von solchen Gesichtspunkten aus muß der Terrorismus beurteilt

werden, der durch den § 4 des Garantievertrages gegen die Arbeitgeber, wie gegen die Arbeiter geübt werden wird. Vom 1. Januar 1909 wird nicht mehr die Tariftreue des Arbeitgebers genügen, um Arbeiter ein­ stellen zu können, sondern nur der wird Arbeiter erhalten, der Mit­ glied des „Vereins" der Prinzipale geworden ist. Der Arbeitgeber, dessen nationale, wirtschaftliche und wohl auch religiöse Anschauungen, mit einem Worte, dessen Gewissen es ihm verbietet, Mitglied eines Vereins zu werden, der die äußerste Machtentfaltung einer eriviesen sozialdemokratischen Gewerkschaft, des Gehilfenverbandes, begünstigt,

erhält keine Arbeiter mehr. Er wird von seinen Bcrufsgenossen boykottiert, ausgesperrt, unter Umständen zu Grunde gerichtet, ein Terrorismus sondergleichen. Ein solcher Zustand verstößt entschieden gegen die Interessen der Allgemeinheit und des Staates.

Allen Arbeitern int Druckereigewerbe, die sich bisher aus nationalen, sittlichen oder religiösen Gründen dem von sozialdemokratischem Geiste

235 durchdrungenen Gehilfenverbande nicht haben anschließen wollen, wird von dem „Verein" der Buchdrucker erklärt, daß sie fortan bei den

Mitgliedern des „Vereins" keine Arbeit finden werden. Auch diese Arbeiter werden boykottiert und ausgesperrt. Damit wird ein bisher nicht dagewesener Zustand geschaffen.

Während alle anderen Arbeit­

geber darauf bedacht sind, bei -em Kampfe mit den Arbeitem die Nichtorganisierten, d. h. diejenigen, die noch an ihrem Glauben, an unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, noch an Kaiser und Reich festhalten, so viel als irgend möglich zu schonen und zu begün­ stigen, werden sie von den deutschen Buchdruckern vollständig preisgc geben. Zur Verteidigung

dieses unerhörten Vorganges haben eifrige

Sozialpolitiker auf England verwiesen, wo mit derartigen Allianz­ verträgen gute Erfahrungen gemacht worden seien. Aber gerade das jüngste und wichtigste Vorkommnis auf diesem Gebiet in jenem Lande

widerlegt diese Hinweise gründlich und bietet eine scharfe Warnung und Waffe gegen das Vorgehen der deutschen Buchdrucker, d. h. gegen ihren Garantievertrag mit dem Zwangsparagraphen 4. Die weitaus wichtigsten, man kann sagen grundlegenden Tarif­ verträge sind in Deutschland der im Buchdruckergewerbe, in England der in der Maschinen- und Schiffbauindustrie abgeschlossene. Beide sind soeben erneuert worden, ein Vergleich ist also um so aktueller und treffender. Es sind gerade zehn Jahre vergangen, seit in England einer der größten je dagewesenen Arbeitskämpfe stattfand, der all­ gemein auf das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern und auch politisch eine weitgehende Wirkung hatte. Es war der Streik

bezw. die Aussperrung in der Maschinenindustrie, welche vom Sommer 1897 bis in den Beginn des Jahres 1898 dauerte und die Maschinenund Schiffbauindustrie durch das ganze Land lahmlegte. Der Kampf, der zur Folge hatte, daß sich sowohl die Unternehmer wie die Arbeiter unter sich enger zusammenschlossen, wurde durch einen sorgsam

ausgearbeiteten Vertrag beendet, der seither in der englischen Maschinen­ industrie den Frieden ziemlich gewahrt hat, welcher gleiche Erfolg ja

guch dem deutschen Buchdruckervertrag nachgerühmt wird. Im deutschen Buchdruckergewerbe soll aber nun zum Koalitionszwang, übergegangen werden, während im englischen Maschinengewerbe auch künftig die Koalitionsfreiheit absolut und vor allem gewahrt wird!

Die Erneuerung des englischen Vertrages ist jetzt erfolgt zwischen andererseits

der „Engineering Employers federation“ einerseits und

den drei Trade Unions der Maschinenarbeiter: tbe amalgamated Society of Engineers, the Steam Engine Makers Society und the

236 United Machine Workers Association. Diese drei Gewerkschaften sind alliiert, aber nicht vereinigt. Der neue deutsche Buchdruckereivertrag bietet einer Gewerkschaft ein ungeheures Vorrecht, ein Monopol. Der englische Vertrag gewährleistet auch den Unorganisierten Arbeit, der deutsche schließt sie aus. Wir stellen die betreffenden, grundlegenden Bestimmungen gegenüber:

Der englische Vertrag schreibt zunächst vor, daß die vereinigten Unternehmer sich nicht in die eigenen Funktionen der Gewerkschaften und die Gewerkschaften sich nicht in die Geschäftsführung der Unternehmer mischen sollen,' dann besagt die maßgebende Bestimmung:

Jeder Unternehmer mag zu dem Verband (kederärion) gehören und jeder Arbeiter mag zu einer Gewerkschaft (trade Union) gehören oder nicht, wie jeder von ihnen es angebracht halten mag. Jeder Unternehmer mag jeden Mann beschäftigen und jeder Arbeiter mag Beschäftigung bei jedem Arbeitgeber nehmen, ob der Arbeiter oder der Arbeitgeber zu einer Gewerkschaft bezw. dem Verband gehört oder nicht. Die Gewerkschaften empfehlen allen ihren Mitgliedern, sich nicht zu weigern, mit Nichtorga­ nisierten Arbeitern zu arbeiten, und der Verband empfiehlt allen seinen Mitgliedern, sich nicht zu weigern, orga­ nisierte Arbeiter zu beschäftigen, aus dem Grunde, daß sie Mitglieder einer Gewerkschaft sind. Von keinem Arbeiter soll verlangt werden, eine Erklärung abzugeben, ob er zu einer Gewerkschaft gehört oder nicht. Der § 4 des neuen deutschen Buchdruckervertrages aber lautet: Der Tarifvertrag verpflichtet: a) die Mitglieder des Deutschen Buchdrucker-Vereins, nur solche Gehilfen einzustellen, die dem „Verband der Deutschen Buchdrucker" angehören,'

bj die Mitglieder des „Verbandes der Deutschen Buchdrucker", nur in solchen Buchdruckereien tätig zu werden, deren Inhaber dem „Deutschen Buchdrucker-Verein" angehören. Man wird anerkennen müssen, daß der englische Vertrag der Staatsraison vollkommen entspricht, während der deutsche dieser gradezu ins Gesicht schlägt. Die „Times" brachte am 29. April dieses Jahres eine eingehende Besprechung des in England geschlossenen Vertrages, die, der vor­ herrschenden öffentlichen Meinung entsprechend, dem Vertrage das

237 höchste Lob zollte. Es sei zweifelhaft, so hieß es in dem Artikel, ob in allen industriellen Angelegenheiten Englands jemals ein um­

fassenderes und wohlmeinenderes Dokument erschienen sei, und es war besonders betont worden, daß der, in der vorstehend angeführten hauptsächlichsten

Bestimmung

enthaltene

Grundsatz nicht

sondern bereits in dem Vertrage von 1898 enthalten

neu

sei,

gewesen roar;

gegen ihn hätte aber damals doch eine starke Strömung geherrscht. Der Vertrag erlynge jetzt aber dadurch eine erhöhte Bedeutung, daß nach fast zehnjähriger Erfahrung die Gewerkschaften formell das Recht der nicht organisierten Arbeiter anerkennen

und zulassen. Die deutschen Buchdrucker aber haben den entgegengesetzten Weg beschritten, sie schließen die nicht organisierten Arbeiter zu Gunsten der Organisierten aus. Dabei wäre ein solches Vorgehen in England lange nicht so gefährlich gewesen, als es in Deutschland angesehen werden muß. Denn die englischen Gewerkschaften haben

sich, trotz nnancher in ihren großen Versammlungen gefaßten radikalen Beschlüsse- doch im großen und ganzen von politischen und umstürzlerischen, von den rein sozialdemokratischen Tendenzen viel mehr fern gehalten, als die deutschen' die englischen Gewerkschaften erstreben in der Hauptsache nur die Besserung und Hebung der materiellen Lage der Arbeiter. Den von den deutschen Gewerkschaften als ihr vornehmstes

Ziel betrachteten

Klassenkampf weisen

die

englischen

Gewerkschaften

zurück. Noch jüngst hat die Hauptversammlung der englischen Trabe Unions ausdrücklich eine Verquickung mit der politisch-sozialistischen

Partei und die Aufstellung eines sozialistischen Programms abgelehnt. Im deutschen Buchdruckgewerbe soll nun der Koalitionszwang eingeführt werden, trotz aller im eigenen Lande und im Auslande ge­ machten Übeln Erfahrungen. Von der Reichsregierung ist, wie wir nachgewiesen haben, wieder­ holt ebenso

auch von der Rechtsprechung und von allen bürgerlichen

Parteien bekundet worden, daß ein Koalitionszwang nicht ausgeübt werden soll und nicht bestehen darf. Denn dieser Zwang, von den Gewerkschaften mit ihren terroristischen Maßnahmen den nicht organi­ sierten Arbeitern gegenüber bereits in weitem Umfange geübt, ist nichts

anderes,

als

eine Förderung

und Kräftigung

der Sozialdemokratie

und ihrer destruktiven Tendenzen und Bestrebungen. Ew. Durchlaucht haben gerade in neuerer Zeit den Kampf gegen die Sozialdemokratie als eine der bedeutendsten Aufgaben unserer Zeit

bezeichnet und

damit erreicht,

daß,

zur hohen

Befriedigung

aller

Vaterlandsfreunde, bei den letzten Wahlen zum Reichstag die Umsturz-

238 Partei und ihre Mitläufer stark zurückgedrängt worden sind. Seitdem sind von maßgebender Stelle die staatstreuen Bürger wiederholt ernst­

lich gemahnt worden, im Kampfe gegen die Sozialdemokratie nicht zu ermatten, sondern ihn unentwegt kraftvoll weiterzuführen, damit der bei den letzten Wahlen erzielte Erfolg sich nicht als vorübergehend und trügerisch erweise. Zugleich ist gerade in letzter Zeit das von der

Staatsregierung begünstigte Bestreben hervorgetreten, die auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung stehenden vaterlandstreuen Arbeiter zu organisieren und die bereits bestehenden derartigen Organi­ sationen zu stützen und zu fördern. E>v. Durchlaucht werden die Gewogenheit haben zu erkennen, daß zu allen diesen Bestrebungen der von dem „Verein" der Buch­ drucker mit dem „Verbände" des jetzt bereits größten Teiles ihrer Arbeiter geschlossene Zwangsvertrag in direktem Widerspruch steht. Wir hosfen auch auf Ew. Durchlaucht geneigte Zustimmung, wenn wir es für eine ernste Pflicht der Reichs- und Staatsbehörden, der Kommunen und aller sonstigen an dieser Sache beteiligten Stellen erachten, diesen unerhörten Vorgang im Buchdruckgewerbe zurückzuweisen, zu be­ kämpfen, ganz besonders aber alles zu vermeiden, was geeignet sein könnte, ihn zu begünstigen und zu fördern.

Das ist hinsichtlich des reinen Tarifvertrages im Buchdruck­ gewerbe bisher sehr wirkungsvoll geschehen. Von verschiedenen Staats­ regierungen sind ihre untergeordneten Behörden angewiesen worden, Druckaufträgc nur an tariftreue Druckereien zu vergeben. Das geschah, weil die Tarifgemeinschaft als ein Friedenswerk, als der Ausfluß wohl­ wollender Fürsorge für die Arbeiter angesehen wurde.

Der neue Tarifvertrag enthält eine Erhöhung der Löhne im Durchschnitt um 10 pCt. Der „Verein" der Buchdrucker hat daraus Veranlassung

genommen,

den

Preis

für Drucksachen

um

10 pCt.

zu erhöhen. Der „Verein" hat sich, wie wir hören, an die Re­ gierungen, die Parlamente und an sonstige zuständige Amtsstellen mit

dem Ersuchen gewendet, arbeiten zu bewilligen.

den Aufschlag von 10 pCt. für BuchdruckerHierbei sollte nach unserem Erachten in Er­

wägung gezogen werden, daß der neue Tarifvertrag in orga­ nische untrennbare Verbindung gebracht worden ist mit dem neuen „Garantievertrag" und dessen den Koalitionszwang auf beiden Seiten bedingenden § 4.

Bezüglich des zehnprozentigen Lohn- und Preisaufschlages möchten wir uns gestatten zur geneigten Erwägung zu geben, daß, soweit wir unterrichtet sind, bei dem Abschluß des neuen Tarifvertrages die Ver-

239

tretet der allergrößten Betriebe im deutschen Buchdruckgewerbe den allein niaßgebenden Einfluß ausgeübt haben. Wir sind überzeugt, daß zahlreiche kleinere und kleinste Betriebe, besonders solche in den kleinen Städten und auf dem Lande, außer stände sein werden, sowohl die höheren Löhne zu zahlen, wie die erhöhten Preise sie bedingen. Wir meinen daher, daß dem Schlagworte „Schmutzkonkurrenz" als Be­ zeichnung für diejenigen Betriebe, die den Tarif nicht durchzuführen vermögen, nicht mehr die frühere Bedeutung wird beigelegt werden können. Daher, und mit dem ergebensten Hinweis auf alle vorstehenden das Verfahren des „Vereins" der Buchdrucker darstellenden Ausführnngen, gestatten wir uns an Ew. Durchlaucht die gehorsamste Bitte zu richten, geneigteft dahin wirten zu wollen, datz seitens der Reichs-

nnd Staatsbehörden und aller sonstigen amtlichen Stellen, auch der Kommnualbehörden, im Gegensatz zu dem bisher

eingehaltenen Verfahren, bei der Bergebung von Druck­ sachen eine Bevorzugung der Mitglieder des „Vereins"

der Buchdrucker in keiner Weise ferner staltfinden möge.

Zu dieser Bitte sind wir weiter durch den Unistand veranlaßt worden, daß eine Anzahl von Druckereien, von deren Inhabern die Unzuträglichkeiten des neuen Tarifs und ganz besonders des mit ihm verbundenen „Garantievertrages" erkannt worden sind, in neuerer Zeit einen „Arbeitgeberverband für das Buchdruckereigewerbe" begründet haben. Er unterscheidet sich von dem „Verein" der Deutschen Buchdrucker durchaus nicht durch geringere Fürsorge für das Wohl der Arbeiter, sondern wesentlich dadurch, daß er die Wege, die der „Verein" angeblich im Interesse des gewerblichen Friedens und zur Förderung des Wohles des Buchdruckgewerbes eingeschlagen hat, nicht mitgehen will. Auch der neue Arbeitgeberverband verfolgt die Losung: „Sorgt für das Wohl der Arbeiter." Aber er will unter keinen Umständen die Hand dazu bieten, der Gehilfenorganisation, dem „Verbände" der Deutschen Buchdrucker, mit dem Monopol und mit dem Koalitionszwang eine übermächtige Stellung zu verschaffen. Es ist uns auch bekannt, daß die größeren, diesem neuen Arbeitgeber­ verbande beigetretenen Druckereien bisher die sogenannte Tariftreue gewahrt haben und entschlossen sind, sie auch ferner soweit als tunlich zu betätigen.

240 Wir erblicken in der Bildung dieses Arbeitgeberverbandes

eine im Interesse des Staats und der Gesamtheit liegende Bewegung gegen das diese Interessen entschieden gefährdende, die Gewerkschaft und damit die Sozialdemokratie begünstigende Vorgehen des „Vereins der Deutschen Buchdrucker". Wir glauben daher es als eine Pflicht der Reichs-, und Staatsbehörden wie auch der Kommunal­ verwaltungen ansehen zu sollen, der günstigen Entwickelung dieses Arbeitgeberverbandes zum mindesten keine Hindernisse in den Weg zu legen, keine Schwierigkeiten zu bereiten,' das würde aber geschehen,

wenn die mehrgenannten Behörden und amtlichen Stellen fortfahren sollten, die Mitglieder des „Vereins" Deutscher Buchdrucker in der bisherigen Weise zu begünstigen. Wir sind entschlossen, den „Arbeit­ geberverband für das deutsche Buchdruckereigewerbe" mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu fördern.

241

IV. Die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Hetriebskrankenkassen. Unter dem

6. Juni 1907

war die nachstehende Einladung an

den Centralverband ergangen: „Nach den Erklärungen des Herrn Staatssekretärs des Innern, Grafen von Posadowsky, wird noch in diesem Jahre ein Gesetz­ entwurf, betreffend die Reform der Krankenversicherung, dem Reichs­ tage zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Ueber die Grundlagen der Aenderungen sind bis jetzt keinerlei amtliche Verlautbarungen er­

folgt.

Einflußreiche

Verbände und

die Theoretiker der Arbeiterver­

sicherung fordern, daß die bisherige berufliche Organisation der Kranken­ versicherung beseitigt, und daß große allgemeine Kassen für Bezirke oder Gemeinden zur Durchführung der Krankenversicherung errichtet werden. Vielfach wird auch verlangt, daß an die Spitze der Kassen Staatsbeamte treten sollen, womit gewissermaßen eine Verstaatlichung

der Verwaltung der Krankenversicherung eingeleitet werden würde. Ob und inwieweit neben einer solchen Organisation der Krankenversicherung Raum für Betriebskrankenkassen vorhanden sein würde, ist eine offene

Frage. Nach den Aeußerungen des Herrn Staatssekretärs muß an­ genommen werden, daß nur die ganz großen Betriebskrankenkassen bestehen bleiben sollen. Ueber die Beibehaltung der Selbstverwaltung

bei diesen Kassen hat sich der Herr Staatssekretär nicht ausgelassen.

Auf jeden Fall ist der Fortbestand der Betriebskrankenkassen in ihrer bisherigen Form sehr gefährdet. Nebenbei bemerkt, entspricht die Be­ seitigung der Betriebskrankenkassen auch einer Forderung der unter sozialdemokratischem Einfluß stehenden Ortskrankenkassen. Ferner ist nach den Erklärungen des Herrn Staatssekretärs und nach den vom Reichstage gefaßten Resolutionen in dem neuen Gesetz Heft 106.

242 auch die Regelung der Arzt- und Apothekerfrage zu erwarten. Ski der Arztfrage handelt es sich insbesondere darum, ob die von der Aerzteorganisation geforderte und von den Krankenkassen wegen ihrer schädlichen Einflüsse auf die Kassenverhältnisse einmütig abgelehnte unbeschränkte freie Arztwahl gesetzlich eingeführt werden soll.

Die Ortskrankenkassen haben schon vor längerer Zeit einen Zentralverband gebildet, der als ihr Vertretungsorgan von den Be­ hörden anerkannt wird und die öffentliche Meinung mit Erfolg zu beeinflussen sucht. Die Aerzte und Apotheker haben sich zu großen Verbänden zusammcngeschlossen und wirken durch diese systematisch auf die Oeffentlichkeit und die gesetzgebenden Körperschaften im Sinne ihrer Forderungen ein. Namentlich betreibt die Aerzteorganisation, die einen rein gewerkschaftlichen Charakter hat und mit den Mitteln der Gewerkschaften arbeitet, die Agitation im großen Stile. Es ist deshalb dringend erforderlich, daß sich auch die Betriebskrankenkassen zusammenschließcn, um ihre Auf­ fassungen und Wünsche bei der Reform der Krankenversicherung rechtzeitig und nachdrücklichst zur Geltung bringen zu können.

Der

Verband

rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen,

der

gegen 360 Krankenkassen mit nahezu 600000 Versicherten umfaßt und der den einzigen Zusammenschluß von Betriebskrankenkassen von mehr

als örtlicher Bedeutung darstellt, hat es sich bis jetzt angelegen sein lassen, auch die gemeinsamen Interessen der Betriebskrankenkassen nach jeder Richtung hin wahrzunehmen. Er hat dafür gesorgt, daß in der

öffentlichen Erörterung von Krankenkassenangelegenheiten auch der Standpunkt der Betriebskrankenkassen zu Worte kommt. In der Arzt­ frage hat der Verband eine ausführliche Denkschrift an den Reichstag

gerichtet.

Bei den bevorstehenden großen Aenderungen im Krankenkassenwesen werden die Stimmen der Betriebskrankenkassen eher Gehör finden, wenn sie vereinigt und einmütig vorgehen. Er erscheint daher ge­ boten, einen Verband deutscher Betriebskrankenkassen ins Leben zu rufen, der, unbeschadet des Fortbestehens der vorhandenen

örtlichen Vereinigungen, die gemeinsamen Wünsche und Bedürfnisse der deutschen Betriebskrankenkassen zum Ausdruck bringen kann.

Um die Gründung dieses Verbandes in die Wege zu leiten, ist beabsichtigt, zunächst Vertreter der größeren Werke in den ver­ schiedenen Teilen des Reiches zu einer Besprechung der Angelegenheit einzuladen. In dieser Versammlung würde ein Ausschuß zu wählen

243 sein,

der

die

vorbereitenden

Maßnahmen

für

die

beabsichtigte

Gründung trifft.

Indem wir hoffen, daß Sie mit unseren Bestrebungen einver­ standen und geneigt sind, sie zu unterstützen, bitten wir Sie ergebenst, an der

am 29. Juni 1907, vorm. 11 Uhr, in Eisenach Hotel „Der Rautenkranz" stattfindenden Besprechung teilzunehmen. Ihrer sehr gefälligen Rückäußerung, ob wir auf Ihr Erscheinen rechnen dürfen, sehen wir gerne entgegen." An dieser Versammlung, die sehr zahlreich besucht worden war, hat der Geschäftsführer des Centralverbandcs teilgenommen. Bon der Versammlung wurde einstimmig die Begründung eines Vereins zur Wahrung der Interessen der deutschen Betriebskranken­ kassen beschlossen. Eingeleitet wurden die Verhandlungen mit den nachstehenden Ausführungen des Vorsitzenden, Finanzrat Klüpfel von der Firma Fried. Krupp in Essen.

Meine Herren! Aus der Ihnen zugegangenen Einladung haben Sie im allgemeinen ersehen, welche Umstände den Verband rheinisch­ westfälischer Betriebskrankenkassen veranlaßt haben, die heutige Ver­ sammlung einzuberufen, die zu der angeregten Begründung eines Verbandes deutscher Betriebskrankenkassen Stellung nehmen soll.

Gestatten Sie, daß ich Ihnen die wesentlichen Gründe für unser Vor­ gehen noch einmal etwas eingehender vorführe und zunächst einen kurzen Rückblick auf die geschichtliche Entwickelung der Dinge werfe und

sie vom Standpunkte des Verbandes rheinisch-westfälischer Betriebs­ krankenkassen betrachte. Meine Herren! Die sozialpolitische Gesetzgebung wurde in Deutsch­ land bekanntlich durch die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 eingeleitet. Es folgte rasch nacheinander die Einführung der Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung der Arbeiter. Das Fundament dcr Arbeiterversicherung ist die Krankenversicherung. Mit Einführung

dcr auf gesetzlichem Zwang beruhenden Arbeiterversicherung hat Deutschland einen ganz neuen Weg betreten. An Vorgängen und Erfahrungen fehlte cs gänzlich. Es konnte daher auch nicht über­ raschen, daß sich gar bald die Abänderung und Ergänzung der Gesetze

in einzelnen Punkten als notwendig erwies. Nebenher traten schon frühzeitig Bestrebungen hervor, die auf eine umfaßende Aenderung der Grundlagen der Versicherungsgesetze hinzielten. Diese Bestrebungen faßt man

in dem Ausdruck „Reform der Arbeiterverficherung" zu-

244 sammen. Die Reform der Arbeiterversicherung wurde in den Vorder­ grund der sozialpolitischen Erörterungen gestellt, als der Reichstag am 30. April 1903 eine Resolution faßte, in der die verbündeten Regierungen ersucht wurden, in Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die drei Versicherungsarten zum Zwecke der Vereinfachung und Verbilligung der Arbeiterversicherung in eine organische Verbindung zu bringen und die bisherigen Arbeiterversicherungsgesetze in einein

einzigen Gesetze zu vereinigen seien. Die Reformbewegung erhielt aber erst Kraft und Ziel durch eine programmatische Erklärung der Reichsregierung in der Reichstagssitzung am 2. März 1905, in der

ausgeführt wurde, daß die jetzige Verfassung der Arbeiterversicherungsgesetze auf die Länge nicht so weiter bestehen könne und daß die drei Versicherungsarlen in eine einheitliche Form zusammengefaßt werden müßten. Der Begründung der Regierungserklärung, daß Unfall, Krankheit und Invalidität drei physiologische Zustände seien, die mit­ einander in ihren Ursachen und Wirkungen eng Zusammenhängen, kann nicht ganz zugestimmt werden. Auch sind wir nicht der Meinung der Regierung, daß der jetzige Aufbau der Arbeiterversicherung lediglich ein Erzeugnis chronologischer Entwicklung sei und daß man unter anderen Verhältnissen sofort eine einheitliche Organisation geschaffen haben würde. Wir sind vielmehr der Ansicht, daß Krankheit, Unfall und Invalidität ganz verschiedene Gefahrenbereiche darstellen und daß

daher auch die Dreiteilung der Arbeiterversicherung bewußt und aus sachlichen Gründen erfolgt ist. Diese vorerwähnte Regierungserklärung ist der Ausgangspunkt

zahlreicher Reformoorschläge geworden. Juristen, Nationalökonomen, Verwaltungsbeamte, Angestellte der Versicherungs - Organisationen, Vertreter von Ortskrankenkassen, Schiedsgerichtsvorsitzende, Mitglieder des Reichsoersicherungsamtes, Politiker, Männer der Presse, Fach­

gelehrte, Aerzte, auch Geistliche und Männer anderer Gruppen haben Reformprogramme aufgestellt. Der weitaus größere Teil dieser Herren

hat sich die Angelegenheit sehr einfach gemacht; die Vorschläge stammen

auch zum Teil aus Kreisen, die zu Reformoorschlägen überhaupt nicht berufen sind. Die Vorschläge gehen so weit auseinander, daß sie völlig unvereinbar miteinander sind.

Grundsätzlich wird jedoch meist gefordert:

1. Ausdehnung der Versicherung auf weitere Volkskreise;

2. Erhöhung und Ausdehnung der Leistungen; 3. Schaffung eines gemeinsamen Unterbaues für die verschiedenen Versicherungszweige unter Zusammenlegung der Krankenkassen zu großen allgemeinen Versicherungskassen; 4. Vereinfachung der Rechtsmittelverfahren.

245

Gegen eine

Ausdehnung

der Krankenversicherung auf alle der

Juvalidenversicherungspflicht unterliegenden Personen ist gewiß nichts

einzuwenden. Auch der Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Familienangehörigen der gegen Krankheit versicherten Personen kann zugestimmt werden. Das letztere würde im wesentlichen ja auch nur die gesetzliche Festlegung eines bei sehr vielen Betriebskrankenkassen bestehenden Zustandes sein. Dagegen muß eS als eine Ueberspannung

des Vcrsicherungsprinzips angesehen werden, wenn gefordert wird, daß die Versicherung auf alle möglichen Volksschichten und Fährnisse,

die durch eine Sozialversicherung erfaßt werden können, ausgedehnt wird. Es darf das Selbstverantwortlichkeitsgefühl nicht verloren gehen und es muß das Bewußtsein erhalten bleiben, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Selbstvertrauen, Energie, Initiative müßten bedenklich leiden, wenn in dem verlangten weiten Umfange allgemeine Staatsversicherungen für das Wohl und Wehe des Einzelnen sorgen würden. Was die Schaffung eines gemeinsamen Unterbaues für die Arbeiterversicherung anbetrifft, so hatte die Reichsregierung die Ansicht vertreten, daß die Entwicklung dahingehen müsse, einen Unterbau unter berufsmäßiger Leitung zu schaffen, der die sozialpolitische Gesetzgebung innerhalb beschränkter Verwaltungsbezirke in erster Instanz auszusühren habe. Von diesem Gedanken, der Vereinheitlichung der Versicherungs­ zweige in der ersten Instanz, im Unterbau, sind die Reformer aus­ gegangen. Hierdurch sind sie zu Vorschlägen gekommen, die bei den bestehenden Vcrsicherungsträgern wenig Anklang gesunden haben. Die Dersicherungsträger sind nicht gewillt, die Selbstverwaltung zu Gunsten eines gemeinsamen Unterbaues aufzugeben. Gegen die Uebertragung der Rentenfestsetzung für die Unfall- und Invaliden­ versicherung an untere Verwaltungsorgane sprechen große Bedenken. Die größten Bedenken sind aber zu erheben gegen eine Verschmelzung der verschiedenen

Versicherungsarien und gegen die Errichtung einer Es wäre

Gefahrengemeinschaft für 2 oder alle 3 Versicherungszweige.

geradezu eine Gefahr für den Fortbestand der Sozialversicherung, die für die Invaliden und Unfallversicherung angesammelten Kapitalien für die Zwecke der Krankenversicherung dienstbar zu machen. Die Errichtung eines gemeinsamen Unterbaues und die Zusammenlegung

der Krankenkassen zu großen Bezirkskassen würde auch die Beseitigung

der Betriebskrankenkassen zur Folge haben, wie dies folgerichtig von der Mehrzahl der Reformer auch gefordert worden ist. Auf die Not­ wendigkeit der Erhaltung der Betriebskrankenkassen komme ich noch zurück und bemerke hier nur, daß die Dezentralisation bei der Kranken-

246 Versicherung nicht entbehrt werden kann, weil diese in unmittelbarer Verbindung mit den Versicherten bleiben muß. Gegen eine Vereinfachung des Rechtsmittelverfahrens endlich bei der Krankenversicherung ist nichts einzuwenden. Ebenso ist im Prinzip allen Abänderungen der Versicherungsgesetze zuzustimmen, die

geeignet sind,

die sogenannten Grenzstreitigkeiten bei den einzelnen

Versicherungszweigen und die Streitigkeiten der einzelnen Versicherungs­ träger untereinander über Ersatzleistungen und dergl. zu beseitigen.

Eine befremdende Unterlassung haftet allen Vorschlägen, die eine Ausdehnung der Versicherungsleistungen verlangen, an, daß die Frage

der Aufbringung der Mittel so gut wie garnicht behandelt wird. Eine Reihe von Reformvorschlägen unterläßt es überhaupt, Angaben über die mutmaßliche Höhe der Beiträge zu machen, die erforderlich sind, um auch die erhöhten Leistungen zu decken. Es findet sich sogar der naive Hinweis in den Reformoorschlägen, daß es Sache der Bersicherungstechniker sei, die erforderliche Beitragshöhe zu berechnen, als ob das nur eine technische Nebensache wäre. Es muß mit einer gewissen Sorge erfüllen, daß die weitgehendsten Mehrleistungen ge­ fordert werden, ohne daß überhaupt die Frage aufgeworfen wird, ob die erforderlichen Mittel aufgebracht werden können. Schließlich gibt es doch eine gewisse Grenze für die Auferlegung von Lasten, die, wenn sie überschritten wird, der gesamten Volkswirtschaft zum Schaden gereicht. Um nur einige der geforderten Mehrleistungen zu erwähnen, kei bemerkt, daß gefordert wird:

Erhöhung des Krankengeldes bis zu 3/i des versicherten Lohnes; Wegfall der Karenztage für den Krankengeldbezug; allgemeine Zahlung des Krankengeldes für Sonn- und Festtage; Schonungsgeld; Ausdehnung der Fürsorgefrist bis zur Wiederherstellung oder Invalidität des Erkrankten; Mutterschaftsoersicherung; Stillprämien;

Gewährung von Halbinvalidenrenten; Erhöhung der Unfallrenten; Gleichstellung der Invalidenrente mit der Unfall-Vollrente usw. Es macht beinahe den Eindruck, als ob jeder Reformer seinen Reform­ vorschlägen eine Empfehlung in Gestalt von Mehrleistungen mit auf den Weg hätte geben wollen. Die breite Oeffentlichkeit und die Kreise des Parlaments, die der Durchführung der Arbeiteroersicherung fernstehen, sind durch diese

Vorschläge dazu gekommen, von der beabsichtigten Reform der Arbeiter-

247 Versicherung eine vollständige Umwälzung der bestehenden Einrichtungen zu erwarten. In den Kreisen, die der praktischen Durchführung der Arbeiterversicherung näher stehen, sind schon von vornherein gegen die Vereinheitlichung der 3 Versicherungszweige Bedenken geltend gemacht worden. Auch einige wirtschaftliche Verbände haben sich schon in Resolutionen gegen die Vereinheitlichung ausgesprochen und zum

Ausdruck gebracht, daß die Mängel der jetzigen Organisation über­ trieben würden und daß eine Reform nur in einer Annäherung und Vereinfachung der Verwaltung der 3 Zweige bestehen könne. Der­ artige Resolutionen haben gefaßt: der Mittelrheinische Fabrikanten­ verein, der Verband Deutscher Eisen- und Stahlberufsgenossenschaften, der Deutsche Haftpflicht- und Versicherungsschiitzverband und neuer­ dings nach einem Vortrage des Herrn Professor Stier-Somlo, der früher auch den Vereinheitlichungsgedanken vertrat, der Verein für die gesamte Versicherungswissenschaft. Daß nun auch die Reichs­ regierung die Verschmelzung in absehbarer Zeit nicht für durchführbar ansieht, davon geben die Reden vom Regierungstisch in verschiedenen Reichstagssitzungen Mitte April d. Js. Zeugnis. Dadurch ist die große Reform augenblicklich etwas in den Hintergrund getreten. Aber eine andere Sache ist akut. Meine Herren! Nach den Erklärungen der Regierung wird noch in diesem Jahre die Reform der Krankenversicherung den Reichstag beschäftigen. Ueber die Grundlagen der Aenderungen verlautet bis jetzt nichts. Wie schon erwähnt, wird vielfach gefordert, daß die bis­ herige Organisation der Krankenversicherung beseitigt, und daß zur

Durchführung der Krankenversicherung große allgemeine Kassen für Bezirke oder Gemeinden errichtet werden. Vielfach wird auch verlangt, daß an die Spitze der Kassen Staatsbeamte treten sollen, womit gewissermaßen eine Verstaatlichung der Verwaltung der Kranken­ versicherung eingeleitet werden würde. Ob die Betriebskrankenkassen in dem Entwürfe in dem jetzigen Umfange erhalten bleiben, erscheint fraglich. Jedenfalls ist ihr Fortbestand in der jetzigen Form nicht gesichert.

Es

ist deshalb

dringend

erforderlich,

daß sich

die Betriebs­

krankenkassen zusammenschließen, um ihre Auffassungen und Wünsche bei der Reform der Krankenversicherung rechtzeitig und nachdrücklichst zur Geltung zu bringen. Wenn die Reformer die Beseitigung der Betriebskrankenkassen fordern, so ist dies meist eine Folge des Zusammenlegungsgedanken. Anders ist die Gegnerschaft der Ortskrankenkassen gegen die Betriebs­

krankenkassen zu beurteilen.

Diese Gegnerschaft ist eine grundsätzliche

248 und auf politische Gründe zurückzuführen. Bei den Ortskrankenkassen herrscht die Auffassung vor, das; sie die alleinberechtigten Kassengebilde seien.

Diese Auffassung ist aber durchaus unzutreffend.

Als Träger der Krankenversicherung kommen 7 verschiedene Arten von Krankenkassen in Betracht. Im Jahre 1905 waren im deutschen

Reiche rund 23 000 Krankenkassen vorhanden. Davon entfielen über 8000 auf die Gemeindekrankenversicherung, ungefähr 4700 auf die Ortskrankenkassen, 7600 auf die Betriebs-, auf die Fabrikkrankenkassen. Der Rest, etwa 2700 Kassen, entfiel auf Hilfs-, Jnnungs-, Knapp­ schafts- und Baukrankenkassen. Von den im Jahre 1905 versicherten 11 Vs Millionen Personen kamen gegen 1V, Millionen auf die Gemeindekrankenvcrsicherung, ungefähr 5 350 000 auf die Ortskrankenkassen, annähernd 2 700 000 auf die Bctriebskrankenkassen. Auf die Hilfs-, Jnnungs-, Knappschafts- und Baukrankenkassen entfielen rund zwei Millionen Personen. Nach der Organisation der Krankenversicherung sind die Orts­ krankenkassen und die Betricbskrankenkassen die eigentlichen Träger der Krankenversicherung. Diese beiden Kassenarten umfassen über 8 Millionen der Versicherten. Die Gemcindekrankenversicherung kommt nur subsidär in Betracht. Der bedeutende Umfang, den die Gemeinde­ krankenversicherung noch hat, ist zum großen Teil aus dem Fort­ bestehen der schon vor den« Krankenversicherungsgesetz bestehenden landesrechtlichen ' Gemeindeversicherungen zu erklären. Die übrigen Kassenarten (Hilfs-, Jnnungs-, Knappschafts- und Baukrankenkassen) sind Sonderorganisationen, die schon vor dem Krankenversicherungs­ gesetz bestanden und die der Gesetzgeber hat erhalten wollen; sie sind von geringerer Bedeutung. Die Betriebskrankenkassen haben sich als Träger der Kranken­ versicherung wohl bewährt. Es haben sich keinerlei Mißstände gezeigt, die

eingreifende Aenderungen in ihrer Verfassung rechtfertigten.

Es

liegt überhaupt keine Veranlassung vor, das in das jetzige Kranken­ versicherungsgesetz aufgcnommene Prinzip — örtlich organisierte Kassen von Berufsgenossen — zu verlassen, soweit nicht die Leistungsfähigkeit durch eine zu große Zersplitterung in Frage gestellt wird. Gerade die

Betriebskrankenkassen haben sich als besonders leistungsfähig Viele kleine Betriebskrankenkassen leisten mehr als große

erwiesen.

Ortskrankenkassen. Einige statistische Belege für die Leistungen der Betriebskrankenkassen möchte ich hier anfügen.

Bei den Betriebskrankenkassen gewährten nach der Reichsstatistik 1904 1,3 pCt. die Krankenunterstützung bis 39 Wochen, 4,6 pCt. bis 52 Wochen;

bei

den

Ortskrankenkassen

0,9 pCt.

bis

39 Wochen,

249 Ein Krankengeld von 50—66-/., pCt. des

1,3 pCt. bis 52 Wochen. Lohnes

14,3 pCt.

gaben

Betriebskrankenkassen,

2,7 pCt.

Betriebskrankenkassen,

der

12,4 pCt.

der

ein Krankengeld von 66% — 75 pCt. des Lohnes

Ortskrankenkassen;

3,8 pCt.

der

der Ortskrankenkassen.

Zahlenmäßig kann leider nicht nachgcwiesen werden, wieviel Betriebs­ und wieviel Ortskrankenkassen die besonders wichtige Mehrleistung der

Sicherlich fällt dieses Verhältnis auch zu Gunsten

Bctriebskrankenkassen aus.

der

westfälischer

In der Reichsstatistik fehlen

eingcführt haben.

Familienversicherung

Angaben hierüber.

den dem

Von

Betriebskrankenkassen

rheinisch­

Verbände

angeschlossenen

Kassen

gewähren

mehr als % den Angehörigen der Versicherten freie ärztliche Behandlung, teilweise

auch

freie

Mit

Arznei.

Ausnahmen

wenigen

besteht

die

Familicnversicherung bei den größeren Werken des rheinisch-westfälischen

Die Ausgaben für ärztliche Behandlung und Arzneien

Jndustriercvicrs.

bei

sind

Betriebskrankenkassen

den

durchschnittlich

höher.

Das

ist

darauf zurückzusühren, daß die Fürsorge bei den Betriebskrankenkassen

eine

intensivere

so entfiel auf einen Krankengeldtag an Ausgabe

ist,

Behandlung bei den Betriebskrankenkassen 71 Pfg.,

für

ärztliche

den

Ortskrankenkassen

Betricbskrankenkassen

Das

51 Pfg.,

48 Pfg.,

Ausgabe

bei

den

für

bei

Arzneien bei den

Ortskrankenkassen

36 Pfg.

einen Krankheitstag betrug durchschnittlich bei

für

Krankengeld

an

den Betriebskrankenkassen 1,37 M., beim Verband rheinisch-westfälischer

Bctriebskrankenkassen 1,78 M., bei den Ortskrankenkassen nur 1,07 M. die

Auf

Verwaltungskosten

durchschnittlich 8,6 pCt.

0,9 pCt.

Wenn

Leistungen

ihren

die

der

entfielen

bei

Ausgaben,

Betriebskrankenkassen

überragen,

so

könnte

den bei

die

Bctriebskrankenkassen

den

Ortskrankenkassen

Ortskrankenkassen

man erwarten,

daß bei den

Betriebskrankenkassen die Beiträge entsprechend höher wären.

aber festgestellt werden,

hat

daß dies nicht der Fall ist.

an Unterstützungen niehr empfangen,

anteil

bezahlt hat,

Ortskrankenkassen

bei

Trotz

Es kann

Ein Versicherter

als er selbst als Beitrags­

den Betriebskrankcnkassen 8,49 M.,

4,75 M.

in

bei den

der größeren Leistungen und trotz

der geringeren Beiträge stehen die Betriebskrankenkassen finanziell weit besser als die Ortskrankenkassen.

Auf den Kopf des Mitgliedes kamen

von dem Reservefonds bei den Betriebskrankenkassen 27,96 M., beim Verbände rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen sogar 41,85 M.,

bei

den

Ortskrankenkassen

dagegen

nur

14,21 M.

Bei den Orts­

krankenkassen fehlten insgesamt 16,4 pCt. an dem gesetzlichen Reserve­

fonds, bei den Betriebskrankenkassen ist ein Ueberschuß von 29,6 pCt. fcstgestellt,

beim

von 50 pCt.

Verband

rheinisch-westfälischer

Betriebskrankenkassen

250 Wenn bei den Betriebskrankenkassen die Leistungen höher sind»

als bei den Ortskrankenkassen, obwohl jene geringere Beiträge erhebenr als die Ortskrankenkassen, so liegt das daran, daß bei den Betriebs­ krankenkassen vorsichtiger gewirtschaftet wird, daß bei diesen Kassen die:

leichter zu verhüten und zu bekämpfen ist, daß der: Betriebsunternehmer die Verwaltungskosten zu tragen hat und nicht zuletzt daran, daß die Betriebsunternehmer ihren Werkkassem mancherlei Zuschüsse geben, sei es in bar oder dadurch, daß sie Ein­ richtungen schaffen und unentgeltlich den Krankenkassen zur Verfügung Simulation

stellen. Gegen die Betriebskrankenkassen wird von Theoretikern der Krankenversicherung und insbesondere von den unter sozialdemo­

kratischem Einfluß stehenden Ortskrankenkassen eine Reihe von Vorwürfen erhoben, die nicht unwidersprochen bleiben sollen. ES wird eingewendet, daß die Betriebskrankenkassen zwar recht­ lich genau dasselbe Selbstoerwaltungsrecht hätten wie die Orts­ krankenkassen, daß in der Praxis die Sache aber anders liege und nicht der Wille der Versicherten, sondern der Wille der Betriebsherren herrsche. Allerdings führt in den meisten Fällen bei den Betriebs­ krankenkassen der Unternehmer oder einer seiner Vertreter den Vorsitz. Diese Tatsache hat jedoch den Kassen noch niemals zum Nachteil gereicht. Ein Institut wie eine Krankenkasse muß geleitet werden von Männern, die sich im wirtschaftlichen Leben betätigt haben und in Geld- und Verwaltungsgeschäflen Sachkenntnis besitzen. Derartige Eigenschaften kann man beim Arbeitgeber eher voraus setzen als beim Arbeiter. Die Arbeiter, die stets mit geringen Geldbeträgen zu rechnen haben, sind auch leicht geneigt, die Verhältnisse allzu optimistisch zu

betrachten. Daß die Versicherten bei den Betriebskrankenkassen keinen Einfluß auf die Anstellung des Kassenrendanten und des sonstigen Geschäftspersonals, sowie auf die Rechnungs- und Kassenführung haben, ist kein Nachteil für die Geschäftsführung, zumal diese von

der Aufsichtsbehörde kontrolliert wird. Gegen die Geschäftsführung sind Vorwürfe noch nie erhoben worden, jedenfalls haben sich Unregelmäßigkeiten, wie sie häufiger bei Ortskrankenkassen vorgekommen sind, nicht gezeigt. Allerdings möchten gewisse Herren einen Einfluß auf die Besetzung dieser Stellen haben, nicht etwa aus sachlichen,

sondern aus politischen Gründen, die dahin zielen, die Herrschaft auch in den Betriebskrankenkassen zu erobern. Die Arbeitervertreter im Vorstande und in der Generalversammlung bringen ebenso unbehindert

und entschieden ihre Meinung zum Ausdruck wie in den Vertretungen der Ortskrankenkassen, wegen einer sachlichen Tätigkeit im Kassen-

251 Vorstände oder in der Generalversammlung ist auch noch kein Arbeiter entlassen worden. Ferner wird den Betriebsunternehmern zum Vorwurf gemacht, daß sie die Leute nur nach ärztlicher Untersuchung einstellten, um ihre Kasse zu entlasten. Dies gereiche den Ortskrankenkassen, welchen

die schlechteren Risiken zufielen,

zum Nachteil.

Dieser Borwurf muß

entschieden zurückgewiesen werden. Bei den Betrieben, die diese Untersuchungen eingeführt haben, handelt es sich um Industriezweige mit körperlich anstrengender Arbeit, die nur gesunden und körperlich

kräftigen Leuten zugemutet werden darf. Es liegt geradezu im In­ teresse der Arbeiter, daß sie nicht zu einer Beschäftigung zugelassen werden, der sie nicht gewachsen sind. Im übrigen haben diese Untersuchungen auf den industriellen Werken schon bestanden, ehe das Krankenversicherungsgesetz eingeführt wurde. Wenn ferner behauptet wird, daß Betriebe mit eigenen Kranken­ kassen kranke Leute einfach abschieben, um die Krankenkasse zu entlasten, so widerspricht diese Behauptung den Tatsachen. Einmal ist dem kranken Arbeiter die Fürsorge gesetzlich sichergestellt und kann ihm

durch keine Entlassung genommen werden. Andererseits nimmt der Betriebsunternehmer ein persönliches Interesse an seinen Arbeitern. Die Ortskrankenkassen können einem kranken Arbeiter nicht mehr gewähren, als Gesetz und Statut vorschreibt. Bei den Betriebs­ krankenkassen greift vielfach der Unternehmer in besonders schwierigen Fällen ein. Viele Werke besitzen neben den wohl aus gestalteten Krankenkassen noch andere Unterstützungseinrichtungen, die zu den Leistungen der Krankenkassen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse

des Einzelfalles Zuschüsse gewähren. Es kann hiernach festgestellt werden, daß die sogenannten „Mängel der Betriebskrankenkassen" nur in der Phantasie der grund­ sätzlichen Gegner dieser Kassenart und der Theoretiker existieren, die vom grünen Tisch aus die Krankenkassenverhältnisse beurteilen, mit denen sie in der Praxis nicht in Berührung kommen. Daß die Be­ triebskrankenkassen erheblich mehr leisten als die Ortskrankenkassen und

die

anderen

Kassenarten,

ist vorher schon dargelegt worden.

Der

Fortbestand der Betriebskrankenkassen liegt deshalb gerade im Interesse

der Versicherten.

Es ist auch daran erinnert, daß u. U. die Betriebs­

unternehmer Zuschüsse aus eigenen Mitteln zu leisten haben, um die Leistungsfähigkeit der Kasse zu sichern. Zudem sind die Betriebs-

unternehmer nicht nur berechtigt, sondern u. U. verpflichtet, Betriebs­ krankenkassen zu errichten, z. B. wenn Betriebe in Frage kommen, die ein großes Risiko für die Krankenversicherung bedeuten. Es muß

252

auch betont werden, daß auf vielen industriellen Werken schon lange vor dem Krankenversicherungsgesetz Krankenkasseneinrichtungen bestanden haben, die vorbildlich für die Organisation und Einrichtung der Krankenversicherung gewesen sind. In diesem Zusammenhang darf vielleicht erwähnt werden, daß auf der Gußstahlfabrik in Essen schon vor 1840 eine Krankenkasse bestanden hat. So kann man mit Recht

sagen, daß die Betriebskrankenkassen mit den Werken eng verwachsen sind. Diese überkommenen, langbewährten Einrichtungen zu Gunsten eines Experiments von zweifelhaftem Werte zu ändern, liegt auch nicht der geringste Grund vor. Für den Fortbestand der Betriebskrankenkassen kommt endlich auch ein sozialer Gesichtspunkt in Betracht, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Durch das Zusammenarbeiten in den Be­ triebskrankenkassen treten sich Unternehmer und Arbeiter rein menschlich näher. Hier kommen Unternehmer und Arbeiter auf neutralem Boden zusammen, um in gemeinsamer Arbeit die großen Aufgaben der Krankenversicherung zum Besten der Versicherten zu lösen. Durch das Zusammenarbeiten lernen sich beide schätzen. In der Tat arbeiten in den Vorständen der Belriebskrankenkassen Arbeitgeber und Arbeiter im besten Einvernehmen miteinander. Wenn die Betriebskrankenkassen sich zusammenschließen müssen, um bei etwaigen Aenderungen der Krankenkassenorganisation ihren

Fortbestand zu wahren, so ist der Zusammenschluß auch noch aus anderen Gründen geboten. So ist in dem neuen Krankenversicherungs­ gesetze die Regelung der Arzt- und Apothekerfrage zu erwarten. Die

Betriebskrankenkassen

sind

der Ansicht,

daß

den Aerzten

eine der Bedeutung der ärztlichen Aufgaben in der Arbeiterversicherung entsprechende würdige Stellung eingeräumt und eine angemessene

Bezahlung der ärztlichen Leistungen zu gewähren ist. Sie lehnen aber die von dem Aerztevereinsbund ausgestellten Forderungen ab, weil diese unvereinbar mit den Interessen der Krankenkassen sind. Die Aerzte verlangen von den Krankenkassen folgendes: 1. Zwangsweise Einführung der freien Arztwahl im Sinne der Aerzteorganisation, d. h. Zulassung sämtlicher organisierten Aerzte zur Kassenpraxis ohne Auswahl seitens der Kranken­

kassen; 2. Bezahlung der ärztlichen Leistungen nach den Mindestsätzen

der Gebührenordnung,

also Abschaffung der in der Kassen­

praxis bewährten Pauschalvergütung; 3. Abschluß der Arztverträge durch Vertragskommissionen ohne

Mitwirkung der einzelnen Aerzte.

253 daß

Die deutschen Krankenkassen sind übereinstimmend der Ansicht, die Erfüllung dieser Forderungen nicht nur die Verwaltung der

Krankenkassen in der Hauptsache in die Hände der ärztlichen In­ teressenten legen hieße, sondern auch die Kassen finanziell ruinieren

würde. An einen weiteren Ausbau der Krankenversicherung wäre bei der Verwirklichung solcher Forderungen gar nicht zu denken. Der Verband rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen hat in seiner im November 1905 dem Reichstage überreichten Denkschrift, betreffend das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Aerzten, die Unerfüllbarkeit der ärztlichen Forderungen nachgewiesen. Gegen die zwangsweise Einführung der freien Arztwahl wird

folgendes eingewendet: a) Die freie Arztwahl in der angestrebten Form steht im Widerspruch mit der Selbstverwaltung und der Vertrags­ freiheit der Krankenkassen, indem sie ihnen die Regelung der ärztlichen Versorgung ihrer Mitglieder aus der Hand nimmt und sie den Aerztevereinigungen überträgt, deren Interessen sich mit denjenigen der Kassen nicht decken; b) sie zwingt den Kassen unbesehen jeden im Kaffenbezirk wohnenden Arzt auf, bringt unerfahrene junge Aerzte in Vertrauensstellungen und befaßt diese mit Gutachtertätigkeit in Rentcnsachen und dergleichen;

c) sie lockert die persönlichen Beziehungen zwischen der Kaffen­ verwaltung und den Aerzten, die infolgedessen weniger Anteil an dem Wohle der Kasse nehmen, und sie bringt auf der anderen Seite die Gefahr mit sich, daß die Aerzte in Ab­ hängigkeit von den einzelnen Kassenmitgliedern geraten; d) sie trägt zur Erhöhung der Arzt- und Arzneikosten und zur Förderung des Simulantentums bei, weil sie die Mitglieder veranlaßt, diejenigen Aerzte zu bevorzugen, welche im Ver­ schreiben von Arzneien und in der Ausstellung von Krankheits­ bescheinigungen am weitesten gehen;

e) sie erschwert die Kontrolle der Kranken, die bald diesen, bald jenen Arzt in Anspruch nehmen, wenn sie die Kasse ausnutzen wollen; f) sie fördert in unerwünschtem Maße das ärztliche Spezialistentum, weil sie die Inanspruchnahme der Spezialisten unbeschränkt

zuläßt und lediglich in das Ermessen der Erkrankten stellt; g) sie würde im rheinisch-westfälischen Jndustriebezirk den Zuzug zahlreicher polnischer Aerzte zur Folge haben, die dem

Polentum in diesem Gebiete Stütze und Führer sein würden.

254

Eine

bedeutende

Steigerung

der hauptsächlichsten Ausgaben:

Arzneikosten, Krankengelder — ist die allgemeine Begleiterscheinung der freien Arztwahl. Ihre Ursachen liegen in dem Wesen des Systems begründet, das den Einfluß des die Interessen der Gesamtheit der Versicherten vertretenden Kassenvorstandes auf die Kassenleistungen bis zur Bedeutungslosigkeit herabdrückt und die Be­

— Arzthonorare,

stimmung darüber unverantwortlichen Personen überträgt. Wenn in einigen Städten die Folgen der freien Arztwahl nicht so zutage getreten sind, so ist dies auf das starke Einwirken der Aerzteorganisation zurückzuführen, welche, solange die freie Arztwahl vereinzelt besteht, die allergrößten Anstrengungen macht, um die Schäden dieses Systems nicht so stark hervortreten zu lassen. Diese einzelnen Paradeplätze sind jedoch keine Beweise für die allgemeine Durchführbarkeit und Zweckmäßigkeit der freien Arztwahl. Zu der Bezahlung der ärztlichen Leistungen nach den Mindestsätzen der ärztlichen Gebührenordnung sind die Krankenkassen außer stände.

Die Kassenärzte stehen in einem dauernden und durch den öffentlichrechtlichen Charakter der Krankenkassen gesicherten Vertragsverhältnis, welches die Forderung der Bezahlung nach Einzelleistungen und nach den Mindestsätzen der ärztlichen Gebührenordnung als unbillig und undurchführbar erscheinen läßt. Einerseits kommen in der Kassenpraxis eine Reihe von einfachen Leistungen des Arztes vor, die sich in der Privatpraxis erübrigen, wie Krankheitsbescheinigungen, Auskünfte und dergleichen. Andererseits ist der Versicherte schon wegen Erlangung der Arzneimittel bei jeder Unpäßlichkeit darauf angewiesen, den Arzt in Anspruch zu nehmen. Wer sich den rechtzeitigen Genuß des Krankengeldes sichern will, wird auch sonst in allen leichten Erkrankungs­ formen zum Arzte gehen. Dxr erfahrene und gewandte Kassenarzt dürfte im stände sein, in einer Stunde 20—30 solcher Fälle bequem zu erledigen, und es würde finanziell unabsehbare Folgen für die Krankenkassen haben, wenn der Arzt in jedem dieser unbedeutenden Fälle den Mindestsatz der Gebührenordnung fordern könnte. Die

Krankenkassen haben keinen Einfluß auf die ärztlichen Leistungen, diese stehen vielmehr völlig im Ermessen der Aerzte. Auch läßt die

ärztliche Gebührenordnung einen weiten Spielraum und gestattet eine für den Laien so gut wie unkontrollierbare Anwendung. Dagegen bietet in der Privatpraxis wenigstens die Konkurrenz und das ent­ gegenstehende Interesse des Patienten, der unerbetene Leistungen ablehnt, einen gewissen Schutz gegen zu hohe Arztrechnungen. Die Kranken­ kassen können sich auf Grund der ihnen obliegenden Verantwortlichkeit ihres Einflußes auf die Ausgaben nicht begeben. Es ist daher eine

255 Begrenzung der ärztlichen Ausgaben in der Form der Pauschalierung oder der Ouotisierung geboten, wenn diese Ausgaben nicht ins Un­ gemessene steigen sollen. Die heute übliche Pauschalbezahlung — im

Gebiete

des

Verbandes

rheinisch-westfälischer

Betriebskrankenkassen

überwiegend 4 M. auf den Kopf und Jahr ohne Familienbehandlung und 12 M. auf den Kopf und Jahr mit Familienbehandlung — sichert

einerseits den Aerzten eine Bezahlung ihrer Leistungen, die an die Mindestsätze der Gebührenordnung heranreicht und schützt andererseits

die Kassen vor übermäßigen Arzthonoraren. Endlich spricht gegen den Abschluß der Arztverträge mit den Vertragskommissionen ohne Mitwirkung der einzelnen Aerzte folgendes: Das Dienstverhältnis des Kassenarztes ist nach den Grundsätzen zu beurteilen, die für Leistungen höherer Art gelten, deren Ausübung an eine bestimmte Berechtigung geknüpft ist. Insoweit solche Leistungen fortlaufend zum Nutzen der Allgemeinheit von den Trägern öffentlichrechtlicher Verpflichtungen in Anspruch genommen werden, steht regel­ mäßig der Dienstverpflichtete zu dem Dienstberechtigten in dem Verhältnis

eines Beamten. Auch der Kassenarzt steht als solcher, wenn nicht formell rechtlich, so doch tatsächlich in einem Dienstverhältnis, welches demjenigen eines Beamten zu vergleichen ist. Die Regelung solcher Verhältnisse durch Kollektivverträge widerspricht nicht nur dem Her­ kommen, sondern auch dem Interesse der Allgemeinheit. Sollen die Krankenkassen ihren gemeinnützigen Verpflichtungen in vollem Umfange gerecht werden, so müssen sie in ständiger Fühlung mit den Kassen­ ärzten bleiben. Die Kassenärzte dürfen darüber nicht im Unklaren bleiben, daß sie in erster Linie den Krankenkassen verpflichtet sind. Dieses Verhältnis kommt nur durch den Abschluß von förmlichen Einzelverträgen klar zum Bewußtsein.

Die Krankenkassen befinden sich nun aber den koalierten Aerzten gegenüber insofern in recht bedenklicher Lage, als sie gesetzlich ver­ pflichtet sind, ihren Mitgliedern ärztliche Hilfe in natura zu gewähren und daher die ärztliche Tätigkeit nicht entbehren können. Die Aerzte hingegen sind in keiner Weise verpflichtet, ihre Hilfe den Kranken­

kassen zur Verfügung zu

behandeln.

stellen und die

Die Aerzte kennen

erkrankten Mitglieder zu

diese Zwangslage der Kassen wohl

und nutzen sie nach Kräften aus. Wenn sich die Krankenkassen den Ansprüchen der Aerzte nicht fügen, so streiken diese und die Folge

davon ist,

daß

den

Aufsichtsbehörden nichts anderes übrig bleibt,

als die Krankenkassen zu zwingen, die ärztlichen Forderungen zu erfüllen. Die Krankenkassen müssen daher fordern, daß sie von der Leistung der ärztlichen Hilfe in natura befreit werden, wenn sie solche

256 nicht erlangen können sichergestellt wird.

oder

daß

ihnen

die

ärztliche Hilfe gesetzlich

Vergrößert wird diese mißliche Lage der Krankenkassen noch durch die Machtmittel der Aerzleorganisation. Den Aerzten

organisation gegeben.

ist durch die Gesetzgebung zunächst eine Standes­ Für jede Provinz ist eine Aerztekammer errichtet,

deren Geschäftskreis u. a. die Wahrnehmung und Vertretung der ärztlichen Standesinteressen umfaßt. Sämtliche Aerztekammern haben wieder eine Vertretung in dem Aerztekammer-Ausschuß. Die Mitglieder

der Aerztekammern und des Ausschusses werden gewählt. Zur Vorbereitung dieser Wahlen und zur Verfolgung der örtlichen Standesangelegenheiten bestehen überall Aerztevereine, die als freie Vereinigungen nicht in den Rahmen der gesetzlichen Standesorganisationen fallen. Die Aerztcvereine sind ihrerseits in dem deutschen Aerzteoereinsbund zusammen­ gefaßt. Die Aerzte haben aber nicht nur in der Standesorganisation

und in den Aerztevereinen einen Rückhalt bei der Verfolgung ihrer Interessen den Krankenkassen gegenüber, sondern die Aerzte verfügen noch über eine andere bedeutsame Macht, sie haben einen besonderen Verband zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen gebildet, den

sogenannten Leipziger Verband. Dieser Verband, dem der größte Teil der Aerzte angehört, vertritt einseitig die Erwerbsinteressen der Aerzte. Er hat es auch verstanden, die ärztliche Standesvertretung mit Männern seiner Richtung zu besetzen. Die von dem Leipziger Verband aufgestellten Forderungen in Bezug auf die Krankenkassen­ tätigkeit der Aerzte kann ich als bekannt voraussetzen. Der Leipziger Verband hat einen rein gewerkschaftlichen Charakter. Es wird auch mit den gleichen Mitteln gearbeitet, boykottiert und gestreikt, wenn solche Maßnahmen zur Durchsetzung der Forderungen förderlich er­ scheinen. Wer sich von den Aerzten der Organisation nicht anschließt, der Auffassung der organisierten Aerzte gegen das Standesinteresse und verfällt unter Umständen der gesellschaftlichen handelt nach

und kollegialen Aechtung durch die Standesgenossen. Dec nicht organisierte Arzt gilt nicht als „kollegial". Wie die Aerzleorganisation den Krankenkassen und nicht zuletzt den Betriebskrankenkassen gegenüber

vorgeht, ist zur Genüge bekannt. Jedenfalls steht die einzelne Kranken­ kasse dem oft rücksichtslosen Vorgehen der Aerzteorganisation ziemlich

machtlos gegenüber. Die hin und wieder auftretende Auffassung ist nicht begründet, als ob die Aerzte geneigt seien, den Betriebskrankenkassen entgegen­ zukommen und als ob sich die Aerztebewegung im Grunde nur gegen die sogenannten sozialdemokratischen Ortskrankenkassen richte. Das

257 ist nicht der Fall.

Auf dem Aerztetag

in Rostock ist ausdrücklich

betont worden, daß sozialdemokratische Vorstandsmitglieder nicht des­ halb bekämpft werden, weil sie Sozialdemokraten sind, sondern weil sie Vorstände von Kassen sind, und daß industrielle Kassenvorstände ebenso gefährlich seien wie sozialdemokratische Kassenvorstände.

Endlich besteht ein gewisser Gegensatz der Interessen leider auch

noch zwischen den Krankenkassen und den Apothekern. Die Apotheker haben unter sich Schutz- und

Trutzbündnisse

geschlossen, die ihnen bei Streitigkeiten mit Krankenkassen die Hilfe der Organisation sichern. Sie haben sich meist gegenseitig verpflichtet,

ihre Beziehungen zu den Krankenkassen nur nach den von den Ver­ einigungen festgesetzten Bestimmungen zu regeln. Auch dieser Vereinigung gegenüber ist der Zusammenschluß der Betriebskrankenkassen geboten. Bei der Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Apothekern handelt es sich vornehmlich um zweierlei: Einmal um die Erwirkung eines angemessenen Rabatts, wie er in einer Reihe

von Einzelstaaten den Apothekern durch Landesverordnung auferlegt worden ist, zum andern um die Erwirkung einer Handverkaufsliste über die freigegebenen und im Handverkauf erhältlichen Artikel, damit die Krankenkassen die ärztlichen Verordnungen zum Bezüge der Arznei­ mittel nicht entbehren können, Privatpublikum.

sich

nicht schlechter stehen als das

Die Ortskrankenkassen sind schon seit Jahren in dem Zentral­ verband der Ortskrankenkassen vereinigt. Eine Gründung jüngeren Datums ist die Zentrale für das Krankenkassenwesen, die eine lose Vereinigung aller Krankenkassen anstrebt. Diese beidm Organisationen sind einander wesensgleich und ergänzen sich in ihren Bestrebungen insofern, als der Zentralverband der Ortskrankenkassen in der Haupt­

sache den Ausbau des Krankenversicherungsgesetzes betreibt, während die Zentrale ein Mittelpunkt für die praktische Arbeit der Kranken­ kassen sein soll. Die Auffassung dieser Verbände über das Verhältnis zwischen OrtS- und Betriebskrankenkassen mußte den letzteren eine gewisse Zurückhaltung bei allgemeinen Veranstaltungen der Krankenkassen, deren Leitung in den Händen der Ortskrankenkassen liegt, auferlegen. Abgesehen davon besteht auch ein Unterschied in der Auffassung wichtiger Fragen der Krankenversicherung.

Betriebskrankenkassen

ist aber,

Die Folge der Zurückhaltung der

daß die

öffentliche Erörterung

Krankenkassenangelegenheiten fast ausschließlich unter dem

der

Gesichts­

punkte der Wünsche und Verhältnisse der Ortskrankenkassen erfolgt. Es erscheint daher geboten, auch die Stellung der Betriebskranken-

Hest 106.

258 lassen in allgemeinen Angelegenheiten

der Krankenversicherung

zur

Geltung zu bringen. Auf Grund der Ihnen vorgetragenen Tatsachen sind die Betriebs­ krankenkassen gezwungen, sich ebenfalls zusammenzusch ließen, wenn sie

eine ihrer Bedeutung entsprechende Stellung erlangen und ihre Inter­ essen, wie es notwendig ist, fördern wollen. Die Bctriebskrankenkassen Rheinlands und Westfalens haben sich bereits in dem Verband rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen zusammengeschlossen. Dieser Verband ist die einzige Vereinigung von Betriebskrankenkassen von mehr als örtlicher Bedeutung. Er hat es sich bis jetzt angelegen sein lassen, auch die gemeinsamen Interessen der Betriebskrankenkassen

nach jeder Richtung hin wahrzunehmen.

Er hat dafür gesorgt,

daß

in der öffentlichen Erörterung von Krankenkassenangelegenheiten auch der Standpunkt der Betriebskrankenkassen zu Worte kommt. In der

Arztfrage hat der Verband eine ausführliche Denkschrift an den Reichstag gerichtet. Bei den bevorstehenden großen Aenderungen im Krankenkassenwesen werden aber die Stimmen der deutschen Betriebs­ krankenkassen eher Gehör finden, wenn sie vereinigt und einmütig vorgehen. Es erscheint daher geboten, einen Verband Deutscher Betriebskrankenkassen ins Leben zu rufen, der, unbeschadet des Fortbestehens der vorhandenen örtlichen Vereinigungen, die gemeinsamen Wünsche und Bedürfnisse der deutschen Betriebskrankenkassen zum Aus­ druck bringen kann. Ich hoffe, daß Sie diese Auffassung teilen und somit der Gründung eines Verbandes Deutscher Betriebskrankenkasscn zustimmen, auch für die Gründung und den Beitritt in Ihren Kreisen wirken

werden.

Druck: Deutscher Verlag (Ges.m. b.H.s. Berlin swit, Koniggrätzer Strave 40 42. 73ld‘