Vergils Aeneis und die antike Homerexegese: Untersuchungen zum Einfluss ethischer und kritischer Homerrezeption auf Imitatio und Aemulatio Vergils 3110165589, 9783110165586

A deeper understanding of Virgil s Aeneid can only be achieved through the Iliad and Odyssey as its most important model

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Vergils Aeneis und die antike Homerexegese: Untersuchungen zum Einfluss ethischer und kritischer Homerrezeption auf Imitatio und Aemulatio Vergils
 3110165589, 9783110165586

Table of contents :
00......Page 1
00b Vorwort......Page 7
00c......Page 9
01 Einleitung......Page 11
02 Ethische Exegese......Page 29
03 Gleichnisse und Metaphorik......Page 236
04 Kritische Exegese......Page 252
05 Worterklärung und Realienkommentierung......Page 346
06 Schlußbemerkung......Page 363
07 Anhang- Auf dem Weg zu einem ‘neuen Vergil’......Page 365
08 Literaturverzeichnis......Page 370
09 Indices......Page 376

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Tilman Schmit-Neuerburg Vergils Aeneis und die antike Homerexegese

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1999

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Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 56

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Vergils Aeneis und die antike Homerexegese Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils von

Tilman Schmit-Neuerburg

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einbeitsaufnahme Schmit-Neuerburg, Tilman: Vergils Aeneis und die antike Homerexegese : Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils / von Tilman Schmit-Neuerburg. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 56) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-11-016558-9

Zugl. Dissertation, Univ. Bonn 1998 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Rinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Buchbinderische Verarbeitung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach

VXORI CARISSIMAE

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geringfügig veränderte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1998/99 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Meinen tief empfundenen Dank möchte ich meinem verehrten Lehrer Professor Otto Zwierlein aussprechen, der nicht nur diese Arbeit angeregt und ihre Entstehung stets mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit begleitet, sondern meine wissenschaftliche Arbeit von Anbeginn großzügig und mit Rat und Tat gefordert hat. Herzlich danken möchte ich auch Professor Heinz Neitzel, der das Korreferat bereitwillig übernommen und mancherlei Verbesserungen beigesteuert hat, sowie den Mitherausgebern, Professor Winfried Bühler und Professor Peter Herrmann, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe und ebenfalls sehr hilfreiche Detailkritik. Dem Graduiertenkolleg "Der Kommentar in Antike und Mittelalter" (Bochum) gebührt für die freundliche finanzielle und ideelle Förderung meiner Arbeit, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für eine großzügige Druckkostenbeihilfe mein aufrichtiger Dank. Schließlich hätte diese Arbeit ohne Hilfe beim Korrekturlesen des Manuskripts nicht entstehen können: Hierfür ebenso wie für freundschaftlichen Rat möchte ich Frau Dr. Rebekka Junge, Herrn Dr. Mischa Meier, ganz besonders aber meiner Frau Viviane danken, die ihren vielfältigen Beitrag zum Entstehen dieses Buches am besten kennt.

Bonn, im Juli 1999

Tilman Schmit-Neuerburg

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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I. Einleitung II. Ethische Exegese 1. Nisus und Euiyalus a) Die nächtliche Belagerung der Trojaner durch die Rutuler b) Die Nyktegoria c) Die Expedition d) Zusammenfassung

2'. 2' 3'

2. αταξία und θόρυβος: ein Leitgedanke der ethischen Homerexegese und das /wror-Konzept in der Aeneis 3. Aeneas a) Der Trost an die Gefährten b) Versuchung und Umkehr des Helden Exkurs: Ares und Aphrodite und der Gesang des Iopas (Aen. 1,742-746) c) Die Wachsamkeit des Herrschers d) Standhaftigkeit im Schmerz

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4. Turnus a) Turnus und Hektor b) Turnus und Paris c) Turnus und Achill

1 1 1 1

5. Amata und Andromache: Das tragische Ende der Aeneis 6. Zusammenfassung

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Inhaltsverzeichnis

III. Gleichnisse und Metaphorik 1. Der Wolf auf der Flucht (Aen. 11,809-815) 2. Der Wanderer und die Schlange (Aen. 2,379-382) 3. Feuergleicher Waffenglanz (Aen. 10,260-284) 4. Zusammenfassung IV. Kritische Exegese

226 228 232 234 240 242

1. Die Imitation von ιερός γάμος und Διός απάτη in der Aeneis

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2. Göttliches Eingreifen in den Kampf a) Göttliche Intervention im Schlußkampf zwischen Aeneas und Turnus b) Die Rettung des Turnus (Aen. 9,744-746; 10,606-665) c) Die Göttin auf dem Streitwagen (Aen. 12,468-472)

253 253 259 266

3. Götterepiphanien 4. Die Ankunft der Trojaner in Pallanteum 5. Das Heiratsangebot des Latinus 6. Die Wettkämpfe 7. Der Bruch des foedus

269 282 286 290 296

8. Kampfschilderungen a) Die Verfolgungsjagd (Aen. 12,742-790) b) Die göttlichen Waffen des Aeneas c) Todesprophezeiung im Kampf d) Der erste Speerwurf (Aen. 12,258-267/460f.) e) Der Kampf um die Mauer (Aen. 9,556-562)

300 300 307 312 318 325

9. Zorn und Zähneknirschen 10. Zusammenfassung

328 334

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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VI. Schlußbemerkung

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VII. Anhang: Auf dem Weg zu einem 'neuen Vergil'

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VIII. Literaturverzeichnis

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IX. Indices

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I. Einleitung Schon die antiken Interpreten Vergils haben erkannt, daß der Dichter in seiner Aeneis eine römische Entsprechung zu den beiden homerischen Epen schaffen wollte. Selbst nachdem die Eigenständigkeit der vergilischen Dichtkunst längst erkannt und der Versuch aufgegeben ist, das vermeintlich Epigonale der Aeneis in ihrem Verhältnis zu Ilias und Odyssee aufzuweisen, vertritt auf den Spuren der antiken Exegeten auch die neuzeitliche Aeneisforschung die Auffassung, daß der Weg zum tieferen Verständnis der dichterischen Kunst Vergils mit Notwendigkeit noch immer über den Vergleich der Aeneis mit Ilias und Odyssee als ihren wichtigsten literarischen Vorlagen verläuft. Entsprechend intensive Bemühungen wurden darauf gerichtet, die homerischen Vorlagen der Aeneis aufzudecken und so über eine Bestimmung des Verhältnisses von Modell und Nachbildung und die Kenntnis der Imitationstechnik Vergils tiefere Einsichten in seine dichterischen Intentionen zu gewinnen. Ein imposantes vorläufiges Resümee dieser vergleichenden philologischen Arbeit konnte schließlich G.N. Knauer in seinem Buch „Die Aeneis und Homer" (Göttingen 1964) vorlegen, in dem ihm der Nachweis gelang, daß die Großstruktur der Aeneis wesentlich von dem Ziel Vergils bestimmt ist, die wichtigsten Szenen und Handlungsabläufe der beiden homerischen Epen seiner Konzeption zu adaptieren. Die moderne Forschung sieht in den vielfältigen Beziehungen zwischen Modell und schöpferischer Nachgestaltung ein klassisches Beispiel fur zwei kardinale, miteinander eng verknüpfte Prinzipien römischer Literatur insbesondere der augusteischen und kaiserzeitlichen Epoche: imitatio, Nachahmung, und aemulatio1, „agonale Variation"2 eines bewunderten, kanonisierten Vorbildes, bei der der Autor darauf rechnete, daß der Leser das geistreiche Spiel mit den Vorbildern zu erkennen vermochte. Die zahlreichen Be1

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Zu imitatio und aemulatio siehe Reiff (1959); Kroll 1924, 139-184; Wigodsky 1972, 1-15 (Anm. 2 mit weiteren Literaturhinweisen); Farrell 1991, 3-25. Die Begriffe 'imitatio' und 'aemulatio' wurden in der antiken Literaturtheorie nicht als eigentliche Termini technici verwendet, und eine feste begriffliche Trennung läßt sich kaum nachweisen (s. Fuhrmann 1961); doch ist der Aspekt der 'Überbietung' in dem letzteren Ausdruck zweifellos stärker betont und wird zur Unterstreichung dieses Moments innerhalb des Gesamtphänomens imitatio auch in dieser Untersuchung verwendet. Vgl. R. Jakobi, Der Einfluß Ovids auf den Tragiker Seneca. Berlin-New York 1988, 3.

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I. Einleitung

lege für die bereits antike Reflexion dieses Phänomens 3 beziehen sich gerade auch auf das Verhältnis Vergils zu Homer: Während die als bloße Namen aus der Sueton-Donat-Vita bekannten 'obtrectatores' des Aeneisdichters 4 seine Aneignung homerischen Gutes in zweifellos polemischer Absicht als pures Plagiat auslegten, zeigte sich für seine Bewunderer und Apologeten gerade in der Nachgestaltung eines so großartigen Dichters wie Homer die hohe dichterische Qualität der Aeneis5. Erhielt auf diese Weise Vergils imitatio Homerica schon für sich genommen, auch ohne den agonalen Aspekt der aemulatio, in den Augen seines Publikums einen eigenen Wert, so wurden von den Zeitgenossen überdies gerade das offene Bekenntnis zur Nachahmung Homers und die absichtsvolle Herausforderung des Vergleichs als dichterisches Verfahren Vergils erfaßt und mit diesen spezifischen Voraussetzungen für aemulatio auch das Wesen dieses letzteren Prinzips im Umgang mit Homer erkannt: Schon vor der Veröffentlichung der Aeneis wurde der Wetteifer Vergils mit Homer erwartet6, und die vielzitierte Umschreibung von aemulatio, die bei Seneca rhetor (suas. 3,7) zur Bezeichnung von Ovids Verfahren in seinem Umgang mit vergilischer Dichtung formuliert wird (fecisse ilium quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subri-

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Die wichtigsten Belege hat Reiff (1959) zusammengestellt (vgl. Fuhrmann 1961, 446); vgl. auchWigodsky 1972, 3-8. Hier (§ 44-46) werden Carvilius Pictor als Autor einer Aeneidomastix, Perellius Faustus als Sammler der furta Vergils (der Titel des entsprechenden Werkes könnte De furtis Vergilii gelautet haben) und Octavius Avitus als Verfasser eines offenbar ομοιότητες betitelten Werkes genannt, in dem überwiegend Homeraneignungen zusammengestellt worden sein dürften. Vgl. das in VSD 46 überlieferte (wohl für die literarische Diskussion insgesamt typische) Dictum des Asconius Pedianus, Verfasser eines Werkes contra obtrectatores Vergilii, Vergil habe seinen Kritikern entgegengehalten, cur non Uli quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere. Als weitere gute Belege fur die antike Auffassung vom Eigenwert vergilischer (Homer-) Imitation vgl. etwa Serv. Aen. 1,1 intentio Vergilii haec est, Homerum imitari; Macr. 5,3,16 quid enim suavius quam duospraecipuos vates audire idem loquentes? ... hic (sc. Vergil) opportune in opus suum quae prior vates (sc. Homer) dixerat transferendo fecit ut sua esse credantur und Gell. 9,9,3 scite ergo et considerate Vergilius, cum ... Homeri ... locos efflngeret, partem reliquit, alia expressit (im folgenden wird anhand eines Vergleichs von Theocr. 5,88f. und Verg. ecl. 3,64f. die überbietende imitatio Vergils illustriert). Klassischer Beleg hierfür ist Prop. 2,34,65f. cedite Romani scriptores, cedite Grai! / nescio quid maius nascitur Iliade. Die Echtheit der Verse 59-86 in dem meist auf die Zeit zwischen 26 und 24 v.Chr. datierten Gedicht ist von Heimreich (Quaestiones Propertianae, Bonn 1863, 47ff; vgl. Ribbeck Proleg. 57) allerdings angezweifelt worden.

I. Einleitung

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piendi causa, sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci), empfand man zweifellos ebenso als für das Verhältnis Vergils zu Homer gültig7. Neben diese theoretischen Reflexionen über die Beziehung der Aeneis zu Homer trat die konkrete Kollation: Im Parallelstudium griechischer und lateinischer Autoren, wie es im Grammatikunterricht betrieben wurde, diente die σύγκρισις Homers und Vergils als Vorübung (προγύμνασμα) für den Rhetorikunterricht8. Aus diesem Schulbetrieb ging zweifellos neben den „Erträgen" der 'furta'- und der 'contra obtrectatores'-Literatur vieles in die spätantike Vergilkommentierung ein9, aus der sich ebenso wie (implizit) aus der homerische und vergilische Vorbilder kontaminierenden flavischen Epik10 und weiteren verstreuten Referenzen auf Homer und Vergil ein recht gutes, wenngleich bei weitem nicht vollständiges Bild davon gewinnen läßt, welche Parallelisierungen das römische Publikum Vergils vornahm. Die Phänomene vergilischer Homerimitatio und -aemulatio11 sind, dies geht aus dem bisher Gesagten hervor, ohne die Berücksichtigung eines (wenngleich schwer zu beschreibenden) literarischen Publikums nicht hinreichend erfaßbar. Soll das Verhältnis Vergils zu Homer umfassend analysiert werden, so ist demnach nicht nur zu fragen, wie weitgehend Vergil Homer imitiert, wie intensiv er und sein (z.T. hochgebildetes) literarisches Publikums die beiden Epen kannten, sondern auch, welche Q u a l i t ä t

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Vgl. Plin. nat. praef. 22 scito enim conferentem auctores me deprehendisse a iuratissimis et proximis veteres transcriptos ad verbum neque nominates, no η ilia Vergili ana ν i r t u t e ut certarent·, Macr. sat. 6,1,6, wo es mit Bezug auf Vergil heißt: et iudicio transferendi et modo imitandi consecutus est ut, quod apud illum legerimus alienum, aut illius esse malimus aut melius hic quam ubi natum est sonare miremur. Marrou 1957, 373 mit Verweis auf Juv. 6,436; 11,180; vgl. auch Bonner 1977, 213f. 251. - Zur zentralen Bedeutung Homers im griechischen Grammatik- und Rhetorikunterricht junger Römer s. Bonner 1977, 212-276 passim, bes. 212f. (mit Verweis auf die einschlägigen allgemeinen Zeugnisse Hör. epist. 2,2,41f.; Petron. sat. 5; Quint. 1,8,5; Plin. epist. 2,14,2). 248 (Grammatikunterricht). 262f. 265. 267ff. (Rhetorikunterricht); vgl. auch Tolkiehn 1896, 231-240. Hier finden sich auch konkrete Hinweise darauf, daß Vergils Homerimitation als aemulatio begriffen wurde, vgl. etwa Serv. Aen. 9,267 (s. S. 52 Anm. 138); Macr. sat. 5,ll,5ff. (s. S. 92 mit Anm. 237). Näheres hierzu unten S . l l . In der modernen Intertextualitätstheorie werden die Begriffe imitatio und aemulatio als (Arbeits-)Termini der älteren Forschung zunehmend durch die das Verhältnis AutorPublikum betonenden Begriffe „arte allusiva" Pasqualis bzw. „allusion" in der angloamerikanischen Philologie abgelöst (ein guter Überblick über moderne Theorien zu imitatio und Intertextualität bei Farrell 1991, 3ff; s. jetzt auch St. Hinds, Allusion and intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry. Cambridge 1998 mit einer Rehabilitation der älteren Terminologie, bes. 47-51), doch werden sie in dieser Untersuchung als hinreichend aussagekräftig weitergeführt.

I. Einleitung

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sein Homerbild besaß und welches Homerverständnis seiner Zeitgenossen er vorauszusetzen hatte. Gerade dieser Aspekt wurde in der Vergil-HomerForschung lange ausgeklammert, indem die Interpreten mit einer wohl zum Teil unbewußten Selbstverständlichkeit voraussetzten, daß das moderne historisch-kritische Verständnis der homerischen Werke mit dem Vergils und seiner Zeit weitgehend identisch sei. Dies ist freilich dann methodisch fragwürdig, wenn die tradierten Spuren antiker Homerexegese eine Fülle von Belegen fur ein Verständnis des alten Dichters enthalten, das von dem moderner Interpreten erheblich abweicht. Läßt man zunächst die Arbeitshypothese gelten, daß die erhaltenen Zeugnisse antiker direkter wie indirekter Homerkommentierung mindestens einen Hinweis auf das Homerverständnis Vergils (und zumindest eines Teils seines gebildeten, an Homer geschulten Publikums) geben können - wofür, wie im Verlauf der Untersuchung deutlich werden wird, vieles spricht - , so ergibt sich hieraus die Notwendigkeit einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Modell und schöpferischer Nachbildung und hiermit von imitatio und aemulatio Vergils: Wenn er Ilias und Odyssee Homers übertreffen, die hieraus resultierenden Umformungen aber - dem Wesen literarischer aemulatio entsprechend - erkannt wissen wollte, so war er mit dem gängigen Homerverständnis seiner Zeitgenossen konfrontiert und hatte auf dieses Bezug zu nehmen; so ist nicht nur das epische Modell, sondern auch seine literarische Rezeption zu berücksichtigen, wenn angenommen wird, daß die Homerimitation Vergils kein Selbstzweck war, der Dichter vielmehr Anspielungen auf das homerische Modell dazu nutzte, eigene Ideen und Vorstellungen zu verdeutlichen. Es kann demnach erwartet werden, daß erst die Hinzuziehung der antiken Homerrezeption bislang übersehene Beziehungen, ebenso aber auch Kontrasteffekte zwischen homerischem Modell und vergilischer Aneignung sichtbar werden läßt und hierdurch eine Neubewertung wichtiger Aeneisszenen in ihrem Verhältnis zu Homer, damit aber vergilischer Dichtkunst überhaupt bewirkt wird. Bevor diese Hypothese noch etwas präzisiert werden soll, erscheint es zweckmäßig, in gebotener Kürze die rekonstruierbaren Grundzüge des antiken Homerbildes zu skizzieren. Die Geschichte der antiken Homerexegese ist zugleich eine Geschichte der Homerkritik: Bereits einer der vermutlich frühesten12 Belege für die Exegese des Dichters reagierte auf Vorwürfe, die man gegen seine Darstellungsweise erhob. Der Vorsokratiker Theagenes von Rhegion deutete die Theomachie des 20. Iliasgesanges als allegorische Darstellung des ewigen

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Vgl. jetzt jedoch Feeney 1991, 8-10.

I. Einleitung

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Kampfes der die Welt bestimmenden Naturkräfte . Indem er den Kampf zwischen Hera und Zeus als Kampf zwischen den Prinzipien der „(feuchten) Luft" und des „Äthers" (d.h. des Feuers), das Ringen der Athene mit Ares dagegen als Symbol für den Kampf der „Weisheit" (φρόνησις) gegen die „Dummheit" (αφροσύνη) interpretierte, verknüpfte schon er die beiden wichtigsten Ansätze philosophisch-allegorischer Homerinterpretation: eine 'physikalisch-kosmolqgische' Deutung, die in den vordergründigen Götterhandlungen das kosmische Wirken von Naturkräften dargestellt fand, sowie eine 'ethische' Auslegung, die unter der Oberfläche der dichterischen Darstellung menschlichen und göttlichen Handelns psychologische und moralische Prinzipien auffand. Diese Interpretation, die der homerischen Dichtung einen verborgenen, nur dem Eingeweihten erkennbaren „Hintersinn" (ύπόνοια) 14 unterlegte, entstand wesentlich als Antwort auf die Kritik der Philosophie an der falschen, ungehörigen Darstellung von Göttern (und Menschen) durch Homer15 und hatte somit von ihren Anfangen her eine apologetische Tendenz. Diese bereits von den Vorsokratikern16 geübte Kritik wurde von Piaton17 und - nun auch unter außerphilosophischen Gesichtspunkten, im Hinblick auf das πρέπον und das πιθανόν, und im Rahmen der

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Fr. 8,2 DK (Schol. [B] 20,67 [Poiphyr. 1,240,14 Schrad.], vgl. Ps. Plut. 2,102,3). Hierzu J.C. Joosen/J.H. Waszink, Allegorese, RAC 1, Stuttgart 1950, 283. 293 s.v. Zu Theagenes Buffiere 1956, 103-105. Feeney 1991, 8-10. Der Terminus αλληγορία ist in seiner modernen Bedeutung erst vom 1. Jh. v.Chr. an zu belegen, s. Feeney 1991, 10. Plutarch verweist auf die Ablösung des älteren Terminus ύπόνοια durch den Begriff αλληγορία bis zu seiner Zeit (mor. 19b). Frühester und zugleich deutlicher Zeuge ist Xenophanes (fr. 11 DK). Das Zitat bei Sextus Empiricus (adv. Mathem. 9,193) bezeugt, daß diese Kritik an Homer auch zu Beginn der Spätantike nicht zur Ruhe kam und sich insbesondere das Xenophanes-Dictum noch immer großer Bekanntheit erfreute. Siehe Sikes 1931, 11-18; Pfeiffer 1970, 24ff; Feeney 1991, 5-8. Einen guten Überblick gibt Richardson (Kommentar S. 26); grundlegend hierzu noch immer Buffiere 1956, 13ff. 22. Die ethische Mythen- und insbesondere Homerdeutung erlebte bereits einen Höhepunkt in der Sophistik des 5. Jhs. (vgl. Prodikos' Deutung von Herakles am Scheideweg [Xen. mem. 2,1,21-34] und die bei Diog. Laert. 2,11 Anaxagoras zugeschriebene Äußerung, die homerischen Epen seien Spiegelbilder der Tugend und Gerechtigkeit); eine weitere wichtige Etappe in dieser Entwicklung bedeutet Antisthenes' Deutung der Odyssee (hierzu u. S. 83). Eng verknüpft ist die allegorische Homerdeutung mit dem namentlich seit Ende des 5. Jhs. wachsenden Interesse für Etymologie (vgl. Feeney 1991, 20ff).

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Rep. 378b-393a (siehe auch unten S. 245); Piatons Ablehnung der Allegorese ist freilich nicht absolut: der heranwachsende Wächter vermag nicht zu beurteilen, ob eine solche Deutung zutreffend ist oder nicht (378d). Zu Piatons Homerauffassung allgemein Pfeiffer 26. 290; Richardson, Komm. S. 30f.; G.R.F. Ferrary, Plato and poetry, in: Kennedy 1989, hier 92-148.

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I. Einleitung

Echtheitskritik - von den Alexandrinern aufgegriffen18 und lebte auf diese Weise fort, zugleich erhielt die allegorische Homerauslegung, die schon in der älteren Stoa betrieben worden war, unter der Ägide Chrysipps und des Krates von Mallos19 insbesondere in der pergamenischen Stoa neue entscheidende Anregungen. Damit setzte sich diese Form der Homerkritik und -exegese bis weit in die Spätantike (' Ομηρικά ζητήματα des Neuplatonikers Porphyrios) fort. Hierbei ging es in den auch (bzw. in den beiden ersten Fällen vornehmlich) der physikalisch-kosmologischen Homerdeutung gewidmeten Monographien des Cornutus, Ps. Heraklits und Ps. Plutarchs nicht nur darum, Homer gegen seine Kritiker in Schutz zu nehmen, sondern ihn als göttlich inspirierten Lehrer der Weisheit auszudeuten, indem ihm ein „direkter Zugang" zum göttlichen Logos bescheinigt wurde20. Außer in diesen Werken sind speziell die physikalisch-kosmologischen Deutungen - in deutlich geringerer Zahl - in den exegetischen (bT-)Scholien der Ilias erhalten geblieben21. Für den Bereich der lateinischen Literatur gibt es Hinweise auf den Einfluß philosophisch-allegorischer und rationalistischer Mythendeutung, die aus der naturphilosophischen und stoischen Homerkommentierung entwickelt worden war, spätestens seit Beginn des 2. Jhs. v.Chr.22 So übersetzte Ennius die ' Ιερά αναγραφή des Euhemeros in die lateinische Sprache, porträtierte aber vor allem in seiner 'Vision' (ann. 3 Sk. = 6 V.) Homer als Quelle philosophischer Erkenntnis des Kosmos23; auch das Werk des Lukrez zeigt deutliche Einflüsse hellenistischer Allegorese24. Für den Ausgang der Republik und die frühe Kaiserzeit verdichten sich schließlich die

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Insbesondere Aristarch lehnte die apologetisch-allegorische Homerdeutung, wie sie vornehmlich von der pergamenischen Stoa betrieben wurde, ab, vgl. Schol. [D] II. 5,385; Eustath. 40, 29-33; hierzu Feeney 1991, 38 Anm. 134 und jetzt J.I. Porter, Hermeneutic lines and circles: Aristarchus and Crates on the exegesis of Homer, in: Lamberton-Keaney 1992, 67-114. Pfeiffer 1970, 26. 176. 289ff.; speziell zur krateteischen Homerauslegung s. auch Richardson (Kommentar S. 37f.) mit weiterer Literatur (Anm. 54). Zur Entwicklung des Topos von Homer als Quelle allen Wissens s. Hillgruber 1994, 5-35. Dagegen kaum in den Α-Scholien (siehe auch o. Anm. 18) und weitaus häufiger bei Eustathios und in den Odysseescholien. Die Tatsache, daß physikalische Allegoresen in den bT-Scholien enthalten sind, bedeutet nicht, daß diese auch nur in größerer Zahl aus der Homerkommentierung der pergamenischen Stoa stammen müssen: siehe Erbse 1960, 171ff. Sueton (de grammaticis et rhetoribus 2) setzt den Beginn der Dichterexegese in Rom mit Krates' Aufenthalt 168 v.Chr. an; der Stoiker dürfte sein Publikum dabei wohl namentlich mit allegorischer Auslegung vertraut gemacht haben. Siehe Skutsch 1985, 147ff. z. St. Sieheu. S. 252.

I. Einleitung

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Indizien für eine Intensivierung der Beschäftigung mit allegorisierender Mythen- und speziell Homerdeutung im römischen Bereich25. Nicht nur in seiner Götter- (und damit Natur-)darstellung offenbarte Homer 'tiefere Weisheit': In seinen Epen hatte der Dichter ein Panoptikum existentieller Situationen, ethischer Maximen, menschlicher Verhaltenstypen und Charakterformen geschaffen. Indem er zuweilen aus seiner Rolle als 'objektiver' Erzähler heraustrat, Hinweise darauf gab, wie er das von ihm geschilderte Geschehen gewertet wissen wollte, wurde er so zum ersten Lehrer der Ethik26. Der aus homerischen Szenen herausgelesene sittlich-exemplarische Kern ermöglichte ihre Übertragung und Anwendung auf aktuelle Ereignisse, auch wenn diese sich äußerlich unterschieden. Erinnert sei hier nur an die in der anekdotischen Historiographie überlieferten Homerzitate historischer Persönlichkeiten in besonderen Situationen: So verglich sich etwa Alexander mit Achill, Pompeius mit Agamemnon, Cato setzte Kleopatra mit Helena gleich; Brutus konnte, so berichtet Plutarch (Brut. 23,3), die Teilnahme seiner Gattin Marcia an den politischen Ereignissen hervorheben, wenn er auf die von Hektor der Andromache beim Abschied (II. 6,490ff.) anempfohlene Zurückhaltung gegenüber eben diesen Dingen verwies27. Die Beliebtheit dieses eher 'ethisch-typologisch' denn 'allegorisch' zu nennenden Homerverständnisses28 ist sowohl in der direkten wie der indirekten an-

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So erklärt Varro, der Schüler des Platonikers Antiochos von Askalon, in seinen 46 v.Chr. veröffentlichten 'Res divinae', er werde eine interpretatio physica der Götter auf der Grundlage der theologia naturalis - hiermit ist die platonisch-stoische Kosmologie bezeichnet - liefern. Er deutete entsprechend die kapitolinische Trias als Dreiheit der platonischen Prinzipien (fr. 206. 225); hierzu Wlosok 1985, 77. In neronische Zeit fallt die 'Επιδρομή των κατά την Έ λ λ η ν ι κ ή ν θεολογιαν παραδεδομένων des Vergilkommentators und Lucanlehrers Cornutus. Zur antiken moralisierenden Dichterlektüre allgemein Kroll 1924, 64-86. Zahlreiche Belege für solche Homerreminiszenzen, die die antike Historiographie historischen Persönlichkeiten in den Mund legte, hat Tolkiehn (1896, 241-248) zusammengestellt, ferner die als römische Cognomina zu belegenden Namen homerischer Figuren, was gleichfalls auf das römische Empfinden solcher Analogien hinweist (276-286). Der inhaltlich ohnehin unscharfe und daher problematische Begriff 'Allegorese' erscheint gerade zur Bezeichnung dieser ethischen Homerexegese schon fast irreführend, da ihre Vertreter nahezu durchweg lediglich annahmen, daß hinter dem konkreten äußeren Geschehen, das Homer schildert, eine z u s ä t z l i c h e , über den Einzelfall hinausgehende allgemeingültige Aussage steht, die dieses also nicht - i.S. des rhetorischen Terminus αλληγορία - in der tieferen Ausdeutung 'ersetzt'. Wenngleich moderne Differenzierungen zwischen einer Allegorie 'sensu stricto' und 'sensu lato' (unter letzteren fiele nahezu jegliche verallgemeinernde Interpretation und speziell die ethische Homerexegese) hilfreich sein können, verwende ich in dieser Untersuchung, um Mißverständnisse zu vermeiden, den Begriff „ethische Exegese (Ausdeutung, Interpretation u.ä.)". Zur Problematik des Begriffs

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I. Einleitung

tiken E x e g e s e des Dichters, und hier gerade auch im spätrepublikanischen und augusteischen R o m gut z u belegen: S o erklärt etwa Horaz in seinem B r i e f an Lollius (epist. 1,2), er ziehe Homer, den er als Troiani belli scriptor (1), also zunächst als den Archegeten des 'heroischen' (nicht eigentlich 'didaktischen') Epos einzuführen scheint 29 , als Lehrer ethischer Prinzipien d e m Stoiker Chrysippos und d e m Akademiker Krantor vor (3f.: quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non /planius ac melius Chrysippo et Crantore dicit) und verweist hierzu auf die Ilias, in der Homer ein E x e m p l u m für die verderbliche Wirkung der Leidenschaften g e s c h a f f e n habe 3 0 ; ihr stellt er die Odyssee gegenüber als Exemplifizierung der Kraft v o n virtus und sapientia am Schicksal ihres Haupthelden 3 1 : Hör. epist. 1,2,6 fabula qua Paridis propter narratur amorem Graecia barbariae lento conlisa duello, stultorum regum et populorum continet aestus. Anterior censet bellipraecidere causam: 10 quid Paris? ut salvus regnet vivatque beatus, cogi posse negat. Nestor componere litis inter Peliden festinat et inter Atriden:

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„Allegorie" s. E. Stein, Philo und der Midrasch. Glessen 1931, 7; Feeney 1991, 37 und jetzt A.A. Long, Stoic readings of Homer, in Lamberton-Keaney 1992, 41-66, bes. 43. Vgl. Farrell 1991, 257. In noch stärkerer Zuspitzung erscheint der Gedanke Ov. trist. 2,37 lf. Ilias ipsa quid est aliud, nisi adultera, de qua / inier amatorem pugna virumque fuit (vgl. Ov. epist. 13,131). Eine ganz ähnliche Auffassung der beiden homerischen Epen liegt den Ausführungen Ps. Plutarchs zu ihren Proömien zugrunde (2,163,1): έν ... τ-fj Ί λ ι ά δ ι προαναφωνών ότι μέλλει λέγειν όσα δια την ' Αχιλλέως όργήν και την ' Αγαμέμνονος ύβριν κακά τοις "Ελλησιν συνέβη, και έν τη 'Οδύσσεια όσοις πόνοις και κινδύνοις περιπεσών ό 'Οδυσσεύς πάντων τη της ψυχής συνέσει και καρτερία περιεγένετο. Bei Dion von Prusa (55,9) heißt es lapidar, Homer schreibe περι αρετής ανθρώπων και κακίας καΐ περι αμαρτημάτων και κατορθωμάτων και περι αληθείας και απάτης και όπως δοξάζουσιν οί πολλοί και όπως έπίστανται οί φρόνιμοι; er habe auf diese Weise gleichsam eine Typologie menschlicher Verhaltensweisen und Charaktere geschaffen (55,14-21; ähnlich Max. Tyr. 26,6); vgl. Dion Chrys. 61,1: Homer als Experte der πάθη των ανθρώπων. - Zu erinnern ist auch an die Mitteilung Suetons (Aug. 89,2), Augustus habe beim Studium griechischer und lateinischer Autoren seine Aufmerksamkeit darauf konzentriert, aus ihnen praecepta et exempla publice vel privatim salubria zu gewinnen; an anderer Stelle (Tib. 21,6) heißt es dann, Augustus habe sein Verhältnis zu Tiberius in einem Brief an diesen durch die Verse II. 10,246f. illustriert, in denen Diomedes Odysseus als idealen Gefährten preist. - Strabo, der sich in den Jahren 44 bis 35, um 31 und 7 v.Chr. in Rom aufhielt, rechtfertigt die von der Stoa betriebene ethische Ausdeutung der homerischen Epen zur Jugenderziehung gegen die Kritik des Eratosthenes (1,7,10).

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hunc amor, ira quidem communiter urit utrumque. quidquid delirant reges, pleciuntur Achivi. 15 seditione, dolis, scelere atque libidine et ira Iliacos intra muros peccatur et extra, rursus, quid virtus et quid sapientia possit, utile proposuit nobis exemplar Ulixen, qui domitor Troiae multorum providus urbes 20 et mores hominum inspexit latumque per aequor, dum sibi, dum sociis reditum parat, aspera multa pertulit, adversis rerum immersabilis undis (...) Ebenso leitete etwa der Vergillehrer Philodem in seiner Monographie „Über den guten König bei Homer" aus der Ilias ethische Maximen fiir die Handlungsweise einer idealen Herrscherpersönlichkeit ab und wandte sich hiermit offenbar an ein Publikum römischer Nobiles32. Diese und zahlreiche weitere, im Verlauf dieser Untersuchung dargebotene Zeugnisse für die Rezeption speziell ethischer Homerdeutung im römischen Bereich erlauben die Annahme, daß auch Vergil mit dieser Form der Interpretation von Ilias und Odyssee vertraut war. Es ist ferner wahrscheinlich, daß die philosophische Homerdeutung, die schon in elementarer Form sowohl kosmologische Grundkenntnisse als auch vor allem ethische Grundsätze zu vermitteln geeignet war, über den engeren Kreis von Römern, die im Studium griechischer Philosophie mit ihr in Berührung kamen, hinausgelangte und bis zur Jahrhundertmitte zumindest in Rom Eingang in den höheren Grammatik- und möglicherweise auch Rhetorikunterricht fand. So ist an den Hinweis des Horaz zu erinnern, es sei sein Glück gewesen, in Rom erzogen zu werden, wo er gelernt habe, iratus Grais quantum nocuisset Achilles (epist. 2,2,41 f.). Damit ist aber nicht nur der Einfluß dieses Homerbildes auf die Imitationsweise Vergils prinzipiell sehr wahrscheinlich, sondern auch die Annahme erlaubt, daß ein in dieser Homerdeutung geschultes Publikum die Bezugnahme zumal des 'aemulator' Vergil auf diese philosophische Auslegung Homers erwartete33. Für den Homer-Vergil-Vergleich moderner Interpreten ist dieser Aspekt der antiken Homerexegese von besonderer Bedeutung, weil durch seine 32 33

Siehe unten S. 144 mit Anm. 402. Cairns' Erwägung (1989, 88f.), das von Horaz im Lolliusbrief gezeichnete Homerbild „may actually be alluding to the Aeneid" (!), und insbesondere die Kurzcharakterisierung des homerischen Odysseus bei Horaz könne ein Echo auf die vergilische Konzeption des Aeneas darstellen, dürfte zwar zu weitgehend sein; doch deckt sich seine Annahme, „even if Horace is not alluding to the Aeneid, Epistles 1.2 nevertheless gives an unmistakable indication of how Virgil's contemporaries would have viewed its related themes" (spez. „of concord and kingship"), mit der Arbeitshypothese dieser Untersuchung.

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Berücksichtigung über eine rein strukturelle Betrachtung der Imitationstechnik Vergils, wie sie Knauer im wesentlichen vorgenommen hat34, hinausgelangt werden kann: Auch ohne Vorhandensein äußerlicher Ähnlichkeiten oder Entsprechungen innerhalb der Handlungsstruktur kann der exemplarische Kern, den speziell die ethische Homerexegese in Motiven und Szenen von Ilias und Odyssee erkannte, eine Verbindung zwischen diesen lind äußerlich andersgearteten der Aeneis herstellen; neben die strukturelle Nachgestaltung tritt gerade hier ergänzend eine ebenso wichtige „allusive imitation". Dieser Aspekt eines aus der Homerimitation geschöpften tieferen Vergilverständnisses ist erst in der Forschung der jüngsten Zeit beachtet worden. Hierbei sind die möglichen Einflüsse physikalisch-kosmologischer Homerexegese auf die Aeneis bereits eingehender untersucht worden35 und können so im Rahmen dieser Untersuchung zugunsten der e t h i s c h e n Homerexegese eher in den Hintergrund treten: Für letztere hat erstmals E.A. Schmidt (1978) darauf aufmerksam gemacht, daß bereits der Bukoliker Vergil seine Theokrit-Imitation in auffalliger Weise durch Homerreminiszenzen angereichert und hierbei eindeutig ein allegorisch-ethisches Verständnis der entsprechenden Gestalten (Paris, Athene, Kirke) zugrundegelegt hat. Für die Aeneis schließlich hat erstmals Marion Lausberg (1983) gebührend auf diesen Aspekt vergilischer Homerimitation aufmerksam gemacht. Vor allem im ersten Teil dieser Untersuchung (Kap. II: 'Ethische Exegese') wird aus dieser Perspektive die Charakterisierung zentraler Figuren der Aeneis in ihrem Verhältnis zu den homerischen Vorbildern untersucht; insbesondere für das Verständnis der Nisus-Euryalus-Episode, das Verhältnis von Trojanern und Latinern zu Griechen und Trojanern der Ilias, ferner für das Bild des Aeneas und seiner Kontrahenten Dido, Turnus und schließlich auch Amata ergibt das homerische Modell in seiner ethischen Ausdeutung neue Aspekte; speziell im Fall des Aeneas wird als besondere Ausformung der moralisierenden Homerexegese das im Rom der augusteischen und frühen Kaiserzeit vorherrschende, im wesentlichen kynisch und stoisch geprägte Odysseusbild zugrundezulegen sein. Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, daß Vergil auf der Grundlage der ethischen Homerdeutung einzelne Szenen zu solchen Homers in Beziehung gesetzt hat, ohne daß zwischen beiden prima facie eine struk34

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Eine Kritik an der Überbetonung struktureller imitatio durch Knauer findet sich etwa bei Wigodsky 1972, 8-12 und jetzt Berres (1993). Hier sind vor allem zu nennen Thornton (1976); Innes (1979); Murrin 1980 (hier besonders Kap. 1 [„The goddess of air"]; Wlosok 1985; Hardie 1985; 1986 und zu den Georgica jetzt Farrell 1991, bes. 253-272.

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turelle Entsprechung besteht. Die Behauptung einer solchen 'impliziten' Homerimitation Vergils läßt sich wenigstens im Ansatz verifizieren, indem die epischen Nachfolger Vergils, neben Lucan namentlich die flavischen Epiker Valerius Flaccus, Silius Italicus und Statius sowie die Ilias Latina herangezogen werden: Kennzeichen ihrer Imitationstechnik ist die kontaminierende Bezugnahme auf homerische36 u n d vergilische Szenen, häufig indem über die Aeneis als primäres episches Vorbild auf das homerische Modell zurückgegriffen und dieses durch Motive, die aus der vergilischen Nachgestaltung geschöpft werden, sekundär überformt wird. Dieses Imitationsverfahren ermöglicht einerseits die Feststellung, welche homerischen und vergilischen Szenen von diesen Epikern in einen (inneren) Zusammenhang gebracht wurden: Vergleicht man solche Szenen, denen beide epischen Modelle zugrundeliegen, mit Vergil, so kann überprüft werden, ob sich die für Vergil angenommene, über äußerliche und strukturelle Beziehungen hinausgehende Anspielung auf Homer in ihrer Adaptation b e i d e r Modelle spiegelt. Ferner ist eine Überprüfung möglich, ob etwa behauptete Kontrastimitationen Vergils gegenüber dem homerischen Modell von einem aufmerksamen Publikum erkannt wurden. Wie im obigen Überblick über die philosophische Homerexegese schon angedeutet, empfing das antike Homerverständnis aus der Kritik an dem alten Dichter entscheidende Impulse. Nachdem diese in ihren Anfangen vor allem von Seiten der Philosophie geübt wurde, trat zum Ende des 4. Jhs. v.Chr. mit Zoilos ein scharfer Homerkritiker hervor, der, abgesehen von sei36

Maßgeblich für das Verhältnis der Epiker Statius und Silius zu Homer ist die Untersuchung H. Juhnkes (Homerisches in römischer Epik flavischer Zeit. Zetemata 53. München 1972). Die hilfreiche Aufstellung der Homerparallelen nach dem Muster der Knauer-Listen zu Vergil und Homer im Anhang weist leider nur die Parallelen Imitation-Modell nach, nicht auch wie bei Knauer die Umkehrung, aus der etwa ersehen werden könnte, ob und wie Statius bzw. Silius die von Vergil imitierten Homerverse und -szenen verarbeitet haben. - Zu Valerius Flaccus fehlt eine systematische Behandlung seines Verhältnisses zu Homer; Parallelen finden sich in Langens Kommentar, ferner bei R.W. Garson, Homeric echoes in Valerius Flaccus' Argonautica, CQ 19, 1969, 362-366; J.J.L. Smolenaars, Quellen und Rezeption. Die Verarbeitung homerischer Motive bei Valerius Flaccus und Statius, in: M. Korn, H.J. Tschiedel (Hgg.), Ratis omnia vincet. Untersuchungen zu den Argonautica des Valerius Flaccus (Spudasmata 48). Hildesheim-Zürich-New York 1991, hier 57-71 sowie in den neueren Kommentaren. - Die lange umstrittene Frage, ob Lucan seinem Epos auch ohne Vermittlung Vergils homerische Szenen zugrundegelegt hat, darf im Lichte der neueren Forschung vor allem im Hinblick auf das 7. und 9. Buch der Pharsalia, in denen szenische Ähnlichkeiten zu Homer nicht auf die Aeneis zurückgeführt werden können, als positiv beantwortet gelten. Verwiesen sei auf die wertvolle und mit reichen Literaturhinweisen ausgestattete Untersuchung Marion Lausbergs (1985) zum Verhältnis Lucan-Homer; zusätzlich ist jetzt auch heranzuziehen C.M.C. Green, Stimulos dedit aemula virtus: Lucan and Homer reconsidered, Phoenix 45, 1991, 230-254.

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nem Bemühen, dem Dichter sachliche Fehler nachzuweisen, seiner Beurteilung bereits im engeren Sinne literarisch-ästhetische Kategorien zugrundelegte, indem er Homer Ungereimtheiten und Widersprüche innerhalb seiner Darstellung vorwarf, genauer: Verstöße gegen die - letztlich aus der Rhetorik entwickelte - literarische Forderung nach innerer und äußerer Logik der Eposhandlung37. Gegen die aufkommende Kritik solcher Art am mangelnden Realismus Homers - wie auch gegen die Kritik der Philosophie, insbesondere auch Piatons an ethischen Aussagen Homers - suchte schon Aristoteles den Dichter in Schutz zu nehmen38. Obwohl die spätere hellenistische, namentlich alexandrinische Homerphilologie keineswegs die rigiden Maßstäbe der 'Homeromastix' anlegte, stützte sie ihre Exegese, deren besonderes Bemühen zumal im Falle der Alexandriner der Textkonstitution galt, ebenfalls auf ein System literarisch-ästhetischer Kategorien; dieses ist in umfassender Weise in den - in späterer Zeit aus Kommentaren und Monographien kompilierten - Scholien zur Ilias greifbar. Vornehmlich die im Codex Venetus Α überlieferten Scholien basieren auf dieser kritischen Homerphilologie der Alexandriner, doch auch in den sog. exegetischen bTScholien, deren Interesse besonders auch der ethischen Homerinterpretation gilt, werden diese Interpretationskriterien angewandt39. Ein Verstoß Homers gegen die ihnen zugrundeliegenden ästhetischen Forderungen konnte zur Athetese eines oder mehrerer Verse fuhren, aber auch - in Fällen, die die Interpreten als weniger schwerwiegend empfanden - lediglich die Formulierung eines 'Verbesserungsvorschlags' provozieren; ebenso wurde das Lob des Dichters auf diese Kategorien gestützt. Solche Kriterien waren, um nur einige der wichtigsten zu nennen, äußere und innere Logik, Realitätsnähe und Plausibilität der Handlung (πιϋανότης/τό πιθανόν) 40 ; besonderes

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Zoilos legte seiner Kritik offenbar bereits die Begriffe τό άτοπον (fr. 38) und τδ ά π ί θ α ν ο ν (fr. 39 Friedl.; vgl. fr. 26. 34. 36) zugrunde. Zu Zoilos s. Buffiere 1956, 22ff.; Pfeiffer 1970, 76; H. Gaertner, Zoilos (Homeromastix), RE Suppl. XV, München 1978, 1531-1554. Vgl. etwa Poet. 1460M3-15. 23-26; fr. 165. 166 Rose (auf die Stellen verweist Richardson, Kommentar S. 3Iff. mit weiteren Ausführungen zu Aristoteles' Homerbild; vgl. jetzt auch N.N. Richardson, Aristotle's readings of Homer and its background, in: LambertonKeaney 1992, hier 30-40); ferner galt sicherlich ein Teil seiner nur fragmentarisch überlieferten 'Ομηρικά προβλήματα (fr. 142-147 Rose) solcher Kritik. Auch ein Teil der bT-Scholien dürfte auf alexandrinische Kommentierungstätigkeit zurückgehen: siehe Kirk, Kommentar S. 40ff. - Eine eingehende Untersuchung der in den Homerscholien angewandten ästhetischen Kategorien findet sich bei Griesinger (1907); Richardson (1980, bes. 275ff.) und Meijering (1987). Eine genaue Terminologie der ästhetischen Kategorien findet sich in den Scholien nicht (die hier aufgeführten Begriffe dominieren unter einer Zahl anderer, weitgehend synonymer),

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Augenmerk richteten die Kritiker ferner auf die geschickte und sorgfaltige Vorbereitung eines Motivs von langer Hand, auf die (προ)οίκονομία 41 Homers, auf sein gewissermaßen „haushälterisches" Verfahren mit poetischen Mitteln (τό ταμιεΰεσϋαι) 42 , etwa durch das Aufsparen von Motiven für den effektvollen Einsatz an anderer Stelle, und die Erzeugimg von Spannung (τό έναγώνιον) 43 durch eine entsprechend kunstvolle Disposition der Handlung. Bereits nicht mehr in erster Linie philosophisch, sondern ebenfalls literarisch-ästhetisch begründet war die alexandrinische Kritik an der homerischen Götterdarstellung. Eine Zwischenstellung als Kriterium sowohl einer 'ethischen' als auch einer im engeren Sinn 'literarischen' Exegese Homers nimmt das für die hellenistische Literaturtheorie (wie für die Dichtung dieser Zeit) charakteristische, etwas schillernde Prinzip des πρέπον/άρμόττον ein, des „Schicklichen" sowohl wie „Angemessenen", ein Begriff, der auf recht verschiedene Aspekte dichterischer, speziell homerischer Darstellung angewandt wurde: Logik (hier fallt er nahezu mit dem Begriff des πιθανόν bzw. der πιϋανότης zusammen), Soziales, Religiöses und Ästhetisches44. Neben der Textgestaltung und der ästhetischen Kommentierung sah es die alexandrinische Homerphilologie ferner als ihre Aufgabe an, durch Erklärung ungewöhnlicher oder seltener Wörter sowie homerischer Realien zum tieferen Verständnis des alten Dichters beizutragen. Beides, ästhetische Kritik und Realienkommentierung, vereinigten sich in der besonders sorgfältigen Kommentierung homerischer Gleichnisse und Metaphorik45. Den Einfluß alexandrinischer Homerexegese hat H. Fränkel (1932) bereits für den - in seiner (interpretierenden) Übertragung der Odyssee - ersten lateinischen Epiker, Livius Andronicus, plausibel machen können46. Ebenso sind auffallige Übereinstimmungen zwischen ennianischer Homerimitation und kritischen Homerscholien alexandrinischer Provenienz erkennbar47. Besonders für die spätrepublikanische und augusteische Zeit, in

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gleichwohl lassen sich die entsprechenden Interpretamente gut gruppieren und ihr ästhetischer Gehalt so im Kern definieren; s. Griesinger (1907, bes. 29ff.). Siehe Griesinger 1907, 43fF. Siehe Meijering 1987, 144f. Siehe Griesinger 1907, 74ff. Hierzu Pohlenz (1965); Fuhrmann 1973, 128; Sikes 1931, 164 m. Anm. 2; vgl. auch Richardson 1980, 278. Hinzu tritt die psychologisch-symbolische Interpretation, die wiederum Berührungspunkte mit der ethischen Exegese hat, s. S. 220. Zur Kritik an dieser These s.u. S. 336 Anm. 897. Siehe unten S. 188. Für Ennius hat Jocelyn (The tragedies of Ennius. Cambridge 1967, 46 Anm. 4) ferner den Gebrauch alexandrinischer Kommentierung zu den attischen Tragikern, wie sie in den Scholien überliefert ist, nachweisen können; siehe ferner J.E.G. Zetzel,

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der die Anwesenheit zahlreicher alexandrinischer Grammatiker in Rom zu belegen ist48, existieren aussagekräftige Belege dafür, daß alexandrinische Exegese gebildeten Römern bekannt49 und insbesondere Aristarch als scharfsinniger Literaturkritiker hochgeschätzt war50, dessen Homerrezensionen die Übersetzung einzelner Verse durch Cicero und Horaz bestimmten51. Das speziell von der alexandrinischen Homerexegese angewandte Prinzip des πρέπον fand zu dieser Zeit Eingang in die römische Literaturtheorie52. Wenigstens in der kompilierten Form der Homerscholien waren Monographien und Kommentare insbesondere der alexandrinischen Homerexegese bis weit in die Spätantike zugänglich; so hat schon E. Fraenkel (1949)53 nachweisen können, daß aus ihnen Interpretamente in die der Kompilation des Servius zugrundeliegenden exegetischen Arbeiten aufgenommen wurden. Diese Überlegungen lassen die Annahme plausibel erscheinen, daß auch Vergil alexandrinische Homerexegese zugänglich war und er als 'poeta doctus', der alles, was ihm für seine Dichtung von Wichtigkeit erschien, aufgegriffen haben dürfte, Kenntnis der alexandrinischen Homererklärung

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Ennian experiments, AJPh 95, 1974, 137-140; ders., A Homeric reminiscence in Catullus, AJPh 99, 1978, 332f. Vgl. Bonner 1977, 53 mit Verweis auf Strab. 14,5,15f. Für Cicero ist die Verwendung der Aratscholien wahrscheinlich zu machen (s. F. Leo, Römische Poesie in der sullanischen Zeit, Hermes 49, 1914, 161-195, hier 192f. [= Ausgew. kl. Schriften, hg. v. Eduard Fraenkel (2 Bde.), Rom 1960, 249-282, hier 279). Ebenso gibt es auffallige Übereinstimmungen zwischen Germanicus' Aratea und der Aratkommentierung in den Scholien (s. Richter 1938, 19ff.) sowie zwischen der Apolloniosbearbeitung des Varro Atacinus und den Argonauticascholien (s. E. Hofmann, Die literarische Persönlichkeit des P. Terentius Varro Atacinus, WSt 46, 1928, 159-176, hier 161). Spuren gelehrter Homerexegese hat Marion Lausberg auch bei Ovid aufweisen können (Ein epigrammatisches Motiv in Ovids Metamorphosen. GB 10, 1981, 181-189; dies., ' Αρχέτυπον της ιδίας ποιήσεως. Zur Bildbeschreibung bei Ovid. Boreas 5, 1982, 112123). Cie. fam. 3,11,5; 9,10,1; Att. 1,14,3; Pis. 30,73; Varro LL 8,68ff.; 9,43; Hör. ars 450; Ov. Pont, 3,9,21. Bekannte Beispiele sind die Wiedergabe der homerischen Verse über das Götterzeichen in Aulis (II. 2,318f.) durch Cicero (div. 2,30,64) und die horazische Übersetzung des von Zenodot anstelle des überlieferten voov konjizierten νόμον von Od. 1,3 durch mores in epist. 1,2,20. Hierzu van der Valk 1964, 148 und Schlunk 1974, 3f. Brink 1963-71,1 97-99; II 174. 176. 233. 337f. Umfassend zum Einfluß hellenistischer Homererklärung auf die spätantiken Vergilkommentare Mühmelt (1965). Anhand der Statiusscholien hat R. Jakobi (Statius, Homer und ihre antiken Erklärer. RhM 138, 1995, 190-192) nachweisen können, daß im spätantiken Westen zumindest noch mittelbare Kenntnis der alexandrinischen Homerexegese bestand; wichtig femer sein Hinweis, daß auch Statius selbst diese Kommentierung nicht nur gekannt hat, sondern in seiner Homerimitation auch auf sie anspielt.

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und -kritik und damit ihrer literarisch-ästhetischen Kategorien besessen haben dürfte54. Auch hier kann mit einem Publikum gerechnet werden, dessen Homerverständnis auch von einer solchen kritischen Exegese wesentlich mitbestimmt wurde. Gellius, die spätantiken Vergilkommentatoren Servius und Ti. Donat und schließlich Macrob55, die neben spätantiker Vergilkritik auch und sogar in erster Linie wesentlich früheres Material verarbeiten, bezeugen, daß die alexandrinische Homerkritik zur Grundlage auch der Vergilkritik wurde. Nach ersten Hinweisen R. Heinzes (1914)56 auf einen möglichen Scholiengebrauch Vergils hat R. R. Schlunk (1967; 1974) den Einfluß dieser Form antiker Homerexegese auf die Imitationstechnik des Aeneisdichters untersucht. Obwohl ihr für die vorliegende Untersuchung wichtige Anregungen verdankt werden, vermittelt diese einzige monographische Behandlung zum Einfluß der antiken Homerkommentierung überhaupt, schwerpunktmäßig der kritischen Exegese, bei weitem kein vollständiges Bild. Daher liegt der zweite Schwerpunkt dieser Untersuchung auf der kritischen Homerexegese (Kap. IV: 'Kritische Exegese'), ferner auch der Gleichnisund Realienkommentierung (Kap. III: 'Gleichnisse und Metaphorik' bzw. Kap. V: 'Wort- und Sacherklärung') und ihrem Einfluß auf die Aeneis: Es darf hierbei erwartet werden, daß sich Kontrasteffekte vergilischer imitatio in ihrem Verhältnis zum homerischen Modell auf die Berücksichtigung solcher Kritik zurückfuhren lassen, damit aber auch vergilische aemulatio inhaltlich präzisiert werden kann. Obwohl die Kenntnis alexandrinischer Homerkritik (und damit die Voraussetzung dafür, daß auch die Überbietung 54

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Die Relevanz der Frage, welchen Homertext Vergil seiner Adaptation zugrundegelegt hat, erhellt unmittelbar aus Aen. 6,522: Hier gibt Vergil durch pressit... iacentem / dulcis et alta quies placidaeaue si mil lima. morti die Verse Od. 13,79f. nicht in der überlieferten Form, sondern in einer sonst nicht belegten varia lectio wieder (και τω vnöuiioc ünvoc έπι βλεφάροισιν έπιπτε, / νήγρετος ή σ υ χ ι ω [ήδιστος codd] Οανάτω άγχιστα έοικως), vgl. Berard 1919, 27f. Insbesondere Macrob dürfte - wohl jeweils über eine Zwischenquelle - den 'obtrectator Vergilii' Q. Octavius Avitus (aus neronischer Zeit) sowie die gegen ihn gerichtete Schrift 'Contra obtrectatores Vergilii' des Asconius Pedianus benutzt haben; zu den Quellen Macrobs für den Homer-Vergil-Vergleich siehe P. Wessner, Macrobius, RE XIV 1, Stuttgart 1928, 169-189, bes. 186ff. Zur Literatur περι κλοπής Kroll, 1964, 145ff. Den möglichen Einfluß der hellenistischen Theokritkommentierung auf die Eklogen hatten zuvor bereits Maria Goetz (De scholiasticis Graecis poetarum Romanorum auctoribus quaest. sei., Diss. Jena 1918, 18-33), der Apollonioskommentierung auf das vergilische Gesamtwerk L. Deicke (De scholiis in Ap. Rh. quaest. sei., Diss. Göttingen 1901, 56 Anm. 4) sowie F. Rütten (De Vergilii studiis Apollonianis, Diss. Münster 1912, 7. 17. 28. 34. 56f.; vgl. Goetz 33-37) untersucht; s. hierzu C. Wendel, Überlieferung und Entstehung der Theokrit-Scholien, Berlin 1920, 68-73.

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speziell des 'poeta doctus' erkannt werden konnte), zumindest bei einem Teil des Vergilpublikums wahrscheinlich ist57, muß sie nicht vorausgesetzt werden, wenn dieses, an Homer geschult, nur in der Lage war, die Abweichungen Vergils im Effekt, auch ohne Kenntnis ihrer Motivation zu erkennen. Hierfür aber gibt es zahlreiche Belege: Die namentlich durch Gellius und die spätantiken Kommentatoren überlieferten Zeugnisse der häufig von den Kategorien hellenistischer Homerkommentierung mitgeprägten Vergilkritik können herangezogen werden, um zu überprüfen, inwieweit auch im Einzelfall mit einer Relevanz dieser Homerkritik fur Vergil im Hinblick auf seine eigenen Kritiker gerechnet werden darf58. Die Quellen antiker Homerexegese, auf die in dieser Arbeit im wesentlichen zurückgegriffen wurde, sind namentlich die antiken Scholien zu Ilias und Odyssee59 sowie die - im wesentlichen für die philosophische Homerinterpretation wichtigen - Monographien Ps. Heraklits ( Ό μ η ρ ι κ α ι άλληγορίαι) und Ps. Plutarchs (Περι Όμηρου) 60 sowie verstreute Interpretamente in der indirekten Homerkommentierung. Das chronologische Problem, daß all diese Werke in ihrer überlieferten Form erst in nachaugusteischer Zeit entstanden sind und Vergil so nicht vorgelegen haben können, sollte nicht überschätzt werden61: Es ist längst weitgehende Einigkeit darüber erzielt, daß der kaiserzeitliche „Viermännerkommentar", aus dem die kritischen Α-Scholien hervorgegangen sind, wenig Eigenes zu einer Aufarbeitung der älteren alexandrinischen, namentlich der aristarcheischen

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Wichtig Farrells Hinweis (1991, 24), daß „there are, indeed, allusions in Vergil, not to mention the Alexandrians, that go to great lengths to conceal themselves from the reader who is acquainted only with the most memorable passages of the literary past, allusions that are accessible only to readers who control a considerable scholarly apparatus, but which, once identified, are unmistakably there ... we must... become readers who are sensitive to and appreciative of, not only allusions to the opening lines of the Odyssey, but to Apollonius' variations on Homeric hapax legomena as well". Auch hier kann die indirekte Vergilexegese der epischen Nachfolger herangezogen werden, s.o. S. 11. Heranzuziehen ist femer der Kommentar des Eustathios zu den beiden Epen, dem die Scholien möglicherweise noch in größerem Umfang vorlagen (s.u. S. 17 Anm. 66). Den Zitaten in dieser Untersuchung liegen für die Iliasscholien die Rezension H. Erbses (Berlin 1969-88), für die Odysseescholien die Ausgabe W. Dindorfs (Oxford 1855), für Eustathios die Rezensionen von Stallbaum (Leipzig 1825-26) (für den Odysseekommentar) sowie M. Van der Valk (Leiden 1976-87) (für den Iliaskommentar) zugrunde. Die Scholia minora sind zitiert nach der Ausgabe I. Bekkers (Berlin 1825). Die beiden Werke werden im folgenden als „Ps. Heraklit" und „Ps. Plutarch" zitiert; zugrundegelegt werden die Ausgaben von Buffiere (Paris 1962) bzw. Kindstrand (Leipzig 1990). So Horsfall 1995, 184; Wilson 1974, 716.

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Textkritik beigetragen hat , aber auch die exegetischen bT-Scholien zur Ilias in ihrer großen Mehrzahl Material aus Kommentaren und Monographien enthalten, deren Entstehungszeit in die Mitte des 1. Jhs. v.Chr. fallt und die sich ihrerseits auf ältere exegetische Arbeiten stützten63. Dasselbe gilt fur die mit großer Wahrscheinlichkeit aus denselben alexandrinischen Homerkommentaren und -monographien stammenden Odysseescholien64. Die in den sog. Scholia minora oder D-Scholien65 überlieferten Interpretamente - vornehmlich Sach- und Worterklärungen - sind fraglos eher noch früheren Ursprungs und dürften teilweise fester Bestandteil des Schulbetriebs gewesen sein66. Die Homerallegorien Ps. Heraklits, deren Entstehung wohl bereits in augusteische oder neronische Zeit fällt, hängen in wesentlichen Teilen von einer über Allegorien handelnden Homerschrift aus der Zeit nach Poseidonios ab und verarbeitet daher ebenfalls ältere Homerkommentierung, eine Annahme, die sich durch die gesicherte, sehr frühe Datierung einiger in seinem Werk aufgeführter Homerallegoresen zusätzlich stützen läßt67. Die wohl erst aus dem Ende des 2. Jhs. n. Chr. stammende Monographie Ps. Plutarchs schließlich verarbeitet in ihren einzelnen Teilen mehrere ältere Homerschriften, von denen wenigstens ein Teil mit Sicherheit bereits aus voraugusteischer Zeit stammt68. Selbst für den Fall, daß Vergil einen Teil der in dieser Arbeit als Zeugnisse antiker Homerexegese zugrundegelegten Interpretationen nicht in dieser oder ähnlicher Formulierung gekannt haben sollte, bieten diese demnach zumindest einen hinreichenden Anhaltspunkt für das zeitgenössische Homerverständnis. Dasselbe gilt für 62 63

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Kirk 1985, 39f. 42. Hierzu K. Latte, Glossographika, Philologus 80, 1925, 136-175, hier 171; Erbse 1960, 171fr.; ders. 1969-1988 I, praef. Xllf. und Richardson, 1980, 265 („it seems likely that the majority of the exegetical scholia ... derive from scholars at the end of the Hellenistic and the beginning of the Roman period, who where consolidating the work of earlier critics"). Insbesondere in den bT-Scholien findet sich viel auf Homer angewandte aristotelische Literaturtheorie; siehe Richardson 1980, 265f. Siehe Dindorf 1825-26 praef. I. Die Scholien wurden früher fälschlich Didymos zugeschrieben; hierzu Kirk 1985, 40. Erbse 1969-88 I, praef. XIV. Zu den Quellen des Eustathios Erbse 1969-88 LIf.; Van der Valk 1963-64,1 86-106; 1976-87 I, praef. LXff., der anders als Erbse annimmt, daß Eustathios die Scholien in der heute überlieferten Form vorlagen; s. ferner L. Cohn, Eustathios, RE VI, Stuttgart 1907, Sp. 145 Iff. (s.v.), hier 1458ff. Siehe K. Reinhardt, Herakleitos (12), RE VIII 1 (Stuttgart 1912), 508 s.v. und jetzt Hillgruber 1994, 49. Hillgruber 1994, 49ff. Auch die in dieser Untersuchung häufiger herangezogenen Homerinterpretamente in den Werken Plutarchs, Dions von Prusa und des Maximos von Tyros sind vielfach als traditionell einzuschätzen, s. J.F. Kindstrand, Homer in der Zweiten Sophistik. Studien zu der Homerlektüre und dem Homerbild bei Dion von Prusa, Maximos von Tyros und Ailios Aristeides. Uppsala 1973, bes. 221fF.

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I. Einleitung

die ebenfalls gelegentlich heranzuziehende indirekte literarische Kommentierung der homerischen Epen69, die die antike Homerdiskussion spiegelt. Dies fuhrt abschließend auf die Frage, in welcher Form Vergil (und zumindest ein Teil seines Publikums) konkret mit den oben skizzierten Bereichen antiker Homerkommentierung in Berührung gekommen sein kann: Auf die zentrale Bedeutung Homers und seiner Auslegung im Grammatik- und auch noch im Rhetorikunterricht wurde ebenso wie auf die Homerbehandlung des Philosophiestudiums oben bereits hingewiesen; neben dieser - in der elementaren Form des Grammatikunterrichts z.T. mündlichen - Vermittlung ist das eigenständige Studium von Homertexten mit Scholien sowie von Homermonographien, über die exegetischen Werke hinausgehend, die dem Unterricht zugrundegelegen hatten, anzunehmen70. Schließlich ist mit dem geselligen Austausch eines gebildeten Publikums zu rechnen: Alle Bereiche der Homerausdeutung spielen in der griechischen und römischen Symposienliteratur (Gellius, Plutarch, Athenaios, Macrobius), die solche mündliche Kommunikation zum fiktiven Gegenstand haben, eine wichtige Rolle71.

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Vgl. etwa das oben angeführte Horazzitat (S. 8f.). Wichtig der Hinweis Schlunks (1974, 5), daß sich der Vertrieb etwa eines monographischen Kommentars des Apollodor zum 14. Iliasbuch in Rom für die Zeit des Horaz wahrscheinlich machen läßt. Hier ist noch eine generelle Bemerkung zur Gliederung dieser Arbeit zu machen: Die Einzelinterpretationen vergilischer Szenen in ihrem Verhältnis zum homerischen Modell sind in systematisch orientierten Großkapiteln zusammengefaßt. Hierbei handelt es sich um eine Arbeitsgliederung, die lediglich einen Hinweis darauf geben soll, welcher der oben skizzierten Aspekte des antiken Homerverständnisses in diesen Großkapiteln jeweils dominiert, ohne daß suggeriert werden sollte, Vergil habe in seiner Aneignung und Verarbeitung zeitgenössischer Homerdeutungen im Sinne einer solchen 'Systematik' etwa zwischen einem 'ethischen' und einem 'kritischen' Zugang differenziert; dies entspräche auch kaum dem Wesen der antiken Homerkommentierung, die zwischen dem philosophisch-ethischen und dem kritischen Interpretationsansatz keineswegs scharf unterschied.

II. Ethische Exegese Das Verhältnis der Protagonisten in der Aeneis zu den Hauptfiguren der beiden homerischen Epen wird von einer dreifachen Beziehung zwischen der Aeneishandlung und den entsprechenden Abläufen ihrer epischen Modelle bestimmt: Einerseits ist das von Vergil geschilderte Geschehen gewissermaßen 'historische'72 Fortsetzung der Ereignisse in der Ilias bzw. eine ebenso historische, jedoch als gleichzeitig ablaufend gedachte Entsprechung zu denjenigen der Odyssee; hierauf verweisen zahlreiche direkte Erinnerungen an Figuren des Ilias- und Odysseegeschehens bzw. unmittelbare Begegnungen des Aeneas mit ihnen. Ebenso noch im Vordergrund der epischen Handlung bedeuten zum zweiten die kriegerischen Ereignisse in Latium gleichsam eine Wiederholung der Ereignisse vor Troja. So kündigt die Sibylle Aeneas an, er werde in Latium einen alius Achilles antreffen (6,89)73, behauptet Turnus, in der Nachfolge der Griechen vor Troja würden die Latiner die trojanischen Eindringlinge ein zweites Mal besiegen (9,140ff.). Schließlich die dritte und für eine tiefere Deutung der Aeneis wichtigste Beziehung: Zwischen den Irrfahrten des Aeneas und den Leiden des Odysseus besteht im Hinblick auf die Grundthematik der Heimkehr unter großen Mühen ebenso eine 'innere' Entsprechung wie zwischen den Kämpfen in Latium und denjenigen vor Troja; wie ihr Ausgang zeigt, handelt es sich auch hier um eine 'Wiederholung' der Kämpfe vor Troja, jedoch - anders als die erwähnten direkten Referenzen etwa des Turnus auf das Iliasgeschehen suggerieren - mit verkehrten Frontstellungen, indem die einstigen Verlierer nun den Sieg davontragen. Speziell diese innere Beziehung zwischen zweiter Aeneishälfte und Ilias hat Knauer treffend durch den Begriff „Umkehrung" gekennzeichnet. Hieraus ergibt sich die in der Ähnlichkeit der Abläufe und Grundthemen liegende strukturelle Beziehung, die, wie Knau-

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Das Prädikat ist hier und im folgenden nur auf das zeitlich-kausale Verhältnis der Eposhandlungen in der dichterischen Fiktion zu beziehen und nicht mit Knauers Aussage (1964, 355; vgl. 1981, 889) zu verwechseln, Vergil habe „Vorgänge und Gestalten der homerischen Epen offensichtlich als h i s t o r i s c h e Wirklichkeiten verstanden [Hervorhebung von mir]", der nur eingeschränkt zuzustimmen ist (s.u. Anm. 74). Zur Interpretation dieser Stelle s. S. 192 Anm. 540; zu der Verbindung Turnus-Achill s.u. S. 192.

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II. Ethische Exegese

ers Analyse ergeben hat, die 'kontaminierende' Imitation beider homerischer Epen in der Aeneis entscheidend bestimmt hat74. In Entsprechung hierzu ist der Führer der Trojaner in der Aeneis zunächst identisch mit dem Aineias der Ilias, tritt zum zweiten als Anführer der Trojaner als 'Erbe' Hektors an dessen Stelle und erfüllt schließlich strukturell die Funktion des odysseischen Odysseus wie des Achill der Ilias; die letztere, innere Beziehung ist schon im Proöm angedeutet und wird im folgenden durch zahlreiche Hinweise stets in Erinnerung gehalten. Ebenso bezeichnet sich sein Gegenspieler Turnus als einen zweiten Achill (und Menelaos), während er doch zugleich vom Beginn des maius opus an strukturell klar die Nachfolge des homerischen Hektor antritt75. Damit stehen hinter diesen beiden zentralen Figuren (wie auch hinter einer ganzen Zahl weiterer Personen) der Aeneis Leitgestalten der homerischen Epen, die auf diese Weise durch ihr bei Homer geschildertes Denken und Handeln indirekt zur Charakterisierung auch der vergilischen Gestalten, gleichsam als Typen dienen können. Dies ist zunächst eine Hypothese, die sich erst in der Einzelanalyse entsprechender Szenen verifizieren läßt, in jedem Fall aber von Vergil evoziert wird und, wie insbesondere die expliziten Bezugnahmen auf die homerischen Gestalten durch den Dichter klarstellen, keine moderne Konstruktion bedeutet. Die gefahrvolle, mühsame, schließlich aber durch Geduld und Ausdauer gemeisterte Rückkehr des Odysseus nach Ithaka, die Homer in der ersten Hälfte der Odyssee besingt, besitzt innerhalb der Aeneis ihre strukturelle Entsprechung in der langen Suche des Helden nach der Ur- und zugleich neuen Heimat Italien. Mit der Landung der Trojaner an der Tibermündung zu Beginn der zweiten Eposhälfte (7,35f.) ist der eigentliche 'odysseische' Teil der Aeneishandlung abgeschlossen; mit einem Binnenproöm, an dessen 74

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Aus dem Befund dieser inneren Beziehung hat Knauer (1964, 345ff., bes. 354ff.), Ansätze Pöschls und Büchners aufgreifend, die These entwickelt, Vergil habe die in den homerischen Epen geschilderten Vorgänge als „historische Wirklichkeiten" verstanden, die im Sinne einer 'Typologie' auf die Aeneishandlung eingewirkt hätten; zwischen Modell und schöpferischer Nachgestaltung bestehe so ein Verhältnis von Verheißung und Erfüllung, das in der Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament eine Analogie finde. Diese schon von Knauer nur mit Vorsicht geäußerte These, vor allem die von ihm behauptete Parallele zur christlichen Typologie hat berechtigte Kritik gefunden, s. etwa Galinsky 1981, 988ff. und jetzt Berres 1993, 360ff. Im Verlauf dieser Untersuchung wird ein ebenfalls 'typologisches', jedoch andersgeartetes Verhältnis der vergilischen Aeneis zu den homerischen Epen herausgearbeitet werden. So wird etwa in der Turnusaristie des 9. Aeneisbuches das äußere Geschehen (Turnus brilliert wie Achill in der Ilias, vgl. 9,742), sobald es in die epische Großstruktur eingeordnet wird, durch diese gleichsam entlarvt (Turnus ist Angegriffener wie Hektor und wird wie dieser sterben).

II. Ethische Exegese

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Ende die Ankündigung eines maius opus steht, läßt der Dichter den 'iliadischen' Teil beginnen. Die strukturelle Odysseusrolle des Aeneas geht damit in eine ebenso zunächst strukturell vorgegebene Achillesrolle über. Diese dichotomische Auffassung der Aeneis war bereits fester Bestandteil der antiken Vergildeutung76 und reicht zweifellos bereits bis in augusteische Zeit zurück. Ein genauerer Blick jedoch kompliziert bereits dieses einfache strukturelle Verhältnis der Aeneis zu den beiden homerischen Epen und damit die Beziehungen der Protagonisten zueinander: Auch im Iliasteil findet sich noch eine Vielzahl motivischer und szenischer Anklänge an die Odyssee, ja ist die Handlung fast des gesamten 8. Buches, Aeneas' Besuch bei Euander in Pallanteum, dem Aufenthalt Telemachs in Pylos und Sparta (Od. 2-4) nachgestaltet77. Überhaupt setzen die Kämpfe des Aeneas in Italien den zweiten Werkabschnitt, wenngleich sekundär, nicht nur zur Ilias, sondern auch zur zweiten Odysseehälfte in Beziehung, in der sich der Held in Kämpfen gegen seine Gegner in der (alten) Heimat durchsetzen muß; das Freiermotiv verbindet so als Kern die zweite Odysseehälfte auch mit dem maius opus der Aeneis78. Die Odysseehandlung liegt demnach strukturell - und zumindest hierin im Gegensatz zur Ilias - der Aeneis als G a n z e m zugrunde79. Damit aber ist die Gestalt des Aeneas schon unter rein strukturellen Gesichtspunkten nicht nur in der ersten Eposhälfte, sondern im Gesamtwerk in Parallele zum Helden der homerischen Odyssee gebracht; in der zweiten Werkhälfte übernimmt Aeneas auf diese Weise sowohl den Part des Odysseus der Odyssee als auch des Achill der Ilias, im größten Teil des 8. Buches zudem noch die Rolle des bei Nestor und Menelaos rat- und hilfesuchenden Telemach der Odyssee. Andererseits bilden die Leichenspiele für Anchises im 5. Buch - von der Iliupersis im 2. Buch als einer direkten 76

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Vgl. VSD 21: [die Aeneis als] argumentum varium ac multiplex et quasi amborum Homert carminum instar, Serv. Aen. 7,1: ut et in principio diximus, in duas partes hoc opus divisum est: nam primi sex ad imaginem Odyssiae dicti sunt, ... hi autem sex qui sequuntur ad imaginem Iiiados dicti sunt', Macr. 5,2,6 iam vero Aeneis ipsa nonne ab Homero sibi mutuata est errorem primum ex Odyssea, deinde ex Iliade pugnas? quia operis ordinem necessario rerum ordo mutuavit, cum apud Homerum prius Iliacum bellum gestum sit, deinde revertenti de Troia error contigerit Ulixi, apud Maronem vero Aeneae navigatio bella quae postea in Italia sunt gesta praecesserit. Ebenso ist die Cacusepisode inmitten des maius opus eine Erinnerung an die odysseische Kyklopie und dementsprechend auch werkimmanent durch zahlreiche Motive mit der Polyphem-Episode des 3. Aeneisbuches verbunden (s. S. 332). Zu den Verbindungen zwischen Odyssee und Aen. VII-XII Knauer 1964, 239ff.; Cairns 1989, 177-214; vgl. auch Knauer 1981, 879. 884f. Vgl. Cairns 1989, 178. Knauer 1964, 334.

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II. Ethische Exegese

'historischen' Anknüpfung an das Iliasgeschehen einmal abgesehen - einen 'iliadischen Block' in der Odysseehälfte der Aeneis, insofern sie deutlich den Leichenspielen für Patroklos nachgestaltet sind. Damit aber erinnert Aeneas bereits jetzt deutlich an den Achill des 23. Iliasbuches80. Solche durch die Einzelszene gegebenen Überschneidungen und Überkreuzungen müssen selbstverständlich wiederum Auswirkungen auf die indirekte Charakterisierung der vergilischen Figuren mittels der homerischen Gestalten besitzen. Für sie ergibt sich damit eine ähnliche Struktur wie fur die Ereignisabläufe insgesamt: Im Hintergrund etwa der Gestalt des Aeneas stehen Odysseus und Achill als Leitfigur, doch in der Schilderung bestimmter, in die Einzelszene gefaßter Situationen durchbricht eine andere homerische Figur diese einsträngige Bezugnahme. Hieraus ergibt sich, zumal wenn man die oben erwähnten direkten ('historischen') Bezüge auf das Geschehen der homerischen Epen hinzunimmt, gewiß ein „lebendiges Bild" (Knauer 1964, 343): Durch solche vielfaltigen Reminiszenzen an die wichtigsten Figuren der homerischen Epen vermochte der Aeneisdichter die Protagonisten nicht nur als Einzelne mit einer Vielzahl homerischer Situationen zu konfrontieren, sondern in ihnen auch unterschiedliche Charakterzüge zu vereinigen81, ein Verfahren der Bündelung und Konzentration, das einer sehr deutlich auf die Adaptation beider homerischen Epen in einem einzigen Werk zielenden Imitationstechnik entspricht. Auf diese Weise können insbesondere die beiden menschlichen, dem fatum entgegensteuernden Hauptkontrahenten des Aeneas differenzierte Züge erhalten: Dido - die in den beiden homerischen Epen ohnehin keine strukturell fest vorgegebene Entsprechung besitzt - in der ersten, vor allem aber Turnus - unbeschadet seiner im wesentlichen dem Hektor der Ilias entsprechenden Rolle - in der zweiten Werkhälfte. Die berechtigte Annahme jedoch, daß Vergil solche Überlagerungen bewußt geschaffen hat, um sein Werk eben auch mittels des bewunderten Vorbildes verständlich zu machen und dieses zu übertreffen, verpflichtet auch zur Klärung mehrerer Fragen: Welche Auswirkungen etwa haben die Überschneidungen von Groß- und Substrukturen (und zusätzlich von struktureller und 'historischer' Anspielung) für die Einheitlichkeit bzw. Qualität des Charakters etwa des Aeneas und des Turnus? Lassen sich die Einzelszenen der jeweiligen Großstruktur möglicherweise deshalb integrieren, weil die Grundsituationen der mit ihnen verbundenen homerischen Figuren sich ihrerseits decken? Insbesondere der letzte Punkt fuhrt auf die Frage, die in einer Untersuchung zum Einfluß des antiken Homerverständnisses auf die 80

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Weitere 'iliadische' Elemente in der 1. Aeneishälfte hat speziell für das 1. Aeneisbuch Marion Lausberg (1983) nachgewiesen. Vgl. Knauer 1964, 343f. 354; van Nortwick 1980, 303.

1. Nisus und Euryalus

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Homerimitation in der Aeneis besondere Relevanz hat: Existierten speziell antike, Vergil bekannte Deutungen homerischer Figuren und Szenen, die ihre Integration in die Großstruktur der Aeneis dem Dichter gerade dort geeignet erscheinen lassen konnten, wo sie moderne Interpreten unter dem Aspekt der Großstruktur als 'Durchbrechungen' überraschen, während solche Überlagerungen etwa einem antiken Publikum auf der Grundlage eines gemeinsamen ethischen Grundverständnisses beider Szenen plausibel waren? Und schließlich: wie einheitlich wurden in der antiken Homerexegese die einzelnen homerischen Figuren aufgefaßt, wie intensiv wurden sie jeweils ausgedeutet? Wie eingangs dargelegt82, lassen die noch erhaltenen Zeugnisse antiker Homerexegese tatsächlich erkennen, daß eine ethisch-typologische Deutung homerischer Szenen, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten, weit verbreitet war; im Handeln der Figuren des Epos, in den verschiedensten Situationen menschlichen Daseins erblickten die Interpreten - mit zum Teil wertender Tendenz - Grundtypen menschlichen Verhaltens. Im folgenden wird also zu untersuchen sein, in welcher Weise die antike Deutung homerischer Gestalten und der mit ihnen verknüpften Szenen die Imitationsweise Vergils beeinflußt haben könnte und die Aufdeckung einer solchen Vermittlung zwischen Modell und Nachgestaltung das Verständnis der wichtigsten vergilischen Figuren vertieft. Eine Konfrontation vergilischer Homerimitation mit ihnen wird aufdecken, daß der Aeneisdichter ihnen zum Teil gefolgt ist, ja erst die ethische Interpretation den Bezug vergilischer zu homerischen Szenen vermittelt, der Aeneisdichter zum Teil aber auch seine Gestaltung ganz bewußt - und mit dem Ziel, den Kontrast spürbar werden zu lassen - von ihnen abgehoben hat.

1. Nisus und Euryalus Im Mittelpunkt des 9. Buches der Aeneis steht die nächtliche Expedition der jungen Trojaner Nisus und Euryalus. Die Trojaner befinden sich in einer schwierigen Lage: Aeneas ist abwesend, sucht in Pallanteum beim Arkaderkönig Euander Unterstützung fur den Kampf gegen die Rutuler. Die Trojaner haben sich in ihrem Lager an der Tibermündung verschanzt, sind von den Rutulern umzingelt und haben weder die Möglichkeit zur Flucht noch zum offenen Kampf. Da erklären sich Nisus und Euryalus aus eigenem Antrieb bereit, das trojanische Lager nach Einbruch der Dunkelheit zu verlas82

Siehe o. S. 7.

II. Ethische Exegese

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sen und sich an den feindlichen Wachposten vorbei nach Pallanteum durchzuschlagen, um Aeneas über die gefährliche Lage, in der sich seine Leute befinden, in Kenntnis zu setzen und zur Rückkehr zu veranlassen (192f. 228). Ascanius, der während der Abwesenheit seines Vaters dem Rat der Trojaner vorsteht, billigt ihr Vorhaben (261f.) und stellt beiden hohe Belohnungen in Aussicht (263ff.); von ihm sowie von Mnestheus und Aletes erhalten sie die Ausrüstung für ihre Expedition (303ff.) und brechen sofort auf (308). Ihrer Mission ist jedoch kein Erfolg beschieden: Ohne nach Pallanteum zu gelangen, fallen sie, nicht ohne zuvor zahlreiche schlafende Gegner niedergemacht haben (324ff.), in die Hände eines von Volcens angeführten latinischen Reitertrupps (372ff.). Der Dichter würdigt den gemeinsamen Tod der beiden Freunde in besonderer Weise: In einer Apostrophe verspricht er ihnen ewigen Ruhm, wenn seinem Gesang nur Kraft beschieden sei (446ff.). Unter den neuzeitlichen Interpreten hat schon Ursinus erkannt, daß diese Episode ihr homerisches Vorbild besitzt sowohl in der Presbeia der Ilias, jenes (nächtlichen) Bittgangs also, durch den Phoinix, Odysseus und Aias auf den Rat Nestors und im Auftrag Agamemnons den vergeblichen Versuch unternehmen, Achill von seinem Zorn abzubringen und für den Kampf gegen die Trojaner zurückzugewinnen (II. 9,178-657), als auch in der Dolonie des 10. Buches, dem Spähergang des Odysseus und des Diomedes in das trojanische Lager im Auftrag des Achäerrats; auch dieser erfüllt nicht seinen eigentlichen Zweck, nämlich Aufschluß über die gegnerischen Pläne zu bringen (10,207ff.). Es gelingt den beiden jedoch, einen Späher der Gegenseite, Dolon, abzufangen, die thrakischen Bundesgenossen der Trojaner unter ihrem König Rhesos niederzumachen und mit reicher Beute in ihr Lager zurückzukehren. Zumindest der letztgenannte Zusammenhang zwischen homerischer Dolonie und vergilischer Nisus-Euryalus-Episode ist bereits den antiken Vergilinterpreten deutlich geworden: Nicht erst Macrob (5,2,15; vgl. 5,9,5-11) und Servius (zu Aen. 9,1), sondern schon der Verfasser des Ibis vergleicht die nächtliche Expedition des vergilischen Freundespaars mit derjenigen bei Homer: Ib. 625

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84

qualis equospacto, quos fortis agebat Achilles, acta Phrygi timido est, nox tibi talis eat. nec tu quam Rhesus somno meliore quiescas, quam comites Rhesi tum necis, ante viae, quam quos cum Rutulo morti Rhamnete83 dederunt impiger Hyrtacides Hyrtacidaeque comes*4.

Vgl. Aen. 9,325ff.

Vgl. Aen. 9,177ff. (Nisus) Hyrtacides .../(...)/ et iuxta comes Eutyalus (etc.)

1. Nisus und Euryalus

25

Die Homerimitation Vergils gerade in dieser Episode wurde demnach von seinem antiken Publikum wohl bemerkt. Daß Vergil in der nächtlichen Expedition von Nisus und Euryalus Presbeia und Dolonie der Ilias nachgestaltet hat, zeigen vor allem die strukturellen Entsprechungen zwischen der bedrängten Lage der Trojaner innerhalb ihrer Mauern vor und nach der Expedition (nämlich bis zur Ankunft des Aeneas zu Beginn des 10. Buches) und der entsprechenden Situation der Griechen am Ende des 8. und zu Beginn des 10. und 11. Iliasbuches (und darüber hinaus) sowie die Nähe des Motivs für die Expedition der beiden jungen Trojaner zu dem Ziel von Presbeia und Dolonie: alle drei Unternehmungen suchen Befreiung aus der prekären Lage der Belagerung zu erreichen, die durch die Abwesenheit des Hauptkämpfers entstanden ist85. Im einzelnen wird die Imitation der Dolonie im Zusammenhang der Aeneis durch den Anbruch des nächsten Tages begrenzt, vgl. Aen. 9,459f.: et iam prima novo spargebat lumine terras / Tithoni croceum linquens Aurora cubile mit II. 11,1 f. Ήαχ: δ' έκ λεχέων παρ' άγαυοΰ Τιϋωνοΐο / ορνυϋ', ϊνα άϋανάτοισι φόως φέροι ήδε βροτοΐσι86. Der Aufbruch der Jünglinge in der Aeneis (9,308ff.) entspricht dem des Odysseus und des Diomedes (II. 10,272f.). In dieser starken Reduzierung der homerischen Vorbildszene (von 308 auf 151 Verse87) unter Einbeziehung ihrer wichtigsten Motive, wie unten zu zeigen sein wird, ist ein markantes Beispiel für die Straffung des homerischen Modells durch Vergil zu greifen88. Dies gilt umso mehr, als die Vorbereitung der 'vergilischen' Dolonie (184-313, von der Entwicklung der Idee durch Nisus gegenüber dem Freund bis zum Aufbruch der beiden) neben den wichtigsten Punkten der ersten Hälfte des 10. Iliasbuches, die die eigentliche Dolonie vorbereiten (also vor allem die ausgedehnte Nyktegoria erst zwischen Agamemnon und Menelaos, dann zwischen ihnen und den anderen Griechenfüihrern), auch noch wesentliche Motive der Presbeia verarbeitet: So entspricht der Katalog der Geschenke, die Ascanius dem Nisus zusagt (Aen. 9,263-271), der Achill von Agamemnon versprochenen Entschädigung (9,121-156), und in der impliziten Aufforderung des annis gravis atque animi maturus Aletes an Ascanius, den beiden Jünglingen eine Belohnung in Aussicht zu stellen, die ihres Ruhmes würdig sei (254ff.), ist eine Reminiszenz an II. 9,113 zu sehen, 85

86 87 88

Die Gleichartigkeit dieser Rahmenbedingung läßt freilich die Verschiedenheit ihrer Begründung umso deutlicher hervortreten: Achill fehlt den Seinen aus eigensinnigem Zorn und bewirkt durch ihn erst die gefahrliche Lage, Aeneas ist abwesend, um die Gefährten durch Hilfe von außen aus ihr zu befreien; vgl. Heinze 1914, 178; Knauer 1964, 281. Vgl. Knauer 1964, 266ff. Vgl. Knauer 1964, 267 Anm. 2. Zu Vergils Verfahren der Konzentration homerischer Zusammenhänge allgemein Knauer 1964, 334ff.

II. Ethische Exegese

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wo Nestor Agamemnon rät, den Achill mit Geschenken und freundlichen Worten zu versöhnen89. Daneben verarbeitet Vergil, wie noch zu zeigen sein wird90, in der Geschenkzusage des Ascanius die Aussetzung der Belohnung für Dolon durch Hektor in der Dolonie (II. 10,303ff.) und vereinigt so beide homerischen Szenen in einer einzigen91. Die einzelnen motivischen Entsprechungen vornehmlich zwischen homerischer Dolonie und vergilischer Nisus-Euryalus-Episode sind zahlreich, und die wichtigsten unter ihnen, an denen die Imitationsweise Vergils besonders charakteristisch hervortritt, werden im folgenden behandelt werden. Doch darf vorausgeschickt werden, daß schon ein flüchtiger Vergleich dieser Episode mit ihren homerischen Vorlagen eine auffallige Steigerung ihres Ethos und Pathos zeigt: Die im Epilog des Dichters auf den Tod der beiden jungen Kämpfer liegende Emphase, der innerhalb der Aeneis nur noch die auf den Tod des Pallas folgenden Apostrophe (10,507ff) zur Seite gestellt werden kann, und die Verknüpfung des eigenen dichterischen Nachlebens mit dem Ruhm der beiden von ihm besungenen Helden (446f.) findet keine Parallele in der homerischen Dolonie92. Sie ist innerhalb der gesamten Episode vorbereitet: Schon in ihrem Gespräch auf dem Lagerwall, wo sie Wache halten, treten Nisus und Euryalus in einen edlen Wettstreit der Sorge 89 90 91

Knauer 1964, 269. Sieheu. S. 5Iff Knauer (1964, 268f., vgl. die Listen) verweist im einzelnen auf Aen. 9,265 < II. 9,122: Dreifußkessel; Aen. 9,267-274 < II. 9,135b-140 + 149-156: die Waffen des Turnus/Gold und Erz für den Fall, daß die Trojaner/die Griechen siegen; dagegen steht hinter dem e i η e η Pferd des Turnus das von Hektor dem Dolon zugesagte Pferd A c h i l l s (II. 10,332f.), hierzu gleich. In den 12 Müttern jedoch (bis sex genitor lectissima matrum corpora, 272. 273a) sowie „dem, was Latinus an Land besitzt" (campi quod rex habet ipse Latinus, 274) wollte, wie Peerlkamp m.E. richtig gesehen hat, vielleicht eher ein Bearbeiter des vergilischen Passus eine Entsprechung zu den Geschenken der Ilias (9,139. 128-132 bzw. 149ff.) schaffen, während die „Gefangenen mitsamt ihren Waffen" (captivosque ... suaque omnibus arma, 273) gegenüber Homer offenbar seine Dreingabe war: Der mit praeterea (272) eingeleitete Passus zerstört die mit si vero (267) eingeleitete Klimax, an deren Zielpunkt Pferd und Waffen des Hauptgegners Turnus stehen müssen: sie sind nicht mehr zu steigern, wie der Blick auf die Ilias zeigt, wo Hektor dem Dolon als (einzige) Belohnung Pferd und Wagen Achills zusagt (s. hierzu femer u. S. 5Iff.). Vers 266 - ohne Parallele bei Homer - hat ebenfalls bereits Peerlkamp getilgt: Das Geschenk aus den Händen Didos wäre höchst ominös gewesen (so zuletzt Horsfall 1995, 172; anders Dingel zu 266).

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„If we compare it [sc. die Geschichte von Nisus und Euryalus] with the tenth Iliad ... the difference between Virgil's exemplary and Homer's merely narrative intention is quite apparent. What, however, gives Virgil's exemplum its emotional power is precisely the empathy, by which Virgil has made us (his readers) share the feelings of Nisus ... and share his own feelings as the sympathetic narrator" (Otis 1963, 388). Die gegenüber der Dolonie gesteigerte Emphase der Episode Vergils behandelt ausführlich Gransden 1984, 102ff.

1. Nisus und Euryalus

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umeinander (199ff.), ihr gemeinsamer Auszug ist der von Freunden, die einander in der Gefahr beistehen. Aletes schätzt die Bereitschaft der beiden so hoch, daß er sie kaum angemessen mit Geschenken würdigen zu können glaubt (252ff.), und Ascanius 'belohnt' Euryalus damit, daß er sich ihn als comitem casus ... in omnis (277) wählt. Auf die Sorge des Euryalus um seine Mutter, seine Bitte an Ascanius, sich an seiner statt um sie zu kümmern eine entfernte Reminiszenz an die von Vergil sonst nicht verarbeitete Homilie des 6. Iliasbuches - , reagieren die versammelten Trojaner, indem sie percussa mente dedere /...

lacrimas (292f.). Eine Entsprechung zu die-

sem Grundcharakter der vergilischen Episode findet sich in der homerischen Dolonie zunächst nicht; doch zielte die antike Kommentierung der entsprechenden Iliasszenen, wie sie in den Scholien überliefert ist, gerade auf die Verdeutlichung ihres ethischen Charakters: In der Sorge Agamemnons, in der Cohortatio Nestors, im Handeln des Odysseus und des Diomedes hatte Homer nach Auffassung seiner Interpreten ethische Exempla geschaffen. Es wird nun zu untersuchen sein, inwieweit diese antike Interpretation die vergilische Nachgestaltung der homerischen Dolonie mitbestimmt hat. Hierzu hat Schlunk (1974, 59-81) in seiner Behandlung der vergilischen Episode bereits einige wichtige Beobachtungen gemacht, die jedoch bei weitem nicht vollständig sind. Wichtige Aspekte werden im folgenden hinzutreten und das Bild noch erheblich erweitern und modifizieren.

a) Die nächtliche Belagerung der Trojaner durch die Rutuler Zu Beginn der Dolonie schildert Homer die schlaflose Sorge Agamemnons über das weitere Geschick seines belagerten Kriegsvolks: Während die übrigen Griechen in tiefem Schlaf liegen, blickt er vom Lager der Griechen aus über die Ebene hin auf das trojanische Lager und staunt, von sorgenvoller Furcht gequält (τρομέοντο δέ ov φρένες έντός, 10), über die zahlreichen Feuer und die nächtliche Ausgelassenheit der Belagerer, die sich am Syrinxund Flötenspiel erfreuen (1 Iff.). Agamemnon faßt daraufhin den Entschluß, Nestor aufzusuchen und mit ihm einen Plan zu entwickeln, um die belagerten Griechen aus ihrer prekären Situation zu befreien (18ff.). Die Scholien zu dieser Stelle legen besonderen Nachdruck auf das Bild, das der Dichter von den Gegnern der Griechen entwirft: In ihrem nächtlichen Lärmen, begleitet vom Spiel der (ungriechischen) Flöte und der Syrinx, das sie dem für die Kämpfe des nächsten Tages stärkenden Schlaf vorziehen, überhaupt ihrer Ausgelassenheit angesichts der schicksalsträch-

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II. Ethische Exegese

tigen Situation, in der sie sich befinden (έπι τοσούτων πτωμάτων), charakterisiere Homer voller Spott die Unwissenheit, fast: den Unverstand93 (αγνοία) von Barbaren. Ihrer Verantwortungslosigkeit stellte Homer nach Auffassung der Interpreten die planende Vorsorge (τό προνοητικόν) und die Zuversicht des Griechenführers gegenüber, der nach einem Ausweg aus der schlimmen Lage suche und trotz aller Schwierigkeiten nicht den Mut verliere: Schol. [T] 10,13: αύλών συριγγών τ' ένοπήν ομαδόν τ' ανθρώπων] (...) οΰχ 'Ελληνικοί οΐ αυλοί ... την βαρβάρων δέ άγνοιαν κωμωδεΐ [sc. Homer] έν τοιούτω καιρώ μουσικευομένων έπι τοσούτων πτωμάτων και μη μάλλον τω κοιμάσΟαι ποριζομένων ίσχύν εις την αΰριον. Schol. [AbT] 10,17: ήδε δέ οΐ κατά θυμόν άριστη φαΐνετο βουλή] το προνοητικόν αυτού και έν ταΐς συμφοραΐς δηλοΰται μή άποφάσκοντος τοις δεινοΐς. Diese Interpretation, nach der Homer den griechischen Heerführer und seine trojanischen Gegner in dieser Szene mit wertender Absicht (vgl. κωμωδεΐ) in der Verschiedenheit ihres Wesens charakterisierte und einander kontrastartig gegenüberstellte, entspricht einem Deutungsmuster, das sowohl in den Interpretamenten der Iliasscholien als auch vielerorts in der indirekten antiken Homerkommentierung Anwendung fand. Schon Heinze (1914, 270 Anm. 2) hat auf die besondere Aufmerksamkeit hingewiesen, die die antike Homererklärung der Charakterisierung von Griechen und Trojanern durch den Iliasdichter zuwandte. Namentlich im griechischen Bereich findet sich hierbei eine Fülle von Belegen für die Auffassung, Homer habe den kultivierten, vernunftbestimmten und disziplinierten Griechen in den

93

Das überlieferte άγνοια(ν) scheint an dieser Stelle, wenn nicht gar eine Verschreibung von άνοια(ν) vorliegt, nahezu synonym mit άνοια verwendet: Mit ersterem Begriff qualifizieren die bT-Scholien offensichtlich dasselbe Verhalten wie bei Hektar und Dolon in II. 10,323, wo ihnen άνοια vorgeworfen wird (s.o. S. 51). Die άγνοια der Trojaner jedenfalls kann hier kaum auf einen konkreten Tatbestand ziehen, den sie nicht „kennen"; an allen anderen Stellen des Scholiencorpus ([bT] 1,563; [A] 9,73; [A][T] 13,363; [bT] 17,4012; [bT] 17,695; [bT] 22,49; [A] 24,528) bezieht sich άγνοια auf einen konkreten Gegenstand und ist außer an der erst- und den beiden letztgenannten Stellen (wo er jeweils leicht zu ergänzen ist) mit dem Objektsgenitiv verbunden, άγνοια im Sinne von άνοια würde ferner ein gutes Komplement zu dem Begriff τό προνοητικόν (= ή πρόνοια) bilden, mit dem die Scholien, wie gleich gezeigt wird, das im Gegensatz zum Verhalten der Trojaner stehende Handeln Agamemnons umschreiben, άνοια schreiben insbesondere die exegetischen bT-Scholien wiederholt den Trojanern zu (außer zu der oben genannten Stelle etwa [bT] 10,392-3; [A] 18,310); ανόητος sind Dolon ([bT] 10,454-5) wie auch andere trojanische Kämpfer ([b] 13,376; [bT] 13,394).

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Trojanern ein Volk unbeherrschten, leidenschaftlichen und insofern 'barbarischen' Charakters gegenübergestellt94. Insbesondere Hektor, ihr Anführer, galt - bei ausdrücklicher Würdigung etwa seiner Vaterlandsliebe und seines unermüdlichen Einsatzes fur die Heimat95 - als Prototyp eines ungezügelten, immer wieder von seinen Leidenschaften beherrschten Menschen, der die ihm gesetzten Grenzen unter Mißachtung des göttlichen Willens überschreitet96. Im Hintergrund dieser Vorstellung einer derartigen kontrastierenden Darstellung des Charakters beider Völker durch Homer stand die in ihrer gemäßigten Form auch von der alexandrinischen Exegese vertretene und vielleicht von Aristarch mitgeprägte97 Auffassung, der Dichter übernehme mitunter die Rolle eines moralisierenden, wertenden Erzählers und ergreife als solcher Partei für die Griechen. Die Vorstellung dieser προσπάθεια 98 Homers stand in einem gewissen Gegensatz zu der aristotelischen, auch von der neuzeitlichen Philologie des 18. und 19. Jahrhunderts geteilten Auffassung Homers als eines objektiven Erzählers99. Die Homerinterpreten entwickelten diese These auf der Grundlage ihrer Interpretation einzelner Szenen der Ilias, die als paradigmatisch galten. Die Interpretation der oben zitierten Scholien zur Eingangsszene der Dolonie findet sich in ähnlicher Weise auch bei Dion von Prusa (2,53; 66,10) und bei Maximos von Tyros (22,2; 30,3), wo das von Homer geschaffene Bild der feiernden Trojaner in der Eingangsszene der Dolonie als Exemplum für Maßlosigkeit und schlecht angebrachte Sinnenlust erscheint. In der Deutung Dions kommt dabei ein weiterer Aspekt hinzu, der die oben vorgeführte Interpretation der Scholien ergänzt: Die Trojaner werden vom Dichter als Menschen charakterisiert, die - anders als die Griechen - auf der Höhe ihres militärischen Erfolges, ihres Glücks nicht Maß zu halten wissen:

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Belegstellen aus den Scholien finden sich gesammelt bei W. Dittenberger, Zu Antiphons Tetralogien. Hermes 40, 1905, 450-470; zur Sympathie Homers für die Griechen siehe ferner van der Valk (1953). Vgl. etwa Schol. [bT] II. 6,390; [bT] II. 12,243 (s.u. S. 168). Vgl. etwa Schol. [Τ] II. 12,231. 237-8. Seine so verstandene Charakterisierung durch Homer dürfte, wie noch zu zeigen sein wird (s.u. S. 161), erheblich auf die Tumusgestalt der Aeneis eingewirkt haben. Siehe hierzu Dittenberger 1905, 460ff.; v. Franz 1943, 39 mit Verweis auf W. Bachmann, Die aesthetischen Anschauungen Aristarchs in der Exegese und Kritik der homerischen Poesie, Nürnberg 1902. Richardson (1980, 273f.) weist freilich zu Recht daraufhin, daß diese Interpretation sich in den exegetischen bT-Scholien wesentlich häufiger (und dabei undifferenzierter und plakativer) als in den kritischen Α-Scholien findet. Schol. [bT] 16,793-804. Eine Definition der zuweilen parteiischen, subjektiven Erzählweise Homers gibt Plut. mor. 19c (vgl. Lausberg 1985, 1571).

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Dion Chrys. 2,53: και μέντοι και νικώντας τους 'Αχαιούς καΰ' ήσυχίαν φησι στρατοπεδεύειν· παρά δέ τοις Τρωσιν επειδή τι πλεονεκτεΐν έδοξαν, εύϋύς είναι δι' όλης της νυκτός ,,αύλών συριγγών τ' ένοπήν ομαδόν τ' ανθρώπων"· ώς και τοΰτο ίκανον σημεΐον αρετής ή κακίας, οΐτινες αν έγκρατώς τάς εύτυχΐας ή τούναντίον μεϋ' ύβρεως φέρωσιν. Eine solche kontrastierende Charakterisierung von Belagerern und Belagerten, wie sie der Iliasdichter nach Auffassung seiner antiken Interpreten beabsichtigt hatte, hat Vergil seiner Nachgestaltung dieser homerischen Szene zugrundegelegt, jedoch mit entscheidenden Abweichungen im Detail: Nachdem die Rutuler auf Turnus' Geheiß um das verschanzte Lager der Trojaner Feuerwachen aufgestellt und seine Tore mit insgesamt 2 x 700 Mann100 besetzt haben (159f£), verbringen diese die Nacht zunächst schlaflos, indem sie sich die Zeit, ins Gras gestreckt, mit Wein und Spiel vergehen lassen (164ff.), „a picnic atmosphere, hardly suitable for the time and place" (Hardie z. St.). Ihr Anführer Turnus hatte sie hierzu mit Hinweis auf die Großtaten des Tages ausdrücklich aufgefordert (quod superest, laeti bene gestis corpora rebus / procurate, viri, 157f.). Die Teukrer haben die vor ihrer Befestigung liegende Ebene samt ihren Belagerern (wie der Agamemnon der Ilias seine Gegner) vom Lagerwall101 aus im Blick (haec super e vallo prospectant Troes); unter ihnen hält auch Nisus Wache, der die Rutuler von seinem Posten aus beobachtet (188ff.). Diese Szenerie ist der homerischen ganz ähnlich, insbesondere das Verhalten der Belagerer entspricht in seiner Lässigkeit ganz demjenigen der ausgelassenen Trojaner in der Dolonie (vgl. II. 10,12f.). Im folgenden jedoch 100

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Zu dieser Abweichung von Homer, wo in eben dieser Stärke die G r i e c h e n als B e l a g e r t e ihr Lager bewachen, siehe S. 347. Schlunk (1974, 60) nimmt an, Vergil habe durch diesen ausdrücklichen Hinweis die alexandrinische Kritik an einer (leichten) Unklarheit der entsprechenden homerischen Szenerie vermeiden wollen: Die Interpreten zeigten Verwunderung darüber, daß Agamemnon von dem (durch eine Ummauerung den Blicken der Gegner entzogenen) Griechenlager aus die Ebene überblicken kann, vgl. Schol. [bT] 10,11: ότ' ές πεδίον τό Τρωικόν άϋρήσειεν] ή ότι έφ' ύψους ή βασιλική σκηνή, ή ότι Τρώες ,,έπι ϋρωσμω πεδίοιο,, [10,160], ένιοι δ ε τ ό ά θ ρ ή σ ε ι ε ν έπι του νου άκούουσιν (...) sowie Schol. [A] 10,12: θαΰμαζεν πυρά πολλά] πώς, φησίν, 'Αγαμέμνων έντός του τείχους υπάρχων έθαύμαζε τά πυρά, τήν άρχήν μηδέ βλέπων αύτά δια τοΰ τείχους, και ρητέον δτι βασιλεύς ΰψηλοτάτην είχε τήν σκηνήν, ίν' ευχερώς θεωρεΐν πάντα δΰνηται. Hierzu ist freilich zu bemerken, daß auch die Annahme der Interpreten, Homer suggeriere den Aufenthalt Agamemnons in seiner σκηνή, keineswegs zwingend ist, womit die gesamte Kritik überzogen erscheint. Deutlichere Belege dafür, daß der Aeneisdichter in seiner Imitation anderer homerischer Motive und Szenen die ästhetische Forderung der Alexandriner nach πιΟανότης durchaus berücksichtigt hat, werden besonders im zweiten Hauptteil der Untersuchung behandelt, s. bes. S. 282ff.

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weicht Vergil in einem markanten Detail von Homer ab. Die Belagerer der Aeneis bewahren ihre Wachsamkeit nicht sehr lange: Nisus beobachtet, wie ihre Lichter nach und nach verlöschen und sie von weinschwerem Schlaf überwältigt werden (lumina rara micant, somno vinoque soluti [vgl. 236] procubuere, silent late loca, 189f.). Auf ihrem nächtlichen Gang durch das Rutulerlager treffen Nisus und Euryalus ihre Gegner wenig später in der eingangs beschriebenen Verfassung an, wobei der Eindruck von Unordnung und mangelnder Disziplin noch verstärkt wird: passim somno vinoque per herbam / corpora fusa vident, arrectos litore currus, / inter lora rotasque viros, simul arma iacere, / vina simul (316ff.)102. Bei H o m e r dagegen hatten die beiden Späher Odysseus und Diomedes von Dolon, dem Spion der Gegenseite, erfahren, daß die Trojaner selbst noch wachten, nicht dagegen ihre Bundesgenossen - ihren Schlaf hatte der Trojaner damit begründet, daß ihre (schutzbedürftigen) Frauen und Kinder nicht in der Nähe seien (II. 10,420ff). Der Aeneisdichter nutzt demnach ganz offenkundig diese Differenzierung bei Homer und überträgt den Schlaf der thrakischen Bundesgenossen auf die Wächter selbst; er verleiht so seiner Schilderung nicht nur größere Deutlichkeit und Plausibilität, als dies bei Homer der Fall gewesen war, wo die völlige Dunkelheit und Stille während der Expedition der beiden Griechen (II. 10,276) - selbst wenn die fortwährende Wachsamkeit der trojanischen Belagerer, von der Homer nichts verlauten läßt, vorausgesetzt wird - in einer gewissen Spannung zu den Wachtfeuern und dem Lärm in 10,1 Iff. stehen103. Vor allem aber baut Vergil in seiner Wiedergabe offenkundig den moralisierenden Interpretationsansatz der antiken Homerkommentatoren aus: Der „Unverstand" der Rutuler macht diese unvorsichtig; nicht ihre Erschöpfung läßt sie in Schlaf sinken (so wie die Thraker der homerischen Dolonie: oi δ' εύδον καμάτω άδηκότες [471] - sie waren erst kurz zuvor im trojanischen Lager eingetroffen [II. 10,434]), sondern ihr übergroßer Weingenuß. Umgeben sich die Thraker mit ihren Waffen wohlgeordnet (εύ κατά κόσμον, 472), so heißt es von den vergilischen Rutulern simul arma iacere, / vina simul. Vergil behält demnach im Gang der Erzählung das von den Scholien hervorgehobene Motiv der törichten Lässigkeit bei, das die Belagerer charakterisiert, und verstärkt es noch (von Weingenuß war bei Homer auch in seiner Beschreibung der Ausgelassenheit der Belagerer keine Rede gewesen); gegenüber dem homerischen Vorbild für das

102 Ygj f e r n e r 9,336f. (Serranus) multo... iacebat / membra d e ο victus, wo wohl eher eine Metonymie für vinum denn für somnus vorliegt, s. Hardie zu 336-7. 103

In Aen. 9,35 lf. heißt es dann ausdrücklich, daß das letzte Licht erloschen ist: ibi ignem / deficere extremum ... videbat (sc. Euryalus).

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Aufeinandertreffen der Späher und ihrer schlafenden Belagerer schafft er so eine deutliche Kontrastimitation. Die hier behauptete Verbindung zwischen den thrakischen Bundesgenossen bei Homer und den Rutulern bei Vergil hat sehr deutlich auch der Verfasser der Ilias Latina gezogen: In seiner Bearbeitung der homerischen Dolonie überträgt er auf die Thraker unter ihrem König Rhesos wiederum eben die Züge der törichten, undisziplinierten Belagerer bei Vergil: Odysseus und Diomedes töten Rhesos somno vinoque sepultum (730)104 und seine Gefährten fusos... per herbam (731)105. In deutlichen Gegensatz zum Verhalten der rutulischen Belagerer tritt bei Vergil die Schilderung der trojanischen Seite: trepidi formidine (169), in angstvoller Erkenntnis ihrer gefahrlichen Situation, die sie in Parallele zum Agamemnon der homerischen Eingangsszene Dolonie bringt (vgl. II. 10,10), beobachten diese vom Lagerwall aus ihre Gegner, treffen Vorkehrungen für die Sicherheit ihres Lagers während der Nacht und lösen sich in der Wache ab (168ff.). Unter ihnen bewahrt (wie der Agamemnon der Ilias) insbesondere Nisus Wachsamkeit, analysiert jedoch zugleich - anders als der Atride - die Lage seiner Gegner und erkennt, daß die in ihrem übergroßen Selbstvertrauen begründete Lässigkeit den Trojanern einen Vorteil verschafft. Sie ist für ihn unmittelbarer Anlaß zur Entwicklung seines Plans, durch die Stellungen der Latiner hindurch nach Pallanteum zu Aeneas zu eilen (cernis quae Rutulos habeatfiducia rerum [...] percipeporro /quid dubitem et quae nunc animo sententia surgat, 188ff.). Der Agamemnon der Ilias dagegen war unter dem Eindruck der nächtlichen Ausgelassenheit seiner Gegner zunächst in große Verzweiflung und Furcht geraten und hatte sich erst in einem zweiten Schritt zum Handeln entschlossen; eben hierin hatten die Kommentatoren seine πρόνοια erblickt. Diese 'planende Vorsorge in der Krise' in den Augen der Scholiasten zeigt sich demnach noch weitaus deutlicher als beim Agamemnon der Ilias in Lageanalyse und Entwicklung des Expeditionsplans durch den Trojaner bei Vergil, der trotz der bedrängten Lage seiner Leute nicht den Mut verliert106. Hier erfüllt zudem ein junger 104 105 106

Vgl. Aen. 9,189. 236. 316, mit 2,265 kombiniert. Vgl. Aen. 9,317. Auch diese Verbindung zwischen der jeweiligen Gegenüberstellung von Belagerern und Belagerten bei Homer und nachdrücklicher noch bei Vergil hat der Verfasser der Ilias Latina fur seine Homerübertragung genutzt: er überformt die homerische Modellszene mit dem deutlicheren Kontrast bei Vergil: 684 cetera per campos sternunt sua corpora pubes induleentque mero curasque animosque resolvunt: [=Ende II. 8 + Aen. 9.164f. fusi per herbam / indulgent vino·, vgl. femer 9,224 cetera per terras ... anmilia /laxabant curas]

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Krieger die Aufgabe des königlichen Herrschers der Ilias, worin eine weitere Steigerung dieses von den antiken Homerinterpreten herausgearbeiteten ethischen Motivs liegt. Vergil vertieft den Gegensatz zwischen Trojanern und Rutulern auch im Fortgang der Handlung, und zwar abermals indem er ein homerisches Motiv auffällig variiert: In der Dolonie müssen die Besten der Griechen von Agamemnon und Menelaos erst zur nächtlichen Beratung zusammengetrommelt, Odysseus und Diomedes, die sich später freiwillig fur den Spähergang melden werden, gar erst aus dem Schlaf geweckt werden (137ff. 150ff.), wofür sie von Nestor getadelt werden (158ff.); Agamemnon fragt sich sorgenvoll, ob die Wächter ihre Aufgabe erfüllen (98ff.; vgl. 181ff.). Dagegen treffen Nisus und Euryalus, nachdem sie ihren Plan entwickelt haben, die ductores Teucrum primi (226) b e r e i t s v e r s a m m e l t an107; die Umstände ihres Zusammentritts bleiben dabei völlig im Hintergrund108. Ihre Wachsamkeit angesichts der gefahrlichen Situation (consilium summis regni de rebus habebant, 227) stellt Vergil in asyndetischer Parataxe besonders deutlich dem sorglosen Schlaf der Welt ringsum gegenüber: cetera per terras omnis animalia somno / laxabant curas et corda oblita laborum: / ductores Teucrum ... (consilium habebant) (224ff.)109. In dieser charakteristischen

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attoniti Danaum proceres discrimine tanto nec dapibus relevant animos nec corpora curant [=Beginn II. 9/Beginn II. 10 + Aen. 9,157 (in der Umkehiung) quod superest, laeti bene gestis corpora rebus procurate. viri, 169 trepidi formidine] Also Zeichen einer Vorausschau, die die antiken Interpreten in einem anderen Kontext der Ilias mit Bezug auf die Anfuhrer der Griechen positiv vermerkt hatten, die sich hier „nach Griechenart" zur Beratung zusammenfänden, auch ohne eigens dazu aufgefordert zu werden (Schol. [A] 17,248). Vgl. Heinze 1914, 217. Schlunk (1974, 61f). unterstreicht den Kontrast, den die (auf ihre Lanzen gestützt) s t e h e n d e n Teukrer Vergils (slant longis adnixi hastis, 229) zu den s i t z e n d e n Achäern Homers (10,202) bilden, und verweist auf das Serviusscholion z. St., das im langen Stehen jener ihr besonderes Verantwortungsgefühl zum Ausdruck gebracht findet (adnixi hastis] mira facies consilii: in rebus dubiis non sedent sed stant... ostendit iam eos diurna statione fatigatos), sowie im Hinblick auf das adnixi auf II. 8,494, wo Hektar bei seiner Rede allerdings einen Speer h ä l t (έγχος έχε), nicht, wie Schlunk suggeriert, sich auf ihn stützt, ein Detail, das Aristarch (Schol. [A] 8,493) an dieser Stelle für passender hielt als in II. 6,319, wo es ebenfalls mit Bezug auf Hektar erscheint. Dieses Stehen der Trojanerversammlung besitzt jedoch in einer anderen, sehr ähnlichen Situation der Ilias selbst eine Parallele: Im 18. Buch versammeln sich nach dem Ende der Kämpfe des Tages und zu Beginn der Nacht (vgl. 239f.) die Trojaner voller Sorge und Furcht, nachdem Achill erstmals - wenngleich indirekt - wieder in den Kampf eingegriffen hat (218ff.) und so für den kommenden Tag eine gefahrliche Wendung bevorzustehen scheint (vgl. Polydamas' Rede 253ff). Hier läßt nun Homer die Versammelten im Stehen Rat halten (246) und begründet dies mit ihrem τρόμος (247). Das bT-Scholion zu 245-9 hebt diesen Umstand

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Antithese Schlaf der Welt - sorgenvolle Wachsamkeit der Verantwortlichen verarbeitet Vergil den Beginn der homerischen Dolonie, wo der Schlaf der Achäer in Gegensatz zum Wachen Agamemnons gebracht ist: άλλοι μεν παρά νηυσιν άριστήες Παναχαιών / εΰδον παννύχιοι, μαλακω δεδμημένοι ΰπνω· / άλλ' ούκ Άτρείδην 'Αγαμέμνονα ( ... ΰπνος έχε) (II. 10,Iff.), vgl. cetera per terras ... animalia / laxabant curas etc. (Aen. 9,224ff.)110. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß in der Homerexegese der Maxime des ού χρή παννύχιον εΰδειν βουληφόρον άνδρα große Aufmerksamkeit galt, die der von Zeus gesandte Traum in II. 2,24 dem schlafenden Agamemnon tadelnd vorhält, dieser jedoch in der Eingangsszene der Dolonie verwirklicht, vgl. etwa den Kommentar des Eustathios zur Doloniestelle (785,29): έτι δέ διδάσκει πραγματικώς (sc. Homer) ώς ,,ού χρή παννύχιον εΰδειν βουληφόρον άνδρα". Diese zweifellos auch dem oben zitierten Scholion über die πρόνοια Agamemnons zugrundeliegende Deutung, nach der Homer hier ein Ideal fürsorglicher Wachsamkeit der Verantwortlichen und insbesondere eines Herrschers formuliert habe, könnte Vergil hier in der Entfaltung des Gegensatzes zwischen Rutulern und Trojanern wie in der Ausgestaltung weiterer zentraler Szenen der Aeneis, wie an anderer Stelle dieser Untersuchung gezeigt wird111, vor Augen gestanden haben. Das Motiv der vorausschauenden Wachsamkeit Agamemnons ist bei Vergil demnach doppelt verwertet: zur Charakterisierung des Nisus, der in der Handlungsökonomie primär dem Atriden entspricht, aber auch des Teukrerrats insgesamt. Die so von Vergil vorgenommene charakterisierende Gegenüberstellung von Rutulern und Trojanern zu Beginn der Nisus-Euryalus-Episode ist, wie der Vergleich mit den entsprechenden Motiven der Dolonie zeigt, sichtlich pointierter und breiter ausgeführt als im ganz ähnlichen homerischen Zusammenhang und steht hierin im Einklang mit der - einer allgemeinen Tendenz entsprechenden - Scholieninterpretation der Modellszene, die Homer eben diese Absicht kontrastierender Darstellung unterstellt hatte. Wie Homer nach Auffassung seiner Interpreten die 'Barbaren' durch ihre von άγνοια zeugende Ausgelassenheit 'verspottet' hatte, so charakterisiert

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hervor und weist darauf hin, daß die Trojaner sich kein Ausruhen vom Tagwerk gönnen man vergleiche die oben zitierte Antithese bei Vergil (224ff.). Die Ähnlichkeit der Situation im 18. Iliasbuch könnte von Vergil durchaus erkannt worden sein und ihn veranlaßt haben, dieses auffallige Detail in seinem Zusammenhang aufzugreifen, um durch die Erinnerung an die Situation des 18. Buches (Gefahr droht von Achill) die (vor allem vom 'achillesgleichen' Turnus ausgehende) Gefährdung der Trojaner im 9. Aeneisbuch zu unterstreichen. Vgl. Hardie z. St. Sie dürfte das wichtige Motiv der 'Schlaflosigkeit des Aeneas' (vgl. 8,26ff.) wesentlich mitbestimmt haben: siehe S. 145ff.

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Vergil die Rutuler mit deutlich abwertender Tendenz in ihrer Lässigkeit und insbesondere in ihrer Unbeherrschtheit gegenüber dem Wein, der sie bald in tiefen Schlaf sinken läßt; hierbei scheint der Hinweis Hardies (zu 9,189) wichtig, daß „in the historians such nocturnal drunkenness in the field is typically the mark of b a r b a r i a n (Hervorhebung von mir) enemies (e. g. Tac. Ann. 4,48,1)". Der Iliasdichter hatte die nächtliche Ausgelassenheit der Trojaner aus der Perspektive Agamemnons nur an äußeren Symptomen beschrieben, ohne etwas zu ihrer Ursache zu sagen, und erst die Scholien führten ihr Verhalten auf αγνοία zurück. Vergil dagegen nennt ausdrücklich den tieferen Grund des unpassenden Verhaltens der Belagerer, ihr übergroßes Selbstvertrauen (fiducia, 188), das mit dem ihres Führers Turnus korrespondiert. Dieser hatte sich kurz zuvor selbst durch das Prodigium der in Nymphen verwandelten Schiffe nicht beirren lassen und prahlerisch verkündet, ihn schreckten die responsa deorum nicht (9,134), Worte, die zuvor durch die Feststellung kommentiert wurden: at non audaci Turno fiducia cessit (126, vgl. 10,276)112. Diese fiducia, die die Rutuler und insbesondere Turnus beseelt, ist ein eher kritischer Wesenszug, der in der Aeneis häufig ein „nicht berechtigte(s) Selbstgefühl" bezeichnet, „das entweder moralisch fragwürdig ist oder durch den Ausgang der Sache widerlegt wird"113. Auch in dieser Unterstreichung des Gegensatzes zwischen einer durch das Prodigium als durchaus kritisch gekennzeichneten Situation, in der sich auch die Belagerer befinden, und ihrer unbeherrschten und unvorsichtigen Lässigkeit scheint die Darstellung Vergils in die Nähe zu den Scholien gebracht werden zu können, denn dort wird ebenfalls das Mißverhältnis zwischen der Gefährlichkeit der Lage (έτη τοσούτων πτωμάτων) und der άγνοια der Trojaner betont114. Was bei Homer allenfalls impliziert ist, von seinem Inter112 113

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Zu dieser Szene s.u. S. 163. Dingel zu 126. In 1,132 kennzeichnet fiducia die entfesselten Winde, die ihre Grenzen überschreiten, sich in Neptuns Herrschaftsbereich wagen und von ihm zurechtgewiesen werden. In 10,276 erscheinen fiducia und audacia des Turnus angesichts der Ankunft des Gegners eng verbunden, in 11,502 fühlt sich Camilla kraft ihrer fiducia in der Lage, sola gegen die feindliche Heeresmacht abzutreten (sie fallt später aus Unvorsicht durch Arruns). Ambivalent, wenn nicht ebenfalls eher negativ ist der Begriff in 2,162 verwendet (omnis spes Danaum et coepti fiducia belli). Nicht vergleichbar sind 2,75 (quae sit fiducia capto, sc. dem Sinon); 10,152 (humanis quae sit fiducia rebus / admonet, sc. Aeneas) Welche Bedeutung diesem Aspekt des Mißverhältnisses zwischen - von Vergil ja nicht grundsätzlich negativ bewerteter - weinfröhlicher Ausgelassenheit der Menschen und dem Ernst ihrer Situation zukommt, zeigt der Vergleich mit der in mancher Beziehung ähnlichen nächtlichen Szene des 2. Aeneisbuches, die der Iliupersis unmittelbar vorangeht (vgl. Hardie zu 9,189): somno vinoque sepultam stürmen die Griechen die Stadt; die Trojaner, die zuvor den Einzug des hölzernen Pferdes gefeiert hatten (248f.), verhalten sich insofern ähnlich sorglos wie die Rutuler des 9. Buches, doch ihr Fehlverhalten liegt hier nicht in ih-

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preten Dion jedoch stark hervorgehoben wurde, erscheint bei den vergilischen Rutulern neben ihrem übersteigerten Selbstvertrauen ausdrücklich als Motiv fur ihre Unvorsichtigkeit mit katastrophalen Folgen: laeti bene gestis rebus (157) lagern sie sich und geben sich Wein und Spiel hin, wissen also wie die homerischen Belagerer nach Auffassung Dions „auf der Höhe des Erfolgs" nicht Maß zu halten. Doch bei der bloßen charakterisierenden Gegenüberstellung von Trojanern und Rutulern beläßt es Vergil nicht: Hatte fur den Agamemnon der Ilias die nächtliche Ausgelassenheit der Gegner lediglich die Dringlichkeit gezeigt, über einen Ausweg aus der gefahrlichen Situation zu beraten, so läßt Vergil den jungen Trojaner aus der Analyse des Zustandes, in dem sich die Gegner befinden, unmittelbar seinen Plan entwickeln (190ff.). Anders als Homer motiviert er demnach auch die Entwicklung des eigentlichen Expeditionsplans mit dem Charakter der Gegner. Schließlich wird auch der Erfolg der Expedition ausdrücklich mit dem unvorsichtigen Weingenuß und folgenden tiefen Schlaf, wiederum also mit dem Charakter der Gegner motiviert (316ff. 336f.): Hatte den beiden Griechen bei Homer der tiefe (Erschöpfungs-)Schlaf ihrer Gegner ermöglicht, ein Blutbad unter ihnen anzurichten, so bietet den beiden Trojanern bei Vergil erst deren Undiszipliniertheit hierzu Gelegenheit115. Um das bisher Gesagte kurz zusammenzufassen: Die charakterisierende Gegenüberstellung von Rutulern und Trojanern zu Beginn der Episode ist deutlich vertieft und breiter ausgeführt als im ganz ähnlichen homerischen Zusammenhang, und sie entspricht in dieser Zuspitzung kaum zufallig der antiken Interpretation Homers, die diesen Punkt besonders hervorhob. Vergil motiviert darüber hinaus nun deutlich abweichend von Homer mit dem

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rer fiducia sui, sondern ilver menschenfreundlichen Leichtgläubigkeit, mit der sie Sinon aufgenommen haben und seiner List zum Opfer gefallen sind. Man sieht, wie Vergil in dem Einsatz dieses Motivs im 2. und 9. Aeneisbuch jegliche Stereotypie vermeidet. Hardie (zu 9,189) nennt eine mögliche ennianische Vorlage (ann. 288 Sk. = 292 V. nunc hostes vino domiti somnoque sepulti) fur dieses Motiv der Kriegsgegner, die nach übermäßigem Weingenuß in tiefen Schlaf fallen und so ihren Feinden einen Vorteil verschaffen. Nach einer Hypothese Skutschs (1985, 464 z. St.) stammt dieses Enniusfragment aus einer Rede des P. Sempronius Tuditanus; dieser fordert bei Liv. 22,50 die Soldaten, die sich nach der Schlacht bei Cannae in das kleinere Lager geflüchtet haben, auf, durch die feindlichen Linien hindurch, dum proelio, deinde ex laetitia fatigatos quies nocturna hostes premeret, Kontakt zu dem größeren Lager aufzunehmen. Da jedoch, selbst wenn die Annahme Skutschs zutreffend ist, die ennianische Szene nicht mehr rekonstruiert werden kann, vermag man über ihre Bedeutung für die Gestaltung der Nisus-Euryalus-Episode durch Vergil allenfalls zu spekulieren. Ich ziehe in dieser Besprechung nur die gesicherten Homerparallelen heran, zumal die Ennius-Imitation Vergils gegenüber der Homers ohnehin als sekundär anzusehen ist.

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Charakter der Gegner Entwicklung und Ausführung des Expeditionsplans, entwickelt aus ihm also ein für die Handlungsökonomie konstitutives dramatisches Moment116.

b) Die Nyktegoria Im zweiten Abschnitt der Nachtschilderung, der in Ilias und Aeneis die Planung der nächtlichen Expedition zum Gegenstand hat, weicht Vergil in der szenischen Komposition wiederum in auffalliger Weise vom homerischen Modell ab: Er läßt die Jünglinge Nisus und Euryalus während ihres Wachehaltens den Plan der nächtlichen Expedition selbständig entwickeln und sie dann dem schon zuvor zusammengetretenen Teukrerrat vortragen. Dieser billigt ihn nur noch, worauf die beiden Trojaner ihr Unternehmen sogleich beginnen können. Homer schildert dagegen breit den nächtlichen Zusammentritt der Griechenführer, ausgehend von der Sorge Agamemnons im Anblick der trojanischen Wachfeuer, und läßt erst in dieser Versammlung Nestor den Plan der nächtlichen Expedition entwickeln; erst dann finden sich in Diomedes und Odysseus zwei Freiwillige, die ihn ausführen. Dieser Versammlung auf griechischer Seite korrespondiert eine solche im trojanischen Lager, geleitet von Hektor. Vergil hat zu ihr keine Entsprechung geschaffen, da er seiner nächtlichen Expedition einen wiederum von Homers Dolonie abweichenden Verlauf gibt; in ihm geht die Rolle Dolons als Opfer, die ja Ergebnis der Nyktegorie auf trojanischer Seite ist, auf Nisus und Euryalus über, worauf später noch zurückzukommen ist. Die offenkundige Abweichung Vergils liegt zweifellos in seiner Absicht begründet, die Jünglinge Nisus und Euryalus einerseits als trojanische Helden, die durch ihr mutiges Handeln ewigen Ruhm erlangen, andererseits in ihrem Verhältnis zueinander als ideales Freundespaar zu charakterisieren. Im Gang der Erzählung ist dieses bereits in der Wettkampfschilderung des 5. Buches vorbereitet: Hier hatte Nisus non ... oblitus amorum (334) beim Wettlauf seinem Gefährten den Sieg gesichert, indem er sich dessen Gegner in den Weg gestellt hatte (335ff.). Erst im Zusammenhang der Nachtszene des 9. Buches jedoch wird das Motiv dieser Freundschaft entfaltet: Sie bewirkt den gemeinsamen Aufbruch der beiden Trojaner in die Gefahr und 116

Auch bei Lucan dürfte die charakterisierende, wertende Gegenüberstellung zweier gegnerischer Heere von dieser Form moralisierender Homerinterpretation mitbestimmt worden sein, eine Beobachtung, die die oben ausgeführte Interpretation der vergilischen Szene stützen kann, wo von einer Kenntnis dieser Art von Homerexegese durch Vergil ausgegangen wurde; siehe hierzu S. 81.

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schließlich ihren gemeinsamen Tod. Gerade in diesem Motiv hat Vergil seine Gestaltung zunächst besonders deutlich vom homerischen Modell abgesetzt: Für den gemeinsamen Aufbruch von Diomedes und Odysseus scheint das persönliche Verhältnis zwischen beiden Kämpfern zunächst unerheblich. Nisus und Euryalus verkörpern in der Aeneishandlung das ideale Freundespaar schlechthin und entsprechen hierin, blickt man auf die Ilias, zunächst Achill und Patroklos, wie schon die antiken Vergilinterpreten erkannten117; das homerische Rachemotiv (Achill tötet Hektor wegen Patroklos) greift Vergil in der Aeneis strukturell zwar primär im Zusammenhang mit der Tötung des Turnus (=Hektor) durch Aeneas (=Achill) auf, durch die der Trojaner am Schluß des Epos den Tod seines Schützling Pallas (=Patroklos) rächt, wobei - abweichend von Homer - das Motiv der pietas des Trojaners gegenüber dem Vater des Toten im Vordergrund steht. Zusätzlich aber ist das homerische Rachemotiv auch in der Tötung des Volcens durch Nisus gespiegelt, mit der dieser den Tod seines Freundes rächt (9,438ff.). Das Freundschaftsmotiv, das in der homerischen Dolonie zunächst keine Entsprechung zu finden scheint, stellt jedoch keine reine Kontrastimitation Vergils dar. Vielmehr schlägt auch hier die antike Interpretation der homerischen Dolonie, wie sie sich in den Scholien findet, in gewisser Weise eine Brücke zwischen Homer und Vergil. Sie dürfte den Aeneisdichter zu seiner Umgestaltung zumindest mitangeregt haben. Dies soll anhand des Vergleichs im folgenden betrachtet werden. Bei Homer faßt Agamemnon nach dem Blick auf die trojanischen Belagerer den Entschluß, Nestor aufzusuchen und mit ihm über einen Ausweg aus der bedrängten Lage zu beraten (17ff.), und rüstet sich für seinen Gang (21ff.). Parallel dazu (ώς δ' αΰτως, 25) verläuft die ganz ähnliche Tätigkeit seines Bruders: Auch Menelaos ist schlaflos vor Furcht und Sorge, auch er rüstet sich schließlich, um den Rat eines anderen einzuholen, jedoch nicht Nestors, sondern Agamemnons (25ff). Beide Handlungsstränge fuhrt der Dichter zusammen, indem er die Brüder auf ihrem Weg zusammentreffen läßt. Da heißt es von Agamemnon, daß er sich über die Begegnung mit dem Bruder freut (τω δ' άσπάσιος γένετ' έλϋών, 35). Da Agamemnon auf diese Weise mit Menelaos die nächtlichen Sorgen um das Wohlergehen der eigenen Leute teilt, kann er wenig später im Gespräch mit Nestor seinen Bruder gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, er überlasse Agamemnon alle Sorge und schlafe selbst (120ff), und verteidigt Menelaos gegenüber dem Alten i n Vgl. Ov. trist. 5,4,25f. te ... Menoetiaden, ... / te vocat... Euryalum ... suum. Siehe Dingel (Komm. S. 27), der ferner auf Hygin (257,13) verweist, wo Nisus und Euryalus dem Freundespaar der Ilias zur Seite gestellt sind.

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mit dem Hinweis, daß dieser lediglich auf die Initiative des älteren Bruders warte. Die so bei Homer angelegte Charakterisierung des Verhältnisses zwischen den Brüdern in dieser Situation äußerster Bedrängnis wurde von den antiken Interpreten besonders herausgearbeitet: Die Haltung Agamemnons gegenüber dem jüngeren Bruder galt ihnen als ein Exemplum idealer Bruderliebe (φιλαδελφία): Schol. [bT] 10,35: τω δ' άσπάσιος γένετ' έλϋών] εί γαρ άλλων έδεΐτο, πόσω μάλλον άδελφοΰ. Schol. [AbT] 10,122: οΰτ' οκνω εϊκων ουτ' άφραδΐησι νόοιο] φιλαδέλφως απολογείται ... ώστε τό δοκοϋν αμάρτημα εις έγκώμιον της πειθαρχίας περιίσταται. Schol. [Α] 10,123: άλλ' έμέ τ' είσορόων και έμήν ποτιδέγμενος όρμήν] ... άμα δε και τον φιλάδελφον εμφανίζει· οτι έγώ ύπέρ αύτοΰ πάντα ποιώ κάκεΐνος έκδέχεταί μου την όρμήν, οίον είναι δει νεώτερον άδελφόν προς πρεσβΰτερον.

Doch nicht nur in dieser Szene, sondern auch in mehreren andern Partien der Ilias hatte Homer nach Auffassung der Exegeten das Verhältnis zwischen Agamemnon und Menelaos in dieser Weise idealisiert, wobei der ältere für den jüngeren Bruder namentlich dann eintrat, wenn dieser sich in Gefahr befand oder sonst seine Unterstützung benötigte118. Diese Interpretation findet sich auch außerhalb der Iliasscholien etwa bei Plutarch (mor. 482-483 unter Verweis auf II. 10,122f.) sowie in der pseudoplutarchischen Homermonographie (2,185,3). Das Verhältnis der beiden Brüder in dieser Weise hervorzuheben, entsprach der Auffassung der ethischen Homerexegese, der Dichter habe in den beiden Epen die wichtigsten Grundtypen menschlicher Verhaltens- und Wesensformen und hierunter insbesondere auch zwischenmenschlicher Beziehungen in exemplarischer Weise geschildert. Diese φιλαδελφία Agamemnons bleibt im weiteren Verlauf der Doloniehandlung ohne weitere Bedeutung; lediglich in der von Nestor einberufenen Versammlung klingt das Motiv nochmals an: Diomedes, der sich zur Ausführung des Nestorplans freiwillig bereiterklärt hat und nun noch einen Begleiter sucht, wird von Agamemnon ausdrücklich dazu aufgefordert, unter den Freiwilligen (unter denen auch Menelaos ist) den Besten auszuwählen und nicht auf sein Ansehen Rücksicht zu nehmen, da er um seinen Bruder fürchtet, der nicht gerade einer der besten Kämpfer ist (240).

118

Vgl. Schol. [bT] 4,148; [bT] 4,223; [bT] 23,295; vgl. Schol. [bT] 3,95.

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II. Ethische Exegese

Vergil faßt nun das nächtliche Wachen des homerischen Brüderpaars und ihre Begegnung einerseits und den freiwilligen Zusammenschluß des Diomedes und des Odysseus für den Spähergang am Ende der Nyktegoria andererseits zusammen: in dem Gespräch zwischen Nisus und Euryalus und ihrem gemeinsamen Entschluß, ihren Plan auszuführen. In dieser Entsprechung liegt jedoch nicht der einzige - zunächst ja nur oberflächliche - Bezug zum homerischen Modell. Vielmehr ist das nach Auffassung der antiken Interpreten von Homer idealisierte Verhältnis zwischen den Brüdern in demjenigen zwischen den Freunden gespiegelt: Tut nach Auffassung der Interpreten Agamemnon „für den jüngeren Bruder alles", und heißt es ferner auch bei Homer ausdrücklich, daß er um sein Leben fürchtet, so gilt ebendies im Zusammenhang des nächtlichen Gesprächs auch fur Nisus in seinem Verhältnis zu dem jüngeren Freund Euryalus: Die Belohnung, die er für seine nächtliche Expedition erwarten kann, will er an den Freund weitergeben (194f.), zugleich versucht er, Euryalus von der Teilnahme an dem gefahrlichen Gang abzuhalten, und begründet dies u.a. mit dem geringeren Alter des Freundes, das vita dignior sei (212). Gleichwohl verwahrt sich Euryalus gegen diese Rücksichtnahme in der geradezu ungläubigen Frage mene igitur socium summis adiungere rebus, /Nise,fugis? solum te in tanta pericula mittam? (199f.). Als der ältere Freund ihn mit mehreren Argumenten zu überzeugen versucht, ihn doch allein gehen zu lassen, beharrt er schließlich auf seinem Entschluß, Nisus bei dem gefährlichen Unternehmen zu begleiten (219ff). Die antike Interpretation des Verhältnisses zwischen Agamemnon und seinem Bruder könnte Vergil also dazu angeregt haben, das Verhältnis des älteren zum jüngeren Freund über Homer hinausgehend in dieser Form auszugestalten. Die hier gezogene Verbindung zwischen dem Brüderpaar AgamemnonMenelaos und dem Freundespaar Nisus-Euryalus mag trotz der nachgewiesenen Parallelen zunächst verwundern. Sie scheint jedoch im antiken Homerverständnis eine Grundlage zu besitzen: Ps. Plutarch, der ganz überwiegend geläufige, auch andernorts nachweisbare Homerinterpretationen bietet, stellt dem idealen Brüderpaar Agamemnon und Menelaos das ideale Freundespaar Achill und Patroklos119 zur Seite; Homer charakterisierte nach seiner Auffassung beide durch identische Qualitäten - Treue (πΐστις) und Wohlwollen (εύνοια)120. Auf der Grundlage dieser antiken Interpretation, daß die beiden von Homer geschaffenen Idealtypen des Verhältnisses zwi119

Als ideales Freundespaar erscheinen Achill und Patroklos auch Plut. mor. 93e; Dion 74,28; Hygin. 257,2. 120 P s pi u t 2,185,3: αδελφών δέ εύνοιαν και π ΐ σ τ ι ν προς αλλήλους έν τω ' Αγαμέμνονι και Μενελάω, φίλων δέ έν Ά χ ι λ λ ε ΐ και Πατρόκλω δείκνυσι.

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sehen zwei Männern in ihrem sittlichen Kern übereinstimmen, vermochte Vergil in den Gestalten des Nisus und des Euryalus die charakteristischen Züge beider homerischer Paare zu vereinigen. Der epische Stoff bot dem Aeneisdichter weder ein eigentliches Pendant zu dem königlichen Brüderpaar noch auch zu der Freundschaft zwischen Achill und Patroklos (die Verpflichtung des Aeneas gegenüber Pallas beruhte im wesentlichen auf seiner pietas gegenüber Euander), die Aeneis aber wurde am zeitgenössischen Homerverständnis gemessen, das die vorbildliche Darstellung dieser beiden Formen idealer Beziehungen zwischen zwei Männern bei Homer schätzte und so von einem opus Iliade maius erwarten konnte, daß hierzu eine Entsprechung geschaffen wurde. In der sekundären Bezugnahme auf das homerische Brüderpaar bei der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den beiden jungen Trojanern dürfte auch der Grund dafür liegen, daß Nisus ausdrücklich als der ä l t e r e der beiden Freunde vorgestellt wird. In der Ilias ist dagegen Achill, dem im Hinblick auf das Rachemotiv Nisus entspricht, der jüngere der beiden Freunde (wie Menelaos der jüngere der beiden Brüder)121; im Hinblick auf das Motiv des unterschiedlichen Alters ist die Beziehung zum Brüderpaar Agamemnon-Menelaos also eindeutig enger. Ein Publikum Vergils, das Homer im Grammatikunterricht studiert und sich hier nach Aussage etwa Senecas (epist. 88,6) mit Fragen wie dem Alter Achills und des Patroklos beschäftigt hatte, bemerkte solche Feinheiten zweifellos. Dieser Aufmerksamkeit der grammatici entsprechen ausdrückliche Hinweise in den Scholien, daß Achill älter als Patroklos122 und Agamemnon der ältere der beiden königlichen Brüder sei123. Hinzuzufügen wäre schließlich noch, daß die Homerscholien in dem gemeinsamen Tod zweier Brüder ein beispielhaftes Zeugnis von φιλαδελφία sahen124. Auch hierin könnte ein Indiz dafür liegen, daß Vergil in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Nisus und Euryalus die (durch πίστις und εύνοια gekennzeichnete) ideale φιλαδελφία der zeitgenössischen Homererklärung vor Augen gestanden hat. Die enge Beziehung zwischen der Freundschaft, die bei Vergil Nisus und Euryalus verbindet, und dem von der Homerexegese idealisierten Verhältnis zwischen Agamemnon und Menelaos läßt sich noch zusätzlich stützen. Auch 121

Vgl. II. 11,787 Schol. [A] 23,94: δήλον δτι πρεσβύτερος Ά χ ι λ λ έ ω ς ό Πάτροκλος. 123 Schol. [Α] 10,123: ... εμφανίζει ... οίον είναι δει νεώτερον άδελφον προς πρεσβυτερον. 124 y g i Schol. [bT] 5,542 (hier mit Bezug auf ein von Aineias getötetes kretisches Brüderpaar): Έλληνικόν και φιλάδελφον τό συναποθνήσκειν τους αδελφούς; vgl. femer Schol. [bT] 16,320-2.

122

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II. Ethische Exegese

in der Wettlaufszene des 5. Buches klingt, wie oben bereits erwähnt, das enge Verhältnis zwischen den beiden Trojanern an, wenngleich zweifellos in einer Weise, die im Vergleich zu der exemplarischen Situation des 9. Buches weitaus leichteren, geradezu burlesken Charakter hat. Hier verhilft Nisus, selbst des Sieges verlustig, non tarnen Euryali, non ille oblitus

amorum

(334) dem Freund zum Sieg, indem er seinen Konkurrenten zu Fall bringt. Williams (Komm, zu 5,327) weist daraufhin, daß dieses Motiv in der homerischen Schilderung der Leichenspiele für Patroklos im 23. Iliasbuch, die Vergils Wettspielen zugrundeliegt, keine Parallele besitze. Für das Motiv der Wettkampfhilfe ist diese Beobachtung jedoch zu relativieren, wenn man das antike Verständnis einer Einzelszene innerhalb der Leichenspiele heranzieht: Agamemnon leiht dem Menelaos sein Pferd Aithe, damit dieser sich am Wagenrennen beteiligen kann (23,293ff.). Die Interpreten schenkten diesem Umstand große Beachtung: auf diese Weise ließ Homer, so meinten sie, die beiden gewissermaßen gemeinsam kämpfen und schuf damit ein Beispiel für φιλαδελφία: Schol. [bT] 23,295: Αΐθην την Άγαμεμνονέην] ϊνα τρόπον τινά κοινή άγωνίζοιντο, προς δέ τό φιλάδελφον (...). Ebenso aber kämpfen Nisus und Euryalus - in gleichwohl viel sinnfälligerer Weise - 'gemeinsam', und vielleicht nicht zufällig sucht Nisus dem Euryalus ebenso wie Agamemnon dem Menelaos als der ä l t e r e zum Sieg zu verhelfen125. Dem Dichter dürfte dieses Detail der homerischen Modellszene wohl vor Augen gestanden haben, doch erst die Heranziehung der Scholien bringt die offenbar bisher nicht bemerkte Reminiszenz zum Vorschein. Wenn es zutrifft, daß Vergil die von Homer nach Auffassung seiner antiken Interpreten idealisierten Beziehungen zwischen Agamemnon und Menelaos sowie Achill und Patroklos in der Freundschaft zwischen Nisus und Euryalus gleichsam vereinigt hat, so scheint Vorsicht geboten, die zweifellos vorhandenen - erotischen Aspekte zwischen den beiden Trojanern allzusehr in den Vordergrund zu rücken, wie dies moderne Interpreten getan haben126. Trifft die oben dargelegte Beobachtung zu, so dürfte ein an moralisierender Homerexegese geschultes Vergilpublikum in der Freund-

125

126

Anders als Nisus gelingt Agamemnon dies nicht (II. 23,526f.). Die Beziehung zwischen beiden Szenen vertieft das 'Listmotiv', das Vergil allerdings in umgekehrter Richtung einsetzt: So wie Menelaos durch Antilochos von seinem zweiten Platz verdrängt wird, κέρδεσιν, ού τι τάχει γε (515), so betrügt Nisus den Salius um seinen Sieg. So etwa (mit Vorsicht) Lee (1979, 109ff.) und jetzt Hardie (Komm. S. 3 Iff ).

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schaft zwischen Nisus und Euryalus eben auch eine Anspielung auf das homerische Brüderpaar erblickt haben. Einen klaren Zeugen hierfür greifen wir in Silius Italicus, dessen Imitationstechnik durch den gelegentlichen direkten (d.h. nicht primär durch Vergil vermittelten) Rückgriff auf Homer gekennzeichnet ist, wobei der Imitator jedoch das homerische Substrat seiner Szene mit vergilischer Sprache und Motivik überformt und hierbei häufig die vergilische Wiedergabe des homerischen Modells einfließen läßt. So erhebt sich Hannibal, der mit seinem Heer von den Römern unter Fabius belagert wird und daher schlaflos ist, von seinem Lager, rüstet sich und sucht seinen Bruder Mago auf (7,282ff.), um ihm seine Sorgen anzuvertrauen127: das homerische Modell, jenes nächtliche Zusammentreffen der beiden Brüder, tritt klar heraus. Im folgenden dann erinnert Silius jedoch ebenso deutlich an das nächtliche Gespräch zwischen Nisus und Euryalus, vgl. Sil. 7,308

cernis, ut armata circumfundare corona, et vallet clauses collectus miles in orbem. verum, age, nunc quoniam res artae. percipe porro quae meditata mihi;

Aen. 9,188 190

cernis quae Rutulos habeatfiducia rerum (...) percipe porro quid dubitem et quae nunc animo sententia surgat.

Die von Silius angeschlossene Weckszene (32Iff.) stellt dann wieder eine deutliche Reminiszenz an die Dolonie (II. 10,136-179) dar. Für den Vergilimitator hat demnach eine klare Parallele zwischen den beiden Paaren bzw. den entsprechenden Szenen der Ilias und der Aeneis bestanden, die ihm die Einbeziehung beider epischer Modelle in seine Nachgestaltung ermöglichte. Durch die Idealisierung der Freundschaft zwischen Nisus und Euryalus war es Vergil nun weiterhin möglich, das homerische Modell in einem entscheidenden Punkt zu übertreffen: In der Dolonie findet sich das Paar für den nächtlichen Spähergang zusammen, indem sich Diomedes aus eigenem Antrieb einen Gefährten ausbittet. Er begründet seinen Wunsch mit der dann geringeren Gefahr und erklärt, auch die Chancen, die sich auf einer solchen 127

Während Agamemnon und Menelaos bei Homer einander begegnen, trifft Hannibal den Bruder auf seinem Lager, schlafend: Silius kontaminiert diese Begegnung und den Besuch Agamemnons bei Nestor, den ebenso wie Mago seine Waffen umgeben (II. 10,75fF.); das weiche Lager Nestors (II. 10,72ff.) wird bei Silius allerdings zu einem Stierfell, auf dem Mago, nec degener, schläft (Sil. 7,292f.), vgl. Aen. 8,367f. Der Gang der beiden Brüder gemino ... gressu zu den Zelten der eigenen Leute greift dann wieder die eigentliche Begegnung zwischen den Brüdern der Dolonie auf.

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nächtlichen Expedition bieten, besser erkennen und nutzen zu können (10,222ff.). Auf trojanischer Seite dagegen macht sich Dolon ohne Begleitung auf den Weg ins gegnerische Lager. Die antiken Interpreten kontrastierten diese kluge Vorsichtsmaßnahme des Diomedes mit dem Verhalten Dolons, der sich aus übergroßem Selbstvertrauen keinen Gefährten wählt und so ins Unglück gerissen wird; wieder erschien Homer den Kommentatoren als wertender Erzähler, wenn er Dolon, den Trojaner, durch dessen Unvernunft (vgl. άνοήτως) charakterisiert und ihm diese zum Verhängnis werden läßt: Schol. [T] 10,223: μάλλον ύαλπωρή κα; ϋαρσαλεώτερον έσται] επιτήδειος ό τρόπος προς τό κοινωνούς έν τοις δεινοΐς αίρεΐσθαι, όπερ ού ποιεί Δόλων· διό και αποτυγχάνει. Schol. [bT] 10,319: έμ' ότρύνει κραδίη] ό μεν Διομήδης προσλαβέσϋαι συνεργόν έσπευσε [vgl. 10,220-226], και τό έπικίνδυνον τοΰ πράγματος και τό νεμεσητόν ύφορώμενος, ό δε άνοήτως μόνος όρμά. Dieses Motiv des Alleingangs übernimmt Vergil, setzt es jedoch in ganz anderer Weise ein, nämlich zur Charakterisierung des Nisus: er lehnt das Angebot des Freundes, ihn zu begleiten, ab, jedoch nicht etwa, weil er wie Dolon nach Auffassung der Homerexegeten allzu großes Selbstvertrauen besäße (übermäßige fiducia sui ist, wie oben gesehen, vielmehr Kennzeichen seiner Gegner und ihres Anführers Turnus), sondern um den jüngeren Freund vor der Gefahr zu schützen (so wie nach Interpretation der Scholien Agamemnon „für den jüngeren Bruder alles getan hatte"). Vergil deutet das Motiv des Alleingangs, dessen Bedeutung sich für die antiken Interpreten im homerischen Zusammenhang auf ein Zeichen von άνοια beschränkt hatte, vor dem Hintergrund des Freundschaftsmotivs um und verleiht ihm einen tieferen Sinn. Während sich Diomedes aus eigenem Antrieb und aus eigennützigen Motiven einen Gefährten in der Gefahr wählt, und zwar den klügsten, der sich bereitfindet (also Odysseus), bietet sich Euryalus umgekehrt seinem comes von selbst an128 (199f.), und zwar mit derselben Begründung, die die Scholien für die Suche des D i o m e d e s nach einem Gefährten nennen: Die Gefahr ist zu groß für einen einzelnen (mene igitur socium summis adiungere rebus, / Nise, fugis? solum te in tanta pericula mittam?, 199f.). Vergil läßt Nisus somit anders als Diomedes auf Begleitung verzich128

Hinter der Ausgestaltung des Motivs in dieser Weise könnte ferner ein Gedanke stehen wie der von Aristoteles an prominenter Stelle formulierte: ίέναι δ' άνάπαλιν ίσως αρμόζει προς μεν τους άτυχούντας ά κ λ η τ ο ν κ α ι π ρ ο θ ΰ μ ω ς (φίλου γαρ ευ ποιεϊν, και μάλιστα τους έν χρεία και [τό] μή άξιώσαντας- ά μ φ ο ϊ ν γαρ κ ά λ λ ι ο ν κ α ι ή δ ι ο ν ) (eth. Nie. 1171b20ff).

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ten, um Euryalus die Möglichkeit zu geben, sich ihm (anders als der homerische Odysseus) in zweifacher Weise freiwillig anzuschließen; das Motiv der Besorgnis, die Agamemnon für Menelaos empfindet, ist damit gegenüber Homer gleichsam verdoppelt: Nisus will aus Besorgnis um Euryalus allein gehen, Euryalus aus Besorgnis um Nisus den Freund nicht allein gehen lassen. Das Lob der Interpreten für Diomedes, das geläufige Verständnis der homerischen Szene konnte Vergil also als Folie für seine überbietende Imitation dienen, und erst die in den Scholien erhaltene gängige Deutung läßt diese Pointe eigentlich hervortreten. Euryalus begründet seinen persönlichen Entschluß, die Gefahren mit dem Freund zu teilen, ferner mit der Verpflichtung, die ihm seine Abstammung vom kriegstüchtigen Opheltes und seine eigenen Leistungen auferlegten (201-205). Vergil greift hier auf die Worte Agamemnons zurück, der Menelaos auffordert, Idomeneus und Aias beim Namen des Vaters, verbunden mit dem Lob der eigenen Taten, anzutreiben, einen Ausweg aus der schlimmen Lage zu suchen (II. 10,53f. 68f.). Die Kommentatoren erklären zu dieser Stelle, eine solche Anrede sei geeignet, eine beschämende Wirkung auf die Angesprochenen auszuüben, die sie zur Bereitschaft antreibe: Schol. [A] 10,68: πατρόϋεν έκ γενεής] δυσωπεΐ γαρ ύπόμνησις προγονικής αρετής καν πατέρων πράξεις έπαινουμεναι τό μή και αύτόν είναι μιμητήν εκείνων, άλλα καΟαιρετικόν της περι αύτον ευγενείας. Diesen weit über die Formulierung Homers hinaus entwickelten Gedanken hat Vergil ebenfalls in den Worten des Euryalus aufgegriffen, in denen dieser empört seinen Anspruch, den Freund in der Gefahr zu begleiten, mit seiner Abstammung von einem kriegstüchtigen Vater begründet, der ihn zu ähnlichen Taten herangezogen habe (non ita me genitor, bellis adsuetus Opheltes, Argolicum

terrorem inter Troiaeque labores / sublatum

erudiit,

201 f.). Abschließend sind noch zwei Motive des nächtlichen Gesprächs hervorzuheben, in denen Vergil ebenfalls noch einmal deutlich - und in kontrastierender Weise - an Homer erinnert: Nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden jungen Trojanern im allgemeinen läßt, wie oben bereits ausgeführt, an das Paar Achill-Patroklos denken; auch ihr eigentliches Gespräch weist auf eine ganz ähnliche Unterredung des Freundespaares aus der Ilias zurück, zu Beginn des 16. Buches, bevor Patroklos in den gefahrlichen Kampf zieht. Schon die Grundsituation des bevorstehenden Aufbruchs in eine (tödliche) Gefahr und der Umstand, daß es sich (wie sich zeigen wird) um die letzte Unterredung handelt, verbindet beide Szenen. Bei Homer nun ermahnt Achill den Freund, ihm durch seinen Einsatz Ruhm und Ehre zu verleihen,

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II. Ethische Exegese

auf daß er, Achill, von den Griechen (die geliebte Briseis und) prächtige Geschenke erhalte, und warnt Patroklos schließlich davor, seinen Auftrag, die Gegner von den Schiffen fortzutreiben, zu überschreiten und den zurückbleibenden Freund durch den so gewonnenen Ruhm zurückzusetzen (83ff.). In den exegetischen Scholien zu dieser Stelle wird eine scharfe Kritik an diesen Äußerungen Achills referiert (und anschließend eine längere Erklärung geboten, die die Anstöße mildern soll): Homer verleihe seinem Helden einen mißgünstigen Chärakterzug, wenn dieser seinem Freund verbiete, den vollständigen Ruhm zu gewinnen, auch sei es ungehörig für den Helden (άπρεπες), an seine Geliebte und die Geschenke zu denken: Schol. [bT] 16,83-96: βάσκανον ήθος ένϋάδε ύπόκειται ούκ έώντος τον φίλον άπολαμπρυνεσϋαι τέλεον. άπρεπες δε και τό παλλακίδος και δώρων μεμνήσΟαι [vgl. 85f.] [es folgen einige Erklärungsversuche, hierzu:] πώς ούν ούκ εκφέρει ταύτα προς τον Πάτροκλον, εϊπερ ούτως διενοεΐτο; vgl. Schol. [Τ] 16,129: πώς γαρ αν ούκ ήν φθονερός, μάχεσϋαι συγχωρών τω φίλω, δι' ων δέ άριστα μάχεσϋαι μέλλοι, μή συγχωρών; Diese Kritik ist umso auffallender, als die exegetischen bT-Scholien offenbar einer Tradition hellenistischer Homerexegese entstammen, die die Gestalt Achills als von Homer stark idealisiert auffaßte (so etwa Schol. [b] 2,692 άει δέ προς 'Αχιλλέα προσπαθώς έχει [sc. Homer])129. Vor dem Hintergrund dieser deutlichen Kritik an dem Verhalten Achills gegenüber Patroklos wird die Idealisierung des Freundespaares Nisus und Euryalus durch Vergil in dieser Szene besonders augenfällig: Nisus erklärt ausdrücklich, auf die Belohnungen - Ascanius wird ihm in der Unterredung kurz darauf Geschenke versprechen wie die Abgesandten Agamemnons bei Achill in der Presbeia der Ilias130 - fur seine Heldentat zugunsten des Freundes verzichten zu wollen; ihm genüge der Ruhm allein (194f.). Auf das Angebot des Euryalus, ihn zu begleiten, antwortet er betont, dem Freund den Ruhm nicht vorenthalten zu wollen: equidem de te nil tale (sc. daß Euryalus zugunsten des Ruhms auf sein Leben etwa nicht verzichten wollte) verebar, / nec fas; non ita me referat tibi magnus ovantem / Iuppiter etc. (207ff) 131 . Als Euryalus auf seinem Entschluß beharrt, ihn zu begleiten, läßt er dies dann ohne weiteres zu (219ff.). - Sowohl das Ruhmesmotiv als auch das Motiv der Geschenke - als Belohnung für den Einsatz im Kampf - sichern die Parallele zwischen beiden Szenen demnach zusätzlich und erscheinen dabei kontrastartig abgewandelt. Dem Aeneisdichter konnte die Kritik an der Hal129 130 131

Hierzu v. Franz 1943, 39. 42; Richardson 1980, 273. Siehe S. 5Iff. Siehe auch Horsfall 1995, 171.

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tung Achills gegenüber dem Freund als Hintergrund für seine - Homer überbietende - Charakterisierung der beiden jungen Trojaner und ihres Verhältnisses zueinander dienen; ein an Homer geschultes Publikum, das die Freundespaare miteinander verglich132, vermochte die im Ethos liegenden Unterschiede zwischen Modell und Nachbildung fraglos zu erkennen. Zieht man so die antike ethische Interpretation der genannten Motive und Szenen zu Beginn der homerischen Dolonie hinzu, so wird die Beziehung, die so nachdrückliche Charakterisierung der Freundschaft zwischen Nisus und Euryalus und das eigenartig Pathetische, das in ihrem Gespräch liegt, zum homerischen Modell enger: Vergil hat seine traditionelle Deutung zur Grundlage der Nachgestaltung gemacht, dabei jedoch erkennbar verfeinert, und verwendet hierbei besonders die (mitunter kritische) antike Interpretation des homerischen Modells als Hintergrund seiner kontrastierenden Imitation. Ahnlich deutlich wird der Einfluß der Homerkommentierung auf die Entwicklung des Plans der nächtlichen Expedition und seine Billigung bei Vergil, der in seiner Gestaltung wiederum deutlich von der Dolonie abweicht. Bei Homer versammeln sich die Griechenfuhrer außerhalb der Mauern, jenseits des Grabens, der um das Lager gezogen ist. Hier bittet Nestor um einen Freiwilligen fur den Spähergang in das Lager der Gegner, um ihre Pläne zu erfahren (204ff.); dieser könne unversehrt zurückkehren und werde als Belohnung größten Ruhm bei allen Menschen, Ehrengaben der anderen Führer und die ständige Teilnahme an den Mahlzeiten der Besten davontragen (10,21 Iff.). Mit offenkundiger Billigung heben die Scholien zu dieser Rede Nestors hervor, dieser gebe nicht etwa einen Befehl aus, sondern unterbreite einen Vorschlag und wähle hierbei mit Geschick keinen bestimmten unter den Anwesenden, um einerseits nicht den Eindruck zu erwecken, er nehme keine Rücksicht auf dessen Sicherheit, und andererseits die anderen nicht zu beschämen. Auf diese Weise appelliere er an ihren Ehrgeiz, an ihren freiwilligen Entschluß. Nestor sei auch darin geschickt, daß er die Gefahr herunterspiele und zugleich eine hohe Belohnung, größten Ruhm, in Aussicht stelle: Schol. [bT] 10,204-6: ώ φίλοι, ούκ αν δή τις άνήρ < - / έ λ ύ ε ΐ ν > ] (...) ύποϋετικώς δε άρχεται, ού προστακτικώς. εύ δε και τό μή ένα έκλέξασϋαι· έλύπησε γαρ αύτόν ώς καταφρονών της αύτοΰ σωτηρίας και τους λοιπούς ήσχυνε. φιλοτιμίαν ούν τοις άρίστοις εις αλλήλους έμβαλών τους άτολμους ούκ ήλεγξεν, άλλ' ήσυχίαν αύτοΐς 132

Siehe ο. S. 38 m. Anm. 117.

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άνεπίφϋονον δέδωκεν. εύ δέ και το αύϋαΐρετον· π ε π ί ö ο ι τ ο [204] γαρ ούκ έμοί, άλλ' έω α ύ τ ο ΰ / ü υ μ ω [204f.] και τ ο λ μ ή ε ν τ ι [205], ö έστι περιεκτικόν της προκειμένης πράξεως. Schol. [bT] 10,206: έλοι έσχατόωντα] (...) δια δέ του έ σ χ α τ ό ω ν τ α το άκίνδυνον ύπέφηνε της πράξεως, [Τ] και άντιπαρέβαλε „μέγα κέν οΐ ΰπουράνιον κλέος εΐη" [212], Schol. [bT] 10,211-2: άσκηϋής· μέγα κέν οΐ ύπουράνιον ] πανταχόθεν προτρέπεται, τω εύχερεΐ, τω άκινδυνω, τω εύκλεεΐ.

Zu gleicher Zeit sucht auch Hektor unter den trojanischen Führern einen Späher, der ihm Informationen über die Pläne der Gegenseite besorgt. Er nennt jedoch, bevor er den Auftrag formuliert, die Belohnung, nämlich einen Wagen und die beiden besten Pferde, die die Griechen besitzen (10,303ff.). Die Scholien kontrastieren die „Taktik", die Hektor in seiner Rede anwendet, mit der Nestors: Ersterer befehle, während letzterer einen Vorschlag unterbreite; Nestor biete als Geschenk etwas, das er besitze, Hektor dagegen eine den Gegnern erst noch abzujagende Beute133: Schol. [bT] 10,303-8: τις κέν μοι τόδε έργον < - εκ τε πυθέσϋαι >] ό μεν "Εκτωρ μετά προστάξεως τον ύπακουσόμενον τη χρεία καλεί, ό δέ Νέστωρ υποτίθεται [vgl. 204-10], και οί μέν α έχουσιν έπαγγέλλονται, ό δέ α ούκ έχει· και οί μέν δώρον [vgl. 213], ό δέ άτΐμως μισΟόν [vgl. 304],

Die Geschicklichkeit Nestors besteht nach Auffassung der Scholiasten also vor allem in seinem Appell an den Ehrgeiz der Kämpfer und ihre freiwillige Bereitschaft; die Belohnungen, die er zu bieten hat, sind demgegenüber sekundär. Hektor dagegen wirbt vor allem mit materiellem Anreiz und zeigt dabei seine Anmaßung, indem er kurzerhand davon ausgeht, daß Troja über die Griechen den Sieg davontragen werde. Dieses von den Scholiasten als entscheidend herausgehobene Moment des αύϋαΐρετον bestimmt nun ganz wesentlich die gegenüber Homer auf133

Eine ganz ähnliche kontrastierende Interpretation eines weiteren Redepaares findet sich in den Scholien zu der Kampfschilderung des 17. Iliasbuches; hier bemerken die Interpreten zu den (Kampf-)Paränesen Hektars und des Menelaos (220ff. 248ff.), durch die Gegenüberstellung der Äußerungen suche Homer den Unverstand (τό άνόητον) der Trojaner und die Einsicht (ή σύνεσις) der Griechen zu unterstreichen; Menelaos suche die Kämpfer durch die Erinnerung an die öffentliche Wertschätzung, die sie genössen, Hektor dagegen durch Versprechen von Geschenken und Speisen anzuspornen (Schol. [bT] 17,248-55 und 220-232). Die ethische Interpretation zu dem Redepaar der Dolonie steht also keineswegs isoliert da.

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fallig veränderte Konzeption Vergils134: Ohne von einem Führer der Teukrer aufgefordert zu werden, allein im Bewußtsein, daß Aeneas herbeigeholt werden müsse, faßt Nisus freiwillig und aus eigenem Antrieb den Entschluß, die günstige Situation zu nutzen und die Gefahr auf sich zu nehmen. „The sentiment, mens agitat mihi, is exactly that which Nestor expresses, but in the Aeneid, it springs from the heart, that it is truly αύϋαίρετον, as expressed in the scholia" (Schlunk 1974, 66). Unterstrichen wird die mutige und beherzte Geisteshaltung des jungen Trojaners noch durch seinen Verzicht auf jegliche materielle Belohnung zugunsten des jüngeren Freundes; ihm genügt anders, als dies Nestor in seiner Rede an die Griechenführer einkalkuliert, die facti fama, die so gegenüber dem ύπουράνιον κλέος (II. 10,212), dem eben noch materielle Vorteile zur Seite gestellt werden, wirkungsvoll gesteigert erscheint135. Taktische Klugheit beweist Nestor nach Auffassung der Scholien, wie oben gezeigt, auch in dem Herunterspielen der Gefahr, die der nächtliche Spähergang mit sich bringt. Das άκίνδυνον, mit dem Nestor angeblich wirbt, wird nach Auffassung der Interpreten zu einer wichtigen Voraussetzung für die Einleitung der Expedition. Es ist nun höchst bemerkenswert, daß Vergil weder, wie dies nach Auffassung der Scholiasten der homerische Nestor getan hatte, das Moment der Gefahr in der Entscheidungsphase ausläßt, noch auch, wie dies ebenfalls die Homerinterpreten hervorgehoben hatten, die freiwillige Meldung der beiden Trojaner durch die geringe Gefahr, der eine große Belohnung (fama) gegenübersteht, motiviert. Vielmehr kontrastiert er seine Darstellung geradezu mit der Interpretation der Scholien: In der Entwicklung seines Plans erwähnt Nisus zunächst das Moment der Gefahr nicht, Euryalus aber stellt das Unternehmen bereits als sehr riskant dar (199f.). Gerade in der Gefahr jedoch liegt für den jungen Mann ein besonderer Ansporn, denn sie verspricht demjenigen, der sie auf sich nimmt, große Ehre (205f. est hie, est animus lucis contemptor et istum / qui vita bene credat emi, quo tendis, honorem). Auch in der Replik des Nisus nimmt die Gefahr, die ihm und Euryalus droht, eine wichtige Stellung ein: 134 135

Den Zusammenhang hat bereits Schlunk (1974, 66) gesehen. Vor der Versammlung der teukrischen Führer bittet Nisus, bevor er seinen Plan entwickelt, seine Qualität nicht am jugendlichen Alter derer, die ihn vorbringen, zu messen (neve haec nostris spectentur ab annis / quae ferimus, 235f.). Hier liegt vielleicht ein Hinweis Vergils darauf, daß die Rolle des γέρων Nestor, der als ältester Führer der Griechen aufgrund seiner langen Lebenserfahrung und Klugheit den Plan der Dolonie entwickelt, auf den iuvenis Nisus übergegangen ist. Dem Aletes, der, als annis gravis atque animis maturus (246) in die Nähe Nestors gebracht, als erster auf den von Nisus entwickelten Plan reagiert, kommt innerhalb der vergilischen Szene die Aufgabe zu, ihn nicht nur zu billigen, sondern in angemessener Weise zu würdigen.

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II. Ethische Exegese

Sie wird für ihn zum Hauptgrund, die Begleitung des Freundes abzulehnen; die Bedrohung durch einen verhängnisvollen Zufall oder das Eingreifen eines Gottes (si quis in adversum rapiat casusve deusve, 211) erscheint ihm so real, daß er Verfügungen für den Fall seines Todes trifft; auch stellt er dem Freund den eigenen Tod deutlich vor Augen, der ihm droht, wenn er ihn auf der Expedition begleitet. Vergil läßt schließlich auch in der Besprechung der beiden jungen Trojaner mit dem Teukrerrat das Gefährliche, Riskante des Unternehmens deutlich hervortreten: Schon das Versprechen des Ascanius, der Euryalus fur den Fall seines Todes zusagt, er werde sich um dessen Mutter wie um die eigene kümmern, weist im Rahmen der Ökonomie Vergils auf das Scheitern der Expedition voraus; endgültig besiegelt wird es im voraus jedoch noch deutlicher durch den Hinweis des Dichters beim Auszug der Freunde: Ascanius gibt ihnen noch zahlreiche Aufträge füir den Vater mit auf den Weg, Aen. 9,312

... sed aurae omnia discerpunt et nubibus inrita donant136.

Die antike Kommentierung, wie sie in den Scholien überliefert ist, läßt die kontrastierende Imitationsweise Vergils demnach besonders deutlich werden: Der Aeneisdichter konnte die positive Würdigung der Nestorrede, die als Muster einer paränetischen Rede im Rhetorikunterricht gegolten haben mochte, im Hinblick auf das Moment der Gefahr als Folie für seine eigene Gestaltung verwenden: Mußte das άκννδυνον, das die Nestorrede angeblich so unterstrich, den Wert der freiwilligen Meldung des Diomedes notwendigerweise schmälern, so erhöht die ständige Betonung des Gefahrlichen, Risikoreichen in den Gesprächen zwischen Nisus und Euryalus untereinander und mit dem Teukrerrat ihre besondere Leistung.

136

Hierin liegt ein Vorverweis auf den Übergang der Rolle Dolons auf Nisus und Euryalus, die bisher die Funktion von Odysseus und Diomedes übernommen hatten: Auf Wunsch Dolons bekräftigt Hektar sein Versprechen, ihm den Wagen und die Pferde Achills zu geben, mit einem nichtigen Eid (έπιορκον έπώμοσε, 332). Die Scholiasten bemerken ([A] 10,332): και p' έπιορκον έπώμοσε] (...) τούτο δέ έξωθεν έπιπεφώνηται 'δρκον έπιορκον ώμοσεν', ούχ οίον έκουσίως, άλλα δια το άποτελεσθήναι τούτο, δπερ ώμοσεν. Damit hat nach ihrer Auffassung der Dichter die Mission Dolons für gescheitert erklärt. - Die Übertragung dieses Motivs auf die letzten Worte des Ascanius an die beiden jungen Trojaner ist mit dem Hinweis Vergils auf ihren 'Rollenwechsel' hinreichend motiviert. Es ist daher nicht nötig, in dem Vorverweis eine Disqualifizierung des Ascanius zu sehen, indem dieser mit dem Versprechen von Pferd und Rüstung des Turnus Dinge verspricht, die er nicht besitzt (so Di Cesare 1974, 162f.; vgl. Horsfall 1995, 173). Hierzu ferner gleich u. S. 52.

1. Nisus und Euryalus

51

Auch in der Bedeutung der Belohnung für den Mut der beiden Freiwilligen hebt Vergil seine Gestaltung auffällig vom homerischen Modell ab: Während der materielle Anreiz Diomedes' freiwillige Meldung zumindest mitbestimmt, liegt für Nisus (und Euryalus) das Motiv allein in ihrem Antrieb autpugnam aut aliquid ... invadere magnum (186), und erst n a c h d e m die beiden Jünglinge ihren Plan vorgetragen haben, stellt Ascanius ihnen reiche Belohnung für den Fall ihrer Rückkehr in Aussicht (263f.), deren Bedeutung im Verhältnis zu den Leistungen, die sie honorieren sollen, freilich schon zuvor von Aletes ausdrücklich relativiert worden war (252 quae vobis, quae digna, viri, pro laudibus istis /praemia posse rear solvi?). Vergil bewahrt auf diese Weise indirekt die Abfolge Appell an den Ehrgeiz der Kämpfer - Aussicht auf reiche Belohnung in den Worten Nestors, die die Scholien der Rede Hektors ausdrücklich positiv gegenüberstellen. In einem anderen Motiv wird die Homer überbietende Imitationsweise Vergils noch deutlicher, wenn die Homerkommentierung zum Vergleich herangezogen wird: Bei Homer bietet Hektor, wie schon erwähnt, einen Wagen und die beiden besten Pferde, die die Griechen besitzen, als Belohnung (305f.), Dolon, der sich freiwillig meldet, nötigt nun Hektor, ihm die Erfüllung des Versprechens zuzuschwören, wobei er die beiden besten Pferde, die Hektor in Aussicht gestellt hat, als die des Peliden interpretiert (32Iff.). Tatsächlich leistet Hektor diesen Schwur (329ff.), den der Erzähler sogleich als nichtig qualifiziert (332), womit er bereits auf das Scheitern des Unternehmens vorausweist. Nach Auffassung der Kommentatoren charakterisierte Homer in diesem Dialog die Verhandelnden durch ihre Torheit und Unvernunft, indem der eine Unmögliches fordere, der andere es ihm zuschwöre und somit noch größere Dummheit beweise: Schol. [bT] 10,323: οι φορέουσιν άμύμονα Πηλείωνα] ό μεν "Εκτωρ τους άριστους ίππους δώσειν ύπέσχετο, ούτος δέ τους Άχιλλέως αίτεΐ, είδώς τούτους άριστους, άμφοτέρων δέ την άτοπίαν και άνοιαν έδήλωσεν. Schol. [bT] 10,324: σοι δ' εγώ ούχ άλιος ] αίτεΐ μεν άδύνατα και περι αυτών άναγκάζει όμνυναι, ΰπισχνεΐται δέ πάντα, περι ών ουδέν είπε Διομήδης [vgl. 220-226], Schol. [Τ] 10,328: και οί ομοσσεν] μωρότερος του αιτούντος ό έπαγγελλόμενος και ό όμνύς ώς ήδη τά λάφυρα διαιρών. Dieser für die Trojaner charakteristischen, in der voreiligen Annahme des eigenen Erfolgs liegenden Vermessenheit stellte Homer nach Auffassung der Interpreten, wie aus den Scholien hervorgeht, auch sonst die 'fromme' Zurückhaltung der Griechen gegenüber, so etwa des Aias vor seinem Zweikampf mit Hektor (Schol. [bT] 7,192: δοκέω νικησέμεν] μέτριον και

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II. Ethische Exegese

Έ λ λ η ν ι κ ό ν τό ήϋος· ούκ ώς ό "Εκτωρ γαρ περν των άδηλων ύπισχνούμενος „ώς πυρι νήας ένιπρήσω [,.."])137. Vergil erinnert in der Aeneis direkt an die Vermessenheit des homerischen Dolon (und seine Bestrafung hierfür durch Diomedes!), und zwar in deutlichem Einklang mit der oben vorgestellten moralisierenden Interpretation der Scholien: So kommt er im Rahmen der Kampfschilderung des 12. Aeneisbuches im Zusammenhang mit dem Tod des Trojaners Eumedes auf dessen Großvater Dolon zu sprechen und bringt dessen Fall von der Hand des Diomedes implizit mit seiner Vermessenheit in Verbindung: A e n . 12,346

350

parte alia media Eumedes in proelia fertur, antiqui proles hello praeclara Dolonis, nomine avum referens, animo manibusque parentem, qui quondam, castra ut Danaum speculator adiret, ausus Pelidaepretium sibiposcere currus; ilium Tydides alio pro talibus ausis adfecitpretio nec equis aspirat Achilli.

Aber auch Vergils indirekte Bezugnahme auf dieses homerische Motiv, seine Verarbeitung des Motivs 'ein Besitz des stärksten Gegners als Belohnung' in der Nisus-Euryalus-Episode zeigt einen deutlichen Reflex auf die oben zitierte Interpretation, indem die von den Scholien hervorgehobenen negativen Aspekte des homerischen Dialogs in seiner Nachgestaltung vermieden sind: Ascanius sagt dem Nisus Pferd, Waffen und Rüstung des Turnus zu, die er ebensowenig schon besitzt wie Hektor Wagen und Pferde Achills; das homerische Vorbild war Vergils antiken Interpreten, wie Servius (zu 267) zeigt, deutlich. Ascanius erklärt jedoch ausdrücklich den trojanischen Sieg über die Latiner zur Vorbedingung: s i vero capere Italiam sceptrisquepotiri/contigerit

victori

etpraedae

dicere

sortem

... ( 2 6 7 f . ) ; d e r

andere Teil der Belohnung (263ff.) befindet sich bereits im Besitz des Ascanius. Das Motiv des besonders heftig kritisierten Schwurs, zu dem Dolon Hektor nötigt und den dieser leistet, fällt bei Vergil ganz weg138. 137 Ygi Schol. [bT] 8,182 άλαζονείαν βαρβαρικήν έχει διορίζεσθαι; Schol. [bT] 8,175. Siehe hierzu ferner S. 166f. 138

τό προ της

χρείας

Schlunk (1974, 68) verweist auf den Kommentar des Servius zu 267, der die Wahrnehmung der kontrastierenden Imitationsweise Vergils durch seine Exegeten bezeugt: vidisti quo Turnus equo] melior oeconomia: Nisum noluit inducere postulantem equum Tumi praemii loco, sed honestius facit ultro offeri, cum Homerus fecerit Dolonem Achillis currus improbe postulantem. Freilich vergröbert Servius den Zusammenhang ein wenig: Oben wurde erwähnt, daß Hektor die Belohnung ebenso wie Ascanius von sich aus anbietet; der Kontrast liegt eher in dem von Dolon geforderten S c h w u r . Die „bessere Ökonomie" Vergils beginnt bereits mit dem Umstand, daß Nisus und Euryalus den Plan selbständig entwickeln. - In der von Ascanius ausdrücklich genannten Vorbedingung erinnert Vergil

1. Nisus und Euryalus

53

Durch diese Veränderungen ist die 'gefahrliche Nähe' des Versprechens des Ascanius zu der Verblendung Hektors und Dolons, die die Homerexegese hervorgehoben hatte, vermieden und dennoch das Motiv der höchsten Belohnung, die größtem Mut zuteil werden soll, für die Nachgestaltung Vergils gesichert. Ebenso wie Silius Italicus hat auch S t a t i u s in der Thebais über die vergilische Vorbildszene des 9. Buches auf die homerische Dolonie zurückgegriffen, indem er b e i d e Kriegsparteien eine nächtliche Expedition aussenden läßt, die den Trojanern der Ilias strukturell entsprechenden Thebaner (10,17ff.), aber auch die ebenso wie die Griechen der Ilias glücklosen „Danaer" bzw. Argiver (10,262ff.)139. Beiden Expeditionen geht eine Beratungsszene einschließlich einer Paränese ihrer Anführer voraus, wobei Eteocles (2Iff.) deutlich dem Hektor der Ilias, der alte140 Adrast dagegen Nestor entspricht (188ff.). Interessant ist hierbei nun, daß Statius ganz auf der Linie der oben vorgeführten antiken Scholieninterpretation, viel stärker als Homer die beiden Reden in ihrem Ethos kontrastiert, über sie die Redenden bzw. ihr Heer gleichsam indirekt charakterisiert und hierbei in der Adrastrede wiederum die Motive der Nisus-Euryalus-Episode anklingen läßt: Eteocles spielt wie Hektor nach Auffassung der Scholiasten die Gefahr herunter (10,24f. 34), stellt Beute in Aussicht, als sei sie schon gewonnen (29. 34f.); als Führer der Expedition geht ein Kämpfer freiwillig, ein zweiter muß offenbar erlost werden (19). Adrast dagegen appelliert an Virtus (193) wie an das Ehrgefühl der Kämpfer (vgl. 209), weist wie der Nisus der Aeneis auf die sorglose Schläfrigkeit der Gegner hin (194f.), wirbt mit der Möglichkeit, gerechte Rache zu nehmen, und nicht mit Beute, sondern mit fama (215f., vgl. Aen. 9,195) und ist schließlich selbst bereit zu gehen (217ff). Adrast kann unter Freiwilligen wählen, die wie Nisus (Aen. 9,185) von göttlich inspirierter Ruhmgier erfüllt sind (220f.), und der Wettstreit der Zurückgesetzten, die ein Losverfahren fordern, erinnert an die Bereitschaft der Griechenkämpfer bei Homer (II. 10,228ff.), unter denen tatsächlich ausgelost worden war (während Eteocles durch das Los Teilnahme erzwingen mußte). Der Vergleich dieser Doppelszene der Thebais mit ihren beiden epischen Vorbildern zeigt zweierlei deutlich: Schon Statius scheint gesehen zu haben,

wohl zusätzlich an die Presbeia: Agamemnon verspricht Achill weitere Geschenke bzw. Beuteteile für den Fall, daß die Götter den Griechen die Einnahme Trojas gewähren (II. 9,135-140 [=277-282]). 139 Die Eingangsszene von Dolonie wie Nisus-Euryalus-Episode (Ausgelassenheit der Trojaner/Rutuler - Sorgen der Griechen/Aeneaden) verarbietet Statius schon in 8,218ff. 140 vgl. bes. 8,259ff., wo er in seiner sorgenvollen Wachsamkeit zugleich in die Nähe zum Agamemnon der Ilias gebracht wird.

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II. Ethische Exegese

daß zwischen dem Ethos des nächtlichen Gesprächs und des 'consilium' der Aeneis einerseits und den Grundgedanken der griechischen Nyktegoria bei Homer, die die antike Kommentierung herausarbeitete, andererseits ein enger Zusammenhang besteht. Entsprechend hat er die Motive der teukrischen Versammlung bei Vergil, die dort entsprechend der von Homer durch die einseitige Expedition abweichenden Konzeption nur 'ex negativo' angeklungen waren, in seiner getreueren Wiedergabe des homerischen Modells stark heraustreten lassen.

c) Die Expedition Auch die vergilische Konzeption der nächtlichen Expedition der beiden Jünglinge läßt in wesentlichen Motiven den Einfluß der moralisierenden Homerrezeption erkennen141. Das Handeln des Odysseus und des Diomedes auf ihrem gefährlichen Gang in das trojanische Lager und im Moment ihres großen Erfolges, als sie unter den schlafenden Gegnern ein Blutbad anrichten und reichliche Beute erlangen, galt den Interpreten als exemplarisch für die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens gegenüber Gefahr und Glück. Auf ihrem Weg durch die Ebene zum trojanischen Lager bemerkt Odysseus, wie ihnen Dolon entgegenkommt (339f.); daß gerade er dies tut, führten die Interpreten auf die ihm eigene Vorsicht zurück. Ihr stellte Homer nach ihrer Auffassung (implizit) das Verhalten des Diomedes gegenüber, der die mögliche Gefahr nicht beachtet, da es ihn zu einer großen Tat drängt: Schol. [bT] 10,339-40: τον δέ φράσατο προσιόντα < / διογενής Όδυσεύς >] ώς προνοητικός, μή και παρά των πολεμίων εΐη τις δόλος, ό δέ ώς καταφρονών των κινδύνων [Τ] και μέγα τι Οέλων διαπράξασδαι τους πολεμίους. Auf den Hinweis Dolons hin erreichen Odysseus und Diomedes die Stelle des trojanischen Lagers, an der sich die Thraker unter ihrem König Rhesos zur Ruhe niedergelassen haben, und richten ein Blutbad an142. Diomedes 141 142

Vgl. Schlunk 1974, 71ff. Damit haben die beiden Griechen Nestors Auftrag de facto nicht ausgeführt, die Pläne der Gegner auszukundschaften: Von Dolon erfahren sie lediglich die Aufstellung der trojanischen Heeresteile, ferner, daß die thrakischen Bundesgenossen unter ihrem König Rhesos zu den Trojanern gestoßen sind, ausgestattet mit wertvollen Waffen und Pferden, einer lohnenden Beute für die beiden Griechen (427ff.). Die Tatsache, daß Dolon die von Nestor gewünschten Informationen nicht gibt und diese zudem angesichts der fortgeschrittenen Nachtstunde ihren Sinn für die Griechen ohnehin verloren hätten, war für Aristarch Anlaß, die entsprechende Frage des Odysseus an ihn (409-411 = 208-210) zu athetieren (Schol. [A] 10,409); wie Schlunk (1974, 75) zu Recht hervorhebt, bemerkten die antiken Interpre-

1. Nisus und Euryalus

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wird mit einem Löwen verglichen, der eine Ziegen- und Schafherde überfallt. Während er auf weitere Taten sinnt, löst Odysseus die erbeuteten Thrakerpferde von ihren Standplätzen und treibt sie voran (498). Durch ein Pfeifen gibt er Diomedes das Signal zum Aufbruch, zusätzlich naht Athene ihrem Schützling und ermahnt ihn, an Rückkehr zu denken (509f ). Homer kennzeichnete nach Auffassung der Interpreten Odysseus in diesem Moment des Glücks, aber auch drohender Gefahr als besonnen und maßvoll, Diomedes dagegen als ehrgeizigen Jüngling, der sich nicht von seinem „Fund" (εύρημα), der sich bietenden Gelegenheit, Ruhm zu erlangen, trennen könne und erst von Odysseus und Athene gewarnt werden müsse: Schol. [bT] 10,503: ö τι κύντατον έρδοι] φιλότιμος γαρ ών και νέος δυσαπαλλάκτως έχει τοΰ ευρήματος. Schol. [bT] 10,509: νόστου δή μνήσαι] ότι δει μάλιστα έν ταΐς εύτυχίαις τό μέλλον σκοπεΐν και μή άπλήστως χρήσΰαι ταΐς εύτυχίαις. ότι δε τούτον εΐχεν 'Οδυσσεύς τον νουν, δήλον (...)

Dieses von den Homerinterpreten herausgearbeitete Motiv eines den jungen Helden beherrschenden, unkontrollierten Verlangens nach Ruhmestaten läßt Vergil bereits in der Eingangsszene der Nyktegoria anklingen, indem Nisus seinen Plan Euryalus gegenüber mit den Worten einleitet143: Aen. 9,184

dine hunc ardorem mentibus addunt, Euryale, an sua cuique deus fit dira cupido?

Deutlicher wird die Übernahme dieses Gedankens durch den Aeneisdichter kurz vor der 'Peripetie' der nächtlichen Expedition: Als die Jünglinge das gegnerische Lager erreicht haben, wütet Nisus unter den Gegnern impastus ceuplena leoper ovilia turbans / (suadet enim vesana fames) ... / ... fremit ore cruento (339ff), auch Euryalus incensus et ipse / ... perfurit

(342bf.). Dieses Löwengleichnis entspricht strukturell demjenigen der Dolonie, das die Kampfeswut des Diomedes unterstreicht; in dem Detail des Hungers als Triebkraft des Löwen scheint es jedoch primär eher eine Nachbildung desjenigen im 3. Iliasbuch, wo der Dichter die Kampflust des Menelaos ausmalt: II. 3,23

143

ώς τε λέων έχάρη μεγάλω έπι σώματι κύρσας, εύρων ή έλαφον κεραόν ή αγριον αίγα

ten demnach klar die Verschiebung des Handlungsmotivs. Sie findet sich, wie gleich zu sehen sein wird, auch in der Nachgestaltung Vergils und fuhrt die Peripetie der Episode mit herbei. Vgl. Schlunk 1974, 77.

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πεινάων· μάλα γάρ τε κατεσΰίει, εϊ περ άν αύτον σεύωνται ταχέες τε κύνες θαλεροί τ' αΐζηοί· ώς έχάρη Μενέλαος (...) Für die Homerinterpreten lag in diesem Passus des 3. Iliasbuches das Tertium comparationis in dem übergroßen Trieb (dem kämpferischen Ehrgeiz des Menelaos entsprach nach dieser Deutung der Hunger des Löwen), der das Tier wie den jungen Kämpfer ihre Umsicht vergessen und die Gefahr, in der sie sich befinden, ignorieren läßt; das Gleichnis veranschaulichte so nach ihrer Auffassung den inneren Zustand des Kämpfers. Hier zeigt sich eine Tendenz zu psychologischer Deutung homerischer Gleichnisse, die auch noch in anderem Zusammenhang von Bedeutung für die Betrachtung vergilischer Imitationstechnik sein wird144: Schol. [AbT] 3,25-6: εΐπερ άν αυτόν / σεΰωνται] ώσπερ ούν λέοντα παροξύνει λιμός εις άπερίσκεπτον κίνδυνον, οΰτω και νέον ανδρα πολεμίου ζήλος εις άνεκλόγιστον αγώνα προτρέπεται. In der entsprechenden Szene des 3. Iliasbuches bleibt dieses von den Interpreten herausgestellte Motiv unkontrollierter und somit gefahrlicher Kampfleidenschaft ohne Folge für den Fortgang der Handlung: Menelaos gerät in keinerlei gefährliche Situation. Eben dieses Moment aber läßt Vergil sehr deutlich anklingen, und zwar in einem Zusammenhang, den die oben genannte antike Interpretation des Verhaltens von Diomedes während des nächtlichen Späherganges für die Adaptation dieses Löwengleichnisses aus einem anderen homerischen Kontext nahelegen konnte: Denn ebenso wie nach Auffassung der Scholiasten der junge Menelaos und der junge Diomedes des 3. und des 10. Iliasbuches werden Nisus und Euryalus von ihrer Gier nach Ruhm und Beute (der vesana fames des Gleichnisses entspricht die dira cupido, die Nisus nach eigener Aussage zu dem Unternehmen antrieb) überwältigt und vergessen ihren ursprünglichen Plan: „Nisus has embarked not only on a dangerous mission, but has indulged as well in a wanton and unreasoned act of slaughter (άνεκλόγιστος άγων) and disregarded the danger which was soon to befall them (απερίσκεπτος κίνδυνος)" (Schlunk 1974, 79)145. Deutlicher wird die Übernahme der Interpretation in den 144 145

Siehe unten S. 220ff. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die fast wörtliche Wiederholung eines Teils des Löwengleichnisses in 10,723f. (impastus stabula alia leo ceu saepe peragrans / suadet enim vesana fames) (vgl. Harrison z. St.), womit Nisus in die Nähe des Mezentius gebracht wird. Schlunk (1974, 79) verweist ferner auf das Löwengleichnis zu Beginn des 12. Buches (4ff.), an dessen Abschluß die Versklausel fremit ore cruento (8) wiederkehrt; das Gleichnis macht die violentia des Turnus (9 haud secus accenso gliscit violentia Turnus) sinnfällig.

1. Nisus und Euryalus

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Scholien zu den Iliasstellen jedoch noch, als Vergil den älteren Nisus zur Besinnung kommen läßt; der Dichter läßt ihn eben dies im Unterschied zu seinem jüngeren Gefährten und auch zum Diomedes der Dolonie erkennen, ohne von einem Gefährten und durch göttliche Intervention zum Aufbruch gedrängt worden zu sein. Vergil nennt dabei die Erkenntnis des Jünglings, Maß halten zu müssen, die die Scholien an der Iliasstelle supplieren, ausdrücklich als Motiv fur seine Aufforderung an Euryalus, vom Morden abzulassen und weiterzuziehen, um den ursprünglichen Plan weiterzuverfolgen146, und geht in dieser Motivation der (allerdings zu späten) Umkehr sichtlich über das homerische Modell hinaus: sensit enim nimia caede atque cupidine ferri (354).

Nisus warnt Euryalus vor dem Licht des nahenden Tages (355f.) ebenso wie Odysseus den Diomedes bei ihrem gemeinsamen A u f b r u c h zum nächtlichen Spähergang (10,251ff.). An dieser Stelle nun läßt Vergil den Wendepunkt der nächtlichen Expedition eintreten, indem er ein homerisches Motiv in auffalliger Weise modifiziert: Bevor Odysseus und Diomedes aufbrechen, statten Thrasymedes und Meriones beide mit Waffen aus und geben ihnen als Kopfschutz je eine einfache, lederne Kappe (κυνέην) ohne Bügel und Busch (άφαλόν τε και αλλοφον) (10,257ff. 261ff.). Die Scholien erklären die Schmucklosigkeit der Fellkappen mit der erwünschten Tarnwirkung: Schol. [A] 10,258: ταυρείην άφαλόν τε ] (...) κατ' έπιτήδευσιν, ϊνα λανϋάνη. Schol. [Τ] 10,258: αλλοφον] προς τό λανϋάνειν (vgl. Schol. [b] 10,258)147

Euryalus folgt wie Diomedes zwar der Warnung des Freundes, reißt jedoch zuvor noch mehrere Beutestücke an sich und setzt sich selbst den Helm des Messapus auf: tum galeam Messapi habilem cristisque decoram / induit

(365f.). Diese galea ist mit jenem Schmuck verziert, den die Lederkappen des Odysseus und des Diomedes nach Auffassung der Scholiasten zum besseren Schutz der Späher n i c h t besitzen, einem prächtigen Busch, und besteht anders als die κυνέαι aus Metall. Indem Euryalus diese Beutestücke an sich nimmt und damit die ursprüngliche Mission, zu der er und Nisus aufgebrochen waren, ebenso wie Odysseus und Diomedes und wie schon beim Überfall auf die schlafenden Gegner aus den Augen verliert, schafft er sich anders als die homerischen Helden, deren Abweichen vom Nestorplan 146 147

Vgl. Schlunk 1974, 73. Diese Funktionsbestimmung der Scholien übernimmt Servius in seinem Kommentar zur gleich zu behandelnden entsprechenden Aeneisstelle, wie Schlunk (1974, 70) beobachtet: galeae sunt enim explorantum, sicut etiam Homerus ostendit.

II. Ethische Exegese

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ohne Konsequenzen bleibt148, sein eigenes Verhängnis: Spätestens die durch das Beutesammeln und das Aufsetzen das Messapushelmes bewirkte Verzögerung fuhrt zur Begegnung der beiden Trojaner mit dem latinischen Reitertrupp, angeführt von Volcens, der die beiden Jünglinge entdeckt, indem die galea des Euryalus die Strahlen des soeben aufgegangenen Mondes zurückwirft und ihn so verrät: Aen. 9,373

et galea Euryalum sublustri noctis in umbra prodidit immemorem radiisque adversa rejulsit.

Die Beute, heißt es ausdrücklich, hindert den Verfolgten, nachdem sie ihn verraten hat, auch noch an schneller Flucht (384f.), so daß Euryalus schließlich in die Hände der Latiner fällt. Nisus vermag ihn selbst mit einem Gebet an Luna, deren Licht (sublustri noctis in umbra) Anlaß zur Entdekkung des Freundes gegeben hatte, nicht zu retten (403ff.). Vergil hat auf diese Weise drei wichtige Beobachtungen der Homerscholien zu entscheidenden Elementen der Peripetie werden lassen: 1. Die von den Scholien hervorgehobene, bei Homer kaum angedeutete Antithese zwischen rettender Besonnenheit des Odysseus und unkontrollierter Leidenschaft des Diomedes übernimmt und modifiziert Vergil, indem bei ihm zunächst beide Jünglinge vom furor (vgl. incensus et ipse /perfurit [sc. Euryalus], 342) beherrscht werden, dann jedoch Nisus zur Besinnung kommt und so die mäßigende Rolle des Odysseus (und der Athene) übernimmt. Euryalus, vom älteren Freund ermahnt, folgt dessen Umsicht jedoch nicht sofort, da er sich wie zunächst Diomedes nicht von seinem εύρημα (Schol. [bT] 10,503) zu trennen vermag. Die Maßlosigkeit des jungen Trojaners im Glück motiviert anders als bei Homer den Untergang der beiden Freunde. Aus dieser antiken Interpretation des Verhaltens des Diomedes gewinnt Vergil das Motiv fur die Katastrophe seiner Episode, indem der zuvor (vgl. 312f. mit II. 10,332) schon angekündigte Übergang der 'DolonRolle' auf die beiden jungen Trojaner erfolgt. 2. Aus dem Hinweis der Scholien auf die Tarnwirkung, die durch die Schmucklosigkeit der (nicht mit Busch und Helmbügel ausgestatteten) Lederkappen erzielt wird, gewinnt Vergil einen dramatischen Effekt, indem Euryalus an die Stelle der schlichten galea, die er und Nisus vor ihrem Auszug von Aletes erhalten hatten (307) und denen Vergil gewissermaßen κατά το σ ι ω π ώ μ ε ν ο ν dieselbe schützende Funktion zugewiesen hatte (vgl. Servius z. St.), die goldene und mit einem auffallenden Helmbusch ausgestattete galea des Messapus setzt, ohne sich bewußt zu sein, daß sie nicht die Tarnwirkung der einfachen Lederkappe besitzt (vgl. immemorem, 374). Wie 148

So richtig Schlunk 1974, 75.

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Servius treffend bemerkt, weist Vergil in der Beschreibung des Messapushelmes als cristis... decoram (365) auf den drohenden Untergang des Helden voraus: bene praemittit dicens 'decoram'; nam eius splendore prodente Euryalus capitur149. Die Beschaffenheit des Helmes, die der Dichter nennt, / ist für Euryalus klar erkennbar (365; vgl. ferner 457f. galeam... nitentem Messapi), doch übersieht er die Gefahr. Auf die Bedeutung des Umstandes, daß sich der Jüngling ausgerechnet am Helm des Messapus vergreift, wird unten noch einzugehen sein. 3. Die Beobachtung der Scholien, daß Odysseus angesichts der Nachtzeit den ihm und Diomedes entgegenkommenden Dolon nur bemerken kann, wenn der Mond als inzwischen aufgegangen gedacht wird150, hat Vergil in charakteristischer Weise aufgegriffen: Er nennt ausdrücklich den Mondschein (sublustri noctis in umbra, 373), doch im Unterschied zu der Auffassung der Homererklärer bezüglich der Doloniestelle verrät dieser erst durch die Reflexion seiner Strahlen auf dem Helm des Euryalus die beiden Gefährten den Feinden. Diesen impliziten Rückverweis auf das Zeitproblem der Dolonie hat der Verfasser der Ilias Latina, wie seine Wiedergabe der entsprechenden Doloniestelle zeigt, deutlich erkannt: der Mondaufgang wird an den Beginn der Expedition zurückverlegt, Diomedes sibi delegit Ulixem, / qui secum tacito sublustri noctis in umbra / scrutetur studio (698ff, vgl. Aen. 9,373b)151. Der prächtige Helm, dessen Mitnahme und Aufsetzen durch Euryalus neben der Verzögerung, die das Blutbad und die Sammlung der übrigen Beutestücke bewirkt hat - die Katastrophe herbeiführt, ist das Eigentum des Messapus, des engsten Gefährten des Turnus. Er wird von den übrigen Beutestücken abgesetzt (vgl. tum ... / induit [sc. galeam], 365). Nicht nur die Gier nach Beute bringt Euryalus in Parallele zum Dolon Homers, der, wie die Scholion betont hatten, gerade von der Aussicht auf Beute dazu getrieben wurde, den nächtlichen Spähergang allein zu unternehmen, in dem er schließlich umkommt. Vielmehr greift der Dichter an der Peripetie wiederum auf das Motiv 'Besitz des stärksten Gegners' zurück. Ascanius hatte, wie oben gesehen, Nisus für den Fall eines späteren Sieges der Trojaner die Waffen des Turnus versprochen (267ff), Nisus wiederum schon zuvor seine 149

Vgl. Schlunk 1974, 73f. 150 Ygj Schol. [b] 10,341 (...) πώς δέ τον έρωδιόν μή όρώντες αύτόν [sc. Dolon] όρώσιν; ίσως ότι προς όρθρον ή σελήνη άνεσχεν (vgl. Schol. Τ]). Auf das Scholion verweist Schlunk (1974, 71). 151 Wenige Verse später (702f.) folgt dann jedoch unharmonisch die Angabe, daß die beiden Griechen loca pernoctata poverties carpebant: Die Abweichung vom doppelten homerischen und vergilischen Modell wird in Kauf genommen, um das Pathos über beide Vorlagen hinaus zu steigern.

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II. Ethische Exegese

Belohnung dem jüngeren Gefährten zugesagt (194f.). Euryalus widersteht nun auf dem Höhepunkt des Erfolges der Versuchung nicht, einen Teil der Rüstung des zweitstärksten Gegners als Beute zu erlangen. Wie gesehen, begehrt auch der Dolon Homers den Besitz eines ihm weit überlegenen Gegners, Wagen und Pferde Achills, und ebenso wie für ihn die Aussicht auf diese Beute wird der Helm des Messapus erst zum entscheidenden Motiv für den Untergang des Euryalus. Durch dieses Motiv bringt Vergil den jungen Trojaner jedoch nicht nur in die - strukturell ohnehin vorgegebene - Nähe zum Dolon der Ilias; vielmehr liegt in ihm zusätzlich eine Reminiszenz an die homerische Patroklie: Nach seinem Sieg über Patroklos tauscht Η e k t ο r seine eigenen gegen die Waffen Achills aus, die er dem Leichnam von dessen engstem Gefährten entrissen hat (II. 17,192ff.). Dieser Waffentausch wird ausdrücklich mit seinem nahenden Untergang in Verbindung gebracht, indem Zeus, der Hektor aus der Ferne beobachtet, ausruft, Hektor habe hiermit ein Unrecht begangen, werde aber auch selbst bald sterben (17,201ff). Den Homerkommentatoren galt dieses Verhalten Hektors als Exempel für die verderbliche Wirkung unbeherrschter Leidenschaft auf dem Höhepunkt des Glücks, indem Hektor, ohne an die Zukunft zu denken, die Waffen des von Homer ausdrücklich als überlegen bezeichneten Gegners (203: άνδρος άριστήος, τόν τε τρομέουσι και άλλοι) raubt, von denen er sich Ruhm und Schutz verspricht; damit überschreite er die Grenzen seiner eigenen Natur: Schol. [bT] 17,201: ά δείλ', ] σχετλιάζων έπι τω έπάρματι της ευτυχίας διδάσκει μετριάζειν. [Α] άϋλιον καλεί τον Έκτορα των μελλόντων άνόητον όντα. όποτε ούν παρεισήκται αυτός ό Ζευς καταμεμφόμενος τοΰ "Εκτορος την άλαζονείαν, διδάσκει "Ομηρος καθ' αύτόν εκαστον φρονεΐν και μη τά μείζονα της έκαστου φύσεως έπτοήσϋαι, vgl. Schol. [bT] 17,192: στάς δ' άπάνευΟε μάχης < - έντε' άμειβεν>] έπεμψε μέν τους εταίρους φέροντας τά όπλα, μη δυνηϋεις δε προς την έπιϋυμίαν άντισχεΐν μετανοεί και σπεύδει καλλωπίσασΟαι, διά των θείων όπλων δόξαν και φυλακήν παρέχων έαυτώ ύέλων τε τους Τρώας έπιρρώσαι και τους 'Αχαιούς φοβήσαι (...) Im Hinblick auf das Motiv 'Waffen des überlegenen Gegners', von dem sich der Beutemachende besonderen Ruhm erhofft, liegt in dieser Szene der Nisus-Euryalus-Episode, wenn sie auch sonst primär eine Adaptation der homerischen Dolonie darstellt, die eigentliche Parallele zum Waffenraub der Patroklie (der, was seine Bedeutung für die Handlungsökonomie der Ilias anbelangt, seine primäre Entsprechung natürlich im frevelhaften Verhalten des Turnus gegenüber dem toten Pallas und der Vergeltung des Aeneas

1. Nisus und Euryalus

61

152

findet) . Die oben zitierte ethische Interpretation des homerischen Waffenraubs schafft eine weitere Verbindung zwischen ihr und der Peripetie der Nisus-Euryalus-Episode: Wie dargelegt, hatte Vergil das überwältigende Begehren nach ruhmvollen Großtaten der antiken Interpretation der Dolonie entsprechend zu einem wesentlichen Moment von Plan (vgl. 184f.) und Durchführung (vgl. 339ff. 342f.; vgl. 354) der nächtlichen Expedition gemacht. Euryalus kommt im folgenden der Aufforderung des Nisus zum Aufbruch nicht sofort nach, das Motiv für sein Zögern ist jedoch in diesem Moment nicht mehr die übermächtige Kampfgier (nimia caede atque cupidine)153, sondern die Gier nach Beute, deren bedeutendstes Stück der Helm des Messapus ist. Eben hierin entspricht der junge Euryalus dem Hektor des 17. Iliasbuches154. Diese Parallele zwischen dem Hektor der Ilias und dem Euryalus der Aeneis hat der Dichter im Fortgang der Handlung durch weitere Anspielungen fortgeführt: An dem Morgen, der auf den nächtlichen Tod der beiden jungen Trojaner folgt, marschieren die Latiner, geführt von Turnus, vor dem gegnerischen Lager auf, wobei sie die Häupter der beiden Toten auf ihre Lanzen gesteckt unter Geschrei vor sich her tragen: quin ipsa arrectis (visu miserabile) in hastis / praefigunt capita et multo clamore sequuntur / Euryali et Nisi (465ff.), ein Anblick, der die auf dem Lagerwall postierten Aeneaden mit großer Trauer erfüllt: Aeneadae (...) stant maesti; simul ora virum praefixa movebant / nota nimis miseris atroqueßuentia tabo (468ff.). Die Kunde {nuntia Fama, 474) vom Tod des Euryalus und der Mißhandlung seines Hauptes erreicht auch dessen Mutter, die daraufhin sofort ihre Webarbeit unterbricht und amens auf die Lagermauer stürmt, wo sie im Anblick des Sohnes in Klagen ausbricht (48Iff.). In dieser Szene liegt - in Abweichung von der Großstruktur des Verhältnisses Aeneis-/Iliashandlung eine deutliche Anspielung auf den Schluß des 22. Iliasbuches155: Achill miß152

153 154

155

Siehe Knauer 1964, 298ff.; Barchiesi 1984, 1 Iff. Zum Tod des Pallas als Nachgestaltung des Patroklostodes siehe femer S. 313f.. Die Junktur ist als Hendiadyoin aufzufassen, s. Con.-Nettleship z. St. Möglicherweise ist die Beschreibung der Figur des Messapus, dessen Waffen eine so zentrale Bedeutung erhalten, von Vergil durch Reminiszenzen an den Achill der Ilias auf die Parallele Hektor-Euryalus abgestimmt (Euryalus raubt einen Teil seiner Rüstung wie Hektor die gesamte Achills): Messapus wird als Sohn einer Meeresgottheit eingeführt, vermag durch einen gewöhnlichen Sterblichen nicht bezwungen zu werden (7,692) und ist durch den Besitz von Pferden (als equum domitor: 7,691; 9,523; 12,128. 550; vgl. 10,354) besonders ausgezeichnet. Die primäre strukturelle Entsprechung zum Schluß des 22. (und des 24.) Iliasbuches ist der Schlußteil des 12. Aeneisbuches, s.u. S. 210ff. Die Klageszene des 9. Aeneisbuches (ab 473ff.) ist bei Macrob (sat. 5,9,12) mit der Andromacheklage des 22. Iliasbuches in Beziehung gebracht.

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II. Ethische Exegese

handelt auf der Ebene vor Troja den Leichnam Hektors (395ff.) und wird hierbei von Priamus und Hekabe beobachtet, die in Klagen ausbrechen (416ff. 43 Iff.); Andromache erreicht - anders als die Mutter des Euryalus kein έτήτυμος άγγελος (438), sie stürzt vielmehr, vom allgemeinen Wehklagen alarmiert, aus dem Palast und eilt auf den Turm (460ff.). Wie deutlich wird, ist dieser Handlungsablauf in der Schilderung Vergils nachgebildet, wobei insbesondere die Umkehrung des Motivs der Nachricht (nuntia Fama erreicht die Mutter < > kein έτήτυμος άγγελος die Gattin des Toten) als Leitzitat den Bezug sichert und die Klage der Euryalusmutter Motive der drei Klagen der Eltern und der Gattin des toten Hektor verarbeitet156. Die so gesicherte Parallele zwischen dem Aeneispassus und der Iliasszene157 stützt die oben genannte Verbindung zwischen Hektor und Euryalus und wird ihrerseits noch durch das Motiv der Mißhandlung vertieft, die Achill an dem H a u p t des toten Hektor vornimmt (II. 22,398ff.) und die in der Pfählung des Euryalushauptes durch die Rutuler unter Führung des Turnus gespiegelt sein dürfte158. Als Gemeinsamkeit von Euryalus und Hektor wurde oben ihre 'Selbstüberhebung im Glück' herausgestellt und auf die entsprechende antike Deutung des homerischen Waffenraubs aufmerksam gemacht. Diese hat möglicherweise auch auf die Apostrophe eingewirkt, durch die der Dichter das frevelhafte Handeln des Turnus kommentiert, als dieser noch den toten Pallas verhöhnt, auf seinen Leichnam tritt und ihm das Wehrgehenk entreißt (490ff.):

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157

158

Zu (sekundären) nichthomerischen Einflüssen auf die Klage der Euryalusmutter s. Heller 1935, S.XXVHf. Wie Knauer (1964, 276f.) zeigt, hat Vergil den Beginn des 9. Buches, der dem 11. Iliasgesang nachgestaltet ist, mit der Umformung des Schlusses des 22. Iliasbuches fortgesetzt, um diesen Szenenkomplex in die Aeneis übertragen und z u g l e i c h mit dem Tod des dem Hektor der Ilias entsprechenden - Turnus das Epos abschließen zu können; die Klageszene des 22. Iliasbuches ist jedoch strukturell primär an entsprechender Stelle im 12. Aeneisbuch in der Klage Amatas verarbeitet, s. S. 214ff. Zu verweisen wäre noch darauf, daß in dem Abschied des Euryalus von Ascanius, in der er dem Zurückbleibenden die Sorge um seine Mutter überträgt, der Abschied Hektors von Andromache anklingt (II. 6,407ff.). Knauer vergleicht den Auftritt der Iris vor Turnus zu Beginn des 9. Buches (2ff.) mit ihrem Erscheinen vor Achill in II. 18,166ff. (wo sie ihn vor der Absicht Hektors warnt, das Haupt des Patroklos aufzupfahlen - aus diesem Plan Hektors gewinnt Vergil also das Motiv der P f ä h l u n g ) : „... Die Iriserscheinung vor Achilleus (dürfte) mit dessen Rache an Hektor so verbunden ... sein, wie die Iriserscheinung vor Turnus verbunden ist mit dessen Rache an Nisus und Euryalus" (1964, 277). Zu einem weiteren Vorbild für die Iriserscheinung des 9. Aeneisbuches s. S. 271 f.

1. Nisus und Euryaius

Aen. 10,501

63

nescia mens hominum fati sortisque futurae et servare modum rebus sublata secundis!

Eben diese Unkenntnis des künftigen Schicksals und die Selbstüberhebung im Glück hatte Homer - durch Zeus - nach Auffassung der Interpreten dem Hektor des 17. Iliasbuches tadelnd vorgehalten, vgl. Schol. [bT] 17,201: σχετλιάζων έπι τώ έπάοματι τήο εύτυνιαο διδάσκει μ ε τ ρ ι ά ζ ε ι ν . [Α] άθλιον καλεί τον "Εκτορα των μελλόντων άνόητον όντα 159 . Die Verarbeitung dieses Gedankens auch im Zusammenhang der Szene des 10. Aeneisbuches schafft eine - freilich auf dieses Motiv beschränkte - Gemeinsamkeit zwischen dem Handeln des Turnus und des Euryaius160. In beiden Fällen liegt die 'Selbstüberhebung im Glück' im furor, in unkontrollierter Leidenschaft der jungen Kämpfer, begründet; jedoch wird Turnus bereits bei seinem ersten Auftritt durch seinen (von Allecto ausgelösten) furor (7,460ff.; vgl. [im Gleichnis] 464 furit intus aquai / ... amnis) charakterisiert, und dieser seelische Zustand bestimmt sein Handeln bis zum End159

Auf die Parallele zwischen der vergilischen Apostrophe und diesem Kommentar hat bereits Barchiesi (1984, 52) hingewiesen. Er macht Anm. 76 darauf aufmerksam, daß hinter den Begriffen έπαρμα und sublatus identische Vorstellungen stehen. - Vergil läßt den Waffenraub und das nur angedeutete (vgl. quo nunc Turnus ovat spolio gaudetque potitus) Anlegen der Waffen durch Turnus unmittelbar aufeinander folgen - anders als Homer, der schon als Apollon Patroklos den Helm vom Kopf geschlagen hat (16,793), also noch bevor er tot ist, erwähnt, daß Hektor den Helm tragen wird, wenngleich nicht lange (799f.), und ihn erst in 17,85 die übrige Rüstung rauben und sich in 194f. anlegen läßt; die volle Ankündigung von Hektars Tod erfolgt erst jetzt aus dem Mund des Zeus. Gleichwohl stellt das bT-Scholion zu IL 16,800 bewundernd fest, wie Homer die Empörung des Hörers über den [bevorstehenden] Waffenraub Hektars mit dem Hinweis auf Hektars nahes Ende „sogleich heile" (την άγανάκτησιν δέ των άκουόντων ϊάται, ούκ έπι πολύ φάσκων απολαύει ν των όπλων τον "Εκτορα). Eine solche, auf die Aufdeckung homerischer 'Psychagogie' zielende Interpretation könnte Vergil mit dazu veranlaßt haben, die entsprechende Ankündigung Jupiters der Tötung des Pallas und dem Waffenraub durch Turnus v o r a u s z u s c h i c k e n (47 Iff.) und die oben behandelte sympathetische Apostrophe mit der erneuten Ankündigung von Turnus' baldigem Tod u n m i t t e l b a r an die Spoliierung anzuschließen. Duckworth (1933, 61 Anm. 137) belegt mit dem Scholion seine Beobachtung, es sei charakteristisch für Homer „to strike a note of pathos by stressing at the height of a man's glory the fate soon to come upon him", eine Technik, die Vergil aufgegriffen habe, erwägt jedoch den möglichen Einfluß dieser antiken Interpretation auf Vergils gegenüber Homer gesteigerte Emphase nicht.

160

Duckworth (1967, bes. 164ff.) geht zu weit, wenn er die Auffassung vertritt, daß die Nisus-Euryalus-Episode des 9. Buches das Handeln des Turnus auf dem Höhepunkt des 10. Buches vorbereitet. Die Überheblichkeit des Turnus im Glück fügt sich - anders als bei den beiden jungen Trojanern - in seine generelle Verachtung gegenüber den göttlichen und menschlichen Satzungen. Insgesamt steht Euryaius der Camilla des 11. Buches, die ihren Tod durch Beutegier (vgl. ll,781f.) mitverschuldet, ohne hierbei wie Turnus einen Frevel zu begehen, weit näher.

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II. Ethische Exegese

kämpf gegen Aeneas (vgl. 12,666ff. 680)161. Dagegen werden Nisus und (im Hinblick auf die Beute, die er errafft) besonders Euryalus, wie gezeigt, in der k o n k r e t e n Situation der nächtlichen Expedition von furor überwältigt, nachdem Antrieb zum Aufbruch in die Gefahr ihr Wunsch gewesen war, Ruhm zu erlangen und zugleich einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, für Euryalus schließlich vor allem, dem Freund beizustehen. Wenn die beiden jungen Trojaner folglich auch durch ihre übermächtige Beutegier unzweifelhaft Schuld auf sich laden und das Scheitern ihres mutigen Unternehmens selbst herbeiführen, bringt Vergil in seiner emphatischen Apostrophe zum Abschluß der Episode (446ff) doch noch einmal nachdrücklich ihre Freundestreue und ihren erworbenen Ruhm zu Bewußtsein, wenn er sie in Form des 'Makarismos' als fortunati ambo bezeichnet162.

d) Zusammenfassung Zieht man zum Vergleich der Nisus-Euryalus-Episode mit der Dolonie die in den Scholien und in der impliziten Homerkommentierung noch greifbare antike Interpretation des homerischen Modells hinzu, so zeigen sich zahlreiche sehr enge und auffallige Beziehungen zwischen ihr und der Gestaltung Vergils, die kaum auf Zufall beruhen können: Der Aeneisdichter hat im Rahmen seiner imitatio und aemulatio mit Homer, die gerade in dieser Episode von seinem antiken Publikum klar erkannt wurden, auf jene Interpretationen zentraler Motive und Szenen der Dolonie zurückgegriffen und auf diese Weise existentielle Grundgedanken, die bei Homer bereits angelegt, jedoch von seinen Kommentatoren besonders herausgestellt wurden, stärker in den Vordergrund gerückt und weiterentwickelt. Die Auffassung, der Iliasdichter habe die beiden Kriegsparteien in der exemplarischen Situation der nächtlichen Belagerung in der Gegensätzlichkeit ihres Wesens vorführen wollen, ist in der antiken Homerkommentierung gut zu belegen. Eine ihr recht genau entsprechende Konzeption Vergils ist in seiner Nachgestaltung klar erkennbar. Die Annahme scheint also berechtigt, daß ihm diese 161 162

Siehe S. 174. Die in diesem Abschluß der Episode liegende eindeutig positive Stellungnahme Vergils ist zu veranschlagen, wenn Horsfalls ausgewogene Position zur Grundlage einer Bewertung gemacht werden soll (1995, 178): „The wary and unpartisan reader realises that we have, like it or not, to reach some form of moral equilibrium: beyond any reasonable doubt, Virgil pulls us in conflicting directions, compelling us to share both admiration and some degree of condemnation for the victims' methods. The most sensitive and intelligent reader of such an episode is, I believe, the one who comes nearest to understanding exactly where the point of equilibrium lies".

1. Nisus und Euryalus

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Interpretation bekannt war und er sie fiir seine Adaptation genutzt hat. Damit ist ein für das Verständnis des Verhältnisses von Aeneis und Ilias zentraler Punkt berührt, auf den im Fortgang der Untersuchung noch zurückzukommen sein wird. Bleibt dieser Grundgedanke der Wesensverschiedenheit von Griechen und Trojanern in der homerischen Situation immer in ihrer antiken Interpretation - gewissermaßen statisch und punktuell, indem er auf die Exposition der nächtlichen Belagerungssituation beschränkt ist und keine konkreten Auswirkungen für den Ablauf der nächtlichen Expedition besitzt, so hat Vergil ihm eine dynamische Funktion verliehen, ihn als Motiv für die nächtliche Expedition und ihren Teilerfolg zu einem entscheidenden Moment in der Handlungsökonomie der gesamten Episode werden lassen. - Die 'Konzentration' von Agamemnon und Menelaos, Diomedes und Odysseus und schließlich Achill und Patroklos in Nisus und Euryalus tritt erst deutlich hervor, wenn die antike Idealisierung insbesondere des königlichen Brüderpaares der Ilias berücksichtigt wird. Gerade in der Exposition dieser Freundschaftsbeziehung, die die nächtliche Expedition motiviert, wird ein weiterer Aspekt vergilisch-homerischer Intertextualität deutlich: Vergil wetteifert nicht nur mit Homer selbst, sondern auch mit seiner idealisierenden antiken Interpretation, wenn bei ihm aus der gerühmten klugen 'Rücksicht' des homerischen Diomedes auf das eigene Interesse, konkret aus seiner Bemühung um einen Begleiter, die Rücksichtnahme des Nisus auf das Wohlergehen des Freundes, d.h. seine Ablehnung einer Begleitung durch diesen wird. Das volle Verständnis des 'edlen Wettstreits' will der Dichter demnach zweifellos durch den Rückgriff nicht nur auf Homer, sondern auch zusätzlich auf seine offenkundig gängige Ausdeutung erschlossen wissen. Dieser Rückgriff auf das zeitgenössische Verständnis der homerischen Dolonie ermöglichte es ihm, gegenüber weiteren homerische Motiven eine Kontrastimitation zu schaffen, die erst die Kenntnisnahme der antiken Homerinterpretation sichtbar macht, so das Überwältigtwerden der jungen Trojaner von dem ihnen zuteil werdenden Erfolg, das in völliger Veränderung der homerischen Ökonomie ihren Untergang motiviert. Schließlich dürfte es die exemplarische Auffassung des homerischen Waffenraubs Vergil nahegelegt haben, das Motiv innerhalb der Aeneis gewissermaßen zweimal - mit jeweils ganz unterschiedlicher Intention - zu verarbeiten und so eine Kontrastwirkung zwischen den beiden jungen Trojanern des 9. und dem Rutulerführer des 10. Buches zu erzielen.

66

II. Ethische Exegese

2. αταξία und θόρυβος: ein Leitgedanke der ethischen Homerexegese und das furor-Konzept in derAeneis Wie die Untersuchung der Nisus-Euryalus-Episode im vorigen Kapitel ergeben hat, leben die Trojaner, in der Situation des 10. Iliasbuches nach antikem Verständnis noch die 'törichten' Belagerer, in den Trojanern unter Führung des Aeneas fort, geraten aber ihrerseits in die leidvolle Lage der Griechen bei Homer, in der sie sich ebenso wie diese bewähren. Sie treffen auf die latinischen bzw. rutulischen Nachfolger ihrer einstigen Angreifer vor Troja, die als Belagerer nun ihrerseits törichter Selbstüberschätzung verfallen und durch sie - darin ergeht es ihnen schlechter als den Trojanern der Ilias - großes Leid erfahren. Durch ihr Verhalten übernehmen die italischen Gegner der Trojaner, legt man die antike Interpretation Homers, aber auch topische Vorstellungen der römischen Historiographie zugrunde, die Rolle der Trojaner, also der 'Barbaren' bei Homer, und diese werden in ihrer tapferen Unerschütterlichkeit und Geistesgegenwart ihrerseits in die Nähe der homerischen Griechen gerückt. In diesem Rollenwechsel liegt ein überraschendes Moment, das zweifellos vom Aeneisdichter beabsichtigt war und sich in die Reihe der 'historischen' Anspielungen und Rückblicke auf das Ilias- (und Odyssee-)Geschehen fugt. Dieser Befund, der sich aus dem Vergleich der Nisus-Euryalus-Episode mit der homerischen Dolonie vor dem Hintergrund der ethischen Iliasrezeption ergeben hat, läßt sich noch zusätzlich stützen: Im folgenden wird der Versuch unternommen, den möglichen Einfluß dieses zentralen Aspekts der antiken Homerdeutung auf einen Leitgedanken des vergilischen Epos aufzuweisen. Hierzu werden zwei Szenen des 2. und 3. Iliasbuches in ihrer antiken Interpretation vorgeführt und ihnen entsprechende Szenen der Aeneis gegenübergestellt. Zu Beginn des 2. Iliasbuches schildert Homer, wie die Scharen der griechischen Kämpfer, von ihren Anführern geleitet, in die morgendliche Heeresversammlung strömen, um dort die Anweisungen Agamemnons für den weiteren Kampf gegen Troja zu vernehmen. Dieses Ausschwärmen der Griechen - aus den Zelten, in dichten Formationen, gruppenweise in verschiedene Richtungen163 - veranschaulicht der Dichter durch ein Bienengleichnis (2,87-94). In der Agora hält Agamemnon dann eine Rede, mit der er die Kampfbereitschaft seiner Leute auf die Probe stellen will, indem er sie scheinbar zur Aufgabe des Kampfes um Troja und zur Heimkehr auffordert. Die Reaktion des Heeres jedoch entspricht seinen Erwartungen kei163

Siehe Kirk zu 87-93.

2. αταξία und θόρυβος und das furor-Ysmzspt in der Aeneis

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neswegs; jubelnd und jauchzend eilen die Griechen zu den Schiffen, ein Vorgang, den Homer wiederum durch ein Gleichnis verdeutlicht: Die Griechen „geraten in Bewegung" (κινήθη δ' άγορή, 144) wie Meereswogen, wenn sie von Stürmen (Euros und Notos, 145) aufgewühlt werden: II. 2,142 144

ώς φάτο, τοΐσι δε ϋυμόν ένι στήϋεσσιν όρινε (...) κινήϋη δ' άγορή φή κύματα μακρά θαλάσσης, πόντου ' Ικαρίοιο, τά μεν τ' Εύρος τε Νότος τε ώρορ' έπαΐξας πατρός Διός έκ νεφελάων. ώς δ' ότε κίνηση Ζέφυρος βαϋύ λήϊον έλΟών, λάβρος έπανγίζων, έπί τ' ήμύει άσταχύεσσιν, ώς των πάσ' άγορή κινήϋη (...)

Nur das Eingreifen Heras und vor allem Athenes, die sich selbst in das Getümmel begibt und Odysseus beauftragt, die eigenen Leute wieder an ihr ursprüngliches Ziel, die Rückgewinnung Helenas (177f.), zu erinnern, verhindert die Heimkehr der Griechen und damit die Preisgabe des Ziels, Troja zu erobern - also des τέλος der Handlung, die der Ilias zugrundeliegt. Das im Zentrum dieser Szenenfolge stehende Seesturmgleichnis und der von ihm verdeutlichte Vorgang fanden in der antiken Homerexegese starke Beachtung: Der Iliasdichter faßte nach Auffassung der in den Scholien zitierten Interpreten nicht nur einen äußerlichen Vorgang ins Bild, um diesen so im Sinne einer αΰξησις zu steigern; durch das Gleichnis verdeutlichte er vielmehr einen durch άταξία, durch „Aufruhr und Unordnung" gekennzeichneten Zustand der Griechen in dieser kritischen Situation, dessen Auswirkungen nur durch göttliches Eingreifen (nämlich Athenes) wieder unter Kontrolle gebracht werden könne (vgl. 156ff.). Bei Dion von Prusa (32,22f.) erscheint das durch das Seesturmgleichnis verdeutlichte Verhalten der Griechen in dieser Situation gar als Exemplum für das Verhalten des ungehorsamen und zu Übergriffen stets bereiten δχλος. Ps. Plutarch stellt ergänzend fest, daß Odysseus [im Auftrag Athenes später] Unordnung und Aufruhr (τό άτακτον και ϋορυβώδες) seiner Leute durch seinen Appell an ihre Vernunft besänftige164: Schol. [bT] 2,144: (...) [Athene greift in das Geschehen ein und aktiviert Odysseus] ότι ούχ οΐόν τε ήν όρμησάντων παραχρήμα έπέχεσϋαι αύτούς, θορύβου κατέχοντος τοσουτου· ΰεατάς γοΰν ήμάς σχεδόν ποιών της τότε αταξίας αυτών έπιτραγωδεΐ ταύτα τά έπη· „κινήϋη δ' άγορή [etc.]"

164

Siehe hierzu ferner S. 93

68

II. Ethische Exegese

Ps. Plut. 2,166,4: και τό ατακτον και θορυβώδες των καταπαύσας άμα πάντας πείθει λόγοις εμφροσι [sc. Odysseus],

πολλών

Dieser άταξΰα hatte Homer nach Auffassung seiner antiken Interpreten Ordnung und Disziplin der Griechen bei ihrem Auszug zur Heeresversammlung kurz zuvor gegenübergestellt und ihre durch ευταξία gekennzeichnete Verfassung in dieser Situation durch das erwähnte Bienengleichnis veranschaulicht - obwohl dieses, wie oben erwähnt, primär einfach das Ausschwärmen der Kämpfer aus den Zelten ins Bild faßt165: Ps. Plut. 2,85,1-2: και έστι μεν οτε άπό τών ελαχίστων ποιείται την όμοίωσιν [sc. Homer], οϋ προς τό μέγεϋος του σώματος άλλα προς την φύσιν έκαστου άφορων, οΰεν ... τον ... άΟροισμόν και την πολυπλήύειαν μετ' ε υ τ α ξ ί α ς μελίσσαις (άπείκασε) ,,ήύτε έϋνεα εϊσι μελισσάων άδινάων"166.

Die somit gut dokumentierte antike Interpretation dieser beiden ersten Gleichnisse der Ilias hob einen Aspekt hervor, der bei Homer allenfalls angedeutet ist: In den beiden unterschiedlichen Situationen manifestieren sich in dem konkreten (äußeren) Verhalten der Griechen in exemplarischer Weise zwei einander entgegengesetzte (innere) Grundhaltungen. Diese Interpretationskategorie von „Gehorsam" und „Ordnung" bzw. „Anarchie" und „chaotischem Aufruhr" als gegensätzlicher Zustände menschlichen Verhaltens wurde auf zahlreiche weitere Stellen der Ilias angewandt, worauf noch zurückzukommen sein wird; hier bleibt zunächst vorwegnehmend festzuhalten, daß die oben zitierten Scholien und die Notiz in der Homermonographie Ps. Plutarchs keineswegs eine in ihrer Tendenz singuläre Interpretation enthalten. Vergil verdeutlicht den dramatischen Auftakt der Aeneishandlung, den von Juno ausgelösten Seesturm, in den die Aeneaden nach ihrer Abfahrt von Sizilien gelangen, und seine Beendigung durch Neptun durch das Gleichnis 165

166

Es ist gut denkbar, daß diese beiden Gleichnisse mit den entsprechenden Interpretationen ursprünglich - etwa in einem monographischen Kommentar zu den Gleichnissen oder zum 2. Iliasbuch - zusammengestellt waren und den Kompilatoren zur Verfugung standen; die Begriffe άταξία/τό άτακτο ν und ευταξία erwecken jedenfalls den Eindruck, als seien sie im Rahmen einer Deutung, nach der die Gleichnisse und die durch sie verdeutlichte reale Situation antithetisch aufgefaßt wurden, aufeinander bezogen gewesen. Marion Lausberg (1983, 215 Anm. 38) vermutet überzeugend ähnliches etwa für die zahlreichen Scholien, die das Motiv göttlicher Intervention im Augenblick höchster Gefahr hervorheben und dabei jeweils auf die Parallelstellen verweisen, denen die übrigen Scholien gelten. Vgl. Schol. [AbT] 2,87: (...) ή μεν ούν φαλαγγηδόν γινομένη πρόοδος εύ έχει· ώπλισμέναι τε κέντροις είσίν, ύπήκοοι τε και αύται είσι και έπ' έργον έξίασιν, ούχ ώς αί γερανοί [cf. 3,3-7] (...).

2. αταξία und θόρυβος und das fitror-Konzept in der Aeneis

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vom Volksaufstand (und seiner Niederwerfung durch einen durch Verdienste und pietas ausgezeichneten Mann) (1,148-153). Wie die Notiz des Servius (zu 148) erkennen läßt, brachte bereits die antike Vergilkommentierung Seesturm und Gleichnis aus dem staatlichen Leben bei Vergil nicht nur mit dem u m g e k e h r t e n Bild bei Cicero (Mil. 2,5)167, sondern auch mit der genannten Szene aus dem 2. Iliasbuch in Beziehung, wo - ebenfalls in Umkehrung von Real- und Bildebene - ita et Homerus seditioni tempestatem κινήθη δ' άγορή ώς κύματα μακρά θαλάσσης (comparat). Diese in der Vertauschung von Real- und Bildebene so auffallig modifizierte Übernahme des homerischen Zusammenhangs durch Vergil im 1. Aeneisbuch erfolgt in einem Kontext, der eben jene Deutung nahelegt, die bei Homer allenfalls angedeutet erscheint, jedoch, wie gezeigt, von der antiken Exegese stark herausgehoben wurde: Das Aeneisgleichnis verdeutlicht mit einem Exempel aus dem politisch-staatlichen Leben den „Aufruhr", „Anarchie" und „Unordnung" der Natur; reale Handlung und Bild sind unter diesen Aspekten auf eine Ebene gebracht und - dies läßt die Umkehrung des homerischen Verhältnisses von Bild und Realität deutlich werden - im Grunde austauschbar. Auf der mythologischen Ebene bedeutet das Ausbrechen der Stürme aus dem ihnen von Jupiter zugewiesenen und in seinem Auftrag von Aeolus beherrschten Berg (53ff.) einen Verstoß gegen die von dem höchsten Gott verhängte Ordnung (138ff); velut agminefacto (82) ziehen die Stürme aus, ein Kurzvergleich, der das Gleichnis vom Volksaufstand in 148ff. vorbereitet. Vergil geht in dieser von ihm selbst gegebenen Ausdeutung des (gegenüber Homer umgekehrten) Gleichnisses demnach weit über sein Modell hinaus: αταξία, die die antiken Erklärer durch das homerische Gleichnis verdeutlicht sahen, erscheint auch in der Aeneis als tiefere Ursache der Ereignisse in Natur- wie Menschenwelt. Ebenso wie dies die Scholiasten bei Homer hervorhoben, vermag nur göttliches Eingreifen (Neptuns) das aufrührerische Element (vgl. τό θορυβώδες και άτακτον, hier der Natur, der Stürme) zu beenden. Im Gleichnis, auf der Ebene der Menschenwelt, erreicht dies ein 167

Heinze 1914, 206 Anm. 1 verweist ferner auf Cie. Cluent. 130 intellegi potuit id quod saepe dictum est: ut mare, quod sua natura tranquillum sit, ventorum vi agitari atque turbari, sic populum Romanum sua sponte esse placatum, hominum seditiosorum vocibus et violentissimis tempestatibus concitari: auch hier liegt zweifellos die oben vorgestellte Ausdeutung des homerischen Gleichnisses zugrunde, das so gewissermaßen den Archetypus des in der Rhetorik häufiger verwendeten Bildes verkörperte. Wenn Heinze dies betont und Vergil sowohl im Proöm als auch in den ersten beiden Großszenen des 1. Aeneisbuches auch im Detail die beiden homerischen Epen unablässig in Erinnerung bringt (siehe Knauer 1964, 148-151 zu den odysseischen und Lausberg [1983] bes. zu den ersten beiden Iliasbüchern als Vorbildern), verwundert seine Behauptung, Vergil habe das Gleichnis vom Volksaufstand „römischem Vorstellungskreis entnommen".

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II. Ethische Exegese

wie der Odysseus der Iliasszene - durch Götterfurcht und Verdienst ausgezeichneter Mann, und hier erscheinen αταξία und θόρυβος der Griechen bei Homer, so wie ihn die Interpreten lasen, in der spezifisch vergilischen Form des furor (150: furor arma ministrat, sc. dem aufständischen Volk). Hatte

Homer in den Augen seiner antiken Interpreten am Beispiel der Griechen nach der Diapeira die αταξία speziell des όχλος exemplifizieren wollen, so greift im vergilischen Gleichnis vom Volksaufstand das ignobile vulgus zu den Waffen. Auch bei Vergil erscheint so die von den antiken Interpreten betonte Grundbewegung von ευταξία zu αταξία und wiederum zu ευταξία als Grundlage seiner eigenen Szenenfolge; der von Neptun wiederhergestellte Zustand der „Ordnung" ermöglicht den Aeneaden die Landung in Karthago. Nicht nur der Kommentar des Servius zeigt, daß die antike Vergilexegese die beiden zentralen Szenen des 2. Ilias- und des 1. Aeneisbuches ganz offensichtlich auf der Grundlage der oben vorgeführten exemplarisch-ethischen Interpretation der homerischen Modellszene in Parallele brachte: Auch L u c a η dürfte den Zusammenhang gesehen und in seiner (kontaminierenden) Adaptation der beiden epischen Vorbilder genutzt haben: Im 9. Buch stellt Cato durch eine Rede (256ff.) die Ordnung in seinem Heer wieder her, nachdem die Soldaten zur Meuterei übergegangen und auf die Schiffe zugestürmt waren, um den Kampf aufzugeben und in die Heimat zurückzugelangen (25 lf.). Diesen Aufruhr und seine Beendigung durch den Feldherrn vergleicht Lucan mit dem Ausbruch eines Bienenschwarms und seiner Rückholung durch den Imker (285ff.), am Ende des Gleichnisses steht dann die wiederhergestellte Ordnung des Bienenstaates (studiumque laboris /floriferi

repetunt et sparsi mellis amorem, 289f.), der so als Muster eines

geordneten, pflichtbewußten Heeres erscheint. Die gesamte Szene steht somit recht deutlich in Beziehung zum 2. Iliasbuch, wobei die Bewegung von der (nach Auffassung der Homerexegese im Bienengleichnis veranschaulichten) disziplinierten Ordnung (ευταξία) des zur morgendlichen Versammlung ziehenden Heeres zum Aufruhr nach der Diapeira Agamemnons und zum Sturm auf die Schiffe von Lucan umgekehrt wurde168. Dem Bienengleichnis weist Lucan - in seinem Zielpunkt169 - ganz offenbar jene symbolische Funktion zu, die Homer nach Auffassung seiner Interpreten 168

169

In der Rolle Catos ist die des Odysseus eingefangen, der den Aufruhr beendet. Den Homeranklang hat zuerst v.Albrecht festgestellt (1968, 275). Aus dem (nach Auffassung der Interpreten) „geordneten" Ausschwärmen der homerischen Bienen wird bei Lucan in deutlichem Kontrast ein „chaotisches" Ausschwärmen, doch verkörpert sein Bienen- (und damit Soldaten-)volk am Ende dann ebenso ευταξία wie die homerischen Bienen (bzw. Soldaten) zu Beginn.

2. άταξια und θ ό ρ υ β ο ς und dasyürar-Konzept in der Aeneis

71

seinem Gleichnis zugrundegelegt hatte. Doch auch der Zusammenhang des 1. Aeneisbuches ist deutlich in Erinnerung gerufen: Nicht nur läßt die Bezähmung der Meuterei gerade durch Cato an den vir pietate gravis ac meritis des Aeneisgleichnisses (1,151) denken, zumal wenn dessen Ausgestaltung möglicherweise von einem anekdotisch überlieferten Ereignis aus dem Leben Catos mit angeregt wurde170; Lucan läßt auf die Wiederherstellung der Disziplin in Catos Heer unmittelbar eine S e e s t u r m s c h i l d e r u n g folgen, die ihr Vorbild deutlich in der entsprechenden Szene des 1. Aeneisbuches besitzt (319ff.); „Volksaufstand" und „Seesturm", bei Homer wie bei Vergil gewissermaßen in Hypotaxe gesetzt, ordnet Lucan auf gleicher Ebene der realen Handlung nebeneinander an und bringt sie ebenso, wenn auch abgeschwächt, in Parallele171. Moderne Vergilinterpreten haben nicht nur die Beziehungen zwischen dem Seesturmgleichnis des 2. Ilias- und dem Volksaufstandsgleichnis des 1. Aeneisbuches auf der Grundlage der genauen Umkehrung von Real- und Bildebene betont, sondern auch das Bienengleichnis, mit dem Vergil den von Aeneas aus der Ferne beobachteten Aufbau Karthagos veranschaulicht (l,430ff.), mit demjenigen der Ilias in Verbindung gebracht, auch hier auf den Spuren der antiken Vergilexegeten172. Damit trete das erste Gleichnis der Ilias überhaupt in der Aeneis an die zweite Stelle, das zweite Gleichnis der Ilias dagegen - in Umkehrung - an die erste der Aeneis173. Daneben wurde wiederholt hervorgehoben, daß das Bienengleichnis nicht nur den 170

Offenbar zuerst Conway hat auf Plutarchs Biographie des jüngeren Cato verwiesen, wo dieser c. 44 einen entsprechenden Tumult (Steine fliegen) durch sein Auftreten beendet (έκράτησε τοΰ θ ο ρ ύ β ο υ και την κραυγή ν έπαυσε); hierzu Pöschl 1977, 20f. und Austin zu Aen. l,148ff. Die Einzelausgestaltung des vergilischen Gleichnisses könnte, wie Harrison (1988) überzeugend vermutet hat, jedoch auch von dem Bild des den Streit der λ α ο ί schlichtenden, redegewaltigen und gerechten β α σ ι λ ε ύ ς bei Hesiod (Theog. 8Iff.) mitbestimmt worden sein, einer Stelle, die offenbar ihren festen Platz unter den literarischen Exempla hatte, auf die die hellenistischen Literatur über den „guten König" zurückgriff (Harrison nennt als spätere Zeugen für zweifellos frühere Interpretationen dieser Art Dion Chrys. 2,18ff.; Plut. mor. 801e; Ael. Arist. or. 2,391ff.). Die oben dargelegte Priorität des 2. Iliasbuches fur den Kontext, in dem das Aeneisgleichnis erscheint, bleibt davon unberührt.

171

Statius und Silius fuhren Bild und reale Handlung - gleichwohl mit deutlicher Erinnerung an das 1. Aeneisbuch - wieder in die homerische Relation zurück (Theb. 5,699ff: Adrast beruhigt einen Volksaufruhr wie der rex sublimis equis das Regiment von Boreas Eurusque und Auster auf dem Meer beendet; Sil. 7,253ff: Fabius beruhigt den furor der römischen Soldaten, ut cum turbatis placidum caput extulit undis /Neptunus ... /... saevi fera murmura venti / dimittunt). Beide Gleichnisse sind schon bei Macrob (sat. 5,1 l,2f.) zusammengestellt; zu den Beziehungen im Detail siehe Rieks 1981, 1046. Lausberg 1983, 219 mit Verweis auf Carlson 1972, 27. 54.

172

173

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II. Ethische Exegese

geordneten Aufbau ihrer Stadt durch die Karthager unter Führung ihrer Königin Dido, in genauer Aufteilung der Aufgaben (pars, ... pars ... alii ... alii, 425ff.) und mit vollem Einsatz (instant ardentes, 423) verdeutliche, nachdem Vergil in den Georgica den Bienenstaat als Musterbild eines geordneten Staatswesens überhaupt beschrieben hatte174, sondern auch das antithetische Verhältnis der gesamten Szene zu dem zuvor geschilderten Seesturm betont175: Der Bau dieser Stadt, einer menschlichen Ordnung, sei von Vergil in deutlichen Gegensatz zu dem „Chaos", dem furor der Naturgewalten, gebracht, wie es sich in dem Seesturm manifestiert hatte, und über das Gleichnis - auch zu dem furor des staatlichen Lebens. Man könnte versucht sein, auf der Grundlage dieser modernen Deutung nicht nur in dem Bienengleichnis Lucans, sondern auch Vergils - wie schon in der Imitation des Seesturmgleichnisses - einen Reflex auf die antike Deutung des homerischen Bienengleichnisses als Sinnbild „disziplinierter Ordnung", von ευταξία, zu erblicken und zu erwägen, ob nicht die Adaptation der ersten beiden Iliasgleichnisse durch den Aeneisdichter, die Vorgänge in Natur- und Menschenwelt in ein antithetisches Verhältnis bringt, durch das antike Verständnis ihrer homerischen Vorbilder angeregt worden sein könnte, zumal wenn die Gleichnisinterpretationen möglicherweise ursprünglich irgendwo zusammengestellt176 und Vergil in dieser Form zugänglich waren. Doch wenn die Bezugnahme auf die antike Deutung des homerischen Musters bei Lucan, der αταξία und ευταξία wie zuvor der Iliasdichter (nach Auffassung seiner antiken Interpreten) an einer einzigen Volksmenge exemplifiziert, noch einigermaßen klar liegt, ist bei Vergil zu fragen, ob die beiden Gleichnisse, die durch 272 Verse getrennt sind, und die durch sie veranschaulichten Vorgänge wirklich noch wie ihre möglichen homerischen Vorlagen in einem Zusammenhang stehen oder in ihrer auf Homer zurückgeführten Zusammenstellung nicht eher eine moderne Konstruktion vorliegt abgesehen von dem Unbehagen, das das 'Zählen' von Gleichnissen177 ohnehin bereitet. Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß entgegen der seit Macrob in der Vergilkommentierung geläufigen Zuordnung des Bienengleichnisses im 1. Aeneisbuch zu dem Iliasgleichnis178 das Bienengleichnis des 12.

174 175 176 177

178

Dahlmann 1954, 562. Zuletzt Lausberg 1983, 220. Siehe o . S . 68 Anm. 165. Vor allem auf die 'numerische' Umkehrung der Gleichnisabfolge bei Homer stützt Lausberg (1983, 220) die These ihres Zusammenhanges. Die Parallele beruht im Detail namentlich auf Aen. 1,430 aestate nova per florea rura II. 2,89 έπ' άνθεσιν είαρννοΐσιν und Aen. 1,434 agmine facto - II. 2,89/93 βοτρυδόν/ ίλαδόν; s. Rieks 1981, 1046.

2. άταξία und θόρυβος und dasyü/w-Konzept in der Aeneis

73

Aeneisbuches in einem wesentlichen Detail dem homerischen Modell noch näher steht179. Wie oben angedeutet wurde, beschränkte sich die antike Interpretation homerischer Situationen im Hinblick auf ευταξία und άταξία / θόρυβος als exegetische Leitgedanken nicht auf die beiden ersten Iliasgleichnisse. Während jedoch der durch das Meeressturmgleichnis verdeutlichte Vorgang nach der Diapeira Agamemnons im 2. Iliasbuch, soweit erkennbar, die einzige Stelle ist, an der Homer nach Ansicht der Interpreten ein durch Anarchie und Aufruhr bestimmtes Verhalten den Griechen zuwies, sind es sonst in der Ilias durchweg die T r o j a n e r , i n denen sich - so die Homerinterpreten diese Haltung geradezu als Wesensmerkmal, als das Wesensmerkmal von Barbaren nämlich, verkörperte; fur diese Interpretation seien wenige Beispiele aufgeführt: Schol. [T] 7,306-7: (...) πανταχού δέ τό θορυβώδες ύποσημαίνει των Τρώων, vgl. Schol. [b] 7,306-7: (...) άει γαρ θορυβώδεις αυτούς έκδέχεται. Schol. [Α] 13,41: (...) εκάστοτε γαρ θορυβώδεις τους Τρώας παρίστησιν, vgl. Schol. [bT] 13,41: φύσει γαρ όντες θορυβώδεις τη νίκη πλεΐον θορυβοΰσιν. Schol. [AbT] 8,542: (...) θορυβώδες γαρ το βαρβαρικόν. Im Hintergrund dieser Deutung steht die - in anderem Zusammenhang bereits erwähnte180 - mindestens im griechischen Bereich weitverbreitete Auffassung, Homer trete zuweilen aus der Rolle des neutralen Erzählers heraus und zeige deutlich seine Parteinahme (προσπάθεια) fur die Griechen; diese kennzeichne er durch eine Wesensart, die an disziplinierter Ordnung, Gehorsam und Frömmigkeit festhalte, hebe sie hierdurch von den Trojanern ab und idealisiere sie auf diese Weise: Schol. [bT] 4,431: άκρως εύπειθεΐς "Ελληνες τους πολεμίους ού δεδιότες, άλλα τους ήγεμόνας. Schol. [bT] 4,433: εϊωθεν άει αντιπαραβάλλει ν [sc. den Griechen] το θορυβώδες τών Τρώων. Schol. [AT] 3,2b: άμφω δέ τάς στρατιάς διατυποΐ και μέχρι τέλους ούκ έξίσταται του ήθους [ell. 4,433; 7,307] (vgl. Schol. [b] 3,2b) 179

180

Hieran erinnert Otto Zwierlein, der Aen. 12,587 inclusas ut cum latebroso in pumice pastor / vestigavit apes·, 592 saxa sonant mit II. 2,87f. ήύτε έθνεα εϊσι μελισσάων άδινάων, / π έ τ ρ η ς έκ γ λ α φ υ ρ ή ς (...) vergleicht. Siehe S. 28f.

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II. Ethische Exegese

An einer Stelle erscheint die zu Aufruhr geneigte, chaotische Wesensart des άτακτον και θορυβώδες auch als Eigenschaft der Göttinnen Athene und - Hera: Schol. [b] 8,7: άπό των ϋηλειών άρχεται [sc. Zeus] ύπονοών αυτών τό θορυβώδες και άτακτον. Es gibt nun gewichtige Gründe füir die Annahme, daß diese gängige antike Iliasdeutung die Entfaltung eines Leitgedankens der Aeneis zumindest mitbestimmt hat: des furor in Natur-, Menschen- und Götterwelt, der der Verwirklichung des fatum durch die Gründung des neuen Troja in Latium entgegensteht181 und sich in der 'Naturkatastrophe' des Seesturms, dem Verhalten Didos, vor allem aber der latinischen Gegner der Aeneaden unter Führung des Turnus und natürlich im Handeln Junos manifestiert. Der mögliche Einfluß dieses Deutungsmusters der ethischen Iliasrezeption auf den ^wror-Gedanken der Aeneis wurde oben am Beispiel der Imitation der Iliasgleichnisse gezeigt; deutlich wurde dabei auch, daß Vergil dieses Motiv nicht einfach übernommen, sondern weiterentwickelt und differenziert hat: αταξία und ευταξία treten als Prinzipien schon zu Beginn der Aeneis nicht lediglich im furor des Seesturms und seiner Bändigung durch Neptun (vielleicht auch im Aufbau Karthagos) in Erscheinung; Vergil setzt im 'Stoßseufzer' des Aeneas beim Anblick Karthagos die Gründung dieser Stadt ausdrücklich mit der Roms in Beziehung (o fortunati quorum iam moenia surgunt, 437) und läßt keinen Zweifel daran, daß ebenso wie die Gründung Roms auch die Existenz Karthagos von furor bedroht ist: von der übermächtigen Liebe Didos zu Aeneas, die den Aufbau der 'neuen Ordnung' zum Stillstand kommen läßt (4,86ff.). Das Bienengleichnis charakterisiert den geordneten Zustand Karthagos, bevor Dido vom Liebesfuror befallen wird; gerade die Bienen aber hatte Vergil im vierten Georgicabuch dadurch aus der Tierwelt herausgehoben, daß sie frei von Liebesfuror sind. Vergil hätte hierbei - ebenso wie Homer dies nach Auffassung seiner Kommentatoren mit dem Leitgedanken des άτακτον και θορυβώδες getan hatte - furor als Wesensmerkmal182 vor allem Juno und den latinischen Gegnern der Aeneaden zugewiesen. An dieser Stelle muß auf ein späteres Kapitel vorausgewiesen werden, in dem der Nachweis versucht wird, daß Vergils Charakterisierung des Turnus - in seiner Leidenschaft und seiner vermessenen Mißachtung des göttlichen Willens, insgesamt: durch seinen furor 181

182

Eine von dieser Konzeption zweifellos abweichende Besonderheit bedeutet der furor des Aeneas im 2., v.a. aber im 10. Buch (nach dem Tod des Pallas), ferner der ebenso auf die konkrete Situation beschränkte furor von Nisus und Euryalus; hierzu s. S. 194ff. 55ff. Zur Differenzierung zwischen situativem und charakteristischem furor s. vorige Anm.

2. άταξΐα und θόρυβος und das yw/w-Konzept in der Aeneis

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wesentlich durch die in den Scholien noch greifbare antike Interpretation der Hektorgestalt mitbestimmt wurde183. Für die Parallelisierung der vergilischen Latiner mit den homerischen Griechen (in der singulären Situation nach der Diapeira) und (durchgängig) mit den Trojanern im Hinblick auf das Motiv des ατακτον και θορυβώδες und damit für den möglichen Zusammenhang der vergilischen /«/w-Konzeption mit diesem Leitgedanken der ethischen Homerexegese gibt es noch weitere Anhaltspunkte. Im 11. Buch schildert Vergil die lärmende Unruhe der bei ihrem König Latinus versammelten Latiner als Reaktion auf die Nachricht, daß der Grieche Diomedes ihnen im Kampf gegen die Aeneaden nicht beistehen werde. Vergil vergleicht ihr Lärmen mit dem vom Anprall der Wasserwogen verursachten Getöse: Aen. 11,296

300

vix ea legati, variusque per ora cucurrit Ausonidum turbata fremor, ceu saxa morantur cum rapidos amnis, fit clauso gurgite murmur vicinaeque fremunt ripae crepitantibus undis. ut primum placati animi et trepida ora quierunt, praefatus divos solio rex infit ab alto (...)

Die erstmals von Cerda erkannte Verbindung dieses Gleichnisses zu dem oben schon erwähnten Seesturmgleichnis des 2. Iliasbuches ist gerade nicht, wie Con.-Nettleship und Gransden z. St. bemerken, rein formal: die Ähnlichkeit der beiden Stellen im äußeren Detail, soweit sie über die - für die Imitation Vergils gleichwohl entscheidende - Gemeinsamkeit des Gleichnistypus hinausgeht, ist vielmehr nur gering. Dagegen erinnert die Funktion, die Vergil seinem Gleichnis zuweist, deutlich an die antike Deutung des homerischen Seesturmgleichnisses: Es dient nicht nur der Verdeutlichung bloßen 'Lärmens' der Latiner, sondern offenkundig auch einer Beschreibung ihrer seelischen - und sich in ihrem fremor äußernden - Verfassung, die Latiner sind vielmehr turbati (297) und schreien daher durcheinander; το ατακτον και θορυβώδες, der (äußere wie innere) 'Aufruhr' kennzeichnet ihr Verhalten in dieser Extremsituation (enttäuschter Hoffnungen) wie nach Auffassung der Homerinterpreten das der Griechen (aber eben einzig in dieser Situation) nach der Diapeira. Auch strukturell sind beide Situationen verbunden: das Ziel des Kampfes (die Eroberung Trojas bzw. die Abwehr der Trojaner) scheint gefährdet184. Ebenso wie diese durch Odysseus müssen jene zunächst beruhigt werden (placati animi, 300), wozu die folgende Rede

183 184

Siehe S. 173ff. Vgl. Highet 1972, 57 und siehe S. 204.

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II. Ethische Exegese

des Latinus beiträgt185; dies verbindet sie auch werkimmanent mit dem aufrührerischen Volk des 1. Aeneisgleichnisses bzw. den Seestürmen (vgl. aequora olacat [sc. Neptun]: 1,142). Hinter dem 'lärmenden Aufruhr', durch den Vergil hier die Latiner den Griechen in der speziellen Situation des 2. Iliasbuches und den Trojanern generell zur Seite stellt, so wie sie die antiken Homerinterpreten charakterisiert fanden, steht, wie im folgenden noch deutlich werden wird, als letzte Ursache furor. Wie Horsfall (1995, 189) zu Recht bemerkt, greift dieses Gleichnis ein ähnliches aus dem 7. Buch (586-590) auf, wo die Latiner, die ihren König zum Krieg drängen, mit aufgewühlten Wogen verglichen werden, die tosend gegen einen Fels branden. Mit ihrer durch dieses Gleichnis verdeutlichten Forderung nach Krieg widersetzen sich die Latiner nicht nur ihrem Herrscher, sondern handeln, so heißt es unmittelbar zuvor ausdrücklich, contra omina ... / contra fata deum perverso numine (583f.). Latinus ruft kurz darauf aus frangimur heu fatis ... ferimurque ρ r ο c e 11 a ' (594). In diesem Kurzvergleich liegt ein Rückbezug auf das Gleichnis von der Seesturmeskalation kurz zuvor (528-530), durch das der Sturm der Latiner zu den Waffen ins Bild gefaßt worden war, und weist zugleich auf ein weiteres Seesturmgleichnis im Rahmen des Latinerkatalogs (718f.) voraus, in dem der Aufmarsch der Kriegerscharen mit einem libyschen (!) Seesturm verglichen wird. Alle drei bzw. vier Seesturm-/Wogengleichnisse ergänzen einander zu einem Bild der entfesselten Kriegsleidenschaft der Latiner - und nur der Latiner - , die nicht nur, wie Vergil in 583ff.. nochmals einschärft, gegen den Willen ihres Königs, sondern gegen die g ö t t l i c h e Ordnung (vgl.yota in 7,584) überhaupt verstößt. Vergil greift also zur Verdeutlichung dieser Ereignisse werkimmanent auf den Zusammenhang des 1. Aeneisbuches zurück, wo (libyscher) Seesturm und Volksaufstand auf eine Ebene gebracht worden waren, indem er - an strukturell genau entsprechender Stelle, im ersten Buch der zweiten, 'iliadischen' Aeneishälfte - Bild- und Realebene abermals vertauscht und so in die Relation des 2. Iliasbuches zurückfuhrt. Diese Seesturm-/Wogengleichnisse des 7. Buches dienen demnach, wie vor dem Hintergrund des Gleichnisses vom Volksaufstands im 1. Buch zusätzlich deutlich wird, zur Verdeutlichung des furor der Latiner (vgl. furor arma ministrat: 1,150) und kennzeichnen damit nicht nur ihr äußerliches Handeln, sondern - eindeutig in 7,586ff, abgeschwächt in 528ff 718ff. - auch die in ihrem Wesen liegende innere Triebkraft, die nun durch keinen virpietate gravis ac meritis bzw. einen Gott wie Neptun zur Ordnung gerufen werden kann. Vergil wählt also wie schon im 1. Aeneisbuch die

185

Siehe Horsfall 1995, 189.

2. αταξία und θόρυβος und dasyüror-Konzept in der Aeneis

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Seesturm-/Wogenmetaphorik e x p l i z i t zur Verdeutlichung des gegen Jupiters Ordnung verstoßenden furor der Latiner, wie Homer dies nach Auffassung seiner antiken Interpreten i m p l i z i t getan hatte, um αταξία und θόρυβος am Beispiel der Griechen ins Bild zu fassen, die sich anders als ihre trojanischen Gegner zwar nur in dieser einen Situation hiervon überwältigen lassen, hierdurch jedoch (wie die Latiner) das τέλος des epischen Geschehens gefährden. Den Zusammenhang zwischen diesem Aspekt antiker Homerdeutung, nun speziell auf die Trojaner angewandt, und furor als Wesensprinzip der vergilischen Latiner zeigt deutlich schließlich noch die Adaptation einer weiteren Iliasszene, in der wiederum ein Gleichnis das besondere Interesse der antiken Interpreten auf sich zog. Die oben vorgestellte antike Auffassung, Homer habe die Trojaner in ihrem Wesen und Handeln durch ihre αταξία charakterisieren wollen, stützte sich unter anderem auf die Schilderung ihres Auszugs in den Kampf gegen die Griechen zu Beginn des 3. Iliasbuches: Homer vergleicht sie in ihrem Lärmen und Geschrei mit Kranichen, die zu Beginn des Winters krächzend nach Süden ziehen (3,3-7), und stellt ihnen den schweigenden Zug der Griechen gegenüber (8f.). Diese Gegenüberstellung der beiden Heere vor ihrem ersten in der Eposhandlung geschilderten Zusammentreffen fand in der antiken Iliasrezeption starke Beachtung: Einer Deutung zufolge, die sich mindestens bis auf Philodem, den Lehrer Vergils und des Horaz, zurückverfolgen läßt186, ist in dem durch das Vogelgleichnis verdeutlichten Geschrei der Trojaner beim Aufmarschieren ein äußeres Symptom ihres unruhigen, aufrührerischen und insofern 'barbarischen' Wesens zu sehen; ihnen habe Homer die disziplinierte, gehorsame und geordnete Wesensart der Griechen in derselben Situation gegenübergestellt. Unter den zahlreichen Belegen seien hier zwei besonders aufschlußreiche zitiert, die zwar späteren Datums sind, jedoch in ihrem Kern, wie Philodem zeigt, in wesentlich früherer Zeit verbreitet waren187;

186

187

Philodem col. VII 27sqq. p. 33 ed. Olivieri; auf die Stelle verweist Lausberg 1985, 1570. Die Zugehörigkeit Vergils zum Schülerkreis Philodems kann mit der sicheren Lesung seines Namens auf einem Papyrus aus Herculaneum als geklärt betrachtet werden (vgl. Erler 1992, 106 m. Anm. 16). Zu weiteren möglichen Einflüssen Philodems auf Vergils furorGedanken im Hinblick auf A e n e a s siehe S. 194. Auf die Stellen verweist Marion Lausberg (1985, 1570 Anm. 16); vgl. auch Ps. Plut. 2,149,4f.: (έπι) τών στρατευμάτων εις μάχη ν συννόντων (έφη) „Τρώες μεν κ λ α γ γ ή τ' ένοπή τ' ίσαν, όρνιθες ώς, / οί δ' άρ' ίσαν σιγή μένεα πνείοντες 'Αχαιοί,,, βαρβαρικόν γαρ ή κραυγή, Έ λ λ η ν ι κ ό ν δέ ή σιωπή (vgl. 2,86,1); Eustath. 370,16-19 ενταύθα τοίνυν την εις τον πόλεμον αυτών άπροβούλευτον, ώς έδηλώθη, καΐ δια τούτο ούκ εύκοσμον πρόοδον ύποδηλών μετά κλαγγής, ήτοι

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II. Ethische Exegese

eine ähnliche Deutung der Gegenüberstellung beider Parteien scheint ferner bei Gellius impliziert: Dion Chrys. 2,52: έκ δέ τούτων των επιτηδευμάτων τους τε άρχοντας πεποίηκεν αγαθούς και τό πλήθος εΰτακτον. προΐασι γοΰν αύτω „σιγή, δειδιότες σημάντορας", οί δέ βάρβαροι μετά πολλού θορύβου και αταξίας, ταΐς γεράνοις ομοίως. Plut. mor. 29d: έτι δέ και τάς έν τοις γένεσι διαφοράς σκεπτέον, ων τοιούτος έστιν ό τρόπος, οί μεν Τρώες έπΐασι μετά κραυγής και θράσους, οί δέ 'Αχαιοί „σιγή δειδιότες σημάντορας". Gell. 1,11,8-9: sed enim Achaeos Homerus pugnam indipisci ait non fldicularum tibiarumque, sed mentium animorumque concentu conspiratuque tacito nitibundos: οί δ' άρ' ϊσαν σιγή μένεα πνείοντες 'Αχαιοί, / έν θυμω μεμαώτες άλεξέμεν άλλήλοισιν. quid ille vult ardentissimus clamor militum Romanorum, quem in congressibus proeliorum fieri solitum scriptores annalium memoravere? „Schweigen" und „Lärmen" erschienen den Interpreten demnach als äußere Kennzeichen von „Ordnung, Disziplin" bzw. „Unordnung, Anarchie, Chaos", die Homer als Wesensformen einander gegenüberstellen wollte. Elemente aus diesem das „Schreien" der Trojaner ausmalenden Gleichnis, das in der Homerexegese unter den übrigen Vogelschwarm-Gleichnissen der Ilias an Berühmtheit offensichtlich herausragte, hat Vergil in der Aeneas mehrfach, und zwar jeweils in unterschiedlicher Weise aufgegriffen: Schon Heyne hat auf Aen. 7,699-702 verwiesen, wo Vergil im Rahmen des Katalogs den Zug der italischen Kämpfer, die ihren König besingen, mit dem der Schwäne vergleicht, die canoros / dant per colla modos, sonat amnis et Asia longe / pulsa palus (700ff). Es wird sogleich deutlich, daß dieser Gesang, abgesehen von der deutlich parallelen Situation, wenig mit dem Geschrei der Trojaner gemeinsam hat und kein Indiz für einen ungeordneten Auszug der Kämpfer ist, die aequati numero (698) dahinmarschieren. Macrob (sat. 5,10,1) wollte dagegen das Κ r a n i c h gleichnis in Aen. 10,264-266 als Gegenstück zu den Homerversen betrachten: das (Freuden-)Geschrei der Teukrer beim Anblick ihres nahenden Anführers 188 , der sie aus der Not der Belagerung durch Turnus befreien wird, vergleicht Vergil hier mit den grues, die dant signa ... atque aethera tranant / cum sonitu (265f.). Es ist hinreichend deutlich, daß auch dieses „Geschrei" wenig mit der αταξία der Trojaner gemeinsam hat.

188

άναρθρου θορύβου, προϊέναι εις μάχην φησιν αύτούς λέγων ... „Τρώες μεν κλαγγή (etc.)"; 371,28; 372,37-38. Zu diesem Gleichnis und der gesamten Szene siehe S. 237ff.

2. αταξία und θόρυβος und das füror-Konzept in der Aeneis

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Anders steht es dagegen mit dem Vogelgleichnis des 11. Aeneisbuches: Hier geraten die Latiner unmittelbar nach der oben schon erwähnten Versammlung bei Latinus - diesmal nun das gesamte Volk - auf die Nachricht vom Heranrücken der Aeneaden erneut in Aufruhr und bereiten sich in wildem Durcheinander auf den Kampf vor. Vergil verdeutlicht das neuerliche Lärmen der sich Rüstenden (454) mit dem Geschrei von Schwarmvögeln (catervae

avium) oder speziell v o n cycni:

Aen. 11,446

451

455

castra Aeneas aciemque movebat. nuntius ingenti per regia tecta tumultu ecce ruit magnisque urbem terroribus implet: (...) extemplo turbati animi concussaque vulgi pectora et arrectae stimulis haud mollibus irae. arma manu trepidi poscunt, fremit arma inventus, flent maesti mussantque patres, hie undique clamor dissensu vario magnus se tollit in auras, haud secus atque alto in luco cum forte catervae consedere avium, piscosove amne Padusae dantsonitum rauci per stagna loquacia cycni.

Knauer nennt als Vorbild des Gleichnisses die Verse II. 2,459-463, doch handelt es sich nur um eine - wenngleich von Vergil möglicherweise gezielt geschaffene - formale Entsprechung, da Homer hier die gegen die Trojaner aufmarschierenden Griechen hinsichtlich ihrer großen Zahl und ihres Getöses, das vom Stampfen auf den Erdboden während des Marsches herrührt (2,459/464; 463/466), nicht aber ihres Geschreis wegen mit den Vogelschwärmen vergleicht; kurz darauf, in 3,8f., wird dann von Homer, wie erwähnt, dem Geschrei der Trojaner gerade das Schweigen der Griechen gegenübergestellt. Tatsächlich verbindet klar das K r i e g s g e s c h r e i als jeweiliger Vergleichspunkt die zu den Waffen greifenden Latiner Vergils mit den in den Kampf ziehenden Trojanern zu Beginn des 3. Iliasbuches, womit auch der strukturellen Entsprechung zwischen den Trojanern der Ilias und den Latinern der Aeneis Rechnung getragen ist; den im 3. Iliasbuch ausziehenden Griechen sind demnach die Aeneaden zur Seite zu stellen, deren Heranrücken die Latiner in Schrecken versetzt. Für die Deutung der Aeneisszene entscheidend ist nun weder der strukturelle noch der in einer Detailimitation liegende formale, sondern der innere Zusammenhang zu der Eingangsszene des 3. Iliasbuches: Vergil verwendet das in dem Gleichnis verdeutlichte Geschrei der Latiner ganz offensichtlich als Kennzeichen ihrer chaotischen Kriegsvorbereitungen, nutzt dieses homerische Motiv somit, um in dieser Extremsituation einen Aspekt ihres Wesens hervorzuheben, und geht eben hierin in Übereinstimmung mit der antiken Deutung des Iliasgleichnisses im Sinne von αταξία und θόρυβος der

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einen Kriegspartei weit über Homer hinaus: So geht dem Gleichnis eine detaillierte Schilderung des seelischen Zustandes voran, in dem die Latiner ihre Vorbereitungen für den Kampf treffen, eines Zustandes, der durch äußerste Verwirrung (turbati animi189 concussaque vulgi / pectora, 45lf.; arma manu trepidi190 poscunt, 453) und heftigen Zorn (arrectae stimulis haud mollibus irae, 452) gekennzeichnet ist. Ist so schon deutlich, was dies für ein Geschrei ist und Kriegsvorbereitungen welcher Art es kennzeichnet, so liegt eine zusätzliche Pointe bei Vergil noch darin, daß der clamor, das Stimmengewirr, eindeutig durch gegenseitiges Überschreien entsteht (dissensu vario), wiederum also Ausdruck von Anarchie und 'discordia' ist, und nicht etwa, wie dies die Homerinterpreten den Trojanern immerhin an einer Stelle 'zubilligten', auch durch die Tatsache der Vielsprachigkeit bedingt ist191. Den hier hervorgehobenen Aspekt von „Unordnung" und „Anarchie" hat sehr deutlich auch S t a t i u s empfunden und in seiner Imitation der Aeneisszene - in seiner Schilderung der plötzlichen, chaotischen Kriegsvorbereitungen, die die vor Theben lagernden Argiver treffen - noch stärker herausgestellt: Theb. 7,608 610

614

rumpitur et Graium subito per castra tumultu concilium192 (...) natas ipsamque repellunt qui modo tarn mites, et praeceps tempore Tvdeus utiturin: 'ite age, nunc pacem sperate fidemaue! C...'V94 sie fatus aperto ense vocat socios. saevus iam clamor19S, et irae196 hinc atque inde calent; nullo venit ordine bellum, confusique duces volgo, et neglecta

189

190 191

192 193 194 195 196

regentum

Also wie schon in der oben erwähnten voraufgehenden Situation in Aen. ll,296ff. (vgl. ora... turbata. 296f.). Ygj w i e ( j e r u m die vorangegangene Szene: trepida ora (11,300). Schol. [bT] 4,437: είκότς το βάρβαρον θορυβώδες έ σ τ ι ν έτερόγλωσσον γάρ έστιν [vgl. 4,438], δ δέ ουκ έστιν όμόφωνον, τοΰτο άνάγκτ| θορυβώδες). Die Vorstellung, daß die 'barbarische' Vielsprachigkeit discordia bewirkt, findet sich in der epischen Tradition explizit dann beim Vergilimitator S i 1 i u s , bei dem es mit Bezug auf Hannibals Truppen heißt: dissona lingua / agmina, barbarico tot discordantia ritu / corda virum (16,19ff.). - Mit discordia beschreibt Vergil die Uneinigkeit, die das Verhalten der Latiner prägt, dann explizit in Aen. 12,583, als diese vor der Entscheidung stehen, dem überlegenen Gegner die Tore ihrer Stadt zu öffnen oder den Kampf fortzusetzen. vgl. Aen. 1 l,469f. concilium ipse pater et magna ineepta Latinus /deserit. Vgl. Aen. 11.459 arrepto tempore Turnus. Vgl. Aen. 1 l,459f. 'immo,' ait 'o cives, '... / 'cogite concilium et pacem laudate sedentes (...% Vgl. Aen. 11,454 hie undique clamor (se tollit in auras). vgl. Aen. 11,452 arrectae stimulis haud mollibus irae.

2. αταξία und θόρυβος und das/wror-Konzept in der Aeneis

imperia; una equites mixtipeditumque et rapidi currus (...)

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catervae

Der recht deutliche Zusammenhang zwischen dieser Schlüsselszene des 11. Aeneisbuches und der antiken Exegese ihres Modells in der Ilias zeigt, daß ein Vergleich der Aeneis mit ihrem epischen Vorbild, der sich nur auf formale Detailentsprechungen und strukturelle Parallelen stützt bzw. sich mit ihnen begnügt, wichtige innere, auf ihrem exemplarischen Kern beruhende Zusammenhänge zwischen homerischen und vergilischen Szenen übersieht, daß diese aber hervortreten, wenn die antike Homerrezeption herangezogen wird; dies wird im Fortgang dieser Untersuchung noch häufiger zu beobachten sein. Wenngleich in d i e s e r Szene zur Charakterisierung der Latiner der Begriff furor, der oben als speziell vergilische Entsprechung zum άτακτον καν θορυβώδες der Trojaner in der Ilias aufgefaßt wurde, nicht ausdrücklich fallt, läßt der Dichter durch eine Reihe von Anspielungen sehr deutlich werden, daß dieser Leitgedanke auch dieser Schilderung der Emotionen, die die Latiner fortreißen, zugrundegelegt ist: Die chaotischen Kriegsvorbereitungen im 11. entsprechen recht genau denjenigen des 7. Aeneisbuches (623ff.), nach der Öffnung des Janustempels durch Juno, die so den in ihm eingekerkerten Furor entfesselt; wenn ferner die Latiner arma manu trepidi poscunt (11,453), bringt sie dies mit dem aufständischen Volk im ersten Aeneisgleichnis in Verbindung, dem furor arma ministrat (1,150); die latinische inventus schreit nach Waffen (fremit arma) wie der im geschlossenen Janustempel eingekerkerte Furor ... fremet ... ore cruento (1,296) und Turnus, nachdem ihm Allecto die Fackel in die Brust gestoßen hat, arma amens fremit (460) - daß fur Vergil hierin furor konstituiert ist, zeigt der folgende Vergleich des Rutulers mit dem Kessel, in dem das brodelnde Wasser furit (464); Turnus, der in der Situation des 11. Buches die Kriegsbereiten anfuhrt, cingitur ipse furens (486). Vergil läßt durch diese Signale demnach keinen Zweifel darüber, welche Triebkraft hinter Emotionen und Handeln der Latiner in dieser Situation steht. Damit schafft die Szene des 11. Aeneisbuches eine unmittelbare Parallele zwischen Vergils /wrar-Konzeption, die er hier (wie öfter) auf die Latiner anwendet, und der moralisierenden Auffassung der Trojaner der Ilias, die Homer nach einer verbreiteten Ansicht in der Iliasrezeption durch αταξία und θόρυβος in ihrer Wesensart charakterisieren wollte. Auch L u c a η hat die antike Interpretation der charakterisierenden Gegenüberstellung beider Heere bei Homer in seiner Nachgestaltung der

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Szene ganz offensichtlich aufgegriffen 197 und vermag so die Annahme, daß auch Vergil von dieser Interpretation Kenntnis besessen hat, zu stützen: Zu Beginn des 7. Buches stellt er die vor der Schlacht von Pharsalos - wie Griechen und Trojaner zu Beginn des 3. Iliasbuches - ausziehenden Heere der Pompeianer und Caesarianer einander gegenüber und kontrastiert ihre Verfassung unter dem Aspekt der Ordnung: Lucan. 7,216 332

non temere immissus campis; stetit ordine certo infelix acies (...) calcatisque ruunt castris; stant ordine nullo, arte ducis nulla permittuntque omnia fatis.

Lucan weicht in dieser Gestaltung zweifellos absichtsvoll von der historischen Überlieferung ab, um die gegnerischen Heere in ihrer Gegensätzlichkeit zu charakterisieren. Er hat somit auf eine von Vergil, wie gesehen, nicht in so direkter Form übernommene homerische Szene unmittelbar zurückgegriffen. Lucan charakterisiert jedoch nicht nur in dieser Szene die Caesarianer durch das Fehlen von Ordnung, das als ein Wesensmerkmal in dieser Situation zu Tage tritt, und auch sonst durch Geschrei und Unruhe 198 , sondern kennzeichnet sie - und hier zweifellos in Anlehnung an die Aeneis - in der gesamten Eposhandlung durch ihren furor, der als Wesensprinzip in besonders krasser Weise in ihrem Führer verkörpert ist199. Lucan hat demnach offenbar den Zusammenhang zwischen diesem Leitgedanken des vergilischen Epos und ευταξία und αταξία im Wesen von Griechen und Trojanern als Interpretationskategorien der ethischen Homerexegese erkannt und in seiner aemulatio mit Homer wie Vergil aufgegriffen. Als Befund bleibt für die Aeneis festzuhalten, daß der /wror-Gedanke insbesondere in der Exposition des 1. Aeneisbuches, aber auch in seiner Anwendung auf das fatum-feindliche Verhalten der Latiner unter Führung des Turnus auffallige Parallelen zu einem wichtigen Deutungsmuster der antiken ethischen Homerexegese aufweist und daß hierdurch die Beziehung mehrerer zentraler Aeneisszenen zum homerischen Modell präzisiert werden kann. Zu den Folgerungen für die Charakterisierung von Trojanern und Latinern in der Aeneis insgesamt wird auf die Zusammenfassung verwiesen 200 . 197

Lausberg 1985, 1586ff. Lucan. l,352f. 388ff. 199 Vgl etwa Lucan. 4,517; 2,439f.; 3,303f.; ira, saevitia, rabies u.ä. als Äußerungen dieses furor. 1,146fr.; 3,356ff; 4,2; 7,245ff. Auf der Grundlage des furor dient der Τ u r η u s der Aeneis als Vorbild sowohl für Caesar (vgl. etwa 5,577f. 592 mit Aen. 9,126; 10,276. 284 [Motiv der fortuna]) als auch fur die Caesarianer Vulteius (4,542ff, vgl. Aen. 9,5 Iff.) und vor allem Scaeva (6,165fF., vgl. hiermit Turnus' Aristie in Aen. 9,525ff.). 200 Siehe S. 221ff. 198

3. Aeneas

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3. Aeneas Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, besitzt die Gestalt des homerischen Odysseus als strukturelles Vorbild für die Aeneasgestalt vor allem in der ersten Hälfte der Aeneis, sekundär auch noch im maius opus zentrale Bedeutung. In den folgenden Kapiteln werden auch andere, für die Charakterisierung der Aeneasgestalt bedeutsame Figuren bei Homer in ihrer antiken Deutung herangezogen, doch die Gestalt des Odysseus steht in dieser Untersuchung im Vordergrund; und dies nicht ohne Grund: Der πολύτλας der Odyssee beschäftigte in besonderer Weise die ethische Homerexegese der hellenistischen wie römischen Epoche und wurde - wie nur noch der Achill der Ilias - auch über die epischen Einzelszenen hinaus zu einem 'Typus'. Während die antike Deutung der homerischen Einzelszenen, auf die Vergil in seiner Umformung Bezug nimmt, jeweils an Ort und Stelle darzulegen ist, soll daher vorweg die Auffassung der Odysseusgestalt in der antiken Homerexegese skizziert werden, die der folgenden Untersuchung der Aeneasgestalt bei Vergil in ihrem Bezug zur Homerkommentierung zugrundezulegen sein wird. In seinem Brief an Lollius (epist. 1,2) stellt Horaz den verderblichen Leidenschaften, wie sie Achill, Agamemnon und viele andere in der Ilias zeigen, die beispielhafte Kraft von virtus und sapientia (17) des Odysseus gegenüber, die ihn die Widrigkeiten des Schicksals (aspera multa, 21) überstehen lassen, adversis rerum immersabilis undis (22), und den Versuchungen der Sirenen und der Kirke (23ff.) ebenso wie dem Wohlleben der Phäakeninsel (27ff.) gegenüber unempfänglich machen. Zu Beginn des Gedichts hatte Horaz die moralische Paränese, die die Lektüre der homerischen Epen leisten kann, den Schriften des Stoikers Chrysippos und des Akademikers Krantor positiv gegenübergestellt; virtus und sapientia des Odysseus bei Homer erscheinen so in die Nähe stoischer Ideale gebracht201. Mit dieser ethischen Deutung des homerischen Helden steht Horaz durchaus nicht allein, vielmehr besitzt die Auffassung insbesondere des odysseischen202 Odysseus als Ideal des besonnenen Weisen eine lange Tradition, die wesentlich auf Antisthenes, den Begründer der kynischen Schule, 201

202

Vgl. ferner Ps. Plut. 2,163,1-2 zum Proöm der Odyssee: έν τη 'Οδύσσεια (sc. προαποφωνεΐ) όσοις πόνοις και κινδυνοις περιπεσών ό Οδυσσεύς πάντων τή της ψυχής συνέσει και καρτερία περιεγένετο (vgl. Lausberg 1985, 1583 Anm. 70). Zur antiken Deutung der mythologischen Odysseusgestalt seit der frühgriechischen Lyrik umfassend Stanford (1954), des homerischen Odysseus Buffiere (1956), bes. 316ff. 350ff. 364-391.

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zurückgeht203 und von Zenon zum Allgemeingut auch stoischer Lehre gemacht wurde204. Von der Verbreitung dieser idealisierenden Deutung des Odysseus im Rom der späten Republik und im frühen Prinzipat zeugt neben dem zitierten Lolliusbrief des Horaz Cicero, der Odysseus mehrfach als Typus des sapiens anfuhrt205. Der Preis des homerischen Odysseus als einer Verkörperung des (stoischen) Weisen durchzieht schließlich die philosophischen Schriften Senecas, der so besonders deutlich die moralisch-philosophische Interpretation der Odysseusgestalt repräsentiert206. Während diese Hinweise auf eine verbreitete ethische Auffassung des Helden eher allgemein gehalten sind, finden sich in den Homerscholien207 sowie bei Ps. Plutarch208 und Ps. Heraklit Interpretationen einzelner Szenen, an denen die philosophische Grundhaltung Homers exemplifiziert wird, der sich seines Helden als eines δργανον πάσης αρετής (Ps. Heraklit 70,2) bediene. 203

Stanford 1954, 100; ausführlich zum Odysseusbild des Antisthenes und der kynischen Tradition Höistad 1948, 94-102; vgl. auch N. Richardson, Homeric professors in the age of the sophists, PCPhS 201, 1975, 63-81, hier 77ff. 204 Vgl. Stanford 1954, 121. 205 Stanford verweist auf Cie. Tusc. 2,21,48f. (Pacuvius lasse zu Recht den Odysseus seine Verwundung bei der Ebeijagd besser ertragen als Sophokles in seinem Drama: so gehöre es sich für einen sapiens, denn hui us animi pars illa mollior rationi sie paruit ut severe imperatori miles prudens in quo vero erit perfecta sapientia) sowie auf fin. 5,18,49 (die Sirenen können Odysseus als einen sapiens nur locken, indem sie ihm Wissen versprechen); vgl. auch Cie. off. 3,26,97. 206 Ygi gt w a dial 2,2 (Odysseus und Hercules als sapientes, ... invictos laboribus et contemptores voluptatis et victores omnium terrorum); epist. 88,5 (man faßt Homer durch seine Charakterisierung des Odysseus als einen Stoicum auf, da er sich durch Odysseus zeige als virtutem solam probantem et voluptates refugientem et ab honesto ne immortalitatis quidem pretio recedentem). Zu dem auf Euripides zurückgehenden, hiervon abweichenden Odysseusbild in den Tragödien Senecas s. Stanford 1954, 144f. Zu verweisen ist schließlich auf die zwar späte, vor dem Hintergrund der zitierten früheren Belege zweifellos aber auch schon für die augusteische Epoche repräsentative 'Paraphrase' des Odysseeproöms bei Apuleius (met. 9,13,4): nec immerito priscae poeticae divinus auetor apud Graios s u m m a e prudentiae ν i r u m monstrare cupiens multarum civitatium obitu et variorum populorum cognitu summ as a d e ρ t u m virtutes cecinit. 207 Die exegetischen Kommentare in den - im Vergleich zu den Iliasscholien dürftigen - Odysseescholien sind allerdings generell eher spärlich und tragen vergleichsweise wenig zur Kenntnis ethischer Einzelinterpretation der Odyssee bei; die positive Bewertung des Odysseus in den Iliasscholien (hierzu im folgenden), insbesondere den exegetischen bT-Scholien, zeigen, daß die primär auf den Charakter des odysseischen Helden gestützte stoische Interpretation auch auf Teile der übrigen literarischen Tradition, in der Odysseus ursprünglich nicht so günstig dastand, übergegriffen hat. 208 y g i P s phjt. 2,4,3 (ψυχής γενναιότης); 2,116 (τό σέβειν τους Οεοΰς); 2,136,5 (Odysseus als συνετός καν καρτερός τη ψυχή, vgl. 2,163,2: Ο. ausgezeichnet durch τής ψυχής συνέσει και καρτερία).

3. Aeneas

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Diese positive Einschätzung des Odysseus wurde namentlich auf die Standhaftigkeit des πολύτλας der Odyssee gestützt, griff von hier aber - wie besonders die exegetischen Iliasscholien zeigen209 - auch auf die Beurteilung des Helden in der Ilias und schließlich in der Tragödie über210. Ihr stand jedoch eine noch weiter zurückzuverfolgende kritische, ja negative Deutung gegenüber. Bereits Pindar eröffnete die Kontroverse um den Charakter des Helden211: Im Unterschied zur Odyssee und auch zur Ilias erschien der Held, dessen Haupteigenschaft - seine Intelligenz - schon bei Homer ethisch ambivalent ist, vielleicht schon in den kyklischen Epen212 und dann in der Tragödie, soweit sie ihre Motive aufgriff, in eher düsteren Farben, so etwa wenn ihn die mythische Überlieferung in der όπλων κρίσις auf höchst unrechtmäßige Weise den Sieg über Aias davontragen ließ - eine Diskrepanz, die schon in der antiken Homerrezeption bemerkt wurde213. Dieses eher problematische Odysseusbild wurde von seiner Idealisierung durch die Philosophie in den Hintergrund gerückt, so daß die positiven Züge des 'Dulders'214 seine übrigen Eigenschaften zum Teil verdrängten215. In der Aeneis tritt Odysseus direkt insbesondere in den Apologen des Aeneas in Erscheinung, und zwar sowohl in dem Bericht des Erzählenden selbst als auch in seiner Wiedergabe der Äußerungen aus dem Munde des Betrügers Sinon und des von Odysseus bei den Kyklopen zurückgelassenen Achaemenides. Ein Teil dieser expliziten Reminiszenzen an den Griechen vermittelt zunächst ein durchaus negatives Bild: Odysseus erscheint als durus (2,7), dirus (2,261. 762), als pellax (2,90) und Ränkeschmied (2,44. 62), ja als scelerum inventor (2,164). Diese fragwürdigen Züge erhält der Held freilich, soweit sie über kurze, geradezu konventionell wirkende Epitheta aus dem Munde seines Kriegsgegners Aeneas216 hinausgehen, in den Erfindungen des Lügners Sinon, wenn dieser auch gerade durch solche Reden das Zutrauen der Trojaner erweckt. Obwohl der griechische Held im

209

Hier wird Odysseus für seine Sündhaftigkeit im Schmerz gerühmt (Schol. [bT] 11,439; s. S. 156), für seinen Freundschaftssinn (Schol. [bT] 11,396-8) und seine πρόνοια im Kampf (Schol. [bT] 4,497), als idealer Soldat und überhaupt π ο λ ύ τ ε χ ν ο ς (Schol. [AbT] 8,93), schließlich als ein πάντα λογισμω πράττων (Schol. [b] 7,168). Zu weiteren Belegen fur die positive Würdigung des Odysseus in den Iliasscholien s. Erbse 1969-88 VII, 130.

210

Vgl. Cie. Tusc. 2,21,48fr. Vgl. Stanford 1954, 91ff. Vgl. Stanford 1954, 85ff. Vgl. Cie. off. 3,26,97. Vgl. Höistad 1948, 99. Vgl. Stanford 1954, 121ff. So zutreffend Galinsky 1981, 1002 mit Verweis auf Stanford 1954, 136.

211 212 213 214 215 216

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Rahmen der Iliupersis demnach prima facie so erscheint, w i e ihn namentlich die Tragödie geradezu topisch vorführte, geschieht dies durch die Erzählperspektive bereits in einer g e w i s s e n Brechung 2 1 7 . Als ferner die Erinnerung an die K ä m p f e u m Troja in den Erzählungen des A e n e a s in den Hintergrund gerückt ist, erscheint auch Odysseus, der das Schicksal des Erzählenden teilt, als infelix (3,613. 691) 2 1 8 , und in den Worten des Achaemenides läßt A e n e a s (bzw. Vergil) auch durchaus Bewunderung für den (odysseischen) Odysseus laut werden (vgl. 3,628f.); aus dem Helden der homerischen Kyklopie, der den Gegner durch Schlauheit und List ausschaltet, wird in dieser Erzählung ein „righteous man w h o cannot tolerate the crimes committed b y a monstrum that does not abide b y human conventions" 2 1 9 , d e s s e n Handeln so moralisch gerechtfertigt erscheint 220 . A u c h hat Vergil durch eine dezente Kürzung der sonst der Kyklopenepisode des 9. Odysseebuches e n g nachgestalteten Achaemenides-Erzählung vielleicht gleichsam eine „Ehrenrettung" des Helden mitbezweckt 2 2 1 . Damit wird schon deutlich, w i e ambivalent Odysseus auch in den 'historischen', expliziten Bezugnahm e n des Aeneisdichters dasteht, w i e seine Rolle aber auch hier in d e m

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Auch in der Deiphobusrede erscheint Odysseus als grausam (6,529 hortator scelerum Aeolides), in der Numanusrede als fandi fictor (9,602; möglicherweise eine Wiedergabe des πολύτροπος), im ersten Fall also wiederum in dem Bericht eines Kriegsgegners, im zweiten als (in polemischer Absicht zitiertes) Exemplum mangelnder Tatkraft, die der größenwahnsinnige Prahler zu Unrecht für sich in Anspruch nimmt (wofür er von Ascanius bestraft wird): Auch an diesen beiden Stellen ist das traditionell negative Bild des Odysseus sichtlich aus subjektiver Perspektive gezeichnet und läßt keinen Schluß auf das Odysseusbild des Erzählers zu. Er erhält damit ein Epitheton, das, wie an der infelix Dido (1,712; 4,68. 450. 529. 596) deutlich wird, vom Dichter gewählt werden kann, um Sympathie zu wecken (vgl. Galinsky 1981, 1002). Galinsky 1981, 1002. Die hierdurch bewirkte Relativierung des negativen direkten Odysseusbildes läßt Berres (1993, 361f.) nicht gelten, obwohl auch er in dem infelicis ... Ulixi von 3,691 eine „mitfühlende Äußerung" erblickt, und plädiert für eine strenge Unterscheidung zwischen dem oben skizzierten literarischen Odysseus und dem „in der fiktiven Aeneishandlung als existent gedachten" Ulixes. Die Notwendigkeit dieser Differenzierung betrifft freilich, wie sich zeigt, schon die vorvergilische literarische Rezeption der Odysseusgestalt selbst, die im Odysseusbild des 2. und 3. Aeneisbuches und in der im folgenden nachgewiesenen impliziten Bezugnahme auf den idealisierten Helden der Odyssee nur gespiegelt ist. Hätte Achaemenides auch den homerischen Fluchtbericht übernommen, demzufolge Odysseus nach seinen eigenen Worten ausdrücklich a l s l e t z t e r die Höhle verlassen hatte (Od. 9,444), wäre dieser in ein fragwürdiges Licht geraten; dies aber wird dezent übergangen: „the notion that anyone could have been left behind by this wily hero in his finest hour is surely inconceivable ... Vergil's later and more obtrusive silence about that final maneuver may well indicate Vergil's awareness that hereabouts there were indeed a problem" (so Harrison 1986, 146f).

3. Aeneas

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Moment wechselt, wo er sich wie Aeneas als infelix dem Unglück der Irrfahrten unterziehen muß222. Durch seine Bewährung in dieser Lage aber, so die oben skizzierte Auffassung antiker Homerdeutung, hatte Homer ein Ideal menschlicher Bewährung überhaupt geschaffen. Im folgenden wird nun zu überprüfen sein, inwiefern Vergil auch indirekte Hinweise auf diesen Odysseus gibt und ob hierbei diese positive literarische Rezeption des homerischen Helden eingeflossen ist, ja dieser Odysseus zum Modell für Aeneas werden konnte.

a) Der Trost an die Gefährten Aeneas und seine Gefährten sind mit sieben Schiffen mit Hilfe Neptuns dem von Juno entfesselten Seesturm entkommen und haben das nächstgelegene Ufer des ihnen noch unbekannten Landes erreicht (157ff). Aeneas hat auf einem Erkundungsgang, von dem er sich Aufschluß über das Schicksal der übrigen Gefährten erhofft hatte, mehrere Hirsche erlegt (185ff). Nach dem gemeinsamen Mahl mit seinen Gefährten spricht er zu ihnen und versucht ihnen in Unterdrückung der eigenen Sorge Mut zu machen, indem er sie insbesondere an bereits erfolgreich überstandenes größeres Leid und an den göttlichen Willen erinnert, der ihnen eine glücklichere Zukunft in einem wiedererstandenen Troja verheißen hat: Aen. 1,197

200

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...et dictis maerentia pectora mulcet: Ό socii (neque enim ignari sumus ante malorum), ο passi graviora, dabit deus his quoque finem. vos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantis accestis scopulos, vos et Cyclopia saxa experti: revocate animos maestumque timorem mittite; forsan et haec olim meminisse iuvabit. per varios casus, per tot discrimina rerum tendimus in Latium, sedes ubifata quietas ostendunt; illic fas regna resurgere Troiae. durate, et vosmet rebus servate secundis.' talia voce refert curisque ingentibus aeger spem vultu simulat, premit altum corde dolorem.

Landung in Karthago, Erkundungsgang, gemeinsames Mahl und Rede an die Gefährten entsprechen strukturell deutlich dem Zusammenhang des 10. 222

Berres' Vermutung (1993, 362), Vergil habe es absichtsvoll zu keiner „direkten Interaktion zwischen Aeneas und Ulixes" kommen lassen, „obwohl die Tradition ihm dazu Gelegenheit geboten hätte", scheint mir vor diesem Hintergrund bedenkenswert.

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II. Ethische Exegese

Buches der Odyssee223. Hier berichtet Odysseus den Phäaken, wie er und seine Gefährten, mit knapper Not den riesigen Laistrygonen entkommen, die die übrigen Schiffe samt Besatzung im Hafen ihrer Insel zerschmettert224 und die Menschen verspeist hatten (124ff.), auf Aiaia, der Insel Kirkes, gelandet seien. Ebenso wie Aeneas begibt sich Odysseus auf eine Expedition (144ff), allerdings mit dem Ziel festzustellen, ob die Insel von Menschen bewohnt werde225, und kehrt mit einem erlegten Hirsch zu seinen Gefährten zurück (169ff). Noch vor dem Mahl spricht er ihnen ebenso wie Aeneas Mut zu: Od. 10,172

175

... ανέγειρα δ' εταίρους μειλιχίοις έπέεσοι παρασταδόν άνδρα εκαστον· 'ώ φίλοι, ού γάρ πω καταδυσόμεϋ', άχνύμενοι περ, εις Άΐδαο δόμους, πριν μόρσιμον ήμαρ έπέλΟηάλλ' άγετ', δφρ' έν νηΐ ϋοή βρώσίς τε πόσις τε, μνησόμεϋα βρώμης μηδέ τρυχώμεϋα λιμω.'

Eine zweite Rede, die Odysseus am nächsten Morgen an die Gefährten richtet, bricht den Gefährten dagegen geradezu das Herz (τοΐσιν δέ κατεκλάσθη φΰλον ήτορ, 198), da der πολύμητις ihnen erklärt, angesichts ihrer völligen Orientierungslosigkeit wisse er sich auch keinen Rat mehr: Od. 10,190

ώ φίλοι, ού γάρ ϊδμεν δπη ζόφος ούδ' δπη ήώς, ούδ' δπη ήέλιος φαεσίμβροτος είσ' ύπό γαΐαν ούδ' δπη άννεΐται· άλλα φραζώμεϋα ϋάσσον, εΐ τις έτ' έσται μήτις· έγώ δ' ούκ οΐομαι είναι (...)

Die Worte des Odysseus bringen den Gefährten das überstandene Leid die Laistrygonen ebenso wie den Kyklopen - in Erinnerung (199ff); Odysseus erkennt jedoch, daß man mit Weinen nichts gewinnen könne, und teilt seine Leute in zwei Gruppen, deren eine unter seiner Führung am Strand zurückbleibt, während die andere die Insel erkundet, um schließlich in Kirkes Hände zu fallen (208ff.). Die engen strukturellen und szenischen Entsprechungen und die (graphisch hervorgehobenen) sprachlichen Gemeinsamkeiten der Einleitungs-

223 224

225

Vgl. Knauer 1964, 173ff. Auch die Vorgeschichte der Landung - die jeweilige Zerstörung eines (in der Odyssee: des größten) Teils der Schiffe - verbindet demnach die Handlungskomplexe von Odyssee und Aeneis („Vergil hat offensichtlich ε-Sturm und Laistrygonenabenteuer kontaminiert": Knauer 1964, 175). Eine zweite Unternehmung mit diesem Ziel fuhrt Aeneas bei Vergil erst am nächsten Tag aus (305ff).

3. Aeneas

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verse lassen den Kontrast zwischen den Worten des Odysseus und des Aeneas um so deutlicher ins Auge fallen: Während jener die doch wohl beabsichtigte ermunternde Wirkung (vgl. μειλιχίοις έπέεσσι, 173) seiner Worte am Abend durch die trostlose Perspektive, die er den Gefährten am nächsten Morgen bietet, aufzuheben scheint und sie in größtem Kummer auf den Erkundungsgang schickt (208f. ... άμα τω [sc. Eurylochos] γε δύω καν εΐκοσ' εταίροι / κλαίοντες· κατά δ' άμμε λίπον γοόωντας όπισθεν), überwindet Aeneas seinen eigenen Kummer und spendet durch zuversichtliche Worte und eine hoffnungsvolle Miene Trost. Die zweite Rede des Odysseus am nächsten Morgen war in der Homerexegese Gegenstand lebhafter Diskussion: Einige Interpreten nahmen Anstoß daran, daß der Dichter Odysseus seine Gefährten mutlos machen lasse227, während seine Verteidiger verschiedene λύσεις anboten, etwa daß Odysseus selbst (vorübergehend) vom Kummer über die gegenwärtige Lage überwältigt werde (dabei jedoch keineswegs wirklich ratlos sei) (Schol. [HQ] 10,189) oder den Gefährten die dringende Notwendigkeit, einen (möglicherweise gefahrlichen) Erkundungsgang durch ein unbekanntes Land zu unternehmen, vor Augen stellen wolle (Schol. [BQT] Od. 10,189). Aristarch dagegen suchte das Problem zu lösen, indem er die Worte des Odysseus in Parenthese (δια μέσου) setzte, wobei er annahm, der Held könne sie im Falle eigener Verzweiflung nur zu sich selbst gesprochen haben: Schol. [HQ] Od. 10,193: έγώ δ' ούκ οΐομαι] τοΰτο είναι δια μέσου φησιν Άρίσταρχος ώς αν άπαλγήσαντος τοΰ 'Οδυσσέως ιδία άναπεφωνήσϋαι. Die Verschiedenheit dieser Lösungsversuche scheint darauf hinzuweisen, daß diese Rede des Odysseus - zumal in Antithese zu seiner ersten am Abend zuvor - ein 'locus valde vexatus' der antiken Homerkritik war. Die Interpreten mußten hier besonders dann Anstoß nehmen, wenn sie ein bereits idealisiertes Odysseusbild zum Maßstab ihrer Deutung wählten. Betrachtet man Vergils Nachgestaltung der Homerszene, so scheint es, als habe er den Vorschlag Aristarchs - ob er ihn im Hinblick auf die Intention des Odysseedichters teilte, bleibe dahingestellt - in gewisser Weise aufgegriffen: 226

227

Es ist Austin (zu 198) zu folgen, der die Junktur neque enim als Einleitung einer Parenthese auffaßt und ein elliptisches verbum dicendi gedanklich ergänzt (etwa „Da wir vorher schon Unheil kennengelernt haben, : Auch diesen Leiden wird ein Gott ein Ende bereiten"); ähnlich fassen auch Ameis-Hentze und HeubeckHoekstra ού γάρ in Od. 10,174 (sowie 12,208) auf als begründende Vorbereitung des (allerdings ausgedrückten) Hauptverbs ([άλλ' άγετ']). Schol. [QT] 10,189: άλογόν έστι τό τους έταίρους άθυμία περιβάλλειν.

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Aeneas spricht seinen Kummer jedoch nicht nur „in Parenthese", im Selbstgespräch aus, sondern unterdrückt ihn ganz, lediglich der Erzähler teilt ihn mit228. So vermag die Erinnerung an die Überwindung der Kyklopenfelsen die Gefährten aufzurichten, die auf die Leidensgenossen des Odysseus, von den Worten ihres Anführers ausgelöst, gerade niederschmetternd gewirkt hatte. Vergils strukturelle Adaptation dieser kritisierten Odysseusrede in der parallelen Szenerie des 1. Aeneisbuches unter gleichzeitiger deutlicher Veränderung ihres Inhalts und ihrer Funktion war also geeignet, in besonderer Weise den Vergleich mit Homer herauszufordern, den spätestens - als 'Leitzitat' - die Erwähnung der Cyclopia saxa auslösen mußte. Dieser überbietende Vergleich mit Odysseus erscheint besonders dort, wo Aeneas in seinen Worten an die Gefährten seinen ersten Auftritt als handelnder Führer der Trojaner hat, für die indirekte Charakterisierung des Helden bedeutsam, der in seinem Verhalten gegenüber den socii, denen er unter Zurückstellung seiner eigenen Sorgen Trost zuspricht, schon direkt als magnanimus charakterisiert wird und so eine zentrale stoische Tugend verkörpert229. Einen möglichen Hinweis darauf, daß die hier aufgewiesene kontrastierende Imitationstechnik des Aeneisdichters von einem an Homer geschulten Publikum erkannt wurde, gibt die Art, in der der Homer- und Vergilimitator V a l e r i u s F l a c c u s i m Kontext seines Argonautenepos sowohl auf die Situation des 10. Odyssee- als auch diejenige des 1. Aeneisbuches Bezug nimmt: So versucht Jason nach der Landung im noch ganz unbekannten Colchis - in einem Moment größter Niedergeschlagenheit und Furcht der Argonauten - durch eine Ansprache die Gefährten mit Zuversicht zu erfüllen, indem er sie an ihre bisher errungenen Großtaten erinnert (5,313ff.), während er selbst von Sorgen gequält wird (5,297ff., bes. 30Iff). Er entspricht hierin deutlich dem Aeneas des 1. Aeneisbuches230. Gleichwohl bringt Valerius im Anschluß an die Rede Jasons nachdrücklich auch die odysseische Szene, die Vergil seiner kontrastierenden Nachgestaltung zugrundegelegt hatte, in Erinnerung: die (entmutigende zweite) Rede des Odysseus an die Gefährten und den unmittelbar folgenden Erkundungsgang am nächsten Morgen. Ebenso wie Odysseus (10,206ff.), aber anders als Aeneas, der sich unter freiwilliger Begleitung einzig des Achates (Aen.

228 Vgl Schlunk 1974, 54 mit Verweis auf das zitierte Scholion. 229 Y g i pöschl 1977, 42f.; Otis 1963, 232; vgl. auch Thornton (1976, 82), die das Motiv mit der von Cicero (Att. 5,10,3; vgl. 4,6,3) beschriebenen Haltung der altitudo bzw. βαϋύτης in Verbindung bringt. 230

Hierdurch wird die innere Verbindung zum 1. Aeneisbuch wesentlich enger als zu der im 7. Aeneisbuch geschilderten Landung an der Tibermündung (122ff.), die der Argonauticaszene strukturell (Erreichung des prophezeiten Fahrtziels) primär zugrundeliegt.

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1,312) auf den Erkundungsgang in das fremde Land begibt, bestimmt Jason im Anschluß an seine Rede durch das L o s , wer sich auf den Weg in die unbekannte, möglicherweise gefahrliche Umgebung (hier konkret in die 'skythische' [d.h. nicht ungefährliche] Stadt des Aeetes) begeben muß (5,325ff.)231. Der odysseische Zusammenhang ist neben dem vergilischen in der geschilderten Situation der Argonautica ferner dadurch gegenwärtig, daß die von Jason angeführte Expedition in die Stadt des Bruders der Κ i r k e geht232. Im Ergebnis ermöglichte es Valerius also die Vermittlung der kontrastierenden Imitationweise Vergils, einerseits auf die Situation der homerischen Odyssee - als eines noch immer gültigen epischen Vorbildes Bezug zu nehmen; andererseits vermochte er an der Stelle der von den Homerinterpreten kritisierten Rede des Odysseus in der schwierigen Situation unmittelbar vor der Expedition die Worte des vergilischen Aeneas nachzugestalten und durch sie 'seinen' Helden Jason positiv zu charakterisieren. Schon bei Macrob (sat. 5,ll,5ff.) findet sich die Auffassung, die Worte des Aeneas an die Gefährten seien in Inhalt und Funktion stärker noch einer anderen Rede des Odysseus nachempfunden, die jedoch in eine äußerlich ganz andersartige Situation fallt233: Im 12. Buch spricht dieser seinen Gefährten, kurz bevor er mit ihnen die Skylla passiert, gut zu, indem er sie in ganz ähnlicher Weise wie Aeneas an die schon überstandenen Leiden erinnert und daran, daß die spätere Erinnerung an das Durchstehen auch dieser Gefahr Freude bereiten könne: Od. 12,206

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αύτάρ έγώ δια νηός ιών ώτρυνον εταίρους μειλιχΐοις έπέεσσι παρασταδόν άνδρα έκαστον· 'ώ φίλοι, ού γ ά ρ πώ τι κακών άδαμήμονές είμεν· ού μεν δή τόδε μείζον έπι κακόν, ή οτε Κυκλωψ

Mit dem Unterschied gegenüber dem homerischen Odysseus, daß der Führer des auszulosenden Trupps von vornherein feststeht: Jason selbst, der in der hierdurch gegebenen Charakterisierung als Held wiederum der Aeneasgestalt nachempfunden ist. - Vergil läßt Aeneas das Losverfahren zwar in einem ganz ähnlichen Kontext - nach der Landung an der Tibermündung - anwenden (7,152ff.), doch erfüllt es hier nicht den Zweck, eine gefahrliche lind daher ungeliebte Aufgabe zuzuweisen - von Besorgnis und Furcht vor dem bisher nur durch Prophezeiungen bekannten Land findet sich weder bei Aeneas noch den Gefährten eine Spur. 232 Vgl. auch die unmittelbar folgende Erwähnung der Circaei campi (327). Kirke selbst tritt in den Argonautica dann im 7. Buch auf (21 Off: Venus hat ihre Gestalt angenommen, um Medea Liebe zu Jason einzugeben). 233 Durch dieses antike Parallelisierung wird die allgemein gehaltene Bemerkung des Servius zu Aen. 1,198 (totus hic locus de Naeviano Belli Punici libro translatus est) relativiert. Es ist Austin (zu 198ff.) recht zu geben, wenn er bemerkt, daß „this need mean no more than that Naevius also adapted Homer's passage, or included a comparable incident".

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εΐλει ένι σπήϊ γλαφυρω κρατερήφι βίηφιν άλλα και ένθεν έμή άρετή βουλή τε νόω τε έκφύγομεν, και που τώνδε μνήσεσϋαι όΐω. νυν δ' άγεθ', ώς αν έγώ εΐπω (...')

Auch auf diese Rede nimmt Vergil sprachlich (wiederum schon in den beiden Einleitungsversen) und motivisch engen Bezug; eine direkte Reminiszenz an diese Odysseusrede und die Szene, in der sie gesprochen wird, liegt femer in der ausdrücklichen Nennung der Kyklopen und der Skylla (200f.). Auch hier jedoch fallen einige Unterschiede, wohl ganz der Absicht Vergils entsprechend, den Vergleich mit der homerischen Vorlage herauszufordern, gerade angesichts der Detailentsprechungen ins Auge: Es ist die Leistung des Odysseus, wenn die Gefährten und er den bisherigen Gefahren entronnen sind, seinen Eigenschaften (άρετή, βουλή, νόος) war die Rettung bisher stets zu verdanken; Aeneas dagegen „trusts his men, and gives them credit for steadfastness" (Austin zu 198ff.), er teilt mit ihnen den bisherigen Erfolg - die Anapher des vos hebt gerade ihre Leistung besonders hervor und appelliert an ihren bisherigen Mut (revocate animos)234. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die antike Iliaskommentierung in vergleichbaren Reden der griechischen und trojanischen Anfuhrer an ihre Truppen besonderes Augenmerk darauf richtete, ob diese die Bereitschaft zeigten, die errungenen Erfolge der Gemeinschaft zuzuerkennen. So wurde dies in der Rede Achills auf seinen Sieg über Hektor (vgl. Schol. [bT] II. 22,393-4 Έλληνικώς κοινοποιεί την νΐκην), aber auch bei Aias positiv vermerkt (vgl. Schol. [bT] 7,226-7: κοινοποιείται ... άπαντα τοις φίλοις και έ ν α έ κ π ο λ λ ώ ν ε α υ τ ό ν φησιν - vgl. Aeneas' Anrede s ο c i /); dagegen wurde etwa Hektor getadelt, weil er sich die Erfolge des ersten Kampftages allein zuschrieb (Schol. [Τ] II. 8,498-9: πάλιν ... οίκειουται τό κατόρθωμα και έν τοις έξης ...)235. Zumal vor dem Hintergrund dieser Art der Homerinterpretation, die römischem Empfinden sehr entgegenkommen konnte, mußte der Unterschied zwischen Odysseus und Aeneas in den beiden einander entsprechenden Szenen ins Auge fallen. Bei Macrob (sat. 5,1 l,5ff.) wird in dem genannten Vergleich der Rede des Odysseus mit den Worten des Aeneas noch ein weiterer Unterschied herausgestellt, der auch von modernen Interpreten immer wieder hervorgehoben wurde236: Der Aeneas Vergils übertreffe in seinem Trost der Gefährten den Odysseus der Homerszene dadurch, daß er ihnen nicht nur mit der 234 235 236

Vgl. auch Liebing 1953, 8f. Vgl. ferner Schol. [bT] II. 2,132; [T] 8,502; [A] 11,328. Austin zu 198ff.; Schlunk 1974, 51; Lausberg 1983, 223.

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Aussicht, ebenso wie frühere Leiden auch das jetzige zu überstehen, sondern auch auf eine glückliche Zukunft Mut mache (Maro exstitit locupletior interpres ... [Aeneas] suos enim non tantum exemplo evadendi, sed et spe

futurae felicitatis animavit)231. Dieses Motiv - der Trost der Gefährten durch die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft nach dem Willen der Götter - verbindet die Worte des Aeneas noch mit einer bereits von Germanus zum Vergleich herangezogenen weiteren Homerszene, in der wiederum Odysseus mit einer Rede an die λαοί eine schwierige Situation zu meistern sucht238. Als die im 2. Buch der Ilias geschilderte Diapeira Agamemnons damit endet, daß die Griechen, die soeben noch diszipliniert wie ein Bienenschwarm unter dem Kommando ihrer Führer zur Heeresversammlung gezogen waren (87ff.), nun begeistert von der Aussicht auf eine - wenn auch ruhmlose Rückkehr in die Heimat wie die Meereswogen auffahren und zu den Schiffen eilen (144ff.), gelingt es Odysseus, diese Flucht aufzuhalten: Er erinnert in der wieder zusammengetretenen Heeresversammlung (208ff.) daran, daß die Griechen in Aulis von den Göttern ein günstiges Zeichen erhalten hätten, das ihnen den Sieg über Troja prophezeit habe (30Iff.). Odysseus schließt die Rede mit demselben Appell, mit dem er seine Erzählung des Aulisprodigiums eingeleitet hatte: II. 2,299 331

τλήτε, φίλοι, και μείνατ' έπι χρόνον (...) άλλ' άγε, μίμνετε πάντες.

Auch Aeneas erinnert an den göttlichen Willen: Die fata hätten bestimmt, daß in Latium, am Ziel ihrer Reise, ein neues Troja erstehen werde (205f.), eine Wendung, die er mit der Aussicht, daß göttlicher Wille den Leiden ein Ende bereiten werde (dabit deus his [sc. malis] quoque finem, 199b), vorbereitet hatte. Ebenso wie Odysseus beschließt er seine Rede mit einer Aufforderung: Aen. 1,207

durate, et vosmet rebus servate secundis.

Die Beziehung zwischen diesen beiden Szenen wird noch deutlicher, wenn die antike Interpretation der berühmten und vielfach zitierten oder

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Macrob verweist ferner darauf, daß Aeneas seine Gefährten mit zwei, Odysseus nur mit einem Präzedenzfall überwundener Leiden tröste und sein Hinweis auf eine glücklichere Zukunft eindeutiger ausfalle (deinde ille obscurius dixit „και που τώνδε μνήσεσϋαι όίω", hie apertius „forsan et haec olim meminisse iuvabit"). Es wird deutlich, wie detailliert in der Vergilexegese ein Vergleich zwischen Modell und Nachgestaltung ausfallen konnte und Vergils Absicht kontrastierender aemulatio mit Homer gerade in der Charakterisierung des Aeneas gut erkannt wurde. Auf die Iliasszene verweist im Zusammenhang mit der Aeneasrede Lausberg 1983, 223ff.

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imitierten239 Iliasstelle herangezogen wird: Bei Ps. Plutarch (2,166,4) wird die Rede des Odysseus als ein Beleg für den Gemeinplatz antiker Homererklärung angeführt, schon bei Homer werde die ρητορική τέχνη angewandt. Hier heißt es abschließend über den Odysseus dieser Szene: παρακλήσει δέ και έλπίδι τη έκ τών μαντειών συμπείύων μένειν 240 . Eben dies ist auch Ziel und Wirkung der Aeneasrede. Einen Anhaltspunkt für die Bezugnahme Vergils auf die Iliasszene bietet eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Schlußvers der Aeneasrede und der frei übersetzenden Nachgestaltung der Odysseusrede durch Cicero, der die Szene in div. 2,63 behandelt und hier II. 2,299 (τλτιτε. φίλοι, και μ ε ί ν α τ ' έπι χρόνον) mit ferte viri. et duros animo tolerate labores wiedergibt; vgl. hiermit Aen. 1,207 durate. et vosmet rebus servate secundis. Vergil konnte auf diese bei Ps. Plutarch überlieferte Auffassung der Rede des iliadischen Odysseus Bezug nehmen, um auf die tiefere Bedeutung der Worte des Aeneas hinzudeuten: Ebenso wie der Odysseus der Ilias bringt der Held der Aeneis in einem kritischen Moment tiefster Verzweiflung nicht nur den Sinn des durchgestandenen Leids, sondern auch die Garantie seines Endes durch göttlichen Willen in Erinnerung; auch in dieser Reminiszenz lag demnach zusätzlich zu der oben nachgewiesenen motivischen Variation - eine Möglichkeit, in der Gestaltung der Aeneasrede die beiden jeweils strukturell und inhaltlich entsprechenden odysseischen Szenen zu übertreffen. Mit dieser Reminiszenz an die offenbar aufgrund ihrer psychagogischen Wirkung bewunderte Odysseusrede des 2. Iliasbuches konnte Vergil die Gestalt des Aeneas darüber hinaus nicht nur zum Odysseus der Odyssee, sondern auch zu dem der Ilias in Beziehung setzen und so über die strukturelle Korrespondenz zwischen den beiden Figuren hinausgehen. Die Ähnlichkeit der Grundsituationen der drei homerischen Szenen erlaubte ihre konzentrierende Imitation im Zusammenhang der Karthagoepisode. Die Verbindung ist in diesem Stadium der Aeneishandlung besonders bedeutsam, da der Dichter Aeneas in seinen Worten an die Gefährten erstmals über den situativen 'Stoßseufzer' während des Seesturms hinaus (94ff.) Stellung zu seinem Schicksal nehmen läßt. Außer durch seine magnitude animi wird Aeneas mit dem Hinweis auf die fata zudem als pius charakterisiert241. Beide Eigenschaften aber waren nach Auffassung der stoischen 239 240

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Siehe Pease zu Cie. div. 2,63,4ff. Auf diese Stelle sowie die Übersetzung der Iliasstelle durch Cicero (s. u.) verweist Lausberg 1983, 223 Anm. 67. Vgl. Pöschl 1977, 42f.; Otis 1963, 232, der das antithetische Verhältnis der Aeneasworte an die Gefährten zu seinem 'Stoßseufzer' inmitten des Seesturms (94ff.) betont: „Now he accepts and insists upon his mission and fate ... Virgil has shown us proleptically the truly

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Homerinterpretation auch eine Haupteigenschaft des Odysseus , wobei vermutet werden kann, daß in nicht überlieferten Kommentaren und Monographien in diesem Zusammenhang auch auf seine Rede in der Situation nach der Diapeira Agamemnons verwiesen wurde. Im Rahmen dieser idealisierenden Auffassung des homerischen Odysseus war es Vergil möglich, das homerische Modell für die Trostrede des Aeneas an seine Gefährten zu übertreffen, indem er in seiner szenischen Gestaltung die Erinnerung an einen odysseischen Zusammenhang weckte, in dem das Auftreten des (sonst von den Exegeten idealisierten) Helden kritisiert wurde, zugleich aber in der inhaltlichen und motivischen Ausgestaltung der Rede andere, positiv beurteilte Szenen der Odyssee wie der Ilias heranzog.

b) Versuchung und Umkehr des Helden Im einzelnen erkennbar ist die eingangs skizzierte ethische, idealisierende Deutung des (odysseischen) Odysseus namentlich in der vielfaltigen Kommentierung und interpretierenden literarischen Adaptation, die dem Aufenthalt des Helden bei Kalypso im 5., bei Kirke im 10. Buch (im Rahmen der Apologen) sowie bei den Phäaken (6.-12. Buch) zuteil wurde243. Daß gerade diese Episoden der Odyssee im Hinblick auf Charakter und

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pious hero that Aeneas will become when he finally conquers the despair". Als pius stellt sich Aeneas kurz darauf der karthagischen Jägerin vor (l,378ff.), in deren Gestalt sich in Wirklichkeit Venus verbirgt. Auch hier charakterisiert Vergil, wie häufig bemerkt wurde, Aeneas in deutlicher aemulatio mit Homer durch Kontrastierung mit dem Haupthelden der Odyssee, wenn dieser sich mit einem κερδαλέος μύθος (6,148), also schon nach Auffassung der antiken Interpreten (Schol. [HQ] 6,149) mit rhetorischer Raffinesse an die Königstochter gewandt (s. Schlunk 1974, 56ff.) und sich den Phäaken als ein Mann vorgestellt hatte, der allen Menschen durch seine δόλοι (9,19) bekannt sei. Sein κλέος hierfür (και μευ κλέος ούρανόν ΐκει, 20) steht in unübersehbarem (und seit Servius [zu Aen. 1,378] immer wieder vermerktem) Gegensatz zu der Art von fama, durch die der pius Aeneas super aethera notus (379) ist. Siehe Austin zu 378; Knauer 1964, 160. 199 m. Anm. 2. Als Exemplum von εύσέβεια erscheint das Handeln des Odysseus namentlich in den Iliasscholien, vgl. etwa Schol. [bT] 10,568; [bT] II. 12,237-8, wo der Anmaßung Hektars offenbar mit Bezug auf II. 10,267-274 die Frömmigkeit des φρόνιμος Odysseus gegenübergestellt ist (s. hierzu auch S. 165ff.); vgl. auch Ps. Plut. 2,116. Außerdem galt der Begegnung des Odysseus mit den Sirenen große Beachtung, indem in ihnen eine Form der Versuchung des Helden, in 'allegorischer' Ausdeutung der menschlichen Seele überhaupt erblickt wurde. Was ihr Gesang jedoch eigentlich symbolisierte - sei es die vollendete Kunst der Musen (Ps. Plut. 2,147), absolutes Wissen (Cie. fin. 4,59) oder die Faszination trügerischer Lehren (Eustath. 1709, 17-31) - , blieb ein vielbehandeltes Problem; s. hierzu Kaiser 1964, 109ff.

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Mission des Helden immer wieder behandelt wurden, geschah nicht zufallig: Nach antiker Auffassung war ihnen gemeinsam, daß Odysseus hier mit der Versuchung konfrontiert wurde, sein von den Göttern bestimmtes Ziel der Rückkehr in die Heimat aus den Augen zu verlieren. Bei aller kontroversen Beurteilung seines Verhaltens in diesen als typisch für die menschliche Existenz gedeuteten Situationen im einzelnen überwog doch, wie die im folgenden zitierten Zeugnisse erkennen lassen werden, das Urteil, der Held sei diesen „Ablenkungen" trotz seines freiwilligen und z.T. ausgedehnten Aufenthaltes bei Kirke, Kalypso und den Phäaken nicht erlegen, sondern habe sich seine innere Unabhängigkeit bewahrt und so die Rückkehr in die Heimat gemeistert. Freilich spiegeln die überlieferten Zeugnisse eine durchaus kontroverse Diskussion dieser Frage, die sich etwa an den berühmten „Goldenen Versen" des Odysseus (Od. 9,2ff.) gegenüber seinem Gastgeber entzündete. Hierbei verkörperten Kalypso und Kirke, die in der antiken Homerrezeption aufgrund ihrer offenkundigen Ähnlichkeit in der homerischen Schilderung244, zweifellos aber auch wegen ihrer vergleichbaren Rollen für das Schicksal des Odysseus häufig - und mitunter gewiß absichtlich - miteinander vermengt wurden245, die Gefahr erotischer Verfuhrung und (wie die Phäaken) die Versuchung zu Wohlleben und Luxus. Ihnen vermochte sich der Held mit Unterstützung des als Verkörperung des λόγος gedeuteten Hermes letztlich zu entziehen, während im Fall Kirkes die Verwandlung seiner Gefährten in Tiere verbreitet als Allegorie auf den Sieg der Leidenschaft über die menschliche Vernunft gedeutet wurde246. Die überlie-

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Schon in der Odyssee werden sie - vom Helden selbst - im Hinblick auf ihr Verhältnis zu ihm ausdrücklich nebeneinandergestellt: Jede von ihnen wollte Odysseus bei sich behalten, λιλαιομένη πόσιν είναι (Od. 9,29ff.). Vgl. auch die ähnlichen Bilder in Od. 5,59ff. und Od. 10,221ίΤ. (vgl. 149f.), hierzu gleich unten. Siehe Kaiser 1964, 197-199 mit Belegen auch aus dem römischen Bereich, etwa Hör. carm. l,17,19f. (Penelope und Kirke als laborantes in uno [sc. Ulixe], was eigentlich nur von der Odysseusgattin, aber eben auch von K a l y p s o behauptet werden kann; s. Nisbeth-Hubbard zu 1,17,20). Eine Vermischung von Zügen beider Figuren ist wohl ebenfalls bei Vergil intendiert (Aen. 7,13); hierzu gleich unten. Aus der Fülle der Belege bei Kaiser (1964, bes. 201-203. 207f.) und Buffiere (1956, 377ff.) für dieses nur den modernen Interpreten abwegig erscheinende Homerverständnis seien hier zunächst nur zwei aussagekräftige Beispiele aus zwei ganz unterschiedlichen Bereichen philosophischer Homerrezeption angeführt: Hör. epist. 1,2,17 rursus, quid virtus et quid sapientia possit, utile proposuit nobis exemplar Ulixen, qui... 21 dum sibi, dum sociis reditum parat, aspera multa pertulit, adversis rerum immersabilis undis.

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ferten Zeugnisse lassen dabei jedoch erkennen, daß die Art, in der Odysseus dies tat, indem er die beiden Frauen verließ, auch durchaus kritisch beurteilt wurde247. Die Phäaken dagegen wurden schon seit dem 4. Jh. v. Chr. als Prototypen der Genußmenschen gedeutet und repräsentierten im Hinblick auf ihren Gast die Verlockung zu Luxus und Wohlleben, von der sich Odysseus jedoch nicht dauerhaft aufhalten ließ. In augusteischer Zeit war der Topos vom Phäakenleben fester Bestandteil des Homerverständnisses und bestimmte die literarische Behandlung homerischer Motive248. Die Analyse der ersten, 'odysseischen' Aeneishälfte im Blick auf ihr strukturelles Verhältnis zur homerischen Odyssee zeigt nun, daß der im 1. und 4. Buch geschilderte Aufenthalt des Aeneas in Karthago die Handlungsstränge der Kalypso-, Kirke- und der Phäakenepisoden zusammenschließt249. In der Gestalt Didos vereinigen sich so zunächst rein strukturell die Gestalten Kalypsos und Kirkes, aber auch Nausikaas (sowie Aretes)250, während der Palast zu Karthago szenisch auf die Entsprechung zum Phäakenhof auf Scheria festgelegt ist. Hier berichtet Aeneas der Dido ebenso wie Odysseus im Palast des Alkinoos und der Arete seinen Gastgebern von dem selbsterlebten Fall Trojas und den eigenen Irrfahrten. Die Zusammenfügung dieser Handlungsstränge in der Aeneis hatte gewiß das Ziel, der Fülle des odysseischen Stoffes Rechnung zu tragen, was jedoch nur durch starke Raffung möglich war, wenn auch die Iliashandlung einbezogen werden sollte. Doch die oben schon angedeutete Tendenz philosophischer Homerexegese, das Gemeinsame der genannten homerischen Episoden im Sinne einer Typologie exemplarischer Situationen menschlicher Existenz herauszuarbeiten, und zwar über die vorhandenen äußerlichen Ähnlichkeiten der epischen Motive hinaus, konnte Vergil diese Bündelung homerischer Szenen und Motive erleichtern, ja mehr noch: „eben durch die Beziehung auf die homerischen Gestalten und ihre übliche Auffassung konnte Vergil bestimmte Grundgedanken, auf die es ihm ankam, deutlicher herausarbei-

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Sirenum voces et Circae pocula nosti: bibisset, quae si cum sociis stultus cupidusque 25 sub domina meretrice fasset turpis et excors ... Ps. Heraklit Incred. 16: ήν (sc. Kirke) δέ έταίρα, και κ α τ α κ η λ ο ΰ σ α τους ξ έ ν ο υ ς ..., γ ε ν ο μ έ ν ο υ ς δέ έν π ρ ο σ π α θ ε ί α κατείχε ταίς έπιΟυμίαις ά λ ο γ ί σ τ ω ς φ ε ρ ο μ έ ν ο υ ς π ρ ο ς τάς ή δ ο ν ά ς (ähnlich Serv. Aen. 7,19). - Auch wenn diese Interpretation der Kirke als Hetäre eine Zuspitzung darstellt, weisen beide Stellen doch auf die Verbreitung dieser Interpretation der Heliostochter als eines Symbols erotischer Verfuhrung. Sieheu. S. 129. Sieheu. S. 115f. Siehe Knauer 1964, 152ff. 209ff. Siehe Knauers Resümee (1964, 343).

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ten"251. Eine solche 'Kontamination' der Gestalten Kalypsos und Kirkes, wie sie in der Karthagoepisode indirekt über die strukturelle Analogie zum Geschehen der Odyssee gegeben ist, nimmt Vergil zu Beginn des 7. Buches auch e x p l i z i t vor, wenn er C i r c e , an deren Insel die Aeneaden auf der Fahrt nach Cumae vorbeisegeln, wie die odysseische Kirke Menschen in Tiergestalten verzaubern (7,15ff.), wie Kirke u n d Kalypso singen und weben (7,12. 14; vgl. Od. 5,61f./10,221f.), schließlich aber (nur) wie K a l y p s o 2 5 2 duftendes Zedernholz abbrennen läßt (7,12ff., vgl. Od. 5,59f). Diese ohne Zweifel intendierte Vereinigung der beiden odysseischen Frauengestalten durch Vergil253, hier zweifellos unter dem angedeuteten Aspekt gefahrlicher Verlockung, die sie für die Aeneaden bedeuten (so daß Neptun sie rasch vorbeisegeln läßt, 2Iff.)254, gibt einer Analyse der Dido und anderer vergilischer Gestalten auf die Vereinigung mehrerer homerischer Figuren hin eine weitere methodische Grundlage. Die Untersuchung des Beginns der Karthagoepisode hat bereits gezeigt, daß Vergil in seiner Imitation einer odysseischen Szene auf der Grundlage einer 'typologischen' Deutung sekundär auch auf einen Zusammenhang der Ilias ausgegriffen hat255. Im folgenden ist die Karthagoepisode auf die Verarbeitung ethischer Deutungen primär der odysseischen Vorbildszenen, aber auch solcher der Ilias hin zu beleuchten. Diesem Vergleich wird das Motiv der 'Versuchung des Helden' zugrundegelegt. Zusätzlich werden antike Einzelinterpretationen, soweit greifbar, herangezogen. Vor dem Hintergrund antiker Homerexegese ist dabei auch die Beziehung der Didogestalt zu den homerischen Frauengestalten über rein strukturelle Entsprechungen hinaus zu klären. Die moderne Vergildeutung hat bereits erkannt, daß zwar erst durch die Argonautika des Apollonios eine Liebesepisode zum festen Bestandteil epischer Handlung geworden ist256, Homer jedoch nach antiker Auffassung durchaus als erster erotischer Dichter galt,

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Lausberg 1983, 227. Bei Macrob (5,12,7f.) wird in dieser Stelle sogar das primäre Modell für die kleine CirceEpisode gesehen, indem die Verse Od. 5,57-62 und Aen. 7,8-12 nebeneinander gestellt werden. Knauer (1964, 138 Anm. 1) erinnert ferner an die „Begünstigung" dieser 'Kontamination' von Kirke und Kalypso durch die antike Identifizierung des mons Circeius mit Aiaia, aber auch mit der Kalypsoinsel. Zur Bedeutung der kleinen Circe-Episode für die Grundthemen des 7. Aeneisbuches siehe Segal 1968, bes. 428-436. Siehe S. 93f. Vgl. Heinze 1914, 116.

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dessen im Vergleich zu späteren Dichtern gemäßigte Darstellung des erotischen Pathos positiv hervorgehoben wurde257. Aeneas erfahrt von Karthago und seiner Königin Dido erstmals im Gespräch mit Venus, die ihm auf einem Erkundungsgang durch die Wälder oberhalb des Strandes in der Gestalt einer Jägerin gegenübertritt (314ff.) und sich als Punierin ausgibt (335ff.). Ebenso wie Nausikaa und Athene (in der Gestalt eines Phäakenmädchens: Od. 7,20) den Odysseus (Od. 6,187ff. bzw. 7,28ff.) informiert sie ihren Sohn über das Land, das er betreten hat, und seine Herrscherin und bereitet so die Begegnung zwischen Aeneas und Dido vor. In ihrem Bericht über das Schicksal der Königin kommt dem großen Reichtum von Tyros, das Didos Gatte Sychaeus einst beherrscht hatte, große Bedeutung zu: Er treibt Pygmalion, den Bruder Didos, dazu, seinen Schwager zu töten, um sich selbst in den Besitz des Goldes zu bringen, impius ... atque auri caecus amore (349). Dido erfahrt, nur eine Zeit lang getäuscht, von der Bluttat ihres Bruders, und es gelingt ihr, mit Unterstützung anderer Gegner Pygmalions mitsamt dem Reichtum, einem ignotum argenti pondus et auri (359), über das Meer zu entkommen (portantur avari / Pygmalionis opes pelago, 363f.). Im fernen Libyen hat sie Karthago als neue Heimat begründet. Venus hebt demnach drei Dinge in ihrem Bericht hervor: Den großen Reichtum, der ebenso wie einst Tyros auch jetzt Karthago auszeichnet, Dido aber auch großes Leid gebracht hat; die Größe der Königin, die es vermochte, die Flucht über das Meer zu bewerkstelligen {dux femina facti, 364; vgl. Austin z. St.); schließlich die Entstehung der neuen Stadt. Die Faszination, die der Anblick der prächtigen neuen Stadt (42Iff), die Begegnung mit ihrer überragenden Herrscherin (496ff.) und der Reichtum ihres Hofes (639ff. 697ff.) im folgenden auf Aeneas ausüben werden, scheint in der Venusrede somit gleichsam vorbereitet258 und geht eben hierin weit über die entsprechende homerische Szene hinaus: Obwohl auch die Stadt und der Hof des Alkinoos in prächtigsten Farben geschildert werden, verlieren weder Nausikaa noch Athene in der Gestalt des Phäakenmädchens259 darüber ein 257

Lausberg 1983, 235 Anm. 102; vgl. 1985, 1594 mit Verweis auf Ps. Plut. 2,214,7f; Pap. Genev. inv. 271, col. XIV 34ff.; Ov. trist. 2,371ff. Vgl. ferner Ov. epist. 3,15 und siehe S. 197ff. Cairns (1989) hat auf der Grundlage der Annahme, daß auch Vergil dieses Homerbild gehabt haben könnte, in der Dido-Episode Anklänge der römischen Liebeselegie namhaft machen können (134-150). 258 vgl. Heinze 1914, 119: „Die kunstvolle Erzählung" (der Venus) „ist darauf berechnet, nicht nur zu belehren, sondern einzunehmen". 259 Zu den komplexen Beziehungen zwischen Nausikaa/Athene und Dido/Venus siehe Knauer 1964, 152-163.

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Wort, bevor Odysseus sie selbst zu sehen bekommt, charakterisieren vielmehr beide nur kurz die Wesensart der Phäaken, denen die Gunst der Götter gelte und die in selbstgewählter Isolation lebten (6,204ff. 2 7 0 f f ; 7,35f). Erst die - somit nicht vorbereitete - Führung durch die Stadt durch Athene erfüllt Odysseus mit Staunen260. Dieses θαυμάζει ν (7,43; vgl. 45) aber bereitet der Odysseedichter nicht eigentlich vor261. Mehr noch: Die Begegnung mit Dido, bei deren Schilderung Vergil deutlich auf den Auftritt Nausikaas vor Odysseus am Strand von Scheria Bezug nimmt, erfolgt überhaupt verzögert; die 'Dopplung' der Mädchengestalten bei Homer 'ermöglicht' es Vergil, unter Wahrung eines engen Bezugs zum epischen Modell den Auftritt Didos von langer Hand vorzubereiten und so in seiner Wirkung zu steigern, indem die Aufgabe Nausikaas und Athenes, den fremden Ankömmling über das Land zu informieren, der Venus zugewiesen, der (latent) erotische Aspekt der Begegnung des Odysseus mit der Königstochter aber auf jene zwischen Aeneas und Dido übertragen ist, wie die Übernahme des homerischen Nausikaa-Artemis-Gleichnisses deutlich zeigt262. Hierauf ist gleich zurückzukommen. Die Venusrede hatte Aeneas auf die neu erbaute Stadt Didos vorbereitet. Der Ausdruck surgentem ... {novae Karthaginis) arcem (366) greift deutlich die Worte auf, die Aeneas nach der Landung an die Gefährten gerichtet und in denen er ihnen mit der Verheißimg des künftigen Wiedererstehens Trojas Mut zu machen versucht hatte: 1,205

tendimus in Latium sedes ubifata quietas ostendunt; illic fas regna resureere Troiae.

Die Nachricht vom Entstehen eines neuen Reiches, von dessen Aufbau Aeneas noch weit entfernt zu sein glaubt (vgl. 209f.), muß ihn in ungleich stärkerer Weise fur Karthago interessieren als die Beschreibung des Phäakenreiches durch Nausikaa und Athene den Odysseus. Anders als der homerische Held, den Athene durch die Stadt der Phäaken zum Palast des Alkinoos führt, gewinnt Aeneas nur in Begleitung des ebenfalls ortsunkundigen Achates einen ersten Blick aus der Ferne, von einem Hügel vor der Stadt aus, auf Karthago (420ff). Er gleicht in seinem Staunen (miratur ... / miratur, 421 f.) über die „Verwandlung" der einstigen Hirtenhütten (magaliä) in gewaltige Bauten {moles) dem Odysseus bei seinem Stadtrundgang 260

261 262

Vgl. Knauer 1964, 163: „(...) dort [sc. in Od. VII] hatte Athene dem Odysseus erst vom Geschlecht des Alkinoos und der Arete erzählt (η 48-77), als sie vor dem Palaste stehen (η 46f.), Aeneas dagegen bestaunt Karthago, nachdem die Mutter ihm bereits von Dido erzählt und ihn dann verlassen hatte". Vgl. Heinze 1914, 121. Od. 6,102-109-Aen. 1,498-504.

3. Aeneas

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(ϋαύμαζεν [sc. λιμένας καν νήας έίσας etc.: 7,43], an gleicher Versposition und mit demselben metrischen Wert wie das zweifache miratur in 421. 422)263, doch ist das Moment der Faszination des Trojaners gegenüber derjenigen des homerischen Odysseus durch die Anapher des Verbs, das hier deutlich als „Leitzitat" im Sinne Knauers264 fungieren dürfte, gesteigert: Vergil erinnert an die homerische Parallelszene und fordert auf diese Weise den Vergleich heraus. Die Beschreibung der e n t s t e h e n d e n Stadt fallt bei Vergil gegenüber der statischen Digression bei Homer deutlich breiter aus (etwa Aen. 1, 421-425265. 427-429 ~ Od. 7,43-45), vor allem aber ist die in der disziplinierten Betriebsamkeit der Punier liegende Bedeutung des Vorganges, den Aeneas im Blick hat, durch ein Bienengleichnis herausgehoben (430ff.)266. Zumal vor dem Hintergrund seiner Ursprungsstelle in den Georgica (4,153ff., hier als Teil der Schilderung des Bienenstaats) 267 scheint dieses Bild auf eine Antithese „geordneter Aufbau einer gesicherten menschlichen Existenz" - „ungeordnetes, bedrohliches Wirken des von Juno ausgehenden furor" zu zielen, der Aeneas und seinem Volk soeben einen Seesturm beschert hatte und sie weiter denn je von dem schicksalsbestimmten Aufbau ihrer eigenen Heimat entfernt zu haben schien. Daß ein solcher Gegensatz von Aeneas empfunden wird, dürfte der bereits erwähnte Ausruf im Anblick der entstehenden Stadt mit Rückbezug auf die Rede an die Gefährten nach der Landung in Karthago zeigen. Servius bemerkt zu 437 treffend: expressit Aeneae desiderium, hoc est, qui iam faciunt quod et ipse desiderat. 263

264

265

266 267

Diese sowie die beiden folgenden, die Stadtbeschreibung einleitenden Verse sind durch ihren spondeischen Charakter (423fF. bis zur Penthemimeres, 421 bis zur Hephthemimeres) und die jeweils verseinleitende Position des Prädikats (moliri ist als historischer Infinitiv zu fassen, vgl. Austin z. St. gegen Con.-N.) deutlich herausgehoben. „Jedes erkennbare 'wörtliche Homerzitat' in der Aeneis kann möglicherweise den näheren oder weiteren Zusammenhang, aus dem es stammt, repräsentieren: Je stärker die inhaltlichen und strukturellen Änderungen sind, die Vergil vorgenommen hat, umso bedeutender wird also die Aufgabe des wörtlichen Einzelzitats, auf die umgeformte Szene, der es entstammt, hinzuleiten" (1964, 145). Vers 426 scheint unecht: ihm fehlt es, wie nach dem Hinweis Heynes und Ribbecks auch Heinze (1914, 402) eingeräumt hat, innerhalb der Schilderung der konkreten Bauarbeiten der Karthager an Anschaulichkeit (diese erfolgt ja ganz aus der Perspektive des Aeneas), auch findet der in ihm beschriebene Vorgang keine Entsprechung im folgenden Gleichnis. Das Motiv nimmt den gleich folgenden Auftritt der Dido in einem wichtigen Detail, ihrer Aufgabe als rechtsprechende und ordnende Königin, vorweg (507f. iura dabat legesque viris, operumque laborem /partibus aequabat iustis aut sorte trahebat), worin eine empfindliche Störung der Handlungsökonomie liegt. Zu diesem Gleichnis siehe auch o. S. 71f. Die enge Verwandtschaft beider Partien wurde schon von den antiken Vergilkommentatoren erkannt (vgl. Serv. Aen. 1,432. 433); siehe jedoch S. 73 m. Anm. 179.

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Den Blick des Aeneas aus der Ferne schließt Vergil ab mit der Wendung et fastigia suspicit urbis (438), wobei „suspicit suggests admiration as well as the act of looking upward" (Austin z. St.). Die Reaktion des Odysseus auf die Pracht der Phäakenstadt, die immerhin seine erste Begegnung mit menschlicher Zivilisation seit der Abfahrt von Troja ist, nimmt sich in dem bloßen ϋαύμαζεν (7,43) demgegenüber geradezu nüchtern aus. Das Staunenerregende, das in dem Anblick der Phäakenstadt liegt, wird in dem absoluten explikativen Infinitiv ΰαΰμα ίδέσθαι am Ende der kurzen Schilderung zusammengefaßt, dabei jedoch gleichsam objektiviert: Die Wendung scheint nun das Empfinden des Erzählers als eines fernen Beobachters auszudrücken. Die Gestaltung dieser Szene durch Vergil verstärkt also gegenüber Homer deutlich die Faszination, die Karthago auf den Helden ausübt, obwohl sein Aufenthalt dort innerhalb der Gesamthandlung der Aeneis zunächst nur ebenso Episode zu sein scheint wie der Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken; dabei schafft der Dichter anders als Homer in dem Ausruf des Aeneas (auch sprachlich durch die Verwendung des [re-]surgere) eine Beziehung zwischen der eigenen Bestimmung des leidgeprüften Helden und der Lebenssituation seiner künftigen Gastgeberin. Das Moment der 'Versuchung' des Helden, zu bleiben, war in der homerischen Phaiakis allenfalls entfernt angeklungen, indem Alkinoos den Wunsch geäußert hatte, Odysseus möge seine Tochter ehelichen, also dauerhaft auf Scheria bleiben, doch wurde eben dieser Aspekt von der Homerexegese - zumal in der Zusammenschau mit den Kalypso- und Kirke-Episoden - stark herausgearbeitet. Eben dieses Motiv erscheint hingegen bei Vergil in dieser Szene deutlich vorbereitet268.

268

Damit wird möglicherweise das Motiv für eine auffällige Homerreminiszenz in der Schilderung der Landung in Karthago nachgetragen: Obwohl diese strukturell der Landung des Odysseus bei den Phäaken (und sekundär in Aiaia bei Kirke) entspricht, erinnert die Topothesie des Landeplatzes (159ff.), eines Naturhafens, der eine Nymphengrotte umschließt (Nympharum domus, 168), an die Landung des Odysseus in Ithaka, wo ihn die Phäaken im Phorkyshafen und bei der von Naiaden bewohnten Höhle (13,96ff.) absetzen - ein Anklang, der seit Macrob (5,3,18f.) immer wieder bemerkt wurde (siehe Knauer 1964, 58 m. Anm. 2; 220 m. Anm. 2. 244. 334; Austin zu 159. 168 mit Verweis auf weitere Vorbilder und auch historische Lokalisierungen des Naturhafens durch antike Vergilinterpreten). Hier ist möglicherweise nicht nur eine rein äußerliche Kontamination der homerischen Landungsszenen des 5. und 13. Odysseebuches zu sehen, sondern ein Vorverweis darauf gegeben, daß Aeneas in Karthago eine (vermeintliche, vom fatum bzw. Jupiter nicht vorgesehene) Heimat erblicken wird wie Odysseus in Ithaka die seine (die ihm von Zeus bestimmt ist). Auf die entsprechenden Beziehungen zwischen Dido und Penelope ist unten zurückzukommen.

3. Aeneas

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Aeneas betritt im folgenden die Stadt und faßt beim Anblick des Junotempels, auf dem er den Kampf um Troja dargestellt findet, neuen Mut. Abermals klingt das Motiv der Faszination in der erzählerischen Rahmung an, die Vergil der ekphrastischen Beschreibung des Kunstwerkes gibt: dum singula templo ... ί... / miratur (453ff); haec dum Dardaniae Aeneae mirandae videntur (494). Wiederum liegt diese Faszination in der unmittelbaren Beziehung begründet, in die Aeneas das Erfahrene zu seinem eigenen Schicksal zu bringen vermag: Die dargestellten Ereignisse hatte er nicht nur miterlebt, er hatte auch selbst seinen Platz in dem Kunstwerk gefunden (488) 269 . In der Schilderung des lange vorbereiteten Auftritts der Dido, deren Begegnung mit Aeneas nochmals durch das Dazwischentreten des Ilioneus an der Spitze der von Aeneas verlorengeglaubten Gefährten (509ff.) retardiert wird, nimmt Vergil wiederum Bezug auf die homerische Phaiakis: Dido wird ebenso wie Nausikaa mit Diana/Artemis verglichen; v.a. im zweiten Teil des Gleichnisses erinnert Vergil deutlich an das homerische Modell: Aen. 1,498 500

Od. 6,102

105

269

270

aualis in Eurotae ripis aut per iuga Cynthi exercet Diana choros, quam mille secutae hinc atque hinc glomerantur Oreades; illa pharetram fert umero gradiensque deas suvereminet omnis (l atonae taciturn pertemvtant gaudia pectus): talis erat Dido, talem se laeta ferebat; vgl. o|2 δ' Ά ρ τ ε μ ι ς εΐσι κατ' οΰρεα ΐοχέαιρα, ή κατά Τηυγετον περιμήκετον ή ΈρύμανΟον, τερπομένη κάπροισι και ώκείης έλάφοισι· ττϊδέ ö' άμα Νΰμψαι, κοΰραι Διός αίγιόχοιο, αγρονόμοι παΐζουσι· νένηΟε δε τε ωοένα Λητώ· πασάων δ' ΰπέο ή γε κάρη εγει ήδέ ιιέτωπα. ρεΐά τ' άριγνώτη πέλεται, καλαι δε τε πάσαι· ώα fi γ ' άμφιπόλοισι μετέπρεπε παρθένος άδμής 270 .

Zu dem homerischen Modell der Ekphrasis s. Knauer 1964, 166f., zu ihrem strukturellen Verhältnis zur Phäakenepisode der Odyssee s. S. 136f. Zuletzt hat Glei (1990, 337ff.) zu Recht daran erinnert, daß Vergil in seiner Imitation des homerischen Gleichnisses auch dessen Wiedergabe durch Apollonios (3,876-886) - beim Rhodier jedoch an ganz anderer Stelle (s.o. S. 106 Anm. 280 ) - vor Augen gehabt haben dürfte; jedoch ist eine Priorität der Argonautika gegenüber Homer als Vorbild nicht zu erkennen. Dies gilt auch für das Verhältnis von Aen. l,499f. zu Arg. 3,881, wo die Abweichung beider Autoren von Homer (Arg. 3,881 τη δ' «μ« νύμφαι έ π ο ν τ α ι : vgl. Od. 6,105 τή δέ ö' c£u.ct νυμφαι . . . / . . . παίζουσι; Aen. 1,498 quam mille secutae) trivial erscheint. Wie sich besonders im 4. Buch zeigt, wollte Vergil zweifellos auch an die tragische Liebesbeziehung bei Apollonios erinnern; doch zumindest für das 1. Aeneisbuch läßt

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Die Diskussion über die Proprietät dieser Nachbildung, die ausgehend von der scharfen Kritik des Probus271 bereits die antike Vergilexegese beschäftigte und von modernen Interpreten fortgesetzt wurde272, muß in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen verfolgt werden: Festzuhalten ist jedoch, daß das vergilische Gleichnis in der Hervorhebung der außerordentlichen Schönheit Didos mit seiner homerischen Vorlage, bei der dieser Gedanke ebenfalls im Vordergrund steht, übereinstimmt und dieser Aspekt gegenüber der Betonung des Glücks der Königin (vgl. talem se laeta ferebat [sc. Dido], 503), das zu ihrer späteren Tragödie im Gegensatz steht, keineswegs sekundär ist273, wie die Einführung Didos unmittelbar zuvor als forma pulcherrima (496) zeigt. Auch wird Dido durch den Vergleich mit der Jagdgöttin in Beziehung gebracht zu Venus, die Aeneas kurz zuvor in Gestalt einer spartanischen Jägerin (virginis os habitumque gerens et virginis arma / Sparta-

nae, 315f.) begegnet und, ihrem Auftreten entsprechend, von ihrem Sohn mit Diana verglichen worden war (328f.)274. In der Schilderung von Didos Auftritt verändert Vergil nun in auffalliger Weise die Perspektive, aus der die odysseische Nausikaa mit Artemis verglichen wird: Vollzieht sich die Szene bei Homer vor einem nur fiktiven Zuschauer (Odysseus schläft noch immer im Gebüsch: 6,lf.) und fuhrt erst Athene im letzten Moment, indem sie Odysseus aufweckt (112ff.), die Begegnung zwischen ihm und der Königstochter herbei, so vollzieht sich der Auftritt der pulcherrima Dido vor dem in eine Wolke gehüllten Aeneas als Beobachter, eine Abwandlung des homerischen Motivs, die erst durch die Veränderung der Handlungsökonomie durch Vergil ermöglicht wird, indem er die Rolle der Nausikaa am

271 272

273 274

sich die Priorität einer Apolloniosimitation gegenüber der Odysseeadaptation nicht nachweisen und wird von Vergil auch in dem Dianagleichnis nicht signalisiert. Deutlicher erinnert Vergil wohl in 1,613 (obstipuit primo aspectu) an die Medea des Apollonios, die beim Anblick Jasons und seiner Begleiter allerdings sogar aufschreit (3,253 και σφεας ώς ΐδεν άσσον, άνίαχεν), s. Knox (1984). Probus b. Gell. 9,9,12ff. (die Parallele ferner Macr. 5,4,9f.); s. hierzu Austin z. St. Der ablehnenden Beurteilung des Probus haben sich insbesondere Ribbeck (1866, 142f.), Heinze (1914, 120 Anm. 1) sowie Cartault (1926, 123) angeschlossen. Eine ausfuhrliche Doxographie findet sich bei Rieks (1981, 1035-1038) und jetzt Glei (1990). So Austin z. St. Auf diese Beziehung haben zu Recht Hornby 1970, 82f. und zuletzt Thornton (1985) aufmerksam gemacht. Thornton verweist auf die sprachlichen Korrespondenzen zwischen beiden Partien (vgl. namque umeris de more habilem suspenderat arcum, 318 mit illa pharetram /fert umero, 501f.); seine Schlußfolgerung freilich, Vergil habe durch die Erinnerung an Venus deutlich machen wollen, daß „there is none (except beauty) that connects her [Dido] to Diana" (1985, 619), dürfte den Bogen überspannen: Vergil hätte hiernach dem Gleichnis jegliche Eigenständigkeit genommen. Ebenso verwundert Hornbys These, Vergil habe das Dianagleichnis mit dem Venusauftritt in Beziehung gesetzt „to suggest that as Venus' appearence was false so too will be Dido's" (1970, 89).

3. Aeneas

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Strand von Scheria als Einweiserin und erster Helferin des Fremden der Venus zugewiesen hatte. Wenn auch die Reaktion des Aeneas auf dieses Geschehen zunächst außer Betracht bleibt275, so dürfte doch die auffallige Abweichung von der homerischen Szenenkomposition in der Absicht Vergils begründet sein, das Moment latent erotischer Faszination des Aeneas gegenüber derjenigen des Odysseus zu verstärken. Was bei Aeneas nur angedeutet ist, die Anbahnung des Liebesverhältnisses, zeigt sich deutlicher in der Reaktion Didos, die obstipuit primo aspectu (613). Daß hiermit nicht nur das einfache Staunen über einen plötzlich erscheinenden Fremden bezeichnet ist, nachdem Dido sich ja zuvor bereits einer ganzen Schar Trojaner gegenübergesehen hatte, empfand nicht erst Servius (zu 613 obstipuit]

animo perculsa

est, quod iam futuri amoris est signum\

primo

aspectu] id est pulchritudine), sondern schon Silius, wie seine Schilderung eben dieser Szene auf Hannibals Schild zeigt (2,412ff: has inter species orbatum classe suisque / Aenean pulsum pelago dextraque precantem / cernere erat, fronte hunc avide regina Serena / infelix ac iam vultu spectabat amico)276.

Die diesem Motiv vorausgeschickte Parallelisierung Didos mit Nausikaa durch Vergil ist nicht punktuell auf die an sich schon sehr auffallige Übernahme des Artemis/Diana-Gleichnisses beschränkt: Dido sieht sich wie Nausikaa von Freiern umworben277; ebenso wie Dido fühlt sich die Alkinoostochter von dem fremden Gast angezogen und beschäftigt sich, wie Dido dies allerdings erst nach ihrer Begegnung mit Aeneas tut, schon vor ihrem Zusammentreffen mit dem Fremden konkret mit Heiratsplänen (Od. 6,66£), die sie nach ihrem Gespräch mit Odysseus kundtut (6,244f.)278. Den Zusammenhang beider Episoden empfanden offenkundig auch die antiken Vergilinterpreten; in der Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa am Strand von Scheria konnte gar das primäre Vorbild für die erste, das Liebesverhältnis anbahnende Begegnung zwischen Dido und Aeneas erblickt wer275

276 277

278

Diesen Wechsel der Perspektive heben Pöschl 1977, 89f. und Carlson 1972, 78f. hervor; der Deutung Pöschls, daß die Freude der Latona (vgl. 502 Latonae taciturn pertemptant gaudia pectus) das psychische Geschehen des Aeneas verdeutlicht, vermag ich mich jedoch nicht anzuschließen: Vergil spart die Darstellung der Empfindungen, die Aeneas hat, bis zur 'Katastrophe' des 4. Buches auf (s.u. S. 118). Auf beide Stellen verweist Knox (1984, 305 m. Anm. 5). Aen. 4,35ff. 198ff., vgl. Od. 6,34f. Eine auffallige Parallele liegt femer in dem Unmut des abgewiesenen Didofreiers Jarbas über die Bevorzugung des Bewerbers aus der Fremde (Aen. 4,215ff.) und in den Befürchtungen der homerischen Nausikaa, Odysseus könnte mißgünstigen Phäaken als ein ausländischer Freier erscheinen, der einheimischen Bewerbern den Rang ablaufen werde (6,275ff.). Siehe auch u. S. 107 Anm. 284. Das Freiermotiv bringt Dido außer mit Nausikaa auch mit Penelope in Verbindung: s. gleich unten S. 111. Siehe Caims 1989, 131.

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den: So hat sich V a l e r i u s F l a c c u s in seiner Schilderung des ersten Treffens zwischen Jason und Medea, die im Rahmen seiner primären Vergilimitation derjenigen zwischen Aeneas und Dido nachempfunden ist, der homerischen Szenerie wieder stärker angenähert: So läßt er im 5. Buch Medea, der von Diana (und Pallas) begleiteten Göttin Proserpina gleichend (345ff., vgl. Aen. l,498ff./Od. 6,102ff.), in Begleitung skythischer Mädchen zum Phasisstrom streben (34Iff.; vgl. Od. 6,85ff.) und hier Jason begegnen, dem Juno - anders als Athene dem Odysseus, aber wie Venus dem Aeneas bereits besondere Schönheit verliehen hat (363ff.; vgl. Od. 6,135ff. 229ff.; Aen. l,589ff.); durch sie zieht der Fremde die junge Königstochter bei aller Angst, die sie vor ihm empfindet, ail (regina, attonito quamquam pavor ore silentem / exanimet, mirata tarnen paulumque reductis / passibus in solo stupuil279 duce, 373ff.)280. Daß in dieser Begegnung das Zusammentreffen zwischen Aeneas und Dido vor dem Junotempel bereits verarbeitet ist, wird im folgenden Handlungsverlauf deutlich, indem Valerius Jason nach der Besichtigung des Apolloaltars (5,403ff.; vgl. Aen. l,446ff.) auf A e e t e s treffen läßt (5,455ff; vgl. dagegen Aen. l,496ff.). Im Ergebnis konnte es also die Vermittlung Vergils seinem Imitator Valerius nahelegen, zur Einleitung der tragischen Liebesbeziehung zwischen Jason und Medea auf die homerische Phaiakis zurückzugreifen. Vergil hat demnach in der Schilderung der Begegnung zwischen Dido und Aeneas, die fur das im 4. Buch zentrale und hier in seiner Entfaltung primär der euripideischen Medeatragödie und - vermittelnd - den Argonautika des Apollonios nachgestaltete281 tragische Liebesverhältnis konstituierend wird, primär auf die homerische Phaiakis zurückgegriffen. Dies erscheint, trotz der oben genannten Parallelen zwischen Dido und Nausikaa, zunächst erstaunlich: Die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa ist trotz des von der Königstochter ausgesprochenen Heiratswunsches allenfalls latent erotisch: Die Prinzessin spricht erst nach der Verwandlung des Odysseus durch Athene gegenüber ihren Gefährtinnen den Wunsch aus, der Fremde möge ihr Gatte sein (239ff.), während in der bewundernden Rede des Odysseus an sie kurz zuvor (149ff.) eher ein rhetorisches Meisterstück denn der Ausdruck irgendeiner Liebesfaszination zu sehen ist, zumal seine Worte, wie es ausdrücklich heißt, an einen konkreten Zweck gebunden sind 279 Ygj

1613 obstipuit primo aspectu Sidonia Dido.

280 Valerius lehnt sich also, wie schon das Gestade als Schauplatz der Begegnung wie bei Homer zeigt, hier nicht primär an Apollonios an, der auch das odysseische Artemisgleichnis viel später, erst unmittelbar vor dem Zusammentreffen Medeas mit Jason, also auf dem Höhepunkt der Liebesepisode, übernimmt (3,876ff ). 281 Hierzu zusammenfassend Monti 1981, 1-3 mit weiterer Literatur; Briggs (1981).

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(vgl. αύτίκα μειλίχιον και κερδαλέον φάτο μΰϋον, 148). Vor allem aber bleibt die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa im weiteren Verlauf von Odysseus' Aufenthalt bei den Phäaken ohne Bedeutung, ebenso das Heiratsangebot des Alkinoos an seinen Gast (7,3 l l f f )282 - Odysseus geht auf das Gebet des Königs kaum ein (vgl. 6,33Iff.). Odysseus verabschiedet sich schon lange vor seiner Abfahrt von Scheria283 und in aller Kürze von Nausikaa, indem er ihr verspricht, sich auf ewig an sie zu erinnern, da sie ihm das Leben gerettet habe (Od. 8,464ff.)284. Die Begegnung und die hierauf gegründete Beziehung zwischen Odysseus und Nausikaa bei Homer besitzt demnach keinesfalls das Gewicht, das der ersten Begegnung zwischen Dido und Aeneas für die weitere Entwicklung der Liebesepisode zukommt. Gleichwohl hat die antike Homerexegese die in der Phaiakis immerhin angelegten Motive einer Liebesepisode stark betont und zweifellos unter anderem hierauf die These gestützt, Homer sei der erste Dichter des (gemäßigten) erotischen Pathos gewesen (Ps. Plut. 2,214,7-8): So kritisierte Aristarch den von Nausikaa ihren Gespielinnen gegenüber geäußerten Wunsch, Odysseus möge ihr Gemahl werden, als unbeherrschte Zudringlichkeit (und so als Verstoß gegen das πρέπον) und sah hierin wohl eine spätere Zutat, eine Kritik, die auch den Homerinterpreten der Folgezeit in Erinnerung blieb285. Doch nicht erst bei Aristarch, schon in den Argonautika des Apollonios ist eine erotische (und wohl schon in ihren Ursprüngen mit einer entsprechenden Kritik verbundene) Deutung dieser Szene impliziert, wenn dort die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa als klares Modell für die Schilderung des (unerlaubten und verhängnisvollen) Zusammentreffens zwischen Jason und Medea und seine Vorbereitung (ab

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Zu Vergils Nachgestaltung des Heiratsangebots siehe S. 286ff. Bei seiner Abfahrt wird er sich lediglich von der Königin Arete verabschieden (13,59ff.). Dieses Motiv verarbeitet Vergil in der Bittrede des Aeneas an Dido (l,609f.), worin wiederum eine Verbindung zwischen Nausikaa und Dido hergestellt ist. Die wichtige Parallele wäre Rnauers Listen hinzuzufügen (Od. 8,468 > Aen. l,609f.). Schol. [QT] Od. 6,244: δοκοΰσιν oi λόγοι απρεπείς παρϋένω είναι και ακόλαστοι; hierzu Sikes 1931, 166f.; Van der Valk 1949, 188. 206; Κ. Lehrs, De Aristarchi studiis Homericis, Leipzig 1882 (Nachdr. Hildesheim 1964), 334; vgl. ferner Eustath. 1561,35f. (zu Od. 6,243): ό δέ γε πολύς πόθος (sc. Nausikaas) έν τοις έξης πείσει την κόρην ειπείν πλαγίως πως και προς τον 'Οδυσσέα τοιούτον τι και άντεπαινέσαι; Plut. mor. 27a-b εί μεν ή Ναυσικάα ξένον άνδρα τον 'Οδυσσέα θεασαμένη και παΟοΰσα τό της Καλυψοΰς πάθος προς αύτόν, άτε δή τρυφώσα και γάμων ώραν έχουσα, τοιαύτα μωραίνει προς θεραπαινίδας [Od. 6,244f.], ψεκτέον τό θράσος αύτής και την άκολασίαν (...)

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3,843ff.) dienen konnte286. An diese antike Homerdeutung hat vor Vergil offenbar auch Moschos, Zeitgenosse Aristarchs, in seinem Epyllion 'Europa' angeknüpft und den von den Interpreten empfundenen erotischen Aspekt der Begegnung zwischen Nausikaa und Odysseus weiterentwickelt: Im unmittelbaren Anschluß an seinen Vergleich der Europa inmitten ihrer Gespielinnen mit der von Chariten umgebenen Aphrodite, der dem Nausikaa-Artemis-Gleichnis in Od. 6,102ff. nachgebildet ist, schildert Moschos die Reaktion des (dem homerischen Odysseus entsprechenden) Zeus, der, „indem er Europa erblickt, sie gleichsam so sieht, wie der Dichter sie durch das Gleichnis geschmückt hat"287, und in Liebe entbrennt288. Vergil vollzieht, wie gesehen, einen ganz ähnlichen Perspektivwechsel gegenüber Homer, freilich ohne, seiner ganz andersartigen Konzeption entsprechend, die Reaktion des Aeneas in dieser unmittelbaren Weise zu schildern. Damit ist zunächst festzuhalten, daß die antike Deutung der Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa, die die beim Odysseedichter angelegten erotischen Motive hervorhob, Vergil zu der Übertragung wesentlicher Züge auf das erste Zusammentreffen zwischen Aeneas und Dido - und damit zur Anbahnung einer Liebesepisode - anregen konnte. Eine durchgängige Identifikation Didos mit Nausikaa war damit indes nicht zwangsläufig vorgegeben, zumal wenn Dido bei ihrer Begegnung mit Aeneas - der vergilischen Konzeption der Liebesepisode entsprechend - trotz ihrer Faszination in ihren Worten gerade jene Zurückhaltung zeigte, die die Homerkritiker an Nausikaa vermißt hatten289. Doch stellte die in der Begegnungsschilderung 286

Besonders auffällig erscheint hierbei die Übertragung des odysseischen Nausikaa-ArtemisGleichnisses auf die aufgeputzte Medeia, die in Begleitung ihrer Dienerinnen zu ihrem Stelldichein mit Jason fährt (3,876ff.). 287 Bühler (1960) zu v. 71. 288 g r w j r ( j hierin d e m Zeus der Ilias zur Seite gestellt, als dieser Hera, mit dem Liebesgürtel der Aphrodite ausgestattet, erblickt (14,294) (Bühler zu v. 74f.). Es ist gut denkbar, daß Vergil in dieser konkreten Ausgestaltung der homerischen Begegnungsszene auch vom Dichter der Europa selbst zumindest mitbeeinflußt wurde (vgl. Bühler 1960, 115 Anm. 2). Den möglichen Einfluß des Moschos auf Vergil hat M. Hügi (Vergils Aeneis und die hellenistische Dichtung, Bern-Stuttgart 1952 = Nodes Romanae 4, 123ff.) untersucht; siehe ferner Bühler (1960), Register S. 243 s.v. 'Vergilius'. 289 Blickt man auf beide Szenen, in denen Vergil die Odysseus-Nausikaa-Begegnung verarbeitet hat - also das Zusammentreffen von Aeneas mit Venus und mit Dido - , so darf man mit Vorsicht den Schluß ziehen, daß der Dichter einen Verstoß gegen das πρέπον, wie er Homer von den Alexandrinern an gemacht wurde, auch durch das äußere Arrangement der Begegnungsszenen vermieden hat: Aeneas wird schon bei seiner Begegnung mit der von ihm ja als göttlich-schön (326ff.) angeredeten karthagischen Jägerin (=Venus) von Achates begleitet (312), seine (und des Achates) erste Begegnung mit Dido vollzieht sich inmitten der Stadt und in Gegenwart ihres Gefolges. Vor allem letzteres fiele nicht auf, wenn es nicht eben die erwähnte antike Kritik an der Gestaltung des Odysseedichters gegeben hätte.

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liegende Homerreminiszenz fur ein an ethischer Odysseedeutung geschultes antikes Publikum die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Aeneas und Dido zumindest in ein 'erotisches' Licht: die Königin konnte ebenso wie die odysseische Königstochter eine Verlockung für Aeneas darstellen und seine Mission gefährden290. Das Dianagleichnis verbindet jedoch Dido nicht nur mit der Nausikaa der Odyssee. Im homerischen Gesamtwerk werden mit dieser Göttin, wenngleich jeweils nur in einem stark verkürzten Gleichnis, nur noch P e n e l o p e (Od. 17,37; 19,54) und H e l e n a - bei ihrem Erscheinen vor Telemach am Hof des Menelaos, in einem vom Szenentypus vergleichbaren Odysseepassus also (4,122)291 - in Parallele gebracht. Hierin mag man zunächst nur einen schwachen Motivanklang sehen, der freilich angesichts der besonderen Sorgfalt, die auf die Kommentierung von Proprietät und Intention homerischer Gleichnisse verwandt wurde, einem an Homer geschulten Leser durchaus aufgefallen sein könnte292; doch zeigt die Parallelisierung Didos im folgenden mit beiden homerischen Frauengestalten, daß Vergil in dem ersten Auftritt Didos mittels des Dianagleichnisses außer auf Nausikaa auch auf diese beide Figuren Bezug nimmt: Unter den Geschenken, die Aeneas nach seiner Begegnung mit Dido für seine Gastgeberin aus den Schiffen holen läßt (647), befinden sich die Gegenstände, die Helena aus Mykene nach Troja mitgenommen hatte, Pergama cum peteret inconcessosque hymenaeos (651)293. Den Übergang der Helenarolle auf die pulcherrima Dido (1,496; 4,60), den die Geschenkübergabe zu symbolisieren scheint, hat schon Servius (zu 650) bemerkt: et vide iam omen infelicitatis futurae, cum adulterae suscipit munera294. Der schon inhaltlich 290

Vgl. Cairns 1989, 134. Helena betritt zudem wie Dido (Aen. 1,497) von ihrem Gefolge begleitet den Saal (Od. 4,123ff.) und nimmt wie sie auf einem Lehnstuhl Platz (136a κλισμω, vgl. solio Aen. 1,506b); der Begegnung mit dem Gast folgt in beiden Fällen eine Erkennungsszene. Siehe Knauer 1964, 155 Anm. 3. 292 Lausberg weist ferner daraufhin (1985, 1600 m. Anm. 136), daß die Gestalten Helenas und Penelopes beliebter Gegenstand vergleichender Behandlung innerhalb der Homerexegese waren; hierbei dürfte auch der auffallende Umstand berücksichtigt worden sein, daß bei Homer außer Nausikaa ausgerechnet diese beiden konträren Frauengestalten mit Artemis in Beziehung gebracht wurden. 293 Zur Frage der Echtheit dieser Verse s. jedoch Anhang S. 357f. 294 vgl. Tib. Donat. 1,128,13-15 Geo. dicendo ergo ornatus Argivae Helenae hoc sentiri Vergilius voluit, speciebus ipsis superatam illius mulieris formam redditamque pulchriorem. Zur Bedeutung dieses Motivs für die Ökonomie der tragischen Handlung siehe Duckworth 1933, 59; Pöschl 1977, 180; Buchheit 1963, 189; Otis 1963, 67 und zuletzt Lausberg 1983, 234. - Entsprechend erscheint im 4. Buch dann auch Aeneas als pulcherrimus und wird explizit in die Nähe des Paris gebracht, s. hierzu u. S. 181 mit Anm. 512. 291

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bedeutungsvolle Vers fallt auch sprachlich und metrisch aus dem Rahmen295. In diesem Zusammenhang ist es höchst bedeutsam, daß Vergil die Helenareminiszenz unmittelbar vor der Venus-Amor-Szene einfuhrt. Diese bei Vergil angedeutete Verbindung zwischen Helena und Dido hat sehr deutlich L u c a η aufgegriffen: Cleopatra fuhrt er ausdrücklich als zweite Helena (10,60ff.) vor und bringt sie auch sonst in ihrem Verhältnis zu Caesar deutlich in Parallele zur Helena der Ilias296; zugleich erinnert er in seiner Schilderung der Bewirtung Caesars durch die Königin sehr deutlich an die Gastmahlszene am Ende des 1. Aeneisbuches297. Lucan hat demnach die innere Verbindung zwischen Helena und Dido im Hinblick auf die Mission des Aeneas klar erkannt. Diese enge Beziehung zwischen Helena und Dido wird auch im weiteren Handlungsablauf fortgeführt: Zu Beginn des 4. Buches schildert Vergil, wie Dido zwischen ihrem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem verstorbenen Gatten und ihrer Liebe zu Aeneas hin- und hergerissen wird. Anna gelingt es durch ihr Zureden schließlich, ihre Skrupel zu überwinden: spemque dedit dubiae menti solvitque pudorem (55). Für diese Ausgestaltung von Didos Liebeskonflikt dürfte Vergil eine Iliasszene als Modell gedient haben, die in der moralisierenden Homerrezeption als „Musterbeispiel für die Macht der Leidenschaft"298 aufgefaßt wurde: Im 3. Buch treibt Aphrodite Helena an, sich mit Paris zu vereinigen (390ff), und bricht durch die Drohung, ihre Gunst zu entziehen, schließlich deren anfanglichen Widerstand (414ff.). Ps. Heraklit - als Vertreter stoischer Homerexegese - kommentiert diese Szene mit der Bemerkung (28,6f.), Helena sei zwischen zwei Gefühlen (πάθη) hinund hergerissen, zwischen der Liebe zu Alexander (Paris) und dem Respekt (αιδώς) gegenüber Menelaos. Wenn dieses Schwanken Helenas als Exempel für den Widerstreit dieser Prinzipien in der menschlichen Seele betrachtet wurde, so konnte Vergil in der Situation Didos zu Beginn des 4. Buches auch auf die Helenas in der Ilias Bezug nehmen. In der späteren Entwicklung der Handlung wird die Parallele zwischen den beiden Frauen wiederum offenbar: Als der Barbar Jarbas, der um Dido geworben hatte, sich bei Jupiter bitter über den Konkurrenten Aeneas beklagt, bezeichnet er ihn in 295

296 297

298

Das Partizip inconcessus ist ein vor Vergil nicht belegtes Rarum (s. Austin z. St., der es nach Vergil erst bei Ovid am. 3,4,31; met. 9,638; 10,153 sowie Val. Max. 8,2,2 nachweisen kann); die archaisierende Längung der Schlußsilbe von peteret und das Versende auf ein viersilbiges Wort (hymenaeos) sind ebenfalls ungewöhnlich, s. Austin z. St. Vgl. Lausberg 1985, 1592ff. Hierzu im einzelnen Zwierlein 1974, 61-67, mit Hinweis auf die Lucanscholien, aus denen hervorgeht, daß Lucans aemulatio Virgili in der Bewirtungsszene von der antiken Lucanund Vergilexegese bemerkt wurde. Lausberg 1983, 237.

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gehässiger Weise als Paris (4,215ff.) , Dido wird von ihm indirekt mit Helena, seiner „Beute", in Parallele gebracht (rapto potitur, sc. ille Paris, 217). Die Verbindung zwischen Dido und der zumal von der Homerexegese in stärksten Kontrast zur Helena der Ilias gebrachten und als ideale Frauengestalt verstandenen Penelope ist jedoch nicht weniger offenkundig300: So bestimmt bis zum Eingreifen der Venus die Treue gegenüber dem (toten) Gatten das Empfinden und Handeln Didos {at memor ille [Cupido] / matris Acidaliae paulatim abolere Sychaeum / incipit et vivo temptat praevertere amore / iam pridem resides animos desuetaque corda, 719ff), die, wie später deutlich wird, bis zum Eintreffen des Aeneas nicht nur wie die Nausikaa der Odyssee viel umworben worden war, sondern wie Penelope als verheiratete Frau bereits viele Freier abgewiesen hatte (4,35ff. 213f. 534f£). Bereits in den Worten der Venus an Aeneas hatte Vergil die einstige treue Liebe Didos zu ihrem rechtmäßigen Gatten - zweifellos auch in Vorbereitung ihrer späteren Rolle als 'univira' - auffällig betont (huic coniunx Sychaeus erat ... /... magno miserae dilectus amore, 343f.). Auch in dem späteren Widerstreit ihrer Gefühle, der zu Beginn des 4. Buches geschildert ist, liegt neben der oben dargestellten Reminiszenz an die Helena des 3. Iliasbuches schließlich eine klare Verbindung zur Penelope der Odyssee. Der Parallelisierung der Didogestalt mit Helena und Penelope zugleich, die motivisch bereits vor dem Eingreifen der Venus vorbereitet ist und dann zu Beginn des 4. Buches weiter ausgeführt ist, kommt im Hinblick auf die Liebesbeziehung der Königin zu Aeneas zumal vor dem Hintergrund des antiken Verständnisses der beiden Frauengestalten besondere Bedeutung zu: Die Homerexegese stellte Penelope und Helena einander gegenüber und kontrastierte das Verhältnis zwischen Helena und Paris als Typus einer unrechtmäßigen Ehe mit demjenigen zwischen Odysseus und Penelope301. Die eheliche Treue und Keuschheit der Penelope zählte zu den klassischen Topoi der moralisierenden Homerexegese im griechischen302 wie im römi-

299 Wichtig Lausbergs Hinweis, daß die Verarbeitung der Helenahandlung in der zweiten Aeneishälfte keineswegs gegen ihre Bedeutung auch für die erste spreche; Vergil habe die beiden Teile seines Epos durch „mancherlei Korrespondenzen aufeinander bezogen, die auch auf der gemeinsamen Basis eines einzigen homerischen Zusammenhangs fundiert sein können" (1983, 237). Zur Parisrolle des Aeneas siehe ferner gleich unten S. 122ff. 300 Die Beziehungen sind gesammelt bei Kopff (1977). 301 Lausberg 1983, 238 m. Anm. 108. 302 Mindestens zurückzuverfolgen bis zu Aristoph. Thesm. 550; vgl. Dion Chrys. 15,4; Luc. dial. mer. 12,1.

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sehen Bereich303 und hatte als Interpretationsgegenstand ihren festen Sitz auch im römischen Grammatikunterricht304. Die Gattin des Odysseus galt in der ethischen Homerrezeption außerdem als ideale Frauengestalt überhaupt, indem sie sich innerhalb der Odyssee durch ihre Sittsamkeit (σωφροσύνη) von Kalypso abhob, die Odysseus mit Hinweis auf ihre Schönheit von der Rückkehr in die Heimat abzuhalten versucht hatte305. Das antike Verständnis von Helena und Penelope dürfte somit noch deutlicher machen, welche inhaltlichen Motive der 'strukturellen' Vereinigung von Zügen der iliadischen Helena und der odysseischen Penelope in der Dido der Aeneis zugrundeliegen: Solange Dido im Hinblick auf ihre Treue gegenüber dem (toten) Sychaeus, in ihrer Sittlichkeit die idealen Züge der Penelope erhielt, konnte sie - zusammen mit ihrer Schönheit, die ihre Parallelisierung mit der odysseischen Nausikaa und der Helena hervorhob als vollkommene Gattin des Aeneas erscheinen306. Die motivische Verbindung zu Helena jedoch mußte das Liebesverhältnis Didos zu Aeneas in ein negatives Licht rücken, indem sie dieses in Parallele zu dem Prototyp einer unrechtmäßigen Liebesbeziehung brachte, den die antike Homerexegese im Verhältnis Helena-Paris vorfand. Diese Ambivalenz der Didogestalt vor dem Hintergrund des antiken Homerverständnisses - der eine solche des Aeneas entspricht, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird - , tritt noch deutlicher heraus, wenn man bedenkt, daß in der epischen Nachfolge Vergils etwa Lucan die Rollen der odysseischen Penelope und der iliadischen Helena wieder auf zwei Frauengestalten, auf Marcia, die treue Gattin Catos, und Kleopatra, die Verführerin Caesars, verteilte307. Wie eingangs erwähnt, hat Vergil in der Person Didos, der einzigen Frau der Aeneis, die dem Haupthelden wirklich gegenübertritt, zunächst strukturell auch die Gestalten Kalypsos und Kirkes vereinigt, auf die sich die moralisierende Homerexegese im Hinblick auf das Thema der 'Versuchung des Odysseus' vornehmlich bezogen hatte. Bereits in der Behandlung der An303

So etwa bei Hör. sat. 2,5,81 und besonders in der Liebeselegie bei Properz: 2,6,23; 2,9,3; 3,12,38; 3,13,24; 4,5,7. 304 Vgl. Sen. epist. 88,6. 305 Lausberg 1985, 1600 Anm. 135 verweist hierzu auf Ps. Plut. 2,135; Ps. Heraklit 78,2 sowie Schol. [E] Od. 5,211: την γαμετήν ζητεί δια τό είναι περιφρονά; von Kalypso heißt es: εκείνης μεν γαρ έπι σώματος εύμορφια και μεγέθει μεγαλαυχοΰσης. 306 Vielleicht geht die Annahme nicht zu weit, daß diese Parallelisierung Didos mit Penelope bereits in der Schilderung von Aeneas' Landung in Karthago vorbereitet ist, in der, wie oben (S. 102 Anm. 268) bereits dargelegt, die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka anklingen dürfte. 307 Hierzu - unter Zugrundelegen des oben skizzierten antiken Homerverständnisses - Lausberg 1985, 1600ff.

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kunft des Aeneas in Karthago wurde darauf hingewiesen, daß Vergil hier insbesondere in der Rede des Aeneas - auch an die Landung des Odysseus auf der Kirkeinsel Aiaia erinnert hatte308. Auch zur Kalypsoepisode des 5. Odysseebuches war hier eine Verbindung gezogen, indem das auf die Landung der Aeneaden folgende olympische Gespräch zwischen Jupiter und Venus (Aen. 1,223-296) mit der abschließenden Entsendung Mercurs (297304) dem Gespräch zwischen Zeus und Athene (Od. 5,1-27) und der folgenden Mission des Hermes nach Ogygia (28-45) nachgestaltet ist309. Speziell zur Kalypsoepisode zieht Vergil außerdem die Verbindung besonders deutlich in der Auseinandersetzung zwischen Dido und Aeneas, worauf gleich noch zurückzukommen ist310. Die Karthagoepisode ist ferner durch den Mercurauftritt des 4. Buches auf die odysseischen Kalypso- und Kirkeepisoden bezogen. Bedenkt man, daß die Deutung dieser beiden (göttlichen) Frauen als Symbole erotischer Versuchung für den heimkehrenden Helden in der antiken Homerexegese geradezu topisch war, und nimmt man die bisherigen Ausführungen über die Beziehungen zwischen Dido und der ebenso gedeuteten odysseischen Nausikaa und der Helena (der Ilias) hinzu, so wird sehr deutlich, woraus Vergil die Berechtigung einer solchen kontaminierenden Verarbeitung der homerischen Modelle, auf die er deutliche äußere („strukturelle") Hinweise gibt, ableiten konnte: Nach antiker Deutung hatte Homer, als πρώτος εύρετής erotischer Dichtung, in den Beziehungen zwischen dem odysseischen Helden und den ihm begegnenden Frauengestalten gewissermaßen ein 'Thema mit Variationen' geschaffen. Im Falle der Kirke trifft sich die antike Bewertung ihrer Bedeutung für den Helden mit derjenigen der Phäaken: Zu Beginn des 7. Buches läßt Vergil die Heliostochter selbst auftreten, und sie erscheint hier nicht nur als 308

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Siehe S. 88ff. Weitere Verbindungen zum 10. Odysseebuch bei Knauer 1964, 173-180 (ferner in den Listen, S. 372-374). Die Schilderung der Mission Mercurs zur Besänftigung der ferocia corda Didos und der Karthager und ihrer Vorbereitung auf die Ankunft der Aeneaden haben moderne Vergilinterpreten (vgl. etwa Heinze 1914, 308 m. Anm. 1. 331 Anm. 1) u.a. wegen ihrer „unepischen Kürze" und ihres „Mangels an Anschaulichkeit" kritisiert. Hierin könnte allerdings eine über das odysseische Modell hinausgehende sekundäre Anspielung auf Apollonios liegen, der als episches Vorbild in der Karthagoepisode stets nach Homer im Hintergrund wirkt: Aietes, wie Dido Herrscher eines prinzipiell nicht gastfreundlichen Volkes (vgl. Aen. l,539ff), berichtet hier in ähnlichen Worten und ebenso auffallend unanschaulich und knapp von einer Mission des Hermes, die, von Zeus in Auftrag gegeben, der Ankunft des Phrixos vorausgegangen war und denselben Zweck wie der Karthagobesuch Mercurs in der Aeneis verfolgt hatte, vgl. 3,584ff. ούδέ γαρ Αίολΐδην Φρίξο ν ... / δέχϋαι (sc. Aietes), / ... / εί μή οί Ζευς αύτός άπ' ούρανοϋ άγγελον ήκεν / ' Ερμείαν, ώς κεν προσκηδέος άντιάσειεν. Sieheu. S. 128ff.

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gefahrliche Zauberin mit schöner (d.h. auch verlockender) Stimme, sondern als dives (11). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf eine ebenso verbreitete antike Deutung311, nach der Kirke nicht nur als erotische Versuchung, sondern auch durch ihren Reichtum eine Gefahr fur Odysseus darstellte. Die in der antiken Homerdeutung gängige und auch bei Vergil vorliegende Verquickung Kirkes mit Kalypso zeigt, daß dieser Topos auch auf die Nymphe ausgedehnt wurde. Nicht nur Circe jedoch heißt bei Vergil dives, auch D i d o erhält dieses Epitheton312 (4,263) in einer fur den Fortgang der Mission des Aeneas zentralen Szene, die im folgenden noch ausfuhrlich zu behandeln sein wird313. Damit ist bereits der Hinweis auf ein weiteres Tertium des Vergleichs zwischen den beiden einander ähnlichen Frauengestalten der Odyssee und Dido gegeben, den Vergil durch strukturelle Reminiszenzen klar herausfordert, und es kehrt damit ein weiteres Motiv der Venusrede wieder: der noch aus Tyros stammende Reichtum Didos, der das abendliche Gastmahl prägt. Die Stellen sind hier zusammengestellt, in denen der Dichter Fülle und Pracht der Hofhaltung Didos schildert, die die gesamte Beschreibung des Gastmahles geradezu leitmotivisch durchziehen und hierin über das odysseische Modell - die Bewirtung des Odysseus durch Alkinoos und Arete314 - deutlich hinausgehen: 1,637 639

697 700 726 728 739 740

at domus interior regali splendida luxu instruitur...; arte laboratae vestes ostroque superbo, ingens argentum mensis, caelataque in auro fortia factapatrum...; ... aulaeis iam se regina superbis aurea composuit sponda...; ... stratoque super discumbitur ostro. ... dependent lychni laquearibus aureis incensi...; hic regina gravem gemmis auroque poposcit (sc. pateram) ... pleno se (sc. Bitias) proluit auro ... cithara crinitus Iopas personat aurata...

Diese fremdartige315, orientalische Pracht des Palastes und seiner Einrichtungen korrespondieren mit der des Alkinoos-Palastes und seiner Gärten, 311

312 313 314 315

Kaiser 1964, 202 mit Verweis auf Ps. Heraklit 72,2f.; Athen. l,10e; Eustath. 1656,41f.; Hunter 1993, 178 Arnn. 35 verweist ferner auf Palladas (Anth. Pal. 10,50). Vgl. Hunter 1993, 179. Sieheu. S. 118. Siehe Knauer 1964, 164ff. Servius z. St.: et notandum quia affluentiam ubique exteris gentibus dat (sc. poeta).

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die der Odysseedichter in einer längeren Ekphrasis schildert und Odysseus bestaunen läßt (7,84-133). Vergil verlegt dabei die Beschreibung des 'orientalischen Luxus' in die Gastmahlszene selbst, in der bei Homer dieses Moment eher in den Hintergrund tritt (etwa Aen. 1,697-747 ~ Od. 8,469586). Gerade die Pracht des Palastes und der Gärten des Alkinoos, aber auch die angebliche Üppigkeit seiner Festmähler316, waren ein wichtiger Gegenstand antiker Homerexegese: Seit dem 4. Jh. ist die Entwicklung des tendenziell eher negativen Topos vom durch τρυφή und φιληδονία 317 gekennzeichneten 'Phäakenleben' zu verfolgen, das die Interpreten vor allem an diesen drei Elementen festmachten318. Als Beispiel für literarische Reflexe dieser in augusteischer Zeit bereits verfestigten Interpretation auch im römischen Bereich sei hier besonders Lukrez genannt: Er nimmt unmittelbar auf die odysseische Palastbeschreibung Bezug, um mit ihr im Sinne epikureischer Lehre ein Beispiel für nicht naturgemäßen und nicht notwendigen Luxus zu geben, indem er zentrale Verse dieses Passus annähernd wiedergibt319: Lucr. 2,23 25

gratius interdum neque natura ipsa requirit, si non aurea sunt iuvenum simulacra per aedes (vgl. Od. 7,100) lampadas igniferas manibus retinentia dextris, (vgl. Od. 7,101) lumina nocturnis epulis ut suppeditentur, (vgl. Od. 7,102) nec domus argento fulget auroque renidet (vgl. Od. 7,88ff.) nec citharae reboant laqueata aurataque templa320.

Die Beschreibung des Didopalastes bei Vergil korrespondiert in manchen Details mit der lukrezischen Wiedergabe des Odysseepassus321. So dürfte 316 317 318

319 320

Vgl. Od. 8,248. Diese Begriffe finden sich etwa Schol. [QH] Od. 9,5f.; [EQ] 8,100; [T] 8,248. Belege für diese sehr verbreitete Interpretation sind zusammengestellt bei Kaiser 1964, 217-220, der u.a. auf Plat. rep. 614b; Herakl. Pont. fr. 175 Wehrli; Theop. FGrH 115; Polyb. 34,9,45; Dion Chrys. 2,37ff. und speziell für den römischen Bereich auf Hör. epist. l,2,28ff. sowie Lukrez und Properz (s.u.) verweist. Auf die Lukrezstelle verweist Kaiser. In ähnlicher Weise zeigt auch Properz die Verbreitung dieser topischen Homerinterpretation, hier in Bezug auf die Üppigkeit der Gärten des Alkinoos: Prop. 3,2,11 quod non Taenariis domus est mihi fulta columnis, nec camera auratas inter eburna trabes, nec mea Phaeacas aequant pomaria silvas. Auch Horaz hebt den Luxus der Phäaken, hier speziell ihrer Gastmähler, hervor: Hör. epist. 1,15,23 utra magis piscis et echinos aequora celent, pinguis ut inde domum possim Phaeaxque reverti, (scribere te nobis ... par est) (Auf die Stellen verweist Kaiser 1964, 217ff.).

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angesichts der sonstigen zahlreichen Lukrezreminiszenzen innerhalb der Aeneis die Annahme nicht abwegig sein, daß Vergil hier nicht nur auf die homerische Palastbeschreibung selbst, sondern auch auf ihre durchaus typische moralisierende Ausdeutung in dem zitierten Lukrezpassus Bezug genommen hat, um die Darstellung von Pracht und Luxus am Hofe Didos speziell im Hinblick auf die Mission des Aeneas - in ein entsprechend kritisches Licht zu rücken. Das Gold, mit dem Dido ihren Palast geschmückt hat, so muß man nach der Venuserzählung erwarten, ist mit den Schätzen identisch, um deretwillen Didos Bruder Pygmalion ihren geliebten Gatten getötet hatte322, fur Dido zugleich also Ursache für schweres Leid gewesen. Bereits in den Georgica hatte Vergil dem Leben des einfachen italischen Bauern den habgierigen Zerstörer von Städten gegenübergestellt, der diese plündert, ut gemma bibat et Sarrano dormiat ostro (georg. 2,506); diese Abzeichen übermäßigen Reichtums prägen, wie oben deutlich wurde, auch den karthagischen Hof (vgl. bes. Aen. l,728f. hic regina gravem eemmis auroquepoposcit/... pateram323 und die Speisesofas aus ostrum in 700) und haben ebenso auch die Zerstörungswut eines Pygmalion entfesselt. Wie das Gegenbild zum italischen Bauern in den Georgica (2,507 cond.it opes alius defossoque incubat auro) hatte Didos Gatte im Kampf gegen die Umtriebe seines Schwagers die Reichtümer vergraben, um sie (für Dido) zu retten (358f. auxilium... viae veteres tellure recludit / thesauros)32*. Auch innerhalb der Aeneis hat Vergil zu Pracht und Luxus Karthagos eine deutliche Antithese geschaffen: Wie von Dido wird Aeneas im 8. Buch von Euander in Pallanteum, dem Platz des späteren Rom, empfangen; dieses 'Ur-Rom' aber und die Bewirtung, die Euander seinem Gast zukommen lassen kann, sind an Schlichtheit kaum zu übertreffen, und nicht zufallig erinnert Vergil in seiner Beschreibung des Gastmahls beim Arkaderkönig durch motivische Anklänge an die Bewirtung des Odysseus nach seiner Ankunft in Ithaka in der Hütte des Sauhirten Eumaios325. Die der odysseischen Phaiakis nachempfundene Beschreibung der luxuriösen Hofhaltung Didos, die fur Aeneas das Leben in

321

322

323 324 325

Vgl. im einzelnen: Lucr. 2,24: Aen. l,640ff.; 25f.: 726f. (Serv. z. St.: lychni: Graeco sermone usus est, ne vile aliquid introferret)·, 27: 637. 640. 726; vgl. 698. 728. 739. 741; 28: 740f.; vgl. 726. Diese Schätze hatte Sychaeus jedoch zuvor vergraben und Dido im Traum gewiesen. Siehe Con.-N. zu 358: „The course of the narrative, especially v. 349, shows that these [veteres ... thesauros] are hereditary treasures, belonging to Sychaeus, not an ancient and forgotten hoard". Siehe Austin zu 728. Austin verweist fur dieses Motiv ferner auf Cie. rep. 1,27; Hör. sat. 1,1,41f. Vgl. etwa Aen. 8,175-178 ~ Od. 14,48-51; s. Knauer 1964, 252f. und die Listen.

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Karthago repräsentiert, erhält im Fortgang der Handlung ganz unmittelbare Bedeutung für die Mission des Helden. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, daß Vergil vor Beginn der Didotragödie des 4. Buches die bei Homer zweifellos angelegten, von der ethischen Exegese jedoch besonders betonten Momente der Faszination, die das luxuriöse Wohlleben bei Alkinoos (wie auch bei Kirke und Kalypso) und die Begegnung mit göttlichen wie sterblichen Frauen auf Odysseus ausübten, in Übertragung auf Karthago verstärkt und speziell der Situation des Aeneas - eines auf der Suche nach der neuen Heimat Umherirrenden - angepaßt hat. Zugleich deutet sich - nicht zuletzt auch durch werkimmanente Bezüge - an, daß Luxus und Pracht Karthagos, aber auch Schönheit und königliche Größe Didos, die die Geschenke Helenas erhält, für das weitere Geschick des Aeneas nicht unproblematisch sein werden: Die Spannung zwischen Eros und Wohlleben einerseits und der Bestimmung des Odysseus andererseits, die die antike Homerexegese beschäftigte, scheint im Falle des vergilischen Helden wiederzukehren326. Inwieweit sich Odysseus gegenüber den Verlockungen, mit denen ihn die Homerexegese konfrontiert sah, die innere Unabhängigkeit bewahrt hatte, wurde, wie einleitend schon angedeutet, durchaus kontrovers beurteilt: Besonderer Gegenstand der Kritik waren die berühmten „Goldenen Verse", in denen Odysseus vor dem Beginn seiner Erzählungen gegenüber seinem Gastgeber das heitere und genießerische Leben der Phäaken preist (Od. 9,2ff.). An diesen Worten wurde seit Piaton (rep. 390a-b) vielfache Kritik geübt, die auch Eingang in die Scholien fand327, schien doch Homer seinen Helden das Genußleben als τέλος menschlicher Lebensführung definieren zu lassen328. Die noch erhaltene Kommentierung der „Goldenen Verse" zeigt 326

327 328

Die epischen Nachfolger Vergib haben den negativ-moralisierenden Unterton dieser Schilderung von Pracht und Luxus deutlich bemerkt und sind über die Dezenz der Aeneis hinausgegangen: Von der Gastmahlszene bei Lucan war oben (S. 110) bereits die Rede, wo durch die explizite Gleichsetzung Cleopatras mit Helena ein klarer Bewertungsmaßstab für das geschilderte Geschehen vorgegeben ist. Auch Silius lehnt seine Schilderung von dem Aufenthalt Hannibals in Capua sehr eng an die Bewirtungsszene des 1. Aeneisbuches an (11,270-302, ein Pendant zum Iopasgesang von Aen. l,740ff. in 288-298), qualifiziert die gesamte Szenerie jedoch weit über Vergil hinausgehend sehr deutlich, wenn der Wein dieses Gelages als venerium (307) bezeichnet ist, die ganze Hofhaltung aber als luxus (400), der zusammen mit den von Venus entsandten Eroten die mit dem Schwert nicht bezwingbaren corda importuna (vgl. Aen. l,302f.) der Punier bezwingt, worauf miseris bonis perit horrida virtus (419). Als Hannibal und seine Krieger dann endlich wieder aufbrechen, sind ihre Körper molli luxu madefacta meroque, / illecebris somni torpentia (12,18f.). Kaiser verweist auf Schol. [QH] Od. 9,5. Das Substantiv erscheint Od. 9,5: ού γ α ρ έ γ ώ γ έ τν φημι τέλος χ α ρ ι έ σ τ ε ρ ο ν ε ί ν α ι / ή ότ' έ ΰ φ ρ ο σ ύ ν η ν μεν έ χ η κάτα δήμον ά π α ν τ α etc. Τέλος ist hier freilich eher als 'Zu-

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ebenso deutlich das Bemühen der Verteidiger Homers, die Worte des Odysseus mit einer λύσις άπό του προσώπου, d.h. mit dem Hinweis auf den Charakter der Phäaken, oder άπό του καιρού (Odysseus preise das Wohlleben nur für das Symposion, nicht aber als Maßstab für die Lebensführung überhaupt) zu rechtfertigen; er äußere hier nur, was die Phäaken hören möchten329. Diese Diskussion zeigt deutlich, wie sehr namentlich Homerinterpreten stoischer Provenienz bemüht waren, an dem Bild des disziplinierten Helden, der seinen Zielen treu blieb, festzuhalten. Wenn Odysseus nun nach Auffassung der antiken Homerkommentierung mit welcher tieferen Absicht auch immer zu den 'Versuchungen', denen er am Hof des Alkinoos konfrontiert wurde, Stellung bezog, so schuf Vergil im Fall des Aeneas vor dem Konflikt des 4. Buches hierzu allenfalls in dem Ausruf des Trojaners im Anblick Karthagos eine Parallele. Die Schilderung der Empfindungen, die Aeneas gegenüber Dido und Karthago hegt, tritt nach seiner gastlichen Aufnahme im Palast zurück, nachdem Vergil seine Faszination beim Anblick der Stadt und des Junotempels noch stark hervorgehoben hatte (vgl. 421 f. 456. 494). Man erfahrt zunächst nicht, wie Prunk und Luxus des Palastes auf ihn wirken. Der Auftritt der forma pulcherrima Dido war zuvor auch aus der Perspektive des in Nebel gehüllten Aeneas beschrieben; doch die Entwicklung des Liebesverhältnisses wird, von Venus über Amor in Gang gesetzt und später durch das Abkommen mit Juno besiegelt, von Juno, vordergründig von Dido vorangetrieben, während Aeneas passiv zu bleiben scheint330. Überhaupt konzentriert sich das Geschehen vom abendlichen Gastmahl an ganz auf Dido; die gesamte Liebesepisode scheint eingeführt, um die tragische, zerstörerische Wirkung des Liebesfuror am Schicksal Didos zu exemplifizieren. Dieser Eindruck eines unbeteiligten Aeneas ändert sich, als Jupiter, der die eifersüchtige Klage des Jarbas vernommen hat (4,219), in das Geschehen eingreift. Erst jetzt wird deutlich, daß Aeneas der Faszination Didos und Karthagos wirklich erlegen ist und seine Mission vergessen hat: Jupiters Blick auf die Erde erfaßt im Königspalast die oblitos famae melioris amantis (221). War bisher nur von der fama Didos die Rede (4,170, vgl. 323), soweit diese als 'univira' dem toten Sychaeus die Treue gehalten hatte, treten hier nun auch die negativen Auswirkungen für das Bild des Aeneas in den Vordergrund. Jupiter erteilt Mercur daraufhin den Auftrag, Aeneas an seine

329 330

stand der Erfüllung eines konkreten Wunsches' aufzufassen, siehe P.H. Ambrose: The Homeric Telos, Glotta 43, 1965, 38-62, bes. 60. - Weitere Belege fiir ähnliche Kritik an den „Goldenen Versen" bei Kaiser 1964, 215f. Schol. [QH] 9,5; Ps. Plut. 2,150; Ps. Heraklit 79,3. Vgl. Otis 1963, 266f.; Horsfall 1995, 130.

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Aufgabe, in Italien ein neues Reich zu errichten (229ff.), und an seine Verpflichtung gegenüber Ascanius (234) zu erinnern. Die Bemerkung, daß Aeneas fatis... datas non respicit urbes (224f.), erinnert an den staunenden Blick des Aeneas aus der Ferne auf die Stadt zu Beginn der Karthagoepisode (vgl. 438 Aeneas ...fastigia susoicit urbis). Mercur eilt nach Karthago und Aen. 4,260

Aenean fiindantem arces ac tecta novantem conspicit. atque Uli stellatus iaspidefulva ensis erat Tyrioque ardebat murice laena demissa ex umeris, dives quae munera Dido fecerat, et tenui telas discreverat auro.

In der Beschreibung von Tätigkeit und Habitus des Aeneas im Moment der göttlichen Intervention, die den Wendepunkt der Karthagoepisode bedeutet, sind die drei Motive der Venusrede zusammengeführt: Aeneas widmet sich mit dem Aufbau Karthagos derjenigen Aufgabe, um die er bei seinem ersten Blick auf die entstehende Stadt ihre Bewohner beneidet hatte (vgl. 1,437); bei seiner Arbeit ist er mit einem prächtigen und kostbaren (stellatus iaspide fulva) Schwert ausgestattet und einem tyrischen Purpurmantel, der etwa bei Pers. 1,32 und Juv. 3,283 als „a sign of wealth and luxury" (Con.-Nettleship ζ. St.) gilt und den die dives Dido ihm mit Gold durchwirkt hatte - allesamt Geschenke der Königin: Vergil greift das am Ende des 1. Buches in der Palastbeschreibung geschaffene Bild verschwenderischer Fülle am Hofe Didos auf, das er zuvor in der Schilderung des morgendlichen Aufbruchs zur Jagd insbesondere in der Beschreibung Didos (vgl. 4,138f.) nochmals in Erinnerung gebracht hatte. Aeneas hat somit in augenfälliger Weise am luxuriösen Leben Karthagos Anteil erhalten: „it is ... a Tyrian Aeneas, dressed out in magnificence by Dido, not a grave and sober man of destiny ... the whole picture is dazzling - and oriental" (Austin zu 260; 262). Die Beschreibung des Aeneas kurz vor der Peripetie des 4. Buches läßt so keinen Zweifel daran, daß dieser sich der 'Versuchung' ergeben und seine göttliche Mission, die er den Gefährten nach der Landung in Karthago eingeschärft hatte (l,205f.), aus dem Blick verloren hat. Besondere Bedeutung kommt hier dem lyrischen Schwert sowie dem Umhang zu, mit denen Aeneas ausgestattet ist: Er hat diese, wie im weiteren Verlauf der Handlung nachgetragen wird, von Dido im Austausch gegen sein eigenes Schwert und seine eigenen Kleider erhalten (4,495. 507), „gleichsam als Pfand seiner Liebe" 331 ; die Symbolik dieses Vorgangs bedarf kaum der

331

So Heinze 1914, 143 Anm. 3.

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II. Ethische Exegese

Erläuterung332. Der bisher vorherrschende Eindruck, Aeneas verhalte sich gegenüber den neuen Entwicklungen passiv, wird deutlich widerlegt, als Vergil ihn Karthago als dulcis terras (281) und Dido als optima (291)333 bezeichnen läßt. Die dives Dido (4,263), die Aeneas in solcher Weise ausgestattet hat, besitzt, wie erwähnt, in der dives Circe der Homerexegese und speziell des 7. Aeneisbuches (11) ihr Vorbild, wo diese ebenso an (kostbaren) Gewändern webt (arguto tenuis percurrens pectine telas, 14), wie dies nun Dido fur Aeneas getan hat (ardebat murice laena /... dives quae munera Dido / fecerat, et tenui telas discreverat auro, 262f.). Auch die Intervention Mercurs verbindet die Aeneisszene wiederum eng mit dem odysseischen Zusammenhang und bestätigt die Annahme, daß die Gestalten Kalypsos und Kirkes in der Person Didos strukturell auf der Grundlage ihrer prinzipiell identischen Bedeutung fur die Mission des Helden vereinigt sind334: In der Odyssee übermittelt Hermes der Kalypso Zeus' Befehl, Odysseus freizugeben (5,97ff); Hermes begegnet Odysseus auch auf seinem Weg zu der Behausung Kirkes und überreicht ihm das Wunderkraut Moly, das ihn vor der Zauberwirkung der Tränke Kirkes schützt, und gibt ihm Anweisungen, wie er der Zauberin Herr werden könne (10,286ff.). Vom Szenentypus her, der durch das plötzliche Eingreifen einer Gottheit in menschliche Handlungsabläufe gekennzeichnet wird, liegt im Auftritt Mercurs überdies noch eine Reminiszenz an die Intervention Athenes im 1. Buch der Ilias: Als hier der Streit zwischen Achill und Agamemnon um Briseis seinen Höhepunkt erreicht und Achill im Begriff ist, sein Schwert zu ziehen, um den Widersacher zu töten, tritt Athene im Auftrag Heras neben ihn und veranlaßt ihn, das Schwert in die Scheide zurückzustecken und sich in Worten mit Agamem332

333

334

Heinze erinnert an das Vorbild der 8. Ekloge (der Hirte Alphesiboeus singt, wie er den Geliebten Daphnis durch Zauber aus der fernen Stadt herbeigeholt hat; als Liebespfand hatte dieserperfidus ihm seine exuviae zurückgelassen, pignora cara sui... /... debent haec pignora Daphnin, 92f.). Das Schwert, das Aeneas Dido als Liebespfand zuriickläßt, ist mit Heinze als dasselbe zu fassen, mit dem sich Dido tötet (vgl. 647 non hos quaesitum munus in usum). In diesem WafFentausch dürfte - im Sinne vergilischer προοικονομία - ein wichtiges Motiv für die Herstellung der neuen, jetzt göttlichen Waffen durch Vulcanus auf Bitten der Venus (8,370ff.) liegen - ebenso wie der Verlust der dem Patroklos geliehenen Waffen Achills im Zusammenhang der Ilias. Das tyrische Schwert dient bis zu diesem Zeitpunkt Aeneas lediglich dazu, bei der Abfahrt von Karthago die Haltetaue des Schiffes zu durchtrennen (4,579f.), und wird in der Unterweltschilderung des 6. Buches noch zweimal kurz erwähnt (250ff. 291ff), bewährt sich jedoch in keinerlei Kämpfen. Zur Bedeutung des Attributs s. Austin z. St.; zu verweisen ist ferner auf Lucr. 3,894f.: iam iam non domus accipiet te laeta, neque uxor / optima (nec dulces occurrent nati). Letztlich auf die Kirke der Odyssee - unter Vermittlung der Medea des Apollonios - gehen auch die Züge einer Zauberin zurück, die Dido in 4,479ff. erhält.

3. Aeneas

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non auseinanderzusetzen (l,194f£). In der Homerexegese wurde die göttliche Intervention in allen drei Szenen in gleicher Weise gedeutet, als der Sieg des λόγος über die πάθη, und dies entsprach der schon in sehr frühe Zeit zurückzuverfolgenden Deutung des Hermes als eines Vernunftsymbols335. Das Kraut Moly, das Odysseus von Hermes entgegennimmt, symbolisierte hierbei nach verbreiteter Auffassung336 die Kraft des λόγος, der den Helden vor der - als Verfuhrung zu den πάθη gedeuteten - Verzauberung durch Kirke bewahrte, während seine Gefährten ihr erlagen. Bei Eustathios findet sich, bezogen auf den Hermesauftritt im 5. Odysseebuch, ganz entsprechend die Vorstellung, der λόγος = die Vernunft, verkörpert durch Hermes, löse Odysseus aus der (erotischen) „Umklammerung" durch Kalypso (1521,13 zu Od. 5,29). In beiden Fällen wies Homer nach Auffassung der antiken Interpreten diesem Gott die Aufgabe zu, mit Hilfe seiner ράβδος die Verwirrung oder Verführung der Seele zu beenden bzw. die aus ihrem Gleichgewicht geratene Seele zu neuer Kraft zu erwecken (Schol. [EV] Od. 5,47 ψυχάς τεταραγμένας / [HPQT] παραγομένας παύει, έκλελυμένας δε διεγείρει). Die weite Verbreitung und lange Tradition dieses 'allegorischen' Verständnisses ist vielfach bezeugt und findet sich sowohl bei Aristophanes (Plut. 302ff.) als auch noch bei Servius (zu Aen. 7,19)337. Eine besonders umfassende Interpretation widmeten die Homerinterpreten der erwähnten Iliasszene, in einer Übereinstimmung, die wiederum die geradezu topische Verbreitung dieses Deutungsmusters zeigt: Der λογισμός, durch Athene symbolisiert, hält hier den θυμός davon ab, άνήκεστόν τι δράσαι 338 .

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336

337

338

Siehe S. Reitzenstein, Zwei religionsgeschichtliche Fragen, Straßburg 1901, 58ff.; vgl. hierzu Schol. [E] Od. 1,38; Ps. Heraklit 59. 72 Kaiser (1964, 209) kann diese Deutung bereits von Kleanthes (SVF I 526; dazu Schol. [T] Od. 10,305) an bis in die Spätantike hinauf (Prokop. Gaz. epist. 117 p. 579 He.) belegen. Kaiser 1964, 201, der weitere Belege anfuhrt (darunter wieder Ps. Heraklit Incred. 16). Kirke wird bei Aristophanes, Ps. Heraklit wie auch bei Servius als Hetäre interpretiert, ihre 'Zauberkraft' wird demnach als eine erotische verstanden. Plut. mor. 26e; ganz ähnlich Ps. Plut. 2,129,1; Ps. Heraklit 17; Schol. [A] 1,194. Vergil imitiert diese Szene primär in der Iliupersis: hier zückt Aeneas sein Schwert, wohl um in den Kampf zu stürzen (vgl. Heinze 1914, 49; wie der überlieferte Text dagegen suggeriert, um Helena zu töten), und kann von Venus nur knapp davon abgehalten werden. Die vorwurfsvoll-erstaunten Worte der Göttin, die gleichsam den Seelenzustand des Aeneas beschreibt, lassen erkennen, daß Vergil auch in dieser Adaptation der Schlüsselszene aus dem 1. Iliasbuch die gängige psychologisch-symbolische Deutung der Intervention Athenes vor Augen gestanden haben dürfte (wenngleich die an die Stelle Athenes tretende Venus eine symbolische Identifikation der Göttin mit einer inneren Vernunfteingebung des Helden hier ausschließt): Aen. 2,594 'nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? quidfuris? aut quonam nostri tibi cura recessit? (...')

122

II. Ethische Exegese

Die Intervention Mercurs, der mit seiner virga ausgestattet ist (242ff.), entspricht exakt diesem antiken Verständnis des odysseischen Hermesauftritts: Der Gott „löst" Aeneas aus der „Umklammerung" der reichen und geliebten Dido, bewahrt ihn in der entscheidenden Situation so vor der endgültigen „Verzauberung" und dem Vergessen seines Auftrages und beendet auf diese Weise die „Verwirrung" bzw. „Verweichlichung" seiner Seele. Schon Heinze (1914, 304ff.) hat darauf hingewiesen, daß ein solches symbolisches Verständnis dieser wie anderer ähnlicher Aeneisszenen339 naheliegt, selbst wenn hier nicht der Nachweis erbracht wäre, daß schon die entsprechenden Homerszenen zu Vergils Zeit in eben dieser Weise gedeutet wurden: „Denken wir hier die göttliche Einwirkung fort, so ergibt sich das natürliche Substrat ganz von selbst: statt des als Person gedachten von außen herantretenden göttlichen λόγος hat man nur den in der Brust jedes Menschen wohnenden göttlichen λόγος als die erinnernde Macht einzusetzen, und es ist ein sehr feines Motiv, daß gerade beim Anblick der erstehenden Burg Karthagos plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt den Helden die Erinnerung an die Stadt überfallt, die ihm vom Schicksal bestimmt war zu gründen". Die zur Zeit Vergils geläufige Interpretation der homerischen Vorbildszenen kann diese Deutung der Szene vollauf bestätigen. Die Invektive Mercurs gegen Aeneas, der kurz zuvor von Jarbas als ille Paris (215) tituliert worden war, besitzt jedoch auch noch eine innere Verbindung zu einer weiteren homerischen Szene, die in der Homerexegese als existentielles Exemplum für den Gegensatz zweier Grundtypen menschlichen Verhaltens verstanden wurde und erst auf Grundlage dieser antiken Deutung als zusätzliches Modell für den Mercurauftritt erkennbar wird, da strukturelle Beziehungen hier fehlen340. Mercur erinnert Aeneas an seine Pflicht, dem fatum Folge zu leisten, besonders aber auch an seine Verpflichtung gegenüber Ascanius, dem er das regnum Italiae und die Romana tellus (275) schulde. Diese Spannung zwischen dem eigennützigen Wohlleben, dem sich Aeneas - jedenfalls nach den Worten Mercurs hingibt (qua spe Libycis teris otia terris, 271), und der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft kennzeichnete nach Auffassung der Homerinterpreten auch den Besuch Hektors in Troja im 6. Iliasbuch: Hekabe, Helena und Andromache versuchen nacheinander, den vorübergehend Heimgekehrten davon abzuhalten, in den Kampf zurückzukehren (258ff. 354ff 407ff), doch bleibt er fest in seinem Entschluß, Troja zu 339

340

Heinze (1914, 305ff.) verweist etwa auf die Famaepisode des 4. Buches (173ff.) sowie auf das Wirken Amors (l,690ff.) und Allectos (7,347ff. 445ff. 51 Iff.). Auf die im folgenden ausgeführte Verbindung hat bereits Lausberg (1983, 237f.) verwiesen.

3. Aeneas

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verteidigen. Ganz anders verhält sich Paris, der sich aus dem Kampfgeschehen zurückgezogen hat und sich im Gemach der Helena aufhält. Als Hektor ihn dort antrifft, wie er „die herrlichen Waffen versorgt" (τον δ' εύρ' έν ϋαλάμω περικαλλέα τεύχε' έποντα, 321), hält er ihm sein grollendes Fernbleiben aus dem Kampf vor. Die Scholien bemerken zu dieser Stelle: [bT] 6,321 τον καλλωπιστήν δηλοΐ [sc. Homer] και έναβρυνόμενον τη γυναικι και μόνον ούχι πομπής χάριν κεκτημένον την σκευήν. Diesem Paris, dessen Erscheinungsbild in dieser Weise negativ aufgefaßt wurde341, ähnelt der von Dido mit Prunkwaffen ausgestattete Aeneas, als ihn Mercur antrifft und in ähnlicher Weise wie der Hektor der Ilias seinen Bruder anfahrt, wenngleich Aeneas nicht etwa untätig im Gemach Didos sitzt, sondern sich am Aufbau Karthagos beteiligt. Gleichwohl legt Vergil Mercur einen ähnlichen Vorwurf in den Mund: Nicht nur treibt Aeneas Müßiggang (otia teris); auch seine Apostrophierung als uxorius (266) erinnert - zumal in Verbindung mit der schon im 1. Buch (über die Helenareminiszenz) angebahnten und von Jarbas kurz zuvor auch deutlich ausgesprochenen Parallele zwischen Paris und Aeneas - an den έναβρυνόμενον τή γυναικι der Iliasscholien. Auch in der folgenden Auseinandersetzung zwischen Hektor und Paris (326ff) hatte Homer nach Auffassung seiner Interpreten zwei prinzipiell unterschiedliche Lebensformen, den Einsatz fur die Gemeinschaft und untätigen Egoismus, einander pointiert gegenübergestellt: Schol. [bT] 6,390: (...) και έστιν ίδεΐν αντικείμενα τά

πρόσωπα,

"Εκτορος μεν προτιμήσαντος των ηδέων την βοήϋειαν τών πολιτών, 'Αλεξάνδρου δε τη 'Ελένη παρακαϋημένου 342 . Diese Interpretation steht in ihrer Tendenz nicht vereinzelt. Unter dem Aspekt der Verantwortung fur die Mitbürger, des Einsatzes fur die Heimat stellte die ethische Homerkommentierung die Figuren Hektors und seines Bruders in ihrer wesenhaften Gegensätzlichkeit auch am Beispiel anderer

341

342

Eine ähnlich negative Bewertung des Paris in dieser Situation zeigt Plut. mor. 73f: (Hektor tadelt den Bruder maßvoll) ώς ούκ άπόδρασιν ούδέ δ ε ι λ ΐ α ν ούσαν άλλ' όργήν την έκ της μάχης άναχώρησιν αύτοΰ. Lausberg (1983, 238 Anm. 108) verweist zum Gegensatz Hektor-Paris ferner auf Max. Tyr. 18,8e. 26,6a. Vgl. ferner Schol. [bT] 6,492 έστι δέ ήθη σκοπεΐν διάφορα 'Αλεξί&άνδρου και "Εκτορος· ό μεν γάρ φησι „πόλεμος δ' άνδρεσσι μελήσει,,, ό δέ 'Αλέξανδρος ,,νϋν δέ με παρειποϋσ' άλοχος,, und Plut. mor. 18f, wo die Schilderung Homers, wie nach seiner Flucht aus dem Kampf Paris als ακόλαστος και μοιχικός voller ακολασία in den Armen der Geliebten liegt, geradezu als Beispiel fiir eine zuweilen subjektive, wertende Erzählweise des Dichters angeführt wird.

II. Ethische Exegese

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Stellen der Ilias immer wieder heraus343. Diese Deutung ist auch außerhalb der Scholien gut zu belegen, so etwa sehr deutlich in der römischen Liebeselegie344: Prop. 3,8,31

dum vincunt Danai, dum restat barbarus Hector, ille Helenae in gremio maxima bella gerit; Ov.epist. 17,256 bella gerant fortes: tu, Pari, semper ama345. Hectora, quem laudas, pro te pugnare iubeto. Deutet man die Intervention Mercurs 'allegorisch', so scheint dieser von der antiken Homerexegese in der Ilias ausgemachte Gegensatz zwischen dem verantwortungsbewußten Handeln Hektors, das ihm verbot, im Gemach Andromaches zu verweilen, und in den Kampf rief, und der τρυφή des Paris, der der Versuchung zum Wohlleben erlegen ist, in der Situation des 4. Aeneisbuches gleichsam in das Innere des trojanischen Helden verlegt. Vor dem Hintergrund dieser Szene des 6. Iliasbuches und ihrer Auslegung in der moralisierenden Homerexegese ist die Intervention des λόγος gewissermaßen - und hierin liegt ein spezifisches Element der Weltdeutung Vergils, das ihn über die Homerexegese hinausfuhrt - zu einer der pietas geworden, indem Mercur Aeneas wie Hektor den Paris der Ilias an seine Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen wie dem fatum erinnert. Diese hier hergestellte innere Verbindung zwischen der Situation des Aeneas in Karthago und der des homerischen Paris hat, übertragen auf den Inhalt der Argonautica, in seiner Umsetzung beider epischer Modelle e x p l i z i t Valerius Flaccus gezogen: Der Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos, der insbesondere in der Schilderung der abendlichen Gastmahlszene deutlich dem Ende des 1. Aeneisbuches nachempfunden 346 und durch untätiges Liebes- und Wohlleben der Helden (370f.) gekennzeichnet ist, wird hier beendet, indem Hercules den pflichtvergessenen Jason zum Aufbruch mahnt, um das der Argofahrt gesetzte Ziel weiterzuverfolgen (2,378ff), womit er die Rolle des Mercur der Aeneis übernimmt. Jason reagiert hierauf prompt wie ein bellator equus, longa quem frigida pace / terra iuvat

343

Als Repräsentant einer egoistischen Lebensweise erscheint Paris etwa Schol. [T] 7,357 (ού γαρ τά κοινή συμφέροντα θέλει άκούειν, άπαξ καταβυθισθείς τω έρωτι της ' Ελένης (vgl. Schol. [b] 7,357). 344 Zur Bedeutung der homerischen Hektorgestalt in ihrer antiken Deutung insgesamt für die Aeneis s. S. 161ff. 345 Eine höchst pointierte Umwidmung der berühmten Verse aus demselben Kontext der Homilie, in denen Hektor Andromache empfiehlt, ihm die Kriegsführung zu überlassen und sich dem Werk der Frauen zuzuwenden (II. 6,490ff.). 346 V g l val. Fl. 2,346f. < Aen. l,697ff.; Val. Fl. 2,348f. < Aen. 1,723. 730. 738ff.; Val. Fl. 2,349ff. < l,748ff.

3. Aeneas

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(386ff.) - und entspricht hierin dem Paris des 6. Iliasbuches unmittelbar nach seiner oben erwähnten Ermahnung durch Hektor, indem dieser begeistert wieder in den Kampf eintritt und hierin mit einem Stallpferd (στατός ϊππος) verglichen wird, das auf die Weide stürmt (506ff.). Mit der Übernahme des homerischen Gleichnisses in diesen primär dem 4. Aeneisbuch nachgebildeten Passus weicht Valerius deutlich von seinem Modell Apollonios ab, dem er gleichwohl in der Veränderung des homerischen Stallpferdes zu einem Kriegspferd (άρήΐος ϊππος - bellator equus) folgt: Apollonios hatte das homerische Gleichnis in einem völlig anderen Zusammenhang, in den Kämpfen Jasons gegen die Aietesstiere, aufgegriffen (3,1259ff.). Die Analyse der Szenen des 1. Buches hat deutlich werden lassen, wie sorgfaltig Vergil diese Szene vorbereitet hat, in der Aeneas den Konflikt zwischen einem 'Paris-Leben', in dem er der Sehnsucht nach einer Heimat, nach Wohlleben und amor beinahe für immer nachgegeben hätte, und einem solchen in Verantwortung (wie Hektor) und Treue zur eigenen Bestimmung (wie Odysseus) austragen muß. Die göttliche Intervention, die Homer nach antikem Verständnis immer dann einschaltete, wenn ein Konflikt durch menschliches Handeln nicht mehr zu lösen war und seine Lösung doch motiviert werden sollte347, erhöht dabei die dramatische Wirkung der Aeneisszene, die sich hierin deutlich von der Hektor-Paris-Episode der Ilias unterscheidet, deutlich aber auch von den odysseischen Szenen, in denen der beschriebene Konflikt, die von der Homerexegese herausgearbeitete 'Versuchung', der Odysseus ausgesetzt war, zwar angedeutet, nicht aber wirklich szenisch umgesetzt ist. Diese ethische, 'allegorische' Ausdeutung des epischen Modells konnte es Vergil jedoch nahelegen, den homerischen Zusammenhang zu wahren und zugleich durch eine solche szenische Dramatisierung sein Vorbild zu übertreffen. Wie schon in der Behandlung der odysseischen Frauengestalten und Helenas im Hinblick auf ihre Bedeutung als Modell für Dido deutlich wurde, dürfte die antike Homerinterpretation mit ihrer Tendenz zur ethischen Typologisierung der epischen Figuren und Szenen auch hier die Zusammenfassung von Elementen beider homerischer Epen motiviert haben: Odysseus 347 v g l . etwa Schol. [bT] II. 1,196 (in der oben angeführten Szene, in der Athene im Streit zwischen Achill und Agamemnon interveniert): (...) είωθε δέ εις τ ο σ ο ύ τ ο ν α ύ ξ ε ι ν τ ά ς π ε ρ ι π ε τ ε ί α ς ώ ς μή δΰνασθαι άνΟρωπον αύτάς π α υ ε ι ν ; ähnlich Schol. [bT] II. 2,156; Schol. [bT] 3,380; Schol. [HQ] Od. 5,336; vgl. Hör. ars 191f. nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus / incident. Zur Einordnung dieser Kommentare in die ästhetischen Kriterien der Homerscholien s. Griesinger 1907, 54ff.; Richardson 1980, 270. Zum homerischen Szenentypus und seiner Bedeutung in der epischen Tradition allgemein Nesselrath (1992), bes. 5-38; s. auch unten S. 259ff.

126

II. Ethische Exegese

war bei seinem Aufenthalt bei Kalypso, Kirke und Nausikaa bzw. den Phäaken ähnlicher Versuchung ausgesetzt, wie ihr der Paris des 6. Iliasbuches erlegen war. Aeneas löst sich aus der „Umklammerung" Didos wie Odysseus und löst sich so auch von dem Vorwurf, ein zweiter Paris zu sein. Er tritt auf diese Weise (wieder) in die Nachfolge Hektars ein, dessen Traumbild ihn vor dem Auszug aus Troja ausdrücklich hierzu aufgefordert hatte (2,291 f. sat patriae Priamoque datum: si Pergama dextra / defendi possent, etiam hac defensa fuissent. / sacra suosque tibi commendat Troia penatis) und dessen Einsatz fur die Gemeinschaft Aeneas dann später seinem Sohn beim Abschied vor dem Endkampf gegen Turnus - neben seinem eigenen - als vorbildhaft vor Augen stellen wird (12,438ff. tu facito, mox cum matura adoleverit aetas, / sis memor et te animo repetentem exempla tuorum / et pater Aeneas et avunculus excitet Hector)348. Einen solchen Konflikt zwischen 'publica virtus'349, die Hektar in der ethischen Homerdeutung verkörperte und der nun auch der Aeneas des 4. Buches (wieder) folgt, und eigennützigem Wohlleben sah offenbar auch die antike Vergilexegese in der Mercurszene ausgetragen: So konfrontiert Silius 'seinen' - auch sonst dem vergilischen Aeneas nachgestalteten350 - Helden Scipio vor seiner Entscheidung, in Spanien gegen Hannibal anzutreten, mit einer Epiphanie der Virtus und der ihr feindlichen Voluptas (15,22), die beide den Versuch unternehmen, ihn für sich zu gewinnen. Hierbei erinnert Silius sehr deutlich an den Mercurauftritt des 4. Aeneisbuches, wenn Voluptas erscheint veste refulgens, / ostrum qua fulvo Tyrium suffuderat auro (24f.), also so, wie Mercur Aeneas erblickt, und Virtus Scipio erklärt, ihm keine Tyrio vitiatas murice vestes (116) bieten zu wollen; vgl. Aen. 4,26Iff. atque Uli stellatus iaspide fulva / ensis erat Tyrioque ardebat murice laena / (...) / ... et tenui telas discreverat auro351. Scipio, der sich nach den beiden leidenschaftlich-engagierten und auch hierin an Mercurs Invektive erinnernden Reden der Göttinnen fur Virtus entscheidet, plenus

348

Cairns (1989) hat untersucht, in welcher Weise in die Charakterisierung des Aeneas Elemente des antiken, gerade auch auf Homer gestützten Herrscherideals eingeflossen sind, und hebt hierbei hervor (51 f.), daß Aeneas in seiner Hingabe an das Wohlleben an der Seite Didos seine ideale „königliche" Selbstbeherrschung verloren habe, wenngleich Mercur in seiner Invektive dieses Abweichen stark übertreibe, und daß diese Intervention Jupiters seine Entscheidung, nach dem Vorbild eines Odysseus und Hercules (Hektor erwähnt Cairns nicht) ein „guter König" sein zu wollen, endgültig festige. 349 V g l Ov. trist. 4,3,75f. Hectora quis nosset, si felix Troia fuisset? /publica virtutis per mala facta via est. 350 Vgl. M. v.Albrecht, Silius Italicus, Amsterdam 1964, 79ff. 351 Ostrum (Sil. 15,25) war, wie oben (S. 114) ausgeführt, ein in der Palast- und Gastmahlbeschreibung am Ende des 1. Aeneisbuches wiederkehrendes Motiv.

3. Aeneas

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monitis ingentia corde / molitur iussaeque calet virtutis amore (129f.) und

ähnelt hierin Aeneas, der ebenso unmittelbar nach dem Verschwinden der Gottheit ardet abire fuga dulcisque relinquere monitu imperioque deorum (Aen. 4,281 f.).

terras / attonitus

tanto

Die Umkehr des vergilischen Aeneas als Folge des Mercurauftritts könnte man als wesentliche Etappe einer 'Entwicklung' verstehen, in deren Verlauf die idealen Züge des Aeneas, der nicht ausschließlich, aber doch partiell ebenso wie der (odysseische) Odysseus nach Auffassung der antiken Homerexegese einem stoischen Helden entspricht, innerhalb der 'odysseischen' ersten Hälfte des Epos gestärkt werden und die ihn so schließlich für die Kämpfe um Latium vorbereitet352. Besonders deutlich wird der Bezug zu dem „stoischen" Odysseus, als Aeneas während der Auseinandersetzung mit Dido wie auch später auf die von Anna überbrachte Bitte der Geliebten um einen Aufschub seinen Kummer unterdrückt und sich Tränen unzugänglich zeigt (4,331 f. ille Iovis monitis immota tenebat / lumina; 438 sed nullis ille movetur / fletibus\ 448 magno persentit pectore curas; / mens immota manet, lacrimae volvuntur inanes). Ebenso beherrscht

verhält sich der Odysseus des 19. Odysseebuches, wenn auch in einer anderen Situation, gegenüber den Tränen, die Penelope über den vermeintlich toten Gatten vergießt, wenn er sich ihr dennoch nicht zu erkennen gibt (ώς της τήκετο καλά παρήϊα δάκρυ χεούσης, / κλαιούσης έόν άνδρα, παρήμενον. αύτάρ 'Οδυσσεύς / ϋυμω μεν γοόωσαν έήν έλέαιρε γυναίκα, / όφϋαλμον δ' ώς εν κέρα εστασαν ήέ σίδηρος / άτρέμας έν βλεφάροισι· δόλω δ' ö γε δάκρυα κεΰϋεν, 19,208ff). Die antike Homerexegese hatte diese Selbstbeherrschung des Odysseus gegenüber den Tränen Penelopes besonders positiv hervorgehoben353, deren Verlust seine gesamte Mission in Gefahr gebracht hätte. 352

353

Die Frage, ob Aeneas eine charakterliche 'Entwicklung' durchläuft, ist ein überaus kontroverses und kaum endgültig zu entscheidendes Problem. Eine charakterliche Entwicklung des Aeneas und ihre mögliche Beziehung zum stoischen Gedanken der Prüfung des Menschen haben Bowra (1933-34) und Edwards (1960) nachzuweisen versucht (s. ferner Heinze 1914, 275); eine solche Entwicklung haben dagegen bestritten e.g. Liebing (1959); E. Kragerrud, Aeneisstudien, Oslo 1968, Iff.; Fuhrer 1989, 63-72. Weitere Literatur bei Horsfall 1995, 118-122, der einen sehr ausgewogenen Überblick zu dieser Frage gibt und hierbei m.E. mit Recht darauf aufmerksam macht, daß eine vollständige Ignorierung der in der Antike oft vertretenen These, daß äußere Umstände auch auf den Charakter eines erwachsenen Mannes noch Einfluß zu nehmen vermögen, durch Vergil von vornherein nicht plausibel ist und zumindest latent solche Veränderung des Aeneas etwa im 3. Buch angedeutet ist. Lausberg (1985, 1600 Anm. 135) verweist auf Ps. Plut. 2,135,2-6: και "Ομηρος άει παράγει τους άριστους ... οΰτε μην άφοβους ή άλΰπους ... παντελώς, έν τω μή άγαν δέ τοις πάΟεσι κρατεΐσθαι των φαύλων διαφέροντας ... και ό μεν

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II. Ethische Exegese

Das Eingreifen Mercurs im Auftrag Jupiters schildert Vergil im engen Anschluß an die Hermes-Mission zu Beginn des 5. Odysseebuches, vgl. Od. 5,43-49 ~ Aen. 4,238-246354. Die Begegnung des Gottes mit Aeneas hat szenisch demnach unter den beiden odysseischen Hermesauftritten primär das Erscheinen des Gottes bei Kalypso zum Vorbild; ebenso sind Motiv und Folge der göttlichen Intervention in den beiden Epen identisch: Odysseus und Aeneas sollen nach dem Willen des Göttervaters die Geliebte zurücklassen und ihre Fahrt in die 'Heimat' fortsetzen und leisten diesem Befehl auch Gehorsam. Umso auffalliger ist die Abweichung Vergils vom homerischen Modell, wenn Mercur nicht wie Hermes der Geliebten des Helden, sondern diesem selbst erscheint. Die Rolle des Aeneas ist gegenüber der des Odysseus genau umgekehrt, indem jener von Kalypso von dem Götterbeschluß in Kenntnis gesetzt wird, während dieser Dido die Nachricht zu überbringen hat, eine Aufgabe, deren Ausführung die argwöhnische Geliebte zuvorkommt. Vergil verlagert gegenüber Homer den Konflikt zwischen den persönlichen Wünschen des 'versuchten' Aeneas einerseits und seiner Verpflichtung gegenüber Ascanius und den fata, der durch den Mercurauftritt sichtbar wird, auf einen solchen zwischen dem Helden und der Geliebten, die seinen Entschluß zur Abfahrt nicht akzeptiert. In dieser Hervorhebung des Fragwürdigen, das dem Abschied des Aeneas von der Geliebten und Beschützerin anhaftet (mit der ihn, anders als Kalypso und Odysseus, conubia und incepti hymenaei [316] verbinden), liegt die charakteristische Abweichung vom homerischen Modell: Dido reagiert auf die Eröffnung des Aeneas, vom Liebesfuror aufgepeitscht (298, vgl. 283), weitaus schärfer als Kalypso dies gegenüber Hermes und erst recht gegenüber Odysseus tut. Die zur Tragödie führende Auseinandersetzung zwischen Dido und Aeneas ist, wie die Kommentare nachweisen, in wesentlichen Zügen der zwischen Medea und Jason in der Schilderung des Apollonios nachempfunden 355 ; insbesondere der Didorede liegen die zornigen Worte der Kolcherin in Arg. 4,355ff (in denen Apollonios seinerseits Eur. Med. 465ff verarbeitet, s. Austin zu 305-30) zugrunde. Gerade in den Worten Didos sind jedoch auch zahlreiche Elemente des primären homerischen Modells, der beiden an Hermes (118ff.) und Odysseus (204ff.) gerichteten Reden Kalypsos verar-

354 355

Ό δ υ σ σ ε ύ ς της έαυτοΰ γυναικός έρών και κλαίουσαν έπ' αύτώ όρών φέρει ... (es folgt das im Haupttext ausgeschriebene Odysseezitat). Siehe Knauer 1964, 209. Zu den Beziehungen zwischen zentralen Motiven der Didoreden zur Ariadneklage Catulls (carmen 64) sowie der römischen Liebeselegie Hross (1958), zusätzlich zu den Frauenklagen bei Apollonios und Euripides Monti 1981, 37-69; zu Apollonios vgl. auch Briggs 1981, 959ff. Anklänge an die griechische Elegie in der Didoepisode untersucht Cairns 1989, 129-150.

3. Aeneas

129

356

beitet : So weisen beide Frauen in großer Erregung (auf Hermes' Nachricht hin ρίγησεν δέ Καλυψώ [Od. 5,116]; vgl. Aen. 4,364: [Dido] ... sie accensa profatur auf die entsprechende Mitteilung des Aeneas hin) und beide mit dem Ziel, den Geliebten zu halten, auf die Leiden hin, die Aeneas bzw. Odysseus auf dem Meer zu erwarten hätten, sollten sie sich zur Abfahrt in die Heimat entschließen (etwa Aen. 4,309f. ~ Od. 5,206ff). Deutlich aber ist die Beziehung zu beiden Szenen auch, wenn Dido gleichsam die Klage Kalypsos über den grausamen Neid der Götter (Od. 5,118ff.) gegenüber Aeneas, der sich auf göttliche Aufträge beruft, in epikureischer Manier ironisiert (scilicet is superis labor est, ea cura quietos / sollicitat, 379f.) u n d ihre Verdienste u m d e n eiectum litore, egentem ( 3 7 3 ) e b e n s o w i e die N y m -

phe (τον μεν έγών έσάωσα περι τρόπιος βεβαώτα [130] ... τον μεν έγώ φΐλεόν τε και ετρεφον [135]) in den Vordergrund rückt357. Auch die Bitte Didos, sich ihrer domus zu erbarmen (und zu bleiben) (Aen. 4,318), läßt an den Versuch Kalypsos denken, Odysseus in ihrem δώμα zu halten (Od. 5,208f.). Schließlich ähnelt die Argumentation des Aeneas derjenigen des Odysseus, wenn er sich auf die 'Heimat' beruft, die ihn erwarte: Aen. 4,345

Od. 5,219

sed nunc Italiam magnam Gryneus Apollo, Italiam Lyciae iussere capessere sortes; hie amor, haec patria est. ά λ λ α και ώς έΟέλω και έέλδομαι ήματα π ά ν τ α οϊκαδέ τ' έ λ θ έ μ ε ν α ι και ν ό σ τ ι μ ο ν ήμαρ ίδέσθαι.

Der markante Unterschied zwischen beiden Szenen liegt darin, daß Dido sich, anders als Kalypso, dem göttlichen Willen nicht beugt und die Argumente des Geliebten nicht annimmt - die Einwilligung Kalypsos, Odysseus freizugeben, wird in der scheinbaren Zustimmung Didos wiederum ironisiert, vgl. Aen. 4,380 Od. 5,139

neque te teneo neque dicta refello: i, sequere Italiam ventis, pete regna per undas. έρρέτω, εΐ μι ν κείνος έποτρύνει και ά ν ώ γ ε ι , π ό ν τ ο ν έπ' άτρύγετον.

Im Ergebnis ist das ethisch Fragwürdige, das im Abschied des Helden von der Geliebten und Wohltäterin liegt, gegenüber Homer markant gesteigert und führt zum Abbruch des Gesprächs durch Dido. Dieser Effekt beruht wesentlich auf der Umordnung zentraler Motive aus der Kalypsoepisode, die gleichwohl noch erkennbar bleiben. So sehr diese Umarbeitung des homeri356 357

Siehe Knauer 1964, 21 Iff. Vgl. Hross 1958, 73f. m. Anm. 1.

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II. Ethische Exegese

sehen Ablaufs dem Einfluß des Apollonios verdankt ist, dürfte in ihr doch auch ein Reflex auf die hellenistische Kritik am Verhalten des Odysseus gegenüber Kalypso (und Kirke) liegen: Im 5. Odysseebuch erscheint der Abschied des Helden von der Nymphe zunächst unproblematisch, indem Hermes ihr die göttliche Sanktion von Odysseus' Heimkehr mitteilt, daraufhin Odysseus selbst seine Entscheidung begründet (219f.) und Kalypso sie gelten läßt, ja ihren Geliebten bei den Vorbereitungen für seine Abreise unterstützt (233ff.). Dagegen erscheint Kalypso in der römischen Liebeselegie (vgl. Prop. 2,21,13ff. sie ab Dulichio iuvene est elusa Calypso: / vidit amatorem pandere vela suum; l,15,9f. at non sie Ithaci digressu mota Calypso / desertis olim fleverat aequoribus358) ebenso wie bei Apuleius

(met. 1,12,3)359 als Exempel der treulos verlassenen Geliebten. Hier liegt geradezu ein Topos vor, der offenbar bereits auf die hellenistische Dichtung zurückgeht: So wurde das Verhalten des homerischen Odysseus gegenüber den beiden göttlichen Geliebten etwa in einem bei Parthenios (2) paraphrasierten Epyllion 'Hermes' des Philitas von Kos übertragen auf die Aiolostochter Polymele, und zwar mit deutlich negativer Bewertung, wenn diese, von Odysseus zu einer Liebschaft ausgenutzt, tiefsten Kummer zeigt und auch noch den Zorn ihres Vaters auf sich zieht360. Die hier literarisch bezeugte hellenistische und auch in späterer Zeit aufgegriffene Weiterentwicklung des odysseischen Mythos dürfte auf eine Kritik zurückgehen, die die ethische Homerkommentierung am Verhalten des Odysseus übte, und ebenso wie die Jason-Medea-Thematik in der Art, in der Vergil die Auseinandersetzung zwischen Dido und Aeneas trotz auffälliger Reminiszenzen von der Kalypso-Odysseus-Episode abhebt, gespiegelt sein.

358 359 360

Bei Ov. rem. 263ff. ist der Topos der Verlassenen auf Kirke übertragen. Auf die Stellen verweist Kaiser 1964, 211. Näheres hierzu siehe Kaiser 1964, 211, der noch auf die bei Hygin (fab. 243) tradierte Sagenversion vom Selbstmord der unglücklichen Kalypso und auf Luc. ver. hist. 2,29,35f. verweist, wo Odysseus seine Abfahrt von Ogygia später bereut; s. ferner jetzt M. Janka, Kommentar zu Ovid Ars amatoria Buch 2, Heidelberg 1997, zu w . 123-144 (S. 126). In dieser Ars-Partie läßt auch O v i d einen Abschiedsschmerz der Calypso hervortreten und die Göttin zarte Versuche unternehmen, die Abfahrt des geliebten Ulixes hinauszuzögern (124ff.). Wie hoch auch immer seine Eigenständigkeit in dieser Anverwandlung der odysseischen Abschiedsszene zu veranschlagen ist, läßt er doch deutlich erkennen, daß er schon hinter der vergilischen Dido die „verlassene Heroine" der Odyssee stehen sah: So erinnert er in seinem Kalypsoexemplum an Motive aus dem 4. Aeneisbuch (Janka vergleicht ars 2,125f. mit Aen. 4,51-53. 309-311. 560-562 [Versuch, den Geliebten durch Argumente zu einer Verschiebung der Abreise zu bewegen] sowie ars 2,127f. (haec [sc. Calypso] Troiae casus iterumque iterumque rogabat; / ille referre aliter saepe solebat idem) mit Aen. 4,78f. (Iliacosque iterum demens audire labores / exposcit [sc. Dido] pendetque iterum narrantis ab ore).

3. Aeneas

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Die Überprüfung zentraler Szenen des Karthagoaufenthaltes und die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Aeneas und Dido auf den möglichen Einfluß der ethischen Homerkommentierung und speziell der antiken Interpretation der odysseischen Kalypso-, Kirke- und Phäakenepisoden hat deutlich werden lassen, daß charakteristische Abweichungen Vergils gegenüber Homer wesentlich durch sein Bestreben, diese Aspekte der antiken Homerdeutung aufzugreifen, motiviert worden sein dürften. Auf der Folie einer typologischen Interpretation der homerischen Frauengestalten der Odyssee und (sekundär) der Ilias hat Vergil seiner Dido und ihrer Beziehung zu Aeneas höchst differenzierte Züge verliehen. Der Hintergrund der antiken Homerexegese, die den Gegensatz zwischen Helena (mit Paris) und Penelope (mit Odysseus) nachdrücklich hervorhob, läßt die Ambivalenz der Didogestalt besonders deutlich werden, die nur so lange dem Ideal der Penelope entsprechen kann, als sie ihre Treue zum toten Sychaeus nicht aufgibt, und, nachdem sie diese zurückgestellt hat, unweigerlich zur Helena der Ilias wird. Vergil hat das Problematische, das in der Rückkehr des Aeneas zu seiner Mission besteht, gleichwohl keineswegs vermieden, sondern aus ihm die Peripetie der Didotragödie entwickelt, wobei er sich nicht nur auf das Modell des Apollonios, sondern auch auf die antike Kritik am Verhalten des homerischen Odysseus, als des primären Vorbildes für den Aeneas der Karthagoepisode, beziehen konnte361.

Exkurs: Ares und Aphrodite und der Gesang des Iopas (Aen. 1,742-746) Der Gesang des Karthagers Iopas bildet einen Höhepunkt des prachtvollen Gastmahls, das Dido fur Aeneas und seine Gefährten sowie vornehme Karthager ausrichtet. Er wird von Karthagern wie Trojanern mit großem Beifall (747) aufgenommenen, woran sich die ausgedehnten, von Dido, die der Liebe zu dem fremden Helden verfallt (infelix Dido longum... bibebat amorem, 749), mit großer Teilnahme verfolgten Erzählungen des Aeneas vom Untergang Trojas und von seinen Irrfahrten anschließen. Dieser Gesang ist kosmologischen Inhalts: Der Karthager besingt kraft seiner von Atlas selbst gewonnenen Kenntnisse die Bewegungen des Mondplaneten (errantem lunarrif62 und die Ursachen für die Verfinsterungen der 361

362

Zur Gesamtdeutung des Aeneas in seinem Verhältnis zu den homerischen Helden s. das abschließende Resümee S. 220. Austin verweist z. St. auf Cie. nat. 2,119 (nolo in steIlarum ratione multus vobis videri, maximeque earum quae errare dicuntur) und Lucan. 7,425 (mit Verweis auf Housman z.

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II. Ethische Exegese

Sonne363 (solis... labores), den Ursprung der Menschen und Tiere (unde hominum genus et pecudes) und die Entstehung der Elemente Wasser und Feuer {unde imber et ignes) und erklärt in seinem Gesang schließlich auch das Phänomen der kurzen Winter- und der langen Sommertage (quid tantum Oceano properent se tingere soles / hiberni, vel quae tardis mora noctibus obstet)364.

363

364

St.) (omniaque errantes stellae Romana viderent): An beiden Stellen bezeichnet errare allgemein die Bewegungen der als Planeten geltenden Gestirne, nicht ein A b w e i c h e n von der normalen Bahn, wie Mynors zu georg. 2,478 die Aeneisstelle versteht („errantem seems to refer to the phases of the Moon, when she is 'hid in her vacant interlunear cave'"). Die lunae... labores von georg. 2,478 dagegen faßt Mynors (mit Thomas ζ. St.) wohl zu Recht unter Hinweis auf Sil. 14,348 (pelagi lunaeque labores) als „Mondphasen" auf, womit ein synonymes Verständnis von defectus und labores an dieser Stelle (wie es gleichwohl in Lucan. 6,505; Ov. met. 7,247 vorliegt) vermieden wird - trotz Lucr. 5,751 (solis item quoque defectus lunaeque latebras), wo nur furchterregende Ausnahmeerscheinungen in den Gestirnsbewegungen interessieren. Ebenso wie an der Georgicastelle faßt Vergil demnach auch in Aen. 1,742 in der Erklärung sowohl gewöhnlicher (errantem lunam) als auch abnormer Gestimserscheinungen (solis... labores i.S. von solis... defectus) die Aufgabe des 'poeta doctus' Iopas (vgl. 741) zusammen. Ich teile die von Ribbeck formulierten Zweifel an der Echtheit von Vers 744 (= Aen. 3,516) (Arcturum pluviasque Hyadas geminosque Triones). Abgesehen von dem sprachlichen Argument - die Reihe der Akk.-Objekte fugt sich nicht recht in die umgebenden, von canit abhängigen indirekten Fragesätze - fallt die Aufzählung der Kursgestirne aus dem aitiologischen Rahmen der übrigen Gegenstände von Iopas' Gesang heraus (es kann hier ja nicht um konkrete Anweisungen an die Seefahrt wie etwa in georg. 1,138 gehen). Einen zusätzlichen inhaltlichen Grund fur den Unechtheitsverdacht nennt Rudberg (1936, 81), der daraufhinweist, daß die Gegenstände des Iopas-Gesanges mit Ausnahme dieses Verses typischen Elemente der έγκώμιον κόσμου-Topik darstellen. Insbesondere die Verse Aen. 3,516 (= Aen. 1,744) (Arcturum pluviasque Hydas geminosque Triones) und Aen. 3,517 (armatumque auro circumspicit Oriona) sind ebenso wie Aen. 1,742 (errantem lunam solisque labores) vielleicht durch das „Urbild" dieser Literatur, die Schildbeschreibung des 18. Iliasbuches angeregt (486f. Πληϊάδας ö' 'Τάδας τε τό τε σθένος Ώ ρ ί ω ν ο ς / "Αρκτον θ'; 484 [έν μεν ... έτευξε, sc. Hephaistos] ήέλιόν τ' άκάμαντα σελήνην τε πλήΟουσαν), wobei für Aen. 1,744 noch die Vermittlung von georg. 1,138 Pleiadas, Hydas, claramque Lycaonis Arcton hinzuzuziehen ist, wo ebenfalls II. 18,486f. (= Hes. Erga 615) zugrundeliegt (s. Farrell 1991, 214f.). Für Aen. 3,516 ist jedoch auch an die Imitation von II. 18,486f. in Od. 5,272f. als mögliches Vorbild zu erinnern: Hier orientiert sich ebenso wie der vergilische Palinurus der nachtfahrende Odysseus an den Πληϊάδας ... και Βοώτην / "Αρκτον ö'. Es ist gut denkbar, daß der 'odysseische Hintergrund' des Iopasgesanges die Einbeziehung der Kursgestirne aus dem letzteren Kontext bei Homer (wie dies eindeutig im 3. Aeneisbuch geschehen ist) in Vers 744 motiviert hat. - Brown (1990, 325 Anm. 17) erwägt, daß in den solis... labores, hinter denen sachlich die Sonnenfinsternisse stehen, eine „subtle 'correction'" des homerischen ήέλιόν ... άκάμαντα (II. 18,484), in den geminos... Triones eine solche des e i n e n Bären von II. 18,487 liegen könnte.

3. Aeneas

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Vergil greift mit dieser 'Paraphrase' des Iopasgesanges deutlich auf das Ende des 2. Georgicabuches zurück, wo er das Landleben preist und es als seinen großen Wunsch bezeichnet, von seinen geliebten Feldern, Flüssen und Wäldern umgeben zu sein (483ff.), als höheres Glück jedoch noch eine Unterweisung durch die Musen, die ihn die Geheimnisse des Kosmos erkennen ließe (475ff.)365, worin eine offenkundige Anspielung an das lukrezische Lehrgedicht liegt (vgl. 490 felix qui potuit rerum cognoscere causas etc.)366. Ebenso kosmologischen Inhalts ist auch der Gesang des Silen in der 6. Ekloge, in dem dieser die epikureische Theorie der Weltentstehung lehrt (3 Iff.) 367 . Nachdem der kosmologische Inhalt des Iopasgesanges schon in der Antike auf Kritik gestoßen war368, gilt ihrer Bedeutung und Funktion im Kontext des Gastmahls bei Dido und damit in der Entwicklung der tragischen Liebesbeziehung zwischen der Königin und ihrem Gast in der modernen Vergilforschung seit längerem eine lebhafte Diskussion. Der in dieser kritischen Situation als zunächst überraschend empfundene kosmologische (d.h. sachliche, nüchterne) Inhalt der Rhapsodie erschien in der symbolischen Ausdeutung V. Pöschls als dem „Seelengeschehen angemessen, ... das sich in Dido vollzieht" (1977, 185)369. In dem „irrenden" Mond und den „Mühen" der Sonne liege ein „unendlich zarter Bezug auf die Schicksale der Dido und des Aeneas, ihre 'Irrfahrten'"370, Luna und Sol seien als Symbole der Liebenden aufzufassen und verwiesen auf die Identität von Apollo, mit dem Aeneas, bzw. Diana, mit der Dido verglichen werden, und dem Sonnengott bzw. der Mondgöttin. In den „Sonnen, die eilen, im Ozean unterzutauchen" sei schließlich eine „geheimnisvolle Beziehung zu der 'Verzögerung der Nacht'" (1977, 187) zu erkennen, die Dido erstrebe371. Nicht zu Unrecht wurde dieser symbolischen Deutung namentlich von W. Kranz (1953) entgegengehalten, daß sie nicht den gesamten Inhalt des Iopas-Gesanges gebührend berücksichtige372. Werde die 365

366 367

368 369

370 371 372

Georg. 2,48lf. = Aen. l,745f. Vgl. ferner georg. 2,478 defectus solis varios lunaeque labores mit Aen. 1,742 (hic canit) errantem lunam solisque labores. Siehe Mynors z. St.; Brown 1990, 326-329. Den Gesang Silens verbinden ferner sprachliche und stilistische Korrespondenzen mit dem Iopas-Gesang, vgl. ecl. 6,31 namque canebat und die folgende Reihung indirekter Fragesätze (uti ... ut 31/33) mit Aen. 1,742 hic canit und die folgenden durch unde ... unde ... quid (743/745) eingeleiteten Themen. Zu der bei Macr. 7,l,14f. geführten Diskussion siehe gleich unten. Der Auffassung Pöschls sind Quinn (1968, 108) und (mit Vorsicht) Brown (1990, 323) gefolgt. Pöschl verweist auf Aen. 1,341. Pöschl 1977, 262. Ähnliche Einwände hat Eichholz (1968, 107) erhoben. Er sieht - eine etwas minimalistische Lösung - in dem kosmologischen, mithin unpersönlichen Inhalt des Iopasgesang eine Kontrastwirkung zur „passion" Didos (vgl. 748f.) beabsichtigt: „it has nothing to do with

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II. Ethische Exegese

Interpretation des Gedichts auf die Beschreibung der seelischen und schicksalhaften Situation Didos verengt, so fehle ein Motiv für die Entstehung des Menschen- und Tiergeschlechts und der Elemente Wasser und Feuer. Zusätzliche, von Kranz nicht benannte Probleme birgt diese Deutung, wenn die Georgicastelle hinzugezogen wird, wo die defectus Solis und lunae labores eine ganz objektive, rein astronomische Bedeutung haben: Es fällt schwer, vor diesem Hintergrund dieses 'Selbstzitats' den von Iopas besungenen Gegenständen nunmehr eine tiefgründige, symbolische Bedeutung verleihen zu wollen. Der von Pöschl gezogenen Parallele zwischen dem error des Aeneas und dem des Mondes ist zudem Gewicht genommen, wenn letzterer wohl die regelmäßigen Bewegungen des Mondes bezeichnen dürfte373. In seiner eigenen Interpretation rekurrierte Kranz auf die Angabe des Dichters, daß Iopas von Atlas in seiner Kunst unterwiesen worden sei (741); sein Gesang werde somit als ein Stück karthagisch-libyscher Weisheit vorgestellt und füge sich in das fremdartige Bild orientalischer Üppigkeit, das die Stadt Didos, der Juno-Tempel, der Palast der Königin, aber auch das großzügig angelegte Symposion böten. Mit einiger Vorsicht vermutete Kranz, der literatissimus poeta Vergil habe mit luna und soP74 auf die „Urgötter" des orientalischen Sonnen- und Mondkultes anspielen wollen. Neben die von Pöschl angeregte symbolische Deutung trat somit eine gleichfalls mit Nachhall verbundene Interpretation des Iopas-Gesanges, die seine Bedeutung in der Vervollständigung des - nach Auffassung Kranz' exotischen - Ambientes fand; jedoch bleibt in dieser Deutung ein wichtiger Teil des Iopas-Gedichtes unberücksichtigt: Die Frage nach der Entstehung der Lebewesen auf Erden sowie der kosmischen Phänomene war kaum spezifisch karthagisch-phönizisch, vielmehr jedem gebildeten römischen Leser ebenso geläufig und vertraut wie die Beschäftigung mit Grundfragen der Astronomie375. Ch. Segal (1971) hat beide Ansätze aufgegriffen und sehr detaillierte, symbolische Beziehungen zwischen einzelnen Versen des Iopas-Gesanges und der Handlungsentwicklung des 1. und des 4. Buches hergestellt: So wiesen die „langen Winternächte", die Iopas besingt, voraus auf „the long winter of idleness and luxury which Aeneas spends with Dido" (S. 343): Die Ordnung der Natur, wie sie

373 374

375

the emotions and experiences of anyone present, or indeed with any emotions or personal experiences whatsoever" (108). Siehe o. S. 131 Aran. 362. Die Formulierung des Aeneisverses (errantem lunam, labores solis) erscheint Kranz „persönlicher" als die entsprechende aus dem Georgicapassus (defectus solis, lunae labores), „so daß wir hier im Gegensatz zur Goergicastelle Luna und Sol als Namen aufzufassen uns geradezu gedrungen fühlen" (S. 34) - eine Auffassung, die sich wohl allein auf das an die Stelle von labores tretende Partizip errantem stützt. Schon Rudberg (1936, 80) hatte die Möglichkeit einer Kenntnisnahme phönizisch-karthagischer Religion und Kosmologie verworfen und erkannt, daß in dem Iopas-Gesang zentrale Elemente des bis auf Piaton zurückgehenden und von Stoa wie Kepos gepflegten literarischen έγκώμιον κόσμου aufgegriffen sind, das im römischen Bereich auch sonst fortgesetzt wurde (Rudberg verweist auf Cie. Tusc. l,20,45f.; l,28,68ff.; nat. 2,39,98ff.)

3. Aeneas

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in dem Gedicht umschrieben werde, stehe in einer ironischen Spannung zu der Störung der Weltordnung, die in den fata des Aeneas begründet sei. Iopas' Gesang sei ein Beispiel der komplexen Kunst Vergils, in der „present and future, individual and cosmic destinies are ... telescoped into a single moment of poetic vision" (S. 348). Die symbolische Deutung Pöschls konnte durch diese feinsinnige und bedenkenswerte Aufdeckung von Beziehungen zwischen dem Iopas-Gesang und der Handlung, in die er eingebettet ist, beträchtlich weiterentwickelt werden; wie jedoch schon bei Pöschl stieß die Methode, einzelne Formulierungen dieses kosmologischen Gedichts in symbolischer Weise zu deuten, an ihre Grenzen, wenn der zentrale Vers 742 (unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes) aus der Betrachtung herausfiel, ungeachtet der in einer symbolischen Deutung implizierten Notwendigkeit, für j e d e s Element eine befriedigende Deutung zu finden, die über den Rahmen eines kosmologischen Lehrgedichts im Kleinen, wie es auch im Georgicapassus vorliegt, hinausgelangt376. In jüngerer Zeit wurden dementsprechend wieder eher Deutungen des Iopasgesanges in seiner Gesamtheit bevorzugt und nun die literarischen Vorbilder stärker in den Blick genommen377. In der Nachfolge W.V. Clausens (Virgil's Aeneid and the tradition of hellenistic poetry, Berkeley 1987) hat R.D. Brown (1990) mit Hinweis auf den gleich noch zu betrachtenden Gesang des Orpheus im 1. Buch der Argonautika, dessen Inhalt von Apollonios in engen Zusammenhang zum Kontext gebracht worden sei, den Nachweis zu führen versucht, daß der „unpersönliche" Inhalt des vergilischen Iopasgesanges, dessen Gegenstände nach Art der didaktischen Literatur frageweise abgehandelt werden {unde ... unde ... quid.. quae), in bewußten Kontrast zu den anteilnehmenden Fragen (quibus ... armis / quales ... equi... quantus Achilles) der Dido nach dem persönlichen Geschick des Helden gesetzt seien: „the causative function of the Apollonian song is thereby replaced with the function of providing a backdrop and a frame of reference for revealing the changing emotional state of Dido" (1990, 325). Die Funktion des Iopasgesanges liege im wesentlichen darin, ihre Verwandlung zur Liebenden, also den Wendepunkt der Karthagotragödie zu kennzeichnen. Brown hat für diese attraktive Deutung ebenso wie Hunter (1993, 176f.)378 die Vorbildfunktion der Argonautika stark betont, das mögliche homerische Vorbild dagegen abgetan; jedoch wurde im bisherigen Teil dieses Kapitels gezeigt, daß Vergil in der Gastmahlszene, in die der Gesang des Iopas eingebettet ist, wie in der gesamten Karthagoepisode des 1. und 4. Buches sehr deutlich an seine homerischen Modelle und hier im Hinblick auf das Motiv der 'Versuchung des Helden' 376

377 378

Ausfuhrliche Kritik an den Thesen Segais hat T.E. Kinsey (The song of Iopas, Emerita 47, 1979, 82-84) geübt; s. hierzu Segais Verteidigung seiner Auffassung (Emerita 49, 1981, 17-25) und die Fortsetzung der Diskussion zwischen Kinsey und Segal in Emerita 52, 1984, 70-82. Wenig weiter hilft der Versuch L. Hermanns (Crinitus Iopas, Latomus 26, 1967, 474-476), in Iopas ein Abbild des Maecenas zu finden. Zu Hardies (1986) Behandlung des Iopasgesanges siehe u. S. 142f. Zu Hunters These siehe gleichu. S. 140 Anm. 395.

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II. Ethische Exegese

besonders an die odysseische Phaiakis erinnert hat. Auch für den Gesang des Iopas selbst haben zudem die erhaltenen Zeugnisse der antiken Vergilexegese nicht etwa Apollonios, sondern den odysseischen Zusammenhang als Vorbild namhaft gemacht, worauf gleich zurückzukommen ist. Es erscheint daher sinnvoll zu prüfen, ob der homerische Hintergrund auch zu der kontroversen und wohl kaum mit letzter Entschiedenheit zu klärenden Beurteilung von Bedeutung und Funktion des Iopas-Gesanges zumindest beitragen kann. Speziell das Gastmahl der Dido hat seine strukturelle und szenische Entsprechung in der Bewirtung des Odysseus bei den Phäaken im 8. Buch der Odyssee379. Der Sänger Demodokos unterhält hier die Festgesellschaft mit den Erzählungen vom Streit zwischen Achill und Odysseus (vor dem Fall Trojas) (75ff.), vom Liebesbund zwischen Ares und Aphrodite (267ff.) und schließlich von der List des Epeiospferdes und dem Fall der umkämpften Stadt (499ff.). Vergil läßt in seiner Adaption der odysseischen Szenerie an die Stelle dieser drei Gesänge einen einzigen wesentlich geringeren Umfanges treten. Den ersten Demodokosgesang, der eine Szene aus den Ereignissen v o r dem Fall Trojas zum Thema hat und damit auch auf das Iliasgeschehen zurückweist, verarbeitet er strukturell in der Beschreibung der kunstvoll gestalteten Wände des von Aeneas vor seiner Begegnung mit Dido betrachteten Junotempels (1,466-493), auf denen hauptsächlich zentrale Szenen der Ilias dargestellt sind380. Eine weitere Parallele zu der odysseischen Vorbildszene besteht darin, daß Aeneas ebenso wie Odysseus erstmals an die Ereignisse in Troja (und damit an einen Teil seiner eigenen 'Geschichte') erinnert wird, vor allem aber kommt er selbst in der Darstellung der Ereignisse ebenso vor (488) wie Odysseus im Gesang des Demodokos, der seinen Streit mit Achill in Erinnerung bringt. Den Tränen des Odysseus (8,96; vgl. 521ff.) entsprechen hierbei solche des Aeneas (459. 465. 470), aber auch seine durch die Erkenntnis gestärkte Zuversicht, daß er sich zwar in einem fremden Land, aber unter Menschen befindet, die menschliches Mitgefühl kennen (462f.). Den Gegenstand des dritten Demodokosgesanges, die Iliupersis, verarbeitet Vergil im gesamten 2. Buch als ersten Teil der Erzählungen seines Helden; ihr zweiter Abschnitt, den das 3. Buch in voller Länge umfaßt, entspricht schließlich den - sich unmittelbar an den

379 380

Siehe Knauer 1964, 164ff. und die Listen (S. 378). In 489-493 dann solche der Aithiopis. - Der Auftakt dieser Ekphrasis, die an die Stelle eines der Demodokosgesänge tritt (namque videbat uti). entspricht recht genau dem, wie oben ausgeführt, als Modell hinter dem Iopasgesang stehenden G e s a n g Silens in der 6. Ekloge (namaue canebat uti. 31), s. Austin zu Aen. 1,466.

3. Aeneas

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letzten Demodokosgesang anschließenden - Apologen des Odysseus381. Damit wird die szenische und strukturelle Entsprechung zwischen dem IopasGesang und dem zweiten Gesang des Demodokos (von Ares und Aphrodite) recht deutlich. Auch die Reaktionen der jeweiligen Zuhörer bei Homer und Vergil sind ähnlich (Od. 8,367ff. ~ Aen. 1,747, in Umkehrung der homerischen Abfolge Gast - Gastgeber bei Vergil). Vergil erreicht durch diese ökonomische szenische und strukturelle Adaptation der drei Demodokosgesänge eine erhebliche Straffung des Stoffs. Hinsichtlich seines Umfangs, vor allem aber seines Themas - an die Stelle einer mythologischen Erzählung tritt ein Gesang kosmologischen Inhaltes - unterscheidet sich der Iopasgesang bei äußerlicher Betrachtung zunächst deutlich von seinem odysseischen Pendant; der von Demodokos besungene Mythos von Ares und Aphrodite ist vielmehr an einer anderen Stelle des vergilischen Opus Inhalt eines Gesanges: Um sich und ihren Gefahrtinnen die Arbeit am Webstuhl zu verkürzen, besingt im 4. Georgicabuch Clymene im Kreise der Nymphen die Mortis... dolos et dulcia furta (346). Gleichwohl wurde die Proprietät und Bedeutung des Iopasgesanges im Kontext des abendlichen Gastmahls von der antiken Vergilkritik an eben diesem odysseischen Vorbild gemessen: Bei Macrobius wird nicht nur die allgemeine Entsprechung zwischen dem Gesang des Iopas und der Kitharodie des Demodokos382 vermerkt, sondern kommt noch ein Kritiker zu Wort, der die von ihm empfundene Ausgelassenheit der Atmosphäre bei Didos Gastmahl mit derjenigen beim Phäakenmahl vergleicht und sich vor diesem Hintergrund an der Diskrepanz zwischen dieser heiteren Stimmung und dem ernsten und komplizierten Inhalt des Iopasgesanges stößt, ohne freilich eine Erklärung hierfür zu finden (7,l,14f.): at vero Alcinoi vel Didonis mensa quasi solis apta deliciis habuit haec Iopam illa Phemium cithara canentes, nec deerant apud Alcinoum saltatores viri383, et apud Didonem Bitias sie hauriens merum ut se totum superflua eius effusione prolueret384. norme siquis aut inter Phaeacas aut apud Poenos sermones de sapientia erutos convivalibus fabulis miseuisset, et gratiam Ulis coetibus aptam perderet et in se risumplane iustum moveret? (...) deinde, ubi sibi locumpatere viderit, non de ipsis profunditatis suae inter pocula secretis loquetur, nec nodosas et anxias, sed utiles quidem, faciles tarnen, quaestiones movebit. 381

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Der Beginn der Erzählungen des Gastes wird bei Vergil wie bei Homer durch die auffordernden Fragen des Gastgebers eingeleitet, vgl. Od. 8,572ff. mit Aen. l,750ff. Hier wird freilich der Name des Phäakensängers mit dem des Rhapsoden Phemios verwechselt, der im 1. Buch der Odyssee am Hof Penelopes die Freier unterhält (154ff. 326f.; vgl. 337ff). Vgl. Od. 8,221. Vgl. Aen. l,738f.

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II. Ethische Exegese

Servius begegnet solcher Kritik mit einer knappen Bemerkung, die möglicherweise einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis dieser Stelle an die Hand gibt (zu 1,742): bene philosophica introducitur cantilena in convivio reginae adhuc castae: contra inter nymphas, ubi solae feminae erant, ait Vulcani Mortis que dolos et dulcia furta. Servius bestätigt demnach nicht nur klar, daß schon die antike Vergilerklärung den oben dargelegten strukturellen Zusammenhang zwischen dem zweiten Demodokosgesang der Phaiakis und dem Iopasgesang gesehen hat, sondern äußert auch die Vermutung, daß der kosmologische Inhalt des Iopasgesanges ein von Vergil bewußt eingesetztes Surrogat für den entsprechenden (anzüglichen, daher zur noch 'keuschen' Dido nicht passenden) Mythos von Ares und Aphrodite darstelle, den der Dichter an einer anderen, passenderen Stelle anklingen ließ, wo er nicht mißverstanden werden konnte - in diesem gleichsam spielerischen Kontext385 und außerhalb des 'heroischen' Epos, so wird man Servius ergänzen dürfen, hatte dieser Gesang eher seinen Platz, wenngleich sich Vergil auch hier mit einer knappen, dezenten Umschreibung des Mythos begnügt. Die antike Vergilexegese vermutete demnach - in Vorwegnahme mancher der oben skizzierten modernen Deutungen - , daß diese Kontrastimitation des Aeneisdichters durch die Absicht motiviert war, in deutlicher Abkehr vom odysseischen Modell etwas über die Verfassung und den Charakter der Gastgeberin mitzuteilen. Die Auffassung, daß der Gesang von Ares und Aphrodite am Hofe der Dido, einer regina adhuc casta, unpassend gewesen wäre, befindet sich in Übereinstimmung mit der Tatsache, daß der odysseische Mythos von Ares und Aphrodite innerhalb der antiken Homerexegese schon sehr früh geradezu notorischer Gegenstand heftiger und stets wiederholter Kritik war386. Wie an vielen anderen Stellen seiner beiden Epen (wie etwa in der Διός άπατη und im ιερός γάμος387) zeichnete Homer nach Auffassung seiner Kritiker auch hier ein falsches oder schädliches, zumal einem Werk, dem 385

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Der Gesang der Clymene über die cura inanis Vulcans und die furta und doli der beiden anderen Götter ist wie das beschauliche Ambiente, in das er eingelegt ist, zudem offenkundig darauf abgestimmt, den Effekt dramatisch zu steigern, den die plötzliche Wahrnehmung von Aristaeus' Klagen durch die Mutter besitzt (vgl. 348ff. carmine quo captae dum fitsis mollia pensa /devolvunt, iterum maternas impulit auris / luctus Aristaei, vitreisque sedilibus omnes / obstipuere). Hardie (1986) verweist auf Ps. Heraklit, der seine Verteidigung Homers mittels der Allegorese mit den Worten einleitet (69,2): ά ν ω γ α ρ ούν και κάτω τ ρ α γ ω δ ο ΰ σ ι τά περι "Αρεος καΐ ' Α φ ρ ο δ ί τ η ς άσεβώς δ ι α π ε π λ ά σ θ α ι λ έ γ ο ν τ ε ς . Eustathios überliefert nicht weniger als vier verschiedene Erklärungsmodelle! Siehe hierzu u. S. 244ff.

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erzieherische Maßstäbe angelegt wurden, unangemessenes Bild von den Göttern388. Die Verteidigung Homers gegen diesen Vorwurf erschien besonders notwendig, da die antiken Interpreten in der Gestalt des Demodokos nicht nur ein Selbstporträt des Dichters erblickten389, sondern speziell in dem Inhalt der drei Gesänge des Demodokos die Themen des idealen Dichters Homers umschrieben fanden, neben dem menschlichen den göttliche Bereich (Eustath. 1584,48-59 zu Od. 8,43)390. Die Deutung des Gesangs mittels der physikalischen Allegorese als einer φιλόσοφος έπιστήμη bot einen Ausweg: Der Demodokosgesang von Ares und Aphrodite wird sowohl in den Odysseescholien ([E] Od. 8,267) als auch bei Ps. Heraklit (69,7f.) und Ps. Plutarch (2,101) als ein naturwissenschaftlicher, die Lehre des Empedokles vorwegnehmender Logos erklärt, der die Harmonie der Weltordnung auf die Vereinigung der Prinzipien νεΐκος, verkörpert durch Ares, und φιλία, symbolisiert durch Aphrodite, zurückfuhrt391. Diese umfassende physikalische Allegorese des Mythos, die Homer in seine Rechte als eines jener Aoidoi einzusetzen versuchte, die tiefe Einsicht in die έργ' ανδρών τε θεών τε (Od. 1,338) besaßen, wurde innerhalb der moralisierenden Homerexegese jedoch keineswegs allgemein akzeptiert, wie Ps. Heraklit bezeugt; neben der Ablehnung der homerischen Götterdarstellung blieb die in diesem Kapitel schon mehrfach erwähnte Auffassung möglich, der Dichter fungiere in seiner Darstellung des Alkinooshofes nicht als objektiver Erzähler, charakterisiere vielmehr - mit abwertender Tendenz - die Phäaken als 'Lustmenschen'392, indem er sie an einem anzüglichen Schwank, der die Götter verzerrt darstelle, Vergnügen finden lasse393. Diese 388

Vgl. Xenophan. fr. 11 DK; Plat. rep. 390c; Schol. [HQT] Od. 8,267. 389 vgl. Hardie 1986, 52ff., der auf die Verarbeitung dieser Interpretation im Kommentar des Eustathios verweist. 390 Hardie verweist ferner auf Poseidonios' Definition von ποίησις (fr. 44 Edelstein-Kidd) als σημαντικόν ποίημα μίμησιν περιέχον θείων και άνϋρωπείων. 391 Ps. Heraklit 69,7: νομίζω δ' έγωγε ... ταύτα φιλοσόφου τίνος επιστήμης έχεσθαιτά γαρ Σικελικά δόγματα και την Έμπεδόκλειον γνώμην έοικεν άπό τούτων βεβαιούν, "Αρην μεν όνομάσας τό νεΐκος, την δέ 'Αφροδίτην φιλίαν. τούτους ούν διεστηκότας έν άρχή παρεισήγαγεν "Ομηρος έκ της πάλαι φ ι λ ο ν ε ι κ ΐ α ς εις μίαν όμόνοιαν κιρναμένους. (...). Buffiere (1956, 169f.) weist daraufhin, daß die bei Ps. Heraklit und Ps. Plutarch gegebenen Definitionen des empedokleischen Harmoniebegriffs sich erheblich von der Lehre des sizilischen Philosophen, wie sie aus dem bei Ps. Plutarch (2,99) zitierten Fragment hervorgeht, unterscheidet: Hiernach sind νεΐκος und φιλία nicht Objekte von Vereinigung und Trennung, sondern wirken selbst als die alles Seiende schaffenden und wieder auflösenden Prinzipien. 392 Zum Topos vom 'Phäakenleben' siehe S. 115f. 393 vgl. etwa Plut. mor. 19f: έν μεν γαρ τοις περί της 'Αφροδίτης διδάσκει τους προσέχοντας, δτι μουσική φαύλη και άσματα πονηρά και λόγοι μοχθηράς

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II. Ethische Exegese

Deutung hatte freilich auch die Frage zu klären, wie sich Odysseus zu diesem Gesang verhielt, und sie wurde etwa damit beantwortet, daß der Gast in seinem Innern die Allegorie erkenne, während die Phäaken bei dem fragwürdigen Vergnügen an dem Anzüglichen des Gesanges stehenblieben394; hiermit jedoch war bereits eine Brücke zu der allegorischen Auffassung des Demodokosgesanges geschlagen. Mit den Scholien sowie den beiden zitierten Homermonographien scheint die oben erwähnte Allegorisierung zwar breit, aber erst spät überliefert. Abgesehen jedoch davon, daß ihr empedokleischer Inhalt ohnehin auf einen frühen Ursprung verweist, ist ihre Kenntnis und Verarbeitung durch Apollonios gesichert: In den Argonautika schlichtet Orpheus den Streit zwischen Idas und Idmon bei einem abendlichen Gastmahl - womit vom Szenentypus eine Parallele zum Symposion der homerischen Phäaken gegeben ist - mittels seines faszinierenden Gesanges (l,496ff.). Dieser beschreibt zunächst die Entstehung der Welt durch die Scheidung des Himmels und der Erde, die ursprünglich eine gestaltlose Masse gebildet hatten, durch das kosmische Prinzip des νεΐκος395, daraufhin die Lage der Sterne und die Bahnen des Mondes und der Sonne (497ff.). Es folgt eine Aitiologie der irdischen Gegenstände und Lebewesen, der Berge, Flüsse, der Nymphen und der Tiere (501ff ). Dann läßt der Dichter seinen Sänger in den mythischen Bereich übergehen: Orpheus besingt den Übergang der Weltherrschaft von Ophion und Eurynome über Kronos und Rhea auf Zeus. Apollonios hat demnach im Orpheusgesang unter Bezugnahme auf den Demodokosgesang von Ares und

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υποθέσεις λαμβάνοντας ακόλαστα ποιοΰσιν ήθη και βίους άνανδρους και ανθρώπους τρυφήν και μαλακίαν και γυναικοκρασίαν αγαπώντας (...); Ps. Heraklit schränkt seine allegorische Deutung ein: νομίζω έγωγε κ α ί π ε ρ έν Φ α ί α ξ ι ν , ά ν ϋ ρ ώ π ο ι ς η δ ο ν ή δ ε δ ο υ λ ω μ έ ν ο ι ς ... (ταΰτα επιστήμης έχεσθαι). Eustath. 1601,16 (auf die Stelle verweist Hardie). Hierin liegt also ein deutlicher Bezug zu der Situation, in der der Gesang erklingt, vgl. Brown 1990, 324. Hunter (1993, 177) vertritt die These, Vergil habe durch die Erinnerung an den Orpheusgesang, dem seiner Auffassung nach gegenüber dem Demodokosgesang Priorität zukommt (dies kann jedoch nur für den Gesang selbst, nicht die Szene gelten, in die er fallt), und sein homerisches Vorbild im mythologischen Gewand auf das bevorstehende Zerwürfnis zwischen Dido und Aeneas und schließlich zwischen Karthago und Rom vorausdeuten wollen, worauf dann die neue Ordnung Rom begründet werde. Damit ist selbst einem geschulten antiken Vergilleser wohl ein wenig zuviel zugemutet: Wenn die Apolloniosreminiszenz schon erkannt wird, so kann die primäre Assoziation doch wohl nur sein, daß dort Orpheus, indem er das kosmische νεΐκος und die dadurch begründete neue Ordnung besingt, ganz u n m i t t e l b a r die Harmonie zwischen den Streithähnen Idas und Idmon, die seiner Stimme lauschen, wiederhergestellt hatte; gerade die Erinnerung an diese Szene kann also doch wohl gerade nicht auf ein sehr bald bevorstehendes Zerwürfnis zwischen den Hörern des Iopas in der Aeneis hinweisen.

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Aphrodite die empedokleische Lehre von ihrer allegorischen Verkleidung befreit und ein im wesentlichen kosmologisches Gedicht geschaffen, das freilich den mythologischen Bereich mitumfaßt. Der Orpheusgesang bei Apollonios selbst bildet somit - anders als der Kontext, in dem er steht, der gegenüber dem odysseischen Vorbild vielmehr klar sekundär ist - eine Verbindung zwischen dem Demodokosgesang der Odyssee und dem Iopasgesang der Aeneis: Iopas singt ebenso wie Orpheus und - nach Auffassung der oben erwähnten empedokleischen Homerinterpretation - Demodokos vom Ursprung der Welt (743: unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes, vgl. Apoll. 1,501 f. ... και ώς ποταμοί κελάδοντες / αύτησιν νύμφησι καν ερπετά πάντ' έγένοντο) und - ebenso wie Orpheus - von der Art ihrer Ordnung (742: hic canit errantem lunam solisque labores, vgl. Apoll. 1,500 ... σεληναίης τε και ήελίοιο κέλευϋοι); nur der Bereich des Mythos fällt gegenüber dem Gesang des Orpheus der Argonautika jetzt ganz fort. Bereits Knauer (1964, 168 Anm. 2) hat - einem Hinweis U. Hölschers und H. Schwabls folgend - die Möglichkeit erwogen, daß die naturphilosophische Erklärung des Ares-Aphrodite-Gesangs dem Iopasgesang zugrundeliege, wenn „Vergil ... also statt der 'allegorischen' Geschichte unverhüllt wieder das naturphilosophische Gedicht" setzt. Doch erst die Heranziehung des Orpheusgesanges bei Apollonios396 macht diesen Zusammenhang - auf der Grundlage der szenischen und strukturellen Entsprechung zwischen Iopas- und Demodokosgesang einerseits und (sekundär) Iopas- und Orpheusgesang andererseits - deutlich. Ebenso wie Apollonios nimmt Vergil szenisch und, wie sich gezeigt hat, indirekt - nämlich über die physikalische Homerallegorese und Apollonios - auf den zweiten Demodokosgesang der Odyssee Bezug. Der somit geführte Nachweis, daß die allegorische Deutung Homers unter möglicher Vermittlung des Apollonios durch Vergil zur Kenntnis genommen und verarbeitet wurde, legt nun zwei Deutungen nahe: Wie sicherlich schon Apollonios erwies sich Vergil in der Kenntnis der allegorischen Deutung Homers - diese war ja Voraussetzung für die Auflösung der Allegorie - als 'poeta doctus'397; der philosophische Inhalt der einzigen - und daher gewissermaßen exemplarischen - 'Rhapsodie' der Aeneis mochte zumal im Hinblick auf den verwandten Georgicapassus - auch die kosmologischen Interessen des Aeneisdichters in Erinnerung bringen. Vor allem aber scheint in dem schon von der antiken Vergilkritik bemerkten und kontrovers 396 397

So schon Cartault 1926, 172 Anm. 6; Rudberg 1936, 80. Austin (zu 742ff.) läßt jedoch die Bezugnahme des Iopas- auf den Demodokosgesang zu sehr außer acht, wenn er jenen erklärt als „no more than a reflection of Augustan intellectual interests, which, in Virgil at least, with his Lucretian inclinations, went deep".

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beurteilten erasten Inhalt des Iopasgesanges ein deutlicher Kontrast zu der zumindest vordergründig heiteren Einlage des Demodokos bei Homer beabsichtigt; dies wird besonders deutlich, wenn man in Rechnung stellt, daß sich der antike (negative) Topos vom lustbestimmten Phäakenleben u.a. auf den Gegenstand des zweiten Demodokosgesanges stützte. Die strukturell ohnehin schon enge Verbindung zwischen dem Phäakenhof und dem Palast Didos aber konnte Vergil durch die Berücksichtigung seiner (möglichen) allegorischen Interpretation, die einem philosophisch gebildeten Publikum bekannt gewesen sein dürfte, in seiner Imitation der homerischen Modellszene verstärken und so den Vergleich herausfordern. Eine Übernahme der Weltentstehung im mythologischen Gewand mußte, wie die Homerdiskussion zeigte, mißverständlich sein und die Kritiker auf den Plan rufen, deren Kontinuität innerhalb der Vergilkritik der oben zitierte Kommentar des Servius bezeugen dürfte, wenn er die Stellung Didos als regina adhuc casta mit dem Inhalt des Iopasgesang in Zusammenhang bringt. Wurde die 'physikalische' Allegorese nicht allgemein akzeptiert, so mußte in der unveränderten Übernahme des homerischen Gesanges im Rahmen des Gastmahls der Königin und in unmittelbarem Anschluß an eine religiöse Zeremonie in der Tat ein Anstoß liegen. Der Inhalt des Iopasgesanges konnte demnach nicht wenig dazu beitragen, den Ereignissen in Karthago gegenüber denjenigen auf Scheria größeren Ernst und höheres Gewicht zu verleihen und sie - wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, bei gleicher Grundthematik, legt man die antike Deutung der odysseischen Phaiakis zugrunde - hierin über das odysseische Modell hinauszuheben398. Hardie (1986, 52ff.) macht darauf aufmerksam, daß stoische Homerdeutung in den Gesängen des Demodokos von Ereignissen im menschlichen und göttlichen Bereich die Gegenstände idealer, nämlich philosophischer, Dichtung erblickte und Homer, indem er sich in der Gestalt des Phäakensängers ein Selbstporträt geschaffen habe, als ersten Philosophen begriff. In Verbindung mit dem Georgicapassus, der dem Iopasgesang zugrundeliegt, meint Hardie nun, Vergil spiegele seine eigene Dichtung in der des Iopas, so daß „the Song of Iopas might be taken as indicative of more general correspondences between events in the natural cosmos and [von Vergil in der Aeneis geschilderten] events in the human, historical world" (S. 63); vor dem Hintergrund einer ebensolchen antiken Deutung der ihnen zugrundeliegenden Homerpartien sucht er ein allegorisches Verständnis vergilischer Szenen aufzuweisen. Im Rahmen dieser Untersuchungen können die Thesen Hardies nicht überprüft werden, doch scheint sein Verfahren, die Kenntnisnahme allegorischer Deutung des Demodokosgesanges durch Vergil zur metho398

Zu der Beziehung zwischen Ares-Aphrodite-Mythos und der Venus-Vulcan-Szene des 8. Buches (390ff.) s. S. 252.

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dischen Grundlage seiner Untersuchung zu machen, überzeugend. Farrell (1991, 261) erblickt im Anschluß an Hardie in der Übernahme allegorischer Deutung des Demodokosgesanges durch Vergil ein Indiz dafür, daß Vergil „incoroporates into his own work a tradition that regarded heroic epic not simply as a matter of 'kings and battles', but, when properly read, as a profound meditation on the very nature of the universe".

c) Die Wachsamkeit des Herrschers Vornehmlich in den exegetischen Scholien zur Ilias und in der unter den Werken Plutarchs überlieferten Homermonographie findet sich wiederholt die Auffassung, der Dichter wolle - vor allem am Beispiel Agamemnons das Denken und die Handlungsweise eines idealen Herrschers vorführen, dessen πρόνοια in erster Linie dem Wohl seines Volkes gelten müsse; hiermit eng verbunden erscheint die Vorstellung, Homer habe in seiner Dichtung die Monarchie idealisiert, in der der Herrscher mild wie ein Vater über seine Untertanen herrsche: Ps. Plut. 2,178,1: και οτι δει τον άρχοντα προ των άλλων πεφροντικέναι της πάντων σωτηρίας, έν τω αύτώ προσώπω [sc. Agamemnon] διδάσκει, ω και παραινεί ,,οΰ χρή παννυχιον ευδειν βουληφόρον άνδρα" [II. 2,24], Ps. Plut. 2,182,If.: την (...) βασιλείαν δι' όλης της ποίησεως όνομάζ(ει) και έγκωμιάζ(ει)... και όποιον δει είναι τον βασιλέα, σαφώς δηλοΐ „λαών δ' οίσιν άνασσε, πατήρ δ' ώς ήπιος ήεν" [Od. 2,234] (,..)399 Bei diesen Interpretationen handelt es sich zweifellos um Überreste einer in hellenistischer und römischer Zeit weiter verbreiteten exegetischen Tradition, deren Vertreter politisch-staatliche Maximen solcher Art in den Werken der griechischen Klassiker400, vor allem bei Homer zu belegen suchten. Möglicherweise schon auf Aristoteles zurückgehend 401 , fand diese Gattung der 'Königsliteratur' in der späten Republik einen herausragenden Vertreter in Philodem, der sich mit seinem fragmentarisch überlieferten Werk 'Über den guten König bei Homer' nicht mehr wie seine Vorgänger an

399

400 401

Als grundlegendes Bekenntnis Homers zur Monarchie verstand man II. 2,204 οΰκ άγαδόν πολυκοιρανίη, siehe Tolkiehn 1896, 245. 249. Zum „Königsideal" bei Hesiod s.o. S. 71 Anm. 170. Der Stagirit dürfte sich in seinem Alexander gewidmeten Werk περι βασιλείας (Aristot. fr. 408-9 Rose) auf homerische Verse gestützt haben; s. Richardson, Komm. S. 31.

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hellenistische Monarchen, sondern nun auch an Angehörige der römischen Nobilität wandte402. Diese πρόνοια des idealen Herrschers umriß Homer nach Auffassung der Interpreten u.a. in der Maxime, der Herrscher müsse sich zuweilen den Schlaf versagen, den sein Volk genießen dürfe, um seiner Aufgabe der Fürsorge und planenden Yorausschau nachzukommen403; dies las man, wie die eben zitierte Notiz bei Ps. Plutarch zeigt404, etwa aus den Worten, die Homer zu Beginn des 2. Iliasbuches den Traumgott vorwurfsvoll an Agamemnon richten läßt (II. 2,24 οΰ χρή παννύχιον εΰδειν βουληφόρον άνδρα) 405 . Die Interpreten vermerkten ferner ausdrücklich, daß Agamemnon dieses Ideal wachsamer πρόνοια dann zu Beginn des 10. Iliasbuches, in einer Situation äußerster Bedrängnis seines Volkes, verkörpere: Schol. [bT] 10,3-4: αγρυπνεί ό στρατηγός, πρώτα μεν ότι τους πρώην πολιορκουμένους πολιορκοΰντας όρά (...), άκήκοε δε και τοΰ ονείρου λέγοντος· ,,οΰ χρή παννύχιον εΰδειν βουληφόρον άνδρα"· τά μεν γαρ άλλα της τύχης, τοΰ δέ άμελεΐν ή αιτία απαραίτητος τοις στρατηγοΐς (...)

Bei Gellius (2,6,11) erscheint die Wachsamkeit Agamemnons, hier an den Versen II. 4,223f. (ούκ αν βρίζοντα ΐδοις 'Αγαμέμνονα δΐον / ούδέ καταπτώσσοντ') exemplifiziert, als ein Beispiel für das Verfahren Homers, seine Gestalten non virtutibus appellandis,

sed vitiis detrahendis

positiv zu

charakterisieren406. Auch die an anderer Stelle bereits dargelegte Idealisierung des Odysseus in der philosophischen Dichterexegese bezog sich u.a. auf seine Wachsamkeit: Antisthenes läßt Odysseus in seiner Verteidigungsrede gegen Aias erklären (Od. 8), er wache zum Wohl der Gemeinschaft wie der Steuermann zum Wohl der schlafenden Schiffsbesatzung, also ebenso in Wahrnehmung der Verantwortung eines Herrschers für seine „Schützbefohlenen", zumal in Gefahrensituationen, wie die Homerexegese sie ideal in Agamemnon ver-

402

Siehe Caims 1989, 7; vgl. O. Murray, Philodemus on the Good King according to Homer, JRS 55, 1965, 161-182. 403 Dieses Interpretament geht wohl auf eine beliebte Antithese der kynischen Schule zurück, siehe Cairns 1989, 32 Anm. 7 und 36 Anm. 25 mit Verweis auf Höistad 1948, 53f. 98. 404 Vgl. ferner Eustath. 785,29: έτι δέ διδάσκει πραγματικώς, ώς ού χρή π α ν ν ΰ χ ι ο ν εύδειν βουληφόρον άνδρα, ποιών άγρυπνοΰντα βασιλέα. 405 Der Vers erfreute sich als Sentenz offenbar auch sonst großer Beliebtheit, s. Tolkiehn 1896, 248f. 406 Ahnlich Plutarch (mor. 815d), wo die Wachsamkeit des Agamemnon, an denselben Versen festgemacht, als Wesenszug eines idealen Staatsmannes vorgeführt wird.

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körpert sah407. Diese Wachsamkeit des Odysseus wurde in der Homerexegese außerdem von ihrer Motivation durch die φιλανθρωπία des Helden gelöst und so gleichsam zum Habitus auch des einsam Heimkehrenden verfestigt: Antisth. Od. 8: ώσπερ οι κυβερνήται την νύκτα και την ήμέραν σκοποΰσιν όπως σώσουσι τους ναύτας, οΰτω δέ και έγωγε και σέ και τους άλλους άπαντας σώζω (...)408 Eustath. 1535,2-4: τον 'Οδυσσέα ένταΰθα ό ποιητής και κυβερνήτη ν άριστον ιστορεί και τλήμονα και έπι πολύ άϋπνον και περι αστέρων δέ ϋεωρίαν καταγινόμενον. πολλάς γαρ ήμέρας άγρυπνος διατελ(εΐ). Der Vergleich der Nisus-Euryalus-Episode des 9. Aeneisbuches mit der homerischen Dolonie hat bereits ergeben, daß Vergil die von den Interpreten in der Wachsamkeit erkannte herrscherliche πρόνοια des Agamemnon auf das Freundespaar und das nächtliche 'consilium' der teukrischen Führer übertragen und dieses Motiv durch Kontrastierung mit dem Verhalten der Belagerer noch verstärkt hat409. Über diese Szene hinaus ist jedoch die sorgenvolle Wachsamkeit des Aeneas geradezu ein Leitgedanke des vergilischen Epos, wie längst beobachtet wurde410. Die vielfaltigen Beziehungen zwischen der Aeneis und der ethischen Homerkommentierung, die bislang nachgewiesen wurden, machen es sehr wahrscheinlich, daß auch diese Form der Charakterisierung des Aeneas von ihr zumindest mitangeregt wurde411. Dieser allgemeine Eindruck soll im folgenden genauer geprüft werden; denn legt man diesen Aspekt ethischer Homerkommentierung dem Homer-VergilVergleich zugrunde, treten Motivation und Intention charakteristischer

407

408 409 410

411

Hinzuzunehmen ist Antisth. Aj. 4, wo Odysseus implizit als „wahrer" β α σ ι λ ε ύ ς , der im Interesse seiner Untertanen in richtiger Weise über άρετή zu urteilen vermag, denjenigen gegenübergestellt wird, die nur dem Namen nach Herrscher sind. Auf beide Stellen verweist Höistad 1948, 97-99. Vgl. Antisth. Od. 10. Siehe S. 33ff. Aeneas scheint durch diese vigilia zunächst primär als idealer Feldherr charakterisiert (siehe Woodmans Komm, zu Veil. Paterc. 2,79,1; vgl. ferner R.G.M. Nisbet, PVS 18, 1978-80, 50-61), doch greift diese Deutung, wie die im folgenden aufgewiesene Parallele zum Herrscherideal der Homerexegese zeigen wird, zu kurz. Den möglichen Einfluß des philosophischen Königsideals, wie es unter anderem die Literatur περι β α σ ι λ ε ί α ς etwa Philodems umriß, auf die Charakterisierung des Aeneas (und der regina Dido) hat ausfuhrlich Cairns (1989, 1-84) untersucht (und hierbei auch das Motiv der Wachsamkeit erwähnt: 20. 32), ihre konkreten Auswirkungen auf die Imitation homerischer Szenen in der Aeneis jedoch nur am Rande berührt; diese werden hier in den Blick genommen.

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Abweichungen des Aeneisdichters von seinem Modell noch deutlicher hervor. Im 13. Odysseebuch schildert Homer die Landung des Odysseus in seiner Heimat Ithaka: Die Phäaken setzen ihren Gast, der in tiefen Schlaf gesunken ist und seine Leiden vergessen hat (92) schon nach Tagesanbruch (93ff.) noch immer schlafend am Strand ab (119). Als Odysseus erwacht (187f.), erkennt er zunächst nach der langen Abwesenheit seine Heimat nicht, die Athene zudem in Nebel gehüllt hatte (189. 352), und jammert beim Anblick des ihm völlig fremd erscheinenden Landes auf (198ff.), bis ihm die Göttin, zunächst noch in fremder Gestalt, begegnet und ihm „die Augen öffnet" sowie Anweisungen für sein weiteres Vorgehen gegen die Feinde gibt. Diese Aussetzung des schlafenden Odysseus durch die Phäaken auf Ithaka stieß in der antiken Homerexegese wie kaum eine andere Stelle der Odyssee auf Kritik, wie aus zahlreichen Zeugnissen hervorgeht412, und erscheint schon bei Aristoteles (poet. 1460a35-37) als geradezu klassisches Beispiel für die Ungereimtheiten (αλόγα) bei Homer, die nur bei einem guten Dichter wie ihm erträglich seien. Stellvertretend für die antike Kritik seien hier nur die Scholien zum Vers 119 angeführt: Homer kennzeichne die Phäaken durch ihre άτοπΐα, ein Vorwurf, der sich wohl nur auf ihre Verantwortungslosigkeit beziehen kann, wenn sie Odysseus an Land setzten, ohne ihn aufzuwecken. Doch auch Odysseus' Schlaf [in dieser gefährlichen Situation] geschehe zur Unzeit (vgl. άκαιρος); die Kommentatoren führen mehrere Erklärungen für diese kritisierte Gestaltung Homers an: Schol. [V] 13,119413: ού διανιστάσιν αυτόν (...) ϊνα μή κατασχεϋώσιν ύπό αύτοΰ· ή οΰτως φκονόμησε δια τά έξης. άνήρητο γαρ ύπό των μνηστήρων φανερώς κατιών. Schol. [HQ] 13,119: την των Φαιάκων άτοπίαν κα0' ην τον 'Οδυσσέα καΰευδοντα μή διυπνίσαντες εις την γήν κατέΟεντο, του τε 'Οδυσσέως τον άκαιρον ΰπνον, διαλύειν πειρώμενος ό Πόντικος 'Ηρακλείδης φησιν άτοπους είναι τους έξ ων εϊρηκεν ό ποιητής μή στοχαζομένους περι του παντός τρόπου των Φαιάκων ... Wie das erste Scholion zeigt, verfielen schon die antiken Exegeten auf die Erklärung, die nach Auffassung moderner Interpreten der Konzeption des Odysseedichters einzig gerecht wird, indem sie auf die besondere Funktion dieser Szene in der Handlungsökonomie hinwiesen. Doch einer Vielzahl von Interpreten erschienen die möglichen negativen Implikationen dieser Schilderung sowohl für die Plausibilität der gesamten Szene als auch für 412 413

Diese finden sich bei Kaiser (1964, 219 Anm. 13) gesammelt. p. 563, 6-9 Dindorf.

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Verhalten und Charakter der Phäaken wie des Odysseus als Preis für dieses Konzept ganz offensichtlich zu hoch. Vergils Nachgestaltung der Landungs- und der anschließenden Beratungsszene des 13. Odysseebuches ist zumal im Hinblick auf das 'Schlafmotiv' höchst aufschlußreich: Der Heimkehr des Odysseus zu Beginn des 13. Buches und damit zu Beginn des zweiten, der Ilias näherstehenden Teils der Odyssee entspricht in der Aeneis die 'Heimkehr' des Aeneas in Latium zu Beginn des 7. Buches, unmittelbar vor dem zweiten Musenanruf, der den Beginn des zweiten, des 'Iliasteils' der Aeneis markiert (vgl. 37ff.). Wie Odysseus wird sich Aeneas in den Ereignissen, die der Dichter in der zweiten Eposhälfte schildert, im Kampf gegen hartnäckige Gegner durchsetzen müssen, die ihm die rechtmäßige Gemahlin und das Herrschaftsrecht über das Land streitig machen. Ebenso wie Odysseus den Strand von Ithaka erreicht Aeneas die Tibermündung am frühen Morgen (25f.), jedoch w a c h e n d ; die Landung ist ganz aus seiner Perspektive geschildert (29£), er erteilt seinen Leuten - im Gegensatz zu dem nach dem Erwachen von Homer jammernd vorgeführten Odysseus - laetus seine Befehle (35£). Auffälliger noch wird der Kontrast zum schlafenden Odysseus, blickt man auf die der Landung des Aeneas vorausgehende nächtliche Fahrt (vgl. 7,8): Die Aeneaden insgesamt bleiben bei der Vorbeifahrt an der überaus gefahrlichen Circeinsel - wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, dem klassischen Prüfstein für die Umsicht des homerischen Odysseus! - wachsam, Neptun verleiht ihnen „nur" zusätzlichen, ihre Fahrt beschleunigenden Wind. Der vergilische Aeneas verkörpert demnach - in zweifellos vom Dichter beabsichtigtem Kontrast zum kritisierten Odysseus in ähnlicher Situation - bei seiner durchaus nicht ungefährlichen Ankunft in Latium (vgl. Aen. 6,83ff.) und damit bei seinem Eintritt in eine Folge von Ereignissen, die ihm ebenso wie Odysseus im Freierkampf äußersten Einsatz abverlangen wird, das zentrale (Herrscher-)Ideal der Wachsamkeit, wie es die ethische Kommentierung in den Gestalten Agamemnons und des Odysseus bei Homer - freilich mit Ausnahmen - verwirklicht sah414. Das Motiv der Wachsamkeit aus herrscherlicher Pflichterfüllung und Verantwortung führt Vergil gerade in der zweiten, 'iliadischen' Eposhälfte weiter: Wie den Agamemnon der Ilias zu Beginn der Dolonie plagen Aeneas 414

Die antithetische Beziehung der Szenen in Od. 13 und Aen. 7 findet, woran schon Knauer (1964, 243-247) erinnert hat, ihre Ergänzung in einer abermaligen 'Umkehrung': Aeneas wird bald nach der Landung vom Tibergott im Traum unterwiesen wie Odysseus unmittelbar nach der Landung von Athene (Aen. 8,36ff. < Od. 13,375ff.) - hier erscheint sein Schlaf „passend" (nach langer sorgenvoller Wachsamkeit freilich, vgl. 8,26ff.), während Odysseus wacht.

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II. Ethische Exegese

Sorgen über den bevorstehenden Kampf (8,29ff.), bis er Schlaf findet, aber auch den Trojanerrat unter Ascanius' Führung, der den Vater während seiner Expedition zu Euander vertritt, in einer ebenso bedrängten, gefahrvollen Situation (9,226ff.)415; in beiden Fällen geschieht dies in starkem Kontrast zum „sorglosen" Schlaf der Welt ringsum (8,26ff./9,224ff). Ein weiteres Mal greift Vergil das Motiv in der Schilderung der Rückkehr des Aeneas von Euander auf: In der nächtlichen Fahrt (vgl. 10,161. 215ff.) den Tiber hinab erinnert der Aeneisdichter an die tage- und nächtelange Meerfahrt des Odysseus von Ogygia nach Scheria (5,269ff.), eine Reminiszenz, die die Fragen von Aeneas' Begleiter Pallas nach dessen leidvollen Erlebnissen „auf Land wie zur See", also vor dem Hintergrund des Proöms gleichsam nach seiner 'iliadischen' und 'odysseischen' Vergangenheit noch unterstreichen (162 [Pallas] quaerit ... quae passus terraque marique, vgl. 1,3 multum ille et terris iactatus et altö). Beide Szenen verknüpft abermals das Motiv der Wachsamkeit: Dem Odysseus, der allein auf seinem Floß fahrt, fallt während der Fahrt auch nachts „kein Schlaf auf die Lider" (271), während er die Gestirne immer im Blick hält (272ff). Das Ausharren des stets vorsichtigen Helden fand vor allem hier den Beifall der Homerinterpreten, wie die oben zitierte Notiz des Eustathios zeigt. Auch Aeneas bleibt wachsam, jedoch nicht nur in seiner Eigenschaft als Steuermann, der den Blick auf die Gestirne richtet (vgl. 160ff, hierzu Od. 5,270ff.)416, sondern auch als vorausschauender Planer, der hierin seine Verantwortung für die von ihm angeführten Trojaner wahrnimmt (secum ... volutat eventus belli varios, 159f.). Diese αγρυπνία, die so zusätzlich als Reflex auf die herrscherliche πρόνοια gedeutet werden kann, welche die Kommentatoren im Agamemnon des 10. Iliasbuches verkörpert gesehen hatten, erscheint bei Vergil gegenüber Homer als wesentlicher Charakterzug des Herrschers damit bereits geradezu verfestigt. An dieser Stelle wird deutlich, daß Vergil - bei grundsätzlicher Orientierung an dem idealisierten Odysseus - zur Charakterisierung des Aeneas zusätzlich auf das Herrscherideal der Iliasrezeption zurückgegriffen hat; die Wachsamkeit ist nicht mehr nur von Vorsicht (wie die des πολυμήχανος Odysseus), sondern von herrscherlicher πρόνοια als Grundeinstellung des Helden bestimmt. Kurz darauf - in der zweiten Nacht der Fahrt - fuhrt Vergil ein ganz ähnliches Bild vor: Nun wacht Aeneas jedoch offenbar ganz alleine, indem 415 416

Hierzu siehe S. 33ff. Eine weitere Reminiszenz an die nächtliche Meerfahrt des Odysseus findet sich in Aen. 3,515fF., wo Palinurus, allerdings im Morgengrauen, sidera cuncta nolat tacito labentia caelo, jedoch ist die Parallele weniger deutlich, und das Motiv der Wachsamkeit erscheint unbetont.

3. Aeneas

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er neben dem Planen wiederum die Aufgabe des Steuermanns übernimmt, wobei der hier implizierte, an den anderen Stellen der Aeneis, in denen das Wachsamkeitsmotiv anklingt (8,26ff; 9,224ff), vom Dichter aber ausdrücklich hervorgehobene Gegensatz zur „schlafenden Welt ringsum" durch das antithetische Asyndeton unterstrichen ist: Aen. 10,215

iamque dies caelo concesserat almaque curru noctivago Phoebe medium pulsabat Olympum: Aeneas (neque enim membris dat cura quietem) ipse sedens clavumque regit velisque ministrat.

Als die aus den Schiffen verwandelte Nymphenschar ihm begegnet, um ihn über die inzwischen eingetretene Lage zu informieren, fragt unter ihnen zunächst Cymodocea, ob Aeneas wachsam sei: Aen. 10,228

'vigilasne, deumgens, Aenea? vigila et velis immitte rudentis (...')

Vergil greift in dieser von ihm unmittelbar zuvor gleichsam schon positiv beantworteten Frage in der Umkehrung deutlich die (tadelnden) Worte auf, die bei Homer der Traumgott zu Beginn des 2. Iliasbuches an den s c h l a f e n d e n Agamemnon richtet: 11.2,23

'εΰδεις, Ά τ ρ έ ο ς υιέ δαΐφρονος ΐπποδάμοιοού χρή παννύχιον εύδειν βουληφόρον ανδρα, ω λαοί τ' έπιτετράφαται και τόσσα μέμηλε (...')

Oben wurde schon gesehen, daß die folgende Maxime, die Homer dem Gott in den Mund legt, eine zentrale Stelle der ethischen Homerexegese und von geradezu sprichwörtlicher Bekanntheit war. Wenn Vergil gerade in dieser Schilderung auf sie zurückgreift und den Aeneas dieser Situation dem Agamemnon der Ilias gegenüberstellt, tritt die Idealisierung des Helden vor dem Hintergrund der antiken Homerrezeption erneut deutlich hervor. Die (umstrittene) These, Vergil deute eine charakterliche Entwicklung des Aeneas an, die durch die Bewährung gegenüber äußeren Herausforderungen (wie den Seestürmen und den ersten Konflikten in Latium) wie auch inneren Prüfungen (in Karthago) vorangetrieben werde417, könnte sich unter anderem auf die Verwendung des Wachsamkeitsmotivs stützen: Das Wachen des Aeneas speziell in der Situation des 10. Buches vor dem Beginn der Kämpfe ist von Vergil nicht nur, wie gezeigt, in Kontrast zur Eingangsszene des 2. Iliasbuches gesetzt, sondern werkimmanent auch zu seinem Verhalten in der Karthagoepisode: Hier wird der s c h l a f e n d e Aeneas — ähnlich 417

Siehe hierzu S. 127 mit Anm. 352.

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II. Ethische Exegese

wie der s c h l a f e n d e Agamemnon vom Traumgott - von Mercur getadelt und daran erinnert, daß er sich in einer gefahrlichen Situation befinde (von der sich getäuscht fühlenden Dido könnten Maßnahmen getroffen werden, die die Abfahrt der Aeneaden verhindern, 563ff.): Aen. 4,560

'nate deaAn, potes hoc sub casu ducere somnos, nec quae te circum stent deinde pericula cemis, demens (...')

Ein solcher Tadel kann dem Aeneas, der sich in der Prüfung Karthagos und in den bisherigen Gefahren in Italien bewährt hat, später, wie gezeigt, nicht mehr gelten; die Bedeutung des aus der ethischen Homerkommentierung übernommenen Motivs der Wachsamkeit bei Vergil fur die Charakterisierung des Helden tritt erneut hervor. Im Zusammenhang mit dem Motiv der Wachsamkeit ist noch auf ein weiteres Element des homerischen Helden- und Herrscherideals, wie es die ethische Kommentierung auffaßte, und seinen möglichen Einfluß auf Vergil einzugehen: In den Iliasscholien wird wiederholt positiv vermerkt, daß Homer die Griechenfuhrer (die ja nicht zum eigentlichen Kampf gehörende Aufgaben delegieren können und dies gewöhnlich auch tun) immer wieder selbst Hand anlegen lasse (z.B. Schol. [A] 3,261-2: και ότι oi ήρωες πάντες έμπειροι και αυτουργοί) 419 . In solchen Bemerkungen fanden zwei ursprünglich offenbar voneinander unabhängige Traditionen der Iliaskommentierung Niederschlag, die diese αύτουργία der homerischen Helden hervorhoben: in historisch-ethnographischer Literatur wohl schon klassischer Zeit wurde hierin ein authentisches Phänomen der archaischen, bei Homer beschriebenen Gesellschaft gesehen, eine Interpretation, die auch Aristarch vertrat und offenbar aus dieser Tradition geschöpft hat420. Daneben stand eine vielleicht schon auf Chrysipp zurückgehende ethische Interpretation, deren Kern in einer bei Athenaios (epit. 1,15 p. 8 E) überlieferten These des Stoikers Ps. Dioskurides greifbar ist421: In der αύτουργία seiner Helden habe Homer das Exemplum einer einfachen, von σωφροσύνη geleiteten Lebensweise geschaffen, indem diese in ihren Lebensgewohnheiten 418 Vgl Serv. Aen. 4,560 nate dea] modo generis commemoratio non ad laudem pertinet, sed obiurgatio cessantis est mit Schol. [bT] II. 2,24 (zu ' Α τ ρ έ ο ς υιέ): δυσωπεΐ δέ τοις έγκωμίοις του πατρός: die Parallele könnte ein Beleg dafür sein, daß beide Stellen miteinander verglichen und in ähnlicher Weise kommentiert wurden. 419

420 421

Vgl. ferner Schol. [AbT] 8,93 mit einem regelrechten Katalog von Fähigkeiten, die der ideale Herrscher (hier Odysseus) als αυτουργός besitzt. Die wichtigsten Scholien zur αύτουργία sind aufgeführt und behandelt bei Schmidt 1976, 159-170. Hierzu ausfuhrlich Schmidt 1976, 159-164. Auf die Stelle verweist Schmidt 1976, 163.

3. Aeneas

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bescheiden seien und selbst Aufgaben übernähmen, die auch ihre Diener ausführen könnten. Eine solche Hervorhebung der αυτουργία findet sich in den Scholien besonders im Falle des homerischen Herrschers und trifft hier mit seiner schon erwähnten Idealisierung in der Kommentierung primär stoischer Provenienz zusammen. Im Fall des Agamemnon beobachteten die Interpreten, Homer wolle an ihm demonstrieren, daß auch ein Herrscher in Gefahrensituationen in diesem Sinne selbst tätig werden müsse (Schol. [bT] 8,218: δει δε αύτουργενν έν τοις δεινοΐς τους αρχοντας) 422 . Im Hintergrund steht auch hier die Auffassung der Interpreten, der Dichter habe namentlich in der Gestalt Agamemnons ein Vorbild herrscherlicher, fürsorglicher πρόνοια geschaffen. Diesen Gedanken einer Selbsttätigkeit des Helden, speziell des Herrschers, den der Iliasdichter nur andeutet, die antike Kommentierung aber betonte und idealisierend hervorhob, hat Vergil möglicherweise auf ihren Spuren übernommen und hierbei mit dem Motiv der Wachsamkeit kombiniert: Oben wurde schon hervorgehoben, daß Aeneas in der zweiten Nacht der Tiberfahrt emeut wachsam bleibt und dabei die Aufgaben des Steuermanns versieht; dieser Umstand wird von Vergil nachdrücklich hervorgehoben (10,218): ipse sedens clavumque regit velisque ministrat. Nicht nur hier zeigt sich der Trojanerführer als αυτουργός423. Wie die Kommentatoren dies beim Agamemnon etwa des 8. Iliasbuches vermerkten, greift er ein weiteres Mal in einer G e f a h r e n s i t u a t i o n selbst ein: Als der Steuermann Palinurus, vom übermächtigen Schlafgott bedrängt, schließlich doch seine Pflicht vergißt, in Schlaf sinkt und über Bord geht (5,857ff), ist Aeneas trotz tiefster Nachtzeit (835f.) offenbar wachsam - sogleich zur Stelle, um das Steuerruder zu übernehmen; auch hier hebt Vergil die Selbsttätigkeit des Trojanerführers (vgl. ipse, 868) hervor und verleiht ihr durch den Hinweis besondere Relevanz, daß das Schiff auf die scopuli S i r e η um zugetrieben wäre (864ff), wenn dieser Eingriff nicht erfolgt wäre - also durch die

422

Die Behandlung des Scholions fehlt bei Schmidt (1976), der S. 166-170 die Beziehungen der bT-Scholien über αυτουργία zu den verschiedenen Kommentierungstraditionen untersucht: Es ist ein Beleg für den Einfluß auch stoischer Kommentierung - neben der alexandrinischen Tradition - auf diese Scholien. 423 Y g i a u c h Aen. 7,157ff.: Während sich eine Gesandtschaft zum König Latinus aufmacht, legt Aeneas ipse (157) den Grund für das trojanische Lager am Tiberufer (das Pronomen dient hier prägnant sowohl zur Absetzung des Zurückbleibenden von der aufbrechenden Gruppe als auch zur Hervorhebung seiner Eigentätigkeit i.S. der αυτουργία).

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II. Ethische Exegese

markante Variation des epischen (insbesondere homerischen) Motivs 'Handlungsperipetie durch g ö t t l i c h e s Einwirken'424: Aen. 5,864 867

i am que adeo scopulos Sirenum advecta subibat, (...) cum pater amissofluitantemerrare magistro sensit, et ipse ratem noctumis rexit in undis (...)

Das Epitheton pater (867) unterstreicht dabei - ganz dem von den Interpreten bei Homer nachgewiesenen stoischen Herrscherideal entsprechend, nach dem der König für sein Volk wie ein Vater für seine Kinder sorgt425 gerade in dieser Situation die Fürsorge des Herrschers für seine Schützlinge426. Die epischen Nachfolger Vergils haben diese Leitgedanken weiterentwickelt. So verarbeitet L u c a η das von der Homerexegese herausgestellte Ideal des wachenden Herrschers im Gegensatz zur schlafenden Umwelt, indem er werkintern dem wachenden Cato (des 2.) den schlafenden Pompeius (des 7. Buches) gegenüberstellt427. Einen erwünschten Beleg für den oben behaupteten inneren (nicht-strukturellen) Zusammenhang zwischen den genannten homerischen Szenen in ihrer antiken Deutung und ihren Nachgestaltungen in der Aeneis geben ferner die drei flavischen Epiker, die stärker als Lucan auch direkt auf homerische Szenen Bezug nehmen und dabei zusätzlich die vergilische Imitation der entsprechenden Partie einarbeiten: So entsendet Jupiter im 3. Buch der Punica des Silius Italicus Mercur zum schlafenden Hannibal, um diesen aus seiner segnis quies (166) aufzurütteln, woraufhin der Gott mulcentem secure membra sopore / aggreditur iuvenem ac monitis incessit amaris (170f.); Silius greift hier offenkundig auf die Karthagoepisode der Aeneis zurück und zieht das zweimalige Auftreten Mercurs vor Aeneas auf Befehl Jupiters (4,219ff.) - am Tag (4,265ff.)428 und in der Nacht (560ff.) - zusammen, wobei der Bezug zur zweiten Szene

424

425 426

427 428

Zu diesem Motiv bei Vergil Nesselrath 1992, 74ff., der die sprachlich verwandten Stellen Aen. 5,327ff.; 12,940ff. (vgl. i a m que ... / ... c u m ) als Beispiele variierender Adaptation homerischer 'Beinahe-Episoden' durch Vergil auffuhrt. Siehe o. S. 143. Hierzu siehe auch Knoche (1956, 97ff; vgl. 1961, 129ff.), der mit Verweis auf diese Stelle das Epitheton pater mit der auf den Gemeinschaftsbereich bezogenen 'patria tutela' des „Herrschers" in Verbindung bringt. Siehe Lausberg 1985, 1599. Sil. 3,171 aggreditur iuvenem ac ... incessit < Aen. 4,265 invadit; Sil. 3,176 dum lentus coepti terra cunctaris Hibera < Aen. 4,271 aut qua spe Libycis teris otia terris?·, Sil. 3,179 en age, si quid inest animo par fortibus ausis, /fer gressus < Aen. 4,272 si te nulla movet tantarum gloria rerum und 569 (heia age, rumpe moras).

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durch das 'Weckmotiv' noch enger ist . Die vorwurfsvollen Worte Mercurs aber an den schlafenden Hannibal (172) sind nun eine recht genaue Wiedergabe von II. 2,24 (ού χρή παννύχιον εΰδειν βουληφόρον άνδρα): turpe duci totam somno consumere noctem. Damit hat schon Silius den oben dar-

gelegten inneren Bezug zwischen dem vom Traumgott getadelten Agamemnon des 2. Iliasbuches und dem Aeneas des 4. Aeneisbuches - beide 'Herrscher' schlafen im Moment der Gefahr - erkannt und in seiner kontaminierenden Imitation der beiden epischen Modelle herausgestellt. Valerius Flaccus wiederum scheint die oben behauptete enge Beziehung zwischen dem s c h l a f l o s e n Agamemnon des 10. Iliasbuches und dem w a c h s a m e n Aeneas bei Vergil erkannt und genutzt zu haben, erinnert er doch in seiner Schilderung der ersten Nacht, die Jason an der Spitze der Argonauten im noch unbekannten und gefahrenträchtigen Colchis verbringt, an beide epischen Vorbilder: Die Wachsamkeit des Aeneas, des wichtigsten Vorbilds für den Haupthelden des Argonautenepos430, in verschiedenen gefahrlichen Situationen - unter strukturellem Gesichtspunkt hier primär im 1. Aeneisbuch, nach der Landung am Strand von Karthago431, und im 7. Buch, nach der Landung in Italien - dient Valerius in dieser Szene ebenso als Modell wie das Wachen Agamemnons zu Beginn des 10. Iliasbuches, wo der Grieche nach Auffassung der Homerinterpreten seiner Herrscherpflicht anders als im 2. Buch nachgekommen war; denn aus letzterer Szene übernimmt Valerius jenes berühmte Gleichnis, in dem Homer die sorgenvollen Gedanken des wachenden Agamemnon veranschaulicht hatte: Val. Fl. 5,302

305

309

praecime432 Aesoniden varios incertaper aestus mens rapit undantem curis ac multa novantem. qualiter ex alta cum Iuppiter arce coruscat Pliadas ille movens mixtumque sonoribus imbrem horriferamve ttivem, cartis ubi tollitur omnis campus aquis (...) sie tum diversis hinc atque hinc motibus aneeps pectora dux crebro gemitu quatit (...)

429 Vgl ferner Sil. 3,174 iam maria ... cernes ... turbare carinas < Aen. 4,561 nec quae te circum stent deindepericula cernis (...)? und 565 iam mare turbari trabibus ... videbis. 430

Vgl. Burck 1979, 23 8f. Vgl. das 'Sorgen-' bzw. 'Wachsamkeitsmotiv' in Aen. 1,209 (Aeneas) curisque ingentibus aeger sperrt vultu simulat, premit altum corde dolorem (...) 305 atpius Aeneas per noctem plurima volvens (...) (femer Aen. 8,18fF.) mit Arg. 5,302ff. Valerius fuhrt die Parallele zur Landung in Karthago auch im folgenden weiter, s.o. S. 90f. 432 Vgl. Aen. 1,220 praeeipue pius Aeneas (gemit etc.).

431

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II. Ethische Exegese

Horn. II. 10,1

7 9

άλλοι μεν παρά νηυσιν άριστήες Παναχαιών εύδον παννύχιοι, μαλακω δεδμημένοι ΰπνω· άλλ'ούκ Άτρεΐδην 'Αγαμέμνονα, ποιμένα λαών, ύπνος έχε γλυκερός πολλά φρεσιν όρμαίνοντα. ώς δ' ότ' αν άστράπτη πόσις "Ηρης ήϋκόμοιο, τευχών ή πολύν όμβρον άΟέσφατον ήέ χάλαζαν ή νιφετόν, δτε πέρ τε χιών έπάλυνεν άρούρας (...), ώς πυκίν' έν στήθεσσιν άναστενάχιζ' 'Αγαμέμνων

C··)433 Schließlich hatte Statius möglicherweise die bedeutungsvolle Schlußszene des 5. Aeneisbuches vor Augen, als er die sorgenvolle Wachsamkeit Adrasts, der in dieser Situation sehr deutlich dem Agamemnon der Eingangsszene des 10. Iliasbuches entspricht (vgl. Theb. 8,259ff. mit II. 10,Iff.), mit derjenigen des einsam für seine schlafenden Schützlinge wachenden Steuermanns verglich, dessen Aufgabe Aeneas ja gewissermaßen als βασιλεύς αύτουργός nach dem Ausfall des Palinurus selbst versehen hatte (267ff. sie ubi per fluetus uno ratis obruta somno / conticuit, pacique maris secura inventus / mandavere animas: solus stat puppe magister / ρ e rv i gi l )434. Der Thebaisdichter nutzte demnach die oben dargelegte, offenbar schon von ihm empfundene innere Gemeinsamkeit beider epischer Vorbildszenen zu ihrer Kombination in Real- und Bildteil seines Gleichnisses. Die epischen Nachfolger Vergils haben demnach einen engen Zusammenhang zwischen einem zentralen Aspekt des Herrscherideals, das Homer nach Auffassung seiner antiken Interpreten an Agamemnon illustriert hatte, und der gleichartigen Charakterisierung der Aeneasgestalt durch Vergil in Situationen erkannt, die keine sogleich erkennbare strukturelle Nähe zueinander besaßen, und konnten diese Parallele so für ihre Imitation beider epischer Modelle nutzen. Es wird so deutlich, wie Vergil einen zentralen Gedanken der (politischen) Ethik, der nach antiker Auffassung in den homerischen Epen vorgebildet war, übernommen und zu einem festen Bestandteil der epischen Tradition geformt hat.

433

Ein eingehender Vergleich zwischen beiden Gleichnissen jetzt bei Ursula Gaertner, Gehalt und Funktion der Gleichnisse bei Valerius Flaccus. Hermes Einzelschr. 67, Stuttgart 1994, 133ff. 434 Vgl Jag (verkürzte) Motiv in Aen. 5,835ff. iamque fere mediam caeli Nox umida metam / contigerat, placida laxabant membra quiete /sub remis fitsi per dura sedilia nautae.

3. Aeneas

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d) Standhaftigkeit im Schmerz Im 4. Iliasbuch überredet Athene in der Gestalt des Laodokos den Pandaros zum Abschuß eines Pfeils auf Menelaos (93ff), womit der Waffenstillstand zwischen Griechen und Trojanern durch letztere gebrochen wird. Das Geschoß erreicht sein Ziel und durchdringt die Rüstung des Menelaos, vermag jedoch die Haut des Getroffenen nur noch zu ritzen (134ff). Die Umstehenden, allen voran Agamemnon, erfaßt Schaudern, auch Menelaos selbst (148ff.). Auf eine lange Rede Agamemnons, in der dieser den Trojanern den Untergang schwört und dem Bruder gegenüber seine Verpflichtung betont, ihn zu rächen - offenbar in der Befürchtung, Menelaos sei tödlich verletzt (169f.) - , antwortet Menelaos in beruhigenden Worten: Agamemnon solle Mut fassen, das Geschoß sei ja nicht tödlich eingedrungen, seine Rüstung habe es zurückgehalten (184ff.). Die Worte, die der Dichter Menelaos an dieser für die Iliashandlung zentralen Stelle in den Mund gelegt hatte, provozierten deutliche Kritik antiker Homerinterpreten: Menelaos ähnele einem kranken Kind, das seine Eltern zu beruhigen suche; Homer charakterisiere ihn in dieser Situation, in der die Umstehenden schon glauben, er sei tödlich verwundet, somit unpassend geradezu als verweichlicht: Schol. [bT] 4,183: τον δ' έπιϋαρσυνων] τοιούτος έστιν, ώσει νοσών υίδς παραμυϋοΐτο γονείς, άτοπος δε ήν μαλϋακευόμενος Μενέλαος εκείνων [τό πάθος]435 οίκειουμένων [Τ] την αίτίαν τοΰ θανάτου αύτοΰ. Homer versäumte es hier demnach zum Bedauern der Interpreten, Menelaos (wie er es sonst mit seinen Helden insbesondere auf griechischer Seite tat) in einer 'exemplarischen' Situation durch Standhaftigkeit zu idealisieren. An anderer Stelle der Iliasscholien, aber auch in der indirekten Homerkommentierung finden sich Belege für die Auffassung, Homer habe den Atriden, den er in der Ilias einmal μαλθακός αίχμητής nennt (17,588: so Apollon), mit voller Absicht als einen eher „weichen", in positiver Ausdeutung milden436, in der negativen dagegen „verweichlichten"437 Kämpfer 435

436

Erbses Athetese des von b überlieferten τό πάθος ist zu folgen, da es sonst in Konkurrenz zu dem zu οίκειουμένων wesentlich passenderen Objekt την αίτίαν träte (μαλϋακευεσϋαι ist an der einzigen weiteren Belegstelle [Schol. Aristoph. Plut. 325: βλάξ έστιν ό μαλΟακευόμενος έν ύποκρίσει τό σώμα] wohl intransitiv zu fassen). Schol. [bT] II. 6,51 (Menelaos hat Erbarmen mit seinem unterlegenen Gegner Adrast, weshalb ihn Homer [an späterer Stelle] μαλθακός αίχμητής nenne) sowie zu demselben Zusammenhang Schol. [T] 6,62 (μέτριον και άόργητον χαρακτηρίζει τοΰ Μενελάου τό ήθος); Schol. [bT] II. 17,1-2; [bT] 17,4 (Menelaos bemerke als erster, daß Patroklos gefallen ist, und werde vom Dichter diesem somit als ήπιος zur Seite gestellt); Schol. [A]

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II· Ethische Exegese

charakterisieren wollen. Es ist nicht auszuschließen, daß mit dem Hinweis auf diesen vom Dichter geschaffenen 'Typus' auch der oben zitierten Kritik an der μαλϋακία des Menelaos begegnet wurde, die eine durchgängige Idealisierung der griechischen Helden 'forderte'. Die antike Kritik an der μαλϋακία des Menelaos in der Situation des 4. Iliasbuches steht keineswegs vereinzelt da. Cicero bezeugt den Anstoß, den die Interpreten bei Homer und seinen Nachfolgern an der Darstellung ihrer Helden nahmen438, wenn sie diese über ihre im Kampf erlittenen Verwundungen stöhnen und weinen ließen, indem er - ganz aus stoischer Sicht den Pacuvius dafür lobt, daß er Odysseus nicht wie Sophokles über die bei der Eberjagd erlittene Verwundung in lautes Klagen ausbrechen lasse (Tusc. 2,21,48ff.), und diese Betrachtung mit der Bemerkung beschließt: huius animi pars ilia mollior rationi sic paruit ut severo imperatori miles prudens, in quo vero erit perfecta sapientia (51). Die antike Diskussion über diesen Aspekt der Charakterisierung speziell bei Homer scheint Ps. Plutarch zu belegen, wenn er - vielleicht in Stellungnahme gegen die Kritiker Homers den alten Dichter dafür lobt, daß er seine Protagonisten zwar nicht jeglichen Schmerzes entbehren, aber auch nicht von ihm beherrscht werden läßt (2,135,2): και "Ομηρος άει παράγει τους άριστους οΰτε .. άλύπους ... παντελώς έν τω μή άγαν δε τοις πάϋεσι κρατεΐσϋαι των φαύλων διαφέροντας. Solcher direkt oder indirekt greifbaren Kritik stand die positive Würdigung 'heroischer' Standhaftigkeit durch die Kommentatoren gegenüber: Gleich den nächsten, nach Menelaos und ebenfalls von Pandaros verwundeten Helden der griechischen Seite, Diomedes, idealisierte Homer nach ihrer Auffassung durch seine Standhaftigkeit trotz schmerzhafter Verwundung (Schol. [T] 5,107-8), doch auch den verwundeten Odysseus durch sein άτάραχον, zudem in einem Moment größter Bedrängnis durch die Gegner (Schol. [bT] 11,439)«*. Es gibt klare Hinweise darauf, daß Vergil insbesondere in seiner Nachgestaltung der Verwundungsszene des 4. Iliasbuches auf diese von der antiken Kommentierung herausgehobenen exemplarischen Szenen bei Homer zurückweisen wollte: Hier hat der Dichter, wie schon seine antiken Interpreten erkannt haben440, die Verwundung des Atriden in dem entsprechen-

17,588 (zum μαλθακός αίχμητής: negative Interpretation dieses Epitheton, das Homer als Verleumdung aus dem Munde des Gegners - Apollon - relativiert wissen wolle). 437 Dion Chrys. 2,37; vgl. Schol. [A] 17,588 (o. Anm. 436). 438 Vgl. Schol. [bT] II. 1,349 (ετοιμον τό ήρωϊκόν προς δάκρυα); [AbT] II. 19,5 πάντας τους ήρωας άπλότητος χάριν ευχερώς έπι δάκρυα άγει; Epikt. 3,24,18-20. 439 Vgl. ferner Schol. [AbT] 11,269-71. 440 Vgl. Serv. zu 12,399 (s. gleich unten).

3. Aeneas

157

den Mißgeschick des Aeneas nachgestaltet, der im 12. Buch von einem unerkannt bleibenden Gegner durch einen Pfeil verletzt wird (319f£). Vergleicht man beide Szenen, so wird rasch deutlich, wie sehr sich die vergilische Schilderung von dem kritisierten Iliaspassus abhebt 441 : Die eigentliche Verwundung des Aeneas, der anders als Menelaos nicht in voller Rüstung, sondern gar ungeschützt getroffen wird (311f.), tritt zunächst völlig in den Hintergrund; ja während das Eindringen des Geschosses und die Verwundung - mit einem Gleichnis ausgemalt - bei Homer über 14 Verse (4,134147) geschildert sind, erwähnt Vergil lediglich knapp, daß der anonyme Bogenschütze, der sich nicht zu erkennen gibt (320ff.) - hierauf liegt das Gewicht - getroffen hat (323 nec sese Aeneae iactavit ν ul η e r e). Daraufhin lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers zunächst völlig auf Turnus, der utAenean cedentem ex agmine vidit / turbatosque duces, subita spe fervidus ardet (324f.) und im folgenden eine ausgedehnte Aristie erhält (326-382). Kommt auf diese Weise schon der Verwundung als solcher keine Bedeutung zu und rücken vielmehr die Folgen, die das Ausscheiden seines Hauptgegners für das Kampfgeschehen besitzt, in den Vordergrund - auf die Verwundung des Menelaos folgt bei Homer unmittelbar, wie oben umrissen, eine Schilderung der allgemeinen Besorgnis, das Nahen der Gegner erzählt er erst nach Abschluß der Behandlung (219) - , so unterscheidet sich auch die Reaktion des Aeneas auf sein Mißgeschick, als er endlich in 383 wieder in den Blick genommen wird, deutlich von derjenigen des Menelaos: Ins Lager gebracht, versucht Aeneas zornig, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen (387), und fordert dann, als dies nicht gelingt, seine Gefährten auf, das Geschoß herauszuschneiden und ihn sogleich wieder in den Kampf zurückzuschicken (389f.), woraufhin schon der Arzt Iapyx herbeigeeilt ist (391). Liegt in dieser Gewichtsverlagerung von der eigentlichen Verwundung hin zu der Reaktion des Helden und in seiner Begierde, den Schmerzen zum Trotz in den Kampf zurückzukehren, bereits ein auffalliger Kontrast zu Homer, so läßt Vergil den Trojaner wie in bewußter Anspielung auf den „kindlichen Trost", den Menelaos Agamemnon zuspricht, unerschüttert Haltung bewahren, als der Arzt die Wunde behandelt und er sich neben seinem Schmerz der Sorge und den Tränen seiner Gefährten gegenübersieht: Aen. 12,3 87

441

saevit et infracta luctatur harundine telum eripere auxilioque viam, quae proxima, poscit: ense secent lato vulnus telique latebram rescindantpenitus, seseque in bella remittant (...)

Hieraufhat, unter Verweis auf das zitierte Scholion, schon Schlunk (1974, 90f.) aufmerksam gemacht.

II. Ethische Exegese

158 399

Aeneas magno iuvenum et maerentis Iuli concursu lacrimis immobilis (...)

Der Vergleich beider Szenen vermittelt so den Eindruck einer Kontrastimitation, durch die Vergil den Vergleich zwischen dem von der antiken Homerkritik als μαλθακευόμενος belächelten Menelaos und der Standhaftigkeit des Aeneas provozieren wollte. Speziell das lacrimis immobilis erinnert zudem werkimmanent an eine Haltung, durch die sich Aeneas schon im Rahmen der Karthagoepisode, wo er sich den Tränen der Dido gegenübersah, bewähren mußte und die die antike Homerexegese auch am Verhalten des Odysseus positiv hervorgehoben hatte, als dieser den Tränen Penelopes gegenüber standhaft blieb442. Die Frage, ob dieser primär auf den Zusammenhang des 4. Iliasbuches zielende Effekt einer Kontrastimitation von einem antiken Publikum erkannt worden ist, läßt sich in diesem Falle mit annähernder Sicherheit positiv beantworten: So bemerkt zunächst Servius bzw. seine Vorlage zu dieser Stelle443: saevit] scilicet, quia non potest in beila procedere: vel quod abstractus a bellis sit. et bene viro forti servat dignitatem, qui nihil molliter facit in tarn aspero vulnere: nam ideo 'infracta luctatur harundine'. Gerade diese dignitas des tapferen Kriegers aber hatten die Homerkritiker im Falle des Menelaos vermißt. Die Feststellung, daß Aeneas nihil molliter facit, scheint wie eine Erinnerung an den Menelaos μαλϋακευόμενος der Iliasstelle - wiederum ein recht deutlicher Beleg dafür, daß die Interpretamente der Homergrammatik Eingang in die Vergilkommentierung gefunden haben444. Die Kritik der Homerexegese an dem Bild des verwundeten 442

443 444

Siehe S. 127. - Vor dem Hintergrund dieser Menelaos-Remimszenz im 12. Aeneisbuch ist daran zu erinnern, daß auch das (anfangliche) Zögern des Aeneas, Turnus zu töten, in der Schlußszene desselben Buches (12,940ff.) eine Iliasszene zum Vorbild hat, in deren Mittelpunkt Menelaos steht: dieser zögert - ein in beiden homerischen Epen singuläres Verhalten! - , einen ihm unterlegenen Gegner (Adrast) zu töten (6,52ff). Gibt aber in der Aeneis der Anblick von Pallas' geraubten Waffen fur Aeneas den Ausschlag, keine Gnade zu gewähren, so muß in der Ilias Agamemnon intervenieren, um Menelaos zum Todesstreich zu verhärten. Wenn man gelten läßt, daß Vergil diese Härte des Aeneas nicht nur als gerechtfertigt, da aufpietas gegenüber Pallas und Euander beruhend, sondern geradezu notwendig verstanden wissen wollte, und wenn man berücksichtigt, daß die antiken Interpreten gerade in der Vorbildszene des 6. Iliasbuches von Homer die μαλϋακία des Menelaos vorgeführt sahen (s.o. S. 155 Anm. 436), so ergibt sich daraus folgende Deutung: Vergil suchte über die erneute Reminiszenz an den Atriden auch in dieser zentralen Szene die Selbstüberwindung des Trojaners, der hierbei ganz auf sich allein gestellt ist, positiv herauszuheben - ja sogar anzudeuten, daß eine Entscheidung des Aeneas fur die Schonung des Gegners nicht nur als ein Zeichen von dementia, sondern angesichts der Verpflichtung gegenüber dem Toten eben auch von mollitia zu werten gewesen wäre. Auf ihn verweist Schlunk 1974, 91. Siehe o. S. 14.

3. Aeneas

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Menelaos könnte ihm also bekannt gewesen sein, die Verbindung zwischen dem Menelaos des 4. Iliasbuches und dem Aeneas des 12. der Aeneis aber war den Vergilinterpreten offensichtlich, weshalb der Bemerkung Schlunks zuzustimmen ist, daß ohne den Vergleich mit dem Menelaos der Ilias „Servius's comment would have little point" (1974, 91). Die Beobachtung der Vergilscholien läßt sich jedoch noch durch zwei wesentlich frühere Zeugnisse indirekter Aeneiskommentierung untermauern. So bietet die Wiedergabe der Verwundungsszene im 4. Iliasbuch in der Ilias Latina wie so häufig einen aufschlußreichen Beleg dafür, wie ihr Verfasser für seine Homeradaptation sekundär auf vergilische Szenen zurückgegriffen hat, und zwar bevorzugt auf solche, in denen der Aeneisdichter selbst den zu übertragenden homerischen Zusammenhang imitiert hatte. Hier verleiht der Bearbeiter „seinem" Menelaus die stoischen Züge des Aeneas aus der Parallelszene des 12. Buches: Wie Homer und Vergil (den Aeneas) läßt er seinen Menelaus zunächst die Sicherheit des Lagers aufsuchen, betont dann jedoch in Abweichung von Homer, daß der Atride unmittelbar nach der Heilung der Wunde in den Kampf zurückkehrt; er entspricht auf diese Weise nicht dem homerischen Menelaos445, sondern Aeneas, wenn auch dieser in die Schlacht zurückdrängt: 3 49

excedit pugna gemebundus 446 A trides castraque tuta petit447, quem doctus448 ab arte paterna Paeoniis449 curat iuvenis Podalirius herbis. itque iterum in caedes horrendaque proelia victor.

Einen noch deutlicheren Beleg dafür, daß die Kontrastimitation Vergils erkannt wurde, gibt Silius Italicus: Im 5. Buch der Punica schildert er die Verwundung des Karthagers Mago (319f.) und das Herbeieilen seines Bruders Hannibal, der um das Leben des Verletzten bangt (344ff.) und für ärztliche Versorgung der Wunde sorgt (35Iff.). Das homerische Vorbild ist unverkennbar, Mago und Hannibal erscheinen wie schon in Silius' Nachgestaltung der Dolonie (unter zusätzlicher Verarbeitung der vergilischen Nisus-Euryalus-Episode450) als Pendant zum Brüderpaar Agamemnon445

Bei Homer wird Menelaos erst zu Beginn des folgenden Buches (II. 5,50ff.) wieder erwähnt. Daß er in den Kampf zurückgekehrt ist, erhellt nur κατά τό σιωπώμενον aus der Angabe, daß er einen Gegner tötet. 446 vgl. Aen. 12,398 stabat acerba fremens (sc. Aeneas). 447 Vgl. Aen. 12.385 Achates /Ascaniusque comes castris statuere cruentum. 448 Vgl. Aen. 12,393f. 449 Vgl. Aen. 12,400f. ille (sc. der Arzt Iapyx) retorto /Paeonium in morem ... /multa manu medica Phoebique potentibus herbis / nequiquam trepidat, etc. 450 Siehe S. 43f.

II. Ethische Exegese

160

Menelaos der Ilias. Zugleich stand Silius deutlich der Zusammenhang des 12. Aeneisbuches vor Augen, wenn er den Arzt Synhalus und seine Tätigkeit in Wendungen und Motiven beschreibt, die der entsprechenden Schilderung des Arztes Iapyx aus der Aeneis entlehnt sind, vgl. Aen. 12,393f. Sil. 5,357f. Aen. 12,401

420 Sil. 5,366ff.

ipse suas artis, sua munera, laetus Apollo dabat...., ipse olim antiquo primum Garamanticus Hammon scire pater dederat Synhalo (morsus [etc.] sedare medendo) Paeottium in morem senior succinctus amictu multa manu medica Phoebique potentibus herbis nequiquam trepidat, nequiquam spicula dextra sollicitat (...) fovit ea minus Ivmpha longaevus Iapyx-, tum, proavita ferens leni medicamina dextra, ocius, intortos de more astrictus amictus, mulcebat Ivmpha purgatum sanguine vulnus.

Nun aber die Reaktion Magos auf seine Verwundung: Wie Menelaos sucht er den besorgten Bruder zu beruhigen (fratemas pectore curas / pellebat dictis, 370f.) - jedoch in Worten, die deutlich von Todesverachtung, mithin einer der Standhaftigkeit des Aeneas verwandten Haltung zeugen sollen: Sil. 5,372

(...')parce metu, germane, meis medicamina nulla adversis maiora feres; iacet Appius hasta ad manes pulsus nostra, si vita relinquat, sat nobis actum est, sequar hostem laetus ad umbras'.

Beim Verfasser der Ilias Latina und vielleicht noch deutlicher bei Silius gibt demnach die für sie typische kontaminierende Imitationstechnik einen guten Beleg dafür, daß das hier angenommene Bemühen Vergils, sein Vorbild durch 'Korrektur' des von der Homerexegese kritisierten Menelaos zu überbieten, nicht nur von der an der Homerkommentierung geschulten Vergilgrammatik, sondern auch von der epischen Tradition erkannt wurde und die literarische Aneignung der Aeneis stark beeinflußt hat. Vergils Bestreben, die Haltung des Aeneas wirkungsvoll von der des Menelaos in ähnlicher Situation abzuheben, läßt sich noch in einem weiteren Detail festmachen, das erneut erst der Blick auf die antike Kommentierung augenfällig werden läßt: Menelaos, so heißt es bei Homer, wird vom herbeieilenden Arzt Machaon „von den besten Kämpfern [der Griechen] umgeben" angetroffen (4,21 lf.). Das Detail ist der überaus wachen Homerkritik nicht entgangen: Die beiden Verse seien zwar prinzipiell entbehrlich [da sie zur Weiterentwicklung der Handlung nicht beitragen], jedoch verstärke es

4. Turnus

161

die έμφασις, wenn der Held von erschütterten Freunden umdrängt werde (Schol. [bT] 4,211-2). Das Verspaar wurde in der Echtheitsdebatte also offenbar zur Disposition gestellt. Blickt man auf die Aeneisszene, so wird deutlich, daß Vergil die weinenden Gefährten den verwundeten, standhaften Aeneas, dem sie keine Tränen entlocken, umdrängen läßt, um zu der Haltung des Helden in dieser exemplarischen Situation einen Kontrast zu schaffen. Das von Homer übernommene Detail hat so eine neue, pointiertere Motivation erhalten; auf diesen Kontrast hin interpretierte offenkundig auch die antike Vergilexegese diese Stelle: Tib. Donat. 2,600,3-5 Geo. et plurimis circumfitsis ac filio lacrimantibus, ipse inmobilis hoc est a vulnere atque omnium fletu constantiae firmitate dissimulans. Serv. Aen. 12,400: lacrimisque inmobilis] non suis, sed illorum (...) Sind somit die „stoische" Selbstbeherrschung des Aeneas im Schmerz und sein ungebrochener Kampfwille ohne Rücksicht auf die eigene Verwundung durch den Vergleich mit der homerischen, von den antiken Interpreten kritisierten Schilderung des Menelaos wirkungsvoll hervorgehoben, so bereiten sie werkintern die seelische Verfassung des Helden im Entscheidungskampf gegen Turnus vor, die Vergil kurz darauf durch ein Gleichnis, das an späterer Stelle noch zu behandeln sein wird, besonders veranschaulicht und mit der seines Gegners kontrastiert 451 .

4. Turnus a) Turnus und Hektor Turnus betritt die Bühne des maius opus zwar nach den Worten der Sibylle als ein alius Achilles (6,89) 452 . Doch in Entsprechung zu dem Verhältnis, in dem die Großstruktur der Aeneis zum Aufbau der Ilias steht, indem die vergilischen Latiner als Angegriffene und schließlich Überwundene an die homerischen Trojaner erinnern, übernimmt er als Anführer der Latiner strukturell die Rolle des Hektor der Ilias. Wenngleich sich der Rutulerführer auch selbst ausdrücklich die Rolle eines alius Achilles zuerkennt (9,742), läßt Vergil in der Nachgestaltung zentraler Szenen der Ilias über diesen 451

452

Siehe S. 177ff. - Diese Selbstbeherrschung des Aeneas im körperlichen Schmerz korrespondiert mit einer solchen im seelischen Schmerz, die er sowohl nach der Landung in Karthago (l,208fF.) als auch beim Abschied von Dido (4,448f.) beweisen muß (s. S. 89. 127). Zu dieser Identifizierung des alius Achilles s. S. 192 mit Anm. 540.

162

II. Ethische Exegese

tieferen Zusammenhang keinen Zweifel: So greift Turnus, um nur einige wichtige Entsprechungen zu nennen, im 9. Aeneisbuch so verblendet an wie Hektor im 8. Buch der Ilias, tötet Pallas wie Hektor den Patroklos, reagiert auf das Zureden von Latinus und Amata zu Beginn des 12. Buches wie der Trojaner, wenn er sich weigert, dem Gegner auszuweichen, und unterliegt schließlich Aeneas im Schlußkampf, wie Hektor durch die Hand Achills den Tod gefunden hatte453. Im Verlauf der bisherigen Untersuchung ist umrißhaft bereits ein spezifisch antikes Verständnis der homerischen Hektorgestalt der Ilias erkennbar geworden, das sich aus den überkommenen Zeugnissen der ethischen Homerexegese rekonstruieren läßt. So wurde in dem Vergleich der NisusEuryalus-Episode mit ihrem homerischen Vorbild Dolonie auf die (wertende) Ausdeutung des Verhaltens der Trojaner und ihres Anfuhrers Hektor in einer exemplarischen Situation hingewiesen und der Einfluß dieser Interpretation auf die Charakterisierung der Latiner bzw. der Rutuler und an ihrer Spitze des Turnus wahrscheinlich gemacht454. Diese Hinweise in den Scholien stehen, wie dann im weiteren deutlich wurde, nicht vereinzelt da: In αταξία und θόρυβος, Undiszipliniertheit und Unruhe, erblickten die Interpreten von Homer geschaffene Wesenszüge der 'barbarischen' Trojaner und auch ihres Anfuhrers Hektor, und es hat sich gezeigt, daß dieser Aspekt antiker Iliasdeutung die Entfaltung des furor-Gedankens der Aeneis überall dort, wo Vergil die entsprechend gedeuteten homerischen Vorbilder heranzog, mitbestimmt haben dürfte455. Der furor, der speziell den Charakter des Turnus in der Aeneis maßgeblich prägt, steht so in einer inneren Beziehung zum ατακτον και θορυβώδες des homerischen Hektor. Deutlich wurde auch, daß Vergil bei der Ausgestaltung von Turnus' Waffenraub in dem Leitgedanken der 'Überheblichkeit im Glück' an die antike Interpretation der entsprechenden Spoliierungsszene in der Ilias - mit Hektor als Frevler angeknüpft hat456. In der antiken Homerexegese hat es jedoch daneben auch eine durchaus positive Würdigung Hektars, als eines Exemplum für den Dienst an der Gemeinschaft, gegeben, und in der Untersuchung der Karthagoepisode wurde gezeigt, daß als Modell für die Abwendung des Aeneas vom 'egoistischen Wohlleben' an der Seite Didos hinter der Odysseusgestalt als primärem Vorbild auch das Verhalten dieses 'anderen' Hektor gestanden haben

453 454 455 456

Siehe Knauer 1964, 343. Siehe S. 27ff. Siehe S. 65ff. Siehe S. 62f.

4. Turnus

163

457

dürfte . Ob dieser Hektor der publica virtus (Ον. trist. 4,3,76) als Typus der ethischen Homerkommentierung auch fur den Charakter des Rutulers Pate gestanden und in welcher konkreteren Form der 'andere', der barbarus Hector (Prop. 3,8,31) zum Modell für den barbarus Turnus (Tib. 2,5,48) wurde, soll im folgenden an drei zentralen Szenen der Aeneis näher untersucht werden. Eine Bilanz des Verhältnisses zwischen Turnus und seinen homerischen Vorbildern in ihrer antiken Interpretation kann in dieser Untersuchung aber erst dann gezogen werden, wenn auch die von Vergil geschaffenen Reminiszenzen an den Paris, vor allem aber an den Achill der Ilias gewürdigt worden sind458. In einer zentralen Szene des 9. Aeneisbuches läßt Vergil einige Wesenszüge des Turnus deutlich hervortreten: in seiner Reaktion auf die Verwandlung der Trojanerschiffe in Nymphen, die auf diese Weise von Zeus - auf Bitten der Berecynthia (9,82ff.) - vor dem Verbrennen durch die Fackeln der Rutuler errettet werden (107ff.), und seiner anschließenden Stellungnahme, einer paränetischen, 'programmatischen' Rede, die er an seine Mitkämpfer richtet. Während die Rutuler, einschließlich des Messapus, in Staunen über dieses Wunder begriffen sind (123f.), die Pferde unruhig werden, ja selbst der Tiber sein Wasser vom Meer zurückzieht, also die Anteilnahme auch der Natur das Ungeheuerliche des Ereignisses zu zeigen scheint (124f.), läßt sich der audax*i9 Turnus in seinem Selbstvertrauen (fiducia, 126) nicht erschüttern - seine Reaktion hebt knapp und deutlich das verseinleitende at von der seiner Umgebung ab - und feuert seine Gefährten in einer Rede an (128ff.). In ihr gibt er seine (erkennbar falsche460) Deutung des soeben wahrgenommenen Ereignisses: Jupiter habe den Trojanern die gewohnte Unterstützung (auxilium solitum, 129)461 entzogen, so daß ihnen nach Vernichtung ihrer Flotte jede Fluchtmöglichkeit genommen sei, da sie vom Land her von einer Übermacht der Gegner bedrängt würden (130ff.). Den göttlichen Auftrag (fatalia responsa deorum), auf den die Trojaner unter Aeneas ihren Anspruch auf die Heiratsverbindung mit den Latinern und 457

Siehe S. 123ff.

458

Siehe die Zusammenfassung S. 220ff. Zur Bedeutung des Epithetons für die Charakterisierung des Rutulers ausfuhrlich Schenk 1984, 27-35. Das Prodigium war durch die vox horrenda aus der Höhe, die auch die Rutuler (und mit ihnen Turnus) vernommen hatten (112), klar als Zeichen göttlicher Unterstützung für die Trojaner erklärt worden (114ff.). Hierin dürfte, wie schon Tib. Donatus (Con.-N. z. St.) bemerkt hat, eine Spitze gegen die angebliche Gewohnheit der Trojaner liegen, ihr Heil in der Flucht zu suchen (vgl. Hardie z. St.).

459

460

461

164

II. Ethische Exegese

ihrem König stützen, weist er zurück, behauptet, eigene fata zu haben, und beansprucht wegen des „Raubes" der Lavinia, seiner coniunx, dasselbe Recht, die Trojaner auszurotten, wie Menelaos462 dies besessen habe (138f): nil me fatalia terrent, si qua Phryges prae se iactant, responsa deorum; 135 satfatis Venerique datum, tetigere quod arva fertilis Ausoniae Troes. sunt et mea contra fata mihi, ferro sceleratam exscindere gentem coniugepraerepta (...)

Aen. 9,133

Schließlich droht er den Belagerten eine Wiederholung von Trojas Fall an; allerdings würden ihre neuen Angreifer sie diesmal mit geringerem Aufwand, als die Griechen ihn betrieben hatten, in offener Schlacht und schon am nächsten Tag bezwingen (152ff.). In dieser ersten und, abgesehen von der Replik auf die Worte des Drances im 'concilium' des 11. Buches, einzigen längeren Rede des Turnus läßt Vergil den Rutuler seine Haltung zu den Trojanern und zum fatum Jupiters prägnant zum Ausdruck bringen; sie trägt so wesentlich zur indirekten Charakterisierung des Turnus bei. Ihr liegen im wesentlichen zwei Szenen der Ilias zugrunde463, in deren Mittelpunkt jeweils Hektor steht. An ihn, strukturelles Pendant zu Turnus gerade auch in dieser Großszene464, läßt Vergil den Rutuler kaum zufallig in seiner Rede ausdrücklich erinnern (haud sibi cum Danais rem faxo et pube Pelasga/ esse ferant, decimum quos distulit Hector in annum, 154f.). Am Ende des 8. Iliasbuches erklärt Hektor nach Abschluß des ersten Kampftages, nur die verfrüht hereingebrochene Nacht habe die Schiffe der Gegner vor dem Verbrennen bewahrt (500ff.) (> die Schiffe der Aeneaden wurden soeben davor 'gerettet'), die Trojaner sollten sich fur die Nacht bereitmachen (> Aen. 9,156-158) und Wachen aufstellen (vgl. Aen. 9,159-167), um die Griechen an der Flucht zu hindern ( Aen. 9,158 pugnam sperate parari) mit dem Sieg über viele Gegner an (536ff.) (vgl. Aen. 9,153-155). Die Szene wird mit der Aufstellung der Wachposten abgeschlossen, die Griechen tun kurz darauf das Ihre (II. 9,85f.); mit einer nahezu wörtlichen Wiedergabe dieser letzteren Verse (Aen. 9,161f.) schließt Vergil die Rede des Turnus ab465 und leitet damit wie Homer Presbeia und Dolonie (Buch 9 und 10) seine Nisus462

463 464 465

Das „Homerzitat" 9,13 8f. verweist allerdings noch auf einen ganz anderen Zusammenhang der Ilias und bringt Turnus in Parallele zu A c h i l l : siehe S. 202. Siehe Knauer 1964, 272; Schenk 1984, 67f. mit Verweis auf Klingner 1967, 556. Vgl. Knauer 1964, 270-275. Siehe hierzu ferner S. 347.

4. Turnus

165

Euryalus-Episode ein. - Vor Beginn der Kämpfe dieses Tages hatte Hektor wie Turnus in einer kurzen Rede ein Götterzeichen (dreimaliges Donnern) gedeutet, jedoch - im Gegensatz zum Rutuler - zutreffend, als Zeichen des trojanischen Erfolgs (175f.). Anders dann im 12. Buch: Unmittelbar v o r dem Schiffsbrand stehen die Trojaner ebenso wie - mit verkehrten Fronten die Rutuler unmittelbar n a c h Verwandlung der Schiffe vor der Mauer des gegnerischen Lagers und schicken sich an, die Schiffe der Griechen mit Fakkeln in Brand zu setzen und die Mauer einzureißen (197ff). Ein Vogelzeichen läßt sie jedoch zögern (200ff.). Der Seher Polydamas deutet es als ein Verbot des Zeus an die Trojaner, um die Schiffe zu kämpfen (21 Iff.) 466 . Die Replik Hektors ist scharf: Diese Deutung des Sehers gefalle ihm nicht; er kümmere sich nicht um Vogelzeichen, kenne die (anders lautende) Διός βουλή vielmehr selbst und halte sich an sie. Das beste Vogelzeichen sei im übrigen dasjenige, das zum Kampf für die Heimat auffordere (238ff): II. 12,237

240 243

τύνη δ' οίωνοΐσι τανυπτερύγεσσι κελεύεις πείϋεσϋαι, των οΰ τι μετατρέπομ' ούδ' άλεγίζω, εϊτ' έπι δεξί' ΐωσι προς ήώ τ' ήέλιόν τε εϊτ' έπ' αριστερά τοί γε ποτι ζόφον ήερόεντα. ημείς δε μεγάλοιο Διός πειϋώμεθα βουλή (...) εις οιωνός άριστος άμύνεσθαι περι πάτρης.

Hektor setzt sich so über das Seherwort hinweg und beachtet das göttliche Zeichen nicht. Ebenso mißachtet Turnus durch seine falsche Deutung die Verwandlung der Schiffe in Nymphen, außerdem aber auch - nach eigener Aussage - die fatalia ... responsa deum. Seine Begründung hierfür - der Hinweis auf seine eigenen fata - (136ff.) entspricht innerhalb seiner Argumentation der Maxime, mit der Hektor sein Handeln gegenüber Polydamas rechtfertigt (238ff) Diesen beiden von Hektor beherrschten Situationen, die Vergil deutlich als Vorbild für die Turnusszene des 9. Buches dienten, galt in der antiken Homerexegese besondere Aufmerksamkeit. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Homer vor allem in der Kommentierungstradition, die den exegetischen Iliasscholien zugrundeliegt, als zuweilen subjektiver, wertender Erzähler interpretiert wurde und hierbei die Trojaner und insbesondere ihren Anführer mitunter in ein kritisches Licht rückte. Dies tat er nach Auffassung der Interpreten besonders in den beiden Reden des 8. und 12. Iliasbuches, und aus der Scholieninterpretation ist ein im Umriß schon nahezu vollstän466

Daß hier das göttliche Zeichen für die Angreifer ungünstig ist und die Reaktion aller Beteiligten geschildert ist (II. 12,208), verbindet die Szene des 12. Iliasbuches zusätzlich mit der Aeneisszene (vgl. Aen. 9,123f.).

166

II. Ethische Exegese

diges Bild dieses 'Typus' Hektor innerhalb der ethischen Homerexegese zu gewinnen. So stellte der Dichter die Prahlsucht (αλαζονεία) Hektors in dieser ersten Rede, die man als durchgängiges Kennzeichen seines 'barbarischen' Charakters auffaßte467, der Zurückhaltung der Griechenfuhrer gegenüber. Sie sprach nach Auffassung der Interpreten hier aus seiner Ankündigung, einen Fluchtversuch der Gegner zu unterbinden (Schol. [T] 8,515) und am nächsten Tag viele von ihnen zu töten, und prägte seine Grundhaltung in dieser Rede (Schol. [b] 8,523). Zu der oben erwähnten kurzen Rede wenig zuvor, in der Hektor vor den Kämpfen angekündigt hatte, die Griechenschiffe in Brand zu setzen, nachdem er wie erneut im 12. Buch und wie Turnus im 9. Aeneisbuch ein Götterzeichen gedeutet hatte (8,173-183), hatten die Interpreten bemerkt, Hektors übermäßige Siegeszuversicht, in der er περι άδηλων Versprechungen mache, unterscheide sich zu seinem Nachteil von der Mäßigung etwa des Aias: dieser hatte vor seinem Zweikampf mit Hektor nur verkündet, er „meine" (δοκέω: 7,192) zu siegen (Schol. [bT] 7,192)468. - Die Verse 535-537 der Abendrede, in denen Hektor Diomedes für den morgigen Tag den Untergang schwört, waren in ihrer Echtheit umstritten, wurden aber nach Auskunft des A-Scholions zu 535-7 von Aristarch gehalten δια τό καυχηματικωτέρους είναι τους λόγους - ein Hinweis darauf, daß die Beurteilung dieser Rede als eines 'exemplum iactationis' nicht auf die den exegetischen Scholien zugrundeliegende Kommentierungstradition beschränkt war, die Hektor ohnehin eher kritisch beurteilte. Zu dem die Rede abschließenden Wunsch Hektors, unsterblich zu sein (538ff.), bemerkten die Interpreten: βαρβαρικόν τό εύχεσϋαι τά αδύνατα (Schol. [bT] 8,538-9). Die andere zentrale Rede Hektors im 12. Buch dagegen wurde ambivalent gedeutet: Einerseits kennzeichne die harsche Zurückweisung der Seherworte „nach Tyrannenart" in dieser Szene die hybride Verblendung Hektors,

467 468

Vgl. etwa Schol. [b] 7,90; [bT] 8,182; [bT] 11,197-8; [bT] 16,833-4; vgl. [bT] 14,366. Die Auffassung, Homer habe durch die Art solcher Versprechungen Griechen und Trojaner in der Gegensätzlichkeit ihres Wesens - dabei die Griechen idealisierend - charakterisieren wollen, war zumindest im griechischen Bereich weit verbreitet; außerhalb der Iliasscholien findet sie sich etwa auch bei Plutarch (mor. 29e-f), hier mit Bezug auf die Dolonie (Dolons Erfolgsversprechen gegenüber Hektor) und wiederum auf die Ankündigungen Hektors und Aias' vor ihrem Zweikampf. Doch selbst die exegetischen Iliasscholien betreiben nicht durchweg solche Schwarz-Weiß-Malerei; so wird die Prahlerei Achills, der sonst wie kein anderer Griechenheld nach Auffassung der Interpreten von Homer idealisiert wird, gegenüber Hektor in II. 22,270ff. durchaus kritisch beleuchtet (Schol. [bT] 22,270-1: ή καυχησις ύπέρ άνΟρωπον ούκ άνατιθέντος τή τύχη τάς έλπίδας).

4. Turnus

167 469

der die Götter nicht ehre und ihren Zeichen nicht zu folgen bereit sei . Ihr wurde die Haltung des Odysseus positiv gegenübergestellt, offenbar mit Bezug auf eine Szene in der Dolonie, in der dieser ein Vogelzeichen bemerkt und ihm gehorcht hatte: Schol. [T] 12,231: ούκέτ' έμοι φίλα] (...) τυραννικώς δέ· τί γάρ, εί τά συμφέροντα λέγει τω πλήϋει; Schol. [Τ] 12,237-8: τύνη δ' οΐωνοΐσι < - κελεύεις / πείϋεσΟαι > ] ό φρόνιμος και θεούς τιμήσει και οίωνοΐς πείσεται, ώς ό ' Οδυσσεύς [vgl. 10,274-282] [b] όπερ "Εκτωρ ού συνίησιν.

Wenngleich die Hektorgestalt in den exegetischen Iliasscholien, denen, wie schon häufiger zur Sprache kam, die traditionelle Auffassung einer prinzipiell 'progriechischen' Parteinahme Homers zugrundelag470, häufig kritisch beurteilt wurde471, so ist doch darauf hinzuweisen, daß die Kritik an seinen Worten in dieser Szene nicht Ausdruck einer pauschalen, völlig vergröbernden Negativdeutung darstellt; so wird etwa in den Scholien zum Trojabesuch Hektors im 6. Iliasbuch nicht nur das Verhalten des Helden generell höchst positiv bewertet (hierauf ist gleich zurückzukommen)472, sondern speziell auch seine ευσέβεια hervorgehoben (Schol. [T] 6,267-8), die in der Szene des 12. Buches eben vermißt wurde. In dieselbe Richtung weist der Umstand, daß nach Ansicht der Interpreten gerade in dieser Szene, in der Replik Hektors an Polydamas, die Liebe des Trojaners zu seiner Vaterstadt, die zusammen mit seinem Glauben, die Διός βουλή besser als sein Seher zu kennen, ja erst sein Fehlverhalten bewirkte, besonders positiv zum Ausdruck kam:

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472

Bei Eustathios (902,3) ist das verblendete Verhalten Hektors dem der sophokleischen lokaste zur Seite gestellt, die, ebenfalls verhärtet, der μαντική ihre Existenzberechtigung abspreche. - In ähnlicher Weise wie in der Szene des 12. Buches weist Hektor noch ein weiteres Mal ein fur die Griechen günstiges Vogelzeichen ab (13,82Iff.) und zeigt sich von der Todesprophezeiung des sterbenden Patroklos unbeeindruckt (16,859ff.). Den Rat des Sehers Polydamas - der hier allerdings nicht auf ein göttliches Zeichen gegründet ist lehnt Hektor in ähnlich grober Weise ab (18,285ff„ hierbei 285 = 12,231). Es wird deutlich, daß bei Homer dieser von den Homerkommentatoren hervorgehobene Wesenszug Hektors bereits angelegt ist. Siehe ferner Hainsworth zu 12,231-250. Siehe o. S. 28f. Kritische Interpretamente sind über die oben zitierten Stellen zu der Schlußszene des 8. Iliasbuches hinaus gesammelt bei Erbse 1969-88 VII, 131. Weitere Zeugnisse positiver Einschätzung Hektors ungeachtet der kritischen Grundtendenz femer bei Erbse 1969-88 VII, 130.

168

II. Ethische Exegese

Schol. [bT] 12,243: εις οιωνός άριστος] εκείνος μόνος άριστος οιωνός ό υπέρ πάτρης κελεύων άγωνίζεσθαι. κελεύει δέ ημάς φιλοπάτριδας είναι. Ps. Plut. 2,186,1: όπως δέ και ύπέρ πατρίδος χρή πράσσειν, έν τούτω μάλιστα έδήλωσεν [sc. Homer] „εις οιωνός (...") Dieser letzte zentrale Satz der Hektorrede im 12. Buch scheint in der Antike zu den bekanntesten Homerversen gehört und geradezu sprichwörtliche Bedeutung gehabt zu haben473. Die schon an anderer Stelle474 erwähnte positive Auffassung Hektars als eines Vorbilds für den Einsatz für die Gemeinschaft scheint außer an der Hektor-Paris-Begegnung im 6. Iliasbuch vor allem an dieser Aussage festgemacht worden zu sein. Hektar erscheint, wie erinnerlich, auch außerhalb der eigentlichen Homerkommentierung etwa in der römischen Liebeselegie475, vor allem im Gegensatz zu Paris, als Exemplum für 'publica virtus'. Diese antike Interpretation der beiden Hektorreden hat recht deutlich in ihre Nachgestaltung durch Vergil Eingang gefunden: Während die „Prahlrede" Hektars im 8. Buch in ihrer Tendenz bei objektiver Betrachtung zunächst nur wenig von ähnlichen Redetypen anderer Kämpfer auch auf griechischer Seite abzuweichen scheint, aber eben auf solche Unterschiede im Ton interpretiert wurde, unterscheidet die 'iactatio' des Turnus ihn ganz klar von Aeneas und seinen Mitkämpfern wie Pallas und Tarchon; die einzige andere vergleichbare Prahlrede der Aeneis stammt bezeichnenderweise aus dem Munde seines Schwagers Numanus Remulus (9,598ff.), der hierfür von Ascanius bestraft wird. Dabei geht Turnus' Ankündigung der Erfolge des nächsten Tages an Hyperbolik weit über jene Hektars hinaus: Turnus wird nicht nur gelingen, was den Griechen einst zuteil wurde, er benötigt hierzu keine göttlichen Waffen, keine tausend Schiffe und kein Epeiospferd und wird es viel schneller schaffen als sie, decimum quos distulit Hector in annum. Sein bedingungsloses Versprechen zukünftiger Erfolge, gewissermaßen 'περι άδηλων', unterscheidet sich etwa von dem Gebet des Aeneas später beim Abschluß des foedus: sin nostrum adnuerit nobis victoria Martern (ut potius reor476 et potius di numine firment) (12,187f.)477. Eine überaus effektvolle Steigerung der αλαζονεία Hektars im Hinblick auf 473

Siehe Tolkiehn 1896, 253 mit Verweis auf Cie. Att. 2,3,3; Plin. epist. 1,18,4; Apostol. 6,55a.; vgl. 1896, 272. 474 Siehe S. 123ff. 475 Siehe S. 124ff. 476 Ygi ^ an den Worten des Aias positiv vermerkte ,,δοκέω" der Scholien ([bT] 7,192). 477 y g i auch die Worte des Ascanius in 9,267 si vero capere Italiam seeptrisque potiri / contigerit victori etpraedae dicere sortem (siehe S. 52).

4. Turnus

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Taten, die er erst noch vollbringen muß, ist also damit erzielt, daß Turnus kraft seiner fiducia478 die Erfolge der Griechen gegen Hektor übertreffen wird, obwohl er im Hinblick auf das τέλος der Eposhandlung in dieser Situation, wie der Dichter sehr deutlich werden läßt, bereits ihm, dem Unterlegenen, entspricht479. Wenn die Homerexegese in dem Verhalten Hektors gegenüber der Manifestation göttlichen Willens für sich genommen, zunächst ohne Berücksichtigung ihres Motivs, außerdem Verblendung charakterisiert fand, so ist auch diese bei Turnus gesteigert: Teilt er die übereilte Mißdeutung des Prodigiums noch mit dem Hektor des 12. Buches, so geht er in seiner generellen Ablehnung des göttlichen Willens als Gegner der fata Jupiters über diesen hinaus430. Die Kritik an Hektors Ablehnung der Seherdeutung, die Homer nach Auffassung der Interpreten suggerierte (τί γάρ, εΐ τά συμφέροντα λέγει τω πλήϋει, sc. Polydamas), ist in der Aeneis impliziert, wenn Turnus durch die Fehldeutung des Prodigiums der Durchsetzung des Faunusorakels entgegensteuert, demzufolge externi venient generi, qui sanguine nostrum (sc. der Latiner)/nomen in astraferant (etc.) (7,98f.). Die Fehldeutung des Götterzeichens im speziellen wie der göttlichen Pläne überhaupt findet ihre Entsprechung in der Unwissenheit, durch die Vergil den Rutulerfuhrer kurz zuvor zu Beginn des Buches gekennzeichnet hatte, als Turnus Iris gefragt hatte, von wem sie geschickt werde (18ff). Schon hier wurde von dem Rutuler ein 'göttliches' Zeichen, ein Regenbogen, falsch gedeutet481; dagegen hatte der 'prahlende' Hektor des 8. Buches zuvor ein dreimaliges Donnern zutreffend als Zeichen göttlicher Unterstützung interpretiert. Der Gegensatz, in den die Homerexegese Hektor und Odysseus im Hinblick auf ευσέβεια brachte, ist von Vergil auf Turnus und die Trojaner bzw. Aeneas übertragen, der insbesondere kurz zuvor das von Venus gesandte Prodigium (8,523ff.) richtig gedeutet hatte, während seine arkadischen Begleiter noch ebenso wie die Leute des Turnus von Schrecken erfaßt waren - beide Sze478

Zur Bedeutung dieses Begriffs bei Vergil s. S. 35 mit Anm. 113. Hier ist abermals ein Beispiel fur das eigentümliche, von Vergil sehr bewußt geschaffene Gegeneinander von äußerem und innerem Zusammenhang zwischen Aeneis- und Iliasgeschehen zu greifen: Turnus nimmt strukturell in dieser Szene wie sonst im maius opus die Hektorrolle ein, stellt sich äußerlich aber in die Nachfolge des Menelaos bzw. - an anderer Stelle - Achills (s. S. 193) - eine Diskrepanz, die nachdenklich stimmen, den äußeren Bezug in Frage stellen und auf den strukturellen Zusammenhang hinweisen soll. 480 V g l Dingel zu 128-168. 481 Siehe Hardie zu 9,19-21: „the caeli discessus, ... recognized as an (ill) omen in technical treatises on augury (cf. Cie. de div. 1.97 with Pease ad loc.)". Das Motiv der Unwissenheit greift Vergil kurz vor dem Schlußkampf des Turnus gegen Aeneas in 12,634f. in deutlicher Reminiszenz an 9,18f. (Iri, decus caeli, quis te mihi nubibus actam / detulit in terras?) nochmals auf: sed quis Olympo / demissam (sc. Iuturnam) tantos voluit te ferre labores?

479

170

II. Ethische Exegese

nen scheinen aufeinander bezogen, vgl. 8,530f. obstipuere animis alii, sed Troius Heros / agnovit sonitum mit 9,123ff. obstipuere animis Rutuli (...), at non audaci Turno fiducia cessit. Vor allem aber wird Aeneas kurz darauf während seiner Tiberfahrt seinerseits mit dem Phänomen dieser wunderbaren Metamorphose konfrontiert, als ihm die Nymphenschar begegnet und Bericht erstattet (10,230ff.), und „stutzt" hier ebenso wie die Rutuler (nicht aber Turnus) kurz zuvor, doch weicht diese Reaktion der Annahme des Phänomens als omen göttlicher Unterstützung, wie sie den pius Aeneas auszeichnet (249f. stupet inscius ipse / Tros Anchisiades, animos tarnen omine toiiityx*. Was Turnus den fatalia ... responsa deorum als 'eigene' fata entgegensetzt, kann sich nicht auf konkurrierende göttliche Offenbarungen beziehen483 und bedeutet so eine Umdeutung dieses Begriffs zu „that which is morally fitting" (Hardie z. St.), die Bestrafung der Aeneaden, die ihm seine coniunx geraubt hätten (138), oder gar „that which lies in the strength of my weapons" (in 12,95ff. wird er seine Lanze wie einen Gott anrufen)484, was ihn durchaus dem von Vergil ausdrücklich als contemptor deum qualifizierten Mezentius zur Seite stellt (vgl. 10,773ff.). Damit hat Vergil jedoch das Motiv der 'Vaterlandsliebe', die die Homerinterpreten speziell in derselben Szene des 12. Buches an Hektor exemplifiziert sahen, entscheidend abgeändert: In der Rede des Turnus entspricht ihm die Aussage, e r habe das ihm vom Schicksal gegebene Recht, die Teukrer wegen ihres Versuchs, Lavinia zu rauben, mit dem Schwert auszurotten, i h η schreckten die Göttersprüche nicht (nil me fatalia terrent (...) sunt et mea contra / fata mihi, ferro sceleratam exscindere gentem / coniuge praerepta, 137ff.). Turnus kämpft also anders als Hektor nicht für die Gemeinschaft, sondern fur seine eigenen Interessen, zumal Lavinia - anders als die von Paris dem Menelaos geraubte Helena - nicht einmal seine Verlobte ist485. Von einer Verteidigung Italiens gegen die fremden Eindringlinge aber, die dem Argument Hektors entsprochen hätte, fällt in der programmatischen Rede des Turnus kein Wort. Vergil 482

483

484 485

Es ist daran zu erinnern, daß Turnus und die Rutuler durch die vox horrenda aus der Höhe (9,112) dieselbe Deutung des Prodigiums wie Aeneas erhalten hatten. Auch Turnus sind natürlich die Orakel bekannt, die late volitans iam Fama per urbes / Ausonias tulerat (7,104f.) und die den König Latinus angewiesen hatten, seine Tochter den unsterblichen Ruhm bringenden Freiern aus der Fremde zu geben (7,5 8ff. 96ff.). Servius (zu 9,134) stellt lapidar fest: hoc falsum est quod dicit Turnus, sed in arte rhetorica tunc nobis conceditur uti mendacio (...). Vgl. Schenk 1984, 65. Siehe Hardie z. St. Vgl. Aen. 12,31, wo Latinus mit Bezug auf A e n e a s sagt, promissam eripui genero; siehe Hardie zu 138; Horsfall 1995, 156: „Turnus boasts and blusters, but, in truth, he is not affianced to Lavinia at the moment of Aeneas' arrival", vgl. 210 m. Anm. 121.

4. Turnus

171

läßt über die primär egoistischen Motive dieses Kampfes auch im weiteren kaum einen Zweifel: Aeneas findet mit seiner Forderung, Turnus solle sich dem Zweikampf stellen, die Zustimmung vieler Latiner, die den Krieg und insbesondere die hymenaei des Turnus verfluchen und ihn auffordern, ipsum armis ... decernere ferro, qui regnum Italiae et primos sibi poscat honores (ll,217ff), und der Dichter läßt Drances, so zwielichtig dessen Motive sind, die objektiv doch ohne Zweifel berechtigte Forderung an Turnus stellen, das ius proprium zugunsten der Interessen des Königs und der Heimat zurückzustellen (359)486. Die positive Herausstellung von Hektors selbstlosem Einsatz für die Vaterstadt durch die Homerexegese bot Vergil so die Möglichkeit, den Unterschied zwischen den beiden grundsätzlich in Parallele gebrachten Kämpfern in diesem Punkt deutlich hervortreten zu lassen. Blickt man auf die Karthagoepisode zurück, in der sich, wie erinnerlich, Aeneas von einem parisgleichen Leben abgewandt hatte und (wieder) in die Nachfolge Hektors eingetreten war, so wird hiermit deutlich, daß Vergil gerade denjenigen Wesenszug, den die ethische Homerexegese am Hektor der Ilias positiv herausgestellt hatte, auf A e n e a s übertragen, also um diesen 'inneren' Bezug zwischen Ilias- und Aeneishandlung die 'historische' Nachfolge des Aeneas ergänzt und vertieft hat. Dagegen, so lautet der aus der Analyse des homerischen Modells deutlich hervorgehende Befund, hat er eine Charaktereigenschaft des homerischen Hektor, die eher kritisch betrachtet wurde, seine Überheblichkeit, wie sie in der exemplarischen Situation des 12. Iliasbuches hervortrat, in deutlicher Anspielung auf ihn zu einer solchen des T u r n u s gemacht und noch gesteigert. Auch hier - wie schon in der Behandlung der Nisus-Euryalus-Episode deutlich wurde - entsprechen diese άνοια des Trojaners, wie sie die Homerexegese betonte, und die (wie sich zeigt, unangemessene) fiducia des Rutulers einander. In seiner Ablehnung der Forderung, die eigenen (subjektiven) Ansprüche auf Lavinia zurückzustellen, kommt Turnus dem P a r i s der Ilias viel näher als dem Hektor487. Die Anmaßung gegenüber dem Wort eines S e h e r s , die Hektor in dieser Szene nach Auffassung der Homerinterpreten in ein ungünstiges Licht gestellt hatte, zeigt der vergilische Turnus ähnlich deutlich an anderer Stelle. Vergil hat hierin eine, wie es scheint, bisher nicht bemerkte Parallele zu dieser Iliasszene geschaffen488: Nach der Landung der Teukrer in Latium und dem Abschluß ihres Bündnisses mit Latinus versucht Allecto im Auftrag Junos, Turnus zum Kampf gegen die Eindringlinge aufzustacheln (7,42Iff.). 486 487 488

Hierzu siehe ferner S. 204ff. Ferner auch A c h i l l : siehe S. 203ff. Zu dieser Szene ausführlich Schenk 1984, 37-47.

II. Ethische Exegese

172

Sie tritt ihm in Gestalt der Junopriesterin Calybe im Traum gegenüber. Die Reaktion des Jünglings auf die mahnenden Worte dieser Seherin, deren wahres Wesen er ja zunächst nicht erkennt, entspricht im Effekt der Abweisung des Polydamas durch Hektor, doch ist die schroffe Zurechtweisung bei Homer zur Verhöhnung der Seherin gesteigert489: Aen. 7,435

440

Hic iuvenis vatem inridens sie orsa vicissim ore refert: 'classis invectas Thybridis undam non, ut rere, meas efßigit nuntius auris; ne tantos mihi finge metus. nec regia luno immemor est nostri. sed te victa situ verique effeta senectus, ο mater*90, curis nequiquam exercet, et arma regum inter falsa vatem formidine ludit. cura tibi divum effigies et templa tueri; bella viri pacemque gerent quis bella gerenda'.

Die höhnischen Worte des jungen Rutulers provozieren den Ausbruch der Furie, die sich ihm nun in ihrer wahren Gestalt zu erkennen gibt und ihn regelrecht in den Wahnsinn treibt (445ff.)491. Mit dem Motiv des angemaßten Wissens u m die Gunst der Götter (nec regia luno / immemor

est

nostri,

438f.) und der Behauptung, den Willen der Gottheit besser zu kennen als ihr Priester, kehrt ein weiteres Motiv aus der homerischen Hektor-PolydamasSzene wieder. Vergil hat dabei in den Schlußworten des iuvenis, in denen er die Seherin auf ihre eigenen Aufgaben verweist, ein weiteres jeweils in Ilias und Odyssee verarbeitetes Motiv aufgegriffen: Hektor ermahnt auf seinem Besuch in Troja Andromache, die sich um ihn sorgt, ihrer - der Frauen 489

490 491

Dem Passus liegt außerdem vom Szenentypus her das von Athene der Penelope gesandte Traumbild (Od. 4,795f.) zugrunde (Heinze 1914, 188), vgl. das „Stichwort" Od. 4,829 ~ Aen. 7,428. Knauer (1964, 236) verweist ferner auf die Traumerscheinung Nestors bei Agamemnon (II. 2,16-52). Die von Schenk (1984, 41 Anm. 35) zusätzlich herangezogene Parallele II. 2,173-181 (Athene begegnet Odysseus) scheint dagegen eher sekundär zu sein. Vgl. Servius z. St.: inrisionis est, non honoris. Siehe hierzu Buchheit 1963, 102ff. Das Motiv des 'Ausbruchs' der Göttin findet ein Vorbild ferner in II. 3,414fF. (Aphrodite gibt sich Helena zornig zu erkennen, nachdem die Göttin ihr in der Gestalt einer alten Wollarbeiterin gegenübergetreten war und sie aufgefordert hatte, sich mit Paris zu vereinigen, jedoch schroff abgewiesen worden war), s. Heinze 1914, 189; zu dieser Szene s. ferner S. 276. Heinze (und ihm folgend Schenk 1984, 46) verweist ferner auf Callim. Cer. 46ff: Erysichthon soll hier von Demeter in Gestalt ihrer Priesterin Nikippe allerdings von einem frevlerischen Vorhaben abgehalten werden; insbesondere der Zornesausbruch der Allecto einschließlich der Retorsio der frechen Worte des Jünglings scheint hier vorgebildet (vgl. 53ff.). Allerdings greift schon Kallimachos offenbar auf die Szene im 3. Iliasbuch zurück und dürfte so eher sekundär über dieses homerische Modell hinaus auf Vergils Imitation eingewirkt haben.

4. Turnus

173

Arbeit nachzugehen (II. 6,490ff), Telemach gebraucht dieselben Worte gegenüber Penelope, um sie dazu zu bewegen, vor der Bogenprobe, einem Moment der Gefahr, in ihr Gemach zu gehen (Od. 21,350ff.)492. Während an beiden Stellen diese Worte in beruhigender Absicht gesprochen und Zeichen männlicher Fürsorge sind, erscheinen sie im Zusammenhang mit der Mißachtung des Seherspruchs durch Turnus als Äußerung der Anmaßung, die den Ausbruch der Furie motiviert (445ff.) - ein charakteristisches Beispiel kontrastierender Imitation eines homerischen Motivs493. Wenn Vergil die Gestalt des Turnus auch an zahlreichen anderen Stellen der Aeneis zum Hektor der Ilias in Beziehung setzt, so verstärkt das Motiv der hybriden Verhöhnimg einer Priesterin in der ersten Szene, in der Turnus selbst auftritt, diese Verbindung noch. Hierbei ist es ganz unerheblich, ob Calybe, in Wirklichkeit Allecto, den Jüngling zu einem Frevel gegen Jupiter anstacheln will, da sie ihm als Priesterin der höchsten Göttin erscheint, der in jedem Fall Folge zu leisten ist. Vor dem Hintergrund der antiken Iliasrezeption, die in dem Hektor des 12. Buches das Gegenbild des besonnenen und daher gottesfurchtigen Odysseus erblickte, konnte Vergil so den jungen Rutulerfüihrer gleich bei seinem ersten Auftritt als Gegner der Trojaner durch seine verblendete Selbstüberschätzung charakterisieren und, ebenso wie Homer dies nach Auffassung der antiken Interpreten im Falle Hektors und Odysseus' getan hatte, der Gestalt des Aeneas gegenüberstellen494. Die Verbindung Turnus-Hektor vor dem Hintergrund antiker Iliasrezeption läßt sich anhand einer weiteren zentralen Szene vervollständigen: Vergil bereitet die alles entscheidende Begegnung zwischen Aeneas und Turnus im Zweikampf am Ende des 12. Buches vor, indem er die seelische Verfassung der Gegner mittels zweier aus der Ilias geschöpfter Gleichnisse kennzeichnet. Bevor Turnus endgültig die Entscheidung trifft, sich dem Zweikampf 492

Der Gedanke erscheint variiert ferner II. 5,428ff. (Zeus tröstet die von Diomedes verletzte Aphrodite). 493 ygi. Highet 1972, 212. Der Gedanke erscheint verkürzt - wiederum im Kontext einer Prahlrede, des Numanus - noch einmal in 9,620 (sinite arma viris et cedite ferro), wo er unmittelbar darauf als boshafte Verdrehung der Tatsachen vorgeführt und geahndet wird. Die Bekanntheit dieses Motivs innerhalb der antiken Beschäftigung mit Homer scheint Plut. Brut. 23,3 zu belegen: Mit den Worten Hektors an Andromache kontrastiert hier Brutus die vaterländische Gesinnung seiner Frau Porcia. Vgl. auch Tolkiehn 1896, 242; Schenk 1984, 45. 494 Hier ist speziell an eine ähnliche Situation des 5. Buches (nach dem Schiffsbrand) zu erinnern, in der das Verhalten des Aeneas gegenüber dem (von Athene unterwiesenen) Seher Nautes (5,704ff.) im Kontrast zum Verhalten des Turnus gegenüber Calybe steht: Aeneas erkennt die Autorität zumal des s e η i ο r (719, aufgegriffen in 729) an (vgl. dagegen Turnus' despektierliches veri... effeta senectus).

174

II. Ethische Exegese

gegen Aeneas zu stellen, ist er von verschiedenartigen Empfindungen hinund hergerissen: Aen. 12,665

obstipuit varia confitsus imagine rerum Turnus et obtutu tacito stetit; aestuat ingens uno in corde pudor mixtoque insania luctu etfuriis agitatus amor et conscia virtus.

Letzte Worte an Juturna schließt er mit der Bitte: hunc, oro, sine me furere ante furorem (680). Der Dichter bringt somit in dieser letzten Szene vor dem Schlußkampf des Turnus gegen Aeneas noch einmal einen Hauptcharakterzug des jungen Rutulers in Erinnerung, der sein Verhalten an zentralen Stellen der Eposhandlung bestimmt hatte495. Die Erinnerung an diesen furor gibt die psychische Disposition des Turnus und den Hintergrund für seinen im folgenden geschilderten Ansturm, in dem er sich eine Bahn der Verwüstung durch die Schlachtreihen bahnt und hierin mit einem vom Berg herabstürzenden, alles mit sich reißenden Felsblock verglichen wird: Aen. 12,684

ac veluti montis saxum de vertice praeceps cum ruit avulsum vento, seu turbidus imber proluit aut annis solvit sublapsa vetustas; fertur in abruptum magno mons improbus actu exsultatque solo, silvas armenta virosque involvens secum: disiectaper agmina Turnus 690 sie urbis ruit ad muros ...

Das hier zugrundeliegende Iliasgleichnis beschreibt Η e k t ο r , wie er die Reihen der trojanischen Kämpfer in stürmischem Lauf bis zum Schiffslager der Griechen führt, hier jedoch von der gegnerischen Phalanx aufgehalten wird: II. 13,136

Τρώες δέ προΰτυψαν άολλέες, ήρχε δ' άρ' "Εκτωρ αντικρύ μεμαώς, όλοοΐτροχος ώς άπό πέτρης, ον τε κατά στεφάνης ποταμός χειμάρροος ώση, ρήξας άσπέτω ομβρω άναιδέος έχματα πέτρης* ΰψι δ' άναϋρωσκων πέτεται, κτυπέει δέ θ' ύπ' αύτοΰ υλη· ό δ' άσφαλέως θέει έμπεδον, ήος ϊκηται

495 Yg] Aen. 7,460ff. arma amens /remit... / saevit amor fern et scelerata insania belli,/ ira super: magno veluti cum flamma sonore ... /...furit intus aquai (sc. amnis); 9,760f. sed furor ardentem caedisque insana cupido / egit in adversos (691 diversa in parte furenti)\ 11,486 cingitur ipse furens certatim in proelia Turnus; 12,101f. his agitur furiis, totoque ardentis ab ore / scintillae absistunt\ vgl. 12,332 (Turnus treibt seine Pferde wie Movers diefurentis /... equos).

4. Turnus

ί 43

175

ίσόπεδον, τότε δ' οΰ τ; κυλίνδεται έσσυμενός περώς Έκτωρ (...)

Der Vergleich der beiden Stellen zeigt einerseits die fast wörtliche Übernahme von Teilen des homerischen Gleichnisses durch Vergil (insbesondere der Junktur άναιδέος ... πέτρης an gleicher Versposition durch mons improbus), andererseits ist ihm die Betonung der zerstörerischen Kraft des Felsens beim Aeneisdichter eigentümlich - bei Homer ist lediglich das akustische Moment, das „Dröhnen" des Waldes (κτυπέει δέ ö' ύπ' αύτοΰ / ϋλη) hervorgehoben - , wobei dieser nicht nur Wälder, sondern auch Tiere und Menschen ins Verderben reißt; anders als der Hektor und der Felsbrokken des Iliasgleichnisses werden Turnus bzw. der mons improbus von keinem Hindernis gebremst. Wie die Scholien zeigen, wandte die antike Homererklärung der Interpretation dieses Gleichnisses besondere Aufmerksamkeit zu, ausgehend von der Erklärung des Hapax legomenon όλοοίτροχος; die Bedeutung dieses Wortes wurde von seinen vermuteten Bestandteilen τρέχειν und όλοός abgeleitet, es bezeichnete so einen rollenden Fels von zerstörerischer Wirkung496. Das Tertium comparationis lag jedoch fur die Scholiasten nicht nur in der zerstörerischen äußeren Wirkung Hektors und des Felsens; vielmehr charakterisierte dieser Vergleich auch den seelischen, und zwar 'barbarisch'-irrationalen Zustand Hektors, der seinen Ansturm auslöst (Schol. [AbT] 13,137: καλώς βάρβαρον και αλογον όρμήν άψύχω βάρει είκασε)497. In einem Scholion zu einer anderen Stelle kurz zuvor, wo die Trojaner unter Führung Hektors „der Flamme oder dem Sturme gleich" auf die Gegner zustürmen, heißt es ganz ähnlich (und offenkundig billigend), Homer habe die Kämpfer mit unbelebten Gegenständen verglichen, um ihre άλογος όρμή zu verdeutlichen (Schol. [bT] 13,39). Es wurde überzeugend vermutet, daß Vergil fur die Nachgestaltung dieses Gleichnisses - wie auch bei der Imitation anderer seltener oder in ihrer Bedeutung ungeklärter Wörter Homers498 - eine solche Erklärung herange-

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Schol. [A] 13,137: όλοοίτροχος] λίθος περιφερής και στρογγΰλος, ό έν τώ τρέχειν όλοός, έπει καταφερόμενος πάν τό έμπΐπτον βλάπτει. Δημήτριος ό Γονυπεσος δασύνει, ΐν' ή δλος τροχοειδής και κατά π ά ν μέρος αστήρικτος, τω δέ τόνω ώς κακότροπος· ούτω δέ και Έ ρ μ α π ί α ς και Νικίας και Ά ρ ι σ τ έ α ς και ' Αριστόνικος. Κομανός δέ και Πτολεμαίος ό Ά σ κ α λ ω ν ί τ η ς ψιλοΰσι και παροξυνουσιν, άκοΰοντες τον έπι το τρέχειν όλοόν και δεινόν ... [bT] ΟΛΟΟΙΤΡΟΧΟΣ] δλος τροχοειδής. οί δέ, έν τω τρέχειν δεινός. Quinn (1968, 266) verweist ferner auf eine ähnliche Vorstellung bei Hör. carm. 3,4,65 (vis consili expers mole ruit sua), wo dem Dichter eine solche Interpretation des homerischen oder eines ähnlichen Gleichnisses vor Augen gestanden haben könnte. Hierzu s. ferner Kap. VI (S. 336ff).

176

II. Ethische Exegese

zogen haben könnte499. Das Moment des Zerstörerischen, das das vergilische Bild von dem homerischen unterscheidet, wäre somit zunächst ein Reflex der bereits interpretierenden Etymologisierung des Subjekts όλοοΐτροχος, für das es im Lateinischen keine Entsprechung gab. Darüber hinaus scheint auch die symbolisch-psychologische Deutung des Iliasgleichnisses500 in den Scholien in der vergilischen Wiedergabe aufgegriffen: Hier ist im Unterschied zu Homer der seelische Zustand des Turnus, der dem (in den Augen der antiken Interpreten) 'irrationalen' Zustand Hektors entspricht, explizit und unmittelbar vor seinem Losstürzen geschildert - allerdings weitaus differenzierter, als die Homerexegeten dies vom Iliasdichter annahmen (666ff.). Der seelische furor des Rutulerführers wird auf diese Weise anschließend zu einem äußeren umgesetzt501. Die antike Interpretation des Iliasgleichnisses dürfte wesentlich die Entscheidung Vergils bestimmt haben, es in diesem Kontext - unmittelbar vor dem Endkampf zwischen Turnus und Hektor - aufzugreifen, und stützt so in gewissem Umfang die symbolische Deutung des Gleichnisses durch moderne Interpreten502. Damit ist eine enge Verbindung zwischen der antiken Interpretation der Hektorgestalt als eines Exemplum 'barbarischer' Unkontrolliertheit, die sich hier speziell in seinem 'irrationalen', gefährlichen Ansturm äußert, und dem /wror-Konzept Vergils im Hinblick auf Turnus gegeben; sie ergänzt die bisherige Beobachtung, daß der furor des Turnus und der von ihm geführten Latiner und Rutuler dem durch αταξία und ϋόρυβος geprägten, 'barbarischen' Wesen der homerischen Trojaner unter Führung Hektors, wie es die antike Exegese herausstellte, in auffalliger Weise entspricht. Die von der Homerexegese gezogene Verbindung zwischen dem seelischen Zustand Hektors bei seinem Ansturm und dem zerstörerischen Fels besitzt nicht nur eine Entsprechung in dem innerlichen furor des Turnus und der Bahn der Verwüstung, die er dem Felsen gleich durch die gegnerischen Reihen zieht. Die Parallelisierung von unkontrollierten, zerstörerischen Vorgängen der Natur mit solchen im menschlichen Bereich, die schon bei Homer in zahlreichen Kampfgleichnissen gegeben503, jedoch primär beschreibend und ohne explizite Hinweise auf eine psychologische Deutung 499 500

501

502 503

Vgl. Schlunk 1974, 98 m. Arnn. 32 und 33. Zum Einfluß dieses exegetischen Prinzips auf die Imitation homerischer Gleichnisse durch Vergil s. Kap. IV (bes. S. 220£). Bei Vergil tritt ferner der Aspekt der vetustas hinzu, der bei Homer fehlt und auf die Hinfälligkeit des todgeweihten Turnus hinweisen mag (so Schenk 1984, 227). - In dem oben erwähnten Flammengleichnis wurde Hektor vom Iliasdichter selbst als λυσσώδης bezeichnet (II. 13,53). So Leaf zu II. 13,754; Pöschl 1977, 162f. Vgl. Schenk 1984, 232f.

4. Turnus

177

geblieben war, erscheint in der Aeneis nicht nur in dem Felsgleichnis auf der Ebene des furor, sondern durchzieht das gesamte Epos: So hatte Vergil bereits in der Schilderung des Seesturms zu Beginn des 1. Buches auf der Grundlage des /WAW-Gedankens eine Naturkatastrophe mit Krieg und Aufruhr im menschlichen Bereich verglichen und die beiden Gleichnishälften dann im 7. Buch, an einer strukturell korrespondierenden Stelle, umgekehrt504. Die wechselseitige Zuordnung von Vorgängen in der Natur und im menschlichen Zusammenleben unter dem Aspekt des furor findet sich auch an zahlreichen anderen Stellen der Aeneis; stets zerstört das ungehemmte Wirken ungeordneter Kräfte Menschenwerk505. Die antike Interpretation des homerischen Hektor-Fels-Gleichnisses fugte sich also nicht nur gut in die indirekte Charakterisierung des Turnus durch die Hektorgestalt, sondern auch in das weitere /wror-Konzept der Aeneis506. Turnus ist hierbei jedoch die einzige Gestalt, die a l s E i n z e l k ä m p f e r ein solches, seinen Ansturm im Kampf ausmalendes Gleichnis erhält und dessen innere Motivation zugleich in dieser Weise vorausgeschickt wird. Unmittelbar nach dieser Schilderung des Turnus auf seinem Weg zu Aeneas lenkt Vergil den Blick auf seinen Gegner: Er läßt auf die Nachricht 504 505

506

Hierzu siehe S. 68ff. So gleich mehrfach in der Schilderung der Iliupersis: Das Kampfgewühl, dessen Aeneas, jäh aus dem Schlaf auffahrend, gewahr wird, wird verglichen mit einer Feuersbrunst, die von furentibus Ausiris vorangetrieben die besäten Felder verwüstet und stemit agros, sternit sata laeta boumque labores /praecipitisque trahit silvas (2,304ff.); der Sturm der Griechen auf den Priamospalast übertrifft an zerstörerischer Kraft den Dammbruch eines Flusses, der fertur in arva furens cumulo camposque per omnis / cum stabulis armenta trahit (2,498f.); von dem Brand, den die Griechen legen, heißt es exsuperant flammae, furit aestus ad auras (2,759); dem furor der von Iris aufgestachelten Trojanerinnen (5,659ff; vgl. 670) folgt der Brand der Schiffe: furit immissis Volcanus habenis (662). Besonders deutlich ist die Entsprechung zwischen dem furor Junos und dem furor der von ihr ausgelösten Stürme, vgl. 1,107. 148ff; 5,800ff.; 10,36ff.; 12,832. Auf ihrer Grundlage kombiniert der Vergilimitator Valerius Flaccus eine Reminiszenz an den Hektor des 13. Iliasbuches und den Turnus des 12. Aeneisbuches mit der Variation eines Sturzbachgleichnisses aus dem 2. Aeneisbuch, vgl. Aen. 2,496fF. (non sie [wie die Griechen den Palast des Priamus stürzen], aggeribus ruptis cum spumeus amnis / exiit oppositasque evicit gurgite moles, / fertur in arva furens cumulo camposque per omnis / cum stabulis armenta trahit) und Aen. 12,688f. (exsultat... solo [sc. saxum], silvas armenta virosque / involvens secum) mit Val. Fl. 6,63 Iff. (ille [sc. Colaxes] volat campis ... /... velut hiberno proruptus ab arcu / imber asens scopulos nemorumque operumque ruinas, / donec ab ingenti bacchatus vertice montis / frangitur ...); die Junktur vertice montis weckt zusätzlich die Erinnerung an das Felsgleichnis in Aen. 12,684ff. (montis ... de vertice), während die 'Abbremsung' des Sturzbachs an das Gestopptwerden des Felsblocks im Iliasgleichnis erinnern dürfte, als dieser auf die Ebene trifft (ήος ϊκηται / ίσόπεδον, τότε δ' ου τι κυλίνδεται έσσυμενός περ: 13,142f.), und so über Vergil hinaus auch einen unmittelbaren Bezug zum homerischen Vorbild herstellt.

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II. Ethische Exegese

hin, daß sich sein Gegner zum Zweikampf nähere, sofort von der Belagerung der Stadt ab und jubelt vor Freude (laetitia exsultans, 699) 507 , wobei er seine Waffen fürchterlich erklingen läßt (horrendum... intonat armis, 700). In dieser Verfassung wird er mit einem hohen, schneebedeckten Berggipfel verglichen: Aen. 12,701

quantus Athos aut quantus Eryx aut ipse coruscis cum fremit ilicibus quantus gaudetque nivali vertice se attollens pater Appenninus ad auras.

Auch hier liegt ein allerdings wesentlich kürzeres Iliasgleichnis zugrunde, das - wiederum im Zusammenhang mit den im 13. Buch geschilderten Kämpfen um die Mauer des griechischen Lagers - das KampfVerhalten Hektors beschreibt: Dieser stürmt rufend durch die Reihen der Trojaner und ihrer Bundesgenossen, um ihre Führer zum Ratschluß um sich zu versammeln, und wird primär in seiner Größe 508 beim Ansturm mit einem schneebedeckten Berg verglichen: II. 13,754

ή ρα, και όρμήϋη δρεϊ νιφόεντι έοικώς, κεκλήγων, δια δέ Τρώων πέτετ' (...)

Die Scholien zu dieser Stelle fassen die „unerschütterte" bzw. „unerschütterliche Größe", die den Kämpfer wie den Berggipfel auszeichne (Schol. [bT] 13,754: δρεϊ νιφόεντι] (...) προς δέ μέγεθος ή είκών, έπει ά κ ί ν η τ ό ν έστι τδ όρος), als Tertium comparationis. Auch an anderer Stelle findet sich in den Scholien die generalisierende Beobachtung, Homer gebe das ά κ ΐ ν η τ ο ν και δυσπαθές der griechischen Kämpfer im Gleichnis durch einen Felsen wieder, der den Ansturm der Gegner bremse (Schol. [bT] 15,618). Auch Vergil könnte in seiner Imitation dieses Gleichnisses von einer solchen Interpretation ausgegangen sein und das von ihr herausgestellte Tertium zur Grundlage seiner Nachgestaltung gemacht haben: Das Gleichnis charakterisiert Aeneas kurz vor dem Höhe- und Schlußpunkt der Kämpfe um Latium im bewußten Gegensatz zu Turnus, dessen innere Verfassung unmittelbar zuvor geschildert worden war. „Aeneas, likened to snow-peaked pater Appenninus, stands immutable and mighty (άκίνητόν) in both his power and resolve, as opposed to the 'ephemeral' and untamed, irresolute

507

508

Er ähnelt hierin Achill, von dem es heißt, als er Hektar erblickt: αύτάρ εϊδ', ώς άνεπάλτο (II. 20,423f.); der Moment der Freude scheint bei drücklicher, möglicherweise im Anschluß an den Scholienkommentar z. άνέπαλτο] έδήλωσε (sc. Homer) τον ύπό της ηδονής έαυτοΰ μειζω Siehe Janko zu 754-5 zu einem möglichen weiteren Vergleichspunkt.

' Αχιλλεύς / ώς Vergil noch ausSt.: [bT] 20,424: γενόμενον.

4. Turnus

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fury of Turnus as he rushes blindly towards his foe" (Schlunk 1974, 98)509. Diese von den Scholiasten hervorgehobene (innerliche) Unerschütterlichkeit des Kämpfers kennzeichnet die Verfassung des Aeneas, der sich sofort und voller Freude auf den entscheidenden Zweikampf mit dem Gegner einstellt. Auch das Moment des „Furchterregenden", das die Homererklärer in dem schneebedeckten Berg symbolisiert fanden510, hat Vergil möglicherweise in seiner Übernahme des Gleichnisses berücksichtigt: Als Turnus sich ihm nähert, läßt Aeneas seine Waffen furchterregend ertönen {horrendum... intonat armis). Die oben wiedergegebene Interpretation des Gleichnisses vom Berggipfel wie auch die allgemeine Bemerkung der Scholien zur Verwendung solcher Felsgleichnisse bei Homer dürften Vergil die Übernahme der Gleichnisse in diesen - von dem der Ilias abweichenden - Kontext unmittelbar vor dem Beginn der Schlußkämpfe als besonders geeignet nahegelegt haben. Doch könnte er noch aus einem anderen Grund auf die Adaptation des Gleichnisses (in seiner üblichen Deutung) verfallen sein: Während Homer den Zweikampf zwischen Achill und Hektor, das primäre Vorbild für die Begegnung zwischen Aeneas und Turnus im 12. Aeneisbuch, unmittelbar auf die Verfolgungsjagd folgen läßt und die Dynamik der Erzählung einer Beschreibung der Verfassung, in der die Gegner sich befinden, auch keinen Raum mehr gibt, schildert er in der (einzigen) anderen vergleichbaren Zweikampfepisode ausfuhrlich, wie sich die Gegner Aias und Hektor langsam für ihn bereitmachen: Während Hektor „das Herz schlägt", nähert sich Aias „lächelnd" mit finster blickendem Antlitz und schreitet kräftig aus, die Lanze schwingend (7,212f.) - ebenso wie Aeneas sich laetitia exsultans fur den Kampf bereitmacht und horrendum intonat armis. Bedeutsam ist nun die Deutung der Scholien zum Verhalten der beiden Kämpfer: Homer gehe es darum, durch Gesichtsausdruck und Körperbewegung des Aias - ebenso wie bei seinem Gegner Hektor - vor allem die s e e l i s c h e Disposition des Kämpfers (bei Aias speziell seinen Mut) unmittelbar vor dem Kampf zu schildern. Das 'Psychologische' dieser Schilderung aber betont auch C i c e r o in seiner Paraphrase der entsprechenden Verse, an denen er die An- bzw. Abwesenheit von perturbatio animi beim Kampf zu exemplifizieren sucht:

509

510

Pöschl (1977, 163 Anm. 242) verweist - ohne die Homerscholien heranzuziehen - auf die Verarbeitung dieses Motivs in 9,448f., wo der Kapitolsberg die unerschütterliche Beständigkeit der römischen Weltherrschaft symbolisiert: nulla dies umquam memori vos eximet aevo, / dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit. Schol. [T] 13,754: αμα δέ και τό ά γ ρ ι ο ν αύτοΰ καν φοβερδν δρει π α ρ ε ι κ ά ζ ε ι χ ι ό ν ι κεκαλυμμένα)· τό γ α ρ ά ν ι φ ο ν π ά ν τ ω ς και ήμερον.

180

II. Ethische Exegese

Schol. [bT] 7,212: μειδιόων] πολλά τεκμήρια της τοϋ Αΐαντος γενναιότητος· και λαχών γαρ ήσϋη, πλησίον δέ ών του δεινού μειδία, ού γελά (...) Schol. [bT] 7,213: μακρά βιβάς] ή κίνησις του σώματος εμφαίνει τό Ορασύ της ψυχής. Schol. [bT] 7,216: "Εκτορι δ' αύτω ϋυμός ένι στήΟεσσι πάτασσεν] την κ ί ν η σ ι ν και άγωνίαν της διανοίας ύπέγραψε, των δέ σημείων της δειλίας ούδέν παρέλαβεν (...) άλλα μόνον την άγωνίαν (...) Cie. Tusc. 4,49: at sine hac gladiatoria iracundia videmus progredientem apud Homerum Aiacem mult α cum hilaritate, cum depugnaturus esset cum Hectore; cuius, ut arma sumpsit, ingressio laetitiam attulit sociis, terrorem autem hostibus, ut ipsum Hectorem, quem ad modum est apud Homerum, to to ρ e c to re trementem provocasse ad pugnam paeniteret. Eben diese Schilderung der psychischen Disposition der Gegner unmittelbar vor dem Zweikampf verbindet die Szene des 12. Aeneisbuches - zum furor des Turnus in 666ff. ist hierbei noch seine spätere Furcht (867f. 916f.) zu stellen, die er mit dem Hektor des 7. Buches teilt - mit der antiken Deutung des Zweikampfes zwischen Aias und Hektor, kaum aber mit der entsprechenden Szene des 22. Iliasbuches. Das bei Homer im 7. Buch angedeutete, erst von den Interpreten jedoch eigentlich herausgearbeitete 'Psychogramm' könnte Vergil demnach zu einer ähnlichen Vorbereitung seiner Kampfszene und zu diesem Zweck zu der Übernahme der beiden psychologisch gedeuteten Gleichnisse aus einem anderen Kontext der Ilias angeregt haben 511 . Vergil hat die Wirkung der beiden homerischen Gleichnisse jedoch nicht nur durch die jeweils geeignete Plazierung innerhalb des Kontextes, sondern auch durch die Iuxtaposition der aufeinander bezogenen /wo/w-Gleichnisse erheblich gesteigert; sie bringen so den Kontrast zwischen dem von Vergil immer wieder hervorgehobenen irrationalen furor des Turnus, der sich dem fatum entgegenstellt, und 'stoischer' constantia des Aeneas, der sein Handeln im Einklang mit dem Willen Jupiters weiß, nochmals in Erinnerung. Für das Verhältnis der Turnusgestalt zu ihren homerischen Vorbildern in ihrer antiken Deutung bleibt hier eine erste Beobachtung festzuhalten: In mehreren zentralen Szenen, in denen das Verhalten des Rutulers Aufschlüsse über seinen Charakter gibt, spielt Vergil auf homerische Vorbildszenen an, in denen der Dichter nach Auffassung der ethischen Iliasrezeption 511

Zum Einfluß dieser Deutung des Zweikampfepisode zwischen Hektor und Aias auf den Schlußkampf des 12. Aeneisbuches s. ferner u. S. 351 Anm. 938.

4. Turnus

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seine Hektorgestalt in ein kritisches Licht rückte, indem er seine Prahlsucht, sein übergroßes Selbstvertrauen, seine Mißachtung göttlicher Offenbarungen und schließlich die gefahrliche 'Irrationalität' seines KampfVerhaltens in den Vordergrund treten ließ. Diese Wesenszüge des Hektor der ethischen Homerexegese kehren in dem Charakter des vergilischen Turnus deutlich wieder.

b) Turnus und Paris Gleichwohl übernimmt Turnus auch die Rolle des P a r i s der Ilias: Bereits die Imitation des Pferdegleichnisses, durch das Homer den Wiedereintritt sowohl des Paris im 6. als auch Hektors im 15. Iliasbuch in das Kampfgeschehen ausgestaltet hatte, in Anwendung auf den Turnus des 11. Aeneisbuches (492ff.) weist darauf hin, daß beide homerischen Gestalten in der Figur des Turnus zusammentreten, wobei Vergil u.a. in dem Goldglanz der Waffen (11,488. 490), zu denen der Rutuler greift, hier eher noch stärker an den Paris des 6. Iliasbuches mit seinen περικαλλέα τεύχεα (II. 6,321) erinnert. Primär aber liegt die Parallele zwischen Paris und Turnus, der gleich bei seiner ersten namentlichen Erwähnung und seiner ersten Nennung in der Iliashälfte der Aeneis überhaupt als pulcherrimus (7,55) vorgeführt wird512, in dem Kampf um eine Frau - Helena bzw. Lavinia. Es ist höchst

512

Als pulcherrimus erscheint in der ersten Eposhälfte einmal auch A e n e a s , bezeichnenderweise dort, wo er seinerseits in die Rolle eines alius Paris geraten war: am Tage seiner 'Hochzeit' mit Dido (4,141), die nach den Worten des Didofreiers Jarbas nichts anderes als eine Wiederholung des Helenaraubs durch P a r i s (215) bedeutet hatte. Das Epitheton scheint in beiden Zusammenhängen, wo das homerische Modell sehr naheliegt, offensichtlich spezifisch verwendet, um die Parallele zum Paris der Ilias zu betonen; ebenso erscheint pulcherrima als Epitheton Didos (Aen. 1,496; 4,60): oben wurde gezeigt, daß ihre so hervorgehobene körperliche Schönheit und die durch sie ausgeübte erotische Faszination sie in die Nähe der homerischen H e l e n a bringt, s.o. S. 109ff. (Lediglich ornamentale Funktion hat pulcherrimus dagegen in Aen. 7,761; 10,180; 12,270; pulcherrima ist ferner natürlich Epitheton der Venus: 4,227; 12,554.) Daher ist der Beobachtung von R.F. Thomas (The isolation of Turnus, in: Stahl 1998, 271-302, hier 276) zuzustimmen, daß das 'Freiermotiv' Aeneas und Turnus verbindet; freilich hat Aeneas die Parisrolle auf die Intervention Mercurs hin entschlossen abgelegt, Turnus gibt seinen Anspruch auf die coniunx erst auf, als er im Zweikampf besiegt ist. - Die Schönheit des Turnus ist auch sonst hervorgehoben: vgl. 7,473. 649f. 783. Cairns (1989, 211) sieht in diesem Epitheton - ausgehend von der Annahme, daß neben der Ilias auch die zweite Odysseehälfte dem maius opus Vergib als homerisches Modell zugrundeliegt - ferner eine Reminiszenz an den Freier Antinoos, Hauptgegner des heimkehrenden Odysseus (mit Verweis auf Od. 17,454. 381; 21,277), doch kann sie in diesem Kontext gegenüber dem Iliasgeschehen nur sekundär sein.

II. Ethische Exegese

182

bezeichnend, daß Vergil den verblendeten Rutulerfiihrer diesen inneren Zusammenhang zwischen Aeneis- und Iliashandlung auf den Kopf stellen läßt, wenn gerade er - wie schon einmal der Didofreier Jarbas (Aen. 4,215)513 - Aeneas als einen alius Paris hinstellt514 und wie der Menelaos der Ilias515 behauptet, ihm sei seine Braut (!)516 entrissen worden. In scharfen Kontrast bringt Vergil diese Spannung zwischen innerem und äußerem Geschehen 'seiner' Ilias in der Weigerung des Turnus, den mahnenden Worten des Latinus und der Amata Folge zu leisten und den Anspruch auf Lavinia aufzugeben sowie den Kampf gegen Aeneas zu meiden; denn Turnus handelt so wie der Hektor des 22. Iliasbuches, der trotz der Beschwörungen seiner Eltern gegen Achill antritt, und wie Paris, der sich der Aufforderung Antenors im 7. Buch hartnäckig widersetzt, Helena freizugeben und so die Kämpfe zu beenden. Damit ist der Rahmen für die folgende Untersuchung einer zentralen Szene des 11. Buches abgesteckt, in der Vergil Turnus in einer ganz konkreten Situation besonders eng mit dem Paris der Ilias in Verbindung bringt. Hier ist eine sehr detaillierte antike Interpretation greifbar, deren Einfluß auf Vergils Imitation klar hervorzutreten scheint. Die Latiner machen sich auf die Nachricht vom Heranrücken der Trojaner für die Fortsetzung der Kämpfe bereit, die zwecks Bestattung der Toten unterbrochen worden waren (459ff.). Turnus legt seine prächtige Rüstung an und eilt, vom Gold seiner Waffen strahlend, von der Burg herab, wobei er vor Kampflust jubelt und den Beginn der Schlacht kaum abwarten kann (et spe iam praecipit hostem, 491). Er wird hierin mit einem Pferd verglichen, das sich von seinen Ketten löst und aus dem Stall ins Freie stürmt: Aen. 11,492

qualis ubi abruptisfitgitpraesepia vinclis tandem liber equus, campoque potitus aperto

In der Schönheit des Turnus liegt vielmehr noch eine zusätzliche Reminiszenz an A c h i l l : siehe S. 203 (zu Aen. 7,649f.). 313 Siehe S. 111. 514 Ygj 9J38; 12,80 und öfter (siehe unten). Amata, ebenfalls in beginnender Verblendung (vgl. 7,346ff.), zieht implizit dieselbe Parallele (nec matris miseret, quam ... relinquet / perfldus alta petens abducta virgine praedo: 7,361f.) wie kurz zuvor voller Gehässigkeit Juno in direkter Form (7,321 quin idem Veneri partus suus et Paris alter). Vgl. 10,774; 11,484, wo Mezentius bzw. die Latinerinnen Aeneas als (Phrygius) praedo diffamieren. Auch die Sibylle setzt in ihrer an Aeneas gerichteten Prophezeiung Lavinia mit Helena und so indirekt Aeneas mit Paris gleich (6,93f.), jedoch selbstverständlich nicht mit dem Ziel einer Schuldzuweisung, sondern um die Bedeutung der Kämpfe in Latium als eine Wiederholung derjenigen um Troja herauszuheben; wie demnach vom Dichter die wirklichen Verbindungen zum Iliasgeschehen gezogen sind, bleibt völlig eindeutig. 515 Siehe jedoch S. 202f. 516 Siehe jedoch S. 170.

4. Turnus

495

183

aut ille in pastus armentaque tendit equarum aut adsuetus aquae perfundiflumine rtoto emicat, arrectisque fremit cervicibus alte luxurians luduntque iubae per colla, per armos.

Das Vorbild dieses Gleichnisses widmet der Iliasdichter je einmal Paris und Hektor, jenem, als er, von Hektor bei seinem Besuch in Troja ermahnt, in den Kampf zurückzukehren, seine Rüstung anlegt und jauchzend (καγχαλόων, 514) aus dem Gemach Helenas durch die Stadt zum Kampfplatz stürmt, diesem, als ihm Apollon im Kampf neuen Mut verliehen hat und er in raschem Lauf die Mitkämpfer anspornt: II. 6,506=15,263 ώς δ' οτε τις στατός ίππος, άκοστήσας έπι φάτνη, δεσμόν άπορρήξας ϋεΐη πεδίοιο κροαΐνων, είωϋώς λούεσϋαι έϋρρεΐος ποταμοΐο, κυδιόων· ύψοΰ δε κάρη έχει, άμφι δε χαΐται ώμοις άΐσσονται· ό δ' άγλαΐηφι πεποιϋώς, ρΐμφα έ γοΰνα φέρει μετά τ' ήϋεα και νομόν ϊππων (...)

Der Kontext, in dem das Gleichnis bei Vergil erscheint, entspricht hierbei deutlich dem Zusammenhang des 6. Iliasbuches: Es folgt einer Rüstungsszene und beschreibt den Wiedereintritt des Rutulerfuhrers in die Kämpfe nach längerer Untätigkeit; auch weist der Bittgang der Latinerinnen zum Heiligtum der Pallas (ll,477ff.) deutlich auf denjenigen der Trojanerinnen zu Athene in II. 6,296ff. zurück. Hinzu kommen zahlreiche, im folgenden näher auszuführende Einzelentsprechungen, die die Priorität des Pferdegleichnisses aus dem 6. Iliasbuch als Vorbild zeigen. Vergil bringt in dieser Szene demnach Paris, nicht Hektor als Modell für den Turnus dieser Szene in Erinnerung. Das vielbewunderte Iliasgleichnis wurde bereits vor Vergil von Apollonios (3,1259ff.) und Ennius (ann. 535 Sk. = 514 V.) imitiert. Doch auch von Seiten der antiken Homerphilologie wurde seiner Kommentierung und Exegese große Aufmerksamkeit zugewandt. Vergils Adaptation des Gleichnisses dürfte ebenso wie die Imitation durch seine beiden Vorgänger, wie gleich zu sehen sein wird, durch sie erheblich beeinflußt worden sein. Die Nachbildung des homerischen Gleichnisses ausgerechnet in dem Kontext des 11. Buches und mit Bezug auf Turnus dürfte dabei in besonderer Weise von einer noch erhaltenen psychologisch-philosophischen Ausdeutung des homerischen Vorbilds mitbestimmt worden sein. Bevor dies näher untersucht wird, ist zunächst eine Detailanalyse der wichtigsten Beziehungen zweckmäßig, die das Pferdegleichnis der Aeneis mit dem homerischen Modell speziell in seiner antiken Einzelausdeutung und - wenngleich sekundär - mit Apollonios und Ennius verbinden.

184

II. Ethische Exegese

Die antike Homerexegese richtete ihr besonderes Augenmerk auf die Proprietät eines Gleichnisses, wobei das Bemühen einer Kommentierungstradition darauf zielte, in ihrer Analyse möglichst viele Bezüge zwischen Real- und Bildebene herzustellen517. Fehlten diese Verbindungen, so wurde hieraus mitunter ein Indiz für Unechtheit konstituiert. Die Doppelfassung des Pferdegleichnisses im 6. und im 15. Buch ließ die Beurteilung seiner Proprietät im jeweiligen Kontext besonders dringlich erscheinen: So athetierte Aristarch die letzten vier Verse des Gleichnisses im 15. Buch mit der Begründung, daß nur im Kontext des 6. Buches die Schönheit und Gestalt des Pferdes (Aristarch hebt offenbar auf seine Mähne ab) sowie sein plötzlicher Ausbruch aus dem (geschlossenen) Stall, in dem es ebenso wie Paris im Gemach der Helena gepäppelt worden war, auf der Realebene seine Entsprechung finde518. Bereits der weitere Kontext des Gleichnisses bei Vergil entspricht, wie erwähnt, dem Zusammenhang des 6. Iliasbuches; dies weist bereits darauf hin, daß der Dichter den Unechtheitsverdacht Aristarchs geteilt haben könnte, zumindest aber die Proprietät in diesem Passus gegenüber der Szene im 15. Buch als größer empfand. Die antike Interpretation des Pferdegleichnisses, wie sie in den Scholien zu dem Passus des 6. Buches überliefert ist, konnte seine Übernahme in den Handlungszusammenhang des 11. Aeneisbuches mit dem Zweck, Turnus vor dem Beginn der entscheidenden Kämpfe zu beschreiben und ihn in die Nähe des Paris aus dem 6. Iliasbuch zu bringen, als besonders geeignet erscheinen lassen: Nach Auffassung der Kommentatoren galt die Mähne des Pferdes, die - anders als Apollonios - außer Vergil auch Ennius übernahm, als Quelle seines Stolzes; gerade in ihr sahen sie ein wichtiges Tertium comparationis, da die schöne Erscheinung des Paris ihrer Auffassung nach vor allem auch durch sein Haar bestimmt wurde. Schol. [AbT] 6,509: άμφι δέ χ α ΐ τ α ι ] δοκεΐ ή κόμη μεγαλοπρεπείας αιτία είναι τοις ΐ π π ο ι ς . [bT] και Πάρις δέ εύκομος.. Schol. [b] 6,510: ό δ' ά γ λ α ΐ η φ ι πεποιϋώς] πρεπόντως δέ τούτο έπι τού καλλωπιστοΰ.

517

518

Zu diesem exegetischen Prinzip und seinem Einfluß auf Vergils Homerirnitation Kap. IV (bes. S. 220f.). Schol. [A] 15,265: είωϋώς λούεσθαι] άπό τούτου έως του ,,ρίμφα έ γοΰνα φέρει,, [15,268] αθετούνται στίχοι τέσσαρες και αστερίσκοι παράκεινται, ότι οίκειότερον έπ' 'Αλεξάνδρου [sc. 6,508-511]· και τό τής καλλονής και το της όλης μορφής και τό τής στάσεως τοΰ ϊππου προς τον έν θαλάμψ διατετριφότα άντιπαράκειται ή τε κατά την αίφνίδιον έξόρμησιν όμοιότης ... [Τ] Ζηνόδοτος τούτον μόνον γράφει, Άρίσταρχος δέ και τους άλλους τρεις [sc. 15,266-268],

4. Turnus

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Dieses Moment des „Stolzes" dürfte auch Vergil im Falle des Turnus deutlicher als Homer in den Vordergrund gestellt, dabei jedoch seine Begründung abgeändert haben: Besteht die „berühmte Rüstung" des Paris aus Erz (έπεν κατέδυ κλυτά τεύχεα, ποικίλα χαλκω, / σεύατ' ..., 504f.), so ist der Rutulerfuhrer in dieser Szene mit einer goldenen Prunkrüstung ausgestattet (suras... incluserat auro, 488; fulgebat... aureus, 490), die ihm auch an anderer Stelle zu eigen ist (9,269f.: vidisti, quo Turnus equo, quibus ibat in armis / aureus519). Auch ist bereits den antiken Vergilexegeten aufgefallen, daß Turnus, ohne seinen Helm aufgesetzt zu haben (tempora nudus adhuc, 489), sonst aber in voller Rüstung in den Kampf stürzt. Während Servius z. St. dies mit der prooeconomia Vergils erklärt hatte (Turnus sollte von seiner Bundesgenossin Camilla, auf die er kurz darauf treffen würde [vgl. 498f.], erkannt werden können)520, dürfte das Motiv hierfür wohl eher darin zu suchen sein, daß Vergil eine Entsprechung schaffen wollte zwischen der Mähne 'seines' Pferdes (luduntque iubae per colla, per armos), deren Schilderung das Gleichnis wirkungsvoll abschließt, und der des Turnus521. Die Hinzuziehung der antiken Interpretation des Homergleichnisses, die dieses Moment des auf Haarpracht bzw. Mähne beruhenden 'Stolzes' hervorhob, läßt diesen Zusammenhang noch deutlicher werden. Könnte somit diese 'psychologische' Interpretation des Iliasgleichnisses seine Adaptation durch Vergil im Zusammenhang dieser Szene und seine Vorbereitung durch die von Homer abweichende Schilderung der realen Handlung, die dem Gleichnis vorausgeht, mitbestimmt haben, so scheint auch die in den Scholien überlieferte (interpretierende) W o r t erklärung die Gestaltung des Gleichnisses selbst bei Vergil, aber auch bei seinen beiden Vorgängern in einigen Punkten maßgeblich beeinflußt zu haben522: Das genaue Verständnis des homerischen Gleichnisses mußten das nur an dieser Stelle belegte Partizip άκοστήσας sowie das erst im 3. Jh. n.Chr. wieder nachweisbare523 Verb κροαίνειν erschweren. Ersteres wurde von den Scholiasten wohl ausschließlich auf Grundlage des Kontextes von ακος (Pflege), αχος oder άκοστή (Gerste) abgeleitet. Hinter der letztgenannten Etymologie stand die Vorstellung, daß ein mit zuviel Gerste gefuttertes Pferd übermütig werde (vgl. Ps. Plut. 87,5 mit Bezug auf das Iliasgleichnis), 519

520 521 522

523

Auf die Stelle verweist Gransden zu 11,488; eine weitere Parallele liegt in 12,87f. (ipse dehinc auro squalentem ... / circumdat loricam umeris), hier innerhalb einer umfangreichen Wappnungsszene des Turnus (87-106), der eine solche des Aeneas (107-112) folgt. Auf den Serviuskommentar verweist West 1969, 47. So richtig West 1969, 47. Weitere Beispiele für die Einbeziehung von Wort- und Realienkommentierung durch Vergil in seiner Homerimitation werden in Kap. VI (S. 336ff.) behandelt. LSJ 53 (s. ν. άκοστάω/άκοστέω); 997 (s. ν. κροαίνω).

186

II. Ethische Exegese

womit sein Ausbruch aus dem Stall motiviert war, während die Ableitung von αχος inhaltlich begründet wurde mit dem Unwillen, den das Pferd über das Stehen im Stall empfinden mußte: Schol. [A] 6,506: άκοστήσας] άκος της στάσεως λαβών, τουτέστιν ΐαμα, και κριθιάσας ... βέλτιον δέ δυσχεράνας έπι τη της φάτνης στάσει (...) Schol. [bT] 6,506-8: άκοστήσας έπι φάτνη < 1 - 1 είωϋώς λούεσϋαι ] δρα οϊόν έστιν ή φιληδονία, ύπέρθεσιν οϋ δεχόμενον και των καθηκόντων έμποιοΰν άμέλειαν. Schol. [bT] 14,315: (...) άλλως τε διδάξαι βούλεται τους νέους ό ποιητής, όσον έστι χαλεπόν μή κρατεΐν τών παθών, όπου και Ζευς ό παγκρατής πάθει νικηθείς έζημιώθη τήν όνησιν, ην άπό της αγρυπνίας περιεποιήσατο.

246

IV. Kritische Exegese

Vergil hat in seiner Homerimitation auf diese so umstrittene, gleichwohl, wie ihre angelegentliche Verteidigung mit Hilfe der Allegorie zeigt, auch bewunderte Szene nicht verzichtet; doch die Art seiner Adaptation des problematischen Stoffes läßt deutlich erkennen, daß er die oben referierte Kritik kannte und berücksichtigte. Die Διός άπάτη leitet Homer ein, indem Hera Hypnos um Beistand bittet (14,233ff.): Er solle Zeus einschläfern, sobald sie sich mit ihm vereinige. Dieses Motiv der Bitte einer höheren an eine niedere Gottheit findet sich im 1. Aeneisbuch670: Juno wendet sich an Aeolus mit der Bitte, die Winde aus ihrem Kerker entweichen zu lassen, um so einen Sturm zu entfesseln, der die Trojaner vernichtet (65ff.). Wie die Hera der Ilias dem Schlafgott, so bietet auch die Juno der Aeneis dem Windgott als Lohn für seine Dienste eine Frau, ein schon bei Macrob (sat. 5,4,3) notierter Motivanklang671. Doch nicht nur er erinnert an den Zusammenhang der homerischen Διός άπάτη. Nachdem bei Homer Zeus, aus dem Schlafe erwacht, die Täuschung Heras erkannt hat, droht er ihr eine ähnliche Strafe an wie die, die er schon früher einmal an ihr vollzogen hatte, als sie gegen seinen Willen mit Hilfe des Boreas einen Seesturm entfesselt hatte, dem Herakles nur durch Unterstützung des Göttervaters entkam (15,26ff.). An eben diese Begebenheit erinnert der von Juno mit Hilfe des Aeolus entfesselte Seesturm sehr deutlich. Auch die Ziele der homerischen Hera und Junos bei Vergil sind ähnlich: Beide versuchen mit ihrer Aktion, die Trojaner ins Verderben zu treiben, und zwar gegen den Willen des Göttervaters. In deutlicher struktureller Parallele zur Juno-Aeolus-Szene des 1. steht werkimmanent die Juno-Allecto-Szene des 7. Aeneisbuches (33Iff), auch hier entsprechen sowohl Szenentyp als auch Intention der Göttin der HeraHypnos-Szene des 14. Iliasbuches; auch hier handelt Juno gegen den Willen des Zeus bzw. Jupiters. In beiden Szenen, vor allem in der Vorbereitung des Seesturms im 1. Buch, erinnert Vergil demnach deutlich an die umstrittene Διός άπάτη der Ilias; zugleich unterbleibt in den Szenen der Aeneis jedoch das seitens der moralisierenden Homerexegese empfundene Skandalon der Ilias: Jupiter erscheint anders als der Zeus der Ilias nicht als Opfer einer List, die, wie die Homerexegese hervorhob, an dessen allzumenschliche Leidenschaft appelliert hatte, sondern besitzt, wie in seiner Prophezeiung gegenüber Venus 670

671

Ihr entspricht im ersten Buch der zweiten Aeneishälfte die Begegnung Juno-Allecto (7,33 Iff.), die im Hinblick auf die Hera-Hypnos-Szene sekundär ist, worauf gleich zurückzukommen ist. Auf ihn verweist Lausberg 1983, 204 Anm. 7; zum (sekundären) Verhältnis dieser Szene zu Quintus Smyrnaeus und Apollonios siehe Heinze 1914, 74ff.

1. Die Imitation von ιερός γάμος und Διός άπατη in der Aeneis

247

(257ff.) deutlich wird, auch in dem Moment, als Juno ihn zu hintergehen sucht672, volles Wissen um das Handeln seiner Gegenspielerin einschließlich ihres letztlichen Scheiterns (quin aspera Inno, / quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat, / consilia in melius referet, 279ff.) - eine deutliche Kontrastimitation Vergils gegenüber dem homerischen Zusammenhang. Auch die Überlistung Aphrodites, der Göttin des 'trügerischen' Eros, durch Hera hatte die Kritik der Homerinterpreten gefunden: Die Juno Vergils unternimmt ebenfalls den Versuch, Venus zu überlisten, um dem Wiederaufstieg Trojas entgegenzuwirken, indem sie ihr die Stiftung des Ehebundes zwischen Dido und Aeneas vorschlägt (4,99ff.). Freilich liegt hier der dolus auf einer anderen Ebene, da Juno wenigstens das äußere Ziel ihres Vorhaben - die gemeinsame Herrschaft der Ehegatten über Karthago - offen darlegt (während Hera ihre Mission zu Okeanos und Tethys frei erfindet) und lediglich ihre tiefere Absicht verschleiert. Wie richtig bemerkt wurde673, liegt in der Tatsache, daß Vergils Venus den dolus Junos durchschaut (sensit enim simulata mente locutam, / quo regnum Italiae Libycas averteret oras, 105f.; dolis risit Cytherea repertis, 128), geradezu eine „Korrektur zur Aphrodite der Iliasstelle", damit aber auch eine Antwort auf die Kritik der Scholien an der unangemessenen Darstellung der Aphrodite in dieser Szene. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß der Homer- und Vergilimitator Valerius Flaccus sich dem homerischen Modell wieder eng angeschlossen hat, indem er Juno die Liebesgöttin um ihr Brustband (cingula)674 bitten (6,465f. da, precor, artificis blanda adspiramina formae / ornatusque tuos; vgl. 6,470f. [Venus] dedit acre decus fecundaque monstris / cingula)615 und zu diesem Zweck ebenfalls eine Lügengeschichte ersinnen läßt; dies wird jedoch im Anschluß an die Kontrastimitation Vergils nun ausdrücklich mit der Scheu der Göttin, ihre Furcht (um Jason) zu zeigen, begründet (veros metuens aperire timores, 459). Die Juno des Valerius ähnelt in dem Motiv für die 672

673 674

675

An anderer Stelle weist auch Homer Zeus die volle Kenntnis von Heras Plänen und ihrer schließlichen Vereitelung zu (vgl. II. 8,470-483; 15,59-71), aber eben dies gerät in der Täuschungsszene des 14. Buches selbst nahezu in Vergessenheit. Lausberg 1983, 235. Valerius scheint so treffend den κεστός ίμάς von II. 14,214 wiederzugeben (vgl. auch Aen. 1,492), nicht wie das D-Scholion z. St. und manche moderne Interpreten (s. Janko zu 214-17) i.S. von ζωστήρ zu deuten: In Arg. 6,668f. erscheint dieser Schmuck dann als monilia (s. Langen z. St.). Vgl. ferner Val. Fl. 6,470ff. (ulterius dedit acre decus fecundaque monstris / cingula, non pietas quibus aut custodia famae, / non pudor, at contra levis et festina cupido / adfatusque mali dulcisque labantibus error / et metus et demens alieni cura pericli) mit II. 14,214ff. (ή, και άπό στήΟεσφιν έλΰσατο κεστόν ιμάντα / ποικιλον, ένθα τέ οί ϋελκτήρια πάντα τέτυκτο· / ένθ' ένι μεν φιλότης, έν δ' ίμερος, έν δ' όαριστύς / πάρφασις, ή τ' έκλεψε νόον πΰκα περ φρονεόντων).

248

IV. Kritische Exegese

Lügengeschichte also eher der Venus der Aeneis als der Hera Homers, deren Beweggrund der Groll gegen eine ganze Stadt ist. Ebenso wie die Venus Vergils und im Unterschied zu der homerischen Aphrodite bemerkt die Liebesgöttin auch hier die List (sensit diva dolos, 467) und gewährt die Bitte, da sich - ebenso wie in der Aeneis - ihre Interessen mit denen Junos decken (467f.). Diese für Valerius typische Kontamination homerischer und vergilischer Motive in der Umformung primär homerischer Szenen zeigt, daß die kontrastierende Imitationsweise Vergils auch bei Bezugnahme auf homerische Szenen, deren strukturelle Entsprechung zu der Aeneishandlung nicht unmittelbar ins Auge fallt, von der Vergilkritik wohl bemerkt wurde. Vergil hat jedoch auch auf die szenische Verarbeitung des ιερός γάμος der Ilias nicht verzichtet; er imitiert diese Szene jedoch in einem völlig anderen Kontext und verleiht ihr durch ihn einen geradezu spielerisch-burlesken, in jedem Fall aber - im Sinne der kritisch-moralisierenden Homerexegese - unanstößigen Akzent: In dem Gespräch zwischen Venus und Vulcan und der sich anschließenden Liebesszene im 8. Buch, denen die Verfertigung der Waffen für Aeneas folgt, vereinigt Vergil szenisch den ιερός γάμος aus dem 14. Buch mit dem Bittgang der Thetis zu Hephaistos676 im 18. Buch der Ilias677. Wie Hera - mit Hilfe des Brustbandes der Aphrodite ihren Gemahl Zeus verfuhrt, um den Griechen einen Vorteil zu verschaffen, und Thetis Hephaistos um die Herstellung der Waffen für Achill bittet, so bittet die Liebesgöttin selbst ihren Gatten Vulcan um die Waffen für Aeneas und bezwingt ihn zugleich durch ihren Liebeszauber. Die Parallele zwischen der 'Verführung' Vulcans durch Venus und der des Zeus durch Hera wird ferner durch den Umstand in Erinnerung gebracht, daß Hera bei Homer ihren Gatten in sein kunstvoll von Hephaistos geschaffenes Gemach einlädt (14,338), Venus Vulcan im thalamo ... coniugis aureo verfuhrt (8,372). Es ist in diesem Zusammenhang nicht nötig, auf die Detailimitation näher einzugehen; schon der Blick auf die Einfügung dieser homerischen Szene in den Kontext des 8. Buches zeigt deutlich, daß der dolus der Venus gegenüber Vulcanus wiederum auf eine andere Ebene als die άπατη Heras gegenüber Zeus verschoben ist: In diesem Handlungszusammenhang muß Venus ihre Ziele aufdecken, um Vulcans aktive Unterstützung zu gewinnen, und sie tut dies auch ganz offen, indem sie ausdrücklich auf die Jovis imperia verweist, die Aeneas in das Land der Rutuler geführt haben (381), und damit auf die Berechtigung ihres Wunsches. Das Motiv ihres Vorhabens besteht in 676

677

An ihn läßt Vergil Venus ausdrücklich erinnern: 383f. (...) te fllia Nerei /... potuit lacrimis ... flectere: „a good instance of the self-consciousness of secondary epic" (Gransden zu 383). Etwa Aen. 8,370-406 ~ U. 18,369-467 + 14,292-353; vgl. Knauers Listen.

1. Die Imitation von ιερός γάμος und Διός άπατη in der Aeneis

249

ihrer - von den aufflammenden Kämpfen in Latium ausgelösten - Sorge (um Aeneas) (370f. 385f.), während Heras Absicht darauf zielt, die bereits erfolgende Unterstützung der Griechen durch Poseidon noch ihrerseits abzusichern (II. 14,154ff.) 678 . Im Gegensatz zum Zeus der Ilias spricht sie den Gatten z u e r s t an, und zwar im ehelichen thalamus (372, wo dann auch nicht in freier Natur - die Liebesvereinigung stattfindet). Die Freiheit der Gewährung ist Vulcan somit zunächst gegeben. So zögert er auch anfangs, ihrem Wunsch sofort zuzustimmen (388 cunctantem)619, woraufhin jedoch der divinus amor (373), den ihm die Gattin schon in ihren Worten einhaucht, und ihre Umarmung seine Entscheidung lenkt - in welcher Darstellung zu Recht, zumal gegenüber der parallelen Διός άπατη der Ilias, eine gewisse Ironie erkannt wurde680. Erst hier wirkt eine 'List' der Venus, die jedoch dem Wesen der Göttin völlig entspricht und insofern legitim ist. Auch hier nimmt Vergil ebenso wie in der Szene des 4. Buches Bezug auf die άπατη Heras (die in II. 14,300. 329 δολοφρονέουσα heißt, als sie Zeus umgarnt)681,

678

Lyne (1987, 38) meint eine Vorbereitung der Liebesszene (vgl. 388 amplexu fovet [Venus den Vulcan]; 405 dedit amplexus [Vulcanus]) in der ihr voraufgehenden Zeitbestimmung nox ruit et fiiscis tellurem amplectitur alis (369) erkennen zu können, die das Geschehen in Pallanteum abschließt. Abgesehen davon, daß diese Vorbereitung ihren Zweck kaum erfüllen dürfte, da keinerlei erkennbare (etwa im Sinne einer 'physikalischen' Allegorie ja prinzipiell denkbare) Gemeinsamkeit zwischen beiden Vorgängen in der Natur und auf der Götterebene besteht, macht die Parallele Aen. 2,253 (sopor fessos complectitur artus), in der auf die Nachtschilderung die Iliupersis folgt, den Zusammenhang noch unwahrscheinlicher. Der Vers 369 ist primär eine Wiedergabe von Od. 14,457 νύξ δ' άρ' επήλθε κακή σκοτομήνιος (beide Wendungen sind bei Homer und Vergil jeweils singular), die die Überleitung von der bisherigen Imitation des odysseischen Zusammenhangs (Odysseus als Gast bei Eumaios - Aeneas bei Euander) zu der eines Iliasab schnitts (Thetis-Hephaistos/Hera-Zeus) signalisiert, vgl. Knauer 1964, 252. 260f. 679 Vermutlich liegt hierfür der Grund darin, daß Venus für den Sohn eines sterblichen Nebenbuhlers (des Anchises) um die Waffen bittet, wie Lyne (1987, 39) hervorhebt; vgl. Fordyce z. St. 680 Siehe Knauer 1964, 162 Aran. 2; zuletzt hat Lyne (1987, 35ff.) diesen Aspekt des HeiterIronischen der Venus-Vulcan-Szene zu Recht hervorgehoben, jedoch mit m.E. überzogenen Schlußfolgerungen (6Iff.). Eine zwanglose Deutung dieser Grundstimmung liegt in der Herstellung eines Gegenbildes göttlicher Leichtigkeit zu den menschlichen labores, die Aeneas und Euander auf sich zu nehmen haben und die so in ihrer Bedeutung herausgehoben sind. Dieselbe Kontrastwirkung wollte nach Auffassung der antiken Interpreten auch Homer durch den Schauplatzwechsel erzielen, vgl. Schol. [bT] 14,153 ήδη προσδοκώμενου του κινδύνου των νεών, ανυπερθέτως έτέρω έπεισοδίω έκαινοποίησε την ύπόθεσιν μετάγει τε ημάς έπι τά ουράνια και έρωτικάς διηγήσεις ποιείται (...). Im Unterschied zum homerischen Modell sind freilich beide Ebenen in vergilischer Weise durch göttliche Sympatheia miteinander verknüpft, wenn Venus Laurentum ... minis et duro mota tumultu in das Gemach Vulcans eilt. 681 vgl. auch II. 14,197 (im Gespräch mit Aphrodite); s. Gransden zu 393.

IV. Kritische Exegese

250

indem er die Freude der Venus über den sich abzeichnenden Erfolg beschreibt, als ihr Gatte (pater, 394 wie Zeus πατήρ in II. 14,352)682 von ihrem Liebeszauber ergriffen wird: sensit laeta dolis et formae

conscia

coniunx

(393). Vulcan gewährt dann ausdrücklich der Venus ihre Bitte, läßt jedoch anders als der Zeus der Ilias durchblicken, daß er den dolus der Gattin, der in ihrem Liebeszauber besteht, wohl bemerkt, gleichwohl völlig billigt: Aen. 8,403

('...) absisteprecando viribus indubitare tuis (...')

In den Schlußversen der Szene nimmt Vergil nochmals deutlich Bezug auf den ιερός γάμος der Ilias und fordert auf diese Weise den Vergleich mit Homer heraus, zunächst durch äußere Entsprechungen: Aen. 8,404

II. 14,346 352

ea verba locutus optatos dedit amplexus placidumque petivit coniueis infitsus gremio per membra soporem, vgl. ή pa, και άγχάς εμαρπτε Κρόνου παις ην παοάκοιτιν (...) ώς ό μεν άτρέμας εΰδε πατήρ άνά Γαργάρω άκρω ΰπνω και φιλότητι δαμείς, εχε δ ' άγχάς άκοιτιν.

Die Überwältigung des Vulcan durch den Liebeszauber hatte Vergil vor der Schilderung seiner Vereinigung mit Venus zuvor mit einem Gewitterblitz verglichen: Aen. 8,389

accepit solitam flammam, notusque medullas intravit calor et labefacta per ossa cucurrit, non secus atque olim tonitru cum rupta corusco ignea rima micans percurrit lumine nimbos.

Hierin dürfte ein deutlicher Hinweis auf die oben schon erwähnte, in der Antike geläufige physikalische Allegorese des ιερός γάμος als eines (durch die Mischung von Zeus = trockenem Äther und Hera = feuchter Luft entstehenden) Gewitters liegen. Ohne daß so eine durchgängige Identifikation bzw. Allegorisierung der beiden vergilischen Götter mit den physikalischen Prinzipien, die dem anderen Götterpaar bei Homer zugewiesen wurden, intendiert wäre, war es doch offenbar Absicht des 'poeta doctus', auch noch durch diese feinere Reminiszenz auf das homerische Modell hinzuweisen und ein gebildetes Publikum zum Vergleich herauszufordern. Vergil hat demnach seine Imitation des ιερός γάμος in einem Kontext vorgenommen, in dem Venus offen agieren muß, ihr Plan aber auch in völ682

Vgl. Gransden zu 394.

1. Die Imitation von ιερός γάμος und Διός άπατη in der Aeneis

251

liger Übereinstimmung mit dem fatum Jupiters steht, während Hera die Διός βουλή zu durchkreuzen versucht. Er hat ferner die άπατη Heras, die den Gatten über ihre wahren Motive täuscht, zum (amoris) dolus der Venus verschoben, der nach antiker Auffassung epischer Konvention entsprach (vgl. Schol. [bT] 14,212) und Vulcan zunächst - freilich nicht ohne humoristischen Effekt - die Freiheit der Entscheidung beläßt; auf diese Weise vermied Vergil die traditionellen Anstöße, die die Homerkritik an den Iliasszenen nahm. Hierin lag eine entscheidende Bedingung für das Ziel überbietender imitatio Homers. Ein Zeugnis für die Kontinuität, die die - nach frühen Anfängen von den Alexandrinern aufgegriffene - kritische Exegese Homers im Hinblick auf das πρέπον in der Götterdarstellung besaß, ist mit Bezug auf die VenusVulcanszene bei Macrob überliefert683: Hier entrüstet sich ein Kritiker Vergils über die Darstellung der Venus, die es wagt, ihren Gatten um einen Gefallen für den Sohn eines sterblichen Nebenbuhlers zu bitten (Macr. sat. l,24,6f.: qui enim moriens poema suum legavit igni, quid nisi famae suae vulnera posteritati subtrahenda curavit? nec immerito. erubuit quippe de se futura iudicia, si legeretur petitio deae precantis filio arma a marito cui soli nupserat nec ex eo prolem suscepisse se noverat)684. Bei Gellius (9,10) wird zunächst zwar hervorgehoben, wie dezent Vergil in seiner Schilderung der Vereinigungsszene verfahren sei, jedoch auch ein kritisches Urteil des Cornutus überliefert, der sich diesem Lob zwar insgesamt angeschlossen, im Hinblick auf die membra Vulcans freilich moniert habe, daß der Dichter diesen Ausdruckpaulo incautius gewählt habe685. Wie schon die moralisierende

683

684

685

Auf die Stelle verweist Fordyce zu 382. In Aen. 7,620ff. öffnet Juno selbst die Pforten des Janustempels, welcher Vorgang zuvor als foeda ministeria, deren Ausführung Latinus verweigert, qualifiziert wurde. Ti. Donatus (2,92,20-23 Geo) referiert eine Kritik an dieser Szene: fecit Iuno quod non conveniebat deae, ut relictis caeli partibus veniret ad terras et panderet sceleribus viam atque in bello perituros urgeret. In dem ästhetischen Kriterium des conveniens liegt, wie hier deutlich wird, eine Entsprechung zum πρέπον der hellenistischen Homerkommentierung. Auf eine ähnliche Kritik, die jedoch offenbar eher auf einen Mangel an πιΟανότης zielte, wenn moniert wurde, daß Venus mit ihrer Bitte um den Sohn des Nebenbuhlers E r f o l g hat, antwortet Servius (zu 8,373): petitura [sc. Venus] pro filio de adulterio procreato orationem suam ingenti arte composuit (...) ergo quaestionem hanc quae nascitur expetitione Veneris inpudica, solvimus his modis (es folgen Hinweise darauf, daß Venus ihren Liebeszauber als Mittel einsetzt, feiner mit Recht annehmen darf, daß Vulcan ihr zumindest wegen ihres anderen Fehltritts mit Mars nicht mehr zürnt, wenn er für diesen Konkurrenten doch gerade Waffen herstellt, und schließlich daß Vulcan ihr Gatte ist). Andere Kritiker, unter ihnen Probus, stießen sich an dem als zu drastisch empfundenen injusus (sc. gremio) von 406: die lebhafte Diskussion über dieses 'cacemphaton' überliefert Servius (zu 8,406).

IV. Kritische Exegese

252

Homerexegese beim Iliasdichter bemängelten demnach auch manche Vergilkritiker den übermäßigen, dabei als anstößig empfundenen Realismus der vergilischen Liebesszene und damit die Art seiner Götterdarstellung. Auch der Aeneisdichter, so wird deutlich, sah sich einem Publikum gegenüber, das die Maßstäbe der antiken Homerkritik anlegte. Die Detailschilderung der Liebesszene zwischen Venus und Vulcan weist über das homerische Modell hinaus Beziehungen zum Proöm von Lukrezens De natura deorum auf, vgl. Lucr. 1,31

38 40 Aen. 8,394 404

414

nam tu [sc. Venus] sola potes tranquilla pace iuvare mortalis, quoniam belli fera moenera Mayors armipotens regit, in gremium qui saepe tuum se reicit aeterno devictus vulnere amoris (...) hunc tu, diva, tuo recubantem corpore sancto circumfusa super, suavis ex ore loquellas fundepetens placidam Romanis, incluta, pacem; vgl. tum pater aeterno fatur devinctus686 amore: (...) ... ea verba locutus optatos dedit amplexus placidumque petivit coniugis infusus sremio (...) haud secus ignipotens...

Die in die Venus-Vulcan-Szene eingelegte Lukrezreminiszenz verstärkt die Beziehung, durch die sie - neben den szenischen Bezugnahmen auf die Thetis-Hephaistos-Szene des 18. und die Hera-Zeus-Szene des 14. Iliasbuches - mit dem in der Aeneis an anderer Stelle indirekt aufgegriffenen687 odysseischen Mythos von Ares und Aphrodite verbunden ist. Diese „hintergründige Erscheinungsform" der Ares-Aphrodite-Geschichte unterscheidet sich allerdings, wie Knauer 1964, 162 Anm. 1 hervorhebt, sehr deutlich vom odysseischen Sujet, indem Venus bei Vergil in ihrer Funktion als treue Gattin und besorgte Mutter von Vulcans Stiefsohn auftritt. Die bei Lukrez implizierte allegorische Deutung des Ares-Aphrodite-Mythos dürfte der Venus- V u l c a n -Szene des 8. Aeneisbuches nicht zugrundeliegen, da angesichts der festen Identifizierung der einzelnen Gottheiten mit physikalischen Prinzipien in der kosmologischen Dichterexegese die Zuordnungen nicht ohne weiteres austauschbar sind, Ares also nicht durch Hephaistos ersetzt werden kann. Dagegen bringt Hardie (1985, 90-92) recht überzeugend die antike Interpretation 686

687

Zu überliefertem devinctus [v. 394] Vergils gegenüber Lukrezens devictus·. Gegenüber den späteren karolingischen Handschriften [devictus] ist den Majuskelcodd. der Vorzug zu geben, deren Lesart das auch sonst beobachtbare Bemühen Vergils zeigt, wörtliche Imitation eher zu vermeiden. Lyne (1987, 39) weist mit Recht auf das Paradoxon hin, das Lukrez in dem Bild des „besiegten Kriegsgottes" geschaffen habe, und erwägt die - nicht unwahrscheinliche - Möglichkeit, Vergil habe mit Anspielung auf die Rolle Vulcans in der Geschichte vom Ehebruch der Venus mit Mars ebenfalls ein Parodoxon schaffen wollen. Siehe S. 13Iff.

2. Göttliches Eingreifen in den Kampf

253

der ίερος γάμος-Szene in der Ilias als φυσικός λόγος in einer speziellen stoischen Ausdeutung als Ekpyrosis mit nachfolgender Regeneration des Kosmos (bei Dion Chrys. 36,56) mit dem Gewittergleichnis in der vergilischen Venus-Vulcan-Szene in Verbindung und sieht durch sie vor diesem Hintergrund eine 'Neuschaffung' des (nun römischen) Kosmos versinnbildlicht, wie er auf dem von Vulcan gleich darauf gefertigen Schild des Aeneas dargestellt ist.

2. Göttliches Eingreifen in den Kampf

a) Göttliche Intervention im Schlußkampf zwischen Aeneas und Turnus Vorbild für den Endkampf zwischen Aeneas und Turnus ist die homerische Schilderung der entscheidenden Begegnung zwischen Achill und Hektar im 22. Iliasbuch: Nach der Kerostasie des Zeus, mit der sich das Los Hektars, seine Niederlage im Zweikampf mit Achill, entschieden hat (22,21 Off.), wendet sich Athene erst an den Peliden, der noch immer in schnellem Lauf Hektar verfolgt (136ff.), um ihm den Mut zu stärken (215ff), dann in der Gestalt des Deiphobos, eines seiner Brüder, an Hektar (226ff); sie gibt ihm den Rat, von der Flucht vor Achill abzulassen und sich dem Gegner entgegenzustellen (231), und treibt ihn mit dieser List (κερδοσύνη, 247) schließlich in den entscheidenden Nahkampf mit Achill, der kurz darauf mit der tödlichen Verwundung Hektars endet (326ff.). Eine kurze Bemerkung in den Scholien zeigt, daß Homer mit dieser Darstellung der Göttin Athene bei seinen antiken Kommentatoren Anstoß erregte. Sie stellten dieser Szene das ebenfalls fragwürdige Vorgehen Apollons im 16. Buch zur Seite, wo dieser sich dem Patroklos, in dichten Nebel gehüllt, von hinten genähert, ihn auf Rücken und Schultern geschlagen und schließlich seiner Rüstung beraubt hatte, so daß Euphorbos und Hektor den Gegner gemeinsam töten konnten [16,789ff.])688: Schol. [bT] 22,231: άλλ' αγε δή στέωμεν ] άτοπον θεόν ούσαν πλανάν τον Έκτορα. ή τά ίσα πράττει Ά π ό λ λ ω ν ι , έπει κάκεΐνος έπέϋετο Πατρόκλω μαχομένω.

Diese Kritik an der ungehörigen, verzerrenden Darstellung der Götter bzw. ihres Eingreifens beschränkte sich nicht auf die beiden Szenen, wenngleich sie hier besonders deutlich ausfallt. Typisch für diese Auffassung ist auch die Antwort auf eine απορία zu einer Szene des 7. Iliasbuches, in der 688

Auf das Scholion zu II. 22,231 und seinen möglichen Einfluß auf Vergil hat erstmals Heinze 1914, 483 Anm. 1 verwiesen; s. ferner Schlunk 1974, lOlff.

254

IV. Kritische Exegese

der trojanische Seher Helenos „im Geiste" den Beschluß Apollons und Athenes über einen Zweikampf zwischen Hektor und einem Griechen vernimmt (44f): Die Interpreten fragten, warum der Dichter Hektor die Aufforderung, einen Gegner herauszufordern, nicht von Apollon selbst überbringen lasse; die λύσις lautet: Hektor solle ja besiegt aus dem Kampf gehen (Schol. [bT] 7,44-5). Hinter dieser knappen Begründung steht offensichtlich der Gedanke, daß eine Aufforderung Apollons zum Kampf in der Rückschau als Täuschung erscheinen müßte, was Homer nicht beabsichtigen könne und durch diese Ökonomie zu vermeiden suche. Deutlicher noch - und nicht weniger bemüht - sucht ein Interpret an einer weiteren Stelle Homer von dem Vorwurf des άπρεπες in seiner Darstellung göttlichen Eingreifens in die Kampfhandlungen zu befreien: Vor dem Durchbruch der Trojaner durch die Mauer des Griechenlagers im 12. Buch schickt Zeus ihnen ein abschreckendes Zeichen, das der Seher Polydamas auch in diesem Sinn deutet, doch setzt sich Hektor mit Hinweis auf die ihm günstige Διός βουλή durch689. Das Scholion überliefert die Frage der Interpreten, warum Zeus dieses Zeichen sende, obwohl er den Trojanern doch Erfolg verleihen wolle. Der Kommentator antwortet, Zeus wisse, daß Hektor dem Seher nicht gehorchen werde, und wolle doch die Trojaner nicht täuschen (denn er will ja letztlich durch den trojanischen Erfolg Achill und damit den Griechen zum Erfolg verhelfen) (Schol. [T] 12,208). Zurück zu der Kritik an den beiden 'Täuschungs'szenen des 16. und 22. Iliasbuches: Das Scholion zu der Szene des 16. Buches, auf die der Kommentator verweist, läßt erkennen, daß abgesehen von dem Aspekt des πρέπον diese Art göttlichen Intervenierens noch aus einem anderen Grund als problematisch empfunden wurde: Die Aristie des Helden - hier Hektors - wurde nach Auffassung der Interpreten dadurch vom Dichter verringert, daß er dessen eigenen Anteil an der Großtat zurücktreten ließ; dabei dürften sich kaum alle Kritiker mit der λύσις beruhigt haben, Homer habe sich bewußt fur diese 'Aufgabenteilung' entschieden, ja mit der einseitigen göttlichen Unterstützung Hektors das Ziel verfolgt, durch den 'unfairen' Kampf trotz seiner Niederlage die Leistungen des Gegners noch herauszuheben: Schol. [bT] 16,793-804: ] άοπλους γαρ ίδόντες ούκ ένόμισαν εχθρούς είναι. Schol. [HMQR] 3,71: ώ ξεΐνοι, τίνες έστέ] τούς μετ' αυτόν τρεις στίχους ό μεν 'Αριστοφάνης ένθάδε σημειοΰται τοίς άστερίσκοις ... ό δε Άρίσταρχος οίκειότερον αυτούς τετάχθαι έν τώ λόγω τοΰ Κΰκλωπός [9,252ff.] φησιν· ούδέ γαρ νυν οί περι Τηλέμαχον ληστρικόν τι έμφαίνουσι. δοτέον δέ, φησί, τφ ποιητή τά τοιαύτα.

284

IV. Kritische Exegese

lautgewordene Kritik aufgegriffen hat: Auch Euander, umgeben von seinem Sohn Pallas und einem 'Ursenat' (105), zelebriert im Augenblick der Ankunft der Fremden ein Opfer (für Hercules und die übrigen Götter). Hier jedoch reagiert die Gruppe auf das Ereignis mit großem Schrecken (terrentur visu subito, 109) - das Erzähltempus wechselt vom Imperfekt (106) zum Perfekt und dann zum historischen Präsens (107ff.) wobei die - wie beim Odysseedichter überraschende (vgl. Od. 3,34) - Ankunft der Fremden noch dadurch dramatisiert erscheint, daß die Annäherung der Schiffe im Dickicht des Uferhaines, in dem die Arcader ihre Opfer vollziehen (ut celsas videre rates atque inter opacum / adlabi nemus, 107f.), und in aller Stille erfolgt ([videre] tacitos766 incumbere remis, 107f.). Die Furcht der mit dem Opfer-

mahl befaßten Gruppe gilt einerseits einer als ominös empfundenen Störung der Zeremonie durch Fremde (110f.)767 - die Religiosität des augusteischen Rom findet sich damit schon im 'Ur-Rom' Pallanteum vorgebildet. Darüber hinaus zeigen jedoch die Fragen, die Pallas, der (einzige) Sohn Euanders (104), an die Ankömmlinge richtet und die in der Frage nach Geschlecht und Herkunft deutlich an die parallele Telemachieszene erinnern (nur daß sie hier nicht vom jungen Peisistratos, sondern erst viel später von Nestor gestellt worden war), daß die unbekannten Ankömmlinge durchaus als mögliche Bedrohung empfunden werden. Die Frage erfolgt ferner aus sicherer Ferne (procul, 112), während Peisistratos den Fremden sogleich έγγύϋεν (36) entgegengegangen war: Aen. 8,112

et procul e tumulo: 'iuvenes, quae causa subegit ignotas temptare vias? quo tenditis?' inquit. 'qui genus? unde domo? pacemne hue fertis an arma?'

Vergil läßt Pallas also die Frage Nestors zu einem deutlich besser motivierten Zeitpunkt stellen, unmittelbar nach der Ankunft der Fremden; insbesondere die letzte Frage des Pallas nach der Absicht der Fremden (pacemne hue fertis an arma?) scheint wie eine Antwort auf die Kritik an der Unklarheit der Telemachieszene, in der der Dichter nichts darüber hatte verlauten lassen, ob die Fremden sich bewaffnet nähern oder nicht - Pallas weiß es ebensowenig, wie es Nestor und seine Begleiter wissen können, als sie das fremde Schiff ankommen sehen. Erst als Aeneas den Olivenzweig als Friedenssymbol in die Höhe hält und in aller Kürze auf die Fragen des Pallas

766

767

Sc. die Besatzung der rates (107a), Konstruktion κατά σύνεσιν. Servius bietet die varia lectio tacitis, die jedoch eine kühne Enallage in den Text trägt; sie suchte offenbar die (nur geringe) Schwierigkeit auszuräumen, aus dem Subj.-Akk. rates ein 'viros' o. ä. zu konstruieren. Vgl. Servius z. St.

4. Die Ankunft der Trojaner in Pallanteum

285

antwortet (115ff.), erfolgt der herzliche Empfang, in enger Anlehnung an die odysseische Szene, wobei dieser hier wie dort immerhin einem noch immer Unbekannten gilt768: Aen. 8,122

Od. 3,36

'egredere ο quicumque es' ait 'coramque parentem adloquere ac nostris succede penatibus hospes.' excepitque manu dextramque amplexus inhaesit, vgl. πρώτος Νεστορίδης Πεισίστρατος έ γ γ ύ ü ε ν έλΟών αμφοτέρων έλε χείρα κ α ι ΐδρυσεν π α ρ ά δ α ι τ ί .

Bemerkenswert ist auch Vergils Motivation für die 'Begrüßung' der Fremden durch den Königssohn Pallas als e r s t e n unter den Arkadern, der hierin dem odysseischen Peisistratos entspricht: Sie liegt in dem Charakter des jungen Mannes, der audax (110) sofort (und vor allen anderen) auf die mögliche Gefahr reagiert, indem er eine Waffe ergreift und den Fremden ipse (111) entgegenläuft, um sie zur Rede zu stellen. Vergil hat so das offenbare Fehlen, zumindest aber die Schwäche der Motivation für den Auftritt des Peisistratos, die die lahme Erklärung der Scholiasten nur noch deutlicher spürbar werden läßt, dazu genutzt, um einen Wesenszug des Pallas gleich bei seinem ersten Auftreten herauszuheben 769 . Im Ergebnis hat Vergil somit sein homerisches Modell über die Berücksichtigung der antiken Kritik an den 'Lücken' in seiner Ökonomie in einer gedrängten und dramatisierten Nachgestaltung deutlich gesteigert. In dem Zusammenhang des 8. Buches, dessen inhaltlicher Schwerpunkt die Suche des Aeneas nach Bundesgenossen für den Kampf gegen die Latiner ist, konnte der markante Auftritt des Pallas diesen als Mitkämpfer empfehlen und so im Sinne epischer προοικονομία seinen späteren Eintritt in die Kämpfe um Latium an der Seite des Aeneas vorbereiten: Denn ebenso wie Peisistratos dem Telemach der Odyssee auf seiner gefahrlichen Suche nach dem Vater wird Pallas dem Aeneas in seinem Kampf gegen die Latiner zur Seite zu stehen.

768

In 155 erfolgt dann als Ergänzung von Aeneas' Selbstvorstellung seine 'Wiedererkennung' durch Euander, bevor in 175 das eigentliche Gastmahl beginnt. 769 Ygj (j en Kommentar des Servius z. St.: 'audacem' autem dicit ubique Vergilius, quotiens vult ostendere virtutem sine fortuna\ ferner Fordyce z. St. und zuletzt Gransden 1984, 92f., der in dieser im Auftritt des Pallas liegenden 'tragischen Ironie' den entscheidenden Unterschied zur odysseischen Darstellung des Peisistratos sieht.

5. Das Heiratsangebot

des Latinus

Nach der Ankunft in Latium entsendet Aeneas eine von Ilioneus angeführte Delegation zum König Latinus, um ihm Geschenke zu überbringen und um Frieden zu bitten (7,155). Das Gespräch zwischen dem König und Ilioneus nimmt einen günstigen Verlauf; am Ende gewährt Latinus nicht nur die Bitte um Aufnahme der Fremden in sein Land (263ff.), er will Aeneas gar seine Tochter Lavinia zur Frau geben (268ff). Das Heiratsversprechen des Latinus besitzt sein Vorbild im 7. Buch der Odyssee: Odysseus hat auf Weisung Nausikaas den Palast des Alkinoos betreten, dort das Königspaar bei einem Trankopfer angetroffen und, ohne sich vorzustellen, darum gebeten, ihm bei der Heimkehr behilflich zu sein. Nachdem ihm der König dies zugesagt, ja die Vermutung ausgesprochen hatte, in ihm einen Gott zu erblicken - was der Held aber verneint hatte - und Odysseus von seinen Leiden seit Verlassen der Kalypsoinsel berichtet hat, richtet Alkinoos ein kurzes Gebet an Zeus, in dem er sich den ihm noch immer unbekannten Gast zum Gemahl seiner Tochter Nausikaa wünscht; dann wendet er sich mit dem recht konkreten Angebot an den Fremden, ihm Haus und Besitz zu geben, wenn er (als sein Schwiegersohn) bleiben wolle (οίκον δέ κ' έγώ και κτήματα δοΐην, / εϊ κ' έϋέλων γε μένοις, 7,314f.). Schon in anderem Zusammenhang wurde erwähnt, daß die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Nausikaa und Odysseus, das Alkinoos hier in festere Form bringen möchte, in manchen Punkten auf die Kritik antiker Interpreten stieß770. Besonderen Anstoß nahm man - allen voran Aristarch, der sich zur Athetese entschloß - an dem Heiratsangebot des Alkinoos an einen Mann, über dessen Herkunft, Identität und Charakter er noch immer nichts erfahren hatte: Schol. [P] 7,311: αί γαρ Ζεΰ πάτερ] τους εξ Άρίσταρχος διστάζει Όμηρου είναι, εί δέ και 'Ομηρικοί, είκότως αυτούς περιαιρεϋήναί φησι. πώς γαρ άγνοών τον άνδρα μνηστεύεται αϋτώ την θυγατέρα και ού προτρεπόμενος, άλλα λιπαρών; [Τ] άτοπος, φασίν, ή ευχή· μή γαρ έπιστάμενος όστις έστι μηδέ πειραϋεις εύχεται σύμβιον αυτόν λαβείν και γαμβρόν ποιήσασΟαι. Der Vorwurf, Homer habe durch diese Handlungsökonomie gegen das πρέπον verstoßen, entsprach der Tendenz alexandrinischer Dichterexegese, das Werk des alten Dichters mit den religiösen und sozialen Maßstäben der eigenen Zeit zu beurteilen. Ein solcher Verstoß gegen sie aber wurde, wie im 770

Siehe o. S. 107ff.

5. Das Heiratsangebot des Latinus

287

Falle der εύχή des Alkinoos, mitunter als Unechtheitsindiz gewertet. Doch auch wenn die im engeren Sinne literarischen Kriterien der Alexandriner angelegt wurden, konnte das Heiratsangebot des Alkinoos durchaus unrealistisch erscheinen; hierin lag ein 'Verstoß' gegen die Forderung der alexandrinischen Homerkommentatoren, daß der Dichter ein so zentrales Motiv der Handlung plausibel (πιθανώς), d.h. vor allem wirklichkeitsnah begründen mußte - immerhin verdichteten sich in diesem Heiratsangebot wie schon in dem Versprechen Kalypsos, Odysseus bei seinem Verbleiben unsterblich zu machen, nach Auffassung der antiken Homerexegese die Versuchungen, die der Heimkehr des Helden, dem τέλος der Eposhandlung, entgegenstehen konnten771. Im Kontext der parallelen Aeneisszene erscheint eben dieser Anstoß, der im Heiratsangebot an den u n b e k a n n t e n Odysseus gesehen wurde, deutlich vermieden772. Zunächst sind die Trojaner und mit ihnen ihr Führer Aeneas keine Unbekannten, wie Latinus gleich in seiner Anrede an die Gesandtschaft unter Ilioneus deutlich macht: Aen. 7,195

'dicite, Dardanidae (neque enim nescimus et urbem et genus, auditique advertitis aequore cursum) (...')

Latinus hatte - wie Dido in der entsprechenden Szene des 1. Buches773 bereits vor der Ankunft der Fremden Kunde von Troja und seinem Schicksal erhalten; die Ankunft der Aeneaden ist somit bereits vorbereitet. Auch die verwandtschaftliche Beziehung der Trojaner zu seinem eigenen Land ist ihm bekannt (205ff.). Doch bei diesem Vorwissen des Königs bleibt es nicht: Dem Heiratsangebot, das Latinus schließlich ausspricht, geht der Bericht des Ilioneus voraus, in dem dieser sein Volk (vor allem aber auch seinen Anfuhrer Aeneas) vorstellt, auf seinen göttlichen Ursprung hinweist (219f.) und von seinem Schicksal Kunde gibt (222ff). Es wird unmittelbar vorbereitet durch die Behauptung des Ilioneus, daß sich zwar schon manche Völker um ein Bündnis mit den Aeneaden bemüht hätten (236ff.) - womit er seine Behauptung, die Trojaner würden non ... regno indecores (231) sein, zu stützen 771 772

773

Siehe die Behandlung der Karthagoepisode S. 99ff. Auf die mögliche Bedeutung dieser Kritik fur die Homerimitation Vergils hat erstmals Heinze (1914, 338 Anm. 1) kurz hingewiesen; vgl. ferner Schlunk 1974, 9ff. „But while in Book I Ilioneus speaks first and reveals the identity of his party, here Latinus apparently can guess without being told, who ingentes viri ignota in veste must be", so Fordyce z. St.; Latinus muß nicht eigens in Kenntnis gesetzt worden sein, daß die Fremden, die ihn aufsuchen werden, die Trojaner seien (so geben Con.-N. z. St. zu bedenken), von denen er durch fama gehört und deren baldige Ankunft er durch die Orakel (7,69ff.) erfahren hatte. Ein Vergleich der ähnlichen und strukturell einander entsprechenden Begrüßungsworte des Latinus und der Dido bei Gransden 1984, 60ff.

288

IV. Kritische Exegese

beabsichtigt - , doch die fata deum hätten sie gedrängt, Latium aufzusuchen (239f.). In diesem Moment erinnert sich Latinus an das Orakel des Faunus, nach dem der Bräutigam seiner Tochter aus der Ferne kommen und durch seine Nachfahren eine Weltherrschaft begründen werde (255ff). Dieses Motiv hatte Vergil bereits in einem Exkurs vorbereitet, mit dem er im Anschluß an den Erato-Anruf und das Binnenproöm (7,37ff.) die Schilderung der Ereignisse in Latium kurz zuvor eingeleitet hatte: Lavinia sei bereits in heiratsfähigem Alter gewesen (iam matura viro, iam plenis nubilis annis, 53)774 und viel umworben worden, allen voran von Turnus, doch hätten ihrer Vermählung warnende Götterzeichen (variis portenta deum terroribus, 58) entgegengestanden, die Vergil im folgenden näher ausgeführt hatte (59ff.). Dieses Zeichen wie auch das Orakel, das der beunruhigte Latinus darauf von seinem Vater Faunus erhalten hatte, war durch Fama überall im Reich verbreitet worden just in dem Augenblick, als die Trojaner die Tibermündung erreichten (104ff). Dies alles bildet den Hintergrund für das am Ende des Gesprächs mit Ilioneus erfolgende Heiratsangebot des Latinus. Vergil hat durch diese äußerst sorgfältige Vorbereitung des Heiratsversprechens im Sinne der προοικονομΐα, die bei Homer fehlte, zweierlei erreicht: Die göttliche Sanktion des Bündnisses zwischen dem alten Italien und seinem neuen Herrscher, dessen Volk durch die Verbindung mit den generi aus der Ferne verewigt werden (271 f.), kommt deutlich zum Ausdruck, zusammen mit ihr deutet sich bereits der entstehende Konflikt zwischen Turnus und Aeneas an. Daneben aber wird auch die unmittelbar folgende Szene, auf deren Höhepunkt Latinus das Heiratsangebot macht, kompositioneil vorbereitet. Bemerkenswert ist nun, daß Vergil trotz dieser sorgfältigen Disposition seinerseits einer ganz ähnlichen Kritik, wie sie an Homer geübt wurde, nicht entgangen ist. Im Kommentar des Servius775 wird diese referiert und mit dem Hinweis auf die Vorbereitung des Heiratsangebots durch die Orakel und den Ruhm des Aeneas (von dem Latinus aus den Worten des Ilioneus [219ff.] einen Eindruck erhalten soll) widerlegt:

774

775

Hierin liegt eine weitere, über den primären Iliasbezug zu Beginn des maius opus hinausweisende Verbindung zur Odyssee, konkret zur Phaiakis: Gleich bei ihrem ersten Auftreten stellt der Odysseedichter Nausikaa als Mädchen in heiratsfähigem Alter vor (6,27ff), die von vielen Freiern umworben wird (33ff., vgl. 66); dieser Umstand verbindet Lavinia auch mit dem Penelope-Thema (s. Knauer 1981, 879). Die Latinustochter bildet also über die Nausikaa- und Penelopeverbindung auch werkimmanent eine Analogie zur Dido des 1. Aeneisbuches (s. S. 103ff.), womit wiederum auf die dichotomische Großstruktur der Aeneis hingewiesen ist. Auf ihn verweist Schlunk 1974, 11.

5. Das Heiratsangebot des Latinus

289

Serv. Aen. 9,268: est mihi nata] male multi arguunt Vergilium quod Latinum induxit ultro filiam pollicentem, nec oraculum considerantes, quia Italo dari penitus non poterat, nec Aeneae meritum, quem decebat rogari. nam antiquis semper mos meliores generös rogare. Ganz ähnlich heißt es bei Tib. Donatus, das Angebot des Latinus sei gegen jede exprobratio gefeit, wenn dieser seine Entscheidung so nachdrücklich begründe: Tib. Donat. 2,44,18-27 Geo.: et re vera, cum quis offert filiam suam, cavere debet ne in suspicionem contrariam veniat. quod ne Latino occurreret, non aperte obtulit filiam, sed indicavit quae signa oblata sint super eius coniunctione perficienda quidve ipse, cum patrem consuluisset, audierit. nec criminis esse arbitratus est, si profiteretur sibi placere deorum iudicium, cui resisti non posset, cum potius et laetari debuit nuptias filiae suae diis faventibus ordinatas. ecce vitavit obtrectationem et in eo magis plurimum sibi dedit nec ipse est auctor, sed executor cupit esse divinae sententiae. Die Vergilkommentare bezeugen, daß auch Vergils Nachgestaltung des homerischen Motivs einer lebhaften Diskussion ausgesetzt war, die sich, wie schon häufiger zumindest in der eigentlichen Aeneiskommentierung zu beobachten war, insgesamt in den Bahnen der ästhetischen Kriterien der alexandrinischen Homerkritik bewegte; ebenso deutlich wird, daß das Bemühen Vergils, durch Berücksichtigung der Homerkritik seinen Vorgänger zu überbieten, von seinen Kritikern und Interpreten - hier von seinen 'Verteidigern' - wohl erkannt wurde. Möglicherweise darf man die Nachgestaltung der Aeneisszene in der Thebais des S t a t i u s als einen Hinweis darauf werten, daß die spätantiken Vergilkommentare, wie ohnehin zu erwarten, eine weit frühere Diskussion der Aeneispartie referieren: Statius erinnert in dem Heiratsangebot des Argiverkönigs Adrast an Tydeus und Polynices sehr deutlich an die entsprechende Unterredung bei Latinus, wenn er Adrast erklären läßt: geminae mihi namque ... / ... aequo pubescunt sidere natae (2,158f.; vgl. Aen. 7,268 est mihi nata) und dieses 'Leitzitat' um den Hinweis des Königs ergänzt, seine Töchter seien nicht nur von einheimischen Freiern viel umworben worden (157f.); er habe sich jedoch durch die responsa der Götter dazu aufgefordert gesehen, nec Sparta genitos nec ab Elide missos / iungere ... generös (167f.), sondern die beiden Gastfreunde als Schwiegersöhne zu wählen776. Diese Offerte Adrasts ist nun jedoch von noch weitaus längerer Hand als das entsprechende Angebot des Latinus in der Aeneis vorbereitet:

776 Vgl. auch das Leitzitat Theb. 1,494 (Adrast) sensit manifesto numine ductos adfore (sc. Tydeus und Polynices) mit Aen. ll,232f. fatalem Aenean manifesto numine ferri / admonet ira deum; siehe auch die folgende Anm.

290

IV. Kritische Exegese

Der König hat schon bei seiner ersten Begegnung mit den beiden Gastfreunden die Erfüllung des Phoebusorakels erkannt, wobei Statius hier wiederum deutlich auf dieselbe Unterredung bei Latinus, in der dieser sein Angebot formuliert, anspielt (l,482ff.)777. Doch vor der Offerte Adrasts schiebt der Dichter erst noch eine ausgedehnte, an Aen. I (Empfang bei Dido) und Aen. VIII (Empfang bei Euander) erinnernde Gastmahlszene Adrasts mit den zukünftigen generi (514-557) ein, an der auch die Königstöchter teilnehmen (533ff.) und in deren Rahmen sich Polynices (673ff.) (und κατά τό σιωπώμενον auch Tydeus) vorstellen. Die Unterredung bei Latinus, in der innerhalb so kurzer Zeit Selbstvorstellung der Trojaner (in Abwesenheit des Aeneas) und Angebot des Latinus, wenngleich mit ausdrücklichem Hinweis auf die Götterzeichen, aufeinander gefolgt waren und so wie die Ökonomie des Odysseedichters Kritik gefunden hatten, ist in der Thebais somit in mehrere Schritte zerlegt, und die Annahme scheint kaum abwegig, daß Statius hier gegenüber seinen beiden epischen Modellen ein übriges getan hat, um diese über die Berücksichtigung der literarischen Diskussion zu überbieten.

6. Die Wettkämpfe

Die im 5. Aeneisbuch geschilderten Wettkämpfe, die Aeneas aus Anlaß des einjährigen Todestages des Anchises auf Sizilien abhält, hat Vergil szenisch und motivisch sehr eng den Leichenspielen für Patroklos im 23. Iliasbuch nachgestaltet778, so daß hier recht gut überprüft werden kann, wie die in den Scholien zu den Parallelstellen überlieferte Homerkritik die Imitationstechnik Vergils mitbestimmt haben könnte. Im Rahmen der Leichenspiele für Patroklos schildert Homer den Wettlauf zwischen Odysseus und Aias (23,758ff). Odysseus erringt den Sieg, nachdem er ein Gebet an Athene gerichtet hat (770ff). Die Göttin erfüllt es, 777 vgl. Aen. 7,249ff. Anders als in der Aeneis stellen sich die Fremden hier zwar noch nicht vor; dies verzögert Statius mit gutem Grund, da das Phoebusorakel Adrast im Unterschied zur Aeneis konkrete äußere Indizien genannt hatte, an denen er die generi aus der Feme erkennen könne, und der König diese nun zunächst bemerken soll. Doch ist sich Adrast, nachdem er die beiden Fremden gemustert hat, genauso sicher wie Latinus nach der Selbstvorstellung des Ilioneus (l,494ff. sensit manifesto numine ductos / adfore, quos nexis ambagibus augur Apollo /portendi generös, vultu fallente ferarum, / ediderat) und könnte so ebenso wie dieser sogleich sein Angebot machen, was Statius jedoch vermeidet. 778

Hinzu treten sekundär die odysseischen Wettspiele bei den Phäaken zu Ehren des Odysseus; siehe Knauer 1964, 156 m. Anm. 3; ein eingehender Vergleich der vergilischen Wettspiele mit beiden homerischen Modellszenen (ohne die im Zusammenhang dieser Arbeit untersuchten Aspekte) findet sich bei Cairns (1989, 215-248).

6. Die Wettkämpfe

291

indem sie ihm die Glieder, Füße und Hände leicht macht (772); doch beläßt sie es nicht dabei: Sie bewirkt, daß Aias kurz vor dem Ziel in dem Mist der von Achill geschlachteten Rinder ausrutscht (774ff.), so daß sein Mitstreiter als erster durchs Ziel geht. Diese Dopplung der Motivation, die der Dichter dem Sieg des Odysseus voranstellt, fand die Kritik der Homerinterpreten: Das Motiv der Leichtigkeit, die Athene dem Odysseus gibt (772), sei überflüssig und zerstöre die „Spannung" (τό έναγώνιον) der Handlung [indem, so darf man ergänzen, bereits auf den Sieg des Odysseus vorausgewiesen wird]; dagegen passe der Vers in der Diomedie des 5. Buches, wo er sich noch einmal findet (122: Diomedes betet zu Athene, sie möge ihn seinen Gegner im Kampf einholen und mit dem Speer treffen lassen), gut und müsse daher dort seinen ursprünglichen Sitz haben. Andere Interpreten empfanden dagegen nach Auskunft der Scholien das Ausrutschen des Aias als unnötig779: Schol. [bT] 23,772: γυΐα δ' εθηκεν ελαφρά, < - ΰπερθεν>] περισσός ό στίχος καν λύων τό έναγώνιον· οϋδέ γαρ βεβαρημένα ήν αύτω τά μέλη. άλλως τε ήρκει προς την νίκη ν τό πεσεΐν Αΐαντα. [Τ] (...) μετήκται ούν άπό των περί Διομήδους [5,122]. Schol. [Α] 23,772: γυΐα δ' εθηκεν ελαφρά, ] οτι έπι Διομήδους [vgl. 5,122] όρθώς έτέτακτο. ενταύθα δέ όλίγω λείπεται του Αΐαντος· εί ούν τά γυΐα ελαφρά έποίησεν, ένίκα αν πάντως, προς τί ούν έτι Αΐαντα κατέβαλεν;

Vergil verzichtet in seiner Nachbildung des Wettlaufs, an dessen Endrunde er insgesamt fünf Läufer beteiligt sein läßt, ganz auf göttliches Eingreifen und übernimmt nur das letztere der beiden homerischen Motive, um den Sieg zu begründen: Nisus gleitet lediglich auf dem Blut (328f. 333) und dem Mist (333) der von Aeneas geopferten Stiere aus (vgl. II. 23,774ff.)780. Das „Überraschungsmoment" erhöht der Aeneisdichter gegenüber seinem 779

780

Köhnken (1981) hat die antike Kritik an dem doppelten Eingreifen Athenes und der doppelten Motivation des Sieges des Odysseus aufgegriffen und ist ihr mit dem Hinweis entgegengetreten, Vers 772 und 774 seien „nur die beiden Zweige desselben Handlungszusammenhangs", die im zeitlichen Nacheinander geschildert würden, indem Odysseus mit Hilfe Athenes so schnell wird, daß Aias vor Überraschung den Misthaufen übersieht und in ihm zu Fall kommt. So ansprechend dieser Erklärungsversuch Köhnkens ist, habe ich doch Zweifel, ob dieser logische Konnex wirklich aus der Schilderung des Wettlaufs hervorgehen kann, und bin der Auffassimg, daß die antiken Kommentatoren - wird man sich ihrem Athetesevorschlag auch nicht anschließen müssen - in der Abundanz etwas Richtiges gesehen haben. Über den möglichen Einfluß der antiken Kritik zu dieser Stelle auf Vergil ist mit der erwägenswerten Auffassung Köhnkens natürlich nichts ausgesagt. Die deutliche Anspielung auf die homerische Parallelszene fungiert als 'Leitzitat' (s. S. 101), mit dem Vergil auf die überbietende Variatio des homerischen Vorbilds hinweist.

292

IV. Kritische Exegese

homerischen Modell jedoch nicht nur durch die Vereinfachung der Motivation, „vielleicht durch die [oben referierte] Homerkritik auf die Spur geleitet"781, sondern auch dadurch, daß er - anders als Homer - dem Nisus ausdrücklich einen Vorsprung vor den anderen gibt (longeque ante omnia corpora Nisus / emicat, 318f.) und ihn unmittelbar vor der Ziellinie zu Fall kommen läßt: iamque fere spatio extreme fessique sub ipsam / finem adventabant, ... cum782 ... / (labitur) [327f.]; hic iuvenis iam victor ovans [331])783. Gleichwohl hat Vergil das innerhalb des Wettlaufs zwischen Aias und Odysseus gegebene Motiv der 'göttlichen Intervention' in einem anderen Zusammenhang verarbeitet: Im ersten Teil der Spiele, im Schiffswettkampf, hat Cloanthus beinahe als erster das Ziel erreicht, als sein Mitstreiter Mnestheus überraschend zu ihm aufschließt (220ff); als dem Cloanthus so der Sieg streitig gemacht wird, läßt Vergil ihn ein Gebet an die (Meeres-)Götter richten784 und ihnen reiche Opfergaben fur den Fall seines Sieges versprechen (235ff.). Vergil schickt diesen Worten nun unmittelbar den Hinweis des Dichters voraus, daß jetzt ein Wendepunkt im Wettkampfgeschehen erreicht ist (et fors aequatis cepissent praemia rostris, / ni ... Cloanthus /fudissetque. preces divosque in vota vocasset, 232ff), verleiht also dem göttlichen Eingreifen ausdrücklich jene Relevanz für den Fortgang der Handlung, die ein Teil der Homerinterpreten in der Wettlaufschilderung fur das Gebet des Odysseus an Athene durch die Konkurrenz mit dem Motiv des ausrutschenden Aias geschmälert sah. Vergil konnte durch die Übertragung des Motivs in einen anderen Zusammenhang so nicht nur einen Kritikpunkt der Homerexegese vermeiden, sondern Homer auch durch eine so geschickte Ökonomie in der Imitation seiner Motive übertreffen. In beiden Szenen der vergilischen Wettkämpfe ist die Spannung des Handlungsablaufs dabei deutlich gesteigert.

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Heinze 1914, 164 Anm. 1; vgl. zu dieser und der folgenden Parallele auch Schlunk 1974, 14ff. Die Verwendung des 'cum inversum' mit dem historischen Präsens nach dem adventabant des Hauptsatzes erhöht den Effekt zusätzlich. Vgl. auch Nesselrath 1992, 76. Einen weiteren Überraschungseffekt im Dienste des έναγώνιον hat Vergil in dieser Szene unabhängig von seinem homerischen Modell dadurch geschaffen, daß er Nisus seinem engen Freund Euryalus (non tarnen Euryali, non ille oblitus amorum, 334), der erst an dritter Stelle gelegen hatte, den Sieg verschaffen läßt, indem er den Salius zu Fall bringt (335ff). Das Gebet zeigt, daß Vergil hier das Eingreifen Athenes zugunsten des Odysseus verarbeitet hat: Denn der zweite Fall göttlicher Intervention in den Wettkämpfen der Ilias (382ff.: durch Apollons Einwirkung verliert Diomedes seine Peitsche, erhält jedoch dann Athenes Hilfe, womit er doch noch den Sieg erringt) ist nicht durch ein Gebet motiviert.

6. Die Wettkämpfe

293

Auch andernorts ist das Verfahren Vergils zu beobachten, von der Homerkritik beanstandete Motive in seiner Imitatio mitunter nicht ganz auszulassen, sondern in einen anderen, 'passenderen' Kontext zu übertragen und so mit dem bewunderten Vorbild in Wettstreit zu treten: Von der Übertragung des inkriminierten „Krachens" von Diomedes' Streitwagen unter dem Gewicht Athenes im 5. Iliasbuch (835ff.) auf den Charonsnachen unter der Last des Aeneas im 6. Aeneisbuch (413) war bereits die Rede785. Ebenso stieß die Erklärung Achills gegenüber Odysseus in der Nekyia, er wolle lieber ein Tagelöhnerdasein bei einem ruhmlosen Mann fristen (Od. ll,489ff.), als in der Unterwelt sein zu müssen, bei antiken Interpreten auf Unverständnis und Kritik: Piaton attackierte sie als unheroisch, da sie den Wächter vom lebensgefahrlichen Einsatz für die Polis abhalte (rep. 386c); in den Scholien ([Q] Od. 11,489) zeigen sich die Interpreten verwirrt, daß sich ausgerechnet Achill derartig φιλόζωος zeigt, der es doch sonst - wie zweifellos mit Billigung vermerkt wird - vorzieht, auch nur kurze Zeit zu leben, wenn dies nur μετ' εύκλείας geschehe. Vergil 'zitiert' diese Verse, wie seit Servius (zu Aen. 6,437) immer wieder vermerkt wurde, an ganz entsprechender Stelle, in seiner eigenen Unterweltschilderung (6,434ff.), legt sie hier jedoch keinem Helden in den Mund, sondern läßt nun ausgerechnet die Selbstmörder so 'kleinlich' am irdischen Leben hängen (434ff. proximo deinde tenent maesti loca, qui sibi letum / insontes peperere manu lucemque perosi /proiecere animas. quam vellent aethere in alio / nunc et pauperiem et duros perferre labores/) - eine ironische und effektvolle Steigerung des homerischen Motivs, das zugleich aus der 'heroischen' Sphäre der eigentlichen epischen Handlung der Aeneis herausgehalten wird. Auf einen weiteren Fall macht Schlunk (1974, 24f.) aufmerksam: Zenodot und Aristarch athetierten den Vers II. 10,497, demzufolge Athene dem Rhesos, als Diomedes über ihn herfällt, einen ominösen Traum schickt, in dem ihm dieser erscheint. Sie nahmen offenbar daran Anstoß, daß der Thraker den Tydiden somit schon kennen soll, oder auch daran, daß Athene ihn auf diese Weise ja fast vor ihrem Schützling warnt (Schol. [A] 10,497). In der vergilischen „Dolonie" des 9. Buches tötet Nisus den schlafenden Latiner Rhamnes; dieser hat keinen bösen Traum, ist aber Seher, von dem es heißt: sed non augurio potuit depellere pestem (328). Die Schwierigkeit, die der Iliasvers den Interpreten bereitete, ist so umgangen, ohne daß das dramatische Moment der 'göttlichen Warnung' verlorengegangen wäre. Den Schluß der Wettkämpfe sowohl der Ilias786 als auch der Aeneis bildet das Bogenschießen. Bei Homer befestigt Achill hierzu mit einer feinen Schnur eine Taube an einem Mast (23,853f.); sodann setzt er den beiden Teilnehmern des Wettkampfs die Preise aus: Derjenige, der die Taube selbst trifft, soll den ersten Preis erhalten, dagegen muß sich mit dem zweiten begnügen, wer lediglich die Schnur erreicht (855ff.). Da Teuker dem Apollon 785 786

Siehe S. 268 m. Arnn. 724. Der eigentlich als Abschluß vorgesehene Wettkampf im Speerwurf wird nicht mehr ausgeführt (23,886ff).

294

IV. Kritische Exegese

keine Hekatombe versprochen hat, trifft er nur die Schnur, so daß die Taube befreit davonzufliegen droht (863f£). Erst dem Meriones, der das Gebet nicht versäumt hat, gelingt es dann wider Erwarten, den Vogel doch noch „fern von dem Mast" (880) zu erlegen, wobei der Pfeil zu ihm zurückkehrt, ein Vorgang, der allgemeines Staunen erregt. Nach Auffassung der Scholiasten hat Homer dadurch, daß er Achill überhaupt die Möglichkeit erwägen ließ, einer der Bogenschützen könne den Strick treffen, ein Überraschungsmoment (wiederum findet sich der Terminus τό έναγώνιον) ungenutzt gelassen: Das unerwartete, zufallige Eintreten dieses Ereignisses wäre effektvoller gewesen: Schol. [A] 23,857: δς δέ κε μηρίνϋοιο ] δτι βέλτιον ήν τούτο μή προλέγεσΰαι ύπό Άχιλλέως ώσπερ προγινώσκοντος τδ άπδ τύχης συμβησόμενον. Schol. [Τ] 23,857: ] εδει [δέ] μή προειπεϊν περι της μηρίνΟου, άλλ' ύστερον ώς έναγώνιον συμβεβηκδς ειπείν. Schon Heinze hat zugleich mit der Bemerkung, der Iliasdichter habe dieses Motiv „wohl nicht selbst erfunden, denn er verdirbt die Geschichte, indem er Achill schon von vornherein das sehr unwahrscheinliche Treffen des Fadens als Bedingung für den zweiten Preis hinstellen läßt" (1914, 164), auf die mögliche Berücksichtigung der Scholienkritik durch Vergil hingewiesen: Tatsächlich hat der Aeneisdichter offenbar die von Homer - aufgrund seiner nach Auffassung der antiken Interpreten ungünstigeren Ökonomie - ungenutzte Möglichkeit, das έναγώνιον dieser Szene zu steigern, erkannt. So läßt er Aeneas in der Einleitung der letzten Wettkampfszene (485ff.) auf eine detaillierte Auszeichnung von Preisen verzichten787 und zunächst einen ersten Schützen (Hippocoon) den Mast treffen (504), an dem Schnur und Taube befestigt sind (488f.), daraufhin den zweiten Bewerber (Mnestheus) miserandus (509) zwar noch nicht den Vogel (ast ipsam ... avem contingere ferro / non valuit), aber schon die Schnur erreichen - also o h n e Vorbereitung dieses Vorfalls. Schließlich erlegt dann Euiytion, mit einem Stoßgebet an seinen im Bogenschießen so erfolgreichen Bruder (Pandarus, 514)788 - ganz ähnlich wie der homerische Meriones - die schon befreite Taube doch noch mit seinem Pfeil (515f.). Bemerkenswert ist hierbei, wie Vergil das Motiv übernatürlicher Motivation, die der wunderbare Sieg des Merio787

788

In 486 heißt es knapp praemia dicit, wie ähnlich schon in 292 {praemia ponit), worauf aber in 304ff. eine genaue Beschreibung der Preise gefolgt war. Das Gebet an den Bruder ist bereits in der Vorstellung des Schützen in 495ff. vorbereitet: tertius Eurytion, tuus, ο clarissime, frater, /Pandare, qui quondam iussus confiindere foedus / in medios telum torsisti primus Achivos.

6. Die Wettkämpfe

295

nes bei Homer gehabt hatte, verarbeitet: Zunächst greift er es auf in dem 'Gebet' des Eurytion an seinen Bruder, der als Schutzgott des Bogenschießens wohl wenigstens als in seiner eigenen Familie fortwirkend zu denken ist789, und seinem anschließenden Erfolg. Dieses Gebet ist jedoch sehr knapp gehalten und tritt daher nicht eigentlich in Konkurrenz zu dem Gebet des Cloanthus während des Schiffwettkampfs; damit ist eine Motivdopplung vermieden, wie sie die Homerkritik bemängelt hatte. Als dann der Bogenwettkampf entschieden zu sein scheint, schießt Acestes, für den es nach dem Erfolg des Eurytion nichts mehr zu gewinnen gibt, zur Demonstration seines Könnens doch noch seinen Pfeil empor, woraufhin dieser eine Flammenspur durch die Wolken zieht (519ff.) - ein magno... futurum /augurio monstrum (522f.), das nach der ehrfurchtgebietenden Deutung der anwesenden Seher790 auf ein in ferner Zukunft liegendes bedeutsames Ereignis vorausweist791. Über dieses Wunder staunen die Trinakrier und Teukrer so wie die Griechen über die Erlegung der Taube durch Meriones (5,529f.; vgl. II. 23,881), und Aeneas nimmt das Ereignis als omen für den eigentlichen Sieg des Acestes an (530ff.); hiermit ist nach dem Durchschuß der Schnur, mit der die Taube an dem Mast befestigt worden war, durch Mnestheus abermals ein unerwartetes, die Spannung erhöhendes Ereignis eingetreten. Auf diese Weise enden die Leichenspiele für Anchises ebenso, wie sie begonnen haben (hier Epiphanie des Anchises in 84ff), unter göttlicher Teilnahme. Dieser effektvolle und auf Zukünftiges vorausweisende (522ff.) Abschluß der Wettspiele wird ebenso wie die Wirkung ihres ominösen Beginns (84ff.) erst dadurch ermöglicht, daß Vergil innerhalb der eigentlichen Wettkampfschilderung mit der Übernahme des Motivs göttlicher Intervention aus den homerischen Leichenspielen - in den Gebeten des Cloanthus und des Eurytion und ihrem anschließenden Sieg - so sparsam verfahren war792. Hinzu kommt, daß Vergil hier, wie Heinze (1914, 483) zu Recht mit Hinweis aui das Gebet des Cloanthus hervorhebt, nur untergeordnete Götter direkt in die Wettkämpfe eingreifen ließ (vgl. 235 di quibus imperium est pelagi, quorum aequora curro; der seinem Bruder zur Seite stehende Pandarus ist ein 789 790

791

792

Siehe Con.-Nettleship z. St. So ist der schwierige Vers 524 (seraque terrifici cecinerunt omina vates) wohl mit Serv z. St. (et quod vates improbant Aeneas amplectitur) sowie Heinze (1914, 166) und Fordyce z. St. zu deuten; anders (mit Vorsicht) Horsfall 1995, 141, der in dem terrifici eine Vorausdeutung auf den 1. Punischen Krieg sieht (s. folg. Anm.). Zu der vielerörterten, hier jedoch nicht belangvollen Frage, um welches Ereignis es siel hierbei handelt, siehe Fordyce z. St. und zuletzt Horsfall 1995, 140 m. Lit. Vergil verfahrt in der Imitation Homers somit ganz im Sinne der in den Iliasscholien angewandten, gelegentlich als το ταμιεΰεσϋαι (etwa „haushälterischer Umgang" mit der dichterischen Motiven) umschriebenen ästhetischen Kategorie: siehe Meiiering 1987. 144f.

296

IV. Kritische Exegese

genius). Durch das beschriebene Omen wird der sakrale Charakter der Leichenspiele für Anchises gerade an ihrem Abschluß in Erinnerung gebracht. Vergil erreicht hierdurch eine Erhöhung der Wettspiele, und eben in dieser Weise hatten die Scholien zu den Wettkämpfen der Ilias die Tatsache gedeutet, daß Homer die Götter an ihnen teilnehmen ließ793. Wie erkennbar, geschieht dies auch bei Vergil, allerdings in subtilerer Weise. Das Gebet unmittelbar vor der Entscheidung bzw. im Moment der Gefahr und seine Belohnung mit göttlicher Unterstützung ist nicht nur hier in den Wettspielen (Cloanthus und Eurytion), sondern auch in den eigentlichen Kampfszenen der Aeneis ein wiederkehrendes Motiv (vgl. 9,404ff. 625ff.; 10,42Iff. 875ff.; ll,785ff.; in 10,461ff. wird das Tragische der ausbleibenden göttlichen Unterstützung für den betenden Pallas ausdrücklich hervorgehoben); es wird von Vergil verwendet, um die pietas der Trojaner und ihrer Verbündeten und ihre göttliche Belohnung auch in der konkreten Situation des Kampfes von der Haltung ihrer Gegner abzusetzen, unter denen ein Mezentius die eigene Rechte und seinen Speer wie einen Gott anbetet (10,773ff), ohne den gewünschten Erfolg - den Tod des Aeneas - zu erlangen794 (vgl. das Gebet des Turnus an seine Lanze in 12,96ff, die ihm ebenfalls nichts nützen wird). Dieses Motiv steht in Übereinstimmung mit einem in der moralisierenden Homerexegese, insbesondere in den Iliasscholien gängigen Interpretationsmuster: Homer schaffe Exempla von εύσέβεια, indem er die Helden nicht ausschließlich auf ihre eigene Kraft vertrauen und ihr entsprechendes Gebet vor dem Angriff auf den Gegner von Erfolg gekrönt sein lasse (vgl. etwa Schol. [bT] 3,350; [bT] 7,194); auf diese ihrer Auffassung nach 'protreptische' Absicht des Dichters machten die Interpreten aber auch im Rahmen der Wettkampfschilderung des 23. Iliasbuches, mit Bezug auf das Gebet des Meriones und seinen anschließenden unerwarteten Erfolg, aufmerksam (Schol. [bT] 23,865 έπι εύσέβειαν τοΰτο προτρέπει).

7. Der Bruch des foedus In der obigen Analyse der Wettkampfschilderung des 5. Buches war aufgefallen, daß Vergil in zweifellos bewußter, überbietender Abweichung von Homer und sehr wahrscheinlich durch die antike Kritik angeregt den Aspekt des Unerwarteten, der „Spannung" (τό έναγώνιον in der 'Terminologie' der Homerkritik) seiner Schilderung dadurch gesteigert hatte, daß er an sich un793 794

Schlunk (1974, 15) verweist auf Schol. [bT] II. 23,383: σεμνοποιήσαι θε'λων τον άγώνα, και θεούς συμφιλονεικοϋντας εισάγει. Hierzu Thome 1979, 93: „Mezentius schließt sich dabei... bezüglich des Aufbaus wie des gebrauchten Formelguts ganz an die konventionelle Form dieses Gebetstypus an, was die Ungeheuerlichkeit seines Tuns noch verstärkt und unterstreicht".

7. Der Bruch des foedus

297

erwartete und somit überraschende Ereignisse anders als der Iliasdichter nicht vorbereitet hatte. Dieses Bestreben Vergils zeigt sich deutlich noch an zwei anderen Stellen, in denen er ebenso wie in der Schilderung der Leichenspiele auch im Detail einen besonders engen Anschluß an homerische Vorbildszenen sucht: So zunächst in der Schilderung des Vertragsschlusses zwischen den Latinern und den Aeneaden und des Bruchs dieses Bündnisses zu Beginn des 12. Buches, die den όρκοι des 3. Iliasbuches zwischen Griechen und Trojanern und ihrer Verletzung zu Beginn des folgenden Buches nachgestaltet sind. Hier läßt Homer, nachdem Hektor und Menelaos einen Zweikampf zwischen dem Atriden und Paris um den Preis Helenas vereinbart haben (86ff.), diese Abmachung von Agamemnon in einem Gebet an Zeus bekräftigen (276ff.) und nach einem Schlachtopfer des Königs von den Kämpfern beider Seiten noch durch ein Trankopfer sanktionieren (292ff.). Homer gibt nun mehrere Hinweise auf den bevorstehenden Bruch der Vereinbarung, den der Pfeilschuß des Pandaros (125ff.) und die folgende Wiederaufnahme der Kämpfe durch die Trojaner (22Iff.) darstellen, da Menelaos aus dem Zweikampf als Sieger hervorgegangen ist (3,457ff.): Agamemnon erwähnt in seinem Gebet die Möglichkeit eines Meineids der Gegenseite ausdrücklich (279), kalkuliert konkreter dann die einer Nichterfüllung der Bedingungen durch die Trojaner im Falle ihrer Niederlage ein und kündigt schließlich gar an, wie er sich dann verhalten werde (288ff). Schließlich verwünschen die Kämpfer beider Seiten in einem Gebet an Zeus jeden, der die Eide brechen sollte, und bitten ihn um ganz konkrete Sanktionen gegen diesen Mann (298ff). Zu dem Trankopfer (295f. οΐνον δ' έκ κρητήρος άφυσσόμενοι δεπάεσσχν / έκχεον) bemerkt ein Scholion, durch die Wahl des Verbs έκχενν (statt einer Form von σπένδω) weise Homer auf die Unwirksamkeit des Opfers und damit auch der Vereinbarung, die es bekräftigen soll, voraus - eine Deutung vermutlich aristarcheischer Provenienz795: Schol. [T] 3,296: έκχεον] οΰκ εΐπεν έσπενδον προειδώς το άτελές αύτών (vgl. Schol. [b] 3,296)

Wenngleich diese Auffassung wohl nicht zutreffen dürfte, zeigt sie, daß offenbar auch in der Homerkommentierung der Eindruck herrschte, Homer bereite auf die όρκίων σύγχυσις bereits vor. Vergil hat sich demgegenüber für eine Lösung entschieden, die den Ausgang des foedus völlig offenläßt und somit das Überraschende des folgenden Ereignisses erheblich erhöht - angesichts seiner sonst engen Orientierung an Homer in dieser Szene zweifellos mit der Absicht, eine Kontrastwirkung zu 795

Siehe Kirk z. St.

298

IV. Kritische Exegese

erzielen: Das Trankopfer geht hier dem Gebet des Aeneas und des Latinus voraus (174), das Schlachtopfer schließt sich ihm an (213ff.), beides ohne irgendeinen Hinweis auf ihre Unwirksamkeit; weder im Gebet des Aeneas, das sonst jenem Agamemnons fast wörtlich nachgestaltet ist796, noch in dem Gebet des Latinus wird die Möglichkeit eines Vertragsbruches angedeutet. Dies gibt Vergil dann, nachdem er der Szene mit dem bekräftigenden Schlachtopfer einen ruhigen Abschluß (vgl. die die Szene abschließende Versklausel cumulantque

oneratis lancibus aras, 215) verliehen hat, die

Möglichkeit, eine durch at vero (216) scharf markierte Störung dieses Geschehens folgen zu lassen: Sie geht (entsprechend der von Homer abweichenden Ökonomie Vergils noch vor dem Beginn des Zweikampfes) von den unzufriedenen Rutulern aus, durch göttliche Intervention eskaliert der Unmut, und dieser fuhrt schließlich - anders als bei Homer - in einer kontinuierlichen Entwicklung sehr rasch zum Vertragsbruch und zum erneuten Aufflammen der Kämpfe (216-266). Die dann folgende fluchtartige Abfahrt des Königs Latinus - verbunden mit dem Hinweis des Dichters auf den Bruch des Bündnisses (infecto foedere, 286) - erfolgt vor diesem Hintergrund entsprechend weitaus dramatischer als der entsprechende Abgang des Priamos (12,285ff. < II. 3,31 Off.) nach Abschluß des Opfers; auch in diesem Detail erzielt Vergil gegenüber seinem Modell eine deutliche Kontrastwirkung. Eine weitere markante Steigerung des έναγώνιον durch Vergil gegenüber dem homerischen Vorbild findet sich ebenfalls in der Schilderung der Schlußkämpfe des 12. Buches bald nach dem Vertragsbruch: Die Behandlung der Wunde, die ein unbekannter Bogenschütze Aeneas beigebracht hat, durch den Arzt Iapyx ist unter strukturellem Aspekt primär eine Imitation der entsprechenden Heilung, die Menelaos, vom Pfeil des Pandaros verletzt, dank der ärztlichen Hilfe des Machaon erfahrt (4,212ff). Das Motiv der durch g ö t t l i c h e s Einwirken - hier der Venus (420ff.) - wunderbar beschleunigten Heilung der Wunde jedoch fand Vergil in einer anderen Szene vorgebildet, in den Kämpfen des 16. Iliasbuches797: Hier hat der Trojaner 796

797

Anruf des Sonnengotts (Aen. 12,176 < II. 3,277), der Erde (Aen. 12,176 < II. 3,278), Jupiters bzw. Zeus' (Aen. 12,178 < II. 3,276), der Flüsse (Aen. 12,181< II. 3,278) als Zeugen (Aen. 12,176 < II. 3,280); danach der Schwur (Aen. 12,183ff. < II. 3,281ff.). Anders als bei Homer (vgl. die Rolle des Priamos in II. 3,303ff.) leistet mit Latinus auch das Oberhaupt der Gegenseite den Schwur (12,197ff.). Hierzu und zu der von den Worten des Aeneas (und somit dem homerischen Modell) abweichenden Anrufung der Unterweltsgötter (198f.) siehe F.I. Zeitlin, An analysis of Aeneid XII, 176-211. The differences between the oaths of Aeneas and Turnus, AJPh 86, 1965, 337-362; Christine Ratkowitsch, Die Unterweltsgötter in der foedus-Sztne Aen. 12,175ff., WStN.F. 17, 1983, 75-88. Das Motiv der göttlichen Intervention ist in der strukturell als Vorbild dienenden Szene des 4. Iliasbuches dagegen 'vorgezogen', indem Athene nicht bei der Heilung der Verletzung

7. Der Bruch des foedus

299

Glaukos eine Verletzung erlitten (und vermag daher nicht um den Leichnam seines Bruders Sarpedon zu kämpfen) und betet voller Verzweiflung zu Apollon, er möge seine Wunde rasch heilen lassen (514ff.). Der Gott erhört ihn (527ff.), was Glaukos voller Freude bemerkt (530f). In dem Scholion zu dieser Stelle findet sich die Bemerkung, das sofortige Aufhören des Schmerzes und der neue Mut, der ihn beseelt, berechtigten Glaukos offenbar zu der Annahme, daß tatsächlich der Gott, seinem Gebet entsprechend, eingegriffen habe798. Vergil läßt in seiner Imitation, die beide Szenen kombiniert, der Intervention der Venus einen längeren, jedoch vergeblichen Versuch des von Apollo unterwiesenen (!) Arztes Iapyx vorausgehen, die Wunde des Aeneas zu heilen799, und erweckt hierbei speziell durch das zweifache nequiquam (403) zunächst die Erwartung, daß diese Bemühungen überhaupt scheitern werden800. Umso überraschender vollzieht sich das Eingreifen der Venus, als die Situation mit dem Herannahen der Gegner kritisch wird (405ff.), und erfolgt nun vor allem anders als im Falle Apollons im 16. Iliasbuches, o h n e daß zuvor ein Gebet an die Göttin gerichtet wurde und ohne daß Venus sich den Anwesenden zu erkennen gibt (416). Der Effekt dieser Intervention Venus gibt ein Zaubermittel in den Kessel des Arztes - ist derselbe wie bei Glaukos (421bff. < II. 16,528f.), und ebenso wie der homerische Held erkennt Iapyx göttliches Einwirken (427ff.). Vergil läßt dieses also durch den Wegfall des homerischen Gebets an die Gottheit für die Handelnden (wie fur die Leser) unvorbereitet und daher überraschend eintreten. Das Scholion zu der homerischen Vorbildstelle mag ihn dabei darauf aufmerksam gemacht haben, daß das Gebet, wenn es nur der Vorbereitung des göttlichen Eingriffs dienen (und nicht ausdrücklich die Frömmigkeit des trojanischen Kriegers zeigen) sollte, im Grunde entbehrlich sei, da dieser an dem Symptom der beschleunigten Wiederherstellung des Helden hinreichend erkennbar wird, daß

798

799

800

eingreift, sondern durch Ablenken des Pfeiles dafür sorgt, daß Menelaos nicht tödlich getroffen wird (4,128ff.). Schol. [bT] 16,530-1: τό γαρ παραυτίκα παυσασϋαι την όδύνην καΐ μένους αύτον έμπλησθήναι προφανώς θείον ήν. Das unvermittelte Einschreiten des Arztes (iamque aderat, 391) steht im auffälligen Kontrast zu der langwierigen Herbeiholung Machaons im 4. Iliasbuch durch Talthybios im Auftrage Agamemnons (193-212), wobei sich die Alexandriner (vielleicht Aristarch) besonders an der ausfuhrlichen und ihrer Auffassung nach überflüssigen Anweisung des Herolds durch Agamemnon störten (Schol. [AbT] 4,195); diese Kritik könnte, wie Schlunk (1974, 91ff.) zeigt, Vergil vor Augen gestanden haben. Duckworth (1933, 9f.) verweist auf Aen. 2,510. 515. 770; 7,652; 9,364, wo nequiquam stets auf das Scheitern der intendierten Handlung vorausweist.

300

IV. Kritische Exegese

aber bei Wegfall dieser Vorbereitung eine Steigerung des Effekts erzielt werden konnte.

8.

Kampfschilderungen

Der besonders „homerische" Charakter der letzten Aeneistetrade beruht wesentlich auf den Kampfschilderungen, die in ihnen einen breiten Raum einnehmen. Nicht nur folgt die Großstruktur der epischen Handlung deutlich dem Modell der Ilias, auch für eine Vielzahl von Kampfszenen einschließlich ihrer motivischen Ausgestaltung sind Vorbilder in den entsprechenden Kampfschilderungen bei Homer namhaft gemacht worden. Diese Partien der Ilias wurden vornehmlich von der alexandrinischen Homerexegese besonders kritisch auf ihren Realismus und die Motivation jedes Details hin analysiert; gerade auf sie stützte sich die unter antiken Interpreten weit verbreitete quasi-historische Auffassung des homerischen Epos801. Dies läßt von einem Vergleich einiger Kampfszenen der Aeneis mit ihren (direkten oder szenentypischen) Vorbildern in der Ilias, der im folgenden unternommen ist, Aufschlüsse darüber erwarten, in welcher Form Vergil antike Homerkritik berücksichtigt hat.

a) Die Verfolgungsjagd (Aen. 12,742-790) In seiner Schilderung der Verfolgungsjagd im 12. Aeneisbuch, die dem abschließenden Zweikampf zwischen Aeneas und Turnus unmittelbar vorausgeht, hat sich Vergil eng an der entsprechenden Szene des 22. Iliasbuches orientiert. Gleichwohl hebt er seine Schilderung in einigen auffalligen Details von ihrem homerischen Vorbild ab, Abweichungen, deren über bloße variatio hinausgehende Absicht erst vor dem Hintergrund der antiken Homerkritik deutlich wird. Hektor ergreift voller Furcht die Flucht, als er Achill erblickt (136f.), der ihm in raschem Lauf nachsetzt (138) - Homer veranschaulicht das Gesche801

Hierzu Feeney 1991, 4Iff. (vgl. auch A.W. Gomme, The Greek attitude to poetry and history. Berkeley-Los Angeles 1954) mit Verweis auf die Feststellung des Polybios (bei Strabo 1,2,7), Homers Dichtung sei zusammengesetzt έξ ιστορίας καΐ διαθέσεως και μύϋου, sowie die Bemerkung Strabos (1,2,9), Homer habe den trojanischen Krieg und die Irrfahrten des Odysseus als historische Ereignisse mythisch überformt, eine Interpretation, die bis auf Thukydides (1,10,3) zurückzuverfolgen ist. Diese quasi-historische Sichtweise fand auch Eingang in die Aeneiskommentierung; Feeney (1991, 45) verweist auf Serv. Aen. 1,382. 443; 2,636; 3,256.

8. Kampfschilderungen

301

hen durch ein Gleichnis von Falke und Taube (139ff). Die Verfolgungsjagd entlang der Mauer (145f.) retardiert der Iliasdichter durch eine längere Topothesie (die Beschreibung des Brunnens, in dem der Skamander entspringt und an dem die Gegner nun vorbeieilen, 148-156). Dreimal umkreisen der „tüchtige" Verfolgte und der noch „weitaus bessere" Verfolger (158) die Mauern Trojas, bis Athene nach einer kurzen Auseinandersetzung mit Zeus vom Olymp herabsteigt und die - nochmals durch zwei Gleichnisse, vom Hund und dem Hirschjungen (189ff.) und vom Wettrennen im Traum (199ff.) verdeutlichte - Verfolgungsjagd durch ihr Eingreifen zugunsten Achills entscheidet; hierzu überredet sie Hektor in der Gestalt des Deiphobos, stehenzubleiben (227ff.) und sich dem Zweikampf zu stellen, in dem dann Achill den Sieg zu erringen vermag. Diese Verfolgungsjagd und der anschließende Zweikampf verlaufen ohne Beteiligung der gegnerischen Heere. Im Fall der Trojaner ist dies hinreichend damit erklärt, daß sie beim Anblick Achills, als dieser auf die Stadtmauern zustürmte, in ihren Schutz geflohen waren (21,606ff.). Den Griechen dagegen, die noch zuvor am allgemeinen Kampf teilgenommen hatten und sich nun wie Achill auf der Ebene vor der Stadt befinden, bedeutet Achill - und zwar erst kurz vor dem Ende der Verfolgungsjagd - durch Kopfschütteln (άνένευε, 205), ihm den ruhmreichen Kampf gegen Hektor zu überlassen und fernzubleiben (205f.). Die notwendige Paraphrase dürfte deutlich machen, wie weit Homer den Spannungsbogen der Verfolgungsjagd zieht - von 137, dem Beginn des Wettlaufs, bis 225, als Achill Athenes Weisung gehorcht und stehenbleibt, um Atem zu schöpfen - und auf welche Weise der Dichter erzähltechnisch, an zwei unterschiedlichen Stellen der Handlung, den situativen Rahmen für die Verfolgungsszene absteckt. Beides gelang ihm zumindest nach Auffassung der antiken Interpreten jedoch nicht ohne gewisse Einbußen an Plausibilität und Realismus seiner Schilderung: Schon Aristoteles benennt in der Poetik die "Εκτορος δίωξις als gewissermaßen klassisches πρόβλημα der Homerkritik (poet. 1460all-17; vgl. 1460b26) und räumt ein, daß das Bild der dastehenden und sich an der Verfolgung Hektors nicht beteiligenden Griechen, denen Achill durch Kopfschütteln den Kampf verbietet, „absurd" (γελοΐον) sei, wenn es auf der Bühne inszeniert würde - im Epos aber bleibe diese Schwäche verborgen802. Diese Kritik hat, jedenfalls nach Aus802

Aristot. Poet. 1460all-17 δει μεν ούν έν ταΐς τραγωδίαις ποιεί ν τό ϋαυμαστόν, μάλλον δ' ένδέχεται έν τή έποποιια τό άλογον, δι' δ συμβαίνει μάλιστα τό ϋαυμαστόν, δια τό μή όράν εις τον πράττοντα· έπει τά περι την "Εκτορος δΐωξιν έπι σκηνής όντα γελοία αν φανείη, οί μεν έστώτες και ού διώκοντες, ό δε άνανεύων έν δε τοις έπεσιν λανθάνει.

302

IV. Kritische Exegese

sage des bT-Scholions zu 205-207, das sie ebenfalls kurz referiert, erstmals der peripatetische Homererklärer Megakleides, ein Zeitgenosse des Aristoteles, formuliert803; sie ist demnach eindeutig frühen Ursprungs und dürfte durch ihr Zitat an so prominenter Stelle, in der aristotelischen Poetik, auch in der Folgezeit weithin Bekanntheit besessen haben. Nicht jedoch nur an dieser Unwahrscheinlichkeit der homerischen Erzählung nahmen die Kritiker Anstoß: So findet sich bei Eustathios zu den Versen 194-198 die Notiz, die „alten Grammatiker" (oi παλαιοί) hätten gefragt, wie es sein könne, daß Achill, der doch den inneren Kreis - an der Mauer Trojas entlang - durcheile (vgl. 198), Hektor nicht einholen und dem Gegner lediglich „auf dem Fuß folgen" könne, und dies, obwohl er ποδωκέστατος sei804 und es von ihm heiße, er „fliege" geradezu (vgl. πέτετο, 143). Eustathios bietet am ausführlichsten die zweifellos traditionelle805 Erklärung, Apollon habe Hektor noch ein letztes Mal Kraft verliehen (203f.)806. Diese Lösung des von den Kritikern festgestellten απορον in der homerischen Schilderung hat offenbar aber nicht alle Interpreten befriedigt tatsächlich erfolgt das vom Dichter angedeutete Eingreifen Apollons ja auch erst sehr spät, kurz vor Ende der Verfolgungsjagd807 - , wenn Eustathios (z. St.) mitteilt, daß oi παλαιοί λυτικοι λέγουσι πολλά και αλλα εις λύσιν της ρηθείσης απορίας. Unabhängig von Eustathios ist noch eine in den 803

804 805

806

807

Schol. [b] 22,205-7: Μεγακλείδης πλάσμα είναι φησι τοΰτο τό μονομάχιον· πώς γαρ τοσαΰτας μυριάδας νεΰματι ' Αχιλλεύς άπέστρεφεν; Dieselbe Frage stellt verkürzt Schol. [bT] 22,165. Erbse fuhrt die Notizen des Eustathios sowohl auf Porphyrios (der wiederum wesentlich älteres Material übernommen hat) als auch auf die - dem Erzbischof möglicherweise noch reicher vorliegenden - Scholien zurück, ohne die Traditionen deutlich trennen zu können. In jedem Fall haben wir keine selbständige Erklärung des Eustathios vor uns, vgl. das AScholion zu II. 22,202: (...) ή διπλή προς τό ζητουμενον, πώς ό ποδώκης ού καταλαμβάνει τον "Εκτορα. λέλυκε δέ αύτό ό ποιητής, δτι ύπό 'Απόλλωνος έβοηθεΐτο; ferner Schol. [bT] 22,165. Eustath. 1265,46-53: ένταϋϋα oi παλαιοί στοχαζόμενοι, ώς Ά χ ι λ λ ε ύ ς μεν έλάττω κΰκλον περίεισι τον προς τή πόλει, "Εκτωρ δέ μείζω τον έξωτέρω, φασιν ώς, εί τοΰθ' ούτως έχει, πώς έτι ποδωκέστατος ό Ά χ ι λ λ ε ΰ ς , πώς δέ καΐ πέτεται ό παρά πόδας ήκων τοΰ "Εκτορος, και ταύτα κύκλο ν μείζονα περιθέοντος; και τοιαύτα μεν άποροΰσιν αύτοί. ό δέ ποιητής λΰσει πιθανώς τό άπορον τή τοΰ κατά 'Απόλλωνα μοιριδίου μεσολαβήσει, ώς αΰτοΰ βοηθούντος και μένος έντιθέντος τοις "Εκτορος γόνασι καΐ οιον πτερΰσσοντος ώς άντιπέτεσϋαι τω Άχιλλεΐ. Die Echtheit der Verse 202-204 ist von modernen Interpreten (Leaf u.a.) angezweifelt worden; sollte es sich tatsächlich um einen späteren Zusatz handeln, so wäre die Motivation für diesen Einschub - entsprechend der antiken Erklärung dieser Stelle - zweifellos in dem Versuch einer Erklärung dafür zu sehen, daß Achill den Gegner nicht einzuholen vermag; siehe Richardson zu 202-4.

8. Kampfschilderungen

303

Scholia minora ([AD] zu II. 22,201) und bei Porphyrios (1,257,11) überlieferte, aber wohl unzutreffende (vgl. 198) Erklärung greifbar, Hektor laufe den inneren Kreis, sowie die von Schol. [bT] 22,165 genannte These, Hektor sei anders als Achill nicht durch die Trauer um Patroklos und die Kämpfe unmittelbar zuvor geschwächt und laufe zudem um sein Leben. Bereits der dürftige Teil der antiken Homerkommentierung, der uns überliefert ist, zeigt deutlich, daß in der ohnehin intensiven Kommentierung des 22. Buches, das für die Iliashandlung so zentral ist, dem πιθανόν, dem Realismus in der Zweikampfschilderung besondere Aufmerksamkeit galt. Daß Vergil, der im 12. Aeneisbuch so offenkundig an sein homerisches Modell erinnerte, diese Kritik, wenn sie ihm bekannt war, berücksichtigt haben könnte, besitzt große Wahrscheinlichkeit, und der eingehende Vergleich dürfte dies bestätigen. Schon in der Beschreibung der Situation, die den Rahmen für die Verfolgungsjagd abgibt, vermeidet Vergil, wie bereits gesehen wurde808, die an Homer geübte Kritik: Auch hier greifen die Kämpfer beider Seiten nicht in Verfolgung und Kampf ein, doch der Dichter motiviert dies ausdrücklich: Das zwischenzeitlich gebrochene foedus zwischen beiden Parteien, das den Zweikampf zwischen Aeneas und Turnus vorgesehen hatte, ist mit dem Entschluß des Turnus, gegen den Trojaner anzutreten, und seine Aufforderung an die eigenen Leute, den Kampf zu beenden (693ff), wiederhergestellt: Rutuler wie Trojaner legen die Waffen ab (707). Als dann im Verlauf des Zweikampfs das Schwert des Turnus zerbricht und die Verfolgungsjagd beginnt, heißt es ausdrücklich, daß die Reihen ihre Stellung behalten, indem speziell die Trojaner, in dichter Formation stehend, zusammen mit den Stadtmauern und dem Sumpfgelände davor den fliehenden Turnus einzwängen (744f.). Im weiteren Verlauf bittet Turnus, der Verfolgte, seine Leute um Unterstützung (75 8f.), Aeneas dagegen warnt die Gegner davor, die ohnehin von Furcht (vor dem Trojanerfuhrer) ergriffen sind (761) und deren Nichteingreifen in den Kampf hierdurch ebenso wie durch die Präsenz der gegnerischen Reihen motiviert ist. Vergil hat auf diese Weise den äußeren Rahmen der Ereignisse sorgfältig - geradezu wie auf der Bühne - vor Augen gestellt und das Fernbleiben der Kämpfer motiviert. Der vergilische Aeneas steht dabei in einem auffälligen und vielleicht ebenfalls auf die antike Kritik antwortenden Kontrast zum homerischen Achill, wenn er den G e g n e r n das Eingreifen in den Kampf verbietet: dieses 'Abwinken' liegt direkter als bei Homer, wo das Verhalten Achills durch seine Ruhmgier, mithin durch

808

Schlunk 1974, lOOf. mit Verweis auf das zitierte bT-Scholion zu 205, nicht jedoch auf die - für die Frage der Rezeption dieser Kritik durch Vergil wichtige - Aristotelesstelle.

304

IV. Kritische Exegese

seinen Charakter eher mittelbar motiviert ist, in der Logik der äußeren Situation begründet809. Aeneas verfolgt den Gegner nun über fünf (!) 'Rundläufe' hinweg (quinque orbis explent cursu totidemque retexunt / hue illuc, 763f.), ohne ihn

freilich zu erreichen. In diesen orbes dürfte trotz der leicht abweichenden Konzeption Vergils, auf die gleich zurückzukommen ist, eine Reminiszenz an die dreimalige (165; vgl. 208) Umkreisung Trojas bei Homer durch Achill und Hektor liegen810; der Aeneisdichter läßt eine fast wörtliche Wiedergabe der Verse folgen, mit denen Homer die Verfolgungsjagd kommentierend eingeleitet hatte: neque enim levia aut ludicra petuntur /praemia,

sed Turni

de vita et sanguine certant (764f.), vgl. II. 22,158ff. δίωκε δέ μνν μέγ' άμεΐνων / καρπαλίμως, έπεν ούχ νερήϊον ούδέ βοεΐην / άρνύσϋην, α τε ποσσιν άέθλια γίγνεται ανδρών, / άλλα περί ψυχής θέον "Εκτορος ίπποδάμοιο 811 . Auch Vergil sucht also seiner Schilderung einen weiten Spannungsbogen zu geben, begründet jedoch die lange zeitliche Ausdehnung des Wettlaufs ausdrücklich: Aeneas ist von seiner Verwundung, die ihm der anonyme Bogenschütze beigebracht hatte (319ff.), noch geschwächt {tardata sagitta /... genua impediunt, 746f.), weshalb er Turnus nicht einzuholen, ihm aber immerhin auf dem Fuß zu folgen vermag (pedem pede ... urget, 748). Damit ist das Problem, πώς Ά χ ι λ ε ύ ς πέτεται παρά πόδας ήκων, deutlich vermieden, zugleich eine wirksame Überhöhung der Leistung des Aeneas erreicht. Auch ohne daß Vergil ihm die Fähigkeit des schnellen Laufs wie Homer dem Achill ausdrücklich zuerkennt, setzt er die Erwartung, daß Aeneas den Gegner bald einholen würde, wenn er eben nicht verletzt wäre, also voraus. Das folgende Gleichnis (749ff.) unterstreicht noch diesen Eindruck: Der umbrische Jagdhund ist immer kurz davor, sein fliehendes Opfer zu packen (haeret hians iam iamque tenet similisque tenenti / increpuit malis, 754f. -

so verfolgt Aeneas den Rutuler pedem pede urgens, 748), nur daß der Hirsch ihm im letzten Moment stets wieder entwischt (morsu... elusus inani est [sc. canis], 755 - dem entspricht auf der Realebene interdum genua

impediunt,

sc. Aenean, etc., 747). Auch das Gleichnis ist dem homerischen Zusammenhang entlehnt (22,189ff. Achill verfolgt Hektor wie ein Hund das

809 810 811

Vgl. Schlunk 1974, 101. Vgl. auch West 1974, 26. Bei Homer wird hierdurch bereits auf den spielerischen Wettlauf im Rahmen der im folgenden Buch geschilderten Leichenspiele fur Patroklos vorausgewiesen und auf diese Weise eine Kontrastwirkung erzeugt; in der Aeneis dürfte das Hauptmotiv (die Wettspiele hatte Vergil im 5. Buch geschildert) neben der Hervorhebung der Bedeutung in der gezielten Erinnerung an das homerische Modell (im Sinne eines Leitzitats) liegen.

8. Kampfschilderungen

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Hirschjunge), jedoch rückt Vergil gegenüber Homer als Tertium comparationis eben den ganz geringen Abstand zwischen Verfolger und Verfolgtem in den Vordergrund und läßt insbesondere dasjenige Detail im Iliasgleichnis aus, das nur negativ eine Entsprechung auf der Realebene findet: τον (sc. νεβρον έλάφοιο) δ' ε'ί πέρ τε λάθησι ... / αλλά τ' άνιχνεύων θέει έμπεδον (sc. ό κΰων), όφρα κεν ευρη· / ώς Έ κ τ ω ρ ού λήύε ποδώκεα Πηλεΐωνα..., 191ff), wie schon das bT-Scholion zu Vers 193 bemerkt: προς την δνωξιν μόνον (sc. ή ενκών)· οΰδέ γαρ κρύπτεται ό "Εκτωρ812. Vergil beschließt die Schilderung der Verfolgungsjagd mit dem Hinweis auf die große Relevanz des Kampfes, wie oben in Erinnerung gebracht wurde, mittels eines fast wörtlichen Homerzitats. Umso bezeichnender ist, daß er die homerische Formulierung nicht übernimmt, um die S c h n e l l i g k e i t des Laufs zu begründen (wie dies Homer getan hatte, vgl. 22,159. 166), sondern um neben der Verletzung des Aeneas einen zweiten Grund für die Beharrlichkeit der Gegner und somit große zeitliche Ausdehnung (vgl. quinque orbis ... /hue illuc, 763f.) der Verfolgungsjagd anzuschließen: Das Bemühen ist deutlich, den der Ilias nachgebildeten Handlungsablauf plausibel zu machen, ohne die Aristie des Aeneas zu schmälern (wie Homer indirekt nach Auffassung der Kommentatoren), aber auch ohne eine göttliche Intervention einzuschalten (wie Homer den Gott Apollon in 22,203f., worin aber auch nur ein Teil der Interpreten eine zufriedenstellende Erklärung erblickt hatte), ein Motiv, mit dem er zumal im Schlußkampf der Aeneis im Vergleich zu Homer äußerst sparsam verfährt813. Zugleich vermeidet Vergil das Problem des inneren bzw. äußeren Kreises durch eine veränderte Lokalisierung des Wettlaufs: da das Zentrum offenbar wechselt, nicht durch die Stadtmauern gebildet wird, ist die von den Homerkritikern aufgeworfene 812

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Homer verdeutlicht die Verfolgungsjagd kurz darauf noch durch das berühmte Traumgleichnis (199f.), das die antiken Homerkritiker (Eustath. 1266,15: τινές μέντοι άΟετοΰσι, ώς φασιν οί παλαιοί) und ihnen voran wohl Aristarch wegen seiner - ihrer Ansicht nach - mangelnden Proprietät und Qualität kritisierten bzw. als unecht ausschieden, vgl. Schol. [A] 22,199-201: αθετούνται στίχοι τρεις, ότι και τή κατασκευή και τω νοήματι εύτελεΐς· και γαρ άπραξίαν δρόμου και τό άπαράβατον σημαίνουσιν, έναντίως τω „ώς δέ οτ' άεϋλοφόροι περί τέρματα μώνυχες ίπποι. Wie Schlunk (1974, 104ff.) zeigt, hat Vergil das umstrittene, gleichwohl sicherlich schon in der Antike auch bewunderte Gleichnis in einen - im Sinne der Alexandriner - passenderen Zusammenhang übertragen, um zu verdeutlichen, wie dem Rutulerführer unmittelbar vor dem Zweikampf mit Aeneas durch den Entzug jeglicher göttlicher Unterstützung die Kräfte schwinden und er schließlich selbst mit seinem verzweifelten Versuch, den Gegner mit dem Felsbrocken zu treffen, versagt (905ff): hier findet der Stillstand, die Erfolglosigkeit der Bemühungen (vgl. απραξία) in dem Bild vom Alptraum auf der Realebene ihre Entsprechung in der Erstarrung des Turnus (vgl. gelidus concrevit frigore sanguis, 905). Siehe S. 257ff.

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IV. Kritische Exegese

Frage obsolet geworden. Vergil greift dieses 'Problem' an anderer Stelle auf und nutzt es hier zu einer bemerkenswerten Steigerung des homerischen Vorbildes im 22. Iliasbuch, indem er mit der Differenzierung 'äußerer' 'innerer Kreis' im Rahmen einer anderen Verfolgungsjagd eine überaus überraschende Wende des Handlungsablaufs erzielt: Im 11. Buch überwindet Camilla ihren trojanischen Gegner, indem sie Aen. 11,694

Orsilochum fugiens magnumque agitata per orbem eludit gyro interior sequiturque sequentem (. . .).

Hier ist der den inneren Kreis Durcheilende nun tatsächlich um so viel schneller, daß aus dem Verfolgten der Verfolger werden kann. Schließlich sei ein Blick auf die Adaptation der topographischen Ekphrasis durch Vergil geworfen, durch die, wie oben erwähnt, Homer der Wettlaufschilderung Anschaulichkeit und 'Authentizität' verliehen, vor allem aber das Geschehen retardiert hatte (22,147-156) - so darf man wohl seine Funktion umschreiben; in der Erwähnung des Quellbrunnens, in dem „die trojanischen Frauen früher, im Frieden, vor der Ankunft der Achaier ihre Kleider gewaschen hatten", mag ferner ein Kontrast der Art „einstige Zeit des Glücks von Troja - jetziges und noch bevorstehendes Unglück, wenn Hektor gefallen ist" angedeutet sein814. Für die konkrete Handlung selbst ist die Örtlichkeit bedeutungslos; so sieht das Scholion zu dem Passus seine Hauptfunktion darin, daß es die (in der Erzählung nicht ohne Einbuße an Spannung darstellbare) Dehnung des vorgegebenen Handlungsablaufs ausfülle: Schol. [bT] 22,147-56: δαιμονΐως τον της διώξεως καιρόν ούκ άργόν κατέλιπεν, άλλ' ώσπερ διατριβήν ποριζόμενος τή ακοή τους μεν τρέχειν φησίν, αύτός δε ψυχαγωγεί τον άκροατήν.

Angesichts des leicht apologetischen Tons des Interpreten ist nicht auszuschließen, daß es auch kritische Stimmen gegeben hat - oben hat sich gezeigt, daß die erzählerische Dehnung der Verfolgungsjagd (aus anderen Gründen) Anstoß erregt hatte. Doch auch ohne daß auf ein argumentum ex silentio zurückgegriffen werden soll, ist auf die deutlich kontrastierende Imitation der Topothesie durch Vergil hinzuweisen: Sein Exkurs (vgl. das ekphrastische forte, 766) ist einem alten, dem Faunus heiligen Ölbaum gewidmet (766ff.), der jedoch nicht nur die Wegstrecke der Verfolgungsjagd markiert und dieser so Anschaulichkeit und Lebendigkeit gibt, sondern fur das geschilderte Geschehen unmittelbare Bedeutung erhält: Aeneas' Speer, vergeblich gegen Turnus geschleudert, bleibt in ihm haften, wodurch der 814

Siehe auch Richardson zu 147-56.

8. Kampfschilderungen

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Handlungsablauf im folgenden erheblich modifiziert wird - durch das Eingreifen Junos bzw. Juturnas gewinnt Turnus noch einmal eine Chance815. Die Analyse der Verfolgungsjagd des letzten Aeneisbuches auf ihre Beziehung zum homerischen Modell dürfte damit das Bemühen Vergils offengelegt haben, die homerische Schilderung durch Berücksichtigung der antiken Kritik und Exegese einzelner ihrer Motive zu variieren und vor allem im Sinne literarischer aemulatio - zu steigern816.

b) Die göttlichen Waffen des Aeneas Zu Beginn des 20. Iliasbuches tritt Achill, mit den vom Gott Hephaistos geschaffenen Waffen ausgestattet, wieder in den Kampf gegen die Trojaner ein, und Homer läßt ihm gleich als ersten Gegner im Zweikampf den άριστος817 Aineias entgegentreten (158f.). Zumal gegen die göttlichen Waffen des Gegners ist dieser jedoch chancenlos: er stößt seinen Speer auf den Schild des Peliden, ohne diesen zu verletzen, und kann Achills Gegenangriff (273ff.) nur mit Hilfe Poseidons entkommen818, nachdem der Speer des Gegners seinen eigenen Schild ganz durchstoßen hatte und hinter Aineias in die Erde geschossen war (274ff.). Was das Aufitreffen des Speeres auf den Schild Achills betrifft, bietet der überlieferte Text ein widersprüchliches Bild: Heißt es in Vers 268, das Gold (also die Goldschicht) des „göttlichen" Schildes habe den Durchbruch der Waffe verhindert, so liefern die folgenden Verse 269-272 eine differenziertere Schilderung, derzufolge der Speer wohl die beiden obersten Schichten durchstoßen habe, nicht aber die noch darunterliegenden weiteren drei; denn der Schild sei von Hephaistos mit fünf Schichten ausgestattet worden, zwei aus Erz, aus Zinn die beiden inneren und eine aus Gold. Sollen die Verse 269-272 nicht in Widerspruch zu 268 stehen, so muß angenommen werden, daß die Goldschicht vom Dichter in der Mitte des Schildes gedacht wurde819, was sinnlos erscheint, wie moderne 815

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Vgl. West 1974, 27: „In Homer the domestic interlude and the impression of autopsy; in Virgil the violation of one deity and intervention of others, demonstrating the greater power of the divine support for Aeneas". Somit ist Wests Fazit (1974, 30) seines Vergleiches zwischen homerischem Modell und vergilischer Nachgestaltung sehr zu relativieren, wenn er ohne Berücksichtigung der hier vorgeführten Motive feststellt, Vergil sei „less concerned with such material [sc. realistischer Darstellung], less observant, striving for impressive effects. His details is not veristic, sometimes not credible (...)". Hierzu Edwards zu 158-160. Zu dieser Szene s. ferner S. 263ff. So wird die Stelle schon in dem bT-Scholion zu 271-2 gedeutet, das zudem auf die geringere Widerstandsfähigkeit von Gold hinweist, über dieses Problem jedoch hinwegzuhelfen

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IV. Kritische Exegese

Kommentatoren zu Recht festgestellt haben820. Tatsächlich dürften wohl die Verse 269-272 mit Leaf, Boiling und Edwards als späterer Zusatz auszuscheiden sein821. Doch nicht erst modernen Homerinterpreten sind die Verse aufgefallen: Kaum eine Textpartie der Ilias ist von der antiken Homerkritik derart lebhaft - und frühzeitig - diskutiert worden wie diese. Nachdem schon Aristoteles in der Poetik (1461a31-35) auf den Widerspruch der Verse 269-272 zu 268 aufmerksam gemacht hatte, ohne ihn wirklich auflösen zu können822, zogen Aristarch823 und, wie aus dem T-Scholion z. St. hervorgeht, ενιοι των σοφιστών 824 aus der Inkonsistenz dieselbe Konsequenz wie moderne Interpreten und schieden die Verse 269-272 aus825. Im A-Scholion z. St. heißt es zur Begründung, daß die von Hephaist geschaffenen Waffen, wie aus den 'echten' Versen (265f.) hervorgehe, unverletzlich seien (άτρωτα γαρ τά ' Ηφαιστότευκτα συνίσταται) 826 . Dieselbe Auffassung findet sich innerhalb des Scholiencorpus auch zu zwei anderen Iliasstellen, in denen der Vers 268 - wieder jeweils in Szenen, in denen Achill mit seinem Schild den Angriffen des Asteropaios bzw. des Agenor standhält - wiederholt (21,165) bzw. leicht variiert (21,594) wird. Dagegen verwiesen andere Interpreten (vgl. Schol. [bT] 20,265) auf weitere Stellen, aus denen das Gegenteil hervorgehe. Die Echtheitsdebatte galt demnach auch der Frage, wie perfekt eigentlich der Schutz sei, den die göttlichen Waffen dem Haupthelden der Ilias bieten. Dieses 'Problem' war, als einem Vertreter der römischen Homerkritik, auch Gellius (14,6,4) geläufig. Wie an anderer Stelle dieser Untersuchung in Erinnerung gebracht wurde827, erhält Aeneas namentlich in den Kämpfen des 10. Aeneisbuches als unüberwindlicher Gegner die Züge des Peliden; am Ende des 8. Aeneis-

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sucht: μέσην νομιστέον την χρυσήν· άπαλώτερος γαρ ών ό χρυσός έκλελυμένον το δόρυ μετά την τών χαλκών βίαν εύχερώς ύποδέξεται (...); anders Schol. [bT] 20,270; [bT] 20,272, letzteres mit dem Hinweis, ούκ αν την καλλιστεύουσαν άπέκρυψεν. Siehe Edwards (Komm, zu 268-72). Die Verse haben van der Valk (1964, 423f.) und Morard (Bulletin de l'Association G. Bude 4.3, 1965, 348-359) zu verteidigen gesucht. Er nahm an, daß die oberste Goldschicht den Anprall des Speeres so weit abschwächte, daß dieser 'nur' noch die folgenden zwei Schichten durchdringen konnte, und deutete έσχετο im Sinne von έκωλΰθη; siehe Lucas zu [14]60a35-37. Die Deutung des Aristoteles hat der in dem A-Scholion zu 269-72 zitierte Verteidiger der Verspartie offenbar übernommen. Siehe Erbse 1969-88 V, 47f. (App.). Hierzu Erbse 1968-88 V, 48 (App.) unten. Schol. [bT] 20,272; [bT] 20,271-2 (s.o. Anm. 819). Vgl. Schol. [AT] 20,266. Siehe S. 194ff.

8. Kampfschilderungen

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buches hat er die Vulcanwaffen aus den Händen seiner Mutter erhalten, wie Achill von Thetis zu Beginn des vorangegangenen 19. Iliasbuches die von Hephaistos geschaffenen Waffen in Empfang genommen hat. Nachdem sich Aeneas gegen die Angriffe von Gegnern behauptet hat, die der Dichter deutlich als unterlegen vorgestellt hat (10,330f. 522), tritt ihm - eindeutig als 'Ersatz' für den von Juno aus dem Kampf entfernten Turnus - in dem gewaltigen (mit Orion verglichenen, 763ff.; vgl. 771) und furchtlosen (770) Mezentius erstmals ein wirklich ebenbürtiger Gegner entgegen. Knauer, der die beiden Stellen der Ilias und der Aeneis in seinen Listen einander gegenüberstellt, macht zu Recht darauf aufmerksam, daß diese Szene auf die Situation des 20. Iliasbuches bezogen scheint; dies geschieht in zweifacher Weise: In Mezentius tritt Aeneas wie in Aineias dem Peliden erstmals nach seinem Wiedereintritt in den Kampf - und damit in der Eposhandlung überhaupt! - ein Gegner im Alleinkampf entgegen; über diese strukturelle Parallele hinaus aber erinnert der vergilische Aeneas natürlich auch an den homerischen Aineias, dessen schließliches Versagen gegenüber Achill in der Szene des 20. Iliasbuches in der Aeneis zuvor ausdrücklich (5,808ff.) in Erinnerung gebracht wurde829. Mezentius bezeichnet ihn ferner unmittelbar vor dem Kampf als praedo (774), womit ebenfalls auf die Frontstellung der Ilias - nun erscheint jedoch Aeneas als alius Paris - zurückverwiesen ist; auch bringt Vergil den Etrusker sehr deutlich in die Nähe des homerischen Achill, sowohl unmittelbar vor seinem Zusammenstoß mit Aeneas, als er den von ihm getöteten Orodes verhöhnt830, als auch nach der ersten Begegnung mit Aeneas in seiner Trauer um den gefallenen Lausus831. Aeneas sieht sich, dies

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Das 9. Buch stellt innerhalb der Kämpfe einen 'Exkurs' dar, insofern der Hauptheld abwesend ist. Vgl. ferner die höhnischen Worte des Liger fast unmittelbar vor der Begegnung des Aeneas mit Mezentius: 10,581f. non Diomedis equos nec currum cernis Achilli / aut Phrygiae campos. Vgl. Aen. 10,743f. nunc morere. ast de me divom pater atque hominum rex /viderit mit den an den sterbenden Hektar gerichteten Worten Achills in II. 22,365f. τέθνατι· κήρα δ' έγώ τότε δέξομαι, όππότε κεν δή / Ζευς έϋέλη τελέσαι ήδ' αθάνατοι ϋεοι άλλοι. Hierzu Thome 1979, 77f. Hier dient die Trauer Achills um Patroklos als Vorbild, vgl. insbesondere das Motiv der Vorahnung, bevor die Nachricht eintrifft, in II. 18,4 ([τον δ' εύρε ... ] τά φρονέοντ' άνά Ουμόν α δή τετελεσμένα ήεν, hierzu Schol. [AbT] ζ. St. έστι δέ τών έν ά τ υ χ ΐ α προληπτικός ό νοΰς) und Aen. 10,843 (agnovit longe gemitum praesaga mali mens) und den darauf folgenden Trauergestus in II. 18,23f. (άμφοτέρησι δέ χερσιν έλών κόνιν αίθαλόεσσαν / χεΰατο κάκ κεφαλής, χαρίεν δ' ήσχυνε πρόσωπον) und Aen. 10,844f. (canitiem multo deformat pulvere et ambas / ad caelum tendit palmas et corpore inhaeret); in beiden Threnodien klingt das Motiv der Schuld am Tod des geliebten Menschen an (vgl. Aen. 10,847ff. mit II. 18,98ff; hierzu Thome 1979, 130 m. Anm. 826). Me-

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IV. Kritische Exegese

ist zweifellos der tiefere Sinn dieser intertextualen Doppeldeutigkeit der Szene, einer Bewährungsprobe wie im 20. Iliasbuch gegenüber, die er nun, gewandelt und mit göttlichen Waffen ausgestattet, im Rahmen der 'Umkehrung' des Iliasgeschehens in der Aeneis als wirklicher alius Achilles meistern wird. Eine solche doppelte - innere wie äußere dabei gegenläufige Bezugnahme auf die Gestalten und Situationen der homerischen Ilias gerade im maius opus der Aeneis wurde im Zusammenhang der Untersuchung schon häufiger beobachtet832; die Tötung des Mezentius durch Aeneas am Ende des Buches, dann auch die eindeutige Achillrolle des Aeneas, der um Pallas trauert und ihn bestattet, zu Beginn des folgenden Buches zeigt dann, daß die 'historische' Reminiszenz durch die 'strukturelle' gleichsam widerlegt wurde. Zu dem nun bedeutsamen Befund der Parallelität beider Szenen kommt, daß erstmals in dem Kampf gegen Mezentius die göttliche Qualität des Aeneasschildes hervorgehoben wird, worauf gleich zurückzukommen ist833. Hier wird nun auch deutlich, wie Vergil in seiner Imitation auf die verbreitete antike Kritik an der ihm wohlbekannten Vorbildstelle des 20. Iliasbuches reagiert hat: Ebenso wie der schließlich unterliegende Aineias bei Homer beginnt Mezentius mit dem Angriff, jedoch prallt sein Geschoß - wie zuvor schon die Speere der Phorcussöhne (331 f.) - am Schild des Aeneas ab: 10,776

(...) dixit, stridentemque eminus hastam iecit. at ilia volans clipeo est excussa proculque egregium Antoren latus inter et ilia figit.

In der zweiten 'Runde' nach der Rückkehr des von Aeneas verletzten und um Lausus trauernden Mezentius greift dieser erneut voller Zorn den Gegner an, vergeblich - die Geschosse bleiben an der Oberfläche des göttlichen, von Vulcan, wie Vergil in der Schilderung der Waffenherstellung anders als Homer ausdrücklich erwähnt hatte (8,445), aus Erz und v.a. Gold (vgl. 10,271) verfertigten Schildes haften, ohne jedoch eindringen zu können: welchen Schutz der Schild Aeneas bietet, hebt gerade der Umstand hervor, daß Mezentius einen ganzen „Wald" von Lanzen auf den umbo schleudert, ohne einen Erfolg zu erzielen: 10,882

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(...) dixit, telumque intorsit in hostem; inde aliud super atque aliud figitque volatque

zentius wendet sich vor seinem Wiedereintritt in den Kampf gegen Aeneas ebenso wie Achill in II. 19,400ff. vor seiner Rückkehr an sein Pferd (Aen. 10,860ff.). Siehe o. S. 20. 169. Dies geschieht dagegen kaum in Aen. 10,33 lf., in der einzigen anderen Stelle, in der Aeneas von gegnerischen Geschossen an seiner Rüstung getroffen wird.

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ingenti gyro, sed sustinet aureus umbo, ter circum astantem laevos equitavit in orbis tela manu iaciens, ter secum Troius heros immanem aerato circumfert tegmine silvam.

Vergil hebt in dieser Schilderung demnach den besonderen Schutz hervor, den der göttliche Schild Aeneas bietet, indem er die Geschosse entweder abprallen oder die oberste Schicht zumindest nicht durchdringen läßt, und er vermeidet an der letzten Stelle, wo die Geschosse immerhin im Schild haften bleiben, die Schwierigkeit der Iliasstelle, indem er keinen Zweifel über die äußere Lage der Goldschicht läßt: diese ist s i c h t b a r 834, was schon beim Eintritt des Aeneas in die Kämpfe (vgl. 271 vastos umbo vomit aureus ignis) deutlich geworden war. Die kritisierte Ekphrasis der Iliasstelle läßt Vergil hier entsprechend aus, überträgt sie aber - leicht variiert - auf den Gegenangriff des pius A e η e a s , als dieser seinerseits - wie Achill gegen Aineias bei Homer - gegen Mezentius vorgeht und dessen Schild Schicht für Schicht mit seinem Speer durchstößt*35, woraufhin er dann ebenso wie Achill mit dem Schwert auf den Gegner zustürmt: Aen. 10,783

tum pius Aeneas hastam iacit836; illa per orbem aere cavum triplici, per linea terga tribusque transiit intextum tauris opus, imaque sedit inguine, sed viris haud pertulit. ocius ensem Aeneas viso Tyrrheni sanguine laetus eripit a femine837 et trepidanti fervidus instat.

Damit hat Vergil einen wirkungsvollen Kontrast zwischen der unterschiedlichen Qualität der Waffen beider Gegner - und damit ihrer entgegengesetzten Stellung zum fatum - erzeugt838, der - entsprechend der veränderten Ökonomie Vergils im 10. Buch anders als in der Ilias - dann auch über den Ausgang des Kampfes entscheidet. Diese Kontrastimitation der vielkritisierten Iliasstelle zeigt, wie Vergil einerseits die antike Kritik an seinem zu überbietenden Modell zu vermeiden, andererseits, wie öfters, die kritisierten

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Anders ist aeratus in 887 aufzufassen, siehe Harrison ζ. St. Durch die strukturellen Parallelen sind die Aeneisverse mit dem Passus aus dem 20. Iliasbuch noch eher zu verbinden als mit der Szene aus dem 3. Buch, in der Menelaos mit dem Speer den Schild des Paris durchstößt, wenngleich Vergil in der Detailbeschreibung auf letztere enger Bezug nimmt, da hier keinerlei strukturelle Parallele vorliegt und es sich um eine rein formale Imitation handelt. 836 vgl. II. 20,273 δεύτερος αύτ' Ά χ ι λ ε ύ ς προίει δολιόσκιον έγχος. 837 Ygi ji 20,283bf. αύτάρ Ά χ ι λ λ ε ύ ς / έμμεμαώς έπόρουσεν έρυσσάμενος ξίφος όξυ und 21,173 Πηλείδης δ' άορ όξύ έρυσσάμενος παρά μηρού. 838 Vgl. auch Thome 1979, 104f. 835

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IV. Kritische Exegese

Elemente des bewunderten Vorbilds an geeigneter Stelle in seiner Nachgestaltung aufzugreifen vermochte. Die Waffen des Aeneas sind zwar nicht völlig 'unverwundbar', bieten ihrem Träger aber unzweifelhaft sicheren Schutz.

c) Todesprophezeiung im Kampf Die beiden zentralen Sterbeszenen der Ilias schließt Homer wirkungsvoll mit einer Prophezeiung aus dem Munde des sterbenden Kämpfers ab, in der Patroklos wie Hektor ihrem jeweiligen Gegner (Hektor bzw. Achill), nachdem er sie tödlich verwundet hat, den baldigen Tod ankündigen. Sie wissen dabei zugleich auch den Namen des Kämpfers zu nennen, durch den dieser sein Ende finden werde (durch Achill bzw. Paris, unterstützt von Apollon: 16,852ff. bzw. 22,359ff.)839. Die Scholien zu der ersten der beiden Stellen lassen erkennen, daß diese Ökonomie des Dichters bei aller Bewunderung dieser beiden Szenen den antiken Interpreten auch Probleme bereitete, formuliert in Form eines - in allen Scholiencorpora überlieferten - ζήτημα, aus welchem Wissen Patroklos Achill als seinen Rächer benennen könne (eine entsprechende Prophezeiung hatte Patroklos nicht erhalten): Schol. [AT] 16,854: πόθεν ό Πάτροκλος οίδεν ότι Άχιλλεύς κτενεΐ τον Έκτορα; ώσπερ Άχιλλεύς άκουσας παρά Θέτιδος, ή έπει κατ' Άρτέμωνα τον Μιλήσιον έν τω Περι ονείρων, όταν άΟροισΟη ή ψυχή έξ όλου του σώματος προς το έκκριϋήναι, μαντικωτάτη γίνεται. Die von den Kommentatoren vorgeschlagene philosophische Erklärung, derzufolge die dem Tode nahe Seele die Kraft der Prophezeiung erhalte, findet zwar zahlreiche Entsprechungen in der entsprechenden antiken Literatur840, wurde jedoch offenbar, wie aus den Scholien zu der zweiten Iliasstelle (Hektors Prophezeiung) hervorgeht, in der Homerkritik durchaus nicht allseits akzeptiert, favorisierten doch „andere" Interpreten hier eine abweichende - und auf einer völlig anderen Ebene liegende - λύσις: Hektor kalkuliere ein, daß Achill, von seinen Worten provoziert, in die Stadt laufe und damit in einen Hinterhalt gerate (Schol. [b] 22,359-60).

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Zu den engen Parallelen zwischen beiden Szenen, die schon der antiken Homerexegese deutlich waren, siehe Fenik 1968, 217f.; einen tabellarischen Überblick gibt Richardson zu 22,330-67. Schon das genannte Scholion verweist auf Artemon (vgl. FHG IV 340 not. 2) und Plat. Apol. 39c, Janko zu 16,852-4 zusätzlich auf Xen. Cyr. 8,7,21; Aristot. frg. 10; Cie. div. 1,63. Vgl. Pease zu Cie. div. 1,63.

8. Kampfschilderungen

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Dem Tode des Patroklos von der Hand Hektors entspricht im Rahmen der Aeneishandlung der Fall des Pallas durch Turnus (10,479ff.); Vergil nimmt in vielen Details Bezug auf die homerische Szene841. Umso mehr fallt auf, daß er dem sterbenden Euandersohn keine Schlußworte in den Mund legt, ja die höhnischen Worte des Turnus verhallen über dem Leichnam des Gegners. Gleichwohl ergeht auch bei Vergil eine indirekte, aber unmißverständliche Ankündigung von Turnus' Tod, der ebenso wie im Fall des homerischen Hektor das Telos der Eposhandlung darstellt, hier jedoch - in Anlehnung an die homerische Tradition - in der Form einer Apostrophe des wissenden erzählenden Dichters (503ff.)842. Doch selbst hier fallt der Name des 'Rächers' nicht und wird so die künftige Entwicklung der Handlung nicht vorweggenommen. Die einzige andere Stelle der Aeneis, in der ein sterbender Krieger (Orodes) den Tod seines Gegners (Mezentius) prophezeit (10,739ff.), besitzt keinerlei vergleichbare Bedeutung für die Ökonomie der Eposhandlung; vor allem nennt aber auch hier der Sterbende den Namen seines Rächers nicht, sein Wissen um die Zukunft ist also begrenzt und nimmt so den unmittelbaren Fortgang der geschilderten Ereignisse nicht vorweg843. Da Orodes - anders als Pallas - seinen Gegner nicht kennt (739), kann seiner 'Prophezeiung' auch keine derart verbindliche Bedeutung wie in der Ilias zukommen844. Vor dem Hintergrund der antiken Homerkritik dürfte

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Siehe Knauer 1964, 300-305. Schon unmittelbar vor dem Tod des Pallas von der Hand des Turnus kündigt Jupiter, der Walter des fatum, dem um Pallas trauernden Hercules den Tod des Rutulers an, wiederum ohne Nennung des Rächers (10,47Iff.). 843 vgl Duckworth 1933, 19 (die Prophezeiung des Orodes „is less definite than those of the Iliad", sc. diejenigen Patroklos' und Hektors). Vgl. auch Thome 1979, 77. 844 Anders die Yergilerklärer, die die schon von den Scholien genannte Deutung bieten, Servius sogar unter ausdrücklichem Hinweis auf Homer (Ti. Donatus 2,384,16 Geo [zu 740] hoc ideo positum est, quoniam dicuntur divinare morientes' Serv. zu 740 Homeri autem more morienti dedit scientiam fiiturorum). Harrison (zu 739-46) nennt für die Worte des sterbenden Orodes die beiden oben genannten Iliasstellen als Vorbilder, geht aber auf diesen wesentlichen Unterschied nicht ein. - Bei L u c a η stellt im 7. Buch der sterbende Domitius seinem Gegner Caesar den eigenen Tod vor Augen, p r o p h e z e i t ihn aber nicht eigentlich (te saevo Marie subactum / Pompeioque graves poenas nobisque daturum, / cum moriar, s ρ e r a r e licet, 613ff ), eine Abweichung vom homerischen Vorbild der Todesprophezeiung Hektors, die Lebek (1976, 264f.) zu Recht hervorhebt, während v.Albrecht (1968, 275) die Andersartigkeit dieser Aussageform vielleicht nicht genügend berücksichtigt, wenn er in der N i c h t e r f ü l l u n g dieser „Voraussage" (Anm. 6) des Domitius (zumindest im Rahmen der Eposhandlung) den entscheidenden Unterschied zum epischen Vorbild sieht. Es scheint gut möglich, daß hier ebenso wie in der Aeneis auch eine - freilich andersartige, zusätzlich in lucanischer Skepsis begründete - Korrektur des nach Auffassung der Homerkritik 'unrealistischen' Vorwissens Hektors (bzw. Sarpedons) vorliegt.

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IV. Kritische Exegese

damit deutlich geworden sein, daß in der Absicht, der Sympatheia des Dichters für den herausragenden, vor der Zeit gefallenen Jüngling Pallas Ausdruck zu geben, fraglos der wichtigste, nicht aber der einzige Grund dafür liegen dürfte, daß Vergil die einzige markante und wie ihre Vorbilder in der Ilias wirklich eintreffende Todesprophezeiung der Aeneis (in eingeschränktem Umfange) nicht dem Sterbenden in den Mund legt, sondern 'selbst' ausspricht. Wenn der Aeneisdichter mit der antiken Diskussion der berühmtesten Sterbeszenen bei Homer in Berührung gekommen sein sollte, was besonders dort als wahrscheinlich gelten darf, wo Homer elementar als erster Lehrer philosophischer Erkenntnis ausgedeutet wurde845, so wäre hier ein weiterer Fall zu greifen, in dem Vergil von der Kritik der zeitgenössischen Homerexegese ausgehend zu einer eigenständigen Gestaltung - dem Ausdruck von Sympatheia unter Wahrung eines möglichst engen Realitätsbezuges der epischen Handlung - gelangt ist. Auf einen sehr ähnlichen Fall eines solchen Perspektivwechsels bei Vergil gegenüber Homer verweist Schlunk (1974, 21 f.): Die namentliche, zuweilen um genealogische oder sonstige Details bereicherte Anrede des Gegners, wie sie etwa Achill an den ihm im Kampf unterlegenen, sterbenden Iphition richtet (II. 20,389ff), ist ein in der Ilias wiederkehrendes Motiv. Während das gegenseitige Erkennen und Wissen der prominenten Helden übereinander den Interpreten keine Probleme bereitete, wurde etwa an der zitierten Stelle doch die genaue Kenntnis des (zweitrangigen, unterlegenen) Gegners, die sich in dem 'Epilog' Achills ausdrückt, zumindest kritisch vermerkt846. Demgegenüber spricht in der Aeneis, wie dies bereits in der Todesprophezeiung des 10. Buches der Fall gewesen war, in deren homerischer Vorbildszene die antiken Interpreten das (Vor-)Wissen der menschlichen Protagonisten als 'unrealistisch' kritisiert hatten, auch hier der 'wissende' Erzähler ein ähnliches Schlußwort wie Achill über seinen Gegner (über den von Aeneas getöteten Aeolus), vgl. Aen. 12,542

845 846

te quoque Laurentes viderunt, Aeole, campi oppetere et late terram constemere tergo. occidis, Argivae quem non potuere phalanges sternere nec Priami regnorum eversor Achilles; hic tibi mortis erant metae, domus alta sub Ida, Lyrnesi domus alta, solo Laurente sepulcrum, vgl.

Dies war wichtiger Teil der Homerlektüre im Grammatikunterricht, s.o. S. 9f. Schol. [A] 20,389: κεΐσαι, ' Οτρυντΐδη] δτι ό Ά χ ι λ λ ε ύ ς γινώσκων αύτδν έξ ονόματος καλεί. Schlunk verweist auf eine ähnliche Kritik zu II. 10,447 (Diomedes kennt Dolon namentlich).

8. Kampfschilderungen

II. 20,388

315

... ό δ' έπεύξατο δΐος Άχιλλευς· ,,κεΐσαι, Ότρυντεΐδη, πάντων έκλπαγλότατ' ανδρών· ένΟάδε τοι θάνατος, γενεή δέ τον έστ' έπι λίμνη Γυγαί·η, δύι τοι τέμενος πατρώϊόν έστιν, "Ύλλω έπ' ίχϋυόεντι καν Έ ρ μ ω δινήεντι."

Ebenso wie in der auktorialen Todesprophezeiung dürften auch hier das Bestreben, die πνϋανότης der Kampfschilderungen gegenüber Homer zu steigern, und die Absicht, der Sympatheia des Dichters Ausdruck zu geben, in eins fallen und Vergils klare Abweichung vom Iliasdichter motiviert haben. In der antiken Kommentierung der genannten Sterbeszene des 22. Iliasbuches stieß auch die Art auf Kritik, in der Homer im 22. Iliasbuch das letzte Gespräch zwischen Hektor und Achill, das dem Tod des Trojaners unmittelbar vorausgeht, ausgestaltete: Achill hat den Gegner mit dem Speer tödlich verwundet, und zwar an der Kehle, „wo der Tod am schnellsten eintritt" (22,325); doch bleibt die Luftröhre unversehrt, „damit" (δφρα) Hektor noch zu sprechen vermag und sich so noch das Gespräch zwischen ihm und Achill anschließen kann - eine Erklärung des Phänomens, die in der parallelen Sterbeszene am Schluß des 16. Buches (852ff.) fehlt: II. 22,326

τή p' έπι οι μεμαώτ' έλασ' έγχεϊ δΐος Άχιλλεύς, αντικρύ δ' άπαλοΐο δι' αύχένος ήλυϋ' άκωκή· ούδ' άρ' άπ' άσφάραγον μελίη τάμε χαλκοβάρεια, δφρα τί μιν προτιείποι αμειβόμενος έπέεσσιν.

Unmittelbar nach seiner an den Gegner gerichteten Todesprophezeiung dann stirbt Hektor, seine Seele entschwindet zum Hades (36Iff.). Die Scholien zu den Versen 328f. lassen die Umstrittenheit dieser Stelle in der antiken Homerkritik noch gut erkennen: Zunächst rätselten die Interpreten, aus welchem Grund der Speer die Luftröhre nicht zerschnitt. Als äußere Erklärung für den erstaunlichen Vorgang, der ja einzig den folgenden Dialog ermöglicht, wurde geboten, daß die Spitze vielleicht schräg eingedrungen war. Die Verknüpfung jedoch des äußeren Vorgangs mit dem - vom Dichter im Folgevers genannten - 'inneren' Grund, dem e r z ä h l t e c h n i s c h e n Motiv, daß Hektor noch in der Lage sein sollte, den haßerfüllten, wirkungsvollen Dialog mit Achill zu bestreiten, stieß noch stärker auf Kritik und führte zur Athetese. Ihr wurde nur mit dem Verweis darauf begegnet, daß der Dichter des öfteren solche Formulierungen verwendete, in denen er zufalligen äußeren Vorgängen eine (innere, nur erzähltechnische) Finalität unterstellte:

316

IV. Kritische Exegese

Schol. [T] 22,328-9: ίσως έκκλίναντος αύτοΰ πλαγία γέγονεν ή τομή. εΐωϋε δέ τά έκ τύχης ώς έξ αιτίας λέγειν [eil. Od. 12,427f.; 9,154f.]. οίκονομικόν δέ και τοΰτο, ϊνα και αποθνήσκων μή άπροσφώνητος εΐη. έστι δέ πρόληψις ό τρόπος. Schol. [Α] 22,329: αθετείται, οτι γελοίος, εί ή μελΐα έπετήδευσεν μή άποτεμεΐν τον άσφάραγον, ίνα προσφωνήση τον 'Αχιλλέα, άπολογούμενοι δέ φασιν ότι το έκ τύχης συμβεβηκος αίτιατικώς έξενήνοχεν. δια το όμοιον άϋετεΐται κάκεΐνο· ,,εύΰ' ό δεδειπνήκει, ό δέ παύσατο θείος αοιδός" [Od. 17,359],

Homer verfolgte sichtlich das Ziel, den Kampf durch eine tödliche Verwundung eindeutig zu entscheiden u n d zugleich die Gegner im Anschluß noch ein Zwiegespräch fuhren zu lassen, das der Tod des Unterlegenen abschließen sollte; dabei blieb er aber nach Auffassung mancher seiner Kritiker eine plausible, wirklichkeitsnahe Motivation dieser Retardierung schuldig. In seiner s t r u k t u r e l l e n Nachgestaltung dieser homerischen Szene, in dem Schlußdialog zwischen Aeneas und Turnus, verfolgt Vergil eine andere Konzeption: im Gegensatz zu Homer kam es ihm darauf an, die letzte Entscheidung über das Leben des unterlegenen Rutulers selbst noch einmal zu verzögern, von Aeneas noch einmal durchdenken zu lassen. Die Offenheit dieser Situation unterscheidet demnach die vergilische von der homerischen Szene und kann daher zum Vergleich unter diesem Aspekt nicht herangezogen werden. Anders steht es mit einer weiteren Szene, die, ebenfalls als markanter Buchschluß, jene letzte der Aeneis deutlich vorbereitet847: dem Schlußdialog zwischen Aeneas und seinem anderen Hauptgegner Mezentius, der in den Kämpfen am Schluß des 10. Aeneisbuches an die Stelle des von Juno aus dem Kampf entfernten Turnus tritt848. Diese Szene steht auch sonst in enger werkimmanenter Entsprechung zum Schluß des 12. Buches und kann so als weitere Reminiszenz an die Ilias betrachtet werden (im Sinne einer 'doppelten' Verarbeitung einer homerischen Vorbildszene in der Aeneis, wie sie sich häufiger beobachten läßt849); vor allem aber bittet Mezentius hier ebenso wie der Hektor der Ilias den Gegner nicht um sein Leben (wie Turnus), sondern (nur) um die Gewährung der Bestattung nach seinem Tode (Aen. 10,904 < II. 22,338f. 342f.) - hier, und nur hier, ist dieses homerische Motiv von Vergil verarbeitet850. Dies erlaubt einen Vergleich der von Vergil 847 848 849 850

Siehe Harrison zu 908. Siehe Harrison Komm. S. XXX. Siehe Knauer 1964, 336. Dem Mezentiussohn Lausus hat Aeneas kurz zuvor von sich aus die Bestattung - mit seinen Waffen (anders als Turnus mit Pallas verfahrt: 10,492ff.)! - gewährt (10,827f.).

8. Kampfschilderungen

317

gewählten 'Ökonomie' dieser Szene mit derjenigen Homers: Aeneas trifft mit seinem Speer zunächst nur das P f e r d des Mezentius, das diesen abwirft (890ff.), so daß er mit gezücktem Schwert die Gewalt über den Gegner erhält (896f.)851; Mezentius ist auf diese Weise noch unversehrt und vermag Aeneas so auf seine höhnischen Worte (897f.) zu entgegnen (900ff), jedoch ohne daß die Kampfentscheidung noch offen, der Tod des Unterlegenen ungewiß wäre: Aeneas' sonstiges 'achilleisches', erbarmungsloses Verhalten (vgl. 53 Iff. 557ff. 591ff.) gegenüber seinen Gegnern unmittelbar zuvor nach dem Tod des Pallas aber auch der Untergang des Lausus von seiner Hand läßt keinen Gnadenakt erwarten, die Option der Milde gegenüber dem Gegner ist einzig für den Endkampf mit Turnus am Schluß des 12. Buches aufgespart; hinzukommt die zuvor nachdrücklich hervorgehobene Todesgewißheit des Mezentius (856. 861 ff. 881)852. Der Entgegnung des Etruskers läßt Vergil dann den Todesstreich des Trojaners folgen (907f.). Mit dieser Ökonomie ist der Kritik an der Konzeption der homerischen Vorbildszene Rechnung getragen; ferner ist dadurch, daß Mezentius noch unverletzt bleibt, der Ausgang des Gesprächs aber eigentlich unzweifelhaft ist, zugleich die Spannung der Schilderung deutlich gesteigert und der Szene ein wesentlich dramatischerer Abschluß verliehen, indem die Schlußreplik des Mezentius, des unterlegenen Gegners, den Zeitpunkt seines Todes bestimmt, nicht - wie bei Hektor - umgekehrt der schließlich zu einem fast beliebigen Zeitpunkt eintretende Tod seinen Worten ein Ende setzt853.

851

852 853

Man mag einwenden, daß in der homerischen Vorbildszene die Entscheidung im Fuß- und nicht im gemischten Fuß-/Reiterkampf erfolgt; doch zeigt die entsprechende Schilderung des 12. Aeneisbuches, was auch dem Iliasdichter möglich gewesen wäre: Aeneas verwundet Turnus (926ff.), aber nicht tödlich, und vermag so die Oberhand über den Gegner zu gewinnen, woran das Zwiegespräch anschließt. Vgl. auch Thome 1979, 149. 155. Das Problem ist auch in der eben genannten Sterbeszene des Orodes (10,739ff.) vermieden: der Zeitpunkt des Todes - nach der 'Todesprophezeiung' des Sterbenden - wird auch hier vom überlegenen Gegner bestimmt, denn Mezentius antwortet und hoc dicens eduxit corpore telum. / olli dura quies oculos et ferreus urget / somnus (744ff.). - L u c a η ist in seiner Schilderung des Todes des Pompeianers Domitius von der Hand Caesars (7,608ff.) dem 22. Iliasbuch gefolgt, wenn hier der Sterbende seinem Gegner wie Hektor dem Achill den eigenen Tod vor Augen stellt, läßt ihn jedoch wie Vergil in Umkehrung der homerischen Gesprächsfolge (vgl. Lebek 1976, 264) das letzte Wort behalten. Domitius ist jedoch anders als Mezentius schon tödlich verletzt, doch motiviert Lucan vielleicht in einer (gelehrten) 'Korrektur' Homers ausdrücklich den Umstand, daß er noch eine Entgegnung formulieren kann (ast illi suffecit pectora pulsans / spiritus in vocem morientiaque ora resolvit, 608f.).

318

IV. Kritische Exegese

d) Der erste Speerwurf (Aen. 12,258-267/460f.) Der Bruch des foedus zwischen Trojanern und Latinern, dessen Abschluß Vergil zu Beginn des 12. Buches schildert, ist, wie schon die antike Vergilkommentierung hervorhob854, deutlich der όρκνων σύγχυσις des 4. Iliasbuches nachgestaltet. Während hier Athene vom Olymp herabsteigt und selbst den Bogenschützen Pandaros zum Pfeilschuß auf Menelaos veranlaßt, geht auch in der Aeneis eine göttliche Intervention voran, und zwar Junos, die sich Juturnas bedient, um die Schlacht zwischen den Kriegsparteien wieder in Gang zu setzen. Der latinische Seher Tolumnius, durch ein Vogelzeichen Juturnas getäuscht (fefellit [sc. Juturna, sc. mentes Italas, 246), ruft als erster (primus, 258) zum Bruch des Waffenstillstandes auf und schleudert sogleich seinen Speer gegen die Feinde (266), womit das Signal zur allgemeinen Wiederaufnahme der Kämpfe gegeben ist. Tolumnius übernimmt hierbei in der Handlungsökonomie als Vorkämpfer der Latiner gewissermaßen die 'Hektorrolle' des Turnus, da das Eingreifen des Rutulerfuhrers von Vergil für den Schlußkampf 'aufgespart' wird855. Tolumnius war zwar in den Kämpfen bisher nicht irgendwie hervorgetreten, doch hatte Turnus, als er im 'concilium' bei König Latinus die Stärke der Rutuler und Latiner in Erinnerung brachte, neben Messapus gerade auf ihn verwiesen (11,429), womit sein markanter Auftritt im 12. Buch von Vergil vorbereitet wurde. Im Laufe des neu entbrannten Kampfes stirbt dann wenig später „selbst der Seher Tolumnius" (cadit ipse Tolumnius augur, 460): Vergil weist deutlich auf das Besondere, eigentlich Unerwartete dieses Vorganges hin. Im folgenden Vers dann findet sich die implizite Begründung oder - in der Sprache der Homerkommentierung - die 'Motivation' für den Tod des Sehers: Er hatte als erster {primus) den Speer gegen die Feinde geschleudert (461) (und so das foedus zwischen Latinern und Trojanern gebrochen, die Wiederaufnahme der Kämpfe verursacht). Der Tod des Tolumnius ist also ausdrücklich mit seiner Rolle bei dem Vertragsbruch in Verbindung gebracht. Servius sieht in dieser (implizit moralisierenden) Motivierung ganz offensichtlich eine Parallele zum Tod des Pandaros, des homerischen Pendants zur Gestalt des Sehers (zu 12,460): Homerice: ut primus violator

foederis

poenas luat. Blickt man jedoch auf den Tod des Bogenschützen in der Ilias, der erst an einem viel späteren Punkt der entsprechenden Kampfschilderung,

854 855

Siehe den Kommentar des Servius zu 12,176. 212. 266. Ahnlich verfahrt Homer nach Auffassung der Scholien im späteren Handlungsverlauf mit Hektar: Schol. [bT] 20,376: ταμιεύεται ό ποιητής τό πρόσωπον "Εκτορος εις τά τελευταία (vgl. Schol. [Ab] 20,443).

8. Kampfschilderangen

319

856

in der Diomedie des 5. Buches, erzählt wird , so fallt auf, daß hier weder der Erzähler selbst (etwa in einer Apostrophe oder einem kurzen Hinweis), der Pandaros zuvor immerhin als άφρων bezeichnet hatte857, als sich dieser von Athene-Laodokos zum Pfeilschuß 'überreden' ließ (4,104), noch auch der 'Rächer' Diomedes den Fall des Trojaners auch nur andeutungsweise mit seiner verhängnisvollen Rolle beim Vertragsbruch in Verbindung bringen858. Pandaros wird vielmehr primär als prahlender Angreifer (119f. 277ff. 284f.) an der Seite anderer Kämpfer beider Seiten getötet (290ff.) - und dies unter Mithilfe Athenes, die ihn zum Eidbruch veranlaßt hatte (!) - , sein Mitkämpfer Aineias entgeht demselben Schicksal nur durch die bekannte Intervention der ihn begünstigenden göttlichen Mutter (312ff.). Homer bringt den Untergang des Pandaros demnach primär mit seinem Verhalten in der k o n k r e t e n K a m p f s i t u a t i o n , nicht mit seiner Rolle beim Vertragsbruch in Zusammenhang und verzichtet auf eine (moralisierende) Motivation (wie sie in der entsprechenden Schilderung des 12. Aeneisbuches hinreichend klar hervortritt). Eben diese Motivation aber glaubten die antiken Interpreten in der homerischen Schilderung vom Vertragsbruch und Tod des Pandaros erkennen zu können: Der eingangs zitierte kritische Kommentar des Servius zum 'violator foederis' bei Homer findet zwar nicht in den Iliasscholien selbst eine Entsprechung859, wohl aber etwa bei Dion Chrysostomos: Dieser vertritt 856

857

858

859

Daß es sich in der erzählten Zeit gleichwohl noch um denselben Tag handelt, ist demgegenüber sekundär. In dieser auktorialen Qualifizierung des Pandaros sieht A. Schmitt (Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, Abh. Ak. d. Wiss. u. Lit. Mainz 1990, 5, hier 82-84) ein Indiz für den Gedanken menschlicher Prädisposition für göttliche 'Versuchung' schon bei Homer; damit wäre das Kriterium für die Beurteilung des Problems menschlicher Schuld gegeben, das in diesem wie in ähnlichen Fällen der homerischen Schilderung aufscheint. Vgl. auch die antike Bewertung des Verhältnisses Eigenverantwortung-göttliche Intervention in der Szene des 4. Buchs (unten Anm. 359). Eine Strafe für den/die hypothetischen Eidbrecher wird zwar beim Vertragsschluß von den Griechen formelhaft in ihrem Gebet an Zeus beschworen (3,298ff.), der Tod des Pandaros so demnach allenfalls i n d i r e k t vorbereitet, doch meidet der Dichter eben den eindeutigen Rückverweis an späterer Stelle, wie er bei Vergil gegeben ist. Wie dies sonst insbesondere dort häufig der Fall ist, wo Homerisches in der Aeneis kommentiert wird (siehe S. 14). Gleichwohl könnte die Notiz des Servius, der sonst mit Hinweisen auf homerische Vorbilder durchaus sparsam verfährt, auf einem ihm noch vorliegenden Homerinterpretament solchen Inhalts beruhen, das keine Aufnahme in die Scholienkompilation gefunden hat. Vgl. immerhin die Beurteilung der Schuldfrage im bTScholion zu II. 4,66, auf die unten noch zurückzukommen sein wird: ούκ άναγκάζουσιν έπιορκεΐν Πάνδαρον [sc. die Götter, konkret Athene], άλλα πειρώνται εις πλείω τε άρματίαν προκαλούνται Τρώας, όπως άξίαν τΰσωσι δίκην· ήδη γαρ παρέβη 'Αλέξανδρος.

320

IV. Kritische Exegese

die Auffassung, Homer habe in der Todesart des Pandaros, dessen Z u n g e vom Speer des Diomedes abgetrennt wird (5,290ff.), die angemessene Strafe für seinen Eidbruch geschildert (55,15f.), eine Deutung, die vielleicht auf Demetrios von Skepsis (frg. 74 Gaede = Athen. 6,236d) zurückgeht, aber angeblich von Aristoteles (fr. 148 Rose) widerlegt wurde860. Für Plutarch (mor. 19d) ist der 'Kurzkommentar' des Dichters zu der Überredung des Pandaros durch Athene-Laodokos (τω δέ φρένας άφρονι πεΐϋεν: 4,104) ein Beispiel fur Homers zuweilen s u b j e k t i v e n E r z ä h l s t i l . Die antiken Homerexegeten gründeten diese These, der Dichter 'motiviere' den Tod eines prominenten Kämpfers durch den impliziten Hinweis auf seine Verfehlung - mit entsprechender moralisierender Tendenz - jedoch nicht nur auf den Tod des Pandaros. So findet sich in den Scholien zu einer anderen markanten und in mancher Beziehung vergleichbaren Stelle der Ilias ein ähnlicher Hinweis auf diese 'Technik' Homers: Im 14. Iliasbuch nimmt Homer erst nach einer längeren Episode die Erzählung des Kampfgeschehens zwischen Griechen und Trojanern wieder auf. Poseidons Eingreifen und Zuspruch für die ersten Schlachtreihen der Achäer (364ff.) markiert einen Neueinsatz der Kampfhandlung, wie er ähnlich im 4. Buch mit dem Bruch der ορκια gegeben war. In ihrem Verlauf wird Hektor - erstmals in der Eposhandlung - verwundet: durch einen Steinwurf des Aias (412), der solche Wucht besitzt, daß Hektor dem Tode nahezukommen scheint - „until 432, we are unsure whether he still lives, so grave is the blow he suffers" (Janko zu 402-439). Obwohl er wieder Atem schöpft, ist er dem Kampf entzogen, bis ihm viel später göttliches Eingreifen (Apollons) wieder Kraft verleiht, was Homer erst im folgenden Buch schildert (15,244ff.). Da diese fast tödliche Verwundung Hektors zu Beginn der neu einsetzenden Kampfhandlung erfolgt und mit so nachhaltiger Wirkung verbunden ist, kommt ihr einige Auffälligkeit und Bedeutung fur die Gesamthandlung über den unmittelbaren Kontext hinaus zu. Eben dies aber suchte der Dichter nun nach Auffassung der antiken Kommentatoren besonders zu begründen, und man erblickte diese Motivation darin, daß Homer den Trojanerfuhrer aufgrund seiner Ü b e r h e b l i c h k e i t mit dem Kampf b e g i n n e n ließ; auf diese Weise wurde das schwere Mißgeschick, das Hektor erleidet, nach Auffassung der Interpreten überzeugend erklärt, ja geradezu gerechtfertigt: Schol. [T] 14,402: Αΐαντος δέ πρώτος ] (...) άρχει (sc. Hektor) δέ της συμβολής έπαιρόμενος.

860

Vgl. RE XVIII 3, 504-507, hier 504f. s.v. Pandaros [Van der Kolfj.

8. Kampfschilderungen

321

Schol. [bT] 14,402: πρώτος ακόντισε] άμα μεν ώς προπετής, αμα δε και τό άξιόπιστον τω λόγω πρόσκειται, ϊνα πιθανόν γένηται τούτον άρξάμενον της συμβολής κακόν τι και παΟεΐν. Tatsächlich erwähnt Homer diesen Umstand zu Beginn des Kampfes zwischen den beiden Helden (Αϊαντος δέ π ρ ώ τ ο ς ακόντισε φαίδιμος "Εκτωρ, 40), ohne ihn jedoch wirklich zu betonen861. Vergil stellte sich mit seiner von Homer abweichenden Erzählung vom Tod des Vertragsbrechers also in eine Tradition der antiken Homerdeutung: Die Motivation für den Untergang des Helden, die bei Homer im Fall des Pandaros weitgehend fehlte, bei Hektor im 14. Iliasbuch allenfalls angedeutet war, aber von der Homerexegese wie im Fall des Pandaros stark hervorgehoben wurde, erscheint beim Aeneisdichter sehr deutlich und an einer (gegenüber dem 14. Iliasbuch) wirkungsvolleren Stelle, in der Todesschilderung selbst und mit dem ausdrücklichen Rückverweis auf das zurückliegende Geschehen. Wie nach Auffassung der antiken Interpreten (indirekt) der Iliasdichter, so begründet hier der Erzähler der Aeneis in direkter (implizit moralisierender) Form den Tod des Kämpfers862. Damit hat Vergil nicht nur ein erzähltechnisches Moment - eben das in der Motivierung von Tolumnius' Tod liegende Heraustreten des Dichters aus einer zumindest vordergründigen Objektivität' - , sondern auch ein Werturteil der antiken Exegeten zu 'Schuld und Sühne' in der homerischen Darstellung des Vertragsbruchs aufgegriffen. Der Kommentierung des Sehertodes beim Aeneisdichter entspricht die Schilderung des Bündnisbruchs, in der die 'Schuldfirage' durchaus eindeutig ist: Der Pfeilschuß des Tolumnius, der für diesen Akt die Zustimmung der Rutuler hat, wird zwar von Camers-Juturna in doppelter Weise, durch den Appell an seinen pudor wie 861

862

Πρώτος bezieht sich in erster Linie auf den Beginn der Kämpfe überhaupt, nachdem in den fast 30 Versen unmittelbar zuvor die Aufstellung der Schlachtreihen beschrieben ist (383-401), erst in zweiter Linie auf die Gegner im Einzelkampf selbst. In II. 13,502 markiert das Kolon πρώτος άκόντισεν (so Janko richtig zu 402-8) nur den Beginn eines Zweikampfs, nicht aber in 16,284, wo es vielmehr wie an dieser Stelle verwendet wird (Patroklos nimmt den Kampf auf und trifft, indem er den Speer einfach in die Mitte der Feinde schleudert). Seitz (1965, 219) bemerkt zu Recht, daß in der Erzählung des Vertragsbruchs durch den Speerwurf des Tolumnius gegenüber dem homerischen Modell „die συμπάθεια des Dichters zum Ausdruck kommt", sich jedoch nicht „offen durch persönliches Hervortreten zeigt". Seine Bemerkung jedoch, „die Distanz, die der homerische Erzähler zum Geschehen wahrt", verringere sich bei Vergil, werde jedoch nicht aufgehoben, und vor allem seine These, Vergil gebe „nirgends in der Erzählung ein moralisches Urteil zu erkennen" (220), läßt sich wohl im Hinblick auf die nachgetragene Motivation in 12,460 nicht halten. Insofern ist die (gleich unten zitierte) moralisierende Kommentierung des ersten Speerwurfs bei Lucan zumindest im Ansatz bei Vergil vorgebildet.

IV. Kritische Exegese

322

durch das objektiv 'trügerische' Vogelzeichen, provoziert, stellt jedoch zweifellos auch eigene schuldhafte Verfehlung dar, wenn es zuvor geheißen hatte at vero Rutulis impar ea pugna videri / iamdudum

(216ff.) und Juturna

erst eingreift, als sie die unwilligen Gespräche der Kämpfer crebrescere vidit /...

et vulgi

variare

l ab anti

a

c or da

(222f.). Auch Messa-

pus, der ebenso für das Wiederaufleben der Kämpfe sorgt, erscheint völlig eigenverantwortlich (12,290 avidus confundere foedus). Eben diesen Aspekt bringt Vergil später beim Tod des Tolumnius noch einmal in Erinnerung. Ganz ähnlich bewertet ein Scholion ([bT] 4,66) zu der entsprechenden Szene des 4. Iliasbuches, wo Athene-Laodokos den άφρων Pandaros 'überredet', die 'Schuldfrage': ούχ άναγκάζουσιν έπιορκεΐν Πάνδαρον [sc. die Götter, konkret Athene], άλλα πειρώνται εις πλείω τε άρματίαν προκαλούνται Τρώας, όπως άξίαν τίσωσι δίκην· ήδη γαρ παρέβη 'Αλέξανδρος. Vergil wollte das Verhalten des Tolumnius demnach ganz so bewertet wissen, wie die Homerexegese dies im Falle des homerischen Pandaros tat. Hat er sich in der Aeneis auch direkt zur 'Schuldfrage' des Vorbildes aus der Ilias geäußert? Tatsächlich erinnert Vergil ausdrücklich an den trojanischen Vertragsbrecher und seine Rolle, in einer Apostrophe, die er an den (verstorbenen, als 'genius' fortwirkenden) Pandaros richtet, als dessen Bruder, Teilnehmer der Wettspiele im 5. Aeneisbuch, ihn in einem Gebet um Unterstützung bittet. Hierbei ergibt sich ein bemerkenswerter Befund: Vergil scheint gegenüber dem Vertragsbruch des Tolumnius gleichsam ein anderes Maß anzulegen, wenn er an dieser Stelle den Pandaros der Ilias, den er clarissimus (495) nennt (!), von Schuld freispricht; denn die dem Einwirken Juturnas entsprechende 'Überredung' der homerischen Athene (πεΐϋεν: II. 4,104) nennt er hier einen ' B e f e h l ' . Die sprachliche Beziehung zur Schilderung des Bündnisbruchs (durch Tolumnius, sekundär auch durch Messapus) und zum Kurzepilog im 12. Aeneisbuch ist sehr deutlich und scheint auf einen Kontrast in der Bewertung beider Ereignisse zu zielen: Aen. 5,495

Aen. 12,289f. Aen. 12,460

tertius Eurytion, tuus, ο ciarissime, frater, Pandare, qui quondam i u s s u s confundere foedus im medios telum torsisti primus Achivos (, sc. consequitur), vgl. Messapus.../...

avidus

confundere foedus·.

cadit ipse Tolumnius augur, primus in adversos telum qui torser at hostis.

Wertet man dieses 'Urteil' des Aeneisdichters über den homerischen Pandaros als Stellungnahme des Dichters zu dessen Bewertung in der moralisierenden Iliasrezeption, so ergibt sich ein interessanter Kontrasteffekt,

8. Kampfschilderungen

323

'korrigiert' Vergil in dieser Wiedergabe der homerischen Szene ein durchaus gängiges Deutungsmuster seiner Zeit. Vielleicht geht die Deutung nicht zu weit, daß der Aeneisdichter in der Apostrophe des 5. Buches gleichsam eine 'Ehrenrettung' des Trojaners Pandaros, wie er in der (von Griechen betriebenen!) ethischen Iliasexegese dastand, bezweckt hat, und vor allem: daß er hierdurch den U n t e r s c h i e d zwischen dem Eidbruch der Trojaner in der Ilias und demjenigen der Rutuler in der Aeneis betonen wollte. Vergil hat, dies bliebe hier unabhängig von der Bewertung der 'Schuldfrage' festzuhalten, in jedem Fall in dem Kurzepilog auf Tolumnius ein darstellerisches Prinzip übernommen, das die antike Exegese an der Vorbildstelle der Ilias bei Homer als (latent) 'subjektive Erzähltechnik' exemplifiziert fand. Nicht nur der Kommentar des Servius läßt die Aufmerksamkeit erkennen, die die Vergilexegese dieser ethischen Motivierung zuwandte, nachdem sie schon die Homerkritik herausgestellt hatte; deutlich wird dies auch bei den epischen Nachfolgern Vergils, die das Motiv übernommen bzw. noch gesteigert haben: S i 1 i u s läßt den karthagischen Seher Bogus, der die erste Schlacht zwischen Hannibal und Rom auf italischem Boden (am Ticinus) mit seinem Speerwurf begonnen hat (4,134f. tum dictis comitem contorquet primus in hostes, / ceu suadente deo et fatorum conscius, hastam), in einer späteren Schlacht als ersten Kämpfer fallen und begründet dies mit jenem verhängnisvollen ersten Lanzenwurf (5,40Iff. ante omnes iaculo tacitas fallente per auras / occumbit Bogus, infaustum qui primus ad amnem / Ticini rapidam in Rutulos contorserat hastam): das vergilische Vorbild (12,460f. cadit ipse Tolumnius augur / primus in adversos telum qui torserat hostis) ist unverkennbar, das moralisierende Motiv des gerechten Ausgleichs jedoch gesteigert. L u c a η kommentiert sogar den verhängnisvollen ersten Lanzenwurf des Crastinus, der die Schlacht zwischen Caesar und Pompeius in Thessalien beginnen läßt, unmittelbar und in einer Apostrophe, in der er von den Göttern hierfür eine Strafe erbittet, die in mehr als nur dem Schlachttod besteht (7,470ff. di tibi non mortem, quae cunctis poena paratur, / sed sensum post fata tuae dent, Crastine, morti, / cuius torta manu commisit lancea bellum / primaque Thessaliam Romano sanguine tinxit); damit ist das vergilische Vorbild, in dem ein Interpretament der ethischen Homerkommentierung aufgegriffen worden sein dürfte, noch einmal wirkungsvoll gesteigert. In seiner Imitation des homerischen Pfeilschußmotivs dürfte Vergil noch in einem weiteren Punkt recht deutlich der antiken Homerkommentierung gefolgt sein. Der Pfeilschuß des Pandaros ist in den Schlußkämpfen gleichsam zweimal verarbeitet: als Speerwurf des Tolumnius, der, wie oben gezeigt, wie der Pfeilschuß des Pandaros den Bruch des foedus markiert und die Kämpfe neu einsetzen läßt, und als Pfeilschuß eines Unbekannten

324

IV. Kritische Exegese

(318ff.), durch den Aeneas wie der Menelaos der Ilias, beide Hauptkämpfer der Gegenseite, verletzt wird863. Was den Pfeilschuß des Pandaros anbelangt, so fragten die Interpreten, warum der Trojaner [wenn er doch den Bruch des Bündnisses bezweckt] Menelaos, der durch seine Rüstung geschützt wird, und nicht etwa den unbewaffheten Agamemnon oder einen anderen Griechenführer [die er so mit größerem Schaden treffen könnte] zum Ziel wählt: Schol. [bT] 4,100: πώς μή μάλλον 'Αγαμέμνονα τοξεύει μή καθωπλισμένον ή τινα των άριστων, άλλά τον έντεϋωρακισμένον; In der Aeneis schießt Tolumnius ohne bestimmtes Ziel in die Menge der Gegner, trifft forte (270) einen von neun Brüdern, der (ebenso wie Menelaos) bewaffnet ist, aber tödlich (276) - das Geschoß wird nicht wie in der Ilias von einer Gottheit abgelenkt - , worauf sogleich der zornerfüllte Gegenangriff der Brüder erfolgt (279): Die Scholienkritik ist demnach insoweit berücksichtigt, als der Speerwurf trotz Rüstung des Gegners ausdrücklich volle Wirkung erhält und in der Gegenaktion der Brüder (worin wohl eine Reminiszenz an den Zorn und die Sorge Agamemnons über die Verwundung des Menelaos liegt, vgl. II. 4,155ff.)864 das Ende des foedus und die Wiederaufnahme des Kampfes viel unmittelbarer als bei Homer motiviert865. Es bedarf zu ihrer Eskalation angesichts der animosa phalanx accensaque luctu (277) der Brüder auch nicht der Verwundung eines prominenten Kämpfers (vgl. die von den Scholien neben Agamemnon vorgeschlagenen άριστεΐς). An der zweiten Stelle, wo Vergil das Pfeilschußmotiv der Ilias aufgreift, wählt er dann offenbar ganz gezielt die in den Scholien erwogene Möglichkeit, daß Homer mit größerem Effekt auch einen u n b e w a f f n e t e n Kämpfer hätte treffen lassen können - Aeneas, der dextram tendebat inermem / η u da to capite (311 f.), wird vom Pfeil getroffen (319ff.) jetzt allerdings nicht mehr, um die Wiederaufnahme der Kämpfe zu motivieren, sondern sehr pointiert die Aristie des Aeneas zu steigern, der nicht nur bis zuletzt um Wahrung des foedus und Eindämmung der Kampfbegierde bemüht ist (313ff), sondern, als die Kämpfe nicht mehr aufzuhalten sind, auch verwundet seinen Leuten beisteht866. Insbesondere diese letzte Imitation des homerischen Pfeilschußmotivs zeigt, wie Vergil aus der antiken Diskussion dieser für die Handlungsökonomie des 4. Iliasbuches so zentralen Stelle ein eigenes Motiv entwickelt und von ihr 863 864 865

866

Siehe hierzu S. 155ff. Zur Adaptation dieses Motivs siehe ferner S. 155ff. Auf den Zusammenhang zwischen dieser Motivation bei Vergil und der Scholienkritik hat bereits Schlunk hingewiesen (1974, 88f.). Siehe S. 155ff.

8. Kampfschilderangen

325

ausgehend die Charakterisierung des Aeneas in dieser entscheidenden Situation verfeinert hat.

e) Der Kampf um die Mauer (Aen. 9,556-562) Der Kampf zwischen Latinern und Aeneaden um die Mauer des trojanischen Lagers im 9. Aeneisbuch ist in wesentlichen Details deutlich der entsprechenden Szene im 12. Buch der Ilias - dem Ringen um das Griechenlager - nachgebildet. Die Mauerkämpfe beider Dichtungen werden durch die zentralen Gestalten Hektors bzw. des Turnus867 zusammengehalten, die den Hauptanteil an den Erfolgen haben; der Rutuler übernimmt in seiner Aristie jedoch - als einziger prominenter Kämpfer auf Seiten der Latiner und Rutuler - zusätzlich die Rolle des Sarpedon, der im Mauerkampf der Ilias neben Hektor ebenfalls hervortritt. Die Bedrängnis der Trojaner erklärt sich in der Aeneis aus der Abwesenheit des Aeneas, wie die Not der Griechen in der Ilias durch das Fehlen Achills verursacht wird. In der Kampfschilderung Homers erzielt der Angreifer Sarpedon einen ersten Durchbruch durch die Ummauerung des Lagers, nachdem er den Griechen Alkmaon mit dem Speer getötet hat: Er reißt mit den Händen die gesamte Brustwehr ein und entblößt so den Hauptteil der Mauer, womit er sich und seinen Mitstreitern 'einen Weg zu bahnen' vermag (sc. unmittelbar an die Mauer heran bzw. auf sie) (12,397ff.); den endgültigen Durchbruch durch die Mauer erzielt dann jedoch erst Hektor, indem er mit einem Felsbrocken das Lagertor sprengt (457ff): II. 12,397

Σαρπεδών δ' αρ' έπαλξιν έλών χερσι στιβαρησιν έλχ', ή δ' έσπετο πάσα διαμπερές, αύτάρ ύπερθε τείχος έγυμνώΟη, πολέεσσι δέ θήκε κέλευϋον.

Die Scholien zu dieser Stelle zeigen, daß sich die antiken Interpreten über den genauen Ablauf dieses Geschehens, das innerhalb der Mauerkampfschilderung einen Höhepunkt darstellt, im unklaren waren; so Schloß ein Kommentator aus der tödlichen Verwundung Alkmaons durch Sarpedon, der Trojaner müsse die Mauer bereits erklommen haben - Homer stelle dies wohl deshalb nicht ausdrücklich fest, da er zuvor (in 258) bereits geschildert

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Beide brechen schließlich in das Lagertor ein (Aen. 9,717ff. - II. 12,436ff.); zu weiteren Detailentsprechungen siehe Knauers Listen; zu den Beziehungen zwischen dem Mauerkampf der Ilias und der Aeneis allgemein Knauer 1964, 275 und Hardie Komm. S. 6ff., bes. 10.

326

IV. Kritische Exegese

habe, wie die Angreifer κρόσσας μεν πύργων έρυον868 - eine notwendige Voraussetzung für Sarpedons Vordringen: Schol. [bT] 12,395: δήλον ότι πλησίον ών και τρώσαι έκ χειρός δυνάμενος ώς αν ήδη έπιβεβηκώς τω τείχει. [Τ] εί δε μη κατά τό ρητδν λέγει, πώς προσήεσαν, ού θαύμα- είπε γαρ ήδη „κρόσσας μεν πύργων έρυον" [12,258], άλλως γαρ άναβαΰνειν αδύνατον.

Dies ist zunächst freilich eine Ergänzung des - knappen - homerischen Textes. Das bT-Scholion zum folgenden Verspaar (397-8) dagegen überliefert neben der These, daß die Mauerbrüstung „morsch" sein müsse (da Sarpedon sie mit einer Hand einreißen kann), eine andere Erklärung, nach der Sarpedon sie „von unten" (κάτωθεν), d.h. vom Boden aus niederreiße; dies sei möglich, da die Mauer niedrig sei (nicht im Text). Eustathios (911,17-20) versucht in Kenntnis dieser Interpretation, den offenkundigen Widerspruch zu der Darstellung Homers an früherer Stelle, der Turm (πύργος) bzw. die Mauer (τείχος) sei „hoch" (386. 388), durch eine nicht überprüfbare Erklärung aufzulösen. Der kurze Überblick über diese άπορίαι και λύσεις der antiken Kommentare zeigt die hier herrschende Konfusion; deutlich ist das Bemühen der Interpreten, dem bei Homer geschilderten bedeutsamen, für die Handlungsentwicklung zentralen Vorgang durch ihre Erklärungsversuche Realitätsnähe, Plausibilität und Deutlichkeit zu verleihen. Vergil hat dieses auffallige Detail aus dem homerischen Mauerkampf in einer höchst charakteristischen Veränderung - übernommen, ebenso wie er die gewaltsame Öffnung des Lagertores durch Hektors Steinwurf in seiner freiwilligen Öffnung durch die Verteidiger Pandarus und Bitias (mit unglücklichem Ausgang) kontrastierend imitiert (672ff): Der Trojaner Lycus eilt, nachdem er mit dem von den Gegnern in Brand gesetzten (536) Turm außerhalb des Lagers in die Tiefe gestürzt ist (542ff.), in rascher Flucht außen an der Mauer seines Lagers entlang (inter et hostis / inter et arma fuga muros tenet, 556f.) und bemüht sich, den oberen Mauerrand (alta ... / tecta, 556f.)869 zu erreichen, um sich von den Gefährten emporziehen zu lassen, bis er vom noch schnelleren Turnus eingeholt und, da er sich an der Mauer festzuhalten versucht, zusammen mit einem gewaltigen Stück des Gemäuers870

868

869 870

Offenbar verstand der Interpret die κρόσσαι wie LSJ 998 s.v. („stepped copings of parapets") als „Mauerkrone"; die genaue Bedeutung ist nicht abschließend geklärt: siehe Hainsworth zu 258-60; LfgrE s.v. (W. Beck). Siehe Dingel zu 557f. Daß Turnus mitsamt Lycus den o b e r e n Teil der Mauer einreißt - wie Sarpedon die Mauerbrüstung - geht klar daraus hervor, daß die Angreifer sie nicht sogleich zu überwin-

8. Kampfschilderungen

327

herabgerissen wird: simul arripit (sc. Turnus) ipsum /pendentem et magna muri cum parte revellit (561 f.). Damit ist - wie bei Homer, wo Sarpedon den Seinen 'den Weg bahnt' - der Weg an die Mauer heran für die Angreifer prinzipiell frei (567 invadunt, vgl. II. 12,399), die sie freilich ebensowenig wie die Griechen ganz einzureißen, vielmehr erst nach ihrer freiwilligen Öffnung durch Pandarus und Bitias zu durchdringen vermögen. In seiner unverkennbaren Wiedergabe der homerischen Szene kombiniert Vergil demnach die Tötung des Alkmaon und das Einreißen der Mauerkrone durch Sarpedon in einer Handlung; vor allem aber werden in seiner Adaptation die von den Kommentatoren bemerkten Unklarheiten in auffalliger Weise beseitigt: Turnus, der Angreifer, hat das Gemäuer noch nicht erstiegen, sein Opfer befindet sich aber ebenfalls nicht auf der Brüstung (wie - vielleicht Alkmaon). Die Mauer ist ganz offensichtlich hoch (auch wenn alta [sc. moenia] prädikativ aufzufassen ist), wenn dem schnellen Lycus doch die Flucht nicht rechtzeitig gelingt, da er die Hände seiner Gefährten nicht erreicht. Turnus gelingt es schließlich auch nur „mittels" des Lycus, die Mauer einzureißen; ihr Einsturz „shows Turnus' strength and Lycus' convulsive energy" (Con.-Nettleship zu 562) - eine überaus wirksame Steigerung des homerischen Vorbildes, die zudem über die Ursache für die mangelnde Widerstandskraft des Gemäuers, anders als dies die Interpreten beim Iliasdichter sahen, keinen Zweifel läßt. Die Gegenüberstellung dürfte gezeigt haben, wie Vergil über die Vermeidung der von den antiken Homerinterpreten kritisierten oder zumindest aufgedeckten Unklarheiten und Widersprüche in der Schilderung seines Vorbildes zu einer eigenständigen, effektvoll gesteigerten Umformung gefunden und insbesondere - über die Kombination der beiden homerischen Einzelhandlungen - ein Moment größter Spannung und Überraschung geschaffen hat. Erst der Vergleich mit der homerischen Vorbildszene unter zusätzlicher Heranziehung ihrer antiken Deutung läßt diese Momente der vergilischen Darstellungskunst in voller Deutlichkeit hervortreten; imitatio und aemulatio sind hier eng verknüpft.

den vermögen, vielmehr Turnus (als einziger) erst nach der Öffnung des Tores in das Lager gelangt.

328

IV. Kritische Exegese

9. Zorn und Zähneknirschen Im 19. Buch der Ilias schildert Homer die Wappnung Achills fur seinen lange erwarteten Wiedereintritt in den Kampf (364ff.). Diese Rüstungsszene ist innerhalb der Ilias einzigartig, da der Dichter das eigentliche Anlegen der Waffen mit einer eingehenden Beschreibung von Achills Zorn einleitet, den er in dieser Situation empfindet und als dessen Symptome Zähneknirschen (365a) und feuergleiches Leuchten der Augen (365bf.) genannt werden. Aus dem Scholion zu dieser Einleitung der berühmten Szene geht hervor, daß Aristarch die Verse 365-368 (vorübergehend)871 tilgte - mit der Begründung, das Zähneknirschen Achills sei „lächerlich" (γελοΐον, vielleicht: „grotesk") und - ebenso wie die folgenden drei Verse - überflüssig: Schol. [A] 19,365-8: αθετούνται στίχοι τέσσαρες· γελοΐον γαρ τό βρυχάσδαι τον 'Αχιλλέα· ή τε συνέπεια ουδέν ζητεί διαγραφέντων αύτών. ό δε Σιδώνιος ήϋετηκέναι μεν τό πρώτον φησιν αυτούς τον Άρίσταρχον, ύστερον δέ περιελεΐν τους όβελούς, ποιητικόν νομίσαντα τό τοιούτο. Aus der Notiz kann erschlossen werden, daß Aristarch offenbar das in Vers 365 geschilderte Zähneknirschen als das entscheidende Skandalon empfand und der untrennbare syntaktische Zusammenhang dieses Verses mit den drei übrigen Versen die Athetese des gesamten Passus zur Folge hatte, wobeik die Einzigartigkeit dieser Beschreibung des emotionalen Zustandes, in dem sich der Kämpfer hier befindet, im Rahmen einer Rüstungsszene als zusätzliches Unechtheitsindiz aufgefaßt worden sein könnte. Die Begründung für den gegen Vers 365 gerichteten Unechtheitsverdacht, dieser sei „lächerlich", ist jedoch keineswegs klar: Diese Qualifizierung eines Verses findet sich zwar häufig insbesondere in den kritischen Α-Scholien, wird hier aber im folgenden zumeist wenigstens kurz erläutert und begründet, da sie nicht den Rang eines grammatischen Terminus besitzt; in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle steht hinter dieser Bewertung eine Kritik an mangelndem Realitätsbezug, an Widersprüchlichkeiten, überhaupt an Verstößen gegen das ästhetische Kriterium des πιθανόν bzw. des πρέπον 872 .

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872

Erbse (Über Aristarchs Iliasausgabe, Hermes 87, 1959, 275-303, hier 296) erschließt aus der Angabe des Scholions überzeugend, Aristarch habe in seiner Homerrezension die Verse getilgt und diese Athetese später zurückgezogen, jedoch nicht in einer (aus der Formulierung des Scholiasten zu erschließenden) zweiten Ausgabe, sondern etwa in einer mündlichen Mitteilung im Lehrbetrieb. Vgl. bes. Schol. [A] 5,838-9 (s. S. 266); [A] 6,311 (siehe S. 344 Anm. 919); [A] 8,189; [bT] 12,175-81; [A] 13,423; [A] 14,376; [A] 14,347; [bT] 15,714; Schol. [A] 16,666; [A]

9. Zorn und Zähneknirschen

329

Die moderne Homerkommentierung vertritt wohl zu Recht die Auffassung, daß Aristarchs Kritik einer unangemessenen Übersteigerung von Achills Zorn galt873; dies scheint aus seiner späteren Konzession hervorzugehen sofern diese authentisch überliefert ist - , die Verse seien eine 'poetischen Lizenz'. Der Maßstab von Aristarchs Kritik am Übertriebenen von Achills Zorn ist weniger in der Forderung von 'Realitätstreue' (i.S. des πιϋανόν) eigentlich 'unrealistisch' ist gerade das in Vers 365 geschilderte, am stärksten kritisierte Detail nicht - als in dem ästhetischen Kriterium des πρέπον (i.S. des 'decorum') zu suchen: Auf dieser Grundlage vermochte der Kritiker seinem Dichter in der Schilderung des emotionalen Zustandes, in dem sich der Hauptheld der Griechen vor seinem Eintritt in den Kampf befindet, eine derart 'veristische', übersteigerte Ausgestaltung seiner Symptome nicht ohne weiteres zuzugestehen; das Zähneknirschen erschien weder bei Achill noch einem anderen Griechen, wohl nicht einmal bei den 'barbarischen' Trojanern angemessen, vielmehr 'ungehörig', wenn in der alexandrinischen Homerkritik die Maßstäbe der eigenen Gegenwart prinzipiell auch dem Handeln der epischen Figuren als Spiegel dieser Kultur angelegt wurden. In der Aeneis ist die Szene des 19. Iliasbuches in der Rüstungsszene des Turnus im 12. Buch nachgestaltet, wie deutlich aus der - auf die eigentliche Wappnung - folgenden874 Beschreibung des Zornes des Rutulers hervorgeht, der hierin dem Achill der Ilias entspricht875. Hierbei ist das expressive 'feuergleiche' Lodern der Augen des Helden aus dem von Aristarch athetierten Passus deutlich übernommen (lOlf. his agiturfuriis, totoque ardentis ab ore / scintillae absistunt, oculis micat acribus ignis); umso auffallender ist, wie

schon Heinze (1914, 229 Anm. 1) gesehen hat, die Auslassung des eigentlich inkriminierten Zähneknirschens: Vergil erkannte offensichtlich zumindest für die Wappnung Achills eine gewisse Berechtigung der Kritik Aristarchs. Dennoch hat er auf die Imitation des umstrittenen Details der berühmten Rüstungsszene nicht verzichtet, sondern es an drei Stellen der Aeneis in der Junktur dentibus infrendens aufgegriffen, die nun näher zu betrachten sind: In der Kyklopie des 3. Aeneisbuches, im Rahmen der Achaemenides-Episode, läßt der Dichter Polyphem, nachdem ihm Odysseus und seine Gefährten das eine Auge ausgestochen haben, die blutende Augenhöhle am Meeresufer auswaschen; hier dienen Ächzen und Zähneknirschen (dentibus in-

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18,39-49; [A] 21,538-9; [A] 22,329 (siehe S. 316); [AT] 23,94; [T] 23,843; [A] 24,25-30; [A] 24,614-7; siehe auch S. 260. Vgl. Leaf zu 365-8. Die homerische Reihenfolge Zornschilderung - Wappnung ist also umgekehrt, möglicherweise in Anlehnung an das T-Scholion zu II. 19,366 (s. Schlunk 1974, 84). Siehe S. 192ff.

330

IV. Kritische Exegese

frendens gemitu, 664) offenkundig zur Ausgestaltung des Schmerzes und des Zornes, dem der Kyklop dann, nachdem er die Flucht der Griechen bemerkt hat, in gewaltiger, übermenschlicher Form freien Lauf läßt (670. 672ff. verum ubi nulla datur dextra adfectare potestas / (...) / clamorem immensum tollit, quo pontus et omnes / intremuere undae, penitusque exterrita tellus / Italiae curvisque immugiit Aetna cavernis). In der Cacus-

episode des 8. Aeneisbuches wird durch diese Adaptation des homerischen Verses die Schilderung des Zornes gesteigert, mit dem Hercules gegen seinen Gegner Cacus antritt: 8,228

ecce jurens animis aderat Tirynthius omnemque accessum lustrans hue ora ferebat et illuc dentibus infrendens. ter totum fervidus ira lustrat Aventini montem (...)

Ein drittes Mal begegnet die Junktur im weiteren Rahmen des Ebergleichnisses im 10. Buch (707ff.): Mezentius hält den Speerwürfen seiner Angreifer, die voller Furcht den Nahkampf mit dem Schwert scheuen, ebenso stand wie das wilde Tier den Speeren der Jäger, die sich nicht näher heranwagen. Die überlieferte Versfolge, derzufolge das in 718 geschilderte 'Zähneknirschen' als Teil der Schilderung des gewaltigen - seinen Angreifern eben fehlenden (vgl. 714) - Zornes erscheint, der Mezentius bei der Abwehr des Angriffs von allen Seiten auszeichnet, ist zwar schon von Scaliger angezweifelt worden; doch gegen die von ihm vorgeschlagene Umstellung (717f. 714-716), mit der auch das 'Zähneknirschen' in den Bildteil gelangt, sind überzeugende Einwände formuliert worden876. Gegen die von Harrison877 (zu 718) als Argument fur die Umstellung herangezogene Imitation der Verse bei Lucan (6,205-207), wo Aen. 11,718b (et tergo decutit hastas) im Bildteil eines Elefantengleichnisses eine Entsprechung findet (et haerentes mota cute discutit hastas, 207), kann mit gleichem Recht Statius

angeführt werden, der den zornerfüllten Tydeus in seinem Streit mit Eteocles mit dem E b e r vergleicht, der sich gegen eine Übermacht der Feinde langsam zurückzieht; hier erscheint aber das 'Zähneknirschen' (infrendens

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877

Vgl. J.W. Jones, Vergilius 23, 1972, 50-54; Thome 1979, 349f. und zuletzt O'Hara (1991). Harrison verweist fur das 'Zähneknirschen' eines Ebers bei Homer auf II. 11,416-418; 13,474f., ohne auch II. 19,365 als mögliches Argument gegen eine Umstellung zu nennen. Das Herabschütteln der Speere (718b) findet, wie Harrison selbst einräumt, keine Entsprechung im homerischen Vorbild.

9. Zorn und Zähneknirschen

331

an gleicher Versposition wie in Aen. 10,718) im Realteil, als Symptom von Tydeus' Zorn878. Wenn Vergil, wie die Auslassung des 'Zähneknirschens' in der Rüstungsszene des 12. Buches nahelegen könnte, die Kritik Aristarchs geteilt hat und der Auffassung war, dieses plastische Symptom gewaltigen Zornes sei auch des Turnus unwürdig, den er in vieler Hinsicht in Parallele zum Haupthelden der Griechen in der Ilias bringt, so stellt sich die Frage, warum ein derart übersteigerter, sich in dieser konkreten Weise äußernder Zorn an den drei genannten Stellen Polyphem, Hercules und Mezentius eher zukommen sollte. Der Unterschied zwischen dem Zorn eines Turnus und dem des Kyklopen fallt sogleich ins Auge: Vergil hat Polyphem in der Tradition der Odyssee ganz als unmenschliches Ungeheuer (vgl. 3,618ff.) vorgestellt, so daß es passend erscheinen konnte, diesen Groll gerade durch das im Fall Achills als Übersteigerung, als άπρεπες empfundene Detail des Zähneknirschens auszugestalten879. Auch die Gegner in dem Kampf der Cacusepisode werden von Vergil nicht nur durch ihren ungeheuren, übermenschlichen Zorn gekennzeichnet (Cacus: mens effera, 205; Hercules furens animi, 228), wobei Hercules gleichsam als inkarnierte vis (βία) erscheint880. Vergil hebt den Kampf der beiden Kontrahenten durch seinen gleichsam urzeitlichen, mit der Gigantomachie der olympischen Götter881 in Parallele gebrachten 878

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Stat. Theb. 2,469

... Oeneae vindex sie ille Dianae erectus saetis et aduncae fulmine malae, cum premeret Pelopea phalanx, saxa obvia volvens fractaque perfossis arbusta Acheloia ripis, iam Telamona solo, iam stratum Ixiona linquens te, Meleagre, subit: ibi demum cuspide lata 475 haesit et obnixo ferrum laxavit in armo. talis adhuc trepidum linquit Calydonius heros concilium infrendens. O'Hara (1991, 7 Anm. 17) weist zu Recht Courtneys Hypothese (The formation of the text of Vergil, BICS 28, 1981, 13-29, hier 18) zurück, die Imitationen des Aeneisgleichnisses bei Lucan und Statius spiegele die Versfolge ihrer Vergiltexte, so daß die Korruptel nach Lucan, aber vor Statius anzusetzen sei: beide Dichter können in ihrer Wiedergabe des Modells doch wohl selbständig Elemente des Gleichnisses von der Real- in die Bildebene und umgekehrt überfuhrt haben. - Ein weiteres Argument für die Zugehörigkeit der Junktur dentibus infrendens, die auch Teil der Beschreibung Polyphems im 3. Aeneisbuch ist, in den Realteil des Mezentius-Eber-Vergleichs und damit für die überlieferte Versfolge ergibt sich aus den - gleich unten darzulegenden - sonstigen sehr auffalligen Parallelen in den Beschreibungen Polyphems und Mezentius' durch Vergil. Zu den sonstigen Verbindungen zwischen Achill und Mezentius s.o. S. 309f. Feeney 1991, 159 mit Verweis auf die Schilderung desselben Mythos in Ov. fast. 1,561579 (Anm. 124), wo dem gewaltigen, zornigen Kämpfer der vergilischen Cacusepisode das Bild eines 'menschlicheren' Hercules gegenübersteht. Hardie 1986, 11 Off.

332

IV. Kritische Exegese

Charakter deutlich von den in der Haupthandlung geschilderten Menschenkämpfen der epischen Gegenwart ab, auch wenn der Kampf des Hercules gegen das Ungeheur Cacus sicherlich zu Recht spätestens von modernen Interpreten als Paradigma des Konflikts zwischen Aeneas und Turnus gedeutet wurde882: anders als Aeneas hat Hercules noch den Kampf gegen „mythische" Ungeheuer zu leisten, so daß der Aeneisdichter in dem kritisierten Detail der homerischen Zornesschilderung seinen „übermenschlichen" Zorn von dem eines Turnus absetzen zu können glaubte. Es bleibt Mezentius, der, als Kämpfer an der Seite des Turnus, auf den ersten Blick nicht von dem Rutuler abgehoben zu sein scheint. Erst in jüngerer Zeit ist darauf aufmerksam gemacht worden883, daß Vergil sowohl den Polyphem der epischen Tradition, der Odyssee, als auch vor allem die Charakterisierung des Unholds in der Kyklopie des 3. Aeneisbuches selbst als Modell für die Gestalt des Etruskers verwendet hat, wie zahlreiche z.T. wörtliche Anklänge deutlich werden lassen und offenbar schon Ovid erkannt hat884. Gemeinsamkeiten liegen besonders in der riesenhaften, furchterregenden Erscheinung, unmenschlichen Grausamkeit und Götterverachtung883 Polyphems wie des Tyrannen; erst die Schilderung der Trauer, die Mezentius über den Tod seines Sohnes Lausus empfindet, kurz vor der Erzählung seines eigenen Todes, nimmt diesem Kämpfer etwas von seinem 'monströsen' Zuschnitt und läßt eine gewisse Sympatheia Vergils erkennen886. Die Gestalt des Mezentius unterscheidet sich in dieser über- bzw. unmenschli-

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Otis 1963, 334ff. Buchheit 1963, 116ff., bes. 120. Zu den Entsprechungen zwischen Hercules und Aeneas s. Galinsky 1981, 1004-1007 und ders., The Hercules-Cacus episode in Aeneid VIII, AJPh 87, 1966, 18-51. Glenn 1971; 1981. Glenn verweist auf met. 13,759ff., wo Polyphem als contemptor Olympi (761) wiederum die Züge des Mezentius der Aeneis (contemptor deum: 7,648; 8,7; vgl. 10,743ff. 773ff.) erhält. Glenn vergleicht die Mißhandlung der Odysseusgefährten durch den Kyklopen mit der gräßlichen Strafpraxis des Tyrannen gegenüber dem eigenen Volk: Aen. 3,623ff. vidi egomet duo de numero cum corpora nostro / ... / frangeret ad saxum, sanieque aspersa natarent / limina; vidi atro cum membra fluentia tabo / manderet (...) - Aen. 8,487f. sanie taboque fluentis / complexu in misero longa sic morte necabat (sanies, tabum, fluens erscheinen in der Verbindung nur an diesen beiden Stellen); Schafe bzw. das Reiten auf dem geliebten Pferd Rhaebus als (einzige) Freude (3,660f. comitantur oves; ea sola voluptas / solamenque mali - 10,858f. hoc decus illi, / hoc solamen erat-, es folgen die Worte an das Pferd wie die Worte Polyphems an die Schafe in Od. 9,447ff.); gewaltige Größe des Mezentius (10,763-768 mit Orion, dem blinden Poseidonsohn verglichen!) wie Polyphems (3,659. 662ff., vgl. 678 - 9,521f.; 10,763ff.; vgl. 3,656 vasta se mole moventem - 10,771 mole sua stat)·, vgl. auch Thome 1979, 86fF. Vgl. auch Thome 1979, 105. 131f.

9. Zorn und Zähneknirschen

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chen Dimension deutlich von derjenigen des Turnus . Durch diese indirekte Charakterisierung des Mezentius über die Parallele zu dem Kyklopen wird zugleich die Herausforderung für Aeneas gesteigert, die die Kämpfe gegen seine italischen Gegner, besonders aber diesen Hauptexponenten bedeuten: anders als im 3. Buch, im 'odysseischen' Teil der Aeneis, kann er sich dieser Aufgabe nicht entziehen888. Damit wird deutlich, daß der Aeneisdichter auf die Imitation jenes von Aristarch inkriminierten, aber selbst von ihm später vielleicht als 'poetisch', expressiv anerkannten Details der ebenso berühmten wie umstrittenen Rüstungsszene nicht verzichtete: Er griff es jeweils in einer Zornesschilderung auf, in der es nicht nur keinen Anstoß erregen konnte, sondern geeignet war, diesen Zorn in seiner besonderen Qualität und über ihn die epischen Gestalten zusätzlich zu charakterisieren und untereinander zu differenzieren. Die ästhetische Norm des πρέπον, das von den Alexandrinern wie von der römischen Literaturkritik der Zeit Vergils889 und zweifellos auch von Vergil selbst der Dichterexegese zugrundegelegt wurde, könnte vom Dichter somit - dies bliebe mit der gebotenen Vorsicht festzuhalten - als Kriterium für die bewußte Scheidung unterschiedlicher Ebenen der epischen Handlung bzw. die Differenzierung ihrer Charaktere verwendet worden sein. S t a t i u s 890 hat dieses Detail seines epischen Vorbildes offenbar in ganz ähnlicher Weise aufgegriffen und genutzt, um einzelne Helden in ihrem gewaltigen Zorn zu charakterisieren und hierin von den zahlreichen anderen sterblichen Kämpfern891 der Thebais abzuheben, so allen voran Tydeus, der in seinem Zuschnitt sowohl an den mythologischen Hercules als auch an den Mezentius der Aeneis erinnert892 (und dessen maßloser Zorn noch in seinem schrecklichen an-

887 Vgl. auch den Kontrast zwischen den Empfindungen beider Figuren vor ihrem Untergang: Mezentius geht völlig furchtlos in den Tod (10,879ff.), Turnus cunctaturque me tu letumque instare tremescit (12,916): Der Rutuler gehört ebenso wie Aeneas einer anderen, 'menschlicheren' Kategorie von Helden an. Zur fehlenden Todesfurcht des Mezentius s. Raabe 1974, 235, zum Verhältnis Tumus-Mezentius Thome 1979, 251-274, bes. 256ff. 888 889 890

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So überzeugend Glenn 1971, 154f. Siehe o. S. 13f. Die Vergilimitatoren Lucan und Valerius Flaccus meiden das Motiv, Silius übernimmt es mehrfach, allerdings nicht ausschließlich, zur Charakterisierung des Zorns der „barbarischen" Gegner Roms und hier besonders Hannibals (1,494; 2,121; 12,636; 17,116. 221). „Zähneknirschend" erscheint außerhalb der Menschenwelt der Flußgott Inachus (9,446; Vorbild ist offenbar georg. 4,452, wo Proteus frendens gezwungen ist, Aristaeus sein Wissen preiszugeben), die turba deum (10,911) beim Anblick des Frevels des Capaneus und schließlich eine lea im Gleichnis (10,416). Hierzu D. Vessey, Statius and the Thebaid. Cambridge 1973, 292f. (zu Tydeus-Hercules) 287f. 293 (zu ira, furor, rabies als Charakterzügen des Tydeus).

334

IV. Kritische Exegese

thropophagen Ende erkennbar wird) (2,477893; 5,663; 8,579), einmal auch Capaneus, der ebenfalls als gewaltiger Kämpfer herausgehoben ist und als superum contemptor wiederum dem vergilischen Mezentius zur Seite tritt894, in seinem blindwütigen Kampf (6,768), und schließlich Creo, der misera ... exaestuat ira (11,297).

10. Zusammenfassung Die Berücksichtigung der antiken Homerkritik beim Vergleich der Aeneis mit ihren homerischen Vorbildern trägt erheblich dazu bei, das Verhältnis vergilischer Nachgestaltung zum epischen Modell zu präzisieren und die Interpretation zahlreicher Szenen zu vertiefen. Die im wesentlichen von Schlunk (1974) festgestellten Indizien dafür, daß Vergil als 'poeta doctus' wie manche seiner gebildeten und literarisch tätigen Zeitgenossen die kritische Exegese namentlich der Alexandriner aufgegriffen hat, konnten erheblich vermehrt und damit diese Hypothese fundiert werden, ferner die schon vorliegenden Hinweise interpretatorisch vertieft werden. Die Einwirkung kritischer Exegese läßt sich besonders füir das maius opus der Aeneis nachweisen, dessen primäres Vorbild, die Ilias, in der hellenistischen Exegese erheblich mehr Aufmerksamkeit erhielt als die Odyssee. Die Erzähltechnik Vergils namentlich in den Kampfschilderungen und Götterepiphanien, seine Darstellung göttlichen Einwirkens in menschliche Handlungen wie auch die sorgfaltige Motivierung von Wendepunkten in der epischen Handlung stehen in einer kaum zufalligen Übereinstimmung mit den exegetischen Anschauungen der alexandrinischen Homerphilologie. Die für die Aeneis schon prinzipiell beobachtete Wahrung des 'decorum' in der Darstellung menschlicher wie göttlicher Handlungen im Vergleich zu Homer konnte wie schon häufiger im ersten, schwerpunktmäßig der 'ethischen Exegese' gewidmeten Hauptteil der Untersuchung auch im konkreten Einzelfall auf die kritische Kommentierung der jeweiligen homerischen Vorbildszene zurückgeführt und somit noch präzisiert werden. Ferner vermochte Vergil den Aufweis von Mängeln homerischer Darstellungskunst - in Form von Widersprüchlichkeiten und fehlender Plausibilität, der Reduktion von 'Spannung' durch unzeitige Vorwegnahmen, aber auch von 'Lücken' in ihrer 'Ökonomie' etwa 893 894

Siehe o. Anm. 878. Vgl. Theb. 9,548 ('ades ο mihi, dextera, tantum/ tu praesens bellis et inevitabile numen, / te voco, te solam superum contemptor adoro') mit Aen. 10,773 ('dextra mihi deus et telum, quod missile libro, / nunc adsint') und 7,648; 8,7 (Mezentius als contemptor deurri). Hierzu Th. Klinnert, Capaneus-Hippomedon. Diss. Heidelberg 1970, bes. 17f. 43f.; Vessey (o. Anm. 892) 71; vgl. auch Thome 1979, 97. 350f.

10. Zusammenfassung

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durch leere bzw. unmotivierte Details - zum Ausgangspunkt eigener Gestaltungen zu machen, in denen er die zuweilen schematischen Vorstellungen der Homerkritiker differenziert weiterentwickelte, Motive ausließ, abwandelte, 'füllte', d.h. zu tragenden Elementen der Handlungsökonomie formte, oder in einen 'passenderen' Zusammenhang überführte. Durch dieses Verfahren war nicht nur eine Steigerung des epischen Modells möglich, die ein an Homer geschultes Publikum auch ohne Kenntnis dieser Kritik zu erfassen vermochte, sondern auch eine 'gelehrte Korrektur' des 'poeta doctus', die von einem exklusiveren, in ähnlicher Weise gebildeten Publikum erkannt sein wollte.

V. Worterklärung und Realienkommentierung Besonders deutlich tritt die Bedeutung antiker Homerkommentierung für die Homerimitation Vergils wie der römischen Epiker überhaupt dort hervor, wo es um die Übersetzung oder Nachbildung einzelner homerischer Wörter und Begriffe und um die angemessene und geeignete Einbeziehung von Realien in die Nachgestaltung der beiden Epen ging. Die Vielzahl einmaliger oder nur selten verwendeter Wörter und Wendungen, aber auch die teilweise fremdartigen Realien stellten besonders hohe Anforderungen an die Imitatoren des alten Dichters. Wenn auch eine einfache Übersetzung oder annähernde Übertragung in die ohnehin wortarme und in älterer Zeit durch Dichtung noch ungeformte lateinische Sprache oftmals überhaupt nicht möglich war, so blieben doch auch für eine freiere Gestaltung die erklärenden Glossen der Homerkommentare als Anregung von großer Bedeutung895. Ahnliches galt für die Erläuterung homerischer Realien, seien es Gegenstände, Bräuche oder mythologische Details. Dabei konnte in manchen Fällen schon die schlichte Scholien-Erklärung eine Interpretation der homerischen Dichtung bedeuten, die in der lateinischen Wiedergabe nochmals einen interpretierenden Umformungsprozeß durchlief896. Ein solcher Einfluß antiker Homererklärung konnte bereits für die lateinische Übertragung der Odyssee durch Livius Andronicus, den Pionier der römischen Homerimitation, anhand mehrerer Stellen seines Werkes wahrscheinlich gemacht werden, in denen die lateinische Version besonders deutlich, und zwar erweiternd, von der odysseischen Vorlage abweicht897. Daß auch die Homerimita895

Zum Übersetzungsverfahren in der Antike allgemein Seele (1995; s. hierzu ferner J. Kaimio, Rez. Gnomon 70, 1998, 35 8f. mit Kritik an der Unterbewertung des Phänomens literarischer μίμησις im Übersetzungsvorgang durch Seele), zur Bedeutung von Lexikon und Semantik für die lateinische Wiedergabe griechischer Literatur bes. 23-49. 896 v g ] a u c h Seele 1995, bes. 86-88 und ihr Resümee (102. 104): „Der antike Übersetzungsbegriff unterscheidet sich vom modernen grundsätzlich. Insbesondere in der archaischen Zeit lassen sich 'Bearbeitung' und 'Übersetzung' nicht voneinander trennen, sehr wohl aber ist die 'frei übersetzende Bearbeitung' für die römischen Autoren der erste Schritt hin zur Produktion eigener originärer Werke ... Während wir heute streng unterscheiden zwischen 'Übersetzung', 'Nachdichtung', 'Parodie', 'Intertextualität' usw., ... subsumierte die antike Literaturkritik all solche Verfahren unter den Begriff des vertere". 897 Ygi Frankel 1932, 306ff: In fir. 22 bildet Livius aus der homerischen Junktur ταρφέ' άμειβομένω (Od. 8,379), die die kunstvollen Bewegungen zweier Tänzer beschreibt, ei-

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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tion in den Annalen des E n n i u s von alexandrinischer Wort- und Sacherklärung beeinflußt worden ist, wurde an anderer Stelle dieser Untersuchung898 am Beispiel seiner Imitation des Pferdegleichnisses aus der Ilias (II. 6,504ff. = 15,263ff. > ann. 535 Sk.) gezeigt. Auch Vergil hat Worterklärungen der Homerkommentatoren ganz offensichtlich genutzt. Dies wurde bereits beim Vergleich seiner Nachgestaltung dreier Iliasgleichnisse mit ihrer jeweiligen Vorlage deutlich, wo er die Scholienkommentare zu den Leitwörtern der homerischen Gleichnisse zur Grundlage seiner interpretierenden Imitation wählte: So vermochte er Tur-

nen ganzen Vers: nexabant multa inter se flexu nodorum dubio. Die Scholien (V) zu diesem Vers könnten ihn sehr wohl zumindest zu der Formulierung der ersten Vershälfte angeregt haben (ταρφέ' άμειβομένω] π υ κ ν ώ ς πλέκοντες εις αλλήλους έναλλασσόμενοι); jedoch hält Α. Kessissoglu (Remarks to Livius Andronicus fr. 14 Mar., fr. 4 Mar., Gymnasium 81, 1974, 476-480) als Vorbildvers Od. 5,480f. für wahrscheinlicher, wo Odysseus unter den „verschlungenen Ästen" eines Ölbaums (!) Schutz sucht, hier ist demnach auch ein 'Übersetzungs Vorgang' ohne Scholienvermittlung denkbar (Seele 1995, 110 weist hierzu mit Recht daraufhin, „daß zuverlässige Übersetzungsanalysen nur dort möglich sind, wo das Vorbild auch wirklich eindeutig identifiziert ist"). Wesentlich signifikanter dagegen ist die Variation des philosophischen Gedankens, den der Odysseedichter die Göttin Athene formulieren läßt: Od. 3,236 ά λ λ ' ή τοι θάνατον μεν όμοίϊον ούδέ θεοί περ και φ ί λ ω άνδρι δύνανται άλαλκέμεν, ό π π ό τ ε κ ε ν δ ή μ ο ΐ ρ ' ό λ ο ή καΟέλησι τ α ν η λ ε γ έ ο ς θ α ν ά τ ο ι ο . Während hier allgemein die Vorstellung eines - auch den Göttern - unabwendbaren Todes als Schicksal des Menschen ausgedrückt ist, fuhrt Livius in seiner Übertragung über sie hinaus, indem er den schicksalhaften Tod den Menschen an einem vorherbestimmten, festen Termin ereilen läßt: quando dies adveniet quem profata Moria est (fr. 11). Diese Abweichung des Livius wurde, wie Fränkel beobachtet hat, sehr wahrscheinlich von der Scholienerklärung zur Odysseestelle inspiriert: Diese versucht den empfundenen Widerspruch zwischen Vers 231, in dem es heißt, die Götter könnten nach ihrem Willen den Menschen (vor dem Tode) retten (ρεΐα θεός γ ' έθέλων και τηλόθεν άνδρα σαώσαι), und dem in 236ff. ausgedrückten Gedanken aufzulösen, indem sie die μοίρα ϋανάτοιο in 238 prägnant als den „vom Schicksal fest vorherbestimmten Zeitpunkt des Todes" fassen (Schol. [M] 3,236 ... οπόταν ή πεπρωμένο ν τό τελευτήσαι αύτόν) und so in 231 die Vorstellung eines drohenden „Todes vor der (vom Schicksal bestimmten) Zeit", den die Götter sehr wohl vom Menschen abwenden könnten, supplieren. Hinzuzufügen bliebe den Ausführungen Frankels allerdings, daß Livius natürlich die an anderen Stellen von Ilias und Odyssee mehrfach auftretende Junktur μόρσιμον ήμαρ kannte, in der eben jene von den Scholiasten entwickelte Vorstellung des schicksalhaften Todestermins ausgedrückt ist; jedoch ermöglichte es ihm die Scholienerklärung durch die Harmonisierung der beiden Gedanken innerhalb des odysseischen Passus, sie für die Übertragung der fraglichen Odysseeverse heranzuziehen. - Daß Livius diese Homerkommentierung in Form von Scholien kennengelemt haben kann, ist immer wieder, allerdings ohne durchschlagenden Grund, angezweifelt worden (vgl. Wilson 1978, 316; weitere Kritik referiert Seele 1995, 109f.). 898

Siehe S. 188.

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nus durch den Vergleich mit dem auch von Ennius imitierten 'ausbrechenden Pferd' 899 und an anderer Stelle mit einem zerstörerischen Felsblock900, Aeneas durch den Vergleich mit einem schneebedeckten Gipfel901 an entscheidenden Stellen des Handlungsverlaufs zu charakterisieren902; für die jeweiligen Einzelanalysen sei hier ausdrücklich auf die früheren Ausführungen verwiesen. Solche Wort- und Sacherklärungen der Homerscholien vermochten den Dichter zu eigenständigen Gestaltungen anregen. So erklärten die Scholien den in Ilias (1,470) und Odyssee (1,148) jeweils einmal verwendeten formelhaften Vers κοΰροι μεν [bzw. δέ] κρητήρας έπεστέψαντο ποτοΐο zu der Iliasstelle in leichter Abweichung von dem Verständnis moderner Interpreten („sie füllten die Mischkrüge bis zum Rande mit Wein"): Schol. [AbT] 1,470: έπεστέψαντο] ύπέρ τό χείλος έπλήρωσαν ώς δοκεΐν έστέφϋαι ύγρώ. Vergil gibt die homerische Wendung in der Schilderung des Gastmahls bei Dido (Aen. 1,724) wieder mit (crateras magnos statuunt et) vina coronant. Das Verständnis dieses Ausdrucks wird durch Aen. 3,525f. erschlossen, wo es heißt Anchises magnum crate ra corona / in du it implevitque mero: Der Mischkrug wird mit einem (Blumen-)Kranz verziert, ein Brauch, den Statius in silv. 3,1,76 (dapes redimitaque vina) und Theb. 8,225 (s e rta coronatum que merum) übernommen hat903. Die vina der ersten Aeneisstelle bezeichnen demnach Weinflaschen oder -

899 900 901 902

903

Siehe S. 181ff. Siehe S. 174ff. Siehe S. 178f. Ein weiteres, von Schlunk (1974, 20) angeführtes Beispiel für die Adaptation solcher Glossen der Homerkommentatoren in der Aeneis ist weniger signifikant: In II. 5,61 lf. tötet Aias den Amphion, der von Homer als πολυκτήμων πολυλήϊος, „reich an Vieh und an Saatfeldern" vorgestellt wird (613). Die vom D-Scholion z. St. zu πολυληϊος gegebene Paraphrase πολλά λήϊα έχων ή πολλά θρέμματα έχων soll nach Schlunk die amplifizierte Wiedergabe des Wortes unter Berücksichtigung b e i d e r vom Glossator gegebenen Wortbedeutungen von πολυλήϊος motiviert haben, wo es 7,537ff. heißt: (Galaesus) qui fiiit Ausoniisque olim ditissimus arvis:/ quinque greges Uli balantum, quina redibant / armenta, et terram centum vertebat aratris. Es ist allerdings auch denkbar, daß Vergil das - nach Schlunks Hypothese ja in der ansonsten genauen Wiedergabe der Homerverse offenbar ausgesparte - πολυκτήμων i.S. von „reich an Vieh" auffaßte (vgl. LSJ 1002 s.v. κτήμα [2] mit Verweis auf Plat. legg. 728e) und durch die greges und die armenta hierzu eine Entsprechimg schaffen wollte; diese Wiedergabe wäre somit auch ohne Vermittlung der Glosse erklärbar. Austin z. St. verweist außer auf diese Stellen noch auf Tib. 2,5,97f.: aut e veste sua tendent umbracula sertis / vincta, coronatus stabit et ipse calix.

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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904

krüge . Es ist demnach mit Austin (zu 724) gegen Con.-Nettleship zu vermuten, daß Vergil die homerische Junktur nicht eigentlich mißverstanden, sondern die Scholienerklärung aufgegriffen und zur Grundlage seiner eigenen, von Homer abweichenden Gestaltung eines Details in der Beschreibung des Gastmahls bei Dido gewählt hat. Ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit Vergils, mit Hilfe ihrer spezifischen antiken Erklärungen auf homerische Motive Bezug zu nehmen, zeigt das Verhältnis zwischen der Eris der Ilias und der Allecto der Aeneis: Zu Beginn des 11. Iliasbuches leitet Homer die Wiederaufnahme der zwecks Bestattung der Gefallenen unterbrochenen Kämpfe zwischen Griechen und Trojanern ein, indem er Zeus die Göttin der Zwietracht, Eris, zu den Schiffen der Griechen entsenden läßt, wo sie durch gewaltiges, schreckliches Schreien, das „Schreckenszeichen des Krieges" (τέρας πολέμοιο) in den Händen, den Kriegern Kampfeskraft einflößt (lOff). Die Bedeutung des τέρας πολέμοιο stellte die Homererklärer vor erhebliche Probleme, wie die in den Scholien überlieferten verschiedenen Erklärungsversuche zeigen: Mit Hinblick auf II. 5,593, wo Enyo - in ähnlicher Funktion wie die Eris des 11. Buches - ein Sinnbild des „Schlachtengetümmels" (κυδοιμός) in den Händen hält, wurde es als rein symbolische Darstellung des Kriegs905, aber auch (u.a. von Aristophanes von Byzanz) konkret als Blitz oder Schwert gedeutet. Einer weiteren Erklärung der Stelle zufolge, die zwischen der rein symbolischen und der konkreten Auffassung des τέρας zu vermitteln suchte, war in dem τέρας eine Fackel zu sehen, mit der die Seele der Kämpfer (zum Krieg) entflammt werde: Schol. [A] 11,4: άργαλέην, πολέμοιο ] οτι πολέμοιο τέρας τον είδωλοποιοΰμενον πόλεμον, τον ποιητικόν του ένεργουμένου πολέμου, ώς και έν άλλοις [sc. 5,593] κυδοιμοΰ εΐδωλόν φησι την Ένυώ έχειν ... οι δε άστραπήν φασι την έριδα φέρειν, ώς και 'Αριστοφάνης ... οϊ δέ τό ξίφος ... οι δέ λαμπάδα διά τό έμπυρσεύεσϋαι τάς των πολεμούντων ψυχάς. In der Aeneis entspricht der homerischen Eris die Gestalt der Allecto (in der Vergil außer dieser freilich auch Züge der ennianischen, jedoch wohl

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Austin z. St.; er verweist ferner auf die umgekehrte Bedeutung von pocula = „Tränke" in georg. 2,528; vgl. Servius zu 724: ... 'coronant' autem est aut 'implent usque ad marginem' aut quia antiqui coronabant pocula et sie libabant. So wird es offenbar auch in dem Apollonios zugeschriebenen Fragment aufgefaßt, dessen Echtheit jedoch angezweifelt wird (s. Erbse 1969-88 III, 124 [App.]), indem hier die Eris durch κυδοιμός wiedergegeben ist.

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nicht mit der Discordia eines anderen Fragments identischen906 Unterweltsgöttin Paluda und der Lyssa des Euripides907 vereinigt hat); dies deutet bereits ihre Charakterisierung durch den Erzähler bzw. Juno an: cui tristia bella / iraeque insidiaeque et crimina noxia cordi (325f.); tu potes unanimos armare in proelia fratres, etc. (335f£). Strukturell entspricht dabei dem Auftritt der Eris zu Beginn des 11. Iliasbuches derjenige Allectos in 7,51 Iff., indem diese vom Dach eines latinischen Gehöftes aus mit einem Horn (bucina, 519) das signum belli ertönen läßt908. Jedoch ist zu diesem Zeitpunkt der Kriegsfuror der Latiner bereits entfesselt (entsprechend wird die Schilderung ihrer Reaktion auf das Signal Allectos eingeleitet: tum vero ad vocem celeres ... concurrunt, 519f.), nachdem Turnus den Befehl zur Bewaffnung gegen die fremden Eindringlinge gegeben hatte (467ff.) und die latinischen Bauern, zusätzlich aufgestachelt durch die als Sakrileg empfundene Erlegung eines heiligen Hirsches durch Ascanius (496ff.), zu den Waffen geeilt waren. Die Ursache für die Entfesselung des Krieges liegt demnach im furor des Turnus (460ff); doch auch diesen löst Allecto aus, indem sie Turnus im Traum zunächst in der Gestalt der Calybe erscheint (419ff.), dann, vom Spott des jungen Rutulers (435ff.) gereizt, ihre wahre Gestalt annimmt und dem Rutuler schließlich eine Fackel in die Brust stößt (456f£). Im Hinblick auf die eigentliche Auslösung der Kämpfe liegt demnach in dieser Szene der Aeneis die Entsprechung zum Beginn des 11. Buches der Ilias, insofern hier ein Neueinsatz der Kämpfe nach einer langen Pause im Erzählablauf (die das 9. und 10. Buch ausfüllen) erfolgt. Vergil dürfte daher in dem Detail der fax bzw. der taedae, die bei Turnus den Kriegsfuror auslösen, auf die oben zitierte Scholienerklärung zurückgegriffen haben, derzufolge in dem τέρας πολέμοιο der Eris eine Fackel zu sehen war. Die Wirkung, die sie auf den jungen Mann ausübt, ist - bei aller Erhöhung der Emphase derjenigen ähnlich, die das τέρας der homerischen Eris zusammen mit ihrem Schrei erzielt, mit denen sie den Griechen Kraft „ins Herz wirft", vgl. Aen. 7,456

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907 908

sie effata facem iuveni coniecit et atro lumine fumantisflxitsub pectore taedas.

Vgl. Enn. fr. 220 Sk. = fr. 521 V. [Paluda], fr. 225 Sk. = 266 V. [Discordia], Zu der Diskussion über die Identität von Paluda und Discordia, die Norden (1915, Iff.) mit seiner Behauptung ausgelöst hat, Vergil habe die Einheit der ennianischen Darstellung durch Verteilung der Aufgaben Discordia-Paludas auf Allecto und Juno (vgl. 7,620ff.) ungeschickterweise aufgegeben, siehe zuletzt Buchheit 1963, 8Off., der der Auffassung Fraenkels (1945, 7f.), die Discordia in letzterem Fragment sei lediglich ein Abstractum, zu ihrem Recht verhilft. Siehe Buchheit 1963, lOlf. Die Wirkung des Kriegssignals (7,516ff.) hat Vergil dagegen einer Szene des Apollonios (4,129-132) nachgestaltet, vgl. die Kommentare z. St.

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olli somnum ingens rumpitpavor ( ...) arma amens fremit, arma toro tectisque requirit; saevit amor ferri et scelerata insania belli,

ira super (...), vgl. II. 11,10

ένϋα στάσ' ήϋσε θεά μέγα τε δεινόν τε ορΟι', Άχαιοΐσιν δε μέγα σύένος εμβαλ' έκάστω καρδνη, άλληκτον πολεμίζειν ήδέ μάχεσϋαι. τοΐσι δ' άφαρ πόλεμος γ λ υ κ ί ω ν γένετ' ήέ νέεσΟαι...

Hierbei ist zunächst einzuräumen, daß bereits Ennius (scaen. 30 V.) eine Furie mit einer Fackel, also mit dem Attribut der griechischen Erinys ausgestattet hatte909, Vergil aber in der Gestalt seines Unterweltdämons, abgesehen von den oben erwähnten literarischen Reminiszenzen, die topische Vorstellung einer Furie verarbeitet (vgl. 454 adsum dirarum ab sede sororum; 447 tot Erinys sibilat hydris); so löst Allecto ja auch speziell den furor Amatas (vgl. 346ff., bes. 350. 377. 392) und Turnus' (vgl. 460ff, bes. 464) aus. Daß der Bezug zur homerischen Eris des 11. Iliasbuches speziell in dieser Szene jedoch Priorität hat, zeigt außer der eben geschilderten Wirkung ihres Auftretens auch die Fackel selbst, wenn Allecto ihr eine mit dem τέρας πολέμοιο identische symbolische Funktion gibt (455): '... b ell α manu letumque gero.vgl. II. 11,4: (Ζευς δ' "Εριδα προΐαλλε) π ο λ έ μ ο ι ο τέρας μετά χ ε ρ σ ι ν έχουσα ν. Wenn Vergil demnach in der Allecto die Züge der ennianischen Paluda, der Lyssa des Euripides sowie der üblichen Vorstellung der mit der Erinys gleichgesetzten Furie vereinigen und sie innerhalb der Eposhandlung zugleich deutlich mit der Eris des primären homerischen Modells verknüpfen wollte, um den von Juno ausgelösten Kriegsfuror des Turnus in Parallele zu dem der Griechen zu bringen, so konnte er sich auf die zitierte, zwischen der konkreten und der symbolischen Auffassung vermittelnde Scholienerklärung stützen: Die Auffassung des τέρας als Fackel bot die Möglichkeit, das Tun der Allecto lebendig und körperlich zu schildern, zugleich jedoch auch in seiner Symbolik erkennbar zu machen, indem die Wirkung der Fackel in einer psychischen Entwicklung des Turnus liegt910. Die antike Symposienliteratur vermittelt einen Eindruck davon, in welchem Rahmen 'Probleme' des homerischen Textes, insbesondere schwierige Wörter und sachliche Unklarheiten behandelt und diskutiert wurden. In den 909

910

Siehe hierzu O. Waser, Furiae, RE VIII 1, Stuttgart 1910, 308ff. s.v.; E. Wüst, Erinys, RE Suppl. VIII, Stuttgart 1956, 126 s.v. Die Fackel Allectos verweist sekundär möglicherweise auch auf den Dionysoskult, s. Horsfall 1995, 157 m. Anm. 22. Vgl. Heinze 1914,305.

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'Tischgesprächen' (Συμποσιακά) Plutarchs wird - unter Beteiligung gebildeter Römer - über solche oft überschaubaren und speziellen Fragestellungen diskutiert. Hierbei äußert sich (mor. 739c-d) etwa der Rhetor Maximos über die Frage, welche Hand der Aphrodite im 5. Iliasbuch vom Speer des Diomedes wohl getroffen werde, als diese Aineias zu retten versucht (336ff), und bemüht sich um den Nachweis, es müsse sich um die rechte handeln, wenn es im Text heiße, die Göttin werde an der Hand getroffen, mit der sie den Sohn aus dem Kampf zieht. Er fugt eine sprachliche Betrachtung hinzu, indem er das Diomedes zugehörige Ptz. μετάλμενος in 5,336 („hinterherspringend", sc. der Aphrodite) als „zur Seite springend" interpretiert911 und hieraus folgert, daß dieser Sprung des Diomedes, der den Speer mit der Rechten führe, überflüssig gewesen wäre, hätte er die ihm gegenüberstehende Aphrodite an der linken Hand treffen wollen. Diese άπορία der Homererklärer findet sich einschließlich dieser λύσις auch bei Eustathios (552,41) ausgeführt, das Problem scheint also durchaus weiter bekannt gewesen zu sein. Wie in früheren Zusammenhängen schon häufiger erwähnt, erinnert Vergil an diese berühmte Iliasszene in der Aeneis mehrfach, detailliert aber in dem Bericht des Diomedes selbst: Dieser begründet seine Ablehnung des latinischen Hilfegesuchs mit dem Hinweis auf die Folgen seiner einstigen dementia, als er es gewagt habe, die Schutzgöttin der Aeneaden anzugreifen912: Aen. 11,276

caelestia corpora demens appetii et Veneris violavi vulnere dextram913.

Die schon von Sandbach914 beiläufig erwogene Kenntnisnahme und Berücksichtigung dieses 'Problems' der Homergrammatik durch Vergil erscheint angesichts der zahlreichen sonstigen Indizien speziell auch im Bereich der Realienkommentierung höchst plausibel. Daß sich in der römischen Symposienliteratur wie auch bei Plutarch gerade Römer an der Erörterung 911

912 913

914

Ein unparallelisierter Gebrauch, den Maximos wohl in Analogie zum prosaischen μεταπηδά ν annimmt. Zur Frage der Echtheit dieser Verse s. Anhang S. 359. In der Grundbedeutung verwendet bedeutet dextra in der Aeneis sonst durchweg die a k t i v t ä t i g e Hand, zumal in den mit dem Diomedes-Bericht vergleichbaren direkt erzählten Kampfschilderungen (vgl. etwa Aen. 6,879; 7,474; 9,747; 10,333. 773. 830; 11, 339; 12,538. 659); in Aen. 4,60; 8,274. 278; 12,206 ist die Ausführung der Handlung durch die Rechte durch den Kontext der jeweils ausgeführten religiösen Handlung motiviert. Dextra in Aen. 11,277 dürfte also nicht einfach synonym mit manus, sondern spezifisch verwendet sein. E L. Minar Jr., F H. Sandbach, W C. Helmbold, Plutarch's Moralia IX, Cambridge (Mass.) 1961,241.

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solcher homerischer Fragen beteiligen, erinnert daran, daß hier wie an anderen Stellen, wo in der Aeneis Probleme des epischen Modells aufgegriffen werden, die gebildeten Römern z.T. schon vom Grammatikunterricht an vermittelt worden sein dürften, ein solcher Hinweis zweifellos darauf berechnet war, von einem in diesen Fragen geschulten Publikum erkannt zu werden ein gelehrtes Vergnügen für den 'poeta doctus' wie für seine Leser. Schlunk (1974, 17ff.) macht darauf aufmerksam, daß die antiken Homerinterpreten besondere Sorgfalt auf die kommentierende Behandlung der homerischen Epitheta wandten, wobei insbesondere auf ihre Proprietät im Kontext geachtet wurde, deren Fehlen zur Versathetese führen konnte915. Als Beleg für die Kenntnisnahme und Verarbeitung solcher Erklärungen durch Vergil nennt Schlunk seine Verwendung der Epitheta Athene-Minervas: Der Name Παλλάς wird in den Homerscholien unter anderem vom „Schwingen" ihres Speeres abgeleitet, womit Homer nach Auffassung der Interpreten das Kriegerische der Göttin hervorzuheben beabsichtigte916. In der Aeneis wird die Göttin erstmals im Eingangsmonolog Junos (l,37ff.) erwähnt; hier erinnert diese sich daran, wie die Jupitertochter die Argiverflotte mit einem Blitz in Brand gesteckt und im Meer versenkt hatte, um den Frevel des Aiax zu bestrafen. In ihrer Eigenschaft als Blitzgewaltige (rapidum ... iaculata ... ignem, 42) erhält sie in diesem Kontext den Namen Pallas (39). Vergil scheint das Epitheton demnach in der von einer Tradition der Hommerkommentierung erklärten Bedeutung einzusetzen, um in dem ersten (indirekten) Auftritt der Göttin die Art und Größe ihrer Macht hervorzuheben917. Auch an anderen Stellen sieht Schlunk mit Recht Hinweise auf diese mit dem Epitheton verbundene Konnotation des 'Kriegerischen'. Allerdings fehlt diese schon in Aen. 2,15, vollends dann in 5,704; 7,154. Hierdurch wird die Evidenz für eine solche spezifische Verwendung des Epitheton etwas geschwächt. Man sieht ferner ein, daß die den Trojanern übelgesinnte, den Griechen Erfolg im Krieg verleihende Göttin spezifisch 'Pallas' heißt, als die Trojanerinnen (bzw. in analoger Situation die Latinerinnen) die Unerbittliche anflehen (1,479; 11,477), nicht aber, warum Cassandra in der Iliupersis die ihr gleichfalls feindliche Göttin M i n e r v a um Erbarmen bittet (2,404); an der Schlacht von Actium nimmt die Göttin eindeutig als 'Kriegsgöttin' teil, heißt hier aber ausgerechnet 'Minerva' (8,699). - Gut beobachtet Schlunk zwar auch, daß auch das zweite Epitheton Athenes bei Homer, Τριτογένεια, das eine Tradition der Homerkommentierung, wiederum mit dem Hinweis auf das Kriegerische der Göttin, von ihrem den Menschen (Ehr-)Furcht erregenden Wesen 915 916

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Schlunk verweist hierzu auf Schol. [Τ] II. 23,581; [Τ] II. 20,40. Schol. [ABDL] II. 1,200: Παλλάδα την Ά Ο η ν ά ν έπιθετικώς, ή τοι άπό τοΰ π ά λ λ ε ι ν και κραδαίνειν τό δόρυ (πολεμική γαρ ή θεός), ή ότι Παλλάντα ένα των γιγάντων άπέκτεινεν, ή άπό τοΰ άναπαλΟήναι αυτήν άπό της κεφαλής τοΰ Διός; Schol. Od. 1,252: Παλλάς] έπιθετικώς ή 'Αθηνά, άπό τοΰ π ά λ λ ε ι ν τό δόρυ ή ότι Παλλάντα άνεϊλεν, ένα των γιγάντων. Vgl. Schlunk 1974, 17ff.

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ableitete918, in der Aeneis in entsprechender Weise verwendet ist: Minerva erhält den entsprechenden Namen Tritonia erstmals in dem trügerischen Bericht Sinons (2,169ff.), wie die Göttin nach dem Raub des Palladiums durch Ulixes und Diomedes den Griechen ihre Gunst entzogen und dies durch ein monstrum an ihrem im Griechenlager aufgestellten Bild gezeigt habe (Aen. 2,171ff.). Der Seher Calchas habe daraufhin zu sofortiger Flucht geraten, freilich erst nach Aufstellung des hölzernen Pferdes an Stelle des Palladiums als piaculum (183f.). Ganz im Sinne der Scholienerklärung betont Vergil in diesem Kontext demnach tatsächlich das Furchterregende, auch Ehrfurchtgebietende der Göttin919. Die These, daß Vergil sich für die gezielte Wahl auch dieses Epithetons auf die Homererklärung gestützt habe, sucht Schlunk (1974, 19) noch mit Hinweis auf Aen. 2,225ff. erhärten, w o die Schlangen, die Laokoon getötet haben, zur Burg der saeva Tritonis streben, um sich hier unter ihrem Standbild zu bergen, zum großen Schrecken der Trojaner (tum vero tremefacta novus per pectora cunctis / insinuat pavor, 228f.). In dieses Muster spezifischer Verwendung würden sich vielleicht noch Aen. 2,615 und al918

919

Schol. [AD] II. 8,39: Τριτογένεια] "Ομηρος μεν την το τρεΐν και τό εύλαβεΐσϋαι γεννώσαν τοις άνθρώποις (πολεμική γαρ ή θεός), οί δέ νεώτεροι φασι την παρά τω Τρίτωνι ποταμω γεννηϋεΐσαν, δς έστι της Λιβύης; Schol. [D] II. 4,515: Τριτογένεια] ή 'Αθηνά ή τδ τρεΐν και φοβεΐσθαι γεννώσα τοις πολεμίοις, ή έπι Τριτωνι ποταμω της Λιβύης γεννηθεΐσα. Das Motiv des Unwillens, den die Göttin an ihrem Standbild sichtbar werden läßt, hat ihr Vorbild in der Uias, wo Athene im 6. Buch das Bittflehen der Trojanerinnen, die ihrem Standbild einen Peplos darbringen (301), abweist. Homer hatte hier 'Athene' zur Bekundung dieses Unwillens „das Haupt schütteln" (άνένευε, 311) lassen. Die Echtheit dieses letzten Verses wurde in der Antike angezweifelt (Schol. [A] 6,311), nicht nur, weil durch ihn eine Dopplung der das Gebet der Trojanerinnen abschließenden Formel ώς έφατ' (311)/ ώς αί μεν p' εϋχοντο (312) bewirkt wurde (eine moderne Verteidigung der Wiederholung als „Szenenabschluß" bei U. Hölscher, Untersuchungen zur Form der Odyssee, Berlin 1939, 41; vgl. 35): Da die Kritiker von der in V. 301 vorgegebenen konkreten Bedeutung von 'Athene' i.S. von 'Standbild der Athene' ausgingen, ergab das „Kopfschütteln" des Palladiums für sie eine „absurde" (γελοίος), d.h. unrealistische Vorstellung. An die berühmte Szene hat Vergil direkt in der Beschreibung des Didotempels erinnert (l,479ff.) (indirekt ferner in 1 l,477ff., wo die Latinerinnen ihrerseits der Pallas Geschenke darbringen, allerdings bezeichnenderweise ohne die Schilderung der Reaktion der Göttin); hier aber ist der ebenfalls am Palladium konkretisierte Unwille der Göttin auf einem Gemälde, also statisch, zum Ausdruck gebracht und dabei eine Formulierung gewählt, die eine konkrete Auffassung von diva (1,482) i.S. von Standbild zuläßt, ohne daß die an ihm sichtbare Unmutsbekundung der Göttin unrealistisch würde (diva solo fixos oculos aversa tenebat). In Aen. 2,171 dann gerät tatsächlich das gesamte Standbild in Bewegung, an ihm vollzieht sich das oben beschriebene Prodigium. Hier ist jedoch das eigentlich Unglaubliche, eben Unrealistisch-Monströse des Geschehens ausdrücklich zugestanden (monstra, 171; mirabile dictu, 174). Vergil hat demnach möglicherweise das von den Alexandrinern kritisierte angebliche Schwanken Homers zwischen der konkreten Schilderung des göttlichen Unwillens - mit entsprechender Realismusforderung - und seiner nur abstrakten Feststellung im ersten Fall durch eine unproblematische Ambivalenz, im zweiten gerade durch Konzession des Wunderbaren gleichsam entschärft.

V. Worterklärung und Realienkommentierung

345

lenfalls 11,483 fügen, doch stört Aen. 5,704 das Bild dann wieder erheblich. - Insgesamt bleiben daher doch Zweifel, ob die These einer spezifischen Verwendung der beiden homerischen Epitheta Athenes durch Vergil im Sinne der antiken Worterklärung haltbar ist: Hätte Vergil hier alexandrinische Proprietätsvorstellungen zugrundegelegt, so wäre Konsequenz in der Verwendung dieser Epitheta zu erwarten; andererseits war das Reservoir an Namen für die Kriegsgöttin auf die genannten drei Namen beschränkt, was die Evidenz der von Schlunk angeführten Beispiele insgesamt abschwächt. Für die Imitation und Weiterbildung homerischer Motive besaßen innerhalb der Sacherklärung, die die Homerkommentare boten, insbesondere auch Informationen über die zahlreichen mythologischen Grundlagen der beiden Epen große Bedeutung. Vergil läßt in der Karthagoepisode des 1. Buches Aeneas die kunstvoll gestalteten Wände des Junotempels bewundern, auf denen die Kämpfe um Troja dargestellt sind, hierunter auch eine Episode der nächtlichen Expedition, die Odysseus und Diomedes in das gegnerische Lager unternommen hatten: Diomedes entfuhrt die feurigen Pferde des Thrakerkönigs Rhesus, bevor diese noch auf trojanischem Boden Gras gerupft und aus dem Xanthus getrunken haben: Aen. 1,469

nec procul hinc Rhesi rtiveis tentoria velis agnoscit lacrimans, primo quae prodita somno Tydides multa vastabat caede cruentus, ardentisque avertit equos in castra prius quam pabula gustassent Troiae Xanthumque bibissent.

In allen Szenen, die der Dichter auf den Wänden des Junotempels dargestellt sein läßt, liegt primär eine Reminiszenz an die entsprechenden Szenen der Ilias Homers, im Falle der Dolonie sekundär auch an die dem Euripides zugeschriebene Tragödie 'Rhesos'. Speziell an die Dolonie erinnert Vergil abgesehen von seiner Imitation dieser Episode in der nächtlichen Expedition der Jünglinge Nisus und Euryalus im 9. Buch920 - auch noch an anderer Stelle innerhalb der Aeneis: In 12,347ff. erwähnt er Dolon und nimmt insbesondere in 350 (Dolon fordert den Wagen Achills als Belohnung) und 351 f. (Diomedes tötet Dolon) auf die homerische Dolonie (10,321ff. bzw. 455ff.) Bezug. Während er an dieser Stelle und in der Beschreibung der Tempelwände den Details der Iliashandlung treu bleibt921, fugt er mit dem Motiv des Grasens und Trinkens der Pferde auf trojanischem Boden, das Diomedes gerade noch verhindern kann, ein Detail hinzu, das weder Homer noch der Autor des 'Rhesos' kennen, das sich jedoch sowohl in der Notiz des Eu920 921

Siehe S. 25ff. Im einzelnen: Aen. 1,471 ~ II 10,469; Aen. 1,469 ~ II. 10,434f. 437f.; Aen. 1,470b ~ II. 10,471, vgl. [Eur.] Rhes. 764; Aen. 1,472a ~ II. 10,437. 498, vgl. [Eur.] Rhes. 617f.

346

V. Worterklärung und Realienkommentierung

stathios als auch in dem D-Scholion zu einer Stelle der homerischen Dolonie (10,435) findet922: Hiernach warnte die Griechen ein Orakel vor der Uneinnehmbarkeit Trojas für den Fall, daß die Rhesospferde hierzu Gelegenheit bekämen; diese Sagenversion hat wohl über das D-Scholion auch Eingang in den Serviuskommentar (zu Aen. 1,469) gefunden: Eustath. 817,25-27: λέγουσι δέ και χρησμον άποκεΐσύαι αύτω, εί της έν Τροία βοτάνης φάγοιεν οί ίπποι αύτω και του έκεϊσε πίοιεν ύδατος, άπρόσμαχον αύτόν έσεσϋαι. Durch die Übernahme dieses Details als Ergänzung der homerischen Vorlage, die Vergil in der Doloniehandlung fand, vermochte Vergil die dramatische Wirkung der auf den Wänden des Junotempels dargestellten Ereignisse erheblich zu verstärken. Die Realienkommentierung galt, wie sich aus den Scholien entnehmen läßt, in besonderem Maße auch den (militärischen) Zahlen- und Stärkeverhältnissen bei Homer und hier vor allem in der Ilias. Dies mag heutigen Interpreten befremdlich erscheinen, doch spiegelt sich auch hierin wieder eine in der antiken Homerdeutung verbreitete Auffassung, der Dichter habe in der Ilias ein quasi-historisches Ereignis dargestellt923. Wie sich ebenfalls gut belegen läßt, las man Homer ferner als ersten Theoretiker der Strategie und interpretierte ihn - zweifellos in einer idealisierenden Zuspitzung - auch in militärischen Dingen als ersten Lehrer aller τέχναι 924 . Aus beiden Tendenzen dürfte das Interesse an solchen Realien zu erklären sein. So findet sich in den Iliasscholien wiederholt der Hinweis, daß die Trojaner gegenüber den Griechen in der Minderzahl seien925, und wird über die genauen Zahlenverhältnisse spekuliert926; im Hintergrund dieser Diskussion steht natürlich auch hier die ästhetische Forderung nach Plausibilität und Realitätsnähe, nach πιϋανότης der epischen Dichtung, zumal wenn sie ein gleichsam historisches Ereignis darstellte. In einem Fall führte ein von den Interpreten empfundener Widerspruch gar zur Athetese: Agamemnon erklärt in der Diapeira des 2. Iliasbuches, die Griechen seien ihren Gegnern weit überlegen (119ff.) - sie verfügten mindestens über die zehnfache Stärke (123ff.), eine Einschätzung, die in Übereinstimmung mit Angaben an mehreren anderen Stellen der Ilias steht. Agamemnon fahrt fort, angesichts dieser Stärkeverhältnisse sei der von Zeus ge922 923 924 925 926

Siehe Con.-Nettleship 473; Austin zu 469. Siehe o. S. 300mitAnm. 801. Zum Topos 'Homer als Quelle alles Wissens' vgl. Hillgruber 1994, 5-35. Schol. [T] 2,128; [A] 8,56; [AbT] 15,407; [D] 2,122; femer Eustath. 190,38. Schol. [A] 8,562; [T] 8,562-3

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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botene ruhmlose Rückzug in die Heimat noch schändlicher. Dann jedoch erklärt er, die Trojaner verfügten über „viele" Bundesgenossen, die es den Griechen verwehrten, Ilion zu zerstören (130-133). - In den Scholien zu diesem Passus wird die Tilgung der letztgenannten vier Verse gefordert, da sie im Widerspruch zu den vorhergehenden Angaben Agamemnons stünden (Schol. [A] 2,130-3). An anderer Stelle rätseln die Interpreten über den Sinn der Angabe Homers, der Kampf zwischen Griechen und Trojanern um die Schiffe bleibe lange unentschieden (15,413 [=12,436]), wenn die ersteren den letzteren doch zahlenmäßig überlegen seien (Schol. [bT] 15,413: πώς ίσοι είσι τοσούτον πρότερον των Τρώων ύπερεχόντων; ή τάχα την στάσιν, ού την δύναμιν ...). Vergil dürften diese Probleme der Homerkritik kaum unbekannt geblieben sein und sein kritisches Bewußtsein bei der Übernahme solcher homerischer „Realien" geschärft haben; so ließe sich gut sein auffalliges Abweichen vom homerischen Modell - an das er sonst gerade in dieser Episode auch im Detail engen Anschluß sucht927 - in der Eingangsszene der NisusEuryalus-Episode erklären: Hier lagern sich die Rutuler als Belagerer um die Wachfeuer wie die Trojaner zu Ende des 8. Iliasbuches; Vergil nennt wie Homer ihre Zahl, übernimmt jedoch nicht die unrealistische Angabe bei Homer, die (den Rutulern der Aeneis als Belagerer entsprechenden) T r o j a n e r hätten als B e l a g e r e r tausend Feuerposten mit je fünfzig Mann (II. 8,562f.)928 aufgestellt, sondern nähert ihre Stärke derjenigen der G r i e c h e n (als der B e l a g e r t e n ) an, die bei Homer 7mal hundert Mann zwischen Mauer und Graben postieren (Ii. 9,85f. έ π τ ' έσαν ήγεμόνες φυλάκων, έκατόν δέ έκάστω / κοΰροι άιια στεΐγον'): bis Septem Rutuli muros qui milite servent / delecti,

ast illos centeni

quemque

seauuntur. 16lf. Er bewahrt also deutlich dieses homerische Motiv929, indem er es - geringfügig variiert930 - geschickt von den Belagerten auf die Belage-

927 928

929 930

Siehe S. 25ff. Zenodot wollte gar μΰρια lesen, was den Kommentatoren jedoch vollends zu weit ging: Schol. [A] 8,562: χίλι'] οτι Ζηνόδοτος γράφει „μΰρια,,. έπιφέρει δέ ,,έν δέ έκάστφ / είατο πεντήκοντα σέλα,, [8,562-3] ώστε γίνεσΟαι μυριάδας πεντήκοντα, έάν δέ Υραφήται χ ί λ ι α , πέντε μυριάδας, συμφώνως- δια παντός γαρ τους βαρβάρους έλάσσονας των 'Ελλήνων συνίστησιν. Dieses markiert den Beginn von Vergils 'Dolonie' (vgl. Dingel zu 161-167). Dingel (zu 161-167) verweist auf die Variation („bei Vergil sind [es] sogar 'zweimal sieben'") und erkennt hierin Jenen Zug ins Größere" (sc. der Rutuler gegenüber den homerischen Griechen), „der schon die Rede des Turnus gekennzeichnet hat"; doch ist die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Rutuler strukturell und zumal in dieser Situation nicht den Griechen, sondern den Trojanern der Ilias entsprechen.

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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rer überträgt und die Angabe, wieviel Mann die belagerten Aeneaden abstellen, fortläßt. Noch auffalliger aber ist die Übernahme der oben erwähnten und kritisierten Rede Agamemnons im Rahmen der - von Vergil sonst nicht imitierten - Diapeira des 2. Iliasbuches in einem veränderten Kontext: auch hier appelliert ein Führer (Camers, hinter dem sich in Wirklichkeit die Göttin Juturna verbirgt) an das Schamgefühl seiner Kämpfer, indem er auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber dem Gegner hinweist; insbesondere in dieser abschließenden - ermunternden - 'Aufrechnung' der Stärkeverhältnisse erinnert Vergil deutlich an die Feststellung des Atriden bei Homer: Aen. 12,229

II. 2,119 121 123

'non pudet, ο Rutuli, pro cunctis talibus unam obiectare animam? numerone an viribus aequi non sumus? en, omnes et Troes et Arcades hi sunt, fatalisque manus, infensa Etruria Turno: vix hostem. alterni si consrediamur, habemus (...'), vgl.

('...) αίσχρόν γαρ τόδε γ' έστι και έσσομένοισι πυϋέσδαι (...) μάγεσϋαι

(...) άνδράσι παυροτέροισι (...) εί περ γάρ κ' έθέλοιμεν 'Αχαιοί τε Τρωές τε, δρκια πιστά ταμόντες, άριϋμηΟήμεναι άμφω, Τρώας μεν λέξασϋαι έφέστιοι οσσοι εασιν, ήμεΐς δ' ές δεκάδας διακοσμηϋεΐμεν 'Αχαιοί, Τρώων δ' άνδρα έκαστοι έλοΐμεϋα οΐνοχοεύειν πολλαΐ κεν δεκάδες δευοΐατο οίνοχόοιο.

Doch hier sind es die - strukturell den homerischen Trojanern entsprechenden - Latiner, also die - in dieser Situation - A n g e g r i f f e n e n , die über einen solchen stärkemäßigen Vorteil verfugen: ein deutlicher Kontrast zu der Situation, die den Worten Agamemnons in der Diapeira zugrundeliegt. Vergils Schilderung ist demnach im Unterschied zu den Worten, die der Iliasdichter dem Griechenfuhrer in den Mund gelegt hatte, durchaus eindeutig und berücksichtigt damit möglicherweise die an ihrer Vorbildstelle in der Ilias geübte, aus der Realienerklärung hervorgegangene Kritik; vor allem steigert sie aber durch die auffallige kontrastierende Modifizierung dieses homerischen Motivs die Leistung der - den Griechen der Ilias entsprechenden - Aeneaden erheblich. Ein weiteres Beispiel für die mögliche Rezeption dieses Bereichs der Homerkommentierung durch Vergil: Homer hebt bekanntlich die Stärke der Helden, die einst um Troja kämpften, heraus, indem er sie 'zahlenmäßig' mit den (vergleichsweise kläglichen) Leistungen der „heute lebenden Menschen"

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oder - bei Helden, die durch besondere Kraft herausragen - mit denen der weniger ausgezeichneten Mitkämpfer vergleicht: So vermag etwa Diomedes, aber auch Hektar einen gewaltigen Felsbrocken emporzuheben, wie dies „heute" nicht bzw. kaum zwei Männer gemeinsam tun könnten (II. 5,302ff.; 12,447ff.; vgl. 20,285ff.); Achill ist gar in der Lage, als einziger alleine den Torriegel des Myrmidonenlagers zu öffnen, wozu sonst drei Griechen zugleich benötigt werden (II. 24,454ff.). - Das Scholion zu dieser letztgenannten Stelle stellt mit schon fast amüsantem Interesse eine ganz plausible Rechnung auf: wenn Diomedes' Kraft beim Steinwurf derjenigen zweier „heutiger" Menschen entspreche, Achill aber drei Griechen [seiner Zeit, wie Diomedes] gleichkomme, dann erkenne Homer dem Peliden eine wahrlich gewaltige Stärke zu: denn er müsse dann sechsmal so stark sein wie die „heutigen" Menschen: Schol. [bT] 24,456: μεγάλην τινά την Άχιλλέως ύπεροχήν εμφανίζει, εΐ γε ό Διομήδης ,,χερμάδιον λάβε χειρί, δ ού δύο άνδρε φέροιεν, οίοι νυν βροτοί είσιν" [vgl. 5,302-304], ό δέ Άχιλλεύς, δν τρεις "Ελληνες άνέωγον, τούτον μόνος άνέωγεν. ώς έοικεν ούν, έξαπλάσιον των νΟν έδύνατο, εΐγε οί μεν κατά τους αύτοΰ χρόνους προς δύο των νΰν ίσχύουσιν, αυτός δέ των τότε προς τρεις. Solche Zahlenspielereien zur Lösung von „Problemen" der Dichterexegese waren ein klassischer Gegenstand auch des römischen Grammatikunterrichts; so wird bei Gellius (3,10,11) breit über die Glaubwürdigkeit von Zahlen- und Verhältnisangaben, die die menschliche Körpergröße betreffen, etwa bei Herodot diskutiert und dabei auch das homerische Motiv der Überlegenheit der früheren Generationen einbezogen931. Erinnert sei auch an Senecas Klage über die (seiner Meinung nach irrelevanten) Themen des Grammatikunterrichts wie das Alter Achills und seines Gefährten Patroklos (epist. 88,6). Zweifellos war auch das römische Lesepublikum augusteischer Zeit mit homerischen 'Problemen' dieser Art vertraut. Nun stellt auch Vergil an einer zentralen Stelle der Aeneis in einer offenkundigen - und von seinen Interpreten erkannten932 - Anspielung auf Homer ein solches Zahlenspiel auf, in seiner Schilderung des letzten verzweifelten Versuchs des Turnus, den - wie sich dann endgültig zeigt - überlegenen Aeneas im Zweikampf mit einem Felsbrocken zu treffen (12,896ff). Formal imitiert Vergil hier - eher als andere ähnliche Steinwürfe der Ilias - den eben erwähnten des Diomedes: wie dieser den Aineias versucht auch Turnus 931

932

Vgl. auch Gell. 20,7,2, wo die verschiedenen Mythenversionen über die Zahl von Niobes Kindern behandelt werden. Serv. Aen. 12,896: Homeri totus hic locus est.

350

V. Worterklärung und Realienkommentierung

den Trojaner zu treffen (5,302ff.)933; im Hintergrund des Kampfes überhaupt steht darüber hinaus der Zweikampf zwischen dem Achill der Ilias, mit dem Turnus vom Dichter mehrfach sowohl direkt (Aen. 6,89; 9,742) als auch indirekt in Verbindung gebracht wurde934, und Hektor. Man beachte hierbei nun die Verarbeitung des homerischen Vergleichsmotivs: Aen. 12,896 899

necplura effatus sctxum circumspicit ingens saxum antiquum ingens, campo quodforte iacebat935 vix illum lecti bis sex cervice subirent,

qualia nunc hominumproducit

(...)

corpora tellus (...)

Oben wurde bereits ein Beispiel fur die fast spielerisch variierenden, dabei steigernden Bezugnahmen Vergils auf homerische Zahlenmotive genannt, die 2x7 Rutulerfuhrer mit je 100 Mann Gefolge der Aeneis (9,161) gegenüber den 7 Griechenführern mit je 100 Mann bei Homer (II. 9,85f.), denen sich weitere Steigerungen dieser Art, insbesondere in Form der Dopplung, zur Seite stellen lassen936. Daher ist nun zu fragen, ob die Wahl dieser Zahlenrelation 2x6 auf Zufall beruht oder hier ein - trotz der kleinen Variation noch erkennbarer und als erkennbar intendierter - Bezug nun über die homerische Vorbildstelle hinaus auf das Zahlenspiel des oben zitierten Scholions vorliegen könnte. Vergil hätte demnach in letzterem Fall die Kraft des Turnus nicht nur mit derjenigen des Diomedes verglichen (mit dem der Rutuler über diese Szene hinaus nichts gemein hat), sondern ihm eben auch die doppelte übermenschliche Kraft verliehen wie Homer nach Auffassung seiner antiken Erklärer (und wohl auch eines Teils des Aeneispublikums) dem stärksten Kämpfer der Ilias, Achill, mit dem er den Rutuler zuvor mehrfach ausdrücklich in Verbindung gebracht hatte. Für den „Torriegel" in den Lytra der Ilias, an dem Homer - in anderer Weise als bei den anderen Hel-

933

934 935

936

Zu Beginn des 12. Buches (52ff.) hatte Turnus zudem angekündigt, Aeneas werde im Entscheidungskampf mit ihm nicht wie einst (vor Troja) auf die Hilfe der Venus rechnen können: diese aber hatte ihn in II. 5,31 Iff. gerettet, nachdem er von Diomedes' Steinwurf getroffen worden war! Hierzu ausfuhrlich S. 192ff. Der F e l d stein (als Markierung der Besitzverhältnisse: 898 limes agro positus litem ut discerneret arvis) erinnert ferner an II. 21,404f. (Athene trifft Ares mit einem solchen Geschoß). Norden verweist zu Aen. 6,625f. auf die Überbietung der z e h n Zungen und Münder bei Homer (II. 2,489) durch die linguae centum ... oraque centum (625) bei Vergil (und schließlich t a u s e n d Zungen in Ov. fast. 2,119; Val. Fl. 6,37) und zu Aen. 6,578f. auf die Steigerung des homerischen τ ό σ σ ο ν ένερϋ' Ά ΐ δ ε ω δ σ ο ν ουρανός έστ' άπό γαίης (II. 8,16) durch tum Tartarus ipse / b i s patet in praeceps t a η t u m tenditque sub umbras / quant u s ad aetherium caeli suspectus Olympum (Aen. 6,577f.) - also wiederum eine Dopplung wie in Aen. 9,161.

V. Worterklärung und Realienkommentierung

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den beider Kriegsparteien, aber deutlich mit derselben Intention - Achills Stärke demonstriert, hatte der Aeneisdichter nun wirklich keine Verwendung, und so verknüpfte er möglicherweise den von Homer an dieser Stelle ausgeführten Gedanken der Stärke des Helden mit dem homerischen Steinwurf, der sich sehr gut in den Schlußkampf fügte. Das zitierte Scholion zeigt, daß in dem exzerpierten Homerkommentar beide Stellen der Ilias ursprünglich zusammengestellt waren - Vergil (wie sein gebildetes Publikum) könnte die „Rechnung" der Kritiker so denn auch gelesen haben. Wenn er demnach tatsächlich gerade in dieser Szene unmittelbar vor der Entscheidung des Schlußkampfs Turnus hinsichtlich seiner ungeheuren Kraft von seinem Publikum nicht nur mit dem Diomedes, sondern auch mit dem Achill der Ilias in Beziehung gesetzt wissen wollte, und zwar in einer so bedeutungsvollen, im Gegensatz zu der Szene aus den Lytra des 24. Iliasbuches dynamischen Situation, so bedeutet dies eine wesentliche Erhöhung des έναγώνιον (der 'Spannung', des 'Überraschungsmomentes') dieser Schilderung: noch einmal scheint der Verlauf des Kampfes wenigstens fur einen Moment offen, wenn Turnus' Kraft - nach dem i n d i r e k t e n Hinweis Vergils - die eines Achill noch übersteigt und wenn der Diomedes der Ilias mit seinem Steinwurf - der für die Schilderung von Turnus' Vorgehen d i r e k t e s Vorbild bei Homer i s t - e r f o l g r e i c h gewesen war937. Nur die psychologisch (bzw. in der Erzählung durch die Entsendung der Dira, 86Iff.) motivierte Schwäche des Turnus in der konkreten Situation führt ja dazu, daß der Wurf des Felsbrockens nicht die nötige Wucht erreicht, um den Gegner zu treffen. Erst als dem Rutuler demnach die übliche Kraft schwindet938 - sein 937

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Den von Vergil zweifellos bewußt geschaffenen Kontrast zwischen dem Erfolg des Diomedes gegen Aineais im 5. Iliasbuch und dem Mißerfolg des Turnus gegen denselben Kämpfer des 12. Aeneisbuches hebt Knauer zu Recht stark hervor (1964, 343. 348). Siehe auch Cova 1963, 62f. Der vergilische Zweikampf ist primär bekanntlich dem des 22. Iliasbuches nachgebildet; das Motiv des Steinwurfs, das dort allerdings fehlt, verbindet ihn jedoch noch mit dem (einzigen) anderen vergleichbaren Einzelkampf der Ilias, der zwischen Aias und abermals Hektor ausgetragen wird (II. 7,244ff; der Steinwurf in 264ff). Zu Beginn deutet Homer hier kurz die Furcht Hektars vor der Begegnung an (216ff), für den Kampf selbst aber bleibt dies ohne Bedeutung, denn beide Kämpfer erhalten die Unterstützung des Zeus (280), so daß er von den Herolden beider Seiten als unentschieden abgebrochen wird. Möglicherweise hat diese αγωνία Hektars vor dem Kampf (so die Umschreibung seines Zustandes in dem bT-Scholion zu 216) dem Aeneisdichter als Vorbild bzw. Anregung fur die lähmende Furcht gedient, die Turnus vor dem Zweikampf befallt (867ff. 905), als ihm klar wird, daß Jupiter ihn n i c h t u n t e r s t ü t z t , womit Vergil unmittelbar seine N i e d e r l a g e motiviert. Vergil hätte damit in kontrastierender Weise das homerische Motiv der Furcht Hektars, die im Zweikampf ohne Konsequenzen bleibt, weiterentwickelt. Der mögliche Zusammenhang zwischen der Furcht Hektars und der Furcht des Turnus ist bislang nicht bemerkt worden.

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V. Worterklärung und Realienkommentierung

Schicksal ist besiegelt ist der Ausgang des Kampfes nicht mehr zweifel939 haft : Turnus übernimmt nun endgültig die Rolle Hektors in der Ilias, die Vergil ihm strukturell vom Beginn der zweiten Aeneishälfte an zugewiesen hatte, die jedoch immer wieder durch explizite Hinweise auf eine Identifikation des Turnus mit dem Achill der Ilias in Frage gestellt worden war940. Vergil erhöht durch diese in dem Steinwurfmotiv liegende letzte Parallelisierung noch einmal die Aristie des Aeneas, der sich wirklich - der Ankündigung der Sibylle entsprechend (6,89) - gegen einen zweiten Achill zu behaupten vermag, dessen Vorgänger er in der Ilias noch unterlegen war941. Die Untersuchung der Bedeutung, die die Wort- und Realienkommentierung antiker, insbesondere alexandrinischer Homerphilologie für die Homerimitation in der Aeneis besessen hat, ergänzt das Bild, das sich namentlich in den beiden vorangegangenen Kapiteln ('Gleichnisse und Metaphorik' und 'Kritische Exegese') ergeben hat: In der Übernahme gelehrter Kommentierung erweist sich Vergil als 'poeta doctus', der die Ergebnisse der Homerphilologie insbesondere in der angemessenen Transformation von Sprache und Realien nutzbar zu machen wußte, wobei auch hier sehr häufig eine eigenständige Weiterentwicklung zu beobachten ist. Auch in der Realienkommentierung - in einem weiten Sinne - hat sich gezeigt, daß das Phänomen homerisch-vergilischer Intertextualität erst dann vollständig erfaßbar ist, wenn das z.T. rekonstruierbare Homerbild eines in dieser Form der Exegese schon im Grammatikunterricht geschulten Publikums berücksichtigt wird.

939

940 941

Angesichts dieser Überhöhung der (üblichen) Kraft des Rutulerfuhrers durch den Dichter mag sie nun indirekt am homerischen Achill gemessen und so zusätzlich gesteigert sein oder nicht - erscheint Horsfalls (1995) Bemerkung, „Turnus is never built up as an authentic unchallengeable warrior of the first rank" (21 Of.), unzutreffend. Siehe S. 192f. Vgl. Aen. 5,803ff.; 10,581.

VI. Schlußbemerkung Einen tieferen Einblick in die Dichtkunst Vergils zu gewinnen: Dies war das Ziel dieser Untersuchung, die auf diese Weise die bisherigen Erträge der Homer-Vergil-Forschung wie auch der Bemühungen um das Verständnis vergilischer imitatio und aemulatio überhaupt ein wenig bereichern sollte. Es konnten einige Indizien dafür benannt werden, daß alle Aspekte antiker Homerexegese - von der einfachen Worterklärung über die kritische Beurteilung einzelner Motive der epischen Handlung und die sorgfaltige Gleichnisdeutung bis hin zur ethischen Ausdeutung zentraler Gestalten wie ganzer Szenenkomplexe - vom Aeneisdichter in jeweils ganz unterschiedlicher Weise berücksichtigt worden sind: als Anregung, vor allem aber auch als Projektionsfläche eigener dichterischer Ideen und Konzepte, die einem an Homer geschulten, beobachtenden Publikum auf diese Weise besonders deutlich nahegebracht werden konnten. Ebenso haben sich einige Hinweise darauf ergeben, daß sein antikes Publikum diese Auseinandersetzung des Dichters nicht nur mit Homer, sondern genauer noch mit dem Homerbild seiner Zeit, das sich so in Umrissen rekonstruieren läßt, beobachtet und gewürdigt hat. Durch diese gleichsam historische, auf die Genese der Aeneis abzielende Perspektive ist vielleicht der Einblick in das Phänomen vergilischer Homerimitation und insbesondere auch das Verständnis einzelner Szenen, Gestalten und Leitgedanken der Aeneis ein wenig vertieft worden. Bereits das zu Beginn dieser Untersuchung dargelegte Bekenntnis zu dieser vergleichenden Vergilphilologie, die die Methodik dieser Arbeit bestimmt hat, sollte dem verhängnisvollen Eindruck entgegenwirken, solche Bemühungen - ungeachtet ihrer unbestreitbaren literarhistorischen Legitimation - verfolgten das Ziel, das Originäre vergilischer Dichtkunst herabzusetzen, womöglich ihre Abhängigkeit von einer zuweilen engherzig erscheinenden antiken Kommentierungstechnik zu erweisen. Am Schluß dieser Arbeit sei daher der zuversichtlichen Erwartung Ausdruck gegeben, daß die zurückliegende Analyse immer auch gezeigt hat, was der Dichter aus den oft guten und scharfsinnigen, aber eben auch schematischen Beobachtungen der antiken Homerkritiker gewonnen hat: Gerade hier dürfte sich die Eigenständigkeit Vergils als eines Dichters zeigen, der auch außerhalb der Homerexegese die gelehrten Bestrebungen des lebhaften literarischen Betriebs seiner Zeit nachweislich völlig geteilt und ihre Erträge genutzt hat, um sie dann

354

VI. Schlußbemerkung

im Rahmen eines 'agonalen Wettstreits' selbständig weiterzuentwickeln. Wer wie der Verfasser diese - hierin spezifisch antike - Originalität Vergils voll anerkennt und sich bewußt ist, daß diese Dichtkunst in ihrem Kern inkommensurabel ist und bleibt, mag es für reizvoll und bereichernd halten, ein wenig in die 'Schreibstube' des großen Dichters geblickt zu haben.

VII. Anhang: Auf dem Weg zu einem 'neuen Vergil' Während diese Dissertation entstand, hat Otto Zwierlein dem vergilischen Werk umfangreiche echtheitskritische Untersuchungen gewidmet, deren Veröffentlichung unmittelbar bevorsteht942. Aufgrund des zeitlichen Rahmens, der meinen Untersuchungen gesetzt war, war es mir nicht mehr möglich, die Ergebnisse Zwierleins in dieser Untersuchung in angemessener Form zu berücksichtigen und zu würdigen, und es konnte auch nicht in meiner Absicht liegen, ihnen an dieser Stelle bereits in irgendeiner Form vorzugreifen. Das Hauptergebnis seiner Untersuchungen, das Zwierlein auf eine Fülle sprachlicher und inhaltlicher Indizien stützen kann, berührt jedoch auch das Thema der vorliegenden Dissertation und besitzt so große Evidenz, daß ich ihnen wenigstens einige abschließende Bemerkungen widmen möchte. Für die Aeneis kann Zwierlein den Nachweis erbringen, daß das von Vergil unvollendet hinterlassene Werk wohl in tiberischer Zeit in überarbeiteter und erweiterter Form neu ediert wurde; der hierfür verantwortliche Redaktor war ohne Zweifel literarisch hochgebildet und selbst dichterisch tätig. Es scheint mir daher notwendig, wenigstens in Form eines kleinen Nachtrags und anhand weniger Beispiele der Frage nachzugehen, ob die Problemstellung und die Ergebnisse der von mir vorgelegten Dissertation prinzipiell etwas dazu beitragen können, das genuin Vergilische von dieser späteren Überarbeitungsschicht zu trennen, anders gewendet: ob möglicherweise schon Unterschiede zwischen Autor und Redaktor im Hinblick auf ihre Kenntnis, vor allem aber ihre Verarbeitung zeitgenössischer Homerexegese erkennbar sind. Soweit das Phänomen der Homerimitation in der Aeneis berührt wird, muß vorausgeschickt werden, daß die literarische Physiognomie des Bearbeiters recht deutlich herausgearbeitet werden kann: Wie Zwierlein zeigt, besaß er eine umfassende Kenntnis der klassischen lateinischen wie griechischen Literatur und war, was letzteren Bereich betrifft, über seine souveräne Beherrschung Homers hinaus mit der hellenistischen Literatur, des Apollonios ebenso wie des Kallimachos und Theokrits, vertraut. Ebenso ist seine Kenntnis gelehrter Dichterexegese vielfach zu beobachten (und nicht selten 942

O. Zwierlein, Die Ovid- und Vergil-Revisionen des Iulius Montanus in tiberischer Zeit. Band I: Prolegomena. Berlin-New York 1999.

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Motiv fiir seine Erweiterungen). Sein Verständnis insbesondere der homerischen Epen befähigte den dichtenden Redaktor nicht nur dazu, die vergilische Homerimitation - mit ihrer Tendenz zur Überbietung im Sinne von 'aemulatio' - zu erkennen und nachzuvollziehen, sondern hiervon ausgehend auch auszubauen: In der Ergänzung einer am homerischen Modell orientierten, auf dieses anspielenden Textpartie durch Verse, die zusätzliche Elemente der Vorbildszene aufgreifen, oder auch durch solche, die ein weiteres Vorbild aus Ilias oder Odyssee 'kontaminierend' in Erinnerung bringen, liegt, wie Zwierlein nachweist, ein wiederkehrendes Strukturmerkmal dieser Redaktion. Es verhält sich mit diesem dichtenden Bearbeiter demnach ganz ähnlich wie mit den flavischen Epikern, die, wie mehrfach in dieser Untersuchung gezeigt werden konnte, das hinter Aeneisversen stehende homerische Modell erkannten und zusammen mit seiner Nachgestaltung bei Vergil in ihren eigenen Imitationen verarbeiteten. Einige der im Verlauf dieser Untersuchung herangezogenen Aeneisverse, in denen die Adaptation eines homerischen Vorbildes und seiner antiken Ausdeutung nachgewiesen werden konnte, stehen in dem Verdacht, dieser späteren Überarbeitungsschicht anzugehören. Läßt man diese Hypothese gelten, so liegt zumal vor dem Hintergrund der literarischen Physiognomie des Bearbeiters der Schluß nahe, daß dieser ebenso wie vor ihm Vergil und mit ihm andere literarisch Tätige spätaugusteischer und tiberischer Zeit943 griechische Dichterexegese und hier vor allem Homerdeutungen kannte und aufgriff. Ich möchte abschließend an nur wenigen Beispielen vorfuhren, daß aus einigen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der späteren Bearbeitungsschicht stammenden Versen ein qualitativer Unterschied zu der Homerimitation, v.a. aber auch zu der Verarbeitung der Homerexegese in den genuin vergilischen Partien hervorzugehen scheint. Es hat sich gezeigt, daß Vergil in seiner Nachgestaltung homerischer Motive unter zusätzlicher Einbeziehung ihrer gelehrten Interpretationen mit expliziten Hinweisen auf sein Modell durchaus ökonomisch verfahren ist: Wenn er Dido etwa mit Nausikaa, Penelope oder Kalypso in Parallele brachte, so geschah dies allein durch indirekte Anspielungen, ohne daß jedoch vor dem Hintergrund der ethisch-typologischen Deutung dieser Frauengestalten zweifelhaft bleiben konnte, daß sie fur die Charakterisierung Didos Pate gestanden hatten und Vergil eine tiefere Deutung der Karthagoepisode zusätzlich vor diesem homerischen Hintergrund erschlossen wissen 943

Speziell für diese Epoche sei hier nochmals etwa an den dilettierenden Germanicus, der in seinen 'Aratea' hellenistische Aratkommentierung verarbeitet haben dürfte, und vor allem an Ovids sehr wahrscheinliche Kenntnis gelehrter Homerexegese erinnert, s.o. S. 14 Anm. 49.

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wollte. Ovid etwa oder Valerius Flaccus zeigen, daß diese indirekten Hinweise vom antiken Publikum der Aeneis erkannt wurden. Auch die Helenarolle Didos läßt Vergil durch strukturelle Anspielungen sehr deutlich werden: So entspricht, wie gezeigt, das Einwirken der Venus auf die pulcherrima Dido am Ende des 1. Aeneisbuches durch Amor jenem Aphrodites auf Helena im 3. Iliasbuch, das Schwanken Didos zu Beginn des 4. Buches konnte deutlich genug auf das entsprechende Schwanken Helenas zwischen έρως und αιδώς, wie es die antike Homerexegese hervorhob, zurückbezogen werden, Aeneas schließlich wird im 4. Aeneisbuch aus dem Munde des Jarbas als ein zweiter Paris bezeichnet, der mit Dido auch seinerseits eine Beute an sich bringe. Im überlieferten Aeneistext wird diese implizite Paralle Helena-Dido nun an einer Stelle zu einer expliziten aufgelöst: Dido erhält von Aeneas die Geschenke, die Helena mit nach Troja genommen hatte, und übernimmt damit, wie schon Servius bemerkt hat, die Rolle der adultera; die Echtheit eben dieser Verse (1,650-656) jedoch muß mit Zwierlein - aus hiervon unabhängigen inhaltlichen und sprachlichen Gründen - angezweifelt werden. - Ein ähnlicher Fall sei genannt: Ira und violentia, durch Liebe zu Lavinia forciert, verbinden den Turnus der Aeneis mit dem homerischen Achill, dessen μήνις von der ethischen Homerexegese erotisch gedeutet wurde. In dem Streit des Turnus mit Drances, der von ihm die Herausgabe Lavinias fordert, evoziert Vergil vor diesem Hintergrund und durch zusätzliche indirekte Hinweise in der Szene selbst eine deutliche Parallele zwischen Achill und dem Rutuleriuhrer. Der Name des griechischen Helden fallt zwar am Ende dieser Auseinandersetzung auch ausdrücklich, wird von Turnus aber auf seinen Gegner Aeneas bezogen (ll,438f.), was also dem strukturellen Verhältnis zwischen Ilias- und Aeneishandlung entspricht. Gerade mit dieser expliziten Gleichsetzung von Aeneas und Achill aus dem Mund des Rutulers konnte Vergil die 'innere' nicht-strukturelle, aber wesenhafte Achillnähe des Turnus noch einmal kontrastieren und so indirekt auf sie hindeuten, also, wie öfters, eine explizite äußere Parallele durch eine implizite innere unterlaufen944. Der ebenfalls der Turnusrede angehörende Vers 11,404 (nunc et Tydides et Larisaeus Achilles) wurde bereits von Kloucek als unecht ausgeschieden: In diesem Vers soll sich Turnus im Kontext der impliziten Signale nun s e l b s t ausdrücklich mit dem Peliden gleichsetzen, indem er die Furcht eines Achill vor Troja einer vermeintlichen eigenen vor Aeneas als ein Adynaton zur Seite stellt. Vergil hat zwar seinerseits Turnus diese Verbindung an einer viel früheren Stelle (9,742) herstellen lassen, ihm gerade in diesem Kontext aber sehr deutlich die

944

Siehe etwa S. 169 m. Anm. 479.

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H e k t o r r o l l e zugewiesen945 - wiederum ein subtiles, aber effektvolles Gegeneinander von direkten und indirekten Referenzen auf das Iliasgeschehen. Im 'concilium' des 11. Buches, dem Pendant zur homerischen Menis, ist durch den zweifelhaften Vers 404 demnach wie im 1. Buch eine von Vergil gegebene feinere, gleichwohl erkennbare Anspielung durch eine explizite aufgelöst worden, doch geriet der Bearbeiter in Konflikt zu dem genannten Kontrastierungsverfahren Vergils in dieser wie anderen Szenen. Diese beiden beispielhaften Fälle zeigen folgendes deutlich: Der Bearbeiter hat die Anspielungen Vergils auf das zeitgenössische Homerverständnis klar erkannt und es als reizvoll empfunden, die von Vergil nur angedeuteten Verbindungen noch stärker auszuziehen. Damit ist bereits eine Möglichkeit der Differenzierung erkennbar: sie liegt in der Art, wie mit Homerreminiszenzen und Homerdeutungen umgegangen wird - Vergil deutet in den beiden genannten Zusammenhängen an, der Bearbeiter gibt klarere Signale. Diese Tendenz zu einem gegenüber dem echten Vergil direkteren, etwas vergröberteren Zugriff auf gelehrte Homerkommentierung scheint sich auch dort zu zeigen, wo der Bearbeiter selbständig verfahren ist und nicht nur einen von Vergil bereits vorgegebenen homerischen Kontext durch Auflösung von Anspielungen oder Vervollständigung von Homerparallelen erweitert hat. Hierzu noch zwei Beispiele: Das Gleichnis von der Schlange und dem Wanderer, mit dem veranschaulicht wird, wie der Grieche Androgeos voller Schrecken erfaßt, daß er mitten unter seine trojanischen Gegner geraten ist, scheint, wie gezeigt946, sehr eng einem Gleichnis des 3. Iliasbuches nachgestaltet. Deutlicher als in allen anderen Aeneisgleichnissen ist hier eine Bezugnahme auf die antike Kommentierung des Iliasvorbildes zu erkennen, indem das typologisch gedeutete Tertium des Vergleichs aus den Scholien als Signal direkt aufgegriffen, fast übersetzt erscheint (etwa τό παράδοξον > improvisum). Auch diese Verse können, wie Zwierlein zeigt, aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen nicht dem ursprünglichen Aeneistext angehören. Für die Art der Homerrezeption in diesen Versen könnte damit der Befund lauten: Während Vergil die antike Exegese homerischer Modellgleichnisse, soweit diese auf die Beurteilung ihrer Proprietät abzielte, eher indirekt, durch die Verankerung des Gleichnisses in einem entsprechend ausgestalteten Kontext aufgegriffen hat - so etwa im Pferdegleichnis des 11. Buches947 hat sich der Bearbeiter in dem Schlangengleichnis des 2. Bu-

945 946 947

Siehe S. 193. Siehe S. 232. Siehe S. 18 Iff.

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ches deutlicher, aber auch punktueller auf das Deutungsmuster der Homergrammatik bezogen. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Verse Aen. ll,276f., in denen Diomedes von seinem im 5. Iliasbuch beschriebenen verblendeten Angriff auf Aphrodite berichten soll, deren Echtheit ich mit Zwierlein jedoch in Zweifel ziehe. Wie oben gezeigt, dürfte der Aussage Veneris violavi vulnere dextram eine Anspielung auf ein populäres Problem der antiken Homergrammatik, wie man sich den Angriff des Griechen genau vorzustellen habe, zugrundeliegen und eine der gelehrten Lösungen dargeboten sein. Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich unter den Beispielen, die ich innerhalb des Kapitels „Worterklärung und Realienkommentierung" behandelt habe, um die bei weitem unmittelbarste Anspielung auf solche Interpretamente gelehrter Homerexegese, andererseits bleibt sie, sieht man vom 'poeta doctus'Konzept ab, in der Ausgestaltung der Verse selbst weitgehend funktionslos. Man halte die (echten) Verse Aen. 7,456-462 daneben, in denen Vergil die Furie Allecto durch das Attribut ihrer Fackel - in einer sehr prägnanten Verbindung mit Referenzen auf andere, auch römische Vorstellungskreise - in Beziehung zu der Eris des 11. Iliasbuches mit ihrem τέρας πολέμοιο gesetzt hat: Vergil hat sich hier nicht mit der bloßen 'gelehrten' Reminiszenz begnügt, sondern das Problem der Homergrammatik, was das τέρας eigentlich bedeute, gestalterisch umgesetzt: die g e s a m t e Szene, in die das Detail der Fackel eingelegt ist, erscheint durch dieses 'gelehrte' Motiv in Verbindung gesetzt zur 'irrationalen' Auslösung der Kriegslust im homerischen Zusammenhang, womit Vergil einen Hinweis auf die tiefere Deutung seiner Szene gegeben hat. Wiederum erscheint die Adaptation der zeitgenössischen Homerexegese durch Vergil, anders als bei dem Bearbeiter, nicht verselbständigt, sondern funktional verankert. Ich muß es im Rahmen dieser Schlußbemerkung bei diesen Beispielen belassen; sie mögen zeigen, daß - wie jede Deutung des vergilischen Werkes - auch die Interpretation der Aeneis in ihrem Verhältnis zu den homerischen Epen und insbesondere zu ihrer antiken Exegese in gewissem Grade offen sein muß, solange die Überlieferungsfrage, wie Zwierlein zeigt, nicht abschließend beantwortet ist. Hier mag der Leser abschließend dazu ermuntert werden, die Ergebnisse philologischer Bemühungen um das tiefere Verständnis vergilischer 'imitatio' und 'aemulatio' - und nicht zuletzt auch die in dieser Dissertation vorgelegten Untersuchungen - in diesem Licht weiterer notwendiger Differenzierung zu sehen.

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IX. Indices 1) Stellen

Aischyl. Choeph. 205ff. Antisth. Od. 8 Apoll. Rhod. l,496ff.

278 A. 757

145

3,1259-1261

140ff. 113 A. 309 108 103 A. 270 186ff.

Apul. met. 1,12,3

130 A. 270

3,584ff. 3,843ff. 3,876-886

Aristot. eth. Nie. 1171b20ff. poet. 1460all-17 poet. 1460a35-37 poet. 1461a31-35

44 A. 128 301 146 308

Baeb. Ital. s. 11. Lat. Cie. Cluent. 130 div. 2,63 Mil. 2,5 Tusc. 2,21,48ff. Tusc. 4,49 Dion Chrys. 2,52 2,53 32,22f.

55,14-21 55,15f. 55,9 74,28

8 A. 31 320 8 A. 31 40 A. 119

Enn. ann. 3 Sk. ami. 288 ann. 535

6 36 A. 115 183, 186

Donat. (Ael.) s. Vita Verg. Donat. (Tib. Claud.) 1,128,13-15 Geo. 1,494-5-10 1,497,33-34 2,44,18-27 2,92,20-23 2,184,12-14 2,384,16 2,580,18-23 2,600,3-5

109 A. 294 282 282 289 251 A. 683 273 A. 739 313 A. 844 281 161

Eustath. 69 A. 167 94 69 156 180

78 30 67

370,16-19 610,1-3 610,10-11 612,37-42 613,2-5 785,29 817,25 911,17-20 920,60-64

77 A. 187 267 A. 722 267 A. 267 A. 267 A. 34, 144 A.

722 723 720 404 346 326 278

IX. Indices 1031,60 1216,27-33 1265,46-53 1266,15 1269,22 1281,5-7 1521,13 1535,2-4 1561,35f. 1584,48-59 Gell. 1,11,8-9 2,6,11 3,10,11 9,9,3 9,10 14,6,4

232 260 302 A. 806 305 A. 812 255 215 121 145 107 A. 285 139

78 144 349 2 A. 5 251 308

(Ps.) Herakl. Alleg. 17 28,6f. 69,2 69,7f. 70,2

121 A. 338 110 138 A. 386 139 84

Hes. Theog. 8Iff.

71 A. 170

Hor. carm. 2,4,3f. epist. 1,2,6-22 epist. 1,2,1 Iff. epist 1,2,15f. epist. 1,2,17-29 epist. l,15,23ff. epist. 2,2,4If. Horn. Ilias I,Iff. 1,112f. l,188ff. l,194ff.

198 8f. 198 198 83f. 115 A. 320 9

209 198 207 121

l,234ff. 1,353 1,470

367 207 A. 590 201 A. 574 338

2,23ff. 2,24 2,87-94 2,87f. 2,119-141 2,142-149 2,299 2,331 2,459-463 2,673f. 2,79 Iff.

149 34, 144, 153 66ff. 73 A. 179 346 67f. 93 93 79 203 269ff.

3,3-9 3,8f. 3,23-27 3,33-35 3,271-301 3,310ff. 3,390-418 3,390-429

77f. 79 55f. 233 297 298 276 110

4,86-124 4,93ff. 4,104 4,184ff. 4,193-212 4,21 Of. 4,212ff.

318ff. 279 319ff. 155f. 299 A. 799 160 298

5,4ff. 5,290ff. 5,302ff. 5,336ff. 5,613 5,835ff.

235ff. 320 349 342 338 A. 902 266f.

6,52ff. 6,297-311 6,321-331 6,407ff. 6,429f.

158 A. 442 344 A. 919 123 213f. 219 A. 621

368

IX. Indices

6,490ff. 6,506-511

173 183ff.

7,216ff. 7,244-273 7,345-380

351 A. 938 351 A. 938 203

8,170-183 8,497-541 8,5 62f.

165f. 164ff. 347

9,85f. 9,1 lOf. 9,186fF. 9,318f. 9,336f. 9,3 4 Of. 9,341ff. 9,664f.

164, 347 201 A. 574 197 201 A.574 199 202 200 201

10, Iff. 10,3ff. 10,17ff. 10,35ff. 10,53ff. 10,120ff. 10,204-217 10,222if. 10,303-332 10,472f.

27, 34 154 38f. 38 45 38f. 47 44 48 31

ll,10ff. 11,384-395

339, 341 223

12,200-250 12,397ff.

165ff. 325f.

13,71f. 13,136-143 13,754f.

277f. 174ff. 178

14,161-353 14,402-420

244ff. 320f.

15,26ff. 15,263-268 15,579

246 183ff. 228f.

15,585-589

228f.

16,83ff. 16,278-302 16,297f. 16,513-531 16,806ff. 16,852fF.

46 23 8f. 240 299 230 312f.

17,192ff. 17,322ff

60 270

18,4 18,23f. 18,33f. 18,165ff. 18,243-313 18,246ff. 18,486f.

309 A. 831 309 A. 831 216 271 A. 734 203f. 33 A. 109 132 A. 364

19,58ff. 19,140 19,295ff. 19,364fF. 19,400ff.

199 199 200 328f. 309 A. 831

20,164ff. 20,268-283 20,290-317 20,318ff. 20,3 88ff. 20,423f. 20,439

201 A. 575 307f. 263f. 193 314f. 178 A. 507 260

21,18 21,233 21,290 22,26ff. 22,38-130 22,136-225 22,15 8ff. 22,199f. 22,214-247 22,326ff. 22,35 9ff.

193 193 270 235 21 Of. 300ff. 304 305 A. 812 253f. 315f. 312f.

IX. Indices 22,395-515 22,412ff. 22,437-515 22,474

62 216 214ff. 215ff.

23,293ff. 23,758-777 23,853-881

42 290f. 293f.

24,163 ff. 24,454ff. 24,723ff.

214 349 219

Odyssee 1,148

338

3,5-74 3,36f. 3,236ff.

282ff. 285 336 A. 897

4,122

109

5,43ff. 5,47-115 5,118ff. 5,130 5,139f. 5,206ff. 5,219f. 5,269ff. 5,480f.

128 120ff. 129 129 129 129 129 148 336 A. 897

6,102-109 6,148ff. 6,187ff.

103f. 94 A. 241 99f.

7,28ff. 7,43ff. 7,31 Iff.

99f. lOlf. 286ff.

8,75ff. 8,248 8,267ff. 8,379 8,499ff.

136f. 223 136ff. 336 A. 897 136f.

9,3ff. 9,19f.

117f. 94 A. 241

10,172-177 10,190-193 10,286ff.

369 88ff. 88ff. 120

ll,489ff.

293

12,206-213

91f.

13,79f. 13,93-199 13,96-112

15 A. 54 146 102 A. 268

17,37

109

19,54 19,208ff.

109 127

21,350ff.

173

Scholien Ilias 1,194 1,200 1,349 1,470

121 A. 338 343 A. 916 200 A. 571 338

2,87 2,130-3 2,144 2,225 2,226 2,692 2,791

68 A. 166 347 67 210 A. 599 210 A. 599 46 270

3,2b 3,25-6 3,33 3,261-2 3,296 3,395

73 56 233 150 297 276

4,1 4,66 4,87 4,93 4,95 4,100

264 319 A. 859, 322 279 280 279 324

IX Indices

370 4,183 4,195 4,211-2 4,221 4,431 4,433 4,437 4,515

299 Α. 259 Α.

80 Α. 344 Α.

155 799 161 697 73 73 191 918

5,4 5,5 5,7 5,107-8 5,542 5,838-9

236f. 236 236 156 41 Α. 124 266

6,311 6,390 6,506 6,506-8 6,507 6,509 6,510

344 123 186 186 186 184 184, 189

7,44-5 7,192 7,212 7,213 7,216 7,226-7 7,306-7 8,7 8,39 8,182 8,218 8,498-9 8,515 8,523 8,535-7 8,538-9 8,542 8,557 9,132

254 166 180 180. 180, 351 Α. 938 92 73 74 344 Α. 918 52 Α. 137 151 92 166 166 166 166 73 239 200

9,186 10,3-4 10,11 10,12 10,13 10,17 10,35 10,68 10,122 10,123 10,204-6 10,206 10,211-2 10,223 10,258 10,303-8 10,319 10,323 10,324 10,328 10,332 10,339-40 10,341 10,474 10,503 10,509

200 144 Α. 150 30 Α. 101 30 Α. 101 28 28 39 45 39 39, 41 Α. 123 47 48 48 44 57 48 44 51 51 51 50 Α. 136 54 59 293 55 55

11,4 11,439

339 156

12,208 12,231 12,237-8 12,243 12,395 12,397-8

254 167 167 168 326 326

13,41 13,65 13,71-2 13,137 13,754

73 270, 277 278 175 Α. 496 178

14,136

279 Α. 759

IX. Indices 14,212 14,297 14,298 14,300 14,313 14,315 14,402

245 A. 245 A. 245 A. 245 A. 245 A. 245 A.

666 667 668 668 668 669 320

15,265 15,413 15,586a 15,586b 15,618

184 A. 518 347 229 229 178

16,83-96 16,129 16,299-300 16,320-2 16,530-1 16,793-804 16,800 16,854

46 46 238, 240 41 299 A. 798 254 63 A. 159 312

17,192 17,201 17,248

60 60, 63 33 A. 107

18,245-9

33 A. 109

19,365-8 19,366

328 329 A. 874

20,168 20,269-72 20,270 20,271-2 20,272 20,292 20,389 20,424 20,439

201 A. 308 A. 307 A. 307 A.

22,147-56 22,165 22,193 22,199-201

306 303 305 305 A. 812

575 822 819 819 307 264 314 A. 846 178 A. 507 260

371

22,201 22,205-07 22,231 22,328-9 22,329 22,359-60 22,393-4 22,474

303 302 253 316 316 312 92 215

23,94 23,295 23,772 23,857 23,865

41 A. 122

24,456

349

42 291 294 296

Scholien Odyssee 1,252 3,34 3,36 3,71 3,236 5,47 6,149 6,244 7,311 8,267 10,193 11,489 13,119

916 764 763 765 897 121 94 A. 241 107 A. 285 286 139 89 293 146

Hygin. fab. 243 fab. 257,2

134 A. 360 40 A. 119

11. Lat. 56fF. 70ff. 349-352 586 684ff. 698ff.

343 283 283 283 336

A. A. A. A. A.

205 197 159 197 32 A. 106 59

372 73 Of. 1058ff. Liv. Andr. fr. 11 Mor.

IX. Indices 32 216

fr. 22

336 A. 897 336 A. 897

Lucan. 6,205-207 7,216f. 7,332f. 7,470ff. 7,608ff. 7,613ff. 8,637-662 8,654fF. 8,661f. 9,254ff. 9,285ff. 9,319ff. 10,60ff.

330 82 82 323 317 A. 853 313 A. 844 219 219 219 70f. 70f. 71 110

Lucr. 1,3 Iff. 2,23ff.

252 115

Macr. sat.

l,24,6f. 5,2,6 5.2.15 5.3.16 5,3,18f. 5,4,3 5,9,5-11 5,10,1 5,ll,2f. 5,ll,5ff. 6,1,6

7,l,14f. Max. Tyr. 20,5 22,2

251 21 A. 76 24, 205 2 A. 5 102 A. 268 246 24 78 71 A. 172 91 3 A. 7 137f.

190 29

26,6

8 A. 31 29

30,3 Ov. ars 2,123-130 epist. 13,131 epist. 17,256 epist. 3,15 lb. 625ff. trist. 2,371f. trist. 3,5,35ff. trist. 4,l,15f. trist. 4,3,75f. trist. 5,4,25f.

130 A. 360 8 A. 30 124 199 A. 570 24 8 A. 30 229 198 126 A. 349 38 A. 117

Philod. col. VII 27sqq. p. 33 ed. Olivieri 77 A. 186 Plat. rep. 386c rep. 390a-b rep. 390b-c

293 117 245

Plin. nat. praef. 22

3 A. 7

Plut. Cato min. 44 mor. 19d mor. 19f mor. 26e mor. 27a-b mor. 29d mor. 29e-f mor. 93e mor. 482-483 mor. 739c-d

71 A. 170 320 139 A. 393 121 A. 338 107 A. 285 78 166 A. 468 40 A. 119 39 342

[Plut.] Vit. Horn.

2,85,2 2,101 2.129.1 2.135.2

68 139 121 156

IX. Indices 2,135,2-6 2,149,4f. 2,163,1 2,163,1-2 2,166,4 2,178,1 2,182, If. 2,185,3 2,186,1 2,213 2,214,7f.

127 77 8 83 68, 94 143 143 39 168 216 107, 198

Prop. 2,8,29ff. 2,9,9f. 2,21,13fF. 2,22a,29f. 2,34,65f. 3,2,1 Iff. 3,8,3 If.

199 199 130 199 2 A. 6 115 A. 320 124

Quint. Smyrn. 3,55 Iff.

199

Sen. epist. 88,6

41,349

Sen. rhet. suas. 3,7

2

Serv. ad Aen. 1,1 1,148 1,378 1,437 1,613 1,650 1,742 5,620 7,1 7,19 7,37 8,373 8,406

2 A. 5 69 94 A. 241 101 105 109 138 282 21 A. 76 121 209 A. 598 251 A. 684 251 A. 685

9,1 9,229 9,267 9,268 9,365 9,801 10,117 10,740 11,337 12,15 12,225 12,387 12,400 12,460 12,896

373 33 A.

313 A. 205 A. 259 A.

349 A.

24 109 52 289 59 243 243 844 586 697 281 158 161 319 932

Sil. 2,412ff. 3,166ff. 4,134f. 5,344-375 5,40 Iff. 7,25 3ff. 7,282ff. 7,308ff. 8,211-231 9,506ff. 15,18-130 16,19ff.

105 152f. 323 159f. 323 71 A. 171 43 43 273 A. 739 262 126 80 A. 191

Stat. silv. 4,4,35

198 A. 566

Theb. l,482ff. 2,157ff. 2,469-477 2,477 4,363-369 5,663 5,699ff. 6,768 6,93 8ff.

290 289 330 334 231 334 71 A. 171 334 262

374

IX.

7,608-619 8,25 9ff. 8,579 10,17fif. 10,262ff. 11,297 12,739f.

80 154 334 53f. 53f. 334 230

Suet. Aug. 89,2 Tib. 21,6

8 A. 31 8 A. 31

Val. Fl. 3,311-331 3,323f. 3,330f. 3,644ff. 3,667ff. 3,699f. 3,707ff. 3,714 5,297-328 5,302if. 5,341ff. 6,465ff. 6,63 Iff. 6,739ff.

219 A. 219 A. 219 A. 206 A. 206 A.

621 621 621 587 588 206 206, 207 A. 590 206 90f. 153f. 106 247 177 A. 506 266 A. 719

1,314-410 1,315-409 l,327ff. l,378ff. l,402ff. l,421ff. l,430ff. 1,437 l,453ff. 1,466-493 1,469-473 l,479ff. 1,494 1,498-503 1,637-741 1,650-656 l,650f. 1,724 1,742-746

99 275 275fF. 94 275f. lOOf. 71ff. 74 103 136 345 344 A. 919 103 103ff. 114ff. 357 109 338 13 Iff.

2,169ff. 2,171ff. 2,225ff. 2,29 If. 2,379-382 2,496fF. 2,594f.

344 344 344 126 234, 358 177 A. 506 121 A. 338

3,516 3,525f. 3,662ff.

132 A. 364 338 329f.

4,Iff. 4,55 4,86ff. 4,94-128 4,141 4,215ff. 4,23 8ff. 4,260-264 4,265ff. 4,276ff. 4,279f.

201 A. 575 110 74 247f. 181 A. 512 111,221 128 119ff. 152 275 275

Verg. Aen.

l,37ff.l l,65ff. 1,82 1,142 1,148-153 1,150 1,159-169 1,197-209 l,205f. 1,207 1,279ίϊ. 1,296 1,297-304

343 246 69 76 69ff. 76, 81 102 A. 268 87ff. 100 93 247 81 113

IX. 4,309f. 4,318 4,33 If. 4,345£f. 4,379ff. 4,438 4,448 4,560fF.

129 129 127 129 129 127 127 150, 152

5,210-242 5,318-338 5,334ff. 5,485-530 5,495ff. 5,618-659 5,620 5,620ff. 5,635f. 5,646ff. 5,657fF. 5,808ff. 5,864ff.

292f. 29 If. 42 294f, 322f. 273f. 277 A. 753 281 273 273f„ 277 274 309 152

6,89f. 6,413 6,434ff. 6,522

192 268 A. 724 293 15 A. 54

7,12ff. 7,25-36 7,3 7ff. 7,55 7,56 7,195-273 7,321 7,36 Iff. 7,42 Iff. 7,435-444 7,436ff. 7,446ff. 7,456 7,456-462 7,460

98 147 209 181,203 212f. 287f. 182 A. 514 182 A. 514 201 172f. 276 A. 749 273 273 340f. 81, 273

es

375

7,46 If. 7,464 7,528-530 7,537ff. 7,583ff. 7,586-590 7,594 7,620ff. 7,649f. 7,699-702 7,718f.

192ff. 81 76 338 A. 902 76 76 76 251 A. 683 203 78 76

8,26ff. 8,102-125 8,112-114 8,228ff. 8,370-406 8,530f. 8,612ff.

148 284f. 284 3 3 Off. 248 170 271 A. 734

9,6-17 9,123ff. 9,126-158 9,138ff. 9,141f. 9,161f. 9,168ff. 9,184 9,184-223 9,187 9,188 9,188ff. 9,224ff. 9,252ff. 9,312f. 9,316ff. 9,328 9,339-356 9,359-366 9,373 9,465-502 9,473-502 9,50 If.

27 Iff. 170 163ff. 20 Iff. 221 164, 347 32 55ff. 40ff. 49 35f. 3Iff., 43 33f., 148 51 50 3 If. 293 56ff. 57ff. 58 61f. 214 219 A. 621

376 9,556-562 9,598ff. 9,646-660 9,73 Iff.

IX. Indices 325ff.

11,376

205, 208

22 If.

ll,378ff.

206, 208

275

ll,396ff.

237 A. 653

11,404

208 357 206 A. 588

9,742

193

ll,428ff.

9,744ff.

261

ll,438f.

9,804

243

11,446-458

9,815f.

193

ll,467ff.

63

ll,477ff.

344 A. 919

10,159ίΤ.

148

10,215ff.

149

10,228f.

149

10,249f.

170

10,260-284

235ff.

10,264-266

78

11,486 11,492-497 ll,623ff. ll,694f. 11,809-815

208 79ff.

81 182ff. 81 306 23 Off.

10,271

311

12,4-8

201 A. 575

10,331f.

262

12,15

259 A. 697

10,482ff.

313f.

10,501f. 10,503ff.

63 f.

12,18-80 12,52f.

21 Of. 193, 264 A. 716

313ff.

12,56fF.

213

195f.

12,60ff.

211 A. 605

10,514ff.

265

12,70f.

10,606ff.

264

12,96ff.

296

10,633ff.

193

12,99f.

222

10,513-604

10,636ff.

258, 264ff.

12,101f.

197, 202

329

10,661

265

10,706-718 10,739ff.

330

12,187f.

168

313

12,216-266

298

296

12,216ff.

274

31 Of.

12,222ff.

280

31 If.

12,229-233

348

12,229f.

280

10,773ff. 10,776ff. 10,783ff. 10,843ff.

309 A. 831

12,175-215

298f.

10,860ff.

309

12,245ff.

10,882ff.

310

12,258-267

318

10,890-908

316

12,258ff.

274

11,217

209

ll,234-446a ll,276f.

203

ll,276fr. 11,296-301 1 l,336ff. ll,349f.

359 342f. 75f. 206 A. 587 209

258f., 274

12,266-279

324

12,266ff.

274

12,285ff.

298

12,289f. 12,311-323

322 324f.

12,318ff.

157f.

12,320fF.

261 A. 705

IX. Indices 12,346-352 12,384-400 12,391 12,400-429 12,41 Iff. 12,438ff. 12,460f. 12,468ff. 12,542ff. 12,587ff. 12,593-611 12,600 12,609ff. 12,632ff. 12,665-668 12,666ff. 12,668 12,684-690 12,688f. 12,693-762 12,699ff. 12,742-790

52 157ff. 299 Α. 799 298f. 262 126 318ff. 267 314 73 Α. 179 214ff. 219 214 275 174 202 197 174 177 Α. 506 303 178 300ff.

12,763ff. 12,766-790 12,766ff. 12,784f. 12,786f. 12,789ff. 12,867ff. 12,896ff. 12,905ff 12,940ff.

377 304 256ff. 306 268 262, 268 265 352 Α. 938 192, 349f. 305 Α. 812 158 Α. 442

eel. 6,3 Iff.

133

georg. 2,475ff. 2,506f. 4,346

133 116 137

Vita Verg. (Suet. Donat.) 21 44-46 46

21 Α. 76 2 Α. 4 2 Α. 5

2. Wörter άγνοια 28 Α. 93 ακίνητος και δυσπαθής 178 166 αλαζονεία 5 Α. 14, 7 Α. 28 αλληγορία άλογος/άλόγιστος 175, 189 άνοια 28, 44, 51, 223ff. 13 (το) άρμόττον (το) άτακτον και θορυβώδες 67 67, 223 αταξία αΰξησις 226 266, 268 αυτοπρόσωπος 150 αύτουργία 241 βιωτικώς 327, 343 Α. 919 γελοίος

(τδ) έναγώνιον 13, 226, 241, 293, 295, 350 ενάργεια 226, 241 έρως 190 ευσέβεια 95 Α. 242, 167, 169, 295 θόρυβος 223 λόγος 12 Iff. μαλθακία 156 μήνις 194, 221 οικονομία, προοικονομία 13, 284, 287 πάθη 121 πιθανότης, τό πιθανόν 12, 30 Α. 101, 241, 242, 263, 286, 302, 327, 345

378

IX. Indices

(τό) πρέπον 13, 108 Α. 289, 226, 242, 327 28, 32, 143 προνοια προσπάθεια 29, 73 (τό) ταμιεύεσΟαι 13, 294 ύπόνοια 5 φαντασία 235, 241 φιλαδελφία 39 amor aptum audax

190, 197 226 163, 284

dives fatum flducia fiiror

114, 120 76,93,169,310 35, 163, 224

55, 63, 66-82, 173f., 189, 95, 21, 224, 339 insania belli 197 ira 195 pius 94,310 pulcherrimus 104, 109, 181, 203

3. Sachen Allegorie, Allegorese 5 f , 96, 12 I f f , 139ff„ 242f., 244f., 249f., 260, 271 allusive imitation 10 Barbaren 28,34,66,73ff., 166ff., 75ff., 221 Erotik 42,96,98, 105, 113, 187, 190, 198, 276, 356 Gleichnisse 55f, 66ff„ 75ff., 103f., 125 A. 575, 153, 174ff., 182ff., 201, 225240, 252, 300, 303 A. 812, 329f, 336,357 Grammatikunterricht 3, 9, 18, 41, 112, 221ff, 342, 348, 351 Imitationstechnik kontaminierende Imitation 3, 11,20,70, 113, 153, 160,355 Kontrastimitation 11, 29, 30, 32, 38, 47, 50, 65, 0f., 138, 158f., 173, 241, 246f„ 260, 305,310,325,347

Konzentration 22, 65, 94, 97, 203, 220 Intertextualität 3 A. 11, 65 Intervention, göttliche 67, 69, 152, 252-281 Leitzitat 101 magnitudo animi 90,94 Menis 194 Motive, ethische Aufruhr 67 Belohnung 5If. Beutegier 57ff. Bruderliebe 39 Freundschaft 37ff. Frömmigkeit 73, 167 Gattentreue 111 Gebet 291f., 294ff. Gefahr 49 Gehorsam 68,73 Geschrei 78 Luxus 96,222ff. Maßlosigkeit 55ff., 62, 166 Ordnung 68,73 Prahlerei 166 Ruhmbegierde 5 5 ff.

IX. Indices Selbstbeherrschung Staunen Überheblichkeit

155ff.

Patroklie

lOOff.

poetadoctus 16, 141, 249, 333, 342, 351

29, 35, 44, 62, 166

Undiszipliniertheit

31,35,67

Unverstand

28, 5If.

Vaterlandsliebe

168

Verführung, erotische Vermessenheit

96 28,32

Wachsamkeit

32, 143

Weingenuß

31,35

Wohlleben

96,222ff.

60ff.

Rhetorikunterricht

3,9

Sympatheia

313f.

Symposienliteratur

340

Tragik

216ff.

Typologie

51 f.

Vorausschau

Zurückhaltung

379

7, 23, 98, 125, 131, 220, 227, 232, 240, 355 Vergilkritik

16

Verhältnis Aeneis-Ilias/Odyssee Waffenraub

19 60ff.

51 f., 166

4. Personen Zu den antiken Autoren und Kommentatoren s. auch Stellenindex Anaxagoras

5

Antisthenes

5, 83, 144

Apollonios

98, 106ff.

Krates

6

Livius Andronicus Lucan

13,335 11

Lukrez

6

6, 89, 107, 150, 166, 184, 226,

Macrob

15

265, 268, 282, 285, 304, 307,

Maximos von Tyros

327f.

Moschos

Aristarch

Aristoteles Asconius Pedianus Augustus

12, 29, 143, 300 2, 15 8 A. 31

2 A. 4, 15 A. 55

Perellius Faustus

2A.4 9, 77, 143f., 196

Philodem

2 A. 4

Piaton

Chrysipp

6, 150

Plutarch

Cornutus Dion Chrysostomos Ennius Euripides

14 A. 49, 84 6

108

Octavius Avitus

Carvilius Pictor Cicero

17 A. 68

Ps. Plutarch Porphyrios

5 17 A. 68 16f. 6

17 A. 68

Probus

104

6, 13, 183, 336, 338 106

Seneca

84

Servius

14f.

Eustathios

16

Silius Italicus

11

Gellius

15

Statius

11

Germanicus

14 A. 49

Ps. Heraklit Horaz

16 8, 14

Theagenes von Rhegion

4

Tiberius Claudius Donatus

15

Valerius Flaccus

11

IX. Indices

380 (Μ. Terentius) Varro (P. Terentius) Varro Atacinus Xenophanes

7 A. 25 14 A. 49 5 A. 15

Zenodot Zenon Zoilos

14 A. 51 84 11

5. Figuren des Epos Achill 7, 20, 38, 45, 166 Α. 468, 192210, 220, 235, 299ff., 306ff„ 327ff., 348ff. Aeneas 19, 20, 38, 82-161, 168f., 173ff., 18If., 220, 233ff., 254ff, 274f„ 286ff„ 302ff., 306ff., 323, 33 If., 348f., Agamemnon Aias

28, 38, 143, 155ff., 197ff., 220 166, 179ff.

Allecto 171f., 272, 338 Amata 210-220 Andromache 7,210-220 Aphrodite 136fF., 243, 251, 275 Apollon 252,274 Ares 136ff, 251 Ascanius 52, 168 Athene 120, 252ff., 259f., 265ff, 317ff., 342f. s. auch Minerva, Pallas Briseis 197ff. Cacus 329fF. Chryseis 197ff. Circe 147 s. auch Kirke Dido 98-143, 181 A. 512, 201, 209 Diomedes 40, 44, 54, 156, 223, 234, 348ff. Dolon 44ff., 5Iff. Drances Eris

203ff. 338f.

Euryalus 23-65 Hektar 7, 20, 38, 48, 60, 122ff., 161-181, 21 Off., 220ff., 268ff., 299ff., 319f., 350 Helena 7, 109ff., 122ff., 181f. 275 Hera 243 Hercules 329ff. Hermes 120ff. Iris 268ff., 280 Jopas 131-143 Juno 245ff., 257f., 260f., 263ff., 317 Jupiter 245ff. Juturna 255ff., 266f., 273f., 277f., 317ff. Kalypso 95ff., 112f, 120ff., 128ff. Kirke 95ff., 112ff, 120ff. s. auch Circe Lavinia 164, 181f., 197, 211 A. 605, 287f. Menelaos 20, 38, 48, 155ff, 164, 202, 220 Mercur 120ff. Mezentius 170, 308ff., 329ff. Minerva 342f. s. auch Athene, Pallas Nausikaa 95-109, 112, 117, 130f. 276, 285f. Nestor 47 Nisus 23-65 Odysseus 20, 40, 44, 54, 67, 83-154, 156, 220, 276, 285f.

IX. Indices Pallas (Göttin) s. auch Athene, Minerva Pallas (Euanders Sohn) Pandaros

312f. 38, 283 317ff.

Paris 11 If., 123ff., 171, 181-191, 203, 220, 223 Patroklos Penelope Phäaken Polyphem

38, 45, 237 109ff. 95ff., 115ff., 146f., 223 328ff.

Sibylle Telemach Thersites Tolumnius

381 19 21 204 317ff.

Turnus 19, 35, 38, 161-220, 210ff, 221ff., 254ff., 270ff., 274, 302ff., 312f., 328ff., 339, 348f. Venus 246ff, 255f., 261, 267f., 274f. Volcens 38 Vulcanus Zeus

247ff. 243ff., 253