Vergangenheitsverhältnisse: Ein Korrektiv zum Paradigma des »kollektiven Gedächtnisses« mittels Walter Benjamins Erfahrungstheorie 9783839439050

The theory of "collective memory" and its idea of identity is critically analyzed and complemented by means of

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Vergangenheitsverhältnisse: Ein Korrektiv zum Paradigma des »kollektiven Gedächtnisses« mittels Walter Benjamins Erfahrungstheorie
 9783839439050

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Das ›kollektive Gedächtnis‹
1. Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann
2. Identität als Gedächtnisfunktion
3. Ansätze zu einem Korrektiv
II. Walter Benjamins Erfahrungstheorie
1. Erfahrung, Gedächtnis und Erinnerung
2. Das Vergessen(e)
3. Die Dialektik nicht-entfremdeter Erfahrung
4. Folgerungen
Schluss
Literaturverzeichnis
Danksagung

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Felix Denschlag Vergangenheitsverhältnisse

Edition Moderne Postmoderne

Felix Denschlag (Dr. phil.), geb. 1979, hat Philosophie, Soziologie und Evangelische Theologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der Rijksuniversiteit Groningen studiert. Er lebt und arbeitet in Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie und Ästhetik, mit den besonderen Interessen an Erinnerungskultur, Kritischer Theorie sowie Überlegungen zu Lachen und Schimpfen.

Felix Denschlag

Vergangenheitsverhältnisse Ein Korrektiv zum Paradigma des »kollektiven Gedächtnisses« mittels Walter Benjamins Erfahrungstheorie

Zugleich Dissertation, Universität Oldenburg, 2016

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Inhalt

Einleitung | 9

I. DAS ›KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS ‹ |

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1. Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann | 21

1.1 Das ›kollektive Gedächtnis‹ nach Halbwachs | 21 1.1.1 Soziale ›Rahmung‹ des individuellen Gedächtnisses | 23 1.1.2 Gruppenbezug der ›Rahmen‹ des Gedächtnisses | 24 1.1.3 (Re-)Konstruktivität des Gedächtnisses | 27 1.2 Das ›kulturelle Gedächtnis‹ nach Assmann/Assmann | 29 1.2.1 ›Kommunikatives‹ und ›kulturelles Gedächtnis‹ | 29 1.2.2 Medialität des ›kulturellen Gedächtnisses‹ | 35 1.2.3 ›Funktionsgedächtnis‹ und ›Speichergedächtnis‹ | 40 2. Identität als Gedächtnisfunktion | 43

2.1 Identität bei Halbwachs und Assmann/Assmann | 44 2.1.1 Identität im Schritt von Halbwachs zu Assmann/Assmann | 45 2.1.2 Die kollektive Dimension des ›kollektiven Gedächtnisses‹ | 50 2.1.3 Das ›kulturelle Gedächtnis‹ als Identitätsspeicher | 54 2.2 Identität als Erzählung | 60 2.2.1 Der Begriff der Person | 62 2.2.2 Lebensgeschichte in der Ordnung der Erzählung | 65 2.2.3 Erzählung der ›kollektiven Identität‹ | 71 3. Ansätze zu einem Korrektiv | 75

II. W ALTER BENJAMINS ERFAHRUNGSTHEORIE |

91

1. Erfahrung, Gedächtnis und Erinnerung | 99

1.1 Henri Bergsons Gedächtnistheorie | 101 1.1.1 Das Phänomen der ›Dauer‹ | 102 1.1.2 Wahrnehmung und Erinnerung | 105 1.1.3 Zwei Formen des Gedächtnisses | 107 1.1.4 Bergson und die These vom modernen Erfahrungsverfall | 110 1.2 Marcel Prousts Konzeption unwillkürlicher Erinnerung | 113 1.2.1 Willkürliches Gedächtnis und unwillkürliche Erinnerung | 114 1.2.2 Proust und die These vom modernen Erfahrungsverfall | 121 1.3 Sigmund Freuds Modell des psychischen Apparats | 126 1.3.1 Bewusstsein und Gedächtnis | 127 1.3.2 Theodor Reiks Weiterentwicklung des Modells | 132 1.3.3 Freud und die These vom modernen Erfahrungsverfall | 133 2. Das Vergessen(e) | 141

2.1 Vergessen als Voraussetzung unwillkürlicher Erinnerung | 143 2.1.1 Vergessen und unwillkürliche Erinnerung | 144 2.1.2 Das ›bucklichte Männlein‹ | 147 2.1.3 Vergessen als Entstellung | 150 2.1.4 ›Episches‹ und ›reflektorisches‹ Vergessen | 153 2.2 Das Vergessene in der Geschichte | 156 2.2.1 Das ›kollektive Unbewusste‹ | 158 2.2.2 Benjamins Kritik am Historismus | 163 2.2.3 Eine diskontinuierliche Geschichte | 168 2.3 Vergessen als Verdinglichung | 173 2.3.1 Verdinglichung bei Marx und Lukács | 174 2.3.2 ›Schlechte‹ und ›gute‹ Verdinglichung | 179

3. Die Dialektik nicht-entfremdeter Erfahrung | 191

3.1 Die Erfahrung der ›Aura‹ | 192 3.1.1 ›Aura‹ als Erfahrung einer Ferne | 195 3.1.2 ›Aura‹ als Erfahrung einer Blickerwiderung | 202 3.1.3 Erfahrung der ›Aura‹ in der Erinnerung | 207 3.1.4 Dialektik der Erfahrung der ›Aura‹ | 211 3.2 Schöpferische Unordnung: Der Sammler | 214 3.2.1 Der Sammler als paradigmatische Figur | 216 3.2.2 Der ›rechte‹ Sammler | 218 3.2.3 Das Horten von Kulturgütern: Die ›Kulturgeschichte‹ | 222 3.2.4 Der Sammler und der destruktive Charakter | 228 4. Folgerungen | 233 Schluss | 251 Literaturverzeichnis | 261 Danksagung | 289

Einleitung

Die menschliche Identität wird in denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit ihr als einem zentralen Gegenstand befassen, untrennbar mit dem Gedächtnis verknüpft. In einem Buch zur Psychologie des Gedächtnisses heißt es: »Wir sind, wer wir sind, weil wir uns an das erinnern können, was wir gedacht haben. [Wir] verdanken […] jeden Gedanken, den wir haben, jedes Wort, das wir sprechen, jede Handlung, die wir ausführen – sogar unser Gefühl für uns selbst und unserer Verbundenheit mit anderen –, unserem Gedächtnis, der Fähigkeit unseres Gehirns, unsere Erfahrungen aufzuzeichnen und zu speichern. Erinnerungen sind der Kitt, der unser geistiges Leben zusammenhält, das Gerüst, das unsere persönliche Geschichte trägt, und sie sind es, die uns ermöglichen, im Laufe des Lebens zu wachsen und uns zu verändern.« (Squire/ Kandel 2009: IX)1

Dieses Zitat macht deutlich, was unabhängig von der jeweiligen disziplinspezifischen Perspektive im Mittelpunkt der Verwendung des Gedächtnisbegriffs steht: Es geht darum, dass etwas im Gedächtnis ›gespeichert‹ wird, das als ein die Zeit Überdauerndes die Identität der Person ausmacht. Diese Vorstellung tritt in besonderer Weise in Bezug auf den Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zutage, der in der kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung und in der Geschichtspolitik paradigmatisch geworden ist. Er wurde in den 1920er Jahren vom Soziologen Maurice Halbwachs eingeführt, der seinen Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in drei Schriften entfaltet: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925; Halbwachs 1985); Das kollektive Gedächtnis (1939; Halbwachs 1967) und Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (1941; Halb-

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Hervorhebungen in Zitaten werden, wo nicht anders gekennzeichnet, immer aus dem Original übernommen.

10 | V ERGANGENHEITSVERHÄLTNISSE

wachs 2003). Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff seit Ende der 1980er Jahre durch Jan und Aleida Assmann weiterentwickelt; die grundlegenden Werke sind Jan Assmanns Das kulturelle Gedächtnis (1992; J. Assmann 2007) und Aleida Assmanns Erinnerungsräume (1999; A. Assmann 2009). Der Begriff bezeichnet zum einen die Annahme, dass die Prozesse des individuellen Gedächtnisses der Vermittlung durch eine intersubjektive Praxis bedürfen. Zum anderen steht er dafür, dass menschliche Kollektive sich mithilfe von Medien auf eine gemeinsame Vergangenheit beziehen. Auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene wird dem ›kollektiven Gedächtnis‹ eine wichtige Funktion für die Identität des Gedächtnissubjekts im Sinne einer autobiografischen Kontinuität zugeschrieben. Besonders Jan und Aleida Assmann stellen die identitätsstiftende und -kontinuierende Funktion für die Vergegenwärtigung der gemeinsamen Vergangenheit eines Kollektivs in den Mittelpunkt ihres Interesses. Das Gedächtnis nimmt in ihrer Konzeption vor allem die Funktion der Herstellung und Bewahrung einer ›kollektiven Identität‹ ein. Die Begriffe ›Gedächtnis‹ und ›Identität‹ werden bei ihnen zu nahezu austauschbaren Größen.2 In der vorliegenden Arbeit wird die Annahme, dass dem Gedächtnis für die Konstitution von Identität eine zentrale Bedeutung zukommt, nicht grundlegend infrage gestellt. Ebenso wenig wird bezweifelt, dass die menschlichen Kollektive, in die ein Individuum eingebunden ist, für diesen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Die identitätskonstituierende Funktion des Gedächtnisses wird jedoch einer genaueren Analyse unterzogen, da der Gedächtnisbegriff nicht vollständig mit dem Identitätsbegriff gleichgesetzt werden darf, wenn diese Annahmen einen nachvollziehbaren Sinn behalten sollen. Aus diesem Grund wird danach gefragt, inwieweit die menschliche Identität durch das Gedächtnis im Sinne eines ›Speichers‹ von Inhalten bestimmt werden kann. Eine diesbezüglich zentrale Annahme lautet, dass die Vorstellung einer gänzlich auf der Speicherleistung des Gedächtnisses beruhenden Identität zu kritisieren ist, da Identität hier als ein statischer Gegenstand vorgestellt wird.

2

Konnte Halbwachs in Das kollektive Gedächtnis noch schreiben, man sei »noch nicht daran gewöhnt, vom Gedächtnis einer Gruppe zu sprechen« (Halbwachs 1967: 34), so stehen die Dinge heute anders: Aleida Assmann erklärt das Gedächtnis zum »Leitbegriff der Kulturwissenschaften« (A. Assmann 2002). Pierre Nora spricht vom »Zeitalter des Gedenkens« (Nora 2005a) und Etienne François behauptet sogar, dass unter dem Begriff des Gedächtnisses heute »in erster Linie und vor allem das kollektive Gedächtnis« verstanden wird, »und dieses kollektive Gedächtnis wird als konstitutiv für die Identität einer größeren Gemeinschaft betrachtet« (François 2012: 164).

E INLEITUNG

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Eine sich in praktischen Lebensvollzügen und Beziehungen ereignende Identität geht nicht im ›Speichern‹ von Gedächtnisinhalten auf. Sie beruht auf einer Subjektivität, die durch vielfältige Selbst- und Weltbezüge bestimmt wird, wobei dem Verhältnis zur eigenen Vergangenheit eine zentrale Bedeutung zukommt. Aus diesem Grund ist in der vorliegenden Arbeit danach zu fragen, wie der Gedächtnisbegriff einerseits beschränkt und andererseits ergänzt werden muss, um einer Identität gerecht zu werden, die kein Ding ist, sondern Ausdruck des menschlichen Lebens. Zentrale Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang der Begriff der Erinnerung, der im Unterschied zum ›Speicher‹ des Gedächtnisses eine gegenwärtige Aktualisierung umfasst. Für ein angemessenes Verständnis menschlicher Identität ist darum der Gedächtnisbegriff einerseits vom Begriff der Erinnerung zu unterscheiden und andererseits mit ihm in Beziehung zu setzen. Außerdem ist zu klären, welche Rolle das Vergessen in diesem Verhältnis spielt: Ist es der auf Gedächtnis bzw. Erinnerung beruhenden Identität entgegengesetzt oder vielmehr ein notwendiger Teil von ihr? Durch diese Überlegungen soll ein grundlegendes Verständnis der Begriffe Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in Bezug auf die menschliche Identität gewonnen werden. Das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird in der vorliegenden Arbeit mit einem zunächst strikt gegensätzlich erscheinenden theoretischen Ansatz verbunden, der in der Tradition der frühen Kritischen Theorie zu verorten ist.3 In dieser Theorie ist die Erinnerung sowohl als individuelles Vermögen wie auch als kollektives Geschichtsbewusstsein von Bedeutung, da durch sie eine Vorstellung vom Möglichen und von einer Veränderung des Bestehenden zu gewinnen ist, die dazu befähigt, sich in die Zukunft zu entwerfen (vgl. Haug 1997: 720). Erinnerung leistet eine Antizipation der Möglichkeiten des gegenwärtig Unmöglichen, weshalb sie in der älteren Kritischen Theorie als kritische Kraft eine zentrale Stellung einnimmt. Damit bietet sie eine vom Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ deutlich unterschiedene Perspektive, da dieses vor allem konservative Funktionen übernimmt, insofern es in erster Linie eine statische Bewahrung identitätskonstitutiver Inhalte gewährleisten soll. Durch die Erfahrung des Erinnerns – die die Erfahrung eines Neuen ist – wird aus der Perspektive des ›kollektiven Gedächtnisses‹ eine zu bewahrende Identität bedroht.

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Mit der ›frühen Kritischen Theorie‹ wird die marxistisch geprägte Forschergruppe bezeichnet, die sich um das Frankfurter Institut für Sozialforschung und die 1932-1941 in dessen Namen von Max Horkheimer herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung gruppiert. Horkheimer stellt die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Position der Kritischen Theorie der auf Descartes zurückgehenden ›traditionellen Theorie‹ gegenüber.

12 | V ERGANGENHEITSVERHÄLTNISSE

Unter den Vertretern der frühen Kritischen Theorie nimmt die Frage nach der identitätskonstituierenden Funktion und nach den sozialen Voraussetzungen von Gedächtnis und Erinnerung besonders bei Walter Benjamin in vielen Arbeiten eine wichtige Stellung ein (vgl. Schöttker 2000: 276f.): Geht es in seinem Essay Zum Bilde Prousts (1929; II, 310-324), in der Berliner Chronik (1932; VI, 465519) und in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1932-1934; IV, 235304; VII, 385-433) eher um Aspekte des individuellen Erinnerns, so gehen die Aufsätze Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages (1934; II, 409-438) und Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936; II, 438-465) von der individuellen zur kollektiven Ebene des Erinnerns über, die in den späteren Abhandlungen wie in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936; I, 431-469; I, 471-508; VII, 350-384) und in Über einige Motive bei Baudelaire (1939; I, 605-653) im Vordergrund steht. Die Parallelisierung des individuellen Erinnerns mit der Geschichtserfahrung wird im Passagen-Werk (1927-1929 und 1934-1940; V) und in Über den Begriff der Geschichte (1940; I, 691-704) zur Grundlage einer antihistoristischen Geschichtskonzeption (vgl. Schöttker 2000: 279; Schöttker 1999: 222). Benjamin behandelt das Problem von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in erster Linie im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff und Phänomen der Erfahrung als Grundlage menschlicher Identität: Er beabsichtigt zu zeigen, inwieweit sich die Struktur der Erfahrung im modernen Leben verändert. Mit der beginnenden industriellen Warenproduktion und der Auflösung der traditionellen handwerklichen Lebenswelt vollzieht sich Benjamin zufolge im 19. Jahrhundert in allen Lebensbereichen eine »ungeheure Intensivierung des Lebenstempos« (V, 497)4 sowie die »Simultaneität, diese Grundlage des neuen Lebensstiles« (V, 498). Vielfältige Phänomene technischer Beschleunigung rufen eine schockförmige und zerstreute Wahrnehmung hervor. Infolgedessen bilden die Subjekte Reaktionsformen aus, die eine gesteigerte instrumentelle Aufmerksamkeit erfordern und die Erinnerung als Bedingung gelingender Selbst- und Weltverhältnisse – und damit eine erfüllte, weil auf Erfahrung bezogene Identität – verkümmern lassen.5 Denn die Dinge und Menschen der Umgebung gewinnen

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Zitate aus Benjamins Gesammelten Schriften (Benjamin 1972-1989) und Gesammelten Briefen (Benjamin 1995-2000) werden mit der Angabe von Band und Seitenzahl nachgewiesen. Die Bände der Schriften werden mit römischen und die der Briefe mit arabischen Ziffern gezählt. Im Literaturverzeichnis sind sämtliche angeführte Schriften einzeln aufgeführt.

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Der Soziologe Hartmut Rosa bezieht sich für seine beschleunigungstheoretischen Ausführungen und seine darauf aufbauenden Versuche einer Neubegründung der Kri-

E INLEITUNG

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ihre Bedeutung für das Leben und die Konstitution einer persönlichen Identität erst in der Transformation der Erlebnisse in Erfahrung durch die Erinnerung in ihrer selbstbezüglichen Struktur des ›Zurückkommens auf‹, da in ihr etwas als Eigenes erkannt und angeeignet wird: Erinnern ist grundsätzlich reflexiv verfasst, wie Paul Ricœur ausführt. Sich an etwas zu erinnern heißt aus diesem Grund auch, sich seiner selbst zu erinnern (vgl. Ricœur 2004: 21).6 Benjamin untersucht sowohl die Erfahrung der eigenen Lebenszeit als retrospektiver Geschichte, also das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, das im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, als auch die sozial vermittelte Erfahrung des Zeiterlebens in der Gegenwart, das einen wesentlichen Einfluss auf das Vergangenheitsverhältnis ausübt. Für die Rekonstruktion von Benjamins Theorie kommt dem auf Karl Marx zurückgehenden Begriff der Entfremdung als Gegenbegriff zu einer erfüllten und erfahrungsgesättigten Identität eine zentrale Bedeutung zu. ›Entfremdung‹ bezeichnet bei Marx die Negation der Produktivität, mit der der Mensch sich die Welt aneignet. Da die Bedingungen einer gelingenden Aneignung gestört sind, bleibt die Welt auch in ihren vom Menschen selbst geschaffenen Teilen dem Subjekt fremd, was sich auf die objektive, die soziale und die subjektive Welt erstreckt (vgl. Marx 1974: 510ff.; Quante 2009: 233ff.; Jaeggi 2005: 31ff.; Fromm 1981: 368). Rahel Jaeggi bestimmt Entfremdung im Anschluss an Marx entsprechend als eine Störung in der Weltaneignung: Die Aneignung der Welt als Resultat der eigenen Tätigkeit gelingt nicht. Aneignung als das Vermögen, sich das Leben, das man führt, und die Umwelt zu eigen zu machen, wird in dieser Konzeption als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Handeln festgelegt, als Bedingung, sich als Subjekt der eigenen Handlungen zu begreifen und sich mit sich und dem, was man tut, identifizieren und sich darin verwirklichen zu können (vgl. Jaeggi 2005: 40f., 55). Aus ihrem Nichtgelingen ergibt sich die Fremdheit der Welt und eine

tischen Theorie ebenfalls auf Walter Benjamins Erfahrungstheorie (vgl. Rosa 2005: 234ff.). Die Begriffstrias von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen spielt bei Rosa jedoch kaum eine Rolle. Für eine Konfrontation von Rosas und Benjamins Konzeptionen vgl. Denschlag 2014. 6

Der Bezug auf Paul Ricœur zieht sich in der vorliegenden Arbeit bis zum Schluss durch. Auch wenn er einen anderen Weg beschreitet – insbesondere die ausführliche Behandlung fiktionaler Erzählungen sowie die erkenntnistheoretische Analyse der Geschichtswissenschaft spielen in der vorliegenden Arbeit keine Rolle –, so behandelt Ricœur in seinen beiden großen Werken Zeit und Erzählung (Ricœur 1991; Ricœur 1989; Ricœur 1988) sowie Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (Ricœur 2004) doch Themen, die sich mit denen der vorliegenden Arbeit an vielen Stellen berühren.

14 | V ERGANGENHEITSVERHÄLTNISSE

beziehungslose Indifferenz ihr gegenüber. Entfremdung ist die Unfähigkeit, sich zu seiner Umwelt – zu den Dingen, zu anderen Menschen – und damit auch zu sich selbst in Beziehung zu setzen. Die entfremdete, d.h. nicht angeeignete Welt erscheint dem Subjekt als sinn- und bedeutungslos, als eine Welt, in der es nicht ›zu Hause‹ ist (vgl. ebd.: 20). Unter der Voraussetzung, dass eine gelingende Selbst- und Weltaneignung durch die Erinnerung vermittelt werden muss, da die Dinge ihre Bedeutung für das Leben und die Konstitution einer persönlichen Identität erst in der Transformation der Erlebnisse in Erfahrung durch die Erinnerung erhalten, entwickelt Benjamin seine Konzeption von Erfahrung und Entfremdung anhand der Konstruktion eines Modells der subjektiven Zeiterfahrung, die wesentlich durch den Strukturzusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen gebildet wird. Durch diese Perspektive und die Frage nach den sozialen Voraussetzungen von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen bei Benjamin und innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ ergeben sich in Bezug auf die identitätskonstituierende Funktion von Gedächtnis und Erinnerung weitere Fragen. Es ist zu klären, welche Rolle die sozialen Kollektive, in die das Individuum eingebunden ist, für die Vorgänge im Zusammenspiel von Gedächtnis, Erinnerung und Identität spielen: Sind sie lediglich als Bedingungs- und Einflussfaktoren für das individuelle Erinnern zu verstehen oder bestimmen sie die Einzelgedächtnisse so stark, dass sinnvoll von einer ›kollektiven Identität‹ die Rede sein kann? Außerdem ist danach zu fragen, ob das Verhältnis von Gedächtnis, Erinnerung und Identität ein historisch gleichbleibendes im Sinne einer anthropologischen Konstante ist oder ob es sich um ein historisch variables Verhältnis handelt, das durch eine Veränderung der sozialen Einflüsse ebenfalls verändert wird. Für die Beantwortung dieser Fragen werden in der vorliegenden Arbeit das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ und Walter Benjamins Erfahrungstheorie analysiert, soweit sie sich auf das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit von individuellen und kollektiven Subjekten und damit auf die identitätskonstituierende Funktion von Gedächtnis und Erinnerung beziehen. Aussichtsreich erscheint diese Verknüpfung gerade durch die zum Teil entgegengesetzten Perspektiven, die sich vorläufig an der Betonung des Begriffs des Gedächtnisses (Halbwachs, Jan und Aleida Assmann) bzw. des Begriffs der Erinnerung (Benjamin) festmachen lassen. Die Begriffe ›Gedächtnis‹ und ›Erinnerung‹ stehen für verschiedene Vergangenheitsverhältnisse und dienen als Metaphern für die Art und Weise, wie der Identitätsbegriff in den beiden Denkmodellen konzipiert wird: Das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zielt auf den Erhalt und einen tendenziell statischen Identitätsbegriff, während Benjamin mit der Erinnerung die Veränderbarkeit menschlicher Identität betont. Naheliegend ist diese

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Verknüpfung nicht nur deshalb, weil Benjamin das individuelle Erinnern im Kontext sozialer Bezüge untersucht, sondern auch, weil er im Passagen-Werk, das den thematischen Bezugsrahmen aller wesentlichen Arbeiten des Spätwerks bildet, mit den kulturellen Objektivationen, die aus den lebendigen Sinngebungsprozessen ausgeschieden sind, ebenfalls einen dem ›kollektiven Gedächtnis‹ entsprechenden Untersuchungsgegenstand bearbeitet. Die Begriffstrias Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen wird in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die menschliche Identität analysiert. Da die Phänomene, die diese Begriffe einschließen, außerordentlich vielfältig sind und eine Definition dieser Begriffe von vornherein zum Scheitern verurteilt ist,7 kann es in der vorliegenden Arbeit nur darum gehen, einzelne ihrer Momente zu benennen. Exemplarisch wird die Lebensgeschichte, die an die Erinnerung anknüpft, als Leitfaden genommen, mit dem die Ergebnisse der Arbeit konkretisiert werden. Denn die Erzählung der Lebensgeschichte steht für das Leben einer Person, verweist auf Erfahrungen und repräsentiert Individualität durch eine einzigartige Geschichte. Anhand dieser Perspektive lassen sich die Vorstellungen von Identität, die den beiden behandelten Ansätzen zugrunde liegen, exemplarisch veranschaulichen. In Teil I wird die Frage untersucht, was unter ›kollektivem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ zu verstehen ist. Zu diesem Zweck werden im ersten Kapitel die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann dargestellt. Im zweiten Kapitel wird die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gestellt. Außerdem wird die Vorstellung einer ›kollektiven Identität‹ behandelt, die insbesondere bei Jan und Aleida Assmann im Zentrum des Interesses steht. Es wird zudem versucht, den Identitätsbegriff so zu konturieren, wie er innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ angewendet wird, sodass dem Begriff der Erzählung eine zentrale Bedeutung zukommt. Im dritten Kapitel geht es um die wesentlichen Aspekte und die zentralen Defizite des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹. Welche Bestimmungen des Begriffs des ›kollektiven Gedächtnisses‹ und des Identitätsbegriffs sind beizubehalten und in welchen Punkten ist die Konzeption des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu kritisieren? Ausgehend von diesen Überlegungen wird in Teil II in Bezug auf Überlegungen Walter Benjamins ein alternatives Modell von Erfahrung und Identität konturiert. Im ersten Kapitel geht es darum, den Zusammenhang von identitätsrelevanter Erfahrung mit Gedächtnis und Erinnerung sowie Benjamins Konzeption

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Als ein Beleg hierfür mag gelten, dass das Lexikon Gedächtnis und Erinnerung (Pethes/Ruchatz 2001) die Einträge zu eben diesen beiden Begriffen ausspart.

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einer entfremdeten Zeiterfahrung unter modernen Bedingungen aufzuzeigen, wie er sich in Über einige Motive bei Baudelaire darstellt. Das zweite Kapitel analysiert die Bedeutung des Vergessens für das erfahrungskonstituierende Erinnern. Gewissermaßen in Analogie zum ›kulturellen Gedächtnis‹ wird zudem die kollektiv-historische Dimension des Vergessens ausgeführt. Außerdem wird diejenige Dimension des Vergessens herausgestellt, die mit Bezug auf Marx, Lukács und Adorno als ›Verdinglichung‹ charakterisiert wird. Das dritte Kapitel knüpft hier an und charakterisiert den Begriff einer nicht-entfremdeten Erfahrung mit Bezug auf Benjamins Konzeption der ›Aura‹. Nach bewusstseinstheoretischen Ausführungen wird die Figur des Sammlers herangezogen, da der Sammler durch sein Verhältnis zum Besitz die Überlegungen zu Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen exemplarisch zu verdeutlichen vermag. Das vierte Kapitel zieht das Fazit in Bezug auf die identitätskonstituierende Funktion von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen bei Benjamin im Unterschied zum Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹. Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und es wird ausgeführt, welche Rollen die Begriffe Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in Bezug auf die menschliche Identität einnehmen. Sowohl Benjamins Differenzierung dieser Begriffe als auch seine Historisierung des Verhältnisses von Gedächtnis, Erinnerung und Identität versprechen einen Erkenntnisgewinn, der weit über das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ hinausgeht und in dieser Weise ermöglicht, ihm eine genauere Bestimmung zu verleihen. Über diese Klärung hinaus wird der Allgegenwart identitätsstiftender Gedächtnisse und der politischen Beschwörung ›kollektiver Identitäten‹ eine kritische Perspektive entgegengesetzt, die das Erfahrungsmoment am Identitätsbegriff betont und einen Beitrag dazu leistet, dass der Identitätsbegriff nicht zu einer bloßen Worthülse verkommt, die für jeden beliebigen Zweck vereinnahmt werden kann.8

8

›Kollektive Identität‹ ist in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand einer unüberschaubaren Vielzahl von Publikationen geworden und hat sich als Begriff und Schlagwort in Politik, Wissenschaft und Massenmedien breitenwirksam etabliert. Die Selbstverständlichkeit des Begriffs täuscht dabei über seine mangelnde Klarheit hinweg. Lutz Niethammer zufolge handelt es sich um ein ›konnotatives Stereotyp‹ und ›Plastikwort‹, das begrifflich arm ist und alles und nichts gleichzeitig bedeutet, aus diesem Grund jedoch mit allem verbunden werden kann und dabei einen wissenschaftlichen Eindruck erweckt (vgl. Siems 2006: 6; Niethammer 2000: 28ff.).

I. Das ›kollektive Gedächtnis‹

Im Zusammenhang mit der Erforschung intersubjektiver Prozesse mit Vergangenheitsbezug werden in der kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung mehrere Begriffe und Konzepte verwendet, die sich auf Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen beziehen: ›kollektives Gedächtnis‹, ›kulturelles Gedächtnis‹, ›kommunikatives Gedächtnis‹, ›soziales Gedächtnis‹, ›Erinnerungsorte‹, ›Erinnerungskulturen‹, ›soziales Vergessen‹. Der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird jedoch als Oberbegriff verwendet (vgl. Erll 2005: 5f.). Deshalb ist im Folgenden in erster Linie von Phänomenen und vom Begriff bzw. vom Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ die Rede. Dieser Begriff bezeichnet einerseits die Annahme, dass die Prozesse des individuellen Gedächtnisses der Vermittlung durch intersubjektive Praxis als eines kollektiven Moments bedürfen, um sich an Ereignisse aus der eigenen Vergangenheit erinnern zu können. Andererseits steht der Begriff dafür, dass menschliche Kollektive sich durch intersubjektive Kommunikationsprozesse, kulturelle Symbole und Zeichen und mithilfe von Medien wie Texten, Bildern, Monumenten, Riten und Orten auf eine gemeinsame Vergangenheit beziehen. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig, die Weite des Begriffs zu verdeutlichen: Die Phänomene des ›kollektiven Gedächtnisses‹ reichen vom Erinnern des Individuums, das sich immer im Kontext einer sozialen Gemeinschaft vollzieht, bis zur öffentlichen Inszenierung eines politischen Gedenkens. Auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene wird dem ›kollektiven Gedächtnis‹ eine wichtige Funktion für die Identität des jeweiligen Gedächtnissubjekts zugeschrieben. Eine Voraussetzung ist, dass der Umgang mit der eigenen Vergangenheit eine wesentliche Dimension der individuellen und kollektiven Wirklichkeit bildet, der eine zentrale Bedeutung für die Tiefenstruktur der individuellen und kollektiven Welt- und Selbstbezüge zukommt. Es liegt also nahe, im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit zunächst das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu befragen, das wertvolle Einsichten zu bieten verspricht, da in dieser Konzeption die soziale Konstitution der Bedingungen für

18 | DAS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS‹

Erinnerung – und insofern auch für Erfahrung und Identität als Resultat der Aneignung der eigenen Lebensgeschichte – im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.1 Die Beschäftigung mit Phänomen und Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹, die eine enorme Literaturproduktion befördert hat und immer noch befördert, beruft sich in der Regel auf den Soziologen Maurice Halbwachs, der den Begriff in den 1920er Jahren eingeführt hat.2 Das international einflussreichste Konzept ist Pierre Noras Projekt der ›Erinnerungsorte‹, das auf der auch von Halbwachs getroffenen scharfen Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis aufbaut und bereits zahlreiche Nachfolgeprojekte gefunden hat.3 Im deutschen Sprachraum ist das Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ von Jan und Aleida Assmann, die sich ebenfalls auf Halbwachs berufen, besonders wirkungsvoll, vor allem wenn es darum geht, es als Rahmenparadigma für empirische Falluntersuchungen von konkreten kulturellen Phänomenen wie bestimmten Denkmälern, Büchern, Jahrestagen etc. zu verwenden, wobei die Grundbegriffe

1

Die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Erinnerung ist in den meisten Fällen für die Beschäftigung mit Phänomenen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ von geringer Bedeutung. Wenn sie explizit getroffen wird, dann wird Erinnerung häufig als ein Akt oder Prozess vorgestellt, in dem vergangene Wahrnehmungen reproduziert werden. Das Gedächtnis gilt als eine Art Ansammlung und als ›Speicher‹ der repräsentierten Vergangenheitsbilder, aus dem die Erinnerung schöpft. Das Vergessen wird häufig, wenn es überhaupt betrachtet wird, als negativ konstitutive Seite der Erinnerung dargestellt, die sich aufgrund der Selektivität von Erinnerungsvorgängen notwendig ergibt (vgl. A. Assmann 2011: 182; Erll 2005: 7).

2

Neben Halbwachs wird als zweite Quelle der Forschung zum ›kollektiven Gedächtnis‹ häufig Aby Warburgs kulturhistorische Forschung zum europäischen Bildgedächtnis genannt. Bei Warburg steht vor allem die materielle Dimension kultureller Objektivationen im Vordergrund, während Halbwachs die soziale Dimension des kollektiven Bezugs auf eine gemeinsame Vergangenheit betrachtet. Warburg wird im vorliegenden Zusammenhang nicht behandelt. Es geht in diesem ersten Teil vor allem darum, das im aktuellen Diskurs vorherrschende konstruktivistische Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu skizzieren, gegen das die im zweiten Teil behandelte benjaminsche Erfahrungstheorie sich in mehreren Punkten abgrenzt.

3

Das grundlegende Werk ist das in sieben Bänden erschienene Les Lieux de mémoire (Nora 1984-1992), eine Auswahl ist auf Deutsch erschienen in Erinnerungsorte Frankreichs (Nora 2005). Grundsätzliches zu seiner Konzeption findet sich in Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Nora 1990). Allein die in deutscher Sprache vorliegenden an Nora anschließenden Projekte lassen sich kaum mehr überblicken.

D AS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS‹

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der zugrunde gelegten Theorie meist selbst nicht weiter entwickelt oder infrage gestellt werden. In den von Halbwachs sowie von Jan und Aleida Assmann ausgehenden Konzeptionen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird ›Gedächtnis‹ als etwas gedacht, das das Wissen von einer gemeinsamen Vergangenheit sozial und kulturell, d.h. in diesem Fall vor allem nicht-erblich, durch eine Vielzahl von Medien vermittelt. Bei Jan und Aleida Assmann werden ›Kultur‹ und ›Gedächtnis‹ als nahezu austauschbare Begriffe behandelt und es geht ihnen um die »Gedächtnisförmigkeit von Kultur überhaupt« (A. Assmann 2004: 46). ›Kollektives Gedächtnis‹ ist ein so weiter Begriff, dass er die Beschäftigung mit geradezu allem ermöglicht, das unter den Begriff der ›Kultur‹ fällt. Astrid Erll kennzeichnet ihn in ihrer Einführung zu den wichtigsten Theorien des ›kollektiven Gedächtnisses‹ als »Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt« (Erll 2005: 6).4 Die in den Ansätzen innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ vorgenommenen Differenzierungen des Begriffs in verschiedene Gedächtnisformationen, etwa nach Medien oder sozialen und zeitlichen Horizonten, enthalten keine trennscharfen Abgrenzungen, sondern bezeichnen lediglich graduelle Unterschiede. Die Grundbegriffe ›Gedächtnis‹ und ›Kultur‹ finden eine breite Anwendung, weshalb oft kaum mehr klar ist, was mit ihnen eigentlich gemeint ist und was nicht mehr unter sie subsumiert werden soll.5 Das andere Extrem,

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Nach Einschätzung von Erll handelt es sich bei Jan und Aleida Assmanns Konzeption um die im internationalen Vergleich am besten ausgearbeitete. Die Verbindung von Kultur und Gedächtnis haben Jan und Aleida Assmann Erll zufolge »systematisch, begrifflich differenziert und theoretisch fundiert aufgezeigt« (Erll 2005: 27) und das »bislang ausgereifteste und differenzierteste Gedächtnismedienkonzept vorgelegt« (Erll 2004: 8). Jan und Aleida Assmann erwecken in ihren zahlreichen Publikationen, auch wenn unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erkennbar sind, den Anschein, dass sie durchweg ›mit einer Stimme‹ sprechen und der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ mit seinen weiteren Bestimmungen und Ausdifferenzierungen durchaus als eine gemeinsame Leistung angesehen werden kann. Es ist darum mit Bezug auf diesen Begriff und das mit ihm verbundene Paradigma, wenn nicht auf konkrete Schriften Bezug genommen wird, von ›Jan und Aleida Assmann‹ die Rede.

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Niklas Luhmann beklagt die Schwierigkeiten, die sich aus der nahezu grenzenlosen Spannweite des Kulturbegriffs ergeben, was analog auch für die Beschäftigung mit dem Gedächtnisbegriff gelten kann: »Will man Kultur als eine besondere, klassifizierbare Menge von Gegenständen, als eine ontologische Region der Welt im Unterschied

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das sich aus dem Versuch der Vermeidung dieser begrifflichen Entgrenzung ergibt, ist eine schärfere begriffliche Eingrenzung, die jedoch der empirischen Vielfalt der Phänomene nicht mehr gerecht werden kann. Die Charakterisierung des Begriffs des ›kollektiven Gedächtnisses‹ beschränkt sich sowohl bei Halbwachs als auch bei Jan und Aleida Assmann auf wenige Merkmale: Zum einen betonen sie den (re-)konstruktiven Charakter des ›kollektiven Gedächtnisses‹,6 das keine authentische Erinnerung vermittelt, sondern Vergangenes unter der Verwendung von konventionellen Ordnungsschemata selektiv und gegenwartsbezogen deutet. Als zentrale Funktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird zum anderen die Herstellung und Kontinuierung einer personalen und ›kollektiven Identität‹ angesehen. Der kollektive Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit muss organisiert, kulturell geformt und gefestigt werden, um die Inhalte des ›kollektiven Gedächtnisses‹, die die Kontinuierung einer ›kollektiven Identität‹ gewährleisten sollen, dauerhaft aufrechtzuerhalten. Sowohl der (Re-)Konstruktivität als auch der Funktion der Identitätskontinuierung werden in diesem Teil ausführliche Betrachtungen gewidmet. Das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird anhand seiner theoretischen Hauptvertreter Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann analysiert. Das Interesse richtet sich auf die Art und Weise, wie sich in dieser Konzeption das Verhältnis von Gedächtnis und Identität darstellt. Nach der Darstellung der wichtigsten Merkmale, die sich aus den Konzeptionen von Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann für die Begriffe des ›kollektiven‹ und des ›kulturellen Gedächtnisses‹ gewinnen lassen (Kapitel 1), wird darum übergreifend die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gestellt, die häufig fraglos vorausgesetzt wird. Außerdem wird die Vorstellung einer ›kollektiven Identität‹ behandelt, die insbesondere bei Jan und Aleida Assmann im Zentrum des Interesses steht. Dabei kommt dem Begriff der Erzählung eine zentrale Bedeutung zu (Kapitel 2). Anschließend geht es um die Frage, welche Konsequenzen sich aus dem Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ für ein Korrektiv ergeben (Kapitel 3).

zu anderen Gegenständen bzw. Regionen definieren, tritt die Spannweite des Begriffs in Widerspruch zu der für wissenschaftliche Begriffe erforderlichen Prägnanz.« (Luhmann 1995: 31f.) 6

Die Unterscheidung von Rekonstruktivität und Konstruktivität ist für Halbwachs sowie für Jan und Aleida Assmann nicht entscheidend. In der vorliegenden Arbeit ist in Bezug auf Erinnerungen, die Vergangenheit etc. von Rekonstruktion und in Bezug auf Identität von Konstruktion die Rede.

1. Maurice Halbwachs und Jan und Aleida Assmann

Mit Bezug auf die von Halbwachs (Abschnitt 1.1) sowie Jan und Aleida Assmann (Abschnitt 1.2) herausgearbeiteten Aspekte des Begriffs des ›kollektiven Gedächtnisses‹ soll eine paradigmatische Konzeption des ›kollektiven Gedächtnisses‹ konstruiert werden, um in Abgrenzung dazu die Verwendung der Begriffe Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in der im zweiten Teil analysierten Erfahrungstheorie Walter Benjamins konturieren zu können. Es geht jedoch nicht nur um die Konstruktion einer Kontrastfolie, sondern ebenso um die Gewinnung wichtiger Kennzeichnungen, die im zweiten Teil weiterhin von Bedeutung bleiben und durch Benjamin ergänzt werden.

1.1 D AS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS ‹ NACH H ALBWACHS In Bezug auf das Nachdenken über Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen stehen sich, mit den Worten Paul Ricœurs, eine ›Tradition der Innerlichkeit‹ und eine ›Tradition der Objektivität‹ gegenüber: Individuelles und kollektives Gedächtnis geraten in Rivalität (vgl. Ricœur 2004: 149). In den maßgeblichen Gedächtnisvorstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht es zunächst darum, was im Gedächtnis unbewusst vorhanden ist und wie ein Zugang dazu gefunden werden kann (vgl. Niethammer 2000: 330).1 Maurice Halbwachs er-

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In dieser Arbeit nicht eigens behandelt werden biologistische Theorien einer Vererbbarkeit von Gedächtnisinhalten und eines ›Rassengedächtnisses‹, die seit dem 19. Jahrhundert und noch zu Halbwachsʼ Zeit hoch im Kurs standen. So hat der Arzt Carl Gustav Carus den Begriff ›Artgedächtnis‹ geprägt und in mehreren Büchern entfaltet. Jean-Baptiste de Lamarck hatte die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften behaup-

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weitert das Thema diesen Vorstellungen gegenüber um die soziale Dimension. Nach seinem Studium bei Henri Bergson, von dem er das Gedächtnisthema übernimmt, hat sich Halbwachs der Schule Emile Durkheims zugewandt (vgl. ebd.: 317). Er übernimmt dessen Grundsatz, nach dem die menschliche Innenwelt ein weitgehend sozial vermitteltes Phänomen ist und wendet ihn auf das Gedächtnis an (vgl. J. Assmann 2005a: 70). Mit seinem Konzept des ›kollektiven Gedächtnisses‹2 beschreibt er in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen die soziale Bedingtheit individuellen Erinnerns: »Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.« (Halbwachs 1985: 21) Individuelle Erinnerungen sind Halbwachs zufolge sozial ›gerahmt‹, sodass sie sich im Kontext sozialer Gruppen formen und festigen. Das Gedächtnis ist für ihn sowohl ein psychisches Phänomen als auch sozial konstituiert, da die persönlichen Erfahrungen des Individuums mit der sozialen Sphäre verbunden sind (vgl. Quindeau 2005: 98). Der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ bedeutet bei Halbwachs also einerseits, dass das individuelle Gedächtnis sozialen Bedingungen unterliegt, »daß Bewußtseinssysteme, wenn sie gleichen sozialen Bedingungen ausgesetzt sind,

tet, der Mediziner und Biologe Richard Semon hat – neben anderen Wissenschaftlern – im Rückgriff auf die Psychologie Ewald Herings die biologische Erblichkeit selbst als Gedächtnis dargestellt und wollte Darwins Evolutionstheorie durch eine Vererbungstheorie des lebenserhaltenden Anpassungsbeitrags ennervierter Reize im Gedächtnis (›Mneme‹) ergänzen. Auch in C.G. Jungs Archetypenlehre lässt sich die Konzeption eines erblichen Urgedächtnisses der Menschheit wiedererkennen (vgl. J. Assmann 2002a: 8). Das ›kollektive Unbewusste‹ bezeichnet nach Jung ein allgemein menschliches Erbgut an Vorstellungsmöglichkeiten als Grundlage des individuellen Seelischen (vgl. Jung 1946: 164). Jung betont dabei in aller Deutlichkeit, dass das ›kollektive Unbewusste‹, auf das das persönliche Unbewusste aufbaut, nicht persönlicher Erfahrung entstammt, sondern mit der Hirnstruktur angeboren ist (vgl. ebd.: 175). Auch Freud spricht von einer von direkter Überlieferung unabhängigen unbewussten Vererbung von Erinnerungsspuren der Ereignisse der Geschichte eines Volkes und ihrer Verdrängung (vgl. Freud 1974: 542ff.). 2

Der von Halbwachs verwendete Begriff ›mémoire collective‹ wird in den deutschen Übersetzungen seiner Texte und in der Literatur zum Thema üblicherweise durchgehend mit dem Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wiedergegeben. Dies ist zumindest fraglich, da das französische Wort mémoire nicht nur das Gedächtnis, sondern – neben souvenir und souvenance – auch das Erinnerungsvermögen bezeichnet.

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im großen und ganzen dieselben Sachverhalte erinnern« (Luhmann 1998: 583). Die vielfältigen Praktiken sozialer Gruppen bilden demnach die ›Rahmen‹, in denen individuelle Erinnerungen sich ausbilden. Andererseits schreibt Halbwachs sozialen Gruppen ein jeweils eigenes Gedächtnis zu. Aufgrund diverser Gruppenzugehörigkeiten haben die Individuen an vielen ›kollektiven Gedächtnissen‹ teil. Bei Halbwachs treffen zwei Konzepte des ›kollektiven Gedächtnisses‹ aufeinander: zum einen das individuelle Gedächtnis, das unter dem Einfluss sozialer Gruppen steht, zum anderen der kollektive Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit. Zunächst geht es um die Frage, mit welchen grundlegenden Eigenschaften Halbwachs das ›kollektive Gedächtnis‹ charakterisiert. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Gedächtnis und sozialer ›Rahmung‹ (Abschnitt 1.1.1), den Bezug auf soziale Gruppen (Abschnitt 1.1.2) sowie die (Re-)Konstruktivität des ›kollektiven Gedächtnisses‹ (Abschnitt 1.1.3). 1.1.1 Soziale ›Rahmung‹ des individuellen Gedächtnisses Es geht Halbwachs in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen um den Nachweis der sozialen Bedingtheit jeder persönlichen Erinnerung, also darum, dass »unsere Einbildungskraft selbst im Moment des Reproduzierens der Vergangenheit unter dem Einfluß des gegenwärtigen Sozialmilieus bleibt« (Halbwachs 1985: 156). Erinnerungen gelangen dann in das Bewusstsein, wenn sie von anderen Menschen ins Gedächtnis gerufen werden oder als Antwort auf Fragen anderer erwartet werden. Das individuelle Erinnern beruft sich auf die Erinnerungen anderer und bezieht sich auf sozial festgelegte Anhaltspunkte. Erinnerungen werden stets durch äußere Einflüsse ins Gedächtnis gerufen und sind darum nichts, zu dem ein Individuum einen privilegierten Zugang hätte (vgl. ebd.: 20f.). Halbwachs spricht in diesem Zusammenhang von sozialen ›Rahmen‹, die das Gedächtnis des Individuums umfassen und in die jede Erinnerung eingeordnet werden muss, da sie die Mittel bereitstellen, mit deren Hilfe Erinnerungen rekonstruiert werden: »Jede noch so persönliche Erinnerung […] steht zu einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele andere außer uns besitzen, […] mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben der Gruppen, zu denen wir gehören oder gehört haben.« (Ebd.: 71) Die sozialen ›Rahmen‹ bieten dem Bewusstsein für das Erinnern eine Struktur, indem andere, mit ihnen in Beziehung stehende Erinnerungen in den Gegenständen und den Personen der Umgebung Anhaltspunkte im Raum und in der Zeit bieten, die dazu befähigen, die anfangs nur schematischen Vorstellungen vergangener Ereignisse mit zunehmender Genauigkeit zu bestimmen (vgl. ebd.: 71f.). Als erste Bestimmung des ›kollektiven Gedächtnisses‹ lässt sich an dieser

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Stelle festhalten, dass es aus Anlässen für das individuelle Erinnern besteht.3 Je größer die Anzahl dieser ›rahmenden‹ Anhaltspunkte aus dem sozial geteilten ›Gesamt von Begriffen‹ ist, in deren Schnittpunkt eine Erinnerung auftaucht, desto reicher ist sie (vgl. ebd.: 368). Halbwachs macht deutlich, dass auch die ›Rahmen‹ der Erinnerung aus Erinnerungen bestehen, es sich bei ihnen also nicht um soziale Strukturen oder materielle Überlieferungen handelt, sondern um Vorstellungen darüber (vgl. Niethammer 2000: 356). Sie sind durch Gewohnheit und Wiederholung relativ stabil, lassen sich deshalb leichter mit allgemeinen Begriffen verbinden und erlauben die Rekonstruktion von anderen Erinnerungen, die immer auch eine allgemeine Perspektive aufweisen (vgl. Halbwachs 1985: 143f.). Die ›Rahmen‹ sind jedoch, wenn auch träger, ebenfalls beweglich. Werden aktuelle Eindrücke in einen ›Rahmen‹ eingeordnet, so beeinflusst dieser zwar den Eindruck, wird aber seinerseits durch den Eindruck verändert, da neue Aspekte die Dinge in einem anderen Licht erscheinen lassen und alle Beziehungen zwischen einem Eindruck und den übrigen Elementen den jeweiligen ›Rahmen‹ modifizieren (vgl. ebd.: 189). Die Erinnerungen, aus denen die ›Rahmen‹ des Gedächtnisses bestehen, sind in Bezug auf ihre Funktion zur Rekonstruktion einzelner Erinnerungen stabil und allgemein, dennoch verändern sie sich. Die gleiche Vorstellung kann je nach Perspektive sowohl als ›gerahmte‹ Erinnerung als auch als ›rahmender‹ Begriff oder allgemeine Idee erscheinen (vgl. ebd.: 380f.). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich um ein dialektisches Verhältnis von ›Rahmen‹ und erinnertem Ereignis handelt: Beide verändern sich wechselseitig. 1.1.2 Gruppenbezug der ›Rahmen‹ des Gedächtnisses Die Kontinuität der Erfahrung, auf die sich die autobiografische Erinnerung bezieht, beruht nach Halbwachs nicht auf einem individuellen Zeitempfinden, sondern bildet sich durch die Beständigkeit sozialer Gruppen. Die Erfahrung, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, und die von den Mitmenschen vermittelten Erfahrungen bilden im Prozess der Sozialisation die Grundlage, auf der sich das individuelle Gedächtnis bildet (vgl. Ricœur 2004: 188): »Man versteht jeden einzelnen in seinem individuellen Denken nur, wenn man ihn in das Denken der entsprechenden Gruppe hineinversetzt.« (Halbwachs 1985: 200)

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Diese Bestimmung entspricht einer der Bedeutungen von ›Gedächtnis‹, die im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm erfasst sind. Sie fassen Gedächtnis hier als »ein hilfsmittel der erinnerung, zeichen des andenkens, ›denkmal‹, gedenkfest u.ä.« (Grimm/Grimm 1878: 1933)

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Die sozialen ›Rahmen‹ und ihre sprachlichen und sonstigen symbolischen Konventionen, die das Gedächtnis des Einzelnen prägen und organisieren, bilden sich immer in sozialen Gruppen aus, denen das Individuum angehört. Das Gedächtnis des Einzelnen ist zwar durchaus ein individuelles Gedächtnis, das ihm allein gehört. Es ist jedoch immer auch ein Teil des Gruppengedächtnisses, da dauerhafte Erinnerungen nur behalten werden können, indem sie mit Gedanken verbunden werden, die aus dem sozialen Milieu stammen. Sie sind gewissermaßen als eine Anwendung von sozialen Tatbeständen anzusehen. Die ›Rahmen‹ des ›kollektiven Gedächtnisses‹ schließen noch die persönlichsten Erinnerungen ein und verbinden sie miteinander. Die Gruppe muss sie dafür nicht kennen, sie können nur von außen ins Auge gefasst werden, indem sich der Erinnernde an die Stelle anderer versetzt (vgl. ebd.: 200f.). Die Vorstellung, dass der Zusammenhang von Erinnerungen durch eine innere Einheit des Bewusstseins begründet wird, ist für Halbwachs eine Illusion, die dadurch zustande kommt, dass der Einfluss des sozialen Milieus nicht spürbar ist. Dieser Einfluss wird in der Regel nur dann bemerkt, wenn rivalisierende Einflüsse sich gegenüberstehen (vgl. Ricœur 2004: 189f.). Damit jedoch eine Erinnerung zustande kommt, muss es Halbwachs zufolge eine Beziehung zu früheren Ereignissen und gegenwärtigen Vorstellungen und Wahrnehmungen geben. Diese Beziehung entsteht durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Durch Geburt, Heirat oder andere Umstände tritt das Individuum einer Gruppe bei, in der vom Individuum unabhängige Regeln und Gewohnheiten herrschen. Das individuelle Bewusstsein wird durch eine Vielzahl von kollektiven Erinnerungsbezügen beeinflusst. Für diese Bezugnahme ist es nicht notwendig, dass die Bezugspersonen anwesend sind. In den Erinnerungen einer Gruppe drückt sich ihre allgemeine Haltung aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und ihre Schwächen (vgl. Halbwachs 1985: 209f.). Von größeren sozialen Einheiten wie der Gesellschaft oder Nation im Unterschied zu direkt miteinander interagierenden sozialen Gruppen ist bei Halbwachs nicht die Rede: Sie sind für ihn keine primär geeignete Bezugsgruppe (vgl. Echterhoff/Saar 2002a: 20f.). Der paradigmatische Fall einer sozialen Gruppe ist vielmehr die Familie, die das Individuum durch ihre einzigartige Bindung wie keine andere Gruppe prägt. Das Familiengedächtnis stellt aus den aus der Vergangenheit behaltenen Elementen einen ›Rahmen‹ her, der aufgrund der eigenen Geschichte der Familie zu einer eigenen Deutung der gesellschaftlichen Begriffe führt. Das Familiengedächtnis besitzt eine eigene Logik und Traditionen, die denjenigen der Gesellschaft zwar gleichen, weil sie aus ihr stammen und die Beziehungen zur Gesellschaft organisieren. Sie unterscheiden sich jedoch auch von

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ihnen, da sie im Laufe der Zeit von den besonderen Erfahrungen der Familie durchdrungen werden und ihre Funktion zunehmend darin besteht, den Zusammenhalt und die Kontinuität der Familie zu sichern (vgl. Halbwachs 1985: 242). Das ›kollektive Gedächtnis‹ ist für Halbwachs der Ausdruck und das Medium des geschichtlichen Zusammenhangs einzelner Gruppen als Erinnerungsgemeinschaften. Jede Familie, jede Gemeinschaft, jede Gruppe, die über eine gewisse Zeit hinweg existiert, hat ein eigenes ›kollektives Gedächtnis‹, das sich durch hinzutretende individuelle Erinnerungen oder soziale Bezugsrahmen erweitert bzw. verändert (vgl. Halbwachs 1967: 73; Halbwachs 1985: 238f.). Da Menschen vielen verschiedenen Gruppen gleichzeitig angehören, haben sie auch an verschiedenen Gedächtnissen teil: Die Erinnerung an ein Ereignis passt in viele Bezugsrahmen hinein, die mehreren Kollektivgedächtnissen angehören und die je nach den verschiedenen Standpunkten in den jeweiligen Gruppen abwechselnd verwendet werden können (vgl. Halbwachs 1985: 200). Da die Bezugsrahmen, die die Rekonstruktion von Erinnerungen ermöglichen, den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind (vgl. ebd.: 183), bezeichnet das ›kollektive Gedächtnis‹ die Schnittstelle zwischen der sozialen Sphäre und der Psyche des Einzelsubjekts. Das individuelle Bewusstsein besitzt nach Halbwachs ein Vermögen, sich in den Blickpunkt einer Gruppe hineinzuversetzen und sich in eine oder mehrere Strömungen des kollektiven Denkens einzufügen (vgl. Ricœur 2004: 191). Erinnerung ist kein ›inneres‹ Geschehen, sondern die Identität des Einzelnen entwickelt sich aus einer vorgängigen Intersubjektivität. Umgekehrt verkümmert ein Teil des Gedächtnisses aufgrund fehlender äußerer Stützen, wenn das Individuum einer sozialen Gruppe nicht mehr angehört. Sterben die Mitglieder einer Gedächtnisgemeinschaft aus, dann verblasst auch das Erinnerte mehr und mehr und wird schließlich vergessen, da die vergangenen Ereignisse nicht mehr in Erinnerung gerufen werden können (vgl. ebd.: 188). Der Wechsel des Wohnorts oder des Berufs oder die einschneidende Veränderung des umgebenden sozialen Milieus durch ein Ereignis, z.B. einen Krieg, kann den Verlust vieler Erinnerungen bedeuten, während die Wiederbegegnung mit einem alten Freund oder einer von früher vertrauten Umgebung vergessene Erinnerungen wiederkehren lässt (vgl. Halbwachs 1967: 10; Halbwachs 1985: 50). Das Vergessen erklärt sich nach Halbwachs also aus dem Verschwinden der Bezugsrahmen, entweder durch eine Veränderung der ›Rahmen‹ oder indem sie aus der Aufmerksamkeit geraten sind. Wenn der ›Rahmen‹ sich auflöst, fehlen die Erinnerungsanlässe und die Erinnerung ist nicht mehr rekonstruierbar (vgl. Halbwachs 1985: 368f.).

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1.1.3 (Re-)Konstruktivität des Gedächtnisses Das Gedächtnis beruht Halbwachs zufolge auf konstruktiven Leistungen, die ein soziales Milieu mit seiner je spezifischen Ordnung voraussetzen: Es gibt »kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden« (Halbwachs 1985: 121). Die Bezugsrahmen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ werden nicht durch die Kombination individueller Gedächtnisinhalte gebildet. Sie sind auch nicht nach dem Modell leerer Behälter zu denken, in denen sich die aus einer anderen Quelle kommenden Erinnerungen ansiedeln, sondern sie sind im Gegenteil die Instrumente, mit denen das ›kollektive Gedächtnis‹ ein Bild der Vergangenheit rekonstruiert, das sich im Einklang mit den jeweils herrschenden Gedanken einer Gesellschaft befindet (vgl. ebd.: 22f.). Das Vergangene, auf das sich eine Erinnerung bezieht, erhält sich nicht in den individuellen Gedächtnissen und ersteht in der Gegenwart nicht zu neuem Leben (vgl. ebd.: 57, 368f.). Der Bezugspunkt für die Rekonstruktion einer Erinnerung liegt nach Halbwachs immer in der Gegenwart mit ihren jeweils zur Verfügung stehenden Vorstellungen und Ausdrucksmitteln. Die Erinnerung tritt nicht unmittelbar mit dem Vergangenen in Verbindung, sondern wird in der Gegenwart mithilfe der kollektiv verfügbaren Bezugsrahmen rekonstruiert. Heutige Erfahrungen lassen sich in den ›Rahmen‹ alter Erinnerungen einfügen, die bis in die Gegenwart einen Teil des ›Rahmens‹ der gegenwärtigen kollektiven Erfahrungen bilden (vgl. Egger 2003: 254). In jedem Fall handelt es sich um eine Rekonstruktion, da der Erinnernde sich in der Erinnerung nicht in einen ehemaligen Zustand zurückversetzen kann. Dazu müsste er alle inneren und äußeren damals auf ihn ausgeübten Einflüsse in Erinnerung bringen, was Halbwachs damit vergleicht, zur Wiederherstellung eines historischen Ereignisses alle damaligen Akteure und Zeugen wieder zum Leben zu erwecken (vgl. Halbwachs 1985: 133). Halbwachs wendet sich somit auch gegen die in traditionellen Gedächtnistheorien und im Alltagsverständnis beheimatete Vorstellung vom Gedächtnis als ›Speicher‹, der das Vergangene in unverändertem Zustand bewahrt und in der Erinnerung wieder ›abrufen‹ kann. Vom Vergangenen wird nur bewahrt, was in einer jeweiligen Epoche von einem Kollektiv mit seinen Bezugsrahmen rekonstruiert werden kann. Das individuelle Gefühl von Beständigkeit ist eine Illusion, die durch die dem Erinnern zugrunde liegenden Bezugsrahmen hervorgerufen wird (vgl. ebd.: 390). Eine Rekonstruktion, so ließe sich fortsetzen, ist immer auch zumindest teilweise eine Projektion in die Vergangenheit. Die Vorstellung eines bestimmten zeitlichen Ablaufs verschiedener Ereignisse entsteht erst durch

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den Erinnerungsprozess, sodass die Vergangenheit zu einer Funktion der Gegenwart wird (vgl. Quindeau 2005: 102).4 Diese ›sozial-konstruktivistische‹ Vorstellung des ›kollektiven Gedächtnisses‹ entwirft Halbwachs gegen die von Benjamin herangezogenen und im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit behandelten Gedächtnistheorien von Bergson, Proust und Freud.5 Gegen die Vorstellungen eines ›inneren‹ Gedächtnisses und von der Fruchtbarkeit einer rekursiven Erinnerungsarbeit setzt er einen relativ engen Begriff von Erinnerung: Er führt den Begriff der ›Erinnerung im eigentlichen Sinn‹ ein, der im Sinne seines Rekonstruktivitätsmodells zwar leichter handhabbar, aber gegenüber den Gedächtnisvorstellungen seiner Gegner stark verkürzt ist. Als Erinnerung gilt für ihn nur eine detailgetreue und vollständige Reproduktion des Bildes eines früher wahrgenommenen singulären Ereignisses, etwas, das nur einmal zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aufgetreten ist (vgl. Niethammer 2000: 349f.).6 Halbwachs führt diese Vorstellung einer ›Erinnerung im eigentlichen Sinn‹ gegen die Versuche seiner Gegner ein, die Existenz eines ›inneren‹ Gedächtnisses mit fragmentarischen oder ungenauen Erinnerungen zu belegen (vgl. Halbwachs 1985: 35f.), und unterscheidet sie von Ideenassoziationen mit einem allgemeineren Charakter. Als Beispiel führt er Kindheitserinnerungen an, die lange Zeit vollständig vergessen waren und im Wachzustand nicht wieder angeeignet werden können, selbst nachdem ein Traum sie hervorgerufen hat. Diese Erinnerungsbilder kehren vermischt mit Träumen wieder, man benötigt jedoch die Gedächtnisse der Mitmenschen, um sie als Erinnerungen identifizieren zu können. Solche Kindheitserinnerungen sind Halbwachs zufolge keine Erinnerungen im strengen Sinn, sondern vielmehr Stereotype oder Klischeebilder (vgl. Quindeau 2005: 93). Sie gründen sich auf nur sehr vage und ungenaue Eindrücke, sodass das Gedächtnis sie im Wachzustand nicht direkt erreicht, sondern sie sich nur im Traum reproduzieren. Das Gedächtnis hingegen ist »ein relativ recht präzises Werkzeug […],

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Diese Ansicht wird auch in neueren konstruktivistischen Gedächtnistheorien vertreten. Erinnerungen entstammen nicht der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit verdankt sich der Erinnerung. Dies ist möglich, sofern Vergangenheit an das Konzept der ›Bekanntheit‹ oder der abgeschlossenen Handlung gekoppelt wird. Nicht die Vergangenheit, sondern diese Vorstellungen beschreiben die Referenzebene von Erinnerungen (vgl. Rusch 1991: 275; S.J. Schmidt 1991a: 42).

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Halbwachs wendet sich ausdrücklich gegen Marcel Prousts Rede vom ›Wiederfinden‹ der ›verlorenen Zeit‹ (vgl. Halbwachs 1985: 136).

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Diese Vorstellung hat jedoch wiederum Ähnlichkeit mit Bergsons Konzept der ›reinen Erinnerung‹, vgl. dazu Abschnitt II.1.1.3.

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das gewöhnlich nur auf das zurückgreifen kann, was in seinem Bereich liegt, d.h. nur auf das, was lokalisiert werden kann« (Halbwachs 1985: 37). Mit dieser Ansicht, dass eine Erinnerung immer bewusst oder zumindest bewusstseinsfähig sein muss, widerspricht Halbwachs diametral dem psychoanalytischen Erinnerungsbegriff, der davon ausgeht, dass wesentliche handlungswirksame Erinnerungen unbewusst sind (vgl. Quindeau 2005: 89).

1.2 D AS › KULTURELLE G EDÄCHTNIS ‹ NACH ASSMANN /ASSMANN Halbwachs hat gezeigt, dass das individuelle Gedächtnis in dem, was es inhaltlich aufnimmt, wie es organisiert ist und was es zu rekonstruieren imstande ist, wesentlich von sozialen Rahmenbedingungen und Einflüssen sozialer Gruppen abhängt und dabei rekonstruktiv verfährt. Vom Vergangenen wird nur bewahrt, was von einer Gruppe mithilfe ihrer Bezugsrahmen lokalisiert werden kann. Was in der Gegenwart keinen Bezugsrahmen mehr hat, wird hingegen vergessen. Für die kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschung wurde Halbwachs zu einem Gründungsvater und Klassiker der Gedächtnisforschung. Die wirkmächtigste Aufnahme und Weiterentwicklung von Halbwachsʼ Gedächtnisstudien sind im deutschsprachigen Raum Jan und Aleida Assmanns Arbeiten zum ›kulturellen Gedächtnis‹, die sehr viel allgemeiner als Halbwachs nach dem Zusammenhang von Kultur und Gedächtnis fragen, genauer nach »der Gedächtnisförmigkeit von Kultur überhaupt und [… den] Medien und Strategien, die das kulturelle Gedächtnis in der Geschichte verändert haben« (A. Assmann 2004: 46). In diesem Abschnitt wird das Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ zunächst in seiner Abgrenzung von Halbwachs durch die Differenzierung von ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ dargestellt (Abschnitt 1.2.1). Es wird anschließend charakterisiert durch die Medialität des ›kulturellen Gedächtnisses‹ (Abschnitt 1.2.2) und die Unterscheidung von ›Funktionsgedächtnis‹ und ›Speichergedächtnis‹ (Abschnitt 1.2.3). 1.2.1 ›Kommunikatives‹ und ›kulturelles Gedächtnis‹ Jan und Aleida Assmann übernehmen von Halbwachs explizit seine ›sozial-konstruktivistische‹ Konzeption der Vergangenheit. Vergangenheit, so Jan Assmann, »ist eine soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt. Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung« (J. Ass-

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mann 2007: 48). Jan und Aleida Assmann führen jedoch auch Aspekte zur Abgrenzung gegen das halbwachssche ›kollektive Gedächtnis‹ an. Jan Assmann leitet in Das kulturelle Gedächtnis aus der Gegenüberstellung von Gedächtnis und Geschichte7 ab, dass Halbwachs als ›kollektives Gedächtnis‹ nur die lebendige mündliche Tradierung gelten lässt. Der einen Historie, in der alles gleich wichtig ist und insbesondere Diskontinuitäten, Prozesse und Ereignisse der Veränderung berücksichtigt werden, stehen die vielen Kollektivgedächtnisse gegenüber, die aufgrund ihrer Bindung an die Identitäten von Gruppen Veränderungen tendenziell ausblenden. Das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte ist nach Assmanns Rekonstruktion eines der Abfolge: »Wo die Vergangenheit nicht mehr erinnert, d.h. gelebt wird, hebt die Geschichte an.« (Ebd.: 44) Geschichte ist für Halbwachs deshalb kein Gedächtnis, weil es kein universelles Gedächtnis gibt, sondern immer nur ein solches, dessen Träger eine in Raum und Zeit begrenzte Gruppe ist: »Seine bahnbrechende Entdeckung des Kollektivgedächtnisses« – so Assmann über Halbwachs – »beruht auf der Zuordnung von Gedächtnis und Gruppe. An verschiedenen Beispielen vermag er zu illustrieren, wie Gruppenerinnerung und Gruppenidentität unauflöslich in gegenseitiger Bedingung verknüpft sind.« (Ebd.: 46) Die von Halbwachs erarbeiteten Grundstrukturen bleiben zwar auch für die von Assmann beabsichtigte Kulturanalyse fundamental, da sie weitgehend für Strukturen und Mechanismen kultureller Überlieferung überhaupt gelten. Doch eine Gedächtnistheorie, die nicht – wie Halbwachs – »an der Grenze der Gruppe« haltmacht und die eine Verallgemeinerung »in Richtung Kulturtheorie« anstrebt, muss »die Perspektive kultureller Evolution« bedenken und »den Übergang von gelebter, kommunizierter Erinnerung zu institutionalisierter, kommemorierter Erinnerung noch schärfer herausarbeiten und dabei vor allem auch auf die (r)evolutionäre Errungenschaft der Schrift explizit eingehen« (ebd.). Assmann zielt also stärker als Halbwachs auf die kulturellen Objektivationen, die manifesten kulturellen Ausdrucksweisen wie Texte, Traditionen und Bräuche im Unterschied zur mündlichen Tradierung. Hier setzt der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ im Sinne eines ›Speichers‹ fester materieller Objektivationen als eigenständige Gedächtnisform an: Jan und Aleida Assmann legen den Schwerpunkt auf die institutionalisierten Gedächtnisleistungen im Unterschied zur gelebten, kommunizierten Tradierung. Für Jan Assmann handelt es sich beim ›kulturellen Gedächtnis‹ deshalb um eine

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Geschichte wird Halbwachsʼ Auffassung zufolge von Spezialisten gepflegt und beruht nicht auf einer alltäglichen Lebenspraxis von Gruppen (vgl. Halbwachs 1985: 372f.; Halbwachs 1967: 66ff.).

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Gedächtnisform, da es wie das halbwachssche ›kollektive Gedächtnis‹ von Gruppen und aktuellen Gruppenidentitäten abhängig ist (vgl. J. Assmann 1988: 12). Es dient dazu, dem Selbstverständnis eines kulturellen Kollektivs Ausdruck zu verleihen und es für die Zukunft zu stabilisieren. Der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ dient Jan Assmann daher als Oberbegriff, innerhalb dessen er zwischen ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ unterscheidet (vgl. J. Assmann 2007: 45). Der Begriff des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ bildet in der assmannschen Konzeption einen neuen Begriff für das ›kollektive Gedächtnis‹ nach der von Halbwachs formulierten Bedeutung. Jan Assmann kritisiert zur weiteren Abgrenzung gegen das von ihm nun so genannte halbwachssche ›kommunikative Gedächtnis‹ außerdem dessen Präsentismus: Für Halbwachs kann die Vergangenheit immer nur rekonstruiert werden. Vergangenheit gibt es nur, insoweit sie von einer Gegenwart aus erinnert wird, und sie wird nur erinnert, insoweit sie von dieser Gegenwart benötigt wird (vgl. J. Assmann 2005a: 75): Die »Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr« (Halbwachs 2003: 21). Es ist für Assmann – trotz seines Bekenntnisses zur ›sozial-konstruktivistischen‹ Konzeption der Vergangenheit – eine verkürzte Vorstellung von Erinnerung, wenn nur ihr Zustandekommen in der Gegenwart berücksichtigt wird. Denn auch von der Vergangenheit selbst gehen Assmann zufolge Wirkungen aus (vgl. J. Assmann 2005a: 77). Deshalb muss das halbwachssche ›kommunikative Gedächtnis‹ durch eine andere Gedächtnisform ergänzt werden, die die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart im Sinne normativer Ansprüche, heiliger Verpflichtungen und orientierender Perspektiven eines weit in die Vergangenheit reichenden Erfahrungsraums berücksichtigt. Der Horizont dieses ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist durch ›Fixpunkte‹ und ›Erinnerungsfiguren‹ abgesteckt, von denen eine sinngebende Orientierungskraft in der Gegenwart ausgeht (vgl. ebd.: 79f.). Diese Dimension des Gedächtnisses fällt Assmann zufolge bei Halbwachs unter ›Geschichte‹ oder ›Tradition‹ und hat nichts mit dem präsentistisch bestimmten Gedächtnis zu tun: Die ›Fixpunkte‹ der Vergangenheit werden Halbwachs zufolge nicht erinnert, sondern gelernt (vgl. ebd.: 75). Darum betont Assmann: »Das kulturelle Gedächtnis ist die Art von Gedächtnis, die er [Halbwachs] gerade nicht im Sinn hatte, wenn er von Gedächtnis sprach und die er vermutlich auch nicht als eine Gedächtnisform gelten gelassen hätte.« (Ebd.: 69) Ob Assmanns Abgrenzung in dieser Schärfe zutreffend ist, darf bezweifelt werden. Denn Halbwachs spricht in seiner frühen Studie über Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen durchaus von materiellen Spuren, Riten, Texten und Traditionen, die der Rekonstruktion der Vergangenheit dienen (vgl. Halb-

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wachs 1985: 296). Er überschreitet den Rahmen des Generationengedächtnisses, das sich durch die alltägliche mündliche Kommunikation bildet und in dem es vor allem um die individuelle autobiografische Erinnerung geht – und das Assmann mit dem Begriff des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ bezeichnet –, schon in den Kapiteln zum religiösen Gruppengedächtnis und zu den gesellschaftlichen Klassen (vgl. ebd.: 243ff.; Erll 2005: 17). Halbwachs reflektiert in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von kulturellen Objektivationen für die Erinnerung: Die für das Leben der Gruppe bedeutungsvollen materiellen Formen sind für ihn nicht vom Innenleben der Subjekte zu trennen, da die Erinnerung sich an ihnen konkretisiert und materialisiert. Soziale Gruppen prägen den Raum, in dem sie existieren, und verleihen ihm kollektive Bedeutungen, Vorstellungen und Werte, Gedanken und Gefühle, die ihrerseits auf das Bewusstsein der Gruppenmitglieder zurückwirken und als einheitliches Ganzes der konkreten Wahrnehmung gegeben sind. Da materielle Objektivationen von kollektiven Bedeutungen verhältnismäßig stabil sind, ist eine Orientierung daran geeignet, zur Kontinuität des ›kollektiven Gedächtnisses‹ beizutragen (vgl. Egger 2003: 261f.; Echterhoff/Saar 2002a: 21; Halbwachs 1967: 129). In seiner Studie über die Stätten der Verkündigung im Heiligen Land behandelt Halbwachs ausdrücklich stärker geformte ›kollektive Gedächtnisse‹ der christlichen Topografie, deren Zeithorizonte sich über Jahrtausende erstrecken und die daher manifeste Medien wie Gegenstände und ›Gedächtnisorte‹ benötigen (vgl. Erll 2005: 17): »Die heiligen Stätten werden zu greifbaren Zeugen, vermitteln eine sinnliche Gewißheit, die sich anderen hinzugesellt, vielleicht aber eine der entscheidenden bleibt. Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren.« (Halbwachs 2003: 14) Diese Funktion der materiellen Objektivationen für Gruppengedächtnisse wird von Halbwachs dahingehend verallgemeinert, dass etwa die Konzentration an einem Ort, die Differenzierung im Raum oder die Dualität einander entgegengesetzter Stellen Mittel sind, derer sich soziale Gruppen aller Art immer wieder bedienen, um Erinnerungen festzuhalten und zu ordnen (vgl. ebd.: 193f.). In diesem Zusammenhang relativiert Halbwachs auch seinen Präsentismus und befindet sich in großer Nähe zu Jan Assmanns Bestimmung des ›kulturellen Gedächtnisses‹: »Sicher rekonstruiert das kollektive Gedächtnis seine Erinnerungen derart, daß sie mit den zeitgenössischen Vorstellungen übereinstimmen. Aber es trifft auf Widerstände: auf steinerne Überreste, schriftliche Zeugnisse, auf schon bestehende Riten, feste Institutionen.« (Ebd.: 197) Halbwachs betont ausdrücklich den ›Widerstand der Dinge‹, auf den die willentlichen Konstruktionsbemühungen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ in Form von Riten, Formeln, mechanischen Abläufen, alten Traditionen des Gedenkens und materiellen Ob-

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jektivationen mitunter stoßen. Diese verdanken sich selbst wiederum einer früheren Anpassung an die Vorstellungen der Gegenwart sowie deren Anpassung an die materiellen Überreste früherer Vorstellungen (vgl. ebd.: 210f.). Es darf angenommen werden, dass Halbwachs den assmannschen Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ zwar nicht als eigenständige Gedächtnisform hätte gelten lassen, sehr wohl aber als Dimension des sich in kommunikativer Praxis stets im Wandel begriffenen ›kollektiven Gedächtnisses‹. Diese Aussage wird von Jan Assmann auch annähernd anerkannt,8 seine dem widersprechenden Aussagen zur Abgrenzung gegen Halbwachs hält er dennoch aufrecht. Dies könnte darin begründet sein, dass es Assmann weniger auf die Wandelbarkeit der kollektiven Ansichten ankommt, sondern mehr auf die ›Fixpunkte‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹, die für eine relativ unwandelbare ›kollektive Identität‹ einstehen sollen: Das ›kulturelle Gedächtnis‹ soll als eine Größe beschrieben werden, die von der beständig im Wandel begriffenen zeitgenössischen Kommunikation abgetrennt ist. Die Voraussetzung der assmannschen Konzeption ist also die begriffliche Trennung zweier Modi des Erinnerns bzw. zweier Funktionen des ›kollektiven Gedächtnisses‹, dem ›kommunikativen‹ und dem ›kulturellen‹ Gedächtnis, die sich nach Inhalt, Form, Medien, Zeitstruktur und Trägern unterscheiden (vgl. J. Assmann 2007: 48ff.; Erll 2005: 28f.). Das ›kommunikative Gedächtnis‹, von Assmann auch ›biografische Erinnerung‹ genannt (vgl. J. Assmann 2007: 51f.), zeichnet sich vor allem durch die mündliche Überlieferung, seine zeitliche Beschränkung und die Funktion für die Alltagsdeutung aus. Es entsteht durch soziale Alltagsinteraktion, hat die Geschichtserfahrung von Zeitgenossen zum Inhalt und bezieht sich deshalb auf einen begrenzten Zeithorizont (vgl. Erll 2005: 28). Seine Inhalte sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Der typische Fall des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ ist das Generationsgedächtnis, das mit der Zeit und seinen Trägern vergeht (vgl. J. Assmann 2007: 50). Das ›kulturelle Gedächtnis‹ bzw. die ›fundierende Erinnerung‹ ist dagegen ein an feste Objektivationen und Zeichensysteme gebundenes und institutionalisiertes Gedächtnis, ein personenunabhängiger ›Speicher‹ für den Bezug einer Gemeinschaft auf ihre Vergangenheit. Damit ist es im Unterschied zum ›kom-

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Assmann schreibt, dass Halbwachs in seinem Buch Stätten der Verkündigung im Heiligen Land »die Grenze zwischen mémoire vécue und tradition überschritten und den Gedächtnisbegriff auf Denkmäler und Symboliken aller Art angewandt« hat. Von diesem Ansatz führe »eine direkte Linie« zu Pierre Noras Erforschung der ›Erinnerungsorte‹ und zu den Forschungen zum ›kulturellen Gedächtnis‹ (J. Assmann 2002a: 9).

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munikativen Gedächtnis‹ eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik (vgl. ebd.: 51f.). Es richtet sich auf ›Fixpunkte‹ in der fernen Vergangenheit, auf mythische, die Gemeinschaft fundierende Ereignisse. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ umfasst einen festen ›Bestand‹ an Inhalten und Sinnstiftungen, zu deren Kontinuierung und Interpretation Spezialisten wie Priester oder Archivare ausgebildet werden (vgl. Erll 2005: 28). Es besteht aus dem »jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und –Riten […], in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt« (J. Assmann 1988: 15). Das ›kulturelle Gedächtnis‹ ist ein Sammelbegriff für dasjenige Wissen, das im Interaktionsrahmen eines Kollektivs Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation weitergegeben wird (vgl. ebd.: 9). In diesem ›Bestand‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ gerinnt Vergangenheit zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet, sodass faktische Geschichte als fundierende Geschichte in einen Mythos transformiert wird (vgl. J. Assmann 2007: 52). Durch die Vergegenwärtigung der fundierenden Erinnerungsfiguren vergewissert sich eine Gruppe ihrer ›kollektiven Identität‹, der Assmann zufolge »etwas Feierliches, Außeralltägliches« (ebd.: 53) anhaftet. Es lässt sich bereits erkennen, dass hier ein für das assmannsche Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ganz wesentliches Moment liegt: Der ›Bestand‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ hat die Identitätsstiftung und -bewahrung zur hauptsächlichen, wenn nicht zur einzigen Funktion. Der Begriff der ›Kultur‹ wird von Jan und Aleida Assmann in Bezug auf das ›kulturelle Gedächtnis‹ nicht theoretisch entwickelt (vgl. Zierold 2006: 86). Es finden sich lediglich relativ isolierte Bestimmungen, etwa wenn Kultur in Anlehnung an Peter Berger und Thomas Luckmann als »symbolische Sinnwelt« (J. Assmann 2007: 16) bestimmt wird. An anderer Stelle heißt es, Kultur sei »der historisch veränderliche Zusammenhang von Kommunikation, Gedächtnis und Medien« (Assmann/Assmann 1994: 114), im gleichen Aufsatz wird Kultur im Anschluss an Juri Lotman als »das nichtvererbbare Gedächtnis einer Gruppe« (ebd.: 117) definiert. ›Kultur‹ und ›Gedächtnis‹ werden von Jan und Aleida Assmann gewissermaßen gleichgesetzt; Kultur erscheint in ihrer Konzeption als eine Größe, die primär auf Gedächtnisleistung abzielt. Sie besteht Jan und Aleida Assmann zufolge im Kern aus kollektiven Gedächtnisinhalten, die bestimmen, wie und was zu erinnern ist. Mit ›Kultur‹ ist – in Abgrenzung zum ›kommunikativen Gedächtnis‹ – mithin nicht die individuelle oder eine auf Prozesse der mündlichen Tradierung begrenzte Form der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse gemeint, sondern die vielfältigen kulturellen Objektivationen als Ausdrucksformen und zugleich als ›Speicher‹ und Vermittler des Gedächtnisses

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(vgl. König 2008: 108). ›Kulturelles Gedächtnis‹ bezeichnet für Jan und Aleida Assmann die Hochkultur eines Kollektivs als sein Gedächtnis und nicht etwa das Gedächtnis einer Kultur. Der Kulturbegriff meint ›Kultur‹ im Sinne der Kultur, die ein Kollektiv hat (und haben soll) und nicht ›Kultur‹ im Sinne von ›Lebensform‹, einer zeitlich und räumlich bestimmbaren Gruppe von Menschen, die sich durch relative Homogenitäten von anderen unterscheidet und zu der eine Pluralität der Kulturen besteht.9 1.2.2 Medialität des ›kulturellen Gedächtnisses‹ Der Zugang zur gesamten Erfahrung und damit auch zur eigenen und gemeinsamen Vergangenheit ist immer ein vermittelter. Die Frage nach dem ›kulturellen Gedächtnis‹ ist aus diesem Grund eng verbunden mit derjenigen nach seinen Medien als Ausdrucksformen und Vermittler und zugleich als Träger bzw. als ›Speicher‹ der Gedächtnisinhalte. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ verändert seine Struktur, wenn neue Medien dominant werden, die vorrangig die Inhalte des ›kollektiven Gedächtnisses‹ vermitteln. Diese medienkulturellen ›Sprünge‹ werden in medienkulturgeschichtlichen Überlegungen üblicherweise mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, zum Buchdruck und zu den neuen elektronischen Medien und dem Internet kenntlich gemacht.10 Die Speicher- und

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Aleida Assmann grenzt dementsprechend ihre Vorstellung von Kultur als Gedächtnis von »Kultur als Lebenswelt und Lebensstil, in der unsere täglichen Bedürfnisse strukturiert und beantwortet werden«, als »politische und soziale Organisationsform von Menschenmassen« und »Wissenschaft und Technik« ab: »Erst in der vierten und letzten Dimension, in der Religion, Geschichte und die Künste unterzubringen sind, kann sinnvoll von ›Kultur als Gedächtnis‹ die Rede sein.« Mithilfe von Texten, Handlungen und Artefakten transzendieren Menschen ihren eigenen Zeithorizont und gliedern sich in einen sehr viel größeren Kommunikationsrahmen ein. »Allein in diesem Bereich nimmt Kultur die Form des Gedächtnisses an.« (A. Assmann 2004: 46f.) Kultur ist in Bezug auf den Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ also das Medium des Sozialen, nicht das Soziale selbst. Jan Assmann selbst kommen Zweifel, »ob die Metapher des Gedächtnisses hier überhaupt noch angebracht ist«, verwirft sie jedoch wenige Zeilen später wieder (J. Assmann 1988: 11; vgl. König 2008: 98f.). Vgl. zur Geschichte der Unterscheidung von ›Kultur‹ und ›Kulturen‹ Elberfeld 2008; Elberfeld 2007.

10 Friedrich A. Kittler zufolge hängt sämtliches Wissen wesentlich von den vorherrschenden Kulturtechniken ab. Er unterscheidet mehrere Phasen der Mediengeschichte, die er als Aufschreibesysteme 1800 und 1900 bezeichnet. ›Aufschreibesysteme‹ bezeichnet bei Kittler »das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer ge-

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Kommunikationsmedien sind jedoch keine neutralen Behälter oder Kanäle, durch die feststehende Informationen fließen, sondern sie haben mit ihren Unterscheidungsmöglichkeiten und Beschränkungen selbst eine Wirkung auf Form und Inhalt der vermittelten Ansichten der Vergangenheit. Die technischen Medien sind aus diesem Grund nicht ausschließlich als Mittler aufzufassen, sondern »als genuine Organisationsformen menschlicher Welterfahrung«, wie Aleida Assmann schreibt (A. Assmann 2011: 25; vgl. Erll 2005: 124). Durch die Erfindung der Schrift im Übergang von oralen zu literalen Kommunikationsformen wird der Erhalt und die Übertragung von Inhalten, auch über große zeitliche und räumliche Distanzen hinweg, unabhängig vom Gedächtnis des Individuums. Gedächtnisinhalte müssen nicht mehr persönlich übermittelt werden: Die Schrift fixiert kulturelle Sinnbestände in Zeichen und lagert das ›kollektive Gedächtnis‹ aus der gelebten Erinnerung in materielle Medien aus. Erst jetzt wird das Problem der Selektivität des ›kollektiven Gedächtnisses‹ virulent. Mit dem Buchdruck explodiert der Bestand des Archivierbaren, die Menge an gespeicherten Informationen wird unüberschaubar für einzelne Personen. Der mit dem Internet verbundene Computer schließlich bietet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur Speicherung und zum Abruf von aktuellem und überliefertem Wissen. Je größer der ›Bestand‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ wird, desto geringer ist der Anteil des tatsächlich aktiv Genutzten. Nicht mehr die Bewahrung des Gedächtnisses steht im Mittelpunkt, sondern die Auswahl des Erinnernswerten (vgl. A. Assmann 2009: 408f.). Dies führt Aleida Assmann zur Unterschei-

gebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben« (Kittler 1995: 519). Das Aufschreibesystem 1800 mit dem Leitmedium Buch und dem Text als Speichertechnik hat eine Veränderung des Denkens hin zur Linearität zur Folge. Prozesse und Verfahren werden automatisiert, die Wissenschaften differenzieren sich aus. Durch das Aufschreibesystem 1900 seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wird das Speichern von Bild und Ton möglich. Medien wie Grammophon, Film, Radio, Fernsehen und Tonband brechen das Monopol der Schrift. Das mögliche Nachfolgestadium ist »ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis« (Kittler 1986: 8). Durch die Digitalisierung werden zahlreiche Manipulationen von Informationen möglich: »Modulation, Transformation, Synchronisation; Verzögerung, Speicherung, Umtastung; Scrambling, Scanning, Mapping« (ebd.). Der Computer wird zum alles integrierenden Leitmedium. Zur Ablösung des Leitmediums Buch durch den Computer, das Ende der ›Gutenberg-Galaxis‹, vgl. auch Bolz 1993; Bolz 1990. Zur Gedächtnisgeschichte als Mediengeschichte vgl. auch Esposito 2002; LeGoff 1992; Leroi-Gourhan 1980; zusammenfassend Erll 2005: 126ff.

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dung von ›Speicher-‹ und ›Funktionsgedächtnis‹, die im nächsten Abschnitt behandelt wird. Für Jan Assmann sind Mündlichkeit und Schriftlichkeit die zentralen Medien des ›kulturellen Gedächtnisses‹. Beide Medien besitzen grundsätzlich die gleiche Funktion mit Blick auf die Herstellung kultureller Kohärenz (vgl. Erll 2005: 30). Dennoch ändern sich mit der Einführung der Schrift die Formen der Vergegenwärtigung kultureller Vergangenheit, da in vorschriftlichen Gesellschaften der äußerliche ›Speicher‹ der Kommunikation noch eng auf die mündliche Kommunikation bezogen bleibt und der Inhalt des ›kulturellen Gedächtnisses‹ sich zum großen Teil mit den Sinngehalten deckt, die innerhalb einer Gruppe zirkulieren. Die Partizipation am ›kulturellen Gedächtnis‹ wird vor allem durch persönliche Anwesenheit, Feste und Riten organisiert. Erst mit der Schrift bildet sich ein Gedächtnis aus, das über den Horizont des in einer jeweiligen Epoche tradierten und kommunizierten Sinns hinausgeht, was dazu führt, dass dieser ›Außenbereich‹ der Kommunikation sich verselbständigt und komplexer wird (vgl. J. Assmann 2007: 22f.). In vorliteralen Kulturen existiert die Kultur ausschließlich im lebendigen Vollzug der Tradition, im Moment der mündlichen Überlieferung. Es gibt sie nicht im Sinne des ›kulturellen Gedächtnisses‹ als akkumulierten ›Bestand‹, der zum Objekt der Überlieferung werden könnte und dessen Erhalt einen Wert an sich darstellen würde. Die Akkumulation von kulturellen ›Beständen‹ und die vom Akt der Überlieferung unabhängige Wertschätzung für ihren Gegenstand treten erst dann auf, wenn eine Tradition ihre lebendige Kraft verliert und der Erscheinungsraum miteinander interagierender Sprecher durch eine dauerhafte Institutionalisierung materieller Zeichen ersetzt wird. Erst dann gibt es ein ›kulturelles Gedächtnis‹ und eine Geschichte, die über den Horizont des gelebten Lebens von ein oder zwei Generationen hinausreicht (vgl. Agamben 2012a: 142). Jan Assmann unterscheidet darum die ›rituelle Kohärenz‹ oraler Kulturen, die in der genauen Wiederholung von Mythen besteht, von der ›textuellen Kohärenz‹ skripturaler Kulturen, die zur Auslegung der Texte übergeht. Wiederholung und Interpretation gelten für Assmann als funktionell äquivalente Verfahren in der Herstellung kultureller Kohärenz (vgl. J. Assmann 2007: 18, 89). Der Übergang von ›ritueller‹ zu ›textueller Kohärenz‹ erfolgt Assmann zufolge nicht bereits durch die Erfindung der Schrift, sondern erst durch die »kanonisierende Stillstellung des Traditionsstroms« (ebd.: 93). Doch auch dieser aus der Definition des ›kulturellen Gedächtnisses‹ bekannte kanonische ›Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten‹ muss immer wieder neu angeeignet und Sinn muss immer gegenwärtig interpretiert werden.

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Jan Assmann geht es um die kulturellen ›Fixpunkte‹ einer ›fundierenden Erinnerung‹ und er stellt auch die Medien des ›kulturellen Gedächtnisses‹ in erster Linie als Speichermedien von unverändert zu bewahrenden identitätsstiftenden Inhalten dar. In diesem Zusammenhang muss jedoch zum einen angemerkt werden, dass die Medien selbst als Vermittler dieser Inhalte nicht von ihnen zu trennen sind und mit ihren jeweils spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten auch einen Einfluss auf sie haben. Zum anderen werden diese Inhalte den Überresten des Vergangenen in einer intersubjektiven Praxis als Bedeutung zugeschrieben, im Gebrauch der Medien, für den die gegenwärtigen sozialen ›Rahmen‹ die Mittel bereitstellen. Medien sind aus diesen Gründen nicht als reine Speicher zu denken, denn dann könnten sie die immer wieder zu aktualisierende Interpretation der Zeichen nicht leisten, die Voraussetzung dafür ist, sie als Zeichen einer substanziell eigenen Vergangenheit zu verstehen (vgl. Jochum 2003: 147f.). Auch Aleida Assmann betont, dass die Inhalte des symbolisch kodierten und materiell verobjektivierten ›kulturellen Gedächtnisses‹ von Menschen aufgenommen und verarbeitet werden und zudem durch psychologische Identifikation und kognitive Auseinandersetzung angeeignet sowie als Teil der eigenen Identität begriffen werden müssen: »Die Stabilität der Datenträger macht noch kein kulturelles Gedächtnis: es muss fortwährend in Kommunikation und Erfahrung übersetzt werden.« (A. Assmann 2007: 60; vgl. ebd.: 210) Der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist an dieser Stelle, auch wenn er nicht primär darauf abzielt, für eine Konzeption von Identität anschlussfähig, die Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in erster Linie als Größen betrachtet, die sich im Kontext von intersubjektiver Praxis herausbilden und beständig verändern. Das ›kollektive Gedächtnis‹ in diesem Sinne der Aneignung und immer neu zu erfolgender Aktualisierung wäre dann jedoch eher als Erinnerung im Unterschied zum ›Speicher‹ des Gedächtnisses zu deuten. Durch diese Überlegungen bestätigt sich, was im Zusammenhang mit der assmannschen Abgrenzung zu Halbwachs herausgearbeitet wurde: Der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist als Dimension des sich in kommunikativer Praxis stets im Wandel begriffenen ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu verstehen und nicht als eigenständige Gedächtnisform. In traditionellen und wenig differenzierten Gesellschaften kann noch von einer qualitativen Grenze zwischen dem medial vermittelten ›kulturellen Gedächtnis‹ einer mythischen Vergangenheit und dem primär mündlich vermittelten ›kommunikativen Gedächtnis‹ der ›lebendigen‹ Erfahrungen von Zeitgenossen die Rede sein. In modernen Gesellschaften werden jedoch nahezu alle Kenntnisse stets medial vermittelt, ganz unabhängig von der Frage, ob sie sich auf eine mythische Vergangenheit, die Erfahrungen früherer Generationen oder die aktu-

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elle Gegenwart beziehen (vgl. Zierold 2006: 92; Erll 2005: 115). Jan und Aleida Assmann reservieren die Medien für das ›kulturelle Gedächtnis‹. Die mediale Ebene liegt jedoch eher quer zu den verschiedenen Gedächtnisformen (vgl. Giesen 2002: 204). Die idealtypische Unterscheidung zwischen ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ muss aus diesem Grund relativiert werden: Das ›kulturelle Gedächtnis‹ muss beständig kommunikativ aktualisiert werden und auch das ›kommunikative Gedächtnis‹ wird durch kulturelle Formung bestimmt und medial vermittelt. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ kann als das stets vorläufige Resultat von kommunikativen Aushandlungsprozessen verstanden werden: Es bildet sich in sozialer Praxis und wirkt wiederum auf diese zurück.11 Aus diesem Grund ist auch die universelle Geltung des Modells, die von Jan und Aleida Assmann im Rahmen einer allgemeinen Kulturtheorie in Anspruch genommen wird, zu hinterfragen. Das assmannsche Modell wurde in erster Linie anhand der Analyse vormoderner Gesellschaften entwickelt12 und so stellt sich die Frage, inwieweit die Terminologie auch für moderne Gesellschaften gelten kann. Es ist auffällig, dass Jan und Aleida Assmann ihre Ausführungen zur Schrift zwar auf eine Fülle von Studien stützen, die Analyse neuerer Medienentwicklungen jedoch weit weniger ausführlich behandeln. Zudem ist aufgrund der begrifflichen Bestimmung des ›kulturellen Gedächtnisses‹ unklar, inwieweit dieser Begriff überhaupt auf die jüngere Vergangenheit anwendbar ist: Das ›kulturelle Gedächtnis‹ richtet sich auf die fundierende Erinnerung einer mythischen Vergangenheit und es lässt sich kaum bestimmen, welche Bestandteile des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ der jüngeren Vergangenheit dauerhaft in ein solches ›kulturelles Gedächtnis‹ übergehen werden. Über das ›kulturelle Gedächtnis‹ der jüngeren Vergangenheit, etwa seit dem Zweiten Weltkrieg, lässt sich aus diesem Grund kaum etwas sagen (vgl. Zierold 2006: 91f.). Dieser Befund führt den paradoxen Status des ›kulturellen Gedächtnisses‹ deutlich vor Augen, da die aktuelle Brisanz des Übergangs vom ›kommunikativen‹ zum ›kulturellen Gedächtnis‹, wie Jan und Aleida Assmann immer wieder betonen, vor allem am Aussterben derjenigen Generation deutlich wird, die den Zweiten Weltkrieg und die Shoah selbst erlebt hat. Die Fülle der Studien, die

11 Harald Welzer bezeichnet das ›kulturelle Gedächtnis‹ dementsprechend als ›geronnenen Aggregatzustand‹ des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ und weist gleichzeitig darauf hin, dass es durch kommunikatives Handeln selbst einem Prozess des beständigen Wandels ausgesetzt ist (vgl. Welzer 2002: 221). 12 Vgl. den Untertitel von Jan Assmanns Das kulturelle Gedächtnis: »Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen«. Der zweite Teil des Buches enthält Fallstudien zu Ägypten, Israel, den ›Keilschriftkulturen‹ und Griechenland.

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sich für die Auseinandersetzungen mit der deutschen Vergangenheit von 19331945 des Paradigmas des ›kulturellen Gedächtnisses‹ bedienen, ist enorm. Auch Aleida Assmann spricht von einer »Verschärfung des Gedächtnis-Problems« dadurch, dass »das Erfahrungsgedächtnis der Zeitzeugen, wenn es in Zukunft nicht verlorengehen soll, in ein kulturelles Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden muß« (A. Assmann 2009: 15). Astrid Erll betont explizit die für die Übertragung des assmannschen Modells auf die jüngere Geschichte vorausgesetzte Einsicht, dass die ›fundierenden Geschichten‹ sich nicht auf eine mythische Urzeit beziehen müssen, sondern ihren sinnstiftenden Charakter auch aus erst kürzlich vergangenen Ereignissen beziehen können (vgl. Erll 2005: 116). 1.2.3 ›Funktionsgedächtnis‹ und ›Speichergedächtnis‹ Aleida Assmann führt zusätzlich zur Unterscheidung zwischen ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ diejenige zwischen ›Speicher-‹ und ›Funktionsgedächtnis‹ ein (vgl. A. Assmann 2009: 130ff.; A. Assmann 1995). Das ›Funktionsgedächtnis‹ ist das ›bewohnte‹ Gedächtnis, aus dem sich die aktuell bedeutsamen Erinnerungen einer Gruppe speisen. Es umfasst ein Repertoire symbolischer Formen, die für die Weltorientierung und das Selbstbild einer Gruppe aktuell als unabdingbar gelten. Das ›Speichergedächtnis‹ ist dagegen das ›unbewohnte‹ Gedächtnis, eine Masse bedeutungsneutraler Elemente, die keinen lebendigen Bezug zur Gegenwart aufweisen, jedoch noch vorhanden sind. Es fällt aus der aktuellen Zirkulation kulturellen Sinns heraus, verschwindet aber nicht ganz, sondern erhält sich unbeachtet in Archiven, Bibliotheken und anderen kulturellen Nischen und umfasst insofern auch ein Repertoire verpasster Möglichkeiten und alternativer Optionen. Der Modus des ›Speichergedächtnisses‹ umfasst das Aufheben, Konservieren, Ordnen und Katalogisieren, der Modus des ›Funktionsgedächtnisses‹ hingegen die Tätigkeiten Auswahl, Vermittlung und Aneignung sowie die selektive Nutzung durch ein gegenwärtiges Kollektiv. Aus dem Akt, der die strukturlosen und unzusammenhängenden Elemente als komponiert, konstruiert und verbunden in das Funktionsgedächtnis aufnimmt, geht Jan und Aleida Assmann zufolge Sinn hervor, »eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht« (A. Assmann 2009: 137; vgl. ebd.: 134f.; Assmann/Assmann 1994: 122f.). Durch die vermehrte Textproduktion und überhaupt die immer weitergehende Akkumulation kultureller Objektivationen treten ›Speicher-‹ und ›Funktionsgedächtnis‹ immer weiter auseinander. Soll das ›kulturelle Gedächtnis‹ als ein fester Bestandteil der kulturellen Formen gelten, die ein Kollektiv für die eigene Identitätssicherung bewahrt und tradiert, so weist die Unterscheidung zwischen

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›Speicher-‹ und ›Funktionsgedächtnis‹ darauf hin, dass das ›kulturelle Gedächtnis‹ in dieser Funktion – und damit im Sinne der ursprünglichen Bestimmung durch Jan Assmann – nicht als der gesamte ›Bestand‹ aller akkumulierten Objektivationen verstanden werden darf. Aus diesem ›Bestand‹ muss vielmehr ausgewählt werden. Diese Selektivität des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist für seine Funktionalität unerlässlich (vgl. Pethes 2008: 71). Insbesondere das unaufhaltsame Anwachsen der Datenmengen in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart macht es notwendig, eine neue ›Kunst des Vergessens‹ auszubilden (vgl. Weinrich 2005: 259). Die Überführung von Gedächtnisinhalten in digitale Speichersysteme bei gleichzeitigem Abbau tradierter Einrichtungen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ betrifft jedoch nicht nur die Frage der Speicherdauer und die Entscheidung, was als erinnerungswürdig betrachtet wird, sondern auch den Verlust derjenigen Erinnerungen, die an die Ausübung bestimmter Praktiken wie Gesängen, Ritualen, Festen etc. gebunden sind und der Tradierung durch die gelebte Erinnerung bedürfen. Die ›Bestände‹ des ›Speichergedächtnisses‹ werden von Jan Assmann auch als ein Vergessenes bezeichnet: »Je weiter die Texte in den Hintergrund unbewohnter Archivbestände treten, desto mehr wird der Text zu einer Form der Vergessenheit, zum Grab des Sinns, der einmal aus der gelebten Bedeutung und Kommunikation in ihn ausgelagert worden war.« (J. Assmann 2007: 96)13 Die Unterscheidung von ›Funktions-‹ und ›Speichergedächtnis‹ dient also auch dazu, den Aspekt des ›kulturellen Gedächtnisses‹ zu beschreiben, dass Erinnern und Vergessen hier nahe beieinanderliegen: Vergessenes ist oft nicht für immer verloren, sondern nur zeitweise unzugänglich und kann vielleicht einmal wieder erinnert werden. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ besteht in einem dynamischen Verhältnis zwischen dem Vergessenen und dem aktuell als Teil einer kulturellen Identität Erinnerten (vgl. A. Assmann 2004: 59). Die Grenze zwischen den beiden Formen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ist durchlässig, sodass Wandlungsmöglichkeiten und -prozesse des ›kulturellen Gedächtnisses‹ erklärbar werden (vgl. Erll 2005: 32). Mit dem ›Speichergedächtnis‹ als Außenhorizont des ›Funk-

13 Renate Lachmann spricht in diesem Zusammenhang von einem ›positiven‹ und einem ›negativen‹ Speicher. Kultur realisiert sich in Texten, die zum einen als ›Akkumulatoren‹ des kulturellen Sinns, zum anderen als dessen ›Generatoren‹ auftreten. Vergessen versteht sie als die vorübergehende Inaktivität eines Sinnsystems, als ›Reserve‹ innerhalb der Kultur. Aktuell nicht relevante Texte werden verfügbar gehalten und die semantischen und pragmatischen Funktionen kultureller Zeichenträger können durch Ausschluss vorübergehend verloren, jedoch auch wieder einbezogen werden (vgl. Lachmann 1993).

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tionsgedächtnisses‹ wird diejenige Dimension des ›kulturellen Gedächtnisses‹ bezeichnet, die aus der aktuellen intersubjektiven Praxis herausfällt, von der aus jedoch auch verengte Perspektiven auf die Vergangenheit relativiert, kritisiert und verändert werden können (vgl. Assmann/Assmann 1994: 129). Mit der Unterscheidung von ›Funktions-‹ und ›Speichergedächtnis‹ kommt das ›kulturelle Gedächtnis‹ in einem weiten Sinn in den Blick: Es umfasst alle Objektivationen einer Kultur, nicht bloß die zentralen ›Wiedergebrauchs-Texte, -Bilder und -Riten‹, sondern auch das Vergessene und unbeachtet Archivierte. Mit ihm kommt eine Potenzialität zum Tragen: die Möglichkeit, latente, im Verborgenen bewahrte Gehalte durch Akte des Deutens und Interpretierens für neue Verwendungen in aktuelles Wissen zu verwandeln. »Ohne dieses historische Gedächtnis«, so Aleida Assmann, »hätten wir keine Vergleichs- und Reflexionsmöglichkeiten, die im Zentrum des historischen Bewusstseins stehen« (A. Assmann 2010: 169). Die ›Bestände‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ bleiben somit immer wandelbar und neu verhandelbar. Die Institutionen des ›Speichergedächtnisses‹ vertiefen den historischen Sinn und verbreitern damit das Imaginationspotenzial eines Kollektivs. Sie bieten entgegen der Tendenz zur Reduktion auf die Gegenwart einen Beitrag zur Orientierung in der Zeit: »Sie sind Anwälte der Alterität und Fremdheit der Vergangenheit ebenso wie Animatoren einer tot geglaubten Vergangenheit.« (Ebd.: 170)

2. Identität als Gedächtnisfunktion

Die Vorstellung einer fast vollständigen Austauschbarkeit der Begriffe ›Gedächtnis‹ und ›Identität‹ besitzt eine zentrale Bedeutung für das gegenwärtige Verständnis gemeinschaftlicher Erinnerungspraxis. Die politisch motivierte Vorstellung einer ›kollektiven Identität‹, vor allem von Nationen, bezieht sich neben der kulturalistischen Festlegung gemeinsamer Eigenschaften auf eine gemeinsame Geschichte. So ist es entgegen den Erwartungen klassischer Gesellschaftstheorien, die davon ausgehen, dass sich (zumindest in den entwickelten Industrienationen) die Orientierungen an herkunftsorientierten Kollektivzuschreibungen tendenziell auflöst, ein weitgehender common sense, dass die Wurzeln ›kollektiver Identität‹ in einer gemeinsamen Geschichte und in ihrer Kontinuierung durch ein ›kollektives Gedächtnis‹ liegen (vgl. Siems 2006: 8).1 Das ›kollektive Gedächtnis‹ soll die Grundlage ›kollektiver Identität‹ sein, aus gemeinsam geteiltem Wissen um die Vergangenheit ›kollektive Identität‹ entstehen, die wiederum aufgrund einer eindeutigen Zuordnung Orientierung bieten und Grundlage von sozialer Integration und individueller Entwicklung sein soll (vgl. ebd.: 255). Kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit wird als Grundlage des Bewusstseins von ›Einheit und Eigenart‹ (vgl. J. Assmann 1988: 12) einer Gruppe betrachtet. Dabei steht es außer Frage, dass es ›kollektive Identität‹ gibt und, vor allem, geben sollte. In diesem Kapitel wird zunächst der Zusammenhang von ›kollektivem‹ bzw. ›kulturellem Gedächtnis‹ und Identität, wie er sich innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ darstellt, herausgearbeitet und dabei einige zentrale Bestimmungen des verwendeten Identitätsbegriffs herausgestellt (Abschnitt 2.1).

1

So schreiben etwa Etienne François und Hagen Schulze in ihrer Einleitung zu Deutsche Erinnerungsorte, es gebe keine »Gemeinschaft ohne Gedenkfeiern und Denkmäler, Mythen und Rituale, ohne die Identifizierung mit denkwürdigen Persönlichkeiten, Gegenständen und Ereignissen der eigenen Geschichte« (François/Schulze 2005: 7).

44 | DAS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS‹

Anschließend wird grundlegend geklärt, welche zentralen Bestimmungen dem Identitätsbegriff innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ implizit zugeschrieben werden, da dieser Begriff zwar das Zentrum der Konzeptionen von Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann ausmacht, er von ihnen jedoch nicht hinreichend expliziert wird. Eine genauere Betrachtung ist deshalb nötig, um den Zusammenhang von ›kollektivem Gedächtnis‹ und Identität schärfer fassen zu können. Es sollen zentrale Momente benannt werden, die nicht nur in Bezug auf den Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ von entscheidender Bedeutung sind, sondern auch für Benjamins Erfahrungstheorie. Da Identität in Bezug auf das Gedächtnis vor allem als zeitliche Größe betrachtet wird, liegt das Augenmerk neben dem für jeden Identitätsbegriff unverzichtbaren Merkmal der Kohärenz vor allem auf der Kontinuität, die in einer Erzählung zur Darstellung kommt (Abschnitt 2.2).

2.1 I DENTITÄT

BEI

H ALBWACHS

UND

ASSMANN /ASSMANN

Zu den am stärksten rezipierten Aspekten des halbwachsschen Werks gehört der Zusammenhang von ›kollektivem Gedächtnis‹ und Identitätsbildung, der von Halbwachs selbst aber nur unsystematisch herausgearbeitet wird (vgl. Jureit 2010: 62).2 Der Zusammenhang stellt sich innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ so dar, dass die Ausbildung personaler und ›kollektiver Identität‹ eine zentrale Funktion des Vergangenheitsbezugs ist. Dabei bleibt meist sowohl der Identitätsbegriff selbst als auch die Art und Weise, in der der funktionale Zusammenhang mit dem ›kollektiven Gedächtnis‹ bestehen soll, recht unklar. Identität und Gedächtnis werden überwiegend in einem funktionalen Zirkel als sich wechselseitig konstituierend postuliert und es wird behauptet, dass – wie auch immer – Identität aus dem ›kollektiven Gedächtnis‹ hervorgeht. Es wird in diesem Abschnitt zunächst dargestellt, wie der Zusammenhang von ›kollektivem‹ bzw. ›kulturellem Gedächtnis‹ und Identität im Schritt von Halbwachs zu Jan und Aleida Assmann seine heute bekannte und weitgehend anerkannte Zuspitzung erhält (Abschnitt 2.1.1). Anschließend werden einige Anmerkungen zu der ›kollektiven‹ Dimension des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gemacht (Abschnitt 2.1.2) und die bei Jan und Aleida Assmann formulierte Vorstellung des ›kulturellen Gedächtnisses‹ als Identitätsspeicher analysiert, durch

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Jan Assmann bemerkt, dass der Identitätsbegriff von Halbwachs nur »sparsam« verwendet wird, der der »Wir-Identität« bei ihm nicht vorkommt, die Sache selbst jedoch »omnipräsent« ist (J. Assmann 2007: 46).

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die das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht bedeutsam wird (Abschnitt 2.1.3). 2.1.1 Identität im Schritt von Halbwachs zu Assmann/Assmann Jedes ›kollektive Gedächtnis‹ hat für Halbwachs eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger. Er betont, dass im kollektiven Vergangenheitsbezug vor allem Kontinuitäten hervorgehoben werden, die demonstrieren, dass eine Gruppe über die Zeit hinweg dieselbe geblieben ist (vgl. Erll 2005: 17). Gruppen neigen dazu, sich eine feste Form zu geben. Differenzen zu anderen Gruppen werden betont, innere Differenzen hingegen heruntergespielt (vgl. J. Assmann 2007: 40). Wie immer sich die Gruppe wandelt: »Das Grundlegende ist, daß die Züge, durch die sie sich von den anderen unterscheidet, fortbestehen und daß sie ihrem gesamten Inhalt den Stempel aufdrücken.« (Halbwachs 1967: 76) Das ›kollektive Gedächtnis‹ orientiert sich an Bedürfnissen und Belangen der Gruppe in der Gegenwart und verfährt selektiv und rekonstruktiv (vgl. Erll 2005: 17). Die Vergangenheit wird fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der Gegenwart her reorganisiert. Wenn eine Gruppe sich eines entscheidenden Wandels bewusst wird, dann hört sie auf, als Gruppe zu bestehen, und macht einer neuen Gruppe mit einem eigenen Gedächtnis Platz – oder sie verändert ihr Selbstbild. Da aber jede Gruppe nach Dauer strebt, tendiert sie dazu, Wandlungen auszublenden (vgl. J. Assmann 2007: 40; Halbwachs 1967: 75). Identität wird von Halbwachs als gegenwärtig konstruiertes individuelles oder kollektives Selbstbild verstanden, das sich vor allem durch die Vorstellung einer Kontinuität der eigenen Geschichte auszeichnet: »In dem Augenblick, in dem die Gruppe auf ihre Vergangenheit zurückblickt, fühlt sie wohl, daß sie dieselbe geblieben ist, und wird sich ihrer zu jeder Zeit bewahrten Identität bewußt« (Halbwachs 1967: 74). Die Vergegenwärtigung von Geschichte dient dazu, eine gruppenbezogene Fiktion von Kontinuität herzustellen, mit der kollektive Zugehörigkeitsangebote gestiftet werden (vgl. Jureit 2010: 62f.). Aufgrund der Pluralität von Gruppen mit verschiedenen Vorstellungen und Interessen muss eine Gesellschaft oft Widersprüche versöhnen, solange keine dieser Gruppen die Oberhand gewinnt. Eine Gesellschaft ist Halbwachs zufolge darauf angewiesen, zwischen den sie bildenden Gruppen eine gewisse Einheit der Ansichten herzustellen, weshalb sie dazu neigt, trennende Aspekte aus ihrem Gedächtnis auszuschalten und ihre Erinnerung zu manipulieren, um ein Gleichgewicht herzustellen (vgl. Halbwachs 2003: 197; Halbwachs 1985: 381f.). Auch wenn Halbwachs an dieser Stelle die Möglichkeit einer ideologischen Erfindung von Traditionen im Sinne einer Gesellschaft oder eines Staates andeutet, die sich

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über die Einzelnen und die Erinnerungsgruppen hinwegsetzt, kann es aufgrund der Gruppenbindung ›kollektiver Gedächtnisse‹ jedoch das ›kollektive Gedächtnis‹ einer Gesellschaft, Kultur oder Nation nicht geben (vgl. Liebsch 1997: 206). Es besteht immer eine Pluralität der Gedächtnisse und der Geschichten, die sich nicht in eine einzige Geschichte fügen lassen. Das ›kollektive Gedächtnis‹ im Singular ist eine verkürzte Redeweise und zudem anfällig für die Vereinnahmung durch ideologische Einheitsvorstellungen, durch die keine real existierende Gesellschaft deskriptiv charakterisiert werden kann (vgl. Saar 2002: 274). Identitätsvorstellungen erlangen nur Gültigkeit, indem sie vom individuellen Subjekt angeeignet werden (vgl. Niethammer 2000: 353f.), weshalb Halbwachs durchweg das gefühlte Kontinuitätsempfinden in Bezug auf die Geschichte einer Gruppe betont. Es geht ihm nicht um eine reale Homogenisierung durch den Vergangenheitsbezug: Die Gruppenmitglieder meinen von sich – und dieses ›Meinen‹ wird durch kollektive Akte des gruppenbezogenen Vergangenheitsbezugs bestätigt und verstärkt –, der erinnerten Gemeinschaft im Sinne einer ›kollektiven Identität‹ zugehörig zu sein. Dabei ist jedoch wichtig, dass nicht das Erinnerte die Vorstellung der Kontinuität bewirkt, sondern die wiederholte Aneignung von Vergangenheit, die im Laufe der Zeit an die Bedürfnisse einer Gruppe angepasst wird. Die Herstellung eines Kontinuitäts- bzw. Identitätsempfindens ist als ein dynamischer Prozess anzusehen, für den es – analog dem Verhältnis von Erinnertem und Vergangenem – keine Rolle spielt, inwieweit das Identitätsempfinden einer Gruppe der Realität entspricht (vgl. Jureit 2010: 62f.). Es geht Halbwachs in der soziologischen Betrachtung des Gedächtnisses von Gruppen in Bezug auf ihre Identität nicht mehr um eine objektive Erinnerung des Vergangenen (›Erinnerung im eigentlichen Sinn‹, vgl. Abschnitt I.1.1.3), sondern um die soziale und psychische Funktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹: »Jetzt geht es nicht mehr um die Identität des Erinnerten, sondern der Erinnernden« (Niethammer 2000: 353). Ein solcher Begriff der ›kollektiven Identität‹ muss Lutz Niethammer zufolge mit Skepsis betrachtet werden, da er für jeglichen Missbrauch offen ist und zur ideologischen Funktion der Definitionsmerkmale einer Gruppe werden kann. Dabei hatte Halbwachs in seiner Studie zu den Stätten der Verkündigung im Heiligen Land in entgegengesetzter Stoßrichtung vorgeführt, dass er seinen konstruktivistischen Begriff der Erinnerung nicht im Sinne der totalen Verfügungsmacht über ein beliebig manipulierbares Erbe verstanden wissen wollte, sondern als Instrument zur Dekonstruktion herrschaftlich inszenierter, scheinbar traditioneller Sinnstiftung (vgl. ebd.: 360f.). Halbwachs demonstriert die Verdrängung der jüdischen Überlieferung und die Aneignung der heiligen jüdischen Stätten in Palästina seit dem vierten Jahrhundert durch das Christentum, das gleichzeitig die universelle Botschaft der

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Bergpredigt im Rückgang auf eine kultisch-magische Situierung fiktiver heiliger Orte verstellt (vgl. Niethammer 2005: 107). Darüber hinaus ist die objektivierte Traditionsbildung des ›kollektiven Gedächtnisses‹ für Halbwachs jedoch auch ein letzter Halt kollektiver Sinngebung, was weniger einen dekonstruktiv-kritischen, sondern einen politisch hoffnungssehnsüchtigen Blick auf das ›kollektive Gedächtnis‹ erlaubt (vgl. ebd.: 122). Das Werk von Halbwachs zeigt eine grundlegende Ambivalenz zwischen der traditionskritischen Skepsis gegenüber den vermachteten und ideologischen Vereinnahmungen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ einerseits und der Hoffnung auf eine progressive und antitotalitäre Traditionsbildung andererseits (vgl. ebd.: 107, 122). Jan und Aleida Assmann knüpfen ihr Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹, das den Zusammenhang von kollektiver Erinnerung, Schriftkultur und Ethnogenese erfassen soll (vgl. J. Assmann 2007: 19), enger und eindeutiger als Halbwachs an die Vorstellung einer ›kollektiven Identität‹. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ stiftet Gemeinschaft, »Identität und Selbstverständnis« (ebd.: 30) eines Kollektivs, sodass »ethnische Identität und Persistenz eine Frage des kulturellen Gedächtnisses und seiner Organisationsform ist« (ebd.: 160). Denn »Identität«, so Jan Assmann, »ist, wie leicht einzusehen, eine Sache von Gedächtnis und Erinnerung. Ebenso wie ein Individuum eine personale Identität nur kraft seines Gedächtnisses ausbilden und […] aufrechterhalten kann, so vermag auch eine Gruppe ihre Gruppenidentität nur durch Gedächtnis zu reproduzieren.« (Ebd.: 89) Die dargestellten Transformationen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ durch die Abfolge der zu verschiedenen Zeiten jeweils dominanten Medien (vgl. Abschnitt I.1.2.2) ziehen Assmann zufolge auch im Bereich ›kollektiver Identität‹ tiefgreifende Änderungen nach sich (vgl. J. Assmann 2007: 160). Die Annahme eines Identität produzierenden Gedächtnisses steht so sehr im Zentrum der Konzeption des ›kulturellen Gedächtnisses‹, dass für Jan Assmann der Bereich der objektivierten Kultur und organisierten bzw. zeremonialisierten Kommunikation nur deshalb die Struktur eines Gedächtnisses hat, weil die Wissensstruktur hier ›identitätskonkret‹ ist. Gruppen stützen nach Assmann das ›Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart‹ auf das jeweilige Wissen und beziehen die ›formativen und normativen Kräfte‹ zur Reproduktion ihrer Identität aus diesem Wissen (vgl. J. Assmann 1988: 11f.). Der Gedächtnisbegriff wird von Assmann also ausdrücklich an die Bildung einer Identität geknüpft. Diese ist für ihn das entscheidende Merkmal, um überhaupt von ›Gedächtnis‹ sprechen zu können. Identität wird von Jan und Aleida Assmann – wie bereits von Halbwachs – nicht substanziell, sondern konstruktivistisch gedacht: Durch die partielle Ausleuchtung einer gemeinsamen Vergangenheit mithilfe symbolischer Praktiken wird das Selbstbild einer Gruppe und das Zugehörigkeitsgefühl zu einem be-

48 | DAS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS‹

stimmten kulturellen Kollektiv gebildet und stabilisiert: »Die Imagination nationaler Gemeinschaft ist angewiesen auf die Imagination einer in die Tiefe der Zeit zurückreichenden Kontinuität.« (J. Assmann 2007: 133) Kulturelle ›Mnemotechnik‹, d.h. die »Speicherung, Reaktivierung und Vermittlung von Sinn« gewährleistet Assmann zufolge »Kontinuität bzw. Identität« (ebd.: 89). Der Unterschied zum individuellen Gedächtnis soll lediglich darin bestehen, dass das Gruppengedächtnis keine neuronale Basis hat: »An deren Stelle tritt die Kultur: ein Komplex identitätssichernden Wissens, der in Gestalt symbolischer Formen wie Mythen, Liedern, Tänzen, Sprichwörtern, Gesetzen, heiligen Texten, Bildern, Ornamenten, Malen, Wegen, ja […] ganzer Landschaften objektiviert ist.« (Ebd.) ›Kollektive Identität‹ ist Assmann zufolge nicht, wie die personale, auf die »natürliche Evidenz eines leiblichen Substrats bezogen« (ebd.: 132), sondern unterliegt einer ausschließlich symbolischen Ausformung. Die ›kollektive Identität‹ bezeichnet bei Assmann wie bereits bei Halbwachs das Selbstbild einer Gruppe, mit dem sich die Gruppenmitglieder identifizieren: »Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.« (Ebd.) ›Kollektive Identität‹ gibt es für Assmann analog zum individuellen reflexiven Selbstbild nur dann, wenn ein Kollektiv sich als ›Stamm‹, ›Volk‹ oder ›Nation‹ versteht, vorstellt und darstellt (vgl. ebd.: 130) und ist zu verstehen als reflexiv gewordene soziale Zugehörigkeit, die Teilhabe an und das Bekenntnis zu einem Kollektiv (vgl. ebd.: 134). Sie wird durch Interaktion aufgebaut und reproduziert und bildet typischerweise einen Kontrast zu anderen Gruppen. Auf der Teilhabe an einem ›Vorrat‹ gemeinsam geteilten kulturellen Sinns, der das ›Weltbild‹ eines Kollektivs bildet und der durch die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt und über die Generationen hinweg aufrechterhalten wird, beruht Assmann zufolge die ›kollektive Identität‹ im Sinne des Bewusstseins sozialer Zugehörigkeit (vgl. ebd.: 139f.). Das ›Hineinnehmen‹ in eine gemeinsame Geschichte und Erinnerung ist es, die laut Assmann das ›Wir‹ im Sinne einer ›kollektiven Identität‹ fundiert und konstituiert, kontinuiert und reproduziert (vgl. ebd.: 16): »Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden« (ebd.: 18). Das Element, das Individuen innerhalb einer Kultur zu einem solchen ›Wir‹ verbindet, nennt Assmann die ›konnektive Struktur‹ des gemeinsamen Wissens und Selbstbildes, das sich auf die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit stützt (vgl. ebd.: 16f.). Die ›konnektive Struktur‹ wirkt Assmann zufolge verknüpfend und verbindend in der Sozial- und Zeitdimension. Als ›symbolische Sinnwelt‹

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stiftet sie einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum, der Vertrauen und Orientierung ermöglicht. Außerdem werden von ihr prägende Erfahrungen und Erinnerungen geformt und gegenwärtig gehalten. Bilder und Geschichten der Vergangenheit können Hoffnung und Erinnerung stiften, was wiederum Zugehörigkeit und Identität fundiert (vgl. ebd.: 16). Grundprinzip jeder ›konnektiven Struktur‹ ist die Wiederholung. Handlungslinien werden zu Mustern geordnet und als Elemente einer gemeinsamen Kultur identifizierbar (vgl. ebd.: 17). Im Hinblick auf die Wandlungen und Ausprägungen der ›konnektiven Struktur‹, ihre Steigerungen und Verfestigungen, Lockerungen und Auflösungen wird für Assmann der ›Kanon‹ als Deutungs- und Wertsystem besonders bedeutend als das Prinzip, das die ›konnektive Struktur‹ einer Kultur in Bezug auf Zeitresistenz und Invarianz steigert. Diese Invarianz wird durch die Orientierung an abstrakten Regeln und Normen oder an konkreten Vorbildern erreicht. Ein Kanon liefert sichere Anhaltspunkte, stiftet Gleichheit und schaltet Beliebigkeit, Willkür und Zufall aus (vgl. ebd.: 18, 122). Es wird an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich, dass es bei Jan und Aleida Assmann in der Beschäftigung mit kulturellen Objektivationen als Gedächtnisphänomen, dem ›kulturellen Gedächtnis‹, in erster Linie um das Postulieren einer ›kollektiven Identität‹ geht. ›Kultur‹ bzw. die ›kulturelle Formation‹ oder das ›kulturelle Gedächtnis‹ dienen ihnen lediglich als Vermittlungsinstanz einer ›kollektiven Identität‹ und der Gedächtnisbegriff soll diese Funktion kenntlich machen. Die Vorstellung einer auf dem ›kulturellen Gedächtnis‹ beruhenden ›kollektiven Identität‹ ist für Jan und Aleida Assmann in Analogie zur Identität einer Person zu verstehen und besteht im Wesentlichen aus einer imaginierten Kontinuität.3 Es bleibt jedoch zum einen weitgehend unklar, wie sich die Identität aus dem Gedächtnis ergeben soll und zum anderen, wie genau die Analogie zwischen individueller und ›kollektiver Identität‹ zu verstehen ist. Im nun folgenden Abschnitt geht es deshalb um die kollektive Dimension des ›kollektiven

3

Bernhard Giesens Taxonomie der Codes ›kollektiver Identität‹ zufolge ist das, was bei Halbwachs und bei Jan und Aleida Assmann unter ›kollektiver Identität‹ verhandelt wird, unter der Kategorie der ›traditionalen Codes‹ einzuordnen. Bei traditionalen Codes ist die die Identität begründende Differenz an die Dauerhaftigkeit von Routinen einerseits und das Außerordentliche andererseits gebunden. Die Grundlage hierfür ist die Vertrautheit mit Regeln des Verhaltens, Traditionen und sozialen Routinen, was die Kontinuität von sozialen Praktiken voraussetzt. Entscheidend ist nicht die tatsächliche Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern das Bemühen, die eigene Gegenwart in ein solches Kontinuitätsmuster einzuordnen und sie in dieser Weise zu begründen (vgl. Giesen 1999: 26).

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Gedächtnisses‹, also um die Frage, inwieweit von kollektiven Subjekten eines Gedächtnisses überhaupt die Rede sein kann. Diese Frage ist ein wichtiger Zwischenschritt, um zu der Frage zu gelangen, welchen Stellenwert das ›kollektive Gedächtnis‹ und die ›kollektive Identität‹ für den Identitätsbegriff im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit haben. 2.1.2 Die kollektive Dimension des ›kollektiven Gedächtnisses‹ Der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ lässt bei Halbwachs eine ›starke‹ und eine ›schwache‹ Lesart zu (vgl. König 2008: 94ff.). Die schwache – und kaum umstrittene – Lesart besagt, dass das individuelle Gedächtnis sozialen Bedingungen unterliegt. Die starke Lesart hingegen schreibt sozialen Gruppen ein eigenes Gedächtnis zu und setzt das Kollektiv als Subjekt des Gedächtnisses ein.4 Beide Gedächtnisse durchdringen und beeinflussen sich Halbwachs zufolge vielfältig, sind aber jeweils eigenständige Realitäten. Das ›kollektive Gedächtnis‹ umfasst die individuellen Gedächtnisse, verschmilzt aber nicht mit ihnen. Es entwickelt sich gemäß den eigenen Gesetzen (vgl. Halbwachs 1967: 34f.). Halbwachs spricht von einem ›innerlichen‹, ›persönlichen‹, ›autobiografischen‹ Gedächtnis einerseits und einem ›äußerlichen‹, ›historischen‹, ›sozialen‹ Gedächtnis andererseits. Der erste Typ nimmt den zweiten zu Hilfe, der viel umfassender ist, die Vergangenheit jedoch nur in gedrängter und schematischer Form vergegenwärtigt (vgl. ebd.: 36). Es stellt sich jedoch die Frage, was sinnvollerweise darunter verstanden werden kann, dass Gruppen ein ›kollektives Gedächtnis‹ ausbilden und sich erinnern und vergessen können.5

4

Von Jeffrey Olick stammt die Unterscheidung zwischen ›collected memory‹, dem sozial geprägten individuellen Gedächtnis, das sich neurologisch, psychologisch und psychoanalytisch untersuchen lässt, und ›collective memory‹, den Medien und Praktiken des kollektiven Bezugs auf die Vergangenheit, die sich nicht psychologisch untersuchen lassen, sondern auf eigene Art und Weise funktionieren (vgl. Olick 1999: 336).

5

Der halbwachssche Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wurde von Anfang an kritisiert. Es ist oft hervorgehoben worden, dass der Gebrauch des Gedächtnisbegriffs, der normalerweise auf psychologische oder kognitive Vorgänge bezogen wird, und seine Übertragung auf die kollektive Ebene zu Fehlinterpretationen der kollektiven Phänomene führen. Das ›kollektive Gedächtnis‹ erscheint in dieser Sichtweise als ein metaphorisches Konzept, dessen Bedeutungsgehalt im Unklaren bleibt (vgl. Kannsteiner 2002; Straub 1992: 47). Die Ablehnung der Anwendung des Gedächtnisbegriffs auf Kollektive richtet sich wie im Falle von Jan Assmann (vgl. J. Assmann 1991: 347) und vielen anderen gegen die Tendenz, sozialen Gruppen den Rang eines Subjekts

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Einen Hinweis, wie dem ›starken‹ Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ eine nachvollziehbare Bedeutung verliehen werden kann, gibt der Historiker Marc Bloch, der bereits in einer frühen Rezension zu beanstanden hat, dass Halbwachs individualpsychologische Bestimmungen auf soziale Phänomene überträgt. Dafür macht er das durkheimsche Vokabular verantwortlich, das individualpsychologische Begriffe lediglich mit dem Beiwort ›kollektiv‹ versieht. Die ›starke‹ Lesart des Begriffs ist Bloch zufolge zwar nicht völlig abzulehnen, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass mit dem Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ nicht die gleichen Tatsachen bezeichnet werden wie mit dem Begriff des individuellen Gedächtnisses (vgl. M. Bloch 2000: 246f.). Die Art, wie ein Individuum seine Erinnerungen bewahrt und aktiviert, unterscheidet sich nach Bloch deutlich von der Art, wie ein Kollektiv dies tut: Der ›Ort‹ der individuellen Erinnerungen ist immer der Kopf des Einzelnen, der ›Ort‹ des ›kollektiven Gedächtnisses‹ dagegen die Kommunikation, die sich zwischen den Gruppenmitgliedern abspielt. Das Gruppengedächtnis realisiert sich ausschließlich durch Kommunikationshandlungen zwischen Individuen (vgl. ebd.: 247). Das ›kollektive Gedächtnis‹ ist kein ›größeres‹ individuelles Gedächtnis, sondern eine Realität eigener Art. Seine Funktionsweise ist nicht von den Grenzen und Eigenarten des individuellen Menschen geprägt, sondern von den Grenzen und Eigenarten des jeweiligen sozialen Kollektivs (vgl. König 2008: 103). Bloch bestätigt mit dieser Sichtweise des ›kollektiven Gedächtnisses‹ die in der vorliegenden Arbeit vertretene Ansicht, dass es, soll es für ein Kollektiv eine Bedeutung haben, als intersubjektive kommunikative Praxis zu verstehen ist. Auch die kulturellen Objektivationen, die Jan und Aleida Assmann dem ›kulturellen Gedächtnis‹ zuordnen, werden erst als Bestandteile dieser Praxis bedeutsam für das Kollektiv. Um der ›starken‹ Lesart des Begriffs des ›kollektiven Gedächtnisses‹ eine sinnvolle Bedeutung zuschreiben zu können, muss man sich von der Annahme frei machen, dass von ›Gedächtnis‹ nur mit Bezug auf eine neuronale Grundlage und von ›Subjekt‹ nur in Bezug auf eine individuelle Innerlichkeit gesprochen werden darf.6 Denn ein ›Subjekt‹ ist zunächst lediglich ein Träger von Eigen-

von Gedächtnis und Erinnerung einzuräumen. Es wird darum immer wieder mit Nachdruck betont, dass es sich beim ›kollektiven Gedächtnis‹ im ›starken‹ Sinn des Begriffs bloß um eine Metapher handelt (vgl. Denschlag 2011; Erll 2005: 95ff.). 6

Für Paul Ricœur führt die Frage nach dem Subjekt des Gedächtnisses zu der falschen Alternative, ob das Gedächtnis ursprünglich individuell oder kollektiv ist (vgl. Ricœur 2004: 147ff.). Ihm selbst behagt die ›starke‹ Lesart des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zwar nicht, weil dem Begriff eine unangemessene ›substanzielle Bedeutung‹ zuwächst

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schaften oder Handlungen, ohne dass die Form dieses Trägers näher bestimmt ist (vgl. Zima 2009: XI; Kible 1998: 373; Hagenbüchle 1998: 4). So allgemein verstanden kann der Subjektbegriff durchaus auf ein die Einzelsubjekte übergreifendes kollektives Subjekt des Gedächtnisses angewandt werden. Es lässt sich im Sinne einer Struktur verstehen, die über das individuelle Leben hinausgeht: Es bildet ein Ensemble kultureller Praktiken und Artefakte, die als Medien kollektiver Selbstverständigung fungieren. Das ›kollektive Gedächtnis‹ hat zwar kein organisches Substrat, es besitzt aber eine Gestalt in der symbolischen Kommunikation einer Gemeinschaft über den Sinn ihrer Vergangenheit und ist eine Realität von eigener überindividueller Qualität und Logik (vgl. König 2008: 101f.; Westerkamp 2008: 279, 281). Akte des ›kollektiven Gedächtnisses‹, bei denen über Generationen hinweg gemeinsamer Sinn reproduziert und immer wieder aktualisiert wird, lassen sich nicht in Form individueller Erinnerung denken: Nicht alle Individuen müssen sich persönlich an einzelne Ereignisse vor ihrer Zeit erinnern, damit sie zum Gedächtnis der jeweiligen Gruppe gehören (vgl. Halbwachs 1967: 36). Individuelle Erinnerungen fügen sich in die Rahmen der ›kollektiven Gedächtnisse‹ der Gruppen ein, denen die Individuen angehören. Erinnerungen sind in diesem Zusammenhang, wie Jürgen Straub ausführt, eher als ›wissensbasierte‹ denn als ›er-

und man dem ›Grundsatz der Jemeinigkeit von Erinnerung‹, dem grundsätzlich ›privaten‹ Charakters des Gedächtnisses, zuwiderläuft (vgl. ebd.: 151f.). Allerdings konstatiert er auch die Schwierigkeit, nicht auf die Idee des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zurückzugreifen, da man ohne sie aufgrund eines gegebenen Zusammenhangs von Gedächtnis und ›kollektiver Identität‹ in der Erforschung der Mentalitäts- und Kulturgeschichte nicht weiterkommt (vgl. Ricœur 1997: 438f.). Dieses Dilemma löst Ricœur auf, indem er das ›kollektive Gedächtnis‹ als operativen Begriff ›ohne jede Ursprünglichkeit‹ versteht und eine ›Analogie‹ zwischen individuellem und ›kollektivem Gedächtnis‹ postuliert. Dabei sind dem ›kollektiven Gedächtnis‹ dieselben Eigenschaften und Funktionen wie dem individuellen Gedächtnis im Sinne einer ›Je-Uns-Gemeinigkeit‹ zuzuschreiben (vgl. ebd.). Er bezieht sich auf Husserls Begiff einer ›Personalität höherer Ordnung‹, der aus einem sekundären Prozess der Objektivation intersubjektiver Beziehungen hervorgegangene kollektive Entitäten bezeichnet. Es muss Ricœur zufolge lediglich ihr Konstitutionsprozess vergessen werden, um sie als Subjekte mit Eigenschaften zu behandeln, die denen des individuellen Bewusstseins ähnlich sind. Ein ›Wir‹ kann dann als eine Entität gelten, die über eine spezifische Zeitlichkeit und Erinnerungen verfügt und die ›Jemeinigkeit‹ von Erinnerungen kann auf die Vorstellung von einem gemeinschaftlichen Besitz kollektiver Erinnerungen ausgeweitet werden (vgl. Ricœur 2004: 184f.; Ricœur 1998: 79ff.).

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lebnisgestützte‹ Konstrukte zu verstehen (vgl. Straub 1998a: 100f.). Auf der kollektiven Ebene liegt das Gedächtnis also einerseits außerhalb der individuellen Gedächtnisse der Gruppenmitglieder und muss andererseits doch von ihnen angeeignet werden. Das ›kollektive Gedächtnis‹ im ›starken‹ Sinn meint lediglich eine der Willkür der Einzelsubjekte entzogene, durch intersubjektive Praxis gebildete Struktur, die die bedeutsamen vergangenen Ereignisse für das Gegenwartskollektiv zugänglich hält. Nahkollektive wie die Familie können dabei als Bedeutungsmittler angesehen werden.7 Jedes individuelle Gedächtnis wird aufgrund seiner Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen durch kommunikative Prozesse beeinflusst und geformt und ist in vielfältige Gedächtnishorizonte eingebunden, die nicht nur die selbst miterlebte Vergangenheit umfassen, sondern auch viel weiter zurückliegende Ereignisse. Durch eine gemeinsame Praxis wird der Bedeutung eine Form gegeben, in der sich eine Gruppe als ein Subjekt konstituiert. Eine andere mediale Vermittlung als die mündliche Tradierung in sozialen Gruppen wird dann notwendig, wenn das mündlich kommunizierte Gedächtnis an seine biologischen Grenzen stößt, sodass der Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ seinen Sinn erhält. Um der intersubjektiv geteilten Bedeutung eine Form zu geben, sind Gedächtnispraktiken an Symbolisierungsleistungen gebunden. Sie benötigen eine materielle Form, die sich auf bestimmte Ereignisse, bestimmte Menschen oder Orte als Anhaltspunkte bezieht, um eine Beziehung mit der Vergangenheit herstellen zu können (vgl. J. Assmann 2005a: 79; Halbwachs 2003: 163). Auch wenn ›kollektive Gedächtnisse‹ keine organische Basis besitzen und nicht im wortwörtlichen Sinn als Entitäten existieren, ist der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ dazu geeignet, eine Dimension der intersubjektiven Sinnbildung in Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit zu beschreiben (vgl. Straub 1992: 47; Burke 1991: 291). Dabei muss im Blick behalten werden, dass es nicht durch mystische Teilhabe entsteht, sondern durch kulturelle Symbole und Zeichen mithilfe von Medien. Verstanden als kommunikative soziale Praxis ist es ein entscheidender Bestandteil der sozialen Wirklichkeit: Vergangenheit existiert für die jeweiligen Subjekte nur in dem Maße, in dem sie erinnert wird, wobei Gedächtnis und Erinnerung auf der individuellen und auf der kollektiven Ebene jeweils eigene Medien, eine eigene Arbeitsweise, Logik und Struktur aufweisen (vgl. König 2008: 102).

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Ricœur spricht von den ›uns Nahestehenden‹ als ›privilegierten Anderen‹ (vgl. Ricœur 2004: 204).

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2.1.3 Das ›kulturelle Gedächtnis‹ als Identitätsspeicher Mit dem Hinweis auf das Konzept des ›Kanons‹ (vgl. Abschnitt I.1.2.2) wurde bereits angedeutet, dass es im assmannschen Modell der Identitätsstiftung durch Mythen und Riten um mehr geht als um die Herstellung pluraler und veränderlicher Identitäten. Es geht vielmehr um die statische Bewahrung bestimmter identitätsprägender Gedächtnisinhalte ›für alle Zeit‹. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ soll dauerhaft bewahren, indem es über ›Speicher‹ und Formen der Tradierung, die der Zeit widerstehen, verfügt. Durch Riten, Feste, Denkmäler und andere kulturelle Objektivationen wird »das Ausgewählte kernhaft verfestigt und sakralisiert, d.h. zu letztinstanzlicher Hochverbindlichkeit [ge]steigert und [der] Traditionsstrom ein für alle mal still[ge]stellt« (J. Assmann 2000: 32). Eine solcherart gesicherte Vergangenheit wird zum Mythos, der der kritischen Prüfung und der Revision entzogen ist: Es »zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte« (J. Assmann 2007: 52). Die Frage nach der Tradierung der ›Fixpunkte‹ eines kollektiv geteilten Wissens über die Vergangenheit wird beantwortet durch seine kulturelle Formung, Ritualisierung und Institutionalisierung. Die zyklische Wiederholung in Jahrestagen und Ritualen und die Monumentalisierung im Raum als Denkmal soll die Flüchtigkeit der Zeit überwinden (vgl. Niethammer 2005: 109f.; Niethammer 2000: 324f.). Identitätsstiftende Gedächtnisinhalte verfestigen sich in Speichermedien oder symbolischen Formen bzw. Praktiken zu einer objektivierten Kultur, deren Erwerb und Überlieferung vom ›need for identity‹ geleitet sind (vgl. J. Assmann 1988: 13). Ob diese Vorstellung in der historischen Wirklichkeit tatsächlich realisiert werden kann, darf jedoch bezweifelt werden. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ ist nicht weniger zufallsbedingt und nicht weniger instabil als die individuelle Erinnerung. Andreas Huyssen führt diesbezüglich aus, dass etwa manche Denkmäler in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs »geradezu lustvoll gestürzt [werden]; andere bewahren die Erinnerung in ihrer erstarrten Form, sei es als Mythos oder als Klischee. Und wieder andere stehen schlichtweg da als Chiffren des Vergessens, deren Bedeutung und ursprünglicher Zweck mit der Zeit ausgehöhlt wurden.« (Huyssen 1994: 9) Auch Burkhard Liebsch führt aus, dass Erinnern und Vergessen sich nicht dauerhaft institutionalisieren lassen. Wird Geschichte nach dem Paradigma der Schrift in diesem Sinn verstanden und Erinnerbares in kulturellen Objektivationen fixiert, dann wird ein deutlich tieferes Vergessen befördert. Die Delegation des Gedächtnisses etwa an ein Denkmal kommt einer ›Entsorgung‹ des Vergangenen gleich, da die Gewöhnung an Objektivationen bewirkt, dass sie die Bindung an die Erfahrung verlieren und bloß noch übersehen werden: »Man

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muss sich immer neu und anders erinnern, um nicht ironischerweise im Erinnern zu vergessen.« (Liebsch 2010: 270) Lutz Niethammer weist ergänzend darauf hin, dass die Schwierigkeit bei dem assmannschen Verständnis des Zusammenhangs von ›kulturellem Gedächtnis‹ und Identität darin besteht, dass zwischen dem ›kommunikativen Gedächtnis‹ der individuellen und damit pluralen Erfahrungen der Mitlebenden und einem identitäts- und sinnstiftenden ›kulturellen Gedächtnis‹, das zu diesem Zweck die Erfahrungen vereinheitlichen und der Pluralität der Werte ihre Hierarchisierung entgegenstellen muss, eine Lücke klafft. Dieser Spalt zwischen dem vereinheitlichenden Mythos und der pluralen Erfahrung soll mit der Konstruktion einer ›kollektiven Identität‹ gefüllt werden – was bedeutet, dass eine erfahrungsunabhängige Vergangenheit entworfen und zum Bezugspunkt gemacht wird, die eine kollektive politische Identität in der Vielfalt entstehen lassen soll (vgl. Niethammer 2000: 364). ›Kollektive Identitäten‹ sind insofern, wie Benedict Anderson in Bezug auf die Nation gezeigt hat, ›vorgestellte Gemeinschaften‹ (vgl. Anderson 2005). Zu ihrer Kontinuierung gehören die Konstruktion und die Wiederholung einer Erzählung, die geschichtliche Ereignisse und Vorstellungen mit nationalen Symbolen und Ritualen in einen Zusammenhang bringt, der die geteilten Erfahrungen wie Triumphe und Niederlagen darstellt, die einem Kollektiv eine Bedeutung verleihen. Zu diesem Zweck werden Ursprünge, Kontinuitäten und Traditionen betont und manche Traditionen und Gründungsmythen allererst erfunden, um diese vorgestellte Vergangenheit als ständig präsente Sinnquelle zu installieren (vgl. Hobsbawm 1998; Hall 1994: 202f.). Die Durchsetzung bestimmter Sichtweisen bezüglich des kollektiven Geschichtsbildes macht auch die Frage nach der Definitionsmacht einzelner Gruppen virulent. Es stellt sich die Frage nach Eliten innerhalb einer Gesellschaft, da verschiedene Gruppen keinen gleichberechtigten Zugang zur Kultur und Einfluss auf politische Entscheidungen besitzen, sondern mit jeweils unterschiedlicher Definitionsmacht ausgestattet sind und ihre Sichtweise durchsetzen wollen (vgl. Uhl 2009: 45).8 Denn Traditionen erhalten sich nicht von allein: Sie werden reproduziert und gefestigt oder aber verändert. Bestimmte Repräsentationen der Vergangenheit wie Nationalmythen und -helden werden im Sinne der Konstruktion ›kollektiver Identitäten‹ abhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen

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Christian Giordano trifft die Unterscheidung zwischen den ›Produzenten‹ und ›Konsumenten‹ des Gedächtnisses (vgl. Giordano 2002) und Martin Saar unterscheidet partikulare Kollektivgedächtnisse von der offiziellen oder hegemonialen Gedächtniskultur (vgl. Saar 2002: 274f.).

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in der öffentlichen Kommunikation inszeniert.9 In Medien wie Museen, Denkmälern, Schulbüchern, Rundfunk- und Fernsehsendungen manifestieren sich gruppenspezifische Deutungen der Vergangenheit als Ausdruck einer vorgestellten ›kollektiven Identität‹ (vgl. Große Kracht 2002). Sie sollen identitätsstiftend sein und zugleich die Erinnerungsgemeinschaft nach außen repräsentieren: »In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten läßt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill.« (J. Assmann 1988: 16) Gegenstände des ›kulturellen Gedächtnisses‹ geben also auch über gesellschaftliche Machtstrukturen Auskunft, insofern an ihnen abgelesen werden kann, welchen Gruppen es gelungen ist, ihr partikulares Geschichtsbild als universales und verbindliches ›kollektives Gedächtnis‹ zu etablieren (vgl. Uhl 2009: 45). Dabei ist durchaus zu überlegen, inwieweit auch das assmannsche Modell der Identitätsstiftung durch Mythen und Riten selbst einer politischen Absicht folgt. Ulrike Jureit bemerkt in dieser Hinsicht, dass »die Rede vom kulturellen Gedächtnis immer mehr den Eindruck [erweckt], dass hier […] den spezifischen Bedürfnissen einer Gesellschaft zugearbeitet wird, die in der Nachfolge des Nationalsozialismus steht« (Jureit 2010: 72). So geht es seit den 1980er Jahren in der Diskussion um das ›kollektive Gedächtnis‹ um die Frage, inwieweit eine deutsche Identität durch ein Gedächtnis der Vernichtung der europäischen Juden gestiftet werden kann. Lutz Niethammer bezeichnet dementsprechend Jan und Aleida Assmanns Ansatz als »Kulturgeschichte in politischer Absicht« (Niethammer 2000: 364). Jan und Aleida Assmann, die selbst in vielen Veröffentlichungen ihr Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ in den Zusammenhang mit der Erinnerung an die Shoah stellen, haben mit ihrer Konzeption den Nerv der Zeit getroffen und waren sich darüber nach eigener Aussage auch bewusst: »Der Zusammenhang dieser gesellschaftlichen Vorgänge mit unserem Forschungspro-

9

Die Nation stellt den vorrangigen Horizont des identifikatorischen Bezugs dar (vgl. Uhl 2009: 48): Elemente des Vergangenen werden im Sinne nationaler Identitätspolitik instrumentalisiert und historische Bezüge sollen im Rahmen nationaler Identitätssicherung das ›emotionale Fundament‹ (vgl. François/Schulze 2001a) der Nation stärken. Versuchen, ein europäisches ›kollektives Gedächtnis‹ zu erfinden, haftet demgegenüber etwas Künstliches an, da potenzielle europäische ›Gedächtnisorte‹ meist national gerahmt sind und die Verbindung von Nation und ›kollektivem Gedächtnis‹ kaum aufzubrechen ist.

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jekt stand uns von Anfang an klar vor Augen.« (J. Assmann 2005a: 67)10 In einer ihrer jüngsten Publikationen macht Aleida Assmann unmissverständlich klar, dass es bei der deutschen Erinnerungskultur um die »Grundlegung einer deutschen Identität« (A. Assmann 2013: 66f.) geht. Die Shoah wird von ihr als Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands bestimmt (vgl. ebd.: 67). Auch die Versammlung deutscher ›Erinnerungsorte‹ folgt ausdrücklich der Intention, die »Generationen überdauernden Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität« (François/Schulze 2001b: 18) zu versammeln, die »dem Zugriff der Sinnstifter und Manipulateure ausgesetzt [sind] und dennoch ein Netz von materiellen und immateriellen Erinnerungsfäden [bilden], das das nationale Bewußtsein in einem ungenau bestimmbaren, aber sehr profunden Sinne zusammenhält« (ebd.: 16). Die Bestandsaufnahme der nationalen ›Erinnerungsorte‹ versieht diese unhintergehbar mit der Funktion nationaler Identitätsstiftung und mit den damit verbundenen Mechanismen von Einschluss und Ausschluss (vgl. Uhl 2009: 44). Die Herausgeber von Deutsche Erinnerungsorte merken an, dass es lange Zeit zweifelhaft war, ob dieses Projekt nach französischem Vorbild auch für Deutschland möglich ist. Dieser Zweifel erwuchs jedoch nicht, wie zu vermuten wäre, aufgrund des Bruchs mit der kollektiven Vergangenheit durch die Zeit des Nationalsozialismus, der hier lediglich mit ›Dämonen‹ identifiziert wird, sondern aufgrund der innerdeutschen Teilung, die »Zweifel an einer klar umrissenen Identität der Deutschen« (François/Schulze 2005: 9) aufkommen ließ. Diese Sichtweise hat sich für die Herausgeber jedoch mit der Wende von 1989/90 wesentlich geändert: »Ernst Moritz Arndts Frage ›Was ist des Deutschen Vaterland‹ ist das erste Mal in der Geschichte unmißverständlich und dauerhaft beantwortet.« Es habe sich eine »gelassenere Betrachtungsweise eingebürgert […] und auch eine Sammlung von kollektiven Bildern in den Köpfen der Deutschen scheint nicht mehr ausgeschlossen« (ebd.: 9f.).

10 Assmann nennt konkret das »Berliner Jahr 84/85«, das »genau die Zeit [war], in der das Gedächtnis an die Verbrechen der Nazizeit mit ganz neuer Wucht zurückkehrte – 1984 Bitburg, 1985 die Weizsäcker-Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, 1986/87 der Historiker-Streit, 1988 der Jenninger-Skandal, die Goldhagen-Debatte, die Wehrmachtsausstellung, die Walser-Rede, die Denkmaldebatte, – die Serie dieser Eruptionen setzt sich bis heute fort, insbesondere seit ungefähr ab 1997 nun auch die Erinnerung an die erlittenen eigenen Leiden – Luftkrieg, Vertreibung, Vergewaltigung – mit Macht in das öffentliche Gedächtnis der Deutschen zurückkehrt. Diese Wiederkehr des Verdrängten bildete die sozialen Rahmenbedingungen […] unserer eigenen Faszination mit dem Gedächtnisthema« (J. Assmann 2005a: 67).

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Die tatsächliche Reichweite der öffentlichen, von Deutungseliten bestimmten Gedenkkultur ist zwar unbestimmt und eine Frage der Empirie. Es lässt sich jedoch festhalten, dass die universalisierende Monumentalisierung bestimmter Deutungen der Vergangenheit wesentlich beinhaltet, diejenigen Elemente des Vergangenen durch eine bestimmte Darstellung der Geschichte zu verdrängen, die sich nicht in die Erzählung fügen, die Kohärenz und Kontinuität der ›kollektiven Identität‹ herstellen und zur Darstellung bringen soll. Individuelle Erfahrungen werden in ihr durch Kollektivität und Kontinuität überformt und das monumentale staatliche Gedächtnis beinhaltet somit immer auch Formen des Vergessens von alternativen Sichtweisen und von Ereignissen, die nicht in die kollektive Erzählung des ›Funktionsgedächtnisses‹ integriert wurden. Das durch das ›Funktionsgedächtnis‹ aus politischen Gründen systematisch aus der Erinnerung Ausgegrenzte und somit Vergessene ist lediglich potenziell noch als Bestandteil des ›Speichergedächtnisses‹ auffindbar. Der Zusammenhang mit der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 liegt an dieser Stelle, wie Sigrid Weigel ausführt, auf der Hand: Die Konstruktion eines Kontinuums ist ihr zufolge genau der Gestus, der die institutionalisierte Gedenkkultur besonders deutlich kennzeichnet. Insbesondere seit der Wiedervereinigung ist die Konstruktion eines Kontinuums, das die Zeit des Nationalsozialismus in eine nationale Geschichte integriert, zum dominanten Modell des deutschen ›kollektiven Gedächtnisses‹ geworden. Im Zuge von Historikerstreit und Historisierungsdebatte wurde das Kontinuum dabei zu einem Begriff, der die historischen Zäsuren von 1933 und 1945 nivelliert und zugleich mit der Konstruktion der deutschen Geschichte als Opfergeschichte die Shoah ausblendet. Es werden Phänomene hervorgehoben, die die Zeit des Nationalsozialismus in eine deutsche Geschichte im Sinne einer longue durée zu integrieren geeignet sind. ›Kontinuität‹ wird zu einem Begriff, der durch Erinnern zu einem Vergessen führt (vgl. Weigel 1996: 256f., 262). Für Heidemarie Uhl liegt das ›entscheidende Surplus‹ des assmannschen Ansatzes gegenüber der Konzeption von Maurice Halbwachs darin, dass durch die Definition des ›kulturellen Gedächtnisses‹ eine Ausdrucksform ›kollektiver Identität‹ für die politische Dimension gesellschaftlicher Erinnerung freigelegt wird (vgl. Uhl 2009: 39f.). Halbwachs nimmt, wie oben ausgeführt, zu einer solchen Konstruktion eine ambivalente Haltung ein. Die kontinuierliche Aneignung der an die aktuellen Bedürfnisse einer Gruppe angepassten Vergangenheiten bringt seiner Konzeption zufolge lediglich gruppenspezifische Kontinuitätsempfindungen hervor. Insofern verfügt die Gesellschaft als Ganzes über kein allumfassendes ›kollektives Gedächtnis‹, da in ihr eine Vielzahl widerstreitender Ansichten der Vergangenheit und gruppenspezifischer Identitätsangebote existiert,

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die sich nicht auf eine gemeinsame übergreifende Geschichte beziehen. ›Kollektive Gedächtnisse‹ und Identitäten sind aus diesem Grund nicht einheitlich, da sie sich über die Identifikation der beteiligten Individuen bestimmen, wobei Mehrfachzugehörigkeiten die Regel sind. Insofern wird das, was bei Halbwachs zum Thema der Kontinuitäts- und Zugehörigkeitsvorstellungen verhandelt wird, im Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ in Bezug auf die ›kollektive Identität‹ begrifflich eindeutiger gefasst (vgl. Jureit 2010: 65). Die Konzeption des ›kulturellen Gedächtnisses‹ basiert auf der Analyse relativ homogener früher Hochkulturen. In modernen Gesellschaften überlagern sich jedoch vielfältige kulturelle Orientierungen mehr als je zuvor (vgl. Saar 2002: 268f.). Die immer weitergehende Pluralisierung der Gesellschaft führt dazu, dass die von den Individuen gemeinsam geteilten Inhalte immer weniger und gleichzeitig die Einflüsse auf die individuelle Identität immer vielfältiger werden. Die Identität des Einzelnen schöpft immer weniger aus einem gemeinsamen ›kollektiven Gedächtnis‹, sondern vielmehr aus zahlreichen Quellen.11 ›Kollektive Gedächtnisse‹ haben deshalb wenig mit einer sich von selbst verstehenden Kontinuitätsstiftung zu tun und das assmannsche ›kulturelle Gedächtnis‹ wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Kontinuität heraufbeschwörende unhistorische Konstruktion. Für diese Imagination und Inszenierung einer gemeinsamen Vergangenheit wird die ›kollektive Identität‹ faktisch von vornherein vorausgesetzt und die Identität erinnert sich gewissermaßen nur noch an sich selbst, wie Burkhard Liebsch feststellt (vgl. Liebsch 1999: 296). Hans Blumenberg formuliert: »Die Erinnerung kann sich ihrer nicht selbst versichern; sie muß garantieren, was umgekehrt sie garantieren müßte.« (Blumenberg 1997: 123) Das ›kollektive Gedächtnis‹ soll geschichtliche Gemeinschaft stiften, es wird aber umgekehrt durch das gemeinschaftliche Zusammenleben erst konstituiert. Identität lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mit dem Vergangenen erklären, sondern umgekehrt wird vor dem Hintergrund einer bereits vorausgesetzten Identität Vergangenheit rekonstruiert. Das jeweilige Selbstbild wird in einer bestimmten Gegenwart in die Vergangenheit zurückprojiziert. Demgegenüber lässt sich das ›kollektive Gedächtnis‹ als ein Gedächtnisraum verstehen, in dem auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe erfahren werden kann. Der Überlieferungsbestand des ›kollektiven Gedächtnisses‹ muss über eine Geschichtserzählung und das ›kommunikative Gedächtnis‹ immer wieder neu mit der individuellen Erfah-

11 Niklas Luhmann zufolge bleibt in funktional differenzierten Gesellschaften der Ort des Gedächtnisses unbesetzt und eine gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion unbestimmt. Entsprechende Deutungen werden dem Funktionssystem der Massenmedien übertragen (vgl. Luhmann 1998: 1014f.).

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rung verkoppelt und von Individuen angeeignet werden. Eine gewisse Homogenität innerhalb sozialer Gruppen, durch die die intersubjektive Gültigkeit kollektiver Identitätserzählungen gewährleistet wird, resultiert aus Sozialisation und aus einem gemeinsamen Umgang mit den jeweils dominanten Medien (vgl. S.J. Schmidt 1991a: 39). Kontinuität bleibt dadurch im Wandel und ist nur deshalb dazu imstande, Identität zu vermitteln: Diese besteht nicht in einem festgestellten Bestand ›gespeicherter‹ Daten, da dieser nichts mit der individuellen Erfahrung zu tun hat. Identität bildet sich in der immer wieder neuen Aneignung von Erfahrungen. Aneignung ist umgekehrt nicht als ein Passungsvorgang für bereits Feststehendes zu verstehen, sondern als die performative Herstellung dessen, auf das man sich bezieht. Dem Identitätsbegriff wird im nun folgenden Abschnitt eine eigene Analyse gewidmet.

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Der Identitätsbegriff, wie er im Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zur Anwendung kommt, ist als sozialwissenschaftlicher Fachterminus entstanden und hat nach und nach sowohl in die Umgangssprache als auch in viele humanwissenschaftliche Bereiche Eingang gefunden (vgl. Angehrn 1985: 233).12 Unter ›Identität‹ wird in diesem Zusammenhang in erster Linie nicht die formal-philosophische Bestimmung des nummerischen Einsseins, des als Einzelnes zu Identifizierenden, verstanden. Ebenso wenig geht es um die Qualifizierung des nummerisch Identischen, was also jemand für ein Mensch ist, sondern mit ›Identität‹ ist vielmehr das individuelle oder kollektive Selbstverständnis oder Selbstbild

12 Der terminologische Ursprung geht dabei auf Erik H. Eriksons Theorie der ›Ich-Identität‹ zurück. Neben Erikson gilt G.H. Mead für die psychologische und sozialwissenschaftliche Identitätsdebatte als zweiter einflussreicher Wissenschaftler. Sowohl für Erikson als auch für Mead ist personale Identität eine durch und durch soziale Angelegenheit. ›Ich-Identität‹ bedeutet für Erikson, sich sowohl als einmaliges Individuum zu empfinden als auch zu einem Kollektiv zugehörig zu fühlen, indem man sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt. Für Mead ist die subjektive Fähigkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, sozial konstituiert, wobei der intersubjektiven Rollenübernahme, in der interagierende Subjekte die Einstellung des jeweils anderen Interaktionspartners antizipieren und sich selbst aus dessen Perspektive wahrnehmen, für die Entstehung einer individuellen Identität eine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. Mead 2010; J. Habermas 1988; Erikson 1985; Angehrn 1985: 233f., Anm. 1; Dubiel 1976).

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von Personen oder Gruppen gemeint, das sich zu verschiedenen Zeiten erhält. Der Entstehung dieses subjektiven Selbstverhältnisses aus intersubjektiver Praxis kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Jan Assmann bestimmt ›Ich-Identität‹ dementsprechend als bewusst reflektiertes Selbstbild, das zum einen die jeweils individuelle Einzigartigkeit und zum anderen Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen zum Ausdruck bringt (vgl. J. Assmann 2007: 132). Zunächst ist also festzustellen, dass mit ›Identität‹ die als einheitliche Struktur begriffene Selbigkeit als eine spezifische Form des Selbstverhältnisses von Personen bezeichnet wird: Das Subjekt bleibt in unterschiedlichen Handlungsund Lebenskontexten dasselbe, auch wenn es immer wieder sehr unterschiedliche Rollen und Funktionen übernimmt sowie Orientierungen und Ziele verfolgt. Es bleibt als identisches Subjekt auch über die Zeit betrachtet dasselbe, auch wenn es neue Erfahrungen macht, hinzulernt und sich entwickelt. Dies ist der Kern des Identitätsbegriffs: dass eine Person keine andere wird dadurch, dass sie in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches denkt, fühlt und tut (vgl. Straub 1996: 14). Die Zuschreibung und Qualifizierung von Identität ist Resultat einer reflexiven Distanzierungs- und Beschreibungsleistung: Es handelt sich um Selbstauffassungen aus der Perspektive der Gegenwart, die vergangene Erfahrungen bündeln, Erwartungen begründen und das jeweils aktuelle Handeln orientieren. In dieser Weise verknüpft und integriert Identität Differenzen auf sachlicher, sozialer, psychischer und zeitlicher Ebene im Idealfall zu einer kohärenten Synthese (vgl. ebd.: 15; Angehrn 1985: 234). Es lässt sich dabei unterscheiden zwischen synchroner und diachroner Identität: Mit synchroner Identität sind vor allem sämtliche Eigenschaften einer Person gemeint, die als konsistent, kohärent, einmalig und als zur identischen Person gehörig wahrgenommen werden. Ob etwas als kohärente Gestalt aufgefasst wird, richtet sich innerhalb von historisch-kulturellen Konstellationen und Lebensformen nach intersubjektiv verbindlichen Regeln, die als historische und soziokulturelle Einrichtungen nicht ein für allemal gültig sind. Dadurch wird auch die Anschauung darüber, was jeweils als kohärenter Zusammenhang gelten kann, aushandlungsbedürftig und wandelbar: Durch kreative Akte können sich die Kriterien verändern, die angeben, was als kohärente Einheit von Elementen gelten kann – und was nicht – und damit auch die Möglichkeiten, bestimmte Strukturen als kohärente aufzufassen und zu behandeln (vgl. Straub 1996: 16f.). Die diachrone Identität meint die Einheit einer Person im Wandel der Zeit. Ist im Zusammenhang mit Gedächtnis und Erinnerung von Identität die Rede, dann ist die diachrone Identität gemeint, also die über ein Zeitintervall fortbestehende Einheit eines Subjekts. Für den Identitätsbegriff, wie er im Rahmen des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ verwendet wird, ist darum ›Konti-

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nuität‹ die zentrale Kategorie, mit der eine spezifische, einheitliche Form von Zeitdifferenzen und temporalen Beziehungen angesprochen wird. Lebensgeschichtliche Kontinuität wird dadurch gewährleistet, dass eine Person in allen wechselnden Umständen, bei allen Entwicklungen und Veränderungen, die sie durchgemacht hat, dieselbe bleibt und von sich und anderen als dieselbe identifizierbar ist. Bei der Vorstellung einer kontinuierlichen Identität geht es also nicht darum, etwas zu konservieren, sondern um ein reflexives Bearbeiten von Veränderung, von Diskontinuität und Brüchen, die sich aus ihrer Historizität ergeben. Der Wandel selbst muss nachvollzogen werden und in das Selbstverständnis und die Lebensgeschichte als einheitlicher, kontinuierlicher Zeitzusammenhang integriert werden können. Dazu ist es notwendig, überdauernde und von der Situation relativ unabhängige Aspekte anzunehmen, die dafür Sorge tragen, dass das Gefühl der Identität und Kontinuität trotz veränderter Aktivierungen von Teilaspekten nicht verloren geht (vgl. Pohl 2007: 130). Kontinuität als ein Ergebnis von Selbstthematisierungen ist nichts schlicht Gegebenes, sondern sie ist von einer aktiven ›Selbstkontinuierung‹ abhängig (vgl. Henrich 1999: 19; Angehrn 1985: 309). Identität ist insofern das, was sich im Ausbalancieren der inneren Ambivalenzen und in der Gewährleistung von Kontinuität innerhalb sich verändernder Bindungen durchhält. Sie ist darum nicht als Ausgangspunkt gegeben, sondern immer das vorläufige Resultat eines Integrations- oder Aneignungsgeschehens (vgl. Jaeggi 2005: 209). Im Folgenden wird ein idealtypisches Modell von Identität skizziert, das auf Autoren zurückgreift, die den Zusammenhang von Identität und Erzählung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen. Zunächst werden einige grundlegende Anmerkungen zum Begriff der Person gemacht (Abschnitt 2.2.1), anschließend ein sozialpsychologischer Begriff personaler Identität skizziert (Abschnitt 2.2.2) und zum Abschluss das Modell der Lebensgeschichte als Ausdruck der Identität auf die kollektive Geschichte übertragen (Abschnitt 2.2.3). 2.2.1 Der Begriff der Person Der Begriff der Person wird sowohl in deskriptiver als auch in normativer Hinsicht verwendet. In normativer Hinsicht werden mit ihm einem Lebewesen ein bestimmter moralischer Status und bestimmte Rechte zugeschrieben. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit wird der Begriff jedoch in einem rein deskriptiven Sinn verstanden. Er umfasst wesentlich die Fähigkeit eines menschlichen Individuums zur Selbstbezüglichkeit und den Besitz einer diachronen Identität. Im ersten Paragrafen der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht fasst Immanuel Kant diese Bestimmungen zusammen: »Daß der Mensch in seiner Vorstel-

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lung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person.« (Kant 1998b: 407)13 Bezüglich der Bestimmung der Selbstbezüglichkeit spricht Dieter Sturma von einer »reflektierten Erlebnisperspektive«. Diese »steht für eine spezifische Bewußtseinsqualität, durch die sich der erweiterte Sinn von Erlebnissen – vor allem das einzelne Erlebnisse begleitende Bewußtsein, subjektiv als Person zu existieren, erschließt« (Sturma 1997: 82). Dieses Selbstbewusstsein vollzieht sich unmittelbar selbstgewiss und irrtumsresistent: Eine Person weiß von vornherein, dass es sich um ihre eigenen Erlebnisse handelt und kann sich nicht darüber täuschen, dass sie selbst es ist, die sich in einem bestimmten Bewusstseinszustand ihrer selbst gewiss ist. Andernfalls könnte sie weder von sich noch von anderem ein Bewusstsein haben (vgl. ebd.: 103f.). Eine Person ist darüber hinaus imstande, sich als identisches Subjekt seiner Bewusstseinszustände über Raum und Zeit hinweg zu verstehen. Diese Fähigkeit hat Sturma zufolge eine interne Reflexivitätsstruktur des Subjekts zur Voraussetzung, die sich in Kants Formel ›Ich existiere denkend‹ ausdrückt. Diese Selbstreferenz geht zeitlich immer schon über einen jeweiligen Augenblick der Reflexion hinaus. Auf diese Weise stellt sich eine ›heimliche Kontinuität‹ des Existenzbewusstseins ein. Eine Person zu sein bedeutet demnach, sich bewusst zu sein, in der Perspektive des expliziten Bewusstseins seiner eigenen Existenz zu existieren (vgl. ebd.: 125f.). Personen sind aus dieser Perspektive irrtumsresistenter Selbstbezüglichkeit heraus imstande, sich als diachron identische Subjekte zu begreifen. Ab dem 13. Jahrhundert gelangt eine Tradition zur Geltung, die die Person nicht im Sinne einer Substanz als Voraussetzung des individuellen Bewusstseins versteht, sondern umgekehrt als Resultat der Geschichte dieses Bewusstseins. Bereits Augustinus von Hippo verbindet das individuelle Bewusstsein in diesem Sinne mit dem Erfahrungsgehalt der Erinnerung und begreift eine Person als Geschichte eines sich erinnernden Bewusstseins: Das Personsein reicht für Augustinus so weit, wie das Erinnern reicht. Dieses konstituiert Identität, indem es zeitlich Verschiedenes zusammenbringt. Personale Identität lässt sich darum nicht im Sinne einer Substanz voraussetzen, sondern bildet sich erst durch das Erinnern im Laufe der Geschichte eines Individuums (vgl. Kreuzer 2001: 71f.).

13 In der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant noch kürzer, eine Person sei, was »sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist« (Kant 1998a: 370).

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Der Erinnerung kommt auch in den Überlegungen John Lockes, der für die Diskussion um die diachrone Identität von Personen zur zentralen Gestalt geworden ist, eine große Bedeutung zu. Locke definiert ›Person‹ in seinem Versuch über den menschlichen Verstand als »ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt.« (Locke 2000: 419) Einer Person schreibt Locke demnach Vernunft, Bewusstsein und Überlegung zu und betont besonders die Reflexivität und Identität des Selbstbewusstseins (vgl. Sturma 1997: 164). Dieses bezieht sich auf die eigenen gegenwärtigen und vergangenen Gedanken sowie Handlungen und konstituiert eine persönliche Identität, indem es auf diese Weise die Gegenwart mit der Vergangenheit zu einem identischen bewussten Leben verbindet: »Dasjenige, womit sich das Bewußtsein dieses gegenwärtig denkenden Wesens vereinigen kann, macht dieselbe Person aus und bildet mit ihm, und mit nichts anderem, dasselbe Ich.« (Locke 2000: 428; vgl. Thiel 2001: 81) Die Identität der Person wird Locke zufolge also ausschließlich durch das Bewusstsein ihrer Gedanken und Handlungen gestiftet und reicht so weit, wie das Bewusstsein in der Erinnerung rückwärts auf diese Gedanken und Handlungen ausgedehnt werden kann (vgl. Sturma 1997: 167). Locke konstatiert, »daß dieses Bewußtsein stets durch Zustände des Vergessens unterbrochen wird. Denn wir können in keinem Augenblick unseres Lebens alle unsere vergangenen Handlungen gleichzeitig überblicken.« (Locke 2000: 420) Die diachrone Identität der Person wird demnach nicht durch das Bewusstsein ihrer vollständigen Vergangenheit konstituiert, sondern lediglich durch Akte des Erinnerns einzelner vergangener Ereignisse. Eine entscheidende Erweiterung des lockeschen Modells findet sich in Gottfried Wilhelm Leibnizʼ Schrift Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leibniz zufolge gibt es neben der Perzeption, der Wahrnehmung als dem Haben von Bewusstseinszuständen und der Apperzeption, der von Selbstbewusstsein begleiteten Wahrnehmung, noch ›kleine Perzeptionen‹, die sich außerhalb des bewussten Erlebens einer Person vollziehen. Er bestimmt diese ›kleinen Perzeptionen‹ als »Veränderungen in der Seele selbst […], deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen« (Leibniz 1996: 10). Die ›kleinen Perzeptionen‹ sind mentale Vorgänge, in denen eine Person sich selbst nicht vollständig zugänglich ist, durch die sich jedoch im Individuum Spuren früherer Zustände erhalten. Durch sie kann in der Erinnerung eine kontinuierliche Verbindung mit seinem gegenwärtigen Zustand hergestellt und auf diese Weise die Identität des

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Bewusstseins konstituiert werden (vgl. Kreuzer 1996: 974): »Diese unmerklichen Perzeptionen sind es auch, die dasjenige bezeichnen und ausmachen, was wir ein und dasselbe Individuum nennen: denn kraft ihrer erhalten sich im Individuum Spuren seiner früheren Zustände, durch die die Verknüpfung mit seinem gegenwärtigen Zustand hergestellt wird.« (Leibniz 1996: 11f.) Identitätsstiftende Erinnerung ist Leibniz zufolge demnach nicht ausschließlich auf die Reflexivität des Selbstbewusstseins zurückzuführen, sondern nur möglich, indem auf die ›kleinen Perzeptionen‹ zurückgegriffen wird, die der bewussten Wahrnehmung einer Person nicht zugänglich sind. Bezüglich der Einheit des Bewusstseins über die Zeit hinweg verweisen die Überlegungen Leibnizʼ also auf den Bereich des Unbewussten, der, wie Dieter Sturma herausstellt, nicht mit der Abwesenheit der Person gleichzusetzen ist, sondern ein besonderes Selbstverhältnis anzeigt, das wesentlich durch Präreflexivität gekennzeichnet ist (vgl. Sturma 1997: 233, 243): »Das Unbewußte hat den Sinn eines niemals vollständig aufklärbaren Bewußtseinshindergrunds des Subjekts und eben nicht den eines Subjekts im Subjekt.« (Ebd.: 245) Auf diesen unbewussten Bewusstseinshintergrund des Subjekts als wesentliches Moment der Konstitution von Identität wird im Laufe der vorliegenden Arbeit noch zurückzukommen sein (vgl. insbesondere Abschnitt II.2.1). In den nächsten beiden Abschnitten geht es zunächst jedoch um die Darstellung von Identität in der intersubjektiv verfügbaren lebensgeschichtlichen Erzählung. 2.2.2 Lebensgeschichte in der Ordnung der Erzählung Bei der identitätskonstitutiven Integrations- bzw. Syntheseleistung spielen Gedächtnis und Erinnerung offenkundig eine zentrale Rolle: Diachrone Identität gründet im Kontinuitätsbewusstsein eines Subjekts, das sich in einer Vergangenheit und einer antizipierten Zukunft verortet bzw. sich zu ihr ins Verhältnis setzt (vgl. Straub 1996: 22f.). Als paradigmatischer Ausdruck dieser Vorstellung von Identität kann die Erzählung der Lebensgeschichte angesehen werden, die, mit einem Ausdruck Paul Ricœurs, die »Synthese des Heterogenen« leistet. Diese besteht in der Vermittlung zwischen »der Vielfalt der Ereignisse und der zeitlichen Einheit der erzählten Geschichte«, zwischen »den dispataren Komponenten der Handlung – Absichten, Ursachen und Zufällen – und dem Zusammenhang der Geschichte« sowie zwischen »der reinen Aufeinanderfolge und der Einheit der zeitlichen Form, die unter Umständen die Chronologie durcheinanderbringen, ja sogar außer Kraft setzen kann« (Ricœur 2005: 214). Je mehr bedeutende Ereignisse und ihre Verarbeitung, Orte, Beziehungen des Lebens und daraus resultierende Identitätsaspekte in die strukturierte Lebensgeschichte integriert wer-

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den können, um so besser findet die Person sich in ihr wieder und fühlt sich in ihrer aktuellen Identität erkannt und anerkannt (vgl. T. Habermas 1996: 279). Die Erinnerung an vergangene Lebensereignisse einer Person, in der Psychologie ›autobiografisches Gedächtnis‹ genannt, konstituiert die individuelle Lebensgeschichte, die nicht nur Ereignisse umfasst, die wesentlich auf das Individuum bezogen sind, sondern auch Alltagserlebnisse, öffentliche Ereignisse und autobiografische Wissensbestände im Sinne von Fakten (vgl. A. Weber 2001: 67). Die Bildung von Kontinuität vollzieht sich im Rahmen spezifischer sprachlicher Formen und Handlungen: Sie ist an das Erzählen von Geschichten gebunden, da nur die Erzählung jene Temporalisierungen von Wirklichkeiten leistet, die als Biografisierung geläufig sind. Kontinuität und diachrone Identität im Sinne der Lebensgeschichte als kontinuierlicher Verlaufsgestalt sind das Resultat einer narrativen Konstruktion (vgl. Straub 1996: 23). Die autobiografische Erzählung ist es, die – unter Rückgriff auf Gedächtnis- und Erinnerungsleistungen sowie Einbeziehung kollektiv-geschichtlicher Inhalte – die Lebenszeit als eine kontinuierlich selbst erlebte konstruiert. Da die einzelnen Ereignisse in der Erinnerung nicht in einer Kontinuität vorliegen, müssen sie erst durch die Erzählung in eine kontinuierliche Folge gebracht werden, die sich von der reinen Chronologie durch die Dimension der Deutung unterscheidet. ›Diachrone Identität‹ wird dementsprechend – prominent etwa von Paul Ricœur – auch als ›narrative Identität‹ bezeichnet und die Erzählung als das primär strukturierende Schema verstanden, durch das Subjekte ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft anlegen (vgl. Ricœur 1991: 396f.). In der Erzählung sind die verstreuten und voneinander getrennten Erinnerungen mit dem Gedächtnis im Sinne lebensgeschichtlicher Kontinuität miteinander verbunden (vgl. Ricœur 2004: 152).14

14 Dem menschlichen Leben gehören nicht nur narrative Strukturen zu, es scheint sich insgesamt als Lebensgeschichte zu ordnen. Es bleibt jedoch unklar, ob es sich um einen Ist-, Wunsch- oder Sollzustand handelt (vgl. Thomä 1998: 19). Donald E. Polkinghorne zufolge verleiht der Eindruck, dass die gelebte Erfahrung selbst bereits in Form von zeitlich geordneten Ereignissen strukturiert ist, der ursprünglichen Erfahrung eine Präfiguriertheit, die auf Erzählung drängt. Die reflexive Rückschau integriert das pränarrative Verständnis und das Verständnis nach dem Ausgang der Episode. Diese Sichtweise bildet, wie Polkinghorne feststellt, eine Zwischenposition zwischen der Behauptung einer vollkommenen narrativen Strukturiertheit der ursprünglichen, d.h. unreflektierten Erfahrung einerseits und andererseits der Behauptung der vollkommenen Unverbundenheit und Fragmentarität der Erfahrung, der die narrative Ordnung immer erst im Nachhinein übergestülpt wird (vgl. Polkinghorne 1998: 22f.).

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Die Konzeption der ›narrativen Identität‹, derzufolge die Frage nach der personalen Identität durch die Erzählung der Geschichte eines Lebens beantwortet wird, löst Ricœur zufolge eine ansonsten unlösbare Antinomie. Diese besteht darin, dass entweder ein trotz der Vielfältigkeit seiner Zustände selbstidentisches Subjekt postuliert oder dieses identische Subjekt als substantialistische Illusion negiert wird. Das Dilemma wird aufgelöst, indem die Vorstellung einer substantialen oder formalen Identität im Sinne eines Selben (idem) durch die narrative Identität im Sinne eines Selbst (ipse) ersetzt wird. Die narrative Identität des Selbst ist durch ihre Temporalstruktur in der Lage, eine dynamische Identität auszudrücken, die immer wieder durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfiguration refiguriert wird und in dieser Weise im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben auch die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens umfasst (vgl. Ricœur 1991: 395f.). Jürgen Habermas führt mit Bezug auf Sören Kierkegaard aus, dass das Individuum sich zunächst als ein geschichtliches Produkt zufälliger Lebensumstände vorfindet und seine ›Ich-Identität‹ gewinnt, indem es seine Lebensgeschichte im Licht absoluter Selbstverantwortung rekonstruiert und kritisch aneignet: Es ›wählt‹ sich selbst in seinem Gewordensein und rechnet sich seine Lebensgeschichte als etwas zu, wofür es retrospektiv Rechenschaft geben will. Zu diesem Zweck müssen die Bestandteile der Lebensgeschichte in ihren Bezügen zu Dingen und Menschen sinnvoll miteinander verbunden werden. Die Einheit der Lebensgeschichte wird durch kumulative Lebenserfahrung hergestellt und die einzelnen Ereignisse einer retrospektiven Interpretation unterworfen. Diese Rechenschaft der Lebensgeschichte einer unvertretbaren und unverwechselbaren Person findet dabei immer auch im intersubjektiven Raum statt. In diesem entwirft sich der Einzelne »als jemand, der für die mehr oder weniger deutlich hergestellte Kontinuität einer mehr oder weniger bewußt angeeigneten Lebensgeschichte bürgt; im Lichte seiner erworbenen Individualität möchte er auch in Zukunft als der, zu dem er sich gemacht hat, identifiziert werden« (J. Habermas 1988: 207; vgl. ebd.: 203ff.; J. Habermas 1987: 171f.; J. Habermas 1973: 190ff.). Durch Erzählen wird Zeiterfahrungen Bedeutung zugeschrieben, sodass die Subjekte angesichts der Zeiterfahrung, die sie mit der Veränderung ihrer Welt und ihrer selbst machen, erst zu Subjekten ihrer Zeit werden. Sie machen sie zu ihrer Zeit, in der sie absichtsvoll handeln können, indem erfahrene Zeitverläufe

Ricœur deutet mit dem Begriff der ›virtuellen Geschichte‹ eine narrative Strukturierung vor der tatsächlichen Erzählung an, da er eine Tendenz erkennt, »in dieser oder jener Episodenfolge unseres Lebens ›(noch) nicht erzählte‹ Geschichten zu erblicken, die erzählenswert sind oder Ansatzpunkte zur Erzählung bieten« (Ricœur 1988: 118).

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in der Erzählung so auf beabsichtigte Zeitverläufe bezogen werden, dass zwischen beidem ein kohärentes Verhältnis entsteht. Dies geschieht in Form von Geschichten, die Zeiterfahrungen zu Handlungsorientierungen organisieren (vgl. Rüsen 2012: 154f.; Straub 1998a: 118). Die Ereignisse werden zu einer Geschichte zusammengesetzt, indem a) eine Zeitspanne festgelegt wird, die Anfang und Ende der Geschichte bildet; b) Kriterien für die Auswahl der Ereignisse zur Verfügung gestellt werden, die in die Geschichte aufgenommen werden; c) Ereignisse zeitlich so geordnet werden, dass sich eine Geschichte in einer Bewegung entfaltet und in einer Konklusion ihren Höhepunkt findet; d) die Bedeutung geklärt wird, die Ereignisse im Hinblick auf ihren Beitrag zur Geschichte als einem einheitlichen Ganzen besitzen (vgl. Polkinghorne 1998: 18). Durch die Erzählung werden Geschehnisse des Lebens im Ganzen einer kohärenten linearen Folge miteinander verbunden. Dieses Ganze verleiht ihnen durch ihre Rolle in der Geschichte und ihre Bedeutung für den Ausgang der Geschichte retrospektiv Bedeutung. Die Erzählung, die Zeit als eine sinnhafte Ordnungsstruktur menschlicher Erfahrungen und Erwartungen konstituiert, verfährt in ihrem Streben nach Kohärenz und Verständlichkeit im Nachhinein ordnend und glättend, verfährt mit Auslassungen, Verdichtungen und Übertreibungen, um den Weg, auf dem die erzählte Episode entfaltet wird, intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. ebd.: 25; Straub 1996: 23f.). Die Erzählung unterteilt die Zeit mithilfe der erzählten Ereignisse in Abschnitte, sodass bestimmten Ereignissen innerhalb einer Zeitspanne eine Bedeutung verliehen wird. Teile einer Erzählung sind Funktionen der Erzählung als Ganzes, dieses Ganze ist wiederum auf die es konstituierenden Teile bezogen. Die Erzählung ist immer eine retrospektive Interpretation aus der gegenwärtigen Perspektive. Das bedeutet auch, dass die Perspektive sich im Laufe des Lebens ändert und vergangenen Ereignissen eine neue Bedeutung zugeschrieben werden kann, indem sie in eine neue Erzählung eingebunden werden. Der erzählten Lebensgeschichte werden durch neue Erfahrungen nicht bloß neue Elemente hinzugefügt, sondern die Geschichte wird im Ganzen durch eine veränderte Perspektive auf die eigene Vergangenheit verändert, ist also als retrospektive Konstruktion wesentlich gegenwartsbezogen. Die ›narrative Identität‹ ist ein wesentlich dynamisches Konzept, in dem das Subjekt sich zugleich als Leser und Schreiber des eigenen Lebens konstituiert (vgl. Ricœur 1991: 396). Auch frühere narrative Interpretationen und Gestaltungen von Lebensepisoden werden Bestandteile der früheren Erfahrung, die in eine neue Erzählung eingehen, sodass Gegenwartserfahrungen zeitlichen Verläufen zugerechnet werden, über die es bereits ein orientierendes Wissen gibt (vgl. Rüsen 2012: 158; Polkinghorne 1998: 27).

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Erzählungen machen die Gegenwart auf Vergangenheit und Zukunft hin durchlässig, sodass sie sich erst als Erfahrungsraum konstituiert, in dem einem Subjekt anderes gegenwärtig und es sich selber in seiner eigenen Geschichte präsent werden kann (vgl. Angehrn 1985: 36). Identitätsbildung ist als ursprüngliches Selbstverhältnis und als reflexive Vergegenwärtigung des Selbstbezugs in der Zeitlichkeit der Erzählung ein Prozess, in dem sich Akte der Selbsterfahrung vollziehen. Die Erzählung bezieht die Einheit ihrer Geschichte nicht auf die Identität eines vorausgesetzten Subjekts, sondern das Subjekt wird umgekehrt durch die Einheit der Geschichte in ihrer temporalen Gliederung erst konstituiert. Die zeitliche Konsistenz wird durch die Einheitlichkeit des Sinn- oder Subjektbezugs der Erzählung gewährleistet und es findet eine Orientierung an der Ganzheit der Erzählung statt. Der grundsätzliche Vergangenheitsbezug der Erzählung ist Voraussetzung für eine Perspektive, aus der eine Geschichte als Ganzheit in ihrem inneren Zusammenhang erscheint (vgl. ebd.: 37ff.). Die in sich zusammenhängend zeitlich gegliederte Erzählung des eigenen Lebens weist in der Regel ganz bestimmte Ordnungsmerkmale auf wie Perepetien und Wendepunkte als Grundgerüst einer Einheit, die sich im Laufe der Zeit herausbildet. Die Lebensgeschichte ereignet sich in der mit der Geburt beginnenden Lebenszeit, weshalb die chronologische Reihenfolge häufig als das zentrale Ordnungsmerkmal der Biografie angesehen wird. Neben der Chronologie bestimmen zyklische Muster wie der alltägliche Tagesablauf, die wiederkehrende Wochenstruktur, der Monatszyklus, die Jahreszeiten (und damit das Jahr) die Lebensgeschichte; Ereignisse lassen sich relativ in diesen sich wiederholenden Zeitrahmen einordnen. Der Lebensablauf wird zudem oft in einzelne Phasen unterteilt, die Mischungen aus Chronologie und inhaltlichen Kategorien wiedergeben. Orientierung geben diesbezüglich entwicklungspsychologische und kulturelle Einteilungen wie die Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter. Der Lebensablauf lässt sich auch nach Themen, bestimmten Aktivitäten, Orten und Personen einteilen, mit denen das Subjekt sich im Laufe verschiedener Phasen beschäftigt hat. Auch Lebensthemen als übergeordnete Fokussierungen eines Individuums sorgen für ein stabiles Selbstkonzept. Prägende Erinnerungen und folgenschwere Ereignisse definieren oder verändern die Lebensgeschichte. Sie geben dem Leben eine neue Richtung, einen neuen Sinn und sind als zentrale Ankerpunkte für die Biografie anzusehen (vgl. Pohl 2007: 78ff.). Es liegt auf der Hand, dass das Leben als Ganzes nicht in der Erzählung aufgeht, dass Erfahrungen und Handlungen sich in ihrem Zusammenspiel nicht von selbst nach narrativen Mustern richten und gewisse Erfahrungen gerade nicht ein kohärent erzählbares Selbst zu stützen imstande sind. Die Erzählung ist eine Form der Darstellung und der intersubjektiven Verobjektivierung einer ganz be-

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stimmten Deutung der eigenen Lebensgeschichte. Erzählt wird die Geschichte einer Figur, die das Subjekt selbst ist, sodass die Absicht reift, sich selbst als eine bestimmte Figur zu zeichnen (vgl. Thomä 1998: 14f.). Aneignung der eigenen Lebensgeschichte bedeutet darum wesentlich Integration in eine kohärente Interpretation, den sinnhaften Zusammenhang des eigenen Selbstverständnisses. Was jemanden als Person ausmacht gibt es nicht jenseits dieser Interpretation, die weder objektive Tatbestände lediglich abbildet noch eine bloße Erfindung darstellt, sondern auf Grundlagen beruht, denen sie mehr oder weniger gerecht werden kann (vgl. Jaeggi 2005: 154f.). Selbstaneignung ist immer ein Finden und Erfinden zugleich, ein Prozess, in dem das, was angeeignet wird, erst durch die Aneignung eine Gestalt gewinnt (vgl. ebd.: 197). Die Lebensgeschichte ist also kein Archiv des Lebens, sondern eine durch Reflexion entstandene, prinzipiell unabgeschlossene Interpretation und Integration einzelner Erlebnisse, die der jeweils aktuellen Situation angepasst ist. Kontinuität ist eine sinnbildende Verstehens- und Erklärungsleistung, auf deren Grundlage sich ein Subjekt als ein und dasselbe verstehen kann, das sich in der Zeit und über die Zeit reflexiv kontinuiert in der einen Geschichte, die es sich selbst zuspricht (vgl. Straub 1996: 23). Die ›narrative Identität‹ als ein kohärenter Entwurf des eigenen Selbst, den Personen aus der Interpretation ihrer Erinnerungen herstellen, findet im sozialen Raum statt, zu dessen Sinnangeboten sich eine Person reflexiv verhält (vgl. Quante 2001: 269). Personale Identität entwickelt sich in intersubjektiver Praxis insofern »von ›Außen nach Innen‹« (Luckmann 1979: 299): Der Mensch erlebt sich selbst immer vermittelt über seine Mitmenschen in sozialen Beziehungen. Die sämtliche Sozialbeziehungen, Denkweisen und Verhaltensformen prägende Gesellschaftsstruktur ist immer eine besondere und historisch variable und die Entwicklung einer personalen Identität wird konstitutiv beeinflusst durch intersubjektive Prozesse der Vermittlung, die sich kultur- und epochenspezifisch unterscheiden (vgl. ebd.: 299). Im Hinblick auf die narrative Dimension der personalen Identität lässt sich festhalten, dass kulturspezifische Erzählstrukturen angewandt werden müssen, die die Erzählung der individuellen Lebensgeschichte formen. Diese Verhältnisse lassen sich innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ mit dem Begriff der sozialen ›Rahmen‹ beschreiben. Im folgenden Abschnitt geht es um den anderen wesentlichen Aspekt des ›kollektiven Gedächtnisses‹, die ›kollektive Identität‹, deren Begriff in Analogie zur individuellen Lebensgeschichte gebildet wird.

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2.2.3 Erzählung der ›kollektiven Identität‹ Um dem Begriff der ›kollektiven Identität‹ näher zu kommen, wird nun die zentrale Instanz der Erzählung auf die kollektive Ebene übertragen. Denn auch auf der Ebene der ›kollektiven Identität‹ geht es darum, den Lebenszusammenhang auf eine sinnstiftende Weise zu vergegenwärtigen, indem eine auf das eigene Kollektiv zugeschnittene Erzählung konstruiert wird, die handlungsorientierte Zukunftsperspektiven bietet und den Bedarf an Affirmation und Selbstbestätigung deckt (vgl. J. Habermas 1987: 166). Doch während das individuelle Leben eine Faktizität darstellt, deren Eingespanntheit zwischen Geburt und Tod die Vorstellung einer Kontinuität des Lebens und ihre Darstellung in einer Erzählung der Lebensgeschichte in gewisser Weise von sich aus nahelegt, ist die Kontinuität der Geschichte eines Kollektivs in ganz anderer Weise erklärungsbedürftig, sodass an dieser Stelle einige Anmerkungen zu diesem Komplex folgen. Das, was tatsächlich in der Vergangenheit geschehen ist, die empirischen Fakten, sind noch nicht ›Geschichte‹: Der historische Sinn liegt nicht in den Tatsachen der Vergangenheit selbst, sondern wird erst nachträglich gebildet, indem die Tatsachen durch Interpretation zu einem erzählfähigen zeitlichen Zusammenhang verknüpft werden (vgl. Rüsen 2006: 45). Diejenigen Bewusstseinsleistungen, mit denen vergangene Erfahrungen im Medium der Erinnerung die Qualität einer sinn- und bedeutungsvollen Geschichte erhalten und zu Orientierungen der Lebenspraxis verarbeitet werden, werden mit dem Begriff des ›Geschichtsbewusstseins‹ bezeichnet (vgl. Rüsen 2008: 14). Diese »Sinnbildung über Zeiterfahrung« (ebd.: 16) vollzieht sich zugleich rezeptiv und produktiv: Erwartungen und Absichten werden durch das Geschichtsbewusstsein an Erfahrungen abgearbeitet und Erfahrungen werden in Erwartungen und Absichten eingeholt. Die menschliche Lebenspraxis wird in dieser Weise an der Vorstellung einer zeitlichen Richtung dieser Praxis ausgerichtet, die zugleich subjektiv und objektiv ist, wie Jörn Rüsen betont: Die Ausrichtung der Praxis an Erwartungen und Absichten verbindet sich mit der Vorstellung eines realen Zeitverlaufs (vgl. ebd.: 16f.). Das durch die Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewusstseins erbrachte Resultat gedeuteter Zeiterfahrung hat die Form einer erzählfähigen Geschichte, in der vergangene Ereignisse als Abfolge von Geschehnissen vergegenwärtigt werden und in dieser Weise Gegenwart gedeutet und Zukunft als Erwartungsperspektive entworfen wird. Mithilfe von Geschichten erschließen sich Menschen ihre Welt, sich selbst und ihr Verhältnis zu anderen in zeitlicher Perspektive. Historische Sinnbildung durch das Erzählen von Geschichten versieht die kontingente historische Wirklichkeit mit Bedeutung: Zeit wird als Ordnung von Ereignisketten entworfen und vergangenes Geschehen durch diese Ordnung erklärt.

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Der sich immer erst nachträglich einstellende Sinn einer Geschichte geht demnach in das Erinnerte als wesentliche Bestimmung ein und zugleich darüber hinaus, da es mit Gegenwärtigem und Zukünftigem zu einer übergreifenden Zeitverlaufsvorstellung synthetisiert wird (vgl. ebd.: 18f.; Rüsen 2006: 72, 203). Die wesentliche Kategorie dieses Vorgangs ist die der Kontinuität. Kontinuität ist die grundlegende Vorstellung des zeitlichen Zusammenhangs von Ereignissen, ohne die auch die Geschichte eines Staats oder einer Epoche nicht denkbar ist. Begriffsgeschichtlich erhält der Begriff der historischen Kontinuität in der Historik von Johann Gustav Droysen erstmals eine geschichtstheoretische Bedeutung, sowohl als Charakteristikum eines objektiv gegebenen und vorfindlichen Prozesses wie auch als subjektive Leistung der Reflexion. Geschichte als stetes Werden, als Ergänzung des Früheren durch das Spätere und Kontinuität werden bei Droysen gleichgesetzt, wie Hans Michael Baumgartner betont: Der Zusammenhang von Ereignissen ist deren Geschichte und Geschichte ist umgekehrt ein einheitsstiftender Zusammenhang von Ereignissen. Alle Bestimmungen der Geschichte sind ebenfalls nähere Bestimmungen des Begriffs der Kontinuität. Geschichte ist fortschreitende, sich in sich steigernde Kontinuität (vgl. Baumgartner 1972: 13, 58; Droysen 1937: 12). In der Fassung geschichtlicher Kontinuität durch Wilhelm Dilthey, vor allem in Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, wird die Kontinuität der Geschichte in paradigmatischer Weise direkt von derjenigen des individuellen Lebensverlaufs her begriffen. Dieser ist Dilthey zufolge dadurch charakterisiert, dass jeder seiner Teile im Bewusstsein durch das Erlebnis von Kontinuität mit den anderen Teilen verbunden wird (vgl. Dilthey 1927: 228). Die Autobiografie ist Dilthey zufolge paradigmatisch für die Geschichte, da in ihr bestimmte erinnerte Momente eines Lebens retrospektiv als bedeutsam herausgehoben und akzentuiert und die anderen vergessen werden, um einen einheitlichen Zusammenhang herzustellen (vgl. ebd.: 200). Die Retrospektion, die die Erlebnisse einer sinnhaften Synthese zuführt, konstituiert die – immer wieder zu erneuernde – Kontinuität der Lebensgeschichte. Diesen Aufbau der Lebenserfahrung des Einzelnen überträgt Dilthey auf geschichtliche Zusammenhänge, indem er für alle geschichtliche Wirklichkeit die gleiche Struktur des Erlebens voraussetzt, in der jeder Augenblick auf den früheren aufbaut (vgl. Herold 1976a: 1039; Dilthey 1927: 194, 261). Im Zusammenhang des Lebens als Verlauf in der Zeit rücken die einzelnen Lebensmomente in das Lebensganze ein und gewinnen aus ihren Beziehungen zum Ganzen Bedeutsamkeit und Zusammengehörigkeit (vgl. Baumgartner 1972: 96f.; Dilthey 1927: 233). Es handelt sich dabei um ein zirkuläres Verhältnis, da die Kategorie der Bedeutung einen in sich zentrierten Zusammenhang nur dann begründet, wenn ihre

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Teile, die auf ein Sinnganzes bezogen werden, bereits Lebensmomente ein und desselben Subjekts sind. Das Subjekt kann die bedeutsamen Teile nur auf ein Ganzes beziehen, indem es sie als eigene Lebensmomente begreift (vgl. Baumgartner 1972: 98f.; Dilthey 1927: 228). Das setzt mindestens einen formellen Bezugspunkt voraus, der das Ganze repräsentiert: das ›Selbst‹ bzw. die ›Einheit des Bewusstseins‹ (vgl. Dilthey 1927: 195). Bei der Übertragung des Modells des individuellen Lebenslaufs auf die Geschichte ergibt sich jedoch das Problem, dass ihre Wirkungszusammenhänge nicht auf ein identisches erlebendes und in seinen Interpretationen sich selbst identifizierendes Subjekt bezogen werden können: Die Kontinuität der Geschichte genügt nicht den an der Kontinuität der individuellen Lebensgeschichte entwickelten Kriterien (vgl. Baumgartner 1972: 103). Dilthey selbst formuliert, dass die Übertragung des Kontinuitätsmodells auf die Geschichte voraussetzt, dass ›logische Subjekte‹ gebildet werden können (vgl. Dilthey 1927: 282). Dilthey versucht nun zu zeigen, dass jedes Individuum in seinem Erleben, Verstehen und Handeln in eine ›Sphäre von Gemeinsamkeit‹ (vgl. ebd.: 147) eingelassen ist und daher als ›Kreuzungspunkt von Zusammenhängen‹ gedacht werden muss, in die sein Dasein verwoben ist. Diese Zusammenhänge bestehen in den Individuen, reichen aber über deren Leben hinaus und besitzen durch ihren Gehalt ein selbständiges Dasein und eine eigene Entwicklung (vgl. ebd.: 135, 251). Das Individuum als ein solcher ›Kreuzungspunkt‹ weiß sich durch die ›Sphäre der Gemeinsamkeit‹ bestimmt, die es darum als selbständigen Wikungszusammenhang in Form von ›Subjekten ideeller Art‹ erfährt (vgl. ebd.: 135, 254; Baumgartner 1972: 104f.). Diese ideellen Gebilde finden ihren Ausdruck in ›Objektivationen des Lebens‹ (vgl. Dilthey 1927: 143), in denen sich die historische Wirklichkeit als synchrones und diachrones Geflecht von Wirkungszusammenhängen vermittelt (vgl. ebd.: 189). In den ›Objektivationen des Lebens‹ sedimentiert und manifestiert sich Geschichte, durch die Vergegenständlichung wird Geschichte konkret, denn das Leben bzw. die Geschichte selbst vermittelt sich nicht sinnvoll, weshalb es der Objektivationen, d.h. Lebensäußerungen im Reich des ›objektiven Geistes‹ als Ausdruck bedarf (vgl. Dilthey 1924: 319).15

15 Dilthey grenzt seinen Begriff des ›objektiven Geistes‹ explizit gegen den hegelschen ab. So umfasst der ›objektive Geist‹ Dilthey zufolge bei Hegel nicht alle kulturellen Objektivationen, sondern lediglich Recht, Moralität und Sittlichkeit. Zudem kommt ihm im hegelschen System als Vorstufe des absoluten Geistes eine präzise Stelle zu. Hegels Begriff des ›objektiven Geistes‹ ist Diltheys Interpretation zufolge eine metaphysische Konstruktion, während es Dilthey selbst darum geht, das Gegebene der geschichtlichen Wirklichkeit zu analysieren (vgl. Dilthey 1927: 148ff.).

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Zwei der Ansätze Diltheys behalten sowohl für die an ihn anschließende weitere Diskussion des Kontinuitätsproblems als auch für das Problem der ›kollektiven Identität‹ innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ eine entscheidende Bedeutung: der Ansatz bei der individuellen Lebensgeschichte, deren Struktur auf die Geschichte von Kollektiven übertragen wird, und das Bedeutungszusammenhänge entwerfende Verstehen. Historische Kontinuität kann mithilfe dieser von Dilthey entwickelten Theoriebausteine sowohl im Sinne von Halbwachs als Traditionszusammenhang in den sich überschneidenden Lebensgeschichten von Individuen verstanden werden als auch im Sinne Assmanns als Implikat des Vergangenheit interpretierenden und zu einem Zusammenhang integrierenden historischen Bewusstseins (vgl. Baumgartner 1972: 113). Die Identität, um die es in der Geschichte geht, ist, wie Hans Michael Baumgartner betont, die Einheit eines Erzählzusammenhangs und als solche in erster Linie die Einheit eines Sinns, d.h. ›Sinnidentität‹ (vgl. ebd.: 48, 300). Denn von einem Zeitabschnitt lassen sich ganz verschiedene Geschichten erzählen. Im Hinblick auf einen bestimmten Sinn stellt die Erzählung Geschichte als Kontinuität dar. Innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird die narrative Sinnbildung über Zeiterfahrung mit der Leistung der Identitätsbildung gleichgesetzt: Historische Erinnerung artikuliert über Geschichten die zeitliche Dimension des Kollektivs und vermittelt und stabilisiert Traditionen, Zugehörigkeit und Abgrenzung, indem sie eine als gemeinsam empfundene Vergangenheit interpretiert. Bei dieser Vorstellung von der eigenen zeitlichen Erstrecktheit geht es um die innere Konsistenz menschlicher Subjektivität in den zeitlichen Veränderungen im Lebensprozess. Geschichtsbewusstsein ist ein kommunikativer Prozess von Vergesellschaftung und entwirft zugleich auch eine Vorstellung davon, wer die anderen sind, von denen man sich abgrenzt, um man selbst zu sein. Die ›kollektive Identität‹ erhält in dieser Weise eine inhaltliche Ausprägung, die normative und faktische Elemente, Erfahrungen und Absichten, Gewordensein und Werdenwollen, miteinander verbindet (vgl. Rüsen 2008: 21, 40; Rüsen 2006: 72). Der Begriff der narrativen Identität, so lässt sich mit Ricœur zusammenfassen, ist diesen Überlegungen zufolge nicht ausschließlich auf Individuen, sondern auch auf Kollektive anwendbar: Kollektive konstituieren sich in ihrer Identität im Sinne eines Selbst im Unterschied zum abstrakten Selben ebenso wie Individuen dadurch, dass sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden (vgl. Ricœur 1991: 397).

3. Ansätze zu einem Korrektiv

Während die eigene Lebenszeit existenziell begrenzt ist, bewegt das Individuum sich immer schon in potenziell unendlichen Zeithorizonten, die relativ unabhängig von den eigenen Erfahrungen existieren und in Vergangenheit und Zukunft weit über diese hinwegreichen. Das ist ein Sinn der Rede vom ›kollektiven Gedächtnis‹: Im Gedächtnis des Individuums verschränkt sich das Gedächtnis der eigenen Erfahrungen mit kollektiv verfügbaren Inhalten und Praktiken und das individuelle Erinnern wird durch äußerliche, sozial geformte Faktoren bedingt und ausgelöst.1 Soziale Gruppen bilden zudem jeweils spezifische Formen von ›Gedächtnis‹ aus, die sich nach den Kriterien Raum- und Zeitradius, Gruppengröße, Flüchtigkeit und Stabilität unterscheiden. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ als ein Teilbereich des ›kollektiven Gedächtnisses‹ beruht auf einem Fundus von Erfahrungen und Wissen, der von den lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle oder performative symbolische Medien übergegangen ist, sodass die jeweiligen Inhalte über die Generationenschwelle hinweg stabilisiert und bewusst tradiert oder archiviert bzw. ›gespeichert‹ – und also vergessen – werden. Da die objektive Geschichte vergangen ist und es keinen epistemischen Zugang zu Vergangenem gibt, bleiben lediglich interpretationsbedürftige Überreste bzw. Spuren des Vergangenen, die als Anhaltspunkte der Erinnerung fungieren. Das ›kollektive Gedächtnis‹ ist in Bezug auf diese ›Reste‹ des Vergangenen ein allgemeiner Bezugsrahmen für die Konstruktion diachroner Ordnungen einer so-

1

Wulf Kansteiner konstatiert, dass die Gedächtnis- und Erinnerungsvermögen selbst in der Neurologie nicht von Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern unterschieden werden können, die von der sozialen Umgebung mit der Sprache und üblichen Erzählstrukturen übernommen wurden (vgl. Kansteiner 2004: 124). Auch Kenneth J. Gergen betont, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, einen besonderen psychologischen Zustand der ›Erinnerung‹ zu identifizieren. Die Identifizierung von Gedächtnis und Erinnerung ist grundlegend sozial bestimmt (vgl. Gergen 1998: 191).

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zialen oder kulturellen Praxis, die geschichtliche Vergangenheit als Bewusstseinsinhalt erst bildet (vgl. Straub 1992: 45). Die Praktiken des ›kollektiven Gedächtnisses‹ können konservativ sein in der Weise, dass sie bestehende Wissensbestände und Orientierungen einer sozialen und individuellen Praxis kontinuieren und stabilisieren. Sie können aber auch innovativ und kreativ sein, indem sie durch alternative Deutungen der Vergangenheit neue Gegenwartsorientierungen und Zukunftserwartungen erzeugen und Kontinuitäten durchbrechen und zu einem geschichtlichen Bewusstsein der Diskontinuität führen (vgl. ebd.: 51f.).2 Das ›kollektive Gedächtnis‹ als eine auf Dauer angelegte und in gesellschaftlichen Institutionen verankerte Konstruktion wird zudem zum Zweck der Identitätsstiftung und -kontinuierung im Sinne gesellschaftlicher Homogenisierung funktionalisiert. Bestimmte historische Erfahrungen werden durch die Art und Weise ihrer Verarbeitung, Deutung und Aneignung in kollektiven Erzählungen zu überzeitlichen Geschichten umgeformt und durch kulturelle Objektivationen präsent gehalten. Dieses ›politische Gedächtnis‹ funktioniert über eine radikale inhaltliche Engführung, hohe symbolische Intensität und normative Verbindlich-

2

Rüsen unterscheidet vier idealtypische Formen der historischen Sinnbildung: die traditionale, exemplarische, kritische und genetische Form der historischen Deutung der menschlichen Vergangenheit (vgl. Rüsen 2012; Rüsen 2008: 26ff.): Traditionale historische Sinnbildung erinnert an die Ursprünge gegenwärtiger Lebensformen. Praxis wird an der Bewahrung überlieferter Lebensordnungen orientiert und Identität durch die affirmative Anpassung und nachahmende Wiederholung vorgegebener kultureller Definitionen von Lebensformen gebildet. Exemplarische historische Sinnbildung vergegenwärtigt Vergangenheit als Fülle unterschiedlicher Fälle oder Beispiele, die eine überzeitliche Geltung und Anwendbarkeit allgemeiner Handlungsregeln demonstrieren. Historische Identität hat dabei die Form der Regelkompetenz. Kritische historische Sinnbildung beseitigt vorherrschende Deutungsmuster der gegenwärtigen Lebenspraxis, um Platz für neue und andere Perspektiven zu schaffen. Sie orientiert sich dabei an den Brüchen und Widersprüchen von Traditionen. Genetische historische Sinnbildung rückt den Veränderungsaspekt im Zeitverlauf des menschlichen Lebens in den Vordergrund. Sie vergegenwärtigt Vergangenheit in der Form prozesshafter Vorgänge, sodass die Veränderung einer Lebensform als die notwendige Bedingung ihrer Zukunftsträchtigkeit erscheint. Die Frage nach den Möglichkeiten eines kritischen Erzählens wird in Abschnitt II.2.2.3 der vorliegenden Arbeit diskutiert. Zur Pluralität der ›kollektiven Gedächtnisse‹ jenseits und ›unterhalb‹ der National- und Staatsgeschichte, die die hegemoniale Legitimitätserzählung in Zweifel zu ziehen und Widerspruch gegen allzu eindeutige Vergangenheitsversionen zu erheben vermögen, vgl. Saar 2002: 276; Liebsch 1997: 206f.

A NSÄTZE ZU

EINEM

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keit (vgl. A. Assmann 2007: 40, 58). Das ›kollektive Gedächtnis‹ im auf eine Großgruppe bezogenen Singular verdichtet insofern nicht bloß notwendigerweise, sondern strategisch motiviert die Geschichte eines Kollektivs zu einem Kontinuum, in dem vielfältige Geschichten ausgelassen und in der Folge vergessen werden, da nur das zählt, was der Stabilisierung der Gemeinschaft dient. Dieses Erzählen blendet Erfahrungen, die die funktionale Erzählung übersteigen, sowie nicht aushaltbare Widersprüche aus und führt damit von der Aneignung von Erfahrung zum Zweck der Subjektstabilisierung in Wirklichkeit weg. Diese Möglichkeit ist auf der theoretischen Ebene bereits in der Konzeption von Halbwachs angelegt (vgl. Niethammer 1993: 43) und gelangt bei Jan und Aleida Assmann in den Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen. Jan Assmann zufolge ist das Deutungs- und Wertesystem des ›Kanons‹, das mit dem Anspruch der besten oder der einzig wahren Tradition auftritt und den Charakter des unbedingt Erstrebenswerten besitzt, eine Reaktion auf die Situation, in der durch Komplexitätssteigerung der Wirklichkeit und Steigerungen des Möglichkeitsraums die traditionellen Maßstäbe nicht mehr greifen und sich Orientierungslosigkeit einstellt (vgl. J. Assmann 2007: 123, 126). Grundsätzlich ist es so, dass Erfahrungen von Geschichtslosigkeit und das Verblassen historischer Orientierung, das durch die Auflösung traditioneller Lebensformen bedingt ist, das Interesse an der Bewahrung von Geschichte hervorrufen bzw. verstärken. Die Konjunktur der Diskussion um das ›kollektive Gedächtnis‹ und die ›kollektive Identität‹ seit den 1980er Jahren lässt sich insofern als Krisenerscheinung deuten, die kompensatorische Züge trägt. Sie erwächst aus der Verunsicherung, die aus dem Zerfall traditioneller Orientierungen resultiert und die das Bedürfnis nach einer eindeutigen Identität verstärkt (vgl. Angehrn 1985: 359).3 Im Bekenntnis zur Ordnung des ›Kanons‹ liegt zugleich das Bekenntnis zu einer normativen Selbstdefintion, zu einer Identität, die im Einklang mit den Geboten der Vernunft oder der Offenbarung steht (vgl. J. Assmann 2007: 127). Jan Assmann weist selbst darauf hin, dass es in der Gegenwart keinen gesamtgesell-

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Auch Pierre Nora konstatiert die Kompensationsfunktion der Monumentalisierung der Vergangenheit in ›Erinnerungsorten‹ angesichts des Schwindens kollektiver Bindungen in ›urwüchsigen‹ Gemeinschaften: »Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.« (Nora 1990: 11) Wenn die Menschen noch in den Traditionen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu Hause wären, dann bräuchten sie ihm keine ›Orte‹ zu widmen. Der Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist Nora zufolge jedoch zu groß, sodass ›Erinnerungsorte‹ kein ›kollektives Gedächtnis‹ im Sinne kollektiver Bindung mehr konstituieren können, sondern lediglich als künstliche Platzhalter fungieren (vgl. Erll 2005: 23f.).

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schaftlich gültigen ›Kanon‹ mehr gibt, und doch konstatiert er: »Aus dem Horizont normativer und formativer Wertsetzungen kommen wir nicht heraus.« (Ebd.: 129) Die Konzeption des ›kulturellen Gedächtnisses‹ wird insofern zu einer normativen Angelegenheit, als Jan Assmann mit dem Prinzip ›Kanon‹ die machtgestützte politische Identitätsstiftung ins Zentrum der Betrachtung stellt und dabei, zumindest wenn die hieraus gewonnenen Merkmale des ›kulturellen Gedächtnisses‹ auf die Gegenwart übertragen werden, selbst in einen identitätsstiftenden politischen Gestus verfällt. Tatsächlich ist der Zusammenhang von ›kollektivem Gedächtnis‹ und Identität für Jan und Aleida Assmann ein dermaßen grundsätzlicher, dass sich durch historischen Wandel an ihm nichts Grundlegendes ändert. Im Problem und Begriff der Kontinuität (und des Gedächtnisses), die im Kontext einer Krisenerfahrung hervortreten, spricht sich ein grundsätzliches Interesse am Traditionszusammenhang aus, wie Hans Michael Baumgartner feststellt: »Kontinuität heißt Kontinuität soll sein; der vermeintlich theoretische Begriff ist Produkt eines Interesses.« (Baumgartner 1972: 32)4 Auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene dient die Konstruktion mythischer Erzählungen der Funktionalisierung von Vergangenheit für die Zwecke der Gegenwart: Die Identität einer Person bzw. eines Kollektivs soll durch identitätsstiftende Geschichten zusammengehalten werden. Mythisch sind diese Erzählungen dann, wenn die für die Erzählung notwendige Vereinheitlichung

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In der konservativen Kompensationstheorie von Odo Marquard und Hermann Lübbe nimmt die Vorstellung der Kompensationsleistung von Geschichte und einer auf ihr fußenden Identität noch deutlicher eine normative Färbung an (vgl. Siems 2006: 152ff.; Niethammer 2000: 60ff.). Der von Marquard und Lübbe diagnostizierte soziale Traditionsverlust und die damit einhergehende ›Identitätskrise‹ sollen durch die Vergegenwärtigung einer geschichtlich-genetischen Identität im Sinne einer natürlichen Einheit durch die vermeintliche Unmittelbarkeit gemeinsamer Herkunft kompensiert werden. Die Geschichtswissenschaft dient in diesem Rahmen der Rechenschaft über die eigene, kollektive Besonderheit, was Lübbe die »Identitätspräsentationsfunktion von Historien« (Lübbe 1979: 282) nennt. Sie hält »eigene und fremde Identität vergegenwärtigungsfähig« (ebd.: 291) und liefert Orientierung und ein Bewusstsein von Zugehörigkeit. Marquard teilt ausdrücklich Lübbes Einschätzung einer im beschleunigten Wandel verfallenden Orientierung und der sozialen Desintegration, sodass geschichtliche Identitätserzählungen als Versicherungen benötigt werden (vgl. Marquard 1979: 352). Dabei kommt Marquard zufolge den Geisteswissenschaften in Bezug auf den modernen Traditionsverlust eine besondere kompensatorische Funktion deshalb zu, weil sie Geschichten erzählen, die in einer »fremd werdenden Welt« den »lebensweltlichen Vertrautheitsbedarf« decken sollen (Marquard 1986: 106).

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und Vereinfachung der Geschichte der Person bzw. des Kollektivs nicht reflektiert wird, sondern sie in ihrer sinngebenden und legitimierenden Funktion naturalisiert werden, d.h., ihr historisches Gewordensein in ihrer unreflektierten Übernahme vergessen wird. Das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ beschreibt den Funktionszusammenhang von Geschichtserzählung und ›kollektiver Identität‹, der in vormodernen Gesellschaften bestanden haben soll und von dem immer noch empfunden wird, dass er ›eigentlich‹ besteht bzw. bestehen sollte, in Form eines statischen Modells: Dem beschriebenen Zusammenhang wird eine überhistorische Geltung zugesprochen. Wenn diese Beschreibung für moderne Gesellschaften jedoch nicht mehr zutrifft, dann wird das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ selbst unhistorisch und die Mythen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ müssen als Versuch der Kompensation für die verlorenen Einbindungen in Traditionen angesehen werden. Der kritische Punkt, an dem eine Betrachtung der Mechanismen des ›kollektiven Gedächtnisses‹ in seine Affirmation umschlägt, lässt sich mit Ricœur auch als das »Hinübergleiten von der Betrachtung der Traditionen zu einer Apologie der Tradition« (Ricœur 1991: 360) bezeichnen. Der Traditionsbegriff bedeutet zunächst lediglich, dass Menschen als geschichtliche Wesen niemals absolut von vorne beginnen, sondern in einer Welt leben, die ihnen immer schon vorausgeht. Tradition bezeichnet »das schon Gesagte, sofern es uns entlang der Kette von Interpretationen und Neuinterpretationen überliefert wird« (ebd.: 358). Im Moment des kritischen Umschlags kommt eine Legitimitätsfrage ins Spiel und eine mit Autorität verknüpfte Tradition wirft sich zu einer Legitimationsinstanz auf: Die empirische Notwendigkeit des schon Bestehenden, ein ›Müssen‹, wird zu einem ›Sollen‹ (vgl. ebd.: 364). An diese Überlegungen lässt sich mit Rahel Jaeggi die Unterscheidung von ›emanzipatorischer‹ und ›konservativer‹ Entfremdungstheorie anschließen: Emanzipatorisch wäre eine Entfremdungstheorie, die die individuelle Ausdrucks- und Gestaltungsmacht in den Mittelpunkt des Interesses stellt und nicht das Herausfallen aus einer gegebenen sinnhaften Ordnung. Wird diese Ordnung von konservativer Entfremdungstheorie tendenziell nostalgisch romantisiert, Entfremdung hingegen auf die moderne Überforderung durch die Auflösung alter Bindungen zurückgeführt, muss ›emanzipatorische‹ Entfremdungstheorie Entfremdung als Form von Unfreiheit auffassen (vgl. Jaeggi 2005: 41). Im Sinne der ›emanzipatorischen‹ Entfremdungstheorie stellt sich die Frage, wie die Verhältnisse der Subjekte zur sozialen Praxis beschaffen sein sollten, welchen Anforderungen diese Verhältnisse als Bedingungen der Ermöglichung nicht-entfremdeter Erfahrung und Identität genügen sollten und welche Potenziale nicht-

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entfremdeter Erfahrung und Identität sich innerhalb moderner Lebensformen erschließen lassen. Meint die Bestimmung von Entfremdung als gestörte Weltaneignung die defizitäre Ausgestaltung eines produktiven Verhältnisses, so wäre die Aufhebung von Entfremdung als Aneignungsverhältnis wiederum eine Beziehung. Aufhebung von Entfremdung bedeutet darum nicht die Rückkehr in ein ungeschiedenes Einssein mit sich selbst und keine Rückkehr zu einem substanziellen, nicht entfremdeten Wesen: Nicht entfremdet zu sein bedeutet lediglich, sich zu den Verhältnissen, in denen man lebt und durch die man bestimmt wird, in Beziehung zu setzen, sie sich aneignen zu können. Entfremdung ist die Störung von Aneignungsvollzügen, ihre Aufhebung ist Bedingung für gelingende Aneignungsverhältnisse (vgl. ebd.: 19, 51). Das vollkommene Aufgehen in bestimmten Lebensformen ist nicht die Voraussetzung für gelingende Selbstverhältnisse – es müssen dafür lediglich im Umgang mit der sozialen Welt Formen der aneignenden Praxis gefunden werden. Entfremdung bedeutet also nicht den Verlust kollektiver Bindungen, sondern die Unfähigkeit, sich zu anderen in Beziehung zu setzen (vgl. ebd.: 258). Die Kritik der Entfremdung hat die Vorstellung einer nicht-entfremdeten Subjektivität zur Voraussetzung. In diesem Zusammenhang ist es wesentlich, die mit dem Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ bezeichnete soziale Prägung des Verhältnisses von Gedächtnis, Erinnerung und Identität, also die Bewegung ›von außen nach innen‹, nicht absolut zu setzen, sondern auch die umgekehrte Bewegung ›von innen nach außen‹ zu betonen: So ergibt sich eine Perspektive, einen Ausweg aus den die Subjektivität deformierenden sozialen Einflüssen, den ›sozialen Pathologien‹ (vgl. Honneth 1994), und der Entfremdung als ihrer subjektiven Folge aufzuzeigen. Um erneut mit Ricœur zu sprechen: Die ›Tradition der Objektivität‹ muss durch eine ›Tradition der Innerlichkeit‹ ergänzt werden. Nicht ihre Gegenüberstellung, sondern ihre Verbindung muss dabei das Ziel sein. Sie ergibt sich aus der Einsicht, dass sich Innerlichkeit nicht nur durch äußerliche Einflüsse erst bildet, sondern sich auch notwendig durch verschiedene Formen von Objektivität äußert. Es kommt nun darauf an, Äußerungsformen, die die Voraussetzungen für nicht-entfremdete Erfahrung schaffen, von solchen zu unterscheiden, die erfahrungszerstörend wirken und lediglich noch entfremdete Verhältnisse der Subjekte zu sich, zu den anderen Menschen und zur Welt ermöglichen. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit galt der Darstellung von und der Kritik an dem Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹, wie Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann es bestimmt haben und wie es in der kultur-, sozial-

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und geschichtswissenschaftlichen Forschung angewandt und selten infrage gestellt wird. Aufgrund dieser Ausführungen ist es nun an der Zeit zu überlegen, in welcher Form ein Korrektiv in der Semantik von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in Bezug auf die menschliche Identität gesucht werden muss. An dieser Stelle werden drei wesentliche Aspekte thesenartig zusammengefasst: a) die Historizität des Verhältnisses von Gedächtnis und Identität, b) die Grenzen der Konstruierbarkeit und c) die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung sowie die Berücksichtigung des Vergessens. a) Historizität des Verhältnisses von Gedächtnis und Identität: Halbwachsʼ Theorie basiert auf dem einem sozialen Kollektiv gemeinsamen Rahmen mündlicher Erzählungen. Demgegenüber wird das ›kulturelle Gedächtnis‹ durch das Medium der Schrift gestiftet und gründet sich auf eine bestimmte Anzahl von nicht-persönlichen Ereignissen. Es bringt einen spezifischen Typus von Narrativ und Erinnerungsmodus hervor: den Mythos. Er geht mit der Vorstellung von Zeitlosigkeit und Ewigkeit einher und negiert die paradoxe Kontinuität von zeitlicher Diskontinuität. In dieser Weise tilgt er das aktive und subjektive Moment des Erinnerns in der Einzigartigkeit des zeitlichen Augenblicks (vgl. MüllerFunk 2004: 156). Das ›kollektive Gedächtnis‹ als Verbindung von ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ ist jedoch nicht als statisches Konstrukt zu verstehen, sondern unterliegt mit den historischen Bedingungen selbst stets einem Wandel. Auch das Verhältnis von Gedächtnis und Identität ist als historisch variable Konstellation zu verstehen, da auch Bewusstseinsstrukturen im Vollzug kultureller Praxis produziert, reproduziert und verändert werden. Es bilden sich kultur- und epochenspezifisch jeweils dominante Formen von Subjektivität heraus, die mit kulturellen Praktiken und Lebensformen korrelieren. Die individualgeschichtliche Subjektivität ist eng an eine gesamtkulturell in den Objektivierungen und Praktiken eines sich wandelnden Kollektivs zum Ausdruck kommende Subjektivität gebunden (vgl. Reckwitz 2006: 69; Hagenbüchle 1998: 7). Jan und Aleida Assmann betonen in diesem Zusammenhang die Rolle der Medien als Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Ebene des Gedächtnisses. Ohne sie könnten Individuen nicht an kulturell-gesellschaftlichen Erfahrungen teilhaben, wobei die Medien als Vermittler und Transformatoren durch spezifische Repräsentations- und Narrationsverfahren den jeweiligen Inhalt mitbilden und -prägen. Während alle Formen des Gedächtnisses explizit oder implizit auf retrospektiven Narrativen beruhen, die den Zwiespalt zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit zu überwinden beabsichtigen, lassen Medien sich als Formen begreifen, die nicht bloß den Inhalt von Narrativen wiedergeben, sondern ihn auf unterschiedliche Art und Weise hervorbringen (vgl. Müller-Funk 2004: 145, 146f.). Werden die technischen Medien in den älteren und für die

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Theorie des ›kulturellen Gedächtnisses‹ grundlegenden Publikationen von Jan und Aleida Assmann primär als Transport- und Speicherinstrumente im Rahmen einer Geschichte der Gedächtnismedien betrachtet (vgl. Borsò 2004: 72), stehen im Folgenden die Auswirkungen der Medien auf das Bewusstsein und auf die Struktur des individuellen und ›kollektiven Gedächtnisses‹ selbst im Fokus. Aleida Assmann konstatiert in diesem Sinne, dass Medien, indem sie zwischen Mensch und Welt vermitteln, »die Welt und den Menschen zugleich erst eigentlich hervor[bringen]. Medien sind deshalb produktive Instrumente der Weltgestaltung und Welthervorbringung, Konstrukteure der Wirklichkeit und damit auch des Menschen, der in dieser Wirklichkeit lebt.« (A. Assmann 2011: 59) Für Benjamin stehen nicht Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Informationen als Leistungen der Medien im Vordergrund, sondern vielmehr die Bindung der sich wandelnden Subjekt- und Lebensformen und der Geschichtsauffassung an die medialen Vermittlungsformen als den geschichtlichen Variablen menschlicher Wahrnehmung, die auch die Bedingungen von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen beeinflussen. Benjamin thematisiert diesen Zusammenhang im Rahmen seiner Erfahrungstheorie, die in modernen Lebensformen einen Bruch im Verhältnis von Gedächtnis und Erfahrung und daraus resultierend den Verfall von Erfahrung und die versuchte Kompensation dieses Verfalls diagnostiziert. Der Versuch einer Kompensation der verlorenen Erfahrungen durch die statische Bewahrung kultureller Bestände, ›Fixpunkte‹ und ›Erinnerungsfiguren‹ in unveränderter Form stellt Kultur jedoch still und macht sie zu einem leblosen Objekt ohne performative Kraft. Eine solche Vorstellung von Kultur trägt nicht dem Praxischarakter der Erinnerung und der Vielfalt der Erinnerungsformen Rechnung (vgl. Hetzel 2001: 41). Durch sie wird negiert, was Kultur, Geschichte und Identität im Kern ausmacht: die ständige Erneuerung des Erfahrungsgehalts der Vergangenheit durch seine aktualisierende Aneignung. In beiden Dimensionen der Theorie des ›kollektiven Gedächtnisses‹, der Beeinflussung der individuellen Erinnerung durch intersubjektive Regelsysteme und der kollektiv-geschichtlichen Objektivierung kultureller Artefakte, wird deutlich, dass das ›kollektive Gedächtnis‹ nichts rein Geistiges ist, sondern der Vermittlung durch Vergegenständlichung bedarf. Die notwendige Vergegentändlichung, die dazu befähigt, Gegenstände des ›kollektiven Gedächtnisses‹ überhaupt intersubjektiv verfügbar zu machen, muss von der Stillstellung der Historizität der Gedächtnisinhalte und Identitätsbestimmungen unterschieden werden, die bei Benjamin als erfahrungszerstörende ›Verdinglichung‹ diskutiert wird. Es gilt also einerseits, den sich insbesondere durch eine veränderte mediale Vermittlung vollziehenden Wandel im Verhältnis von Gedächtnis und Identität in modernen Lebensformen zu analysieren. Andererseits müssen Gedächtnis und

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Identität, um der Gefahr erfahrungszerstörender Verdinglichung entgehen zu können, auch grundsätzlich als historische Größen charakterisiert werden, die sich in beständigem Wandel befinden. b) Grenzen der Konstruierbarkeit: In der assmannschen Konzeption des ›kulturellen Gedächtnisses‹ und in anderen konstruktivistischen Konzeptionen, wie sie in der sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung in Bezug auf das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ vorherrschen, werden vor allem die willentlichen Formen der Rekonstruktion von Vergangenheit, die in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Subjekte und ihrer Interessen stehen, in den Blick genommen. Der ›Konstruktivismus‹ des ›kollektiven Gedächtnisses‹ wird in der Regel dahingehend verstanden, dass der Bezug auf die Vergangenheit aus einer gegenwärtigen Perspektive vor dem Hintergrund von spezifischen Interessen willentlich konstruiert wird. Das Gedächtnis erscheint als ein ›Speicher‹ des Vergangenen, aus dem einzelne Inhalte herausgegriffen werden können. Aleida Assmann fasst zusammen: »Der Übergang vom lebendigen individuellen zum künstlichen kulturellen Gedächtnis ist allerdings problematisch, weil er die Gefahr der Verzerrung, der Reduktion, der Instrumentalisierung von Erinnerung mit sich bringt.« (A. Assmann 2009: 15) Bereits Halbwachs und Jan Assmann haben jedoch – trotz ihres Bekenntnisses zur ›sozial-konstruktivistischen‹ Konzeption von Vergangenheit – darauf hingewiesen, dass diese Vorstellung ihre Grenzen hat, da auch von der Vergangenheit selbst Wirkungen ausgehen (vgl. J. Assmann 2005b: 369). Für ein Konzept des ›kollektiven Gedächtnisses‹, das den Tiefenschichten der Lebensformen und ihrer Bedeutung für die Identitätsbildung Rechnung trägt, ist nicht nur der Rekonstruktionscharakter des Gedächtnisses zu beachten, sondern es sind auch die Grenzen der Konstruierbarkeit zu reflektieren. Diese Argumentation nötigt dazu, den Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ um eine nicht-intentionale Dimension zu erweitern, da die Phänomene des Gedächtnisses in der intentionalen Praxis des Bewahrens kultureller Bestände und der politischen Durchsetzung einer dominanten Erzählung ›kollektiver Identität‹ nicht aufgehen. Der Konstruktionsaspekt hat gewiss seine Berechtigung, wenn es um das ›kollektive Gedächtnis‹ als vermachtete politische Institution geht.5 Auch lassen sich Kompensationserscheinungen in modernen Gesellschaften nicht leugnen, da durch das Schwächerwerden traditioneller Bindungen und geschichtsphilosophischer Fundierung der Bedarf für orientierende Perspektiven

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Paradigmatisch für die politische Instrumentalisierung der Geschichte mag auch die Aussage Michael Stürmers gelten, »daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet« (Stürmer 1987: 36).

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nicht entfällt, sondern wächst (vgl. Niethammer 1993: 46). Es lässt sich jedoch nicht mehr deskriptiv verstehen, sondern als Ausdruck eines praktischen Interesses deuten, wenn diese Erscheinungen in der theoretischen Konstruktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹ verabsolutiert werden. Diese Prozesse haben ihre empirische Grundlage, sind jedoch nicht mit dem Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gleichzusetzen, wenn dieser ein theoretisches Konstrukt jenseits eines affirmativen politischen Interesses sein soll. Gegen den absoluten Konstruktivismus des ›kulturellen Gedächtnisses‹, der Vergangenheitsdeutung in die Verfügungsgewalt autonomer Subjekte stellt, ist festzuhalten, dass auch die impliziten Anteile des Gedächtnisses als Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten die ›kollektive Identität‹ stützen. Es gibt viele Formen nicht-intentionaler Kontinuierung, die vom Einzelnen unbewusst ausgeführt und weitergegeben werden. Harald Welzer spricht in diesem Zusammenhang vom ›sozialen Gedächtnis‹ oder auch von einem ›kommunikativen Unbewussten‹, das in einer Fülle unbewusster Regeln und Kompetenzen besteht, die die Grundierung der bewussten Wahrnehmungen und Reflexionen bilden (vgl. Welzer 2002: 13). Im Unterschied zu den bewussten oder bewusstseinsfähigen Deutungen und intentionalen Formungen der Vergangenheit im Rahmen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ meint das ›soziale Gedächtnis‹ als zur Gewohnheit erstarrte Praxis »all das, was absichtslos, nicht-intentional, Vergangenheit und Vergangenheitsdeutungen transportiert und vermittelt« (Welzer 2001: 12). Diese Vermittlung kann sich in verschiedenen Medien vollziehen, die Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden, ohne – im Unterschied zu ihrem Auftreten im ›kulturellen Gedächtnis‹ – zu Zwecken der Geschichtsvermittlung oder Traditionsbildung gefertigt zu sein (vgl. ebd.: 15f.). Halbwachsʼ Begriff der sozialen ›Rahmen‹ lässt sich auch in diesem Sinn verstehen, da die ›Rahmen‹ intersubjektiv dermaßen eingespielt sind, dass der soziale Einfluss auf die Erinnerung oft nicht mehr spürbar ist. Alle Lebensformen beruhen auf solchen selbstverständlichen, zur kollektiven Gewohnheit gewordenen Erfahrungen, die als die Realität schlechthin erscheinen, da in ihnen das Moment des ›sich Gewöhnens‹ vergessen wurde (vgl. Stenger 2006: 285f.).6 Dieser selbstverständliche Charakter lässt die Wirkmächtigkeit der absichtslosen Tradierung kaum in den Blick kommen und ist mitentschei-

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Wittgensteins Begriff der ›Lebensform‹ bezeichnet das Selbstverständliche, das »Hinzunehmende, Gegebene« (Wittgenstein 1984: 572), das durch sozial geteilte und in der Regel unreflektiert übernommene Überzeugungen und Gewohnheiten gebildet wird. Lebensformen präfigurieren die in einem Kollektiv möglichen Wahrnehmungs-, Denk- und Erfahrungsweisen.

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dend für das Funktionieren sozialer Prozesse. Gerade durch dieses Vergessen werden soziale Ordnungen reproduziert und stabilisiert – und nicht in erster Linie durch bewusste Überlieferung. Durch die unbewusst bleibende Historizität und Kontingenz sozialer Verhältnisse erweisen diese sich als besonders resistent gegen Veränderung (vgl. Dimbath/Wehling 2011a: 22). Neben dem vorsätzlich Tradierten ist deshalb einerseits dieses Selbstverständliche zu berücksichtigen, das auch mit dem Begriff der ›Gewohnheit‹ angesprochen werden kann, und andererseits das Vergessene, das nicht beachtet weiterhin existiert, vielleicht trotzdem noch eine Wirkung entfaltet und wieder ins soziale Bewusstsein zurückgeholt werden kann. Aleida Assmann spricht in Anlehnung an Friedrich Georg Jünger von einem ›Verwahrensvergessen‹, das ein ›Latenzgedächtnis› darstellt (vgl. A. Assmann 2012: 27). Auch Jan Assmann bringt in neueren Publikationen das ›kulturelle Gedächtnis‹ über die bewusste kulturelle Überlieferung hinaus mit der Dimension des Vergessens und unbewussten Bereichen in Verbindung. Es soll »neben dem Tradieren und dem Tradierten auch das Nicht-Tradieren und das Nicht-Tradierte umfass[en]. Zu den Wirkungsweisen des Gedächtnisses gehört ja das Vergessen ebenso wie das Erinnern.« (J. Assmann 2005b: 368; vgl. J. Assmann 2002b: 246)7 In der Perspektive Benjamins kommt es nun auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene zum einen darauf an, welcher Art dieses Vergessen ist und welche Auswirkungen es auf die Möglichkeiten nicht-entfremdeter Erfahrung und Identität hat. Zum anderen ist für die verschiedenen Dimensionen des Unbewussten entscheidend, inwieweit sie der Bewusstwerdung in der Erinnerung zugänglich sind. In der Vorstellung, die dem Subjekt eine autonome Verfügungsgewalt über die Konstruktion seiner Identität zuschreibt, kommt eine technische Sichtweise von Gedächtnis und Erinnerung zum Tragen. Bei Benjamin wird diese Souveränität der Konstruktion mit Bezug auf Proust und Freud relativiert und die Erfahrung des Erinnerns als eine unwillkürliche charakterisiert. Wird Erfahrung von Benjamin als Erfahrung eines Neuen bestimmt, so sind die Konstrukti-

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Jan Assmann spricht dementsprechend von kulturellen Ordnungen als »Unsichtbarkeit vollkommener Selbstverständlichkeit« (J. Assmann 2007: 135): »Diese jeder kulturellen Formation von Haus aus eigene Tendenz, über die Konventionalität und Kontingenz, d.h. die Auch-anders-Denkbarkeit ihrer Wirklichkeitskonstruktionen, den Schleier der Vergessenheit bzw. der Selbstverständlichkeit zu breiten« (ebd.: 136), ist Assmann zufolge zwar wirksam, jedoch »kein Wir-Bewußtsein, keine Identität« (ebd.: 135) zu vermitteln in der Lage. Dazu bedürfe es der Abgrenzung gegenüber anderen Identitäten. Zum nicht-bewussten Bereich des ›kollektiven Gedächtnisses‹ vgl. auch Erll 2005: 89f.; Echterhoff 2004; Hirst/Manier 2002.

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on und der ›Speicher‹ einer Identität als Gedächtnis demgegenüber von Erfahrung abgetrennt, da das Subjekt hierzu bereits vorausgesetzt werden muss. Die eigene Identität lässt sich für Benjamin nicht als Eigentum des Subjekts verstehen, das Subjekt macht sich vielmehr erst nach und nach und immer wieder neu zu dem, was es in intersubjektiven Prozessen immer schon geworden ist. Der Anschein der Identität als Besitz entsteht demgegenüber, wie Jürgen Habermas ausführt, »aus dem possesiven Individualismus einer Bewußtseinsphilosophie, die bei der abstrakten Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts einsetzt, statt diese als Resultat zu begreifen« (J. Habermas 1988: 209). Es gilt also einerseits die Unverfügbarkeit des Erinnerns für das Subjekt näher zu bestimmen und zum anderen die verschiedenen Formen des Unbewussten sowohl des individuellen als auch des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zu benennen und ihre Beziehung zur jeweiligen Identität zu charakterisieren. c) Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen: Die eigene Lebensgeschichte erhält eine Struktur und wird als Kontinuität erlebt, indem Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte in eine Erzählung integriert werden. Insofern diese Erzeugung des Gefühls von Kontinuität und Stabilität, die in der autobiografischen Erzählung einem Selbst zugeschrieben wird, im Medium der beständigen Veränderung dieses Selbst stattfindet (vgl. Welzer 2002: 222), ist nicht davon auszugehen, dass Identität sich durch feststehende ›gespeicherte‹ Gedächtnisinhalte gewissermaßen automatisch herstellt bzw. Subjekte sich eine eigene Identität aus diesem ›Bestand‹ von Gedächtnisinhalten schöpfend autonom konstruieren. In dieser Vorstellung eines statischen Gedächtnisses und eines autonom daraus schöpfenden und ahistorisch fixierten Subjekts wird das Vermögen der Erinnerung auf die Speicherleistung des Gedächtnisses reduziert.8 Im Unterschied zu dieser Konzeption ist die aktualisierende Erinnerung als zentrales Vermögen der Identitätskonstitution zu betonen. Die Identitätserzählung ist entscheidendes Moment der Stabilisierung und Orientierung. Sie kann jedoch in ihrer konservativen Funktion, die gewohnte Ordnung der Dinge und das eigene Selbstbild aufrechtzuerhalten, auch dazu führen, dass Erfahrungen, die das Selbstbild erschüttern könnten, von vornherein abgewehrt werden. Die Erhaltung des einen identischen Selbst reglementiert in diesem Fall seine Erfahrung (vgl. Bay 1995: 39f.). Diese individuell weitgehend unbewusste, kollektiv

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Bezeichnenderweise kommt kaum ein Buch zum individuellen oder zum ›kollektiven Gedächtnis‹ ohne einen Verweis auf Versuche mit der Wasserschnecke Aplysia aus, in denen die aus Konditionierung resultierende Bahnung von Reizmustern als Form von Gedächtnis gedeutet wird. Diesen Vorgang bringt Aleida Assmann unumwunden mit kulturellen Leistungen in Verbindung (vgl. A. Assmann 2013: 25).

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gewollte und willkürlich konstruierte Gedächtnisleistung hat wenig mit Erinnerung zu tun, da diese immer ein gegenwartsbezoges Moment der Aktualisierung beinhaltet und in ihrer selbstbezüglichen Struktur des ›Zurückkommens-auf‹ die Aneignung von Inhalten als zur eigenen Person gehörige ermöglicht. Gegenüber der Kontinuität der Identitätserzählung weist sie eine spezifische Bruchstückhaftigkeit auf. Das ›kulturelle Gedächtnis‹ im Sinne Jan und Aleida Assmanns lässt sich vor diesem Hintergrund – und ganz im Sinne von Halbwachsʼ Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ – als ein Ensemble von Erinnerungsanlässen verstehen, die das individuelle Erinnerungsvermögen in Gang setzen: Diese relativ stabilen Erinnerungsanlässe, von Ricœur ›reminders‹ genannt, dienen dem lückenhaften Gedächtnis als Stütze oder fungieren lediglich noch als stumme Stellvertreter toter Erinnerung (vgl. Ricœur 2004: 74). Gedächtnismedien sind in erster Linie keine ›Speicher‹ des Vergangenen, sie enthalten und konservieren sie nicht, sondern sie bilden Anlässe, um Wahrnehmungen und Erfahrungen zu objektivieren und weitere Wahrnehmungen und Erfahrungen daran anzuschließen. Sie sind das Bindeglied zwischen ›kollektivem Gedächtnis‹ und subjekt- und situationsgebundener Erinnerungsleistung (vgl. Hejl 1991: 334; S.J. Schmidt 1991a: 49). Denn der ›Bestand‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ spricht nicht für sich, sondern ihm muss für die Konstitution von Erfahrung und Identität eine Bedeutung zugeschrieben werden. Das ›kollektive Gedächtnis‹ als Komplex von Erinnerungsanlässen ist kein konservierender ›Speicher‹ und mechanischer Apparat zur Reproduktion von Identität, sondern, wie Jürgen Straub zusammenfasst, die strukturelle Grundlage und der Rahmen der kommunikativen Produktion von kollektiven Zeiterfahrungen (vgl. Straub 1992: 51f.). Auch wenn die von Jan Assmann getroffene Unterscheidung zwischen ›kommunikativem‹ und ›kulturellem Gedächtnis‹ nicht als absolute Trennung zweier voneinander unabhängiger Größen zu verstehen ist, so lässt sie sich doch in zweierlei Hinsicht als sinnvoll verstehen: Zum einen sind die angesprochenen Formen der Tradierung, die mündliche Kommunikation von Zeitgenossen und die für längere Zeit fortbestehenden Monumentalisierungen von Vergangenheit, in der Tat die beiden grundlegenden Weisen, in denen sich der kollektiv-historische Umgang mit gemeinsamer Vergangenheit vollzieht. Zum anderen lässt sich anhand dieser Unterscheidung deutlich machen, dass das Erinnern als Aktualisierung des Überlieferten gegenüber den konservativen Leistungen des Gedächtnisses die notwendige Bedingung dafür ist, in diesem Zusammenhang sinnvoll von ›Identität‹ zu sprechen. Denn Monumente ohne eine erzählende Aktualisierung, ohne eine Wiederaneignung des in ihnen gemeinten Sinns im ›kommunikativen Gedächtnis‹ – das sich dann besser als Form von ›Erinnerung‹ bezeichnen

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ließe – bleiben bedeutungslos. Die Bedeutung verleihenden Erzählungen sind immer gegenwartsbezogen, selektiv und perspektivisch. D.h., dass das Vergangene kein abgeschlossener Gegenstand und Identität nie etwas Feststehendes ist, sondern ein aktives Werden. Die identitätskonstitutive Aneignung von Erfahrungen und Erinnerungen lässt sich darum nicht im Sinne eines Passungsvorgangs für vorher bereits Feststehendes konzeptualisieren und auch bereits bestehende Selbstbilder müssen durch neue Erfahrungen unter Umständen revidiert werden. Aneignung ist ein spezifisch performatives und dialektisches Verhältnis: eine Herstellung dessen, auf das man sich bezieht. Auch auf der Ebene der Geschichte und Kultur eines Kollektivs lässt sich in diesem Sinne kein fester ›Bestand‹ von Zeichen ausmachen, sondern lediglich eine intersubjektive kommunikative Praxis, die Bedeutung vermittelnde Zeichen erschafft und immer wieder verändert und neu deutet. Während die Vorstellung einer Konservierung von Kultur die historischen Gegenstände statisch als Besitz fixiert und unhistorisch wird, ist vielmehr die performative Kraft von Kultur zu betonen: Kultur ist eine Praxis, aus der das Subjekt dieser Praxis immer wieder neu hervorgeht. Zur Struktur ihrer Subjektivität gehören sowohl das bewahrende und reproduzierende Gedächtnis als auch das neuschaffende Erinnern. Es kommt darauf an, die Stillstellung der Historizität von Gedächtnisinhalten und Identitätsbestimmungen zu vermeiden, durch die Identität als Kompensation für verlorene Gemeinschaftszusammenhänge konserviert werden soll. Der Gedächtnisbegriff, der innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ für sämtliche Phänomene des kollektiven Umgangs mit gemeinsamer Vergangenheit verwendet wird, ist darum in seiner Reichweite zu begrenzen. Dafür ist zum einen deutlich zwischen der Speicherfunktion des Gedächtnisses und der Erinnerung zu unterscheiden und es sind zum anderen auch verschiedene Prozesse des Vergessens zu berücksichtigen – nicht bloß das Vergessen, das sich in jeder Erinnerung, jeder Wahrnehmung und jedem Erzählen durch die diesen Prozessen inhärente Selektivität notwendig vollzieht, sondern auch das Vergessene, das als Wiedererinnertes ein neues Licht auf die gegenwärtige Praxis wirft und auf diesem Weg dazu befähigt, eine Veränderung dieser Praxis herbeizuführen. Gedächtnis, Erinnerung und die verschiedenen Formen des Vergessens müssen möglichst klar voneinander unterschieden und ihre jeweiligen Rollen in Bezug auf die sich in einer lebensgeschichtlichen Erzählung darstellende Identität bestimmt werden. Die Analysen zum Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ haben also insgesamt ergeben, dass einerseits wertvolle Bestimmungen für den Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ im Sinne der sozialen Beeinflussung von Erinnerung

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und Identität gewonnen werden konnten. Andererseits befriedigt das Verhältnis von ›kollektivem Gedächtnis‹ und Identität, wie es hier in den Blick kommt, nicht vollkommen, da es kaum kritisch-theoretisches Potenzial hat, sondern in erster Linie einem praktischen Interesse Ausdruck gibt: In Zeiten von Vertrautheitsschwund und Orientierungsverlust durch soziale Beschleunigung soll Identität sein und durch das ›kollektive Gedächtnis‹ gewährleistet werden. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird Benjamins Historisierung des Verhältnisses von Gedächtnis, Erinnerung und Erfahrung ausführlich dargestellt, um ein alternatives Modell des Verhältnisses von Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen und Identität zu gewinnen. Dabei geht es jedoch nicht darum, die beiden Modelle gegeneinander auszuspielen und in allen Punkten gegensätzliche Sichtweisen zu konstruieren, sondern ihre ergänzende Verbindung hat das Ziel eines Erkenntnisgewinns in Bezug auf die Vergangenheitsverhältnisse individueller und kollektiver Subjekte. Mit der Behauptung einer Historizität der Beziehungen des Subjekts zu sich, zu den anderen Menschen und allgemein seiner Welt ist auch gesagt, dass diese Beziehungen sich qualitativ durchaus verschieden gestalten können, was die Voraussetzung für Benjamins Konzeption bildet. Denn Benjamins Annahme ist, dass sich die Zeiterfahrung in der Moderne seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – und damit aufgrund der Rolle, die die Erinnerung für die Aneignung sämtlicher Weltbeziehungen spielt, auch die übrigen Dimensionen der Weltbeziehungen – verändert hat. Die Subjekte werden in der Folge dieser veränderten Zeiterfahrung unfähig, überhaupt noch Erfahrungen zu machen und können tendenziell nur noch entfremdete Beziehungen zu sich, den anderen Menschen und der sie umgebenden Welt ausbilden. Es geht Benjamin neben der Analyse dieses Zusammenhangs darum, in der Konstitution von Identität die Reproduktion von erfahrungsunabhängigen Mythen zu verhindern und die Reflexion auf die Vergangenheit nicht zur Legitimation der Gegenwart zu instrumentalisieren, sondern durch sie eine kritische Selbstreflexion zu ermöglichen. Geschichte, sowohl die des Individuums als auch die des Kollektivs, ist darum nicht als alternativlos darzustellen. Der kritische Blick richtet sich auf das durch den identitätsstiftenden kontinuierenden Mythos Vergessene und die sich daraus ergebenden alternativen Möglichkeiten in der Gegenwart. Daraus kann sich durchaus wieder eine neue Erzählung ergeben, die jedoch als ausschnitthaft, perspektivisch, historisch und niemals abgeschlossen angesehen werden muss. Die Konzeption der narrativen Identität bezeichnet ein dynamisches Modell in diesem Sinn: Verstreute Erinnerungen werden mit einer lebensgeschichtlichen Kontinuität verbunden und auch die Veränderungen des Lebens finden Berücksichtigung. Benjamin wendet sich kritisch gegen Konzeptionen von Identität und

90 | DAS › KOLLEKTIVE G EDÄCHTNIS‹

Geschichte, die den Mythos statisch bewahren, statt seine Gemachtheit herauszustellen und in dieser Weise eine Veränderung zu ermöglichen. Er richtet sich gegen die Vorstellung, das Vergangene ließe sich durch die Anhäufung und Konservierung von ›Kulturgütern‹ in einem ›Bestand‹ als Gegenstand des Besitzes gleichsam ›einfangen‹: Als bloßer ›Bestand‹ ist der Sinngehalt des Überlieferten gegen die Erfahrung abgedichtet. Mithilfe von Marcel Prousts Konzeption unwillkürlicher Erinnerung versucht Benjamin einen anderen Ausweg aus der Situation der Entfremdung in der Moderne zu finden. Denn Erinnerung als Dimension des bewussten Menschseins birgt in der Aktualisierung vergangener Gehalte potenziell ein emanzipatives Element, das Grundlage für Veränderung ist (vgl. Haug 1997: 732). Bislang unbewusst gebliebene Gedächtnisinhalte sowie die innovativen und kreativen Potenziale des ›Speichergedächtnisses‹, auf die Jan und Aleida Assmann hinweisen, können jedoch einzig dann aktiviert werden, wenn das Kontinuum der einen großen Erzählung durchbrochen wird. In Benjamins Erfahrungstheorie geht es nicht bloß um die Diagnose einer Verhinderung von Erfahrung, sondern auch um das Aufzeigen einer Perspektive zu ihrer Ermöglichung. In seiner Konzeption verschränken sich somit kritische Analyse, ein starkes destruktives Moment und eine konstruktive Perspektive. Die in diesem Kapitel genannten drei Punkte: a) Historizität des Verhältnisses von Gedächtnis und Identität, b) Grenzen der Konstruierbarkeit und c) Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung sowie Berücksichtigung des Vergessens benennen für diese Konzeption grundlegende Einsichten.

II. Walter Benjamins Erfahrungstheorie

Nach Darstellung und Kritik der Konzeption von Identität innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ geht es in diesem Teil der vorliegenden Arbeit darum, mit Bezug auf Walter Benjamin, vor allem seinen Text Über einige Motive bei Baudelaire, ein alternatives ergänzendes Modell des Zusammenhangs von Identität, Erinnerung und Gedächtnis zu skizzieren. Dieses Modell steht bei Benjamin im Kontext seiner Theorie eines modernen Erfahrungsverfalls. Steht in seinen frühen Texten »Erfahrung« (II, 54-56) und Über das Programm der kommenden Philosophie (II, 157-171) die Konturierung eines reichhaltigen Erfahrungsbegriffs im Vordergrund, so führt Benjamin in Erfahrung und Armut (II, 213-219) den Gedanken einer Krise der Erfahrung ein. Die Krise der Erfahrung wird nun als konstitutiv für die menschlichen Lebensformen angesehen und an die Aussage geknüpft, dass die Weitergabe der Erfahrung, die früher »wie ein Ring von Geschlecht zu Geschlecht« (II, 214) überging, nicht mehr stattfindet. In dieser »Erfahrungsarmut« sieht Benjamin zwar »eine Art von neuem Barbarentum« (II, 215), jedoch nicht ausschließlich als negative Erscheinung, sondern auch als Möglichkeit zu einem neuen ›positiven Barbarentum‹: »Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigen heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.« (II, 215) Das ›neue Barbarentum‹ zeigt für Benjamin die Notwendigkeit eines Neubeginns an. Der Verfall der Erfahrung schlägt also in eine neuartige Erfahrung um – ein Gedanke, der zu einer Haltung führt, die durch gänzliche »Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm« (II, 216) gekennzeichnet ist.1

1

Erfahrung und Armut beschreibt diesbezüglich eine ähnliche Gedankenbewegung wie die Aufsätze Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und

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Benjamin versucht in seinen späteren Arbeiten, Erfahrung einerseits von einer bestimmten zeitlichen Struktur her zu denken und andererseits die Veränderungen zu berücksichtigen, die die Struktur der Erfahrung im Laufe der Geschichte erfährt (vgl. Greffrath 1981: 34). Im Text Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows geht es um die kulturellen Voraussetzungen und die Krise des mündlichen Erzählens, anhand derer Benjamin zu zeigen beabsichtigt, inwieweit Erfahrung und die Fähigkeit, Erfahrungen wiederzugeben, im modernen Leben verschwindet. Benjamin parallelisiert zu diesem Zweck die Krise der individuellen Erfahrung mit der der Erzählung und des Romans.2 Er bringt in dieser Weise die These vom Erfahrungsverfall in Zusammenhang mit mediengeschichtlichen Überlegungen. Das Erzählen stellt für ihn dabei die wichtigste Form der Mitteilung von Erfahrung dar. Erzählungen artikulieren einen Kontinuität stiftenden und verbürgenden Zusammenhang, der als sinn- und bedeutungsstrukturierte Einheit von Ereignissen wahrgenommen wird. Die gleich zu Beginn des Textes genannte zentrale These Benjamins lautet, »daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht«. Als Ursache hierfür gibt Benjamin analog den Ausführungen in Erfahrung und Armut an, dass »die Erfahrung […] im Kurse gefallen« (II, 439) ist und der Prozess des Erfahrungsverlustes sich seit dem Ersten Weltkrieg vollzieht. Zum Erzähler als einer vom Aussterben bedrohten Figur gehört für Benjamin die »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht« (II, 440). Mit der Erzählung geht ein Medium verloren, in dem Erfahrungen mitgeteilt werden und sich in intersubjektiver Praxis ausbilden. Mit der Entwicklung der Presse im »Hochkapitalismus« tritt die ›Information‹ als neue dominante Form der Mitteilung auf, die sich mit ihrer Effizienz und Schnelligkeit als »mit dem Geist der Erzählung unvereinbar« (II, 444) erweist.

Kleine Geschichte der Photographie, in denen der Verfall der Tradition ebenfalls als begrüßenswerte tabula rasa eingeschätzt wird (vgl. Abschnitt II.3.1.1). 2

Lesskow ist dabei eher Anlass als Gegenstand des Schreibens für Benjamin: »Da ich im übrigen garkeine Lust habe, mich in Betrachtungen der russischen Literaturgeschichte einzulassen, so werde ich bei Gelegenheit Ljesskows ein altes Steckenpferd aus dem Stall holen und versuchen, meine wiederholten Betrachtungen über den Gegensatz von Romancier und Erzähler und meine alte Vorliebe für den letzteren an den Mann zu bringen« (5, 275; vgl. 5, 327; 5, 307). Vgl. auch die Vorarbeiten und kleinere Texte aus dem »motivischen Umkreis« (II, 1276) umfassenden Anmerkungen der Herausgeber (II, 1276-1315; VII, 800-806). Parallelen und Erweiterungen lassen sich in verschiedenen Texten Benjamins finden, vgl. Krisis des Romans (III, 230-236); Die Zeitung (II, 628f.); Das Taschentuch (IV, 741-745); Romane lesen (IV, 436); Kunst zu erzählen (IV, 436-438); zu den beiden letzten vgl. IV, 1010-1015.

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Die Erzählung ist eine Sprachpraxis der Erinnerung und als solche daran beteiligt, »die Kette der Tradition« (II, 453) zu stiften, während die praxisenthobene ›Information‹ nicht in die Tradition eingeht, was sie gegen die Erfahrung ›abdichtet‹ (vgl. I, 611).3 Die Aktualität der Erzählung besteht in der Aktualisierbarkeit ihres Gehalts, was bedeutet, dass in der Aufnahme ihres Erfahrungsgehalts wiederum eine Selbsterfahrung gemacht werden kann. Die Aktualität der ›Information‹ besteht demgegenüber im abstrakten bloßen ›Dass‹ ihrer Neuheit, was es unmöglich macht, sie durch die Anbindung an Erfahrung zu aktualisieren und Weltbezug und Selbstbezug miteinander zu vermitteln (vgl. T. Weber 2000: 253). Der moderne Mensch ist in der Folge zwar über alles informiert, was auf der Welt geschieht, und dennoch »sind wir an merkwürdigen Geschichten arm« (II, 444; vgl. Palmier 2009: 706). Die ›Information‹ »lebt nur in diesem Augenblick«, während die Erzählung »noch nach langer Zeit der Entfaltung fähig« bleibt (II, 445f.). Durch die Technisierung der Kommunikation wird Erfahrung in der Moderne zur austauschbaren ›Information‹. »Mit ihr wird dem Erdboden gleichgemacht, was der Weisheit, der mündlichen Überlieferung, der epischen Seite der Wahrheit noch ähnlich sieht.« (V, 966; vgl. T. Weber 2000: 253f.) Die Mediengeschichte mit ihren wechselnden Leitmedien liest Benjamin als Verfallsgeschichte der Erfahrung, der er ein idealtypisches und normativ konnotiertes Konzept des Erzählens zugrunde legt.4 Mit der Erzählung steht insofern der zeitliche Charakter der menschlichen Erfahrung auf dem Spiel, denn »die Zeit wird«, wie Paul Ricœur schreibt, »in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird« (Ricœur 1988: 13). Benjamin ist jedoch nicht restaurativ engagiert: Er will nicht die Erzählung rehabilitieren und auch in der Verkümmerung der Erfahrung nicht bloß eine moderne Verfallserscheinung sehen (vgl.

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Vgl. auch den Aufsatz über Karl Kraus (II, 334-367), demzufolge die journalistische Sprache die Vorstellungskraft der Leser vermindert (vgl. II, 352).

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Dieser Zug von Benjamins Konzept der Erzählung wird noch dadurch verstärkt, dass er sie in vorbürgerlicher Zeit verortet. Darauf deutet auch die wiederholte Verwendung des Begriffs der ›Gemeinschaft‹ im Unterschied zur Gesellschaft hin. Die Gemeinschaft meint einen nicht-entwickelten, vorindustriellen, in traditionalen Bindungen verhafteten, gewissermaßen natürwüchsigen Zusammenhang, der etwa auf leiblicher Verwandtschaft und gemeinsam zu bearbeitendem Land beruht, während Gesellschaft die kapitalistische, auf freiem Vertrag und Austausch begründete Form des Zusammenlebens bezeichnet. In der Gemeinschaft sind Produzenten noch nicht von ihren Produktionsmitteln getrennt und Öffentlichkeit und Privatheit stellen ebenso wie Gesellschaft und Individuum noch keine Gegensätze dar (vgl. Greffrath 1981: 35).

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II, 442). Benjamin empfiehlt, im Aussterben der Erzählung »eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte [zu sehen], die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht« (II, 442). In Über einige Motive bei Baudelaire setzt Benjamin die Erfahrung stärker als bisher mit Gedächtnis und Erinnerung ins Verhältnis.5 Er führt die Argumentation aus Der Erzähler fort und postuliert, dass der gesuchte Begriff der Erfahrung die Dimension einer Erinnerung in sich schließen muss. Geht es in Erfahrung und Armut eher um das Starkmachen des notwendigen Erfahrungsverfalls, betont Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire mehr den Verlust im Umgang mit Erfahrung und Erinnerung. Seine Diagnose fällt jedoch auch in diesem Fall nicht ausschließlich negativ aus: Dem modernen Erfahrungsverfall ist eine mögliche neuartige Erfahrung korreliert. Benjamin geht es vorrangig nicht um eine nostalgische Kulturkritik, die den Erfahrungsverfall betrauert, sondern um den Zusammenhang von Erfahrungsverfall und ›Verlusterfahrung‹, da die Möglichkeiten in der Situation der Moderne nur erkannt werden können, wenn verstanden wird, was mit der Erfahrung verloren geht (vgl. Bock 2010: 95). Über einige Motive bei Baudelaire als historisch-literatursoziologische Studie im Kontext des Passagen-Werks6 – jener großangelegten Rekonstruktion der

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Arno Münster bemerkt, dass die neue Verbindung von Erfahrungsbegriff und Erinnerung in Benjamins Werk durch seine Auseinandersetzung mit Henri Bergson und Marcel Proust erklärt werden kann (vgl. Münster 1999: 1136). In der Tat beginnt Benjamins verstärkte theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen der Erinnerung, nachdem er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zusammen mit Franz Hessel den zweiten und dritten Band von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit übersetzt hat (vgl. Schöttker 1999: 221).

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Der Aufsatz stellt den Mittelteil des geplanten Buches Charles Baudelaire: Ein Lyriker in Zeiten des Hochkapitalismus dar. Das Buch, das Benjamin aus der Arbeit am Passagen-Werk ausgegliedert hat und das ein »Miniaturmodell« (I, 1073) desselben darstellen sollte, ist unvollendet geblieben. In seiner in den Gesammelten Schriften überlieferten Form besteht es aus drei Teilen: den beiden Aufsätzen Das Paris des Second Empire bei Baudelaire und Über einige Motive bei Baudelaire. Der zweite Text ist die – in engem Zusammenhang mit Adornos brieflicher Kritik (vgl. Adorno/Benjamin 1994: 364ff.; 388ff.) zu sehende – umfassend überarbeitete Fassung eines Teils des ersten. Der dritte Teil ist die Sammlung theoretischer Fragmente Zentralpark, die den Einfluss der Warenproduktion auf die Denkformen Baudelaires thematisiert. Vgl. zum gesamten Komplex die Anmerkungen der Herausgeber (I, 1064-1222), die insbesondere den Briefwechsel Benjamins mit Horkheimer und Adorno und damit die Dis-

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»Urgeschichte von Moderne« (Adorno 1977b: 248), in der Benjamin das Selbstverständnis der Moderne aus der Kulturgeschichte von Paris zu erschließen beabsichtigt – versucht, »die Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts zum Medium seiner kritischen Erkenntnis zu machen« (VI, 228). Benjamins vordergründiges Interesse gilt zunächst der sozialen Entwicklung im Zusammenhang mit Baudelaires Lyrik als Quelle philosophischer Erkenntnis, die er jedoch nicht bloß auf ihre Beeinflussung durch soziale Erfahrungen hin untersucht, sondern der er die Fähigkeit zutraut, besonders einschneidende Erfahrungen der Epoche zu registrieren und auszudrücken. Benjamin beabsichtigt, aus dieser ästhetischen Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts einen epochenspezifischen Strukturwandel individueller und kollektiver Erfahrung zu bestimmen (vgl. Makropoulos 2007: 9f.). Es geht ihm sowohl sozialstrukturell als auch subjektivitätstheoretisch um die Tiefenstruktur der individuellen und kollektiven Selbst- und Weltbezüge, wie sie sich Benjamin zufolge erstmals in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris in voller Deutlichkeit herausbilden und im Rückblick etwas über die eigene Zeit aussagen (vgl. Bock 2010: 14), da die »historischen Erfahrungen, die Baudelaire als einer der ersten machte – er gehört nicht umsonst zur Generation von Marx, dessen Hauptwerk im Jahr seines Todes erschienen ist – […] seither nur allgemeiner und nachhaltiger geworden« (V, 425) sind.7 Die Kontinuität der Tradition, das Gewisse und Verlässliche, ist für Baudelaire verloren. Er charakterisiert die Moderne, deren Begriff er begründet hat, als permanent wechselnden, flüchtigen Zustand, als diskontinuierliche Erfahrung von Raum und Zeit: »Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« (Baudelaire 1989: 226) Die von Baudelaire beschriebene Dynamik

kussion von Benjamins Arbeiten über Baudelaire innerhalb des Instituts für Sozialforschung wiedergeben (vgl. Bock 2010: 15ff.; Tiedemann 1983). Zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. außerdem Schmider/Werner 2011: 567-570. 7

Charles Baudelaire lebt 1821-1867 in Paris. Sein Gedichtband Fleurs du mal wird erstmals 1857 veröffentlicht, eine Sammlung von 100 Gedichten, die ab ca. 1840 entstehen. Paris ist eine im Prinzip noch mittelalterliche, aber mit über einer Million Einwohnern stark übervölkerte Stadt. Industrialisierung und Bevölkerungswachstum bedingen die neue herausragende Bedeutung der Stadt, was auch gravierende Auswirkungen auf die Lebensformen und Wahrnehmungsweisen der Menschen hat. Die Menschenmasse als Grundtatsache großstädtischer Lebenswelt macht Benjamin zufolge auch den Gehalt der baudelaireschen Dichtungen aus, die nicht auf die Beschreibung der Großstadtmenge zielen, sondern den Versuch bilden, die Struktur ihrer Wahrnehmung poetisch zu erfassen (vgl. Bock 2010: 50f.; Makropoulos 2007: 10f.).

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der Moderne lässt sich mit den Worten Reinhart Kosellecks als Beschleunigung der Zeiterfahrung durch das fortschreitende Auseinandertreten von ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ bezeichnen, was bedeutet, dass aus in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen immer weniger auch Erwartungen für die Zukunft abgeleitet werden können. Erfahrungen besitzen immer weniger eine handlungsorientierende Funktion, weil die Erwartungssicherheit für die Zukunft nicht mehr gegeben ist (vgl. Koselleck 1979: 359ff.). Durch die neue moderne Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit verschiedenartiger Ereignisse sowie die Beschleunigung der Ereignisse und Bewegungen entsteht eine in autonome und abstrakte Reize zerfallende Welt, in der der wahrnehmende Mensch sich durch eine generalisierte aufmerksame Erwartung an maschinelle Geschwindigkeiten und Rhythmen anpassen muss (vgl. Crary 2002: 247).8 Die Erfahrung als Konstitutionsbedingung erfüllter Identität hat sich »in ihrer Struktur verändert« (I, 608), weil den Subjekten in der »Epoche der großen Industrie« (I, 609) das »Chockerlebnis9 zur Norm« (I, 614) und seine bewusste Abwehr zur dominanten Reaktionsform geworden ist. Benjamin versteht unter ›Schock‹ einerseits wörtlich ›Stoß‹, ›Schlag‹, ›Erschütterung‹, andererseits im weiteren und abstrakten Sinn eine gleichförmige, mechanische Bewegung, die die eingeschliffene Reaktion des Körpers herausfordert. Gemeinsam ist allen Verwendungsweisen des Schockbegriffs, dass immer das Subjekt durch die ihn umgebenden Verhältnisse in abrupter Weise in seiner Wahrnehmung und seinem Handeln bestimmt ist, was zur Folge hat, dass das Subjekt bloß noch ›Erlebnisse‹ hat, die nicht mehr ins Gedächtnis eingehen, um sich in der Erinnerung mit anderen Eindrücken zu Subjektivität konstituierender Erfahrung verbinden zu lassen (vgl. Mičko 2010: 281f.; Gnam 1999: 219f.). Die von Benjamin als Beleg angeführten Phänomene umfassen einige der zentralen Bereiche der modernen Lebenswelt: großstädtische Menge, industrielle Arbeit und Spiel als Paradigmen einer neuartigen Zeitwahrnehmung, die Benjamin als ›leere‹ Zeit kennzeichnet, die neuartige Mitteilungsform der ›Information‹ sowie Fotografie und Film als medienkulturgeschichtliche Paradigmen. In allen diesen Bereichen ist der

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Bereits Marx und Engels beschreiben im Manifest der Kommunistischen Partei, dass die kapitalistische Produktionsweise im Unterschied zu älteren Wirtschaftssystemen, die dazu tendieren, ihre Produktionsverhältnisse statisch beizubehalten, auf die fortwährende Innovation der Produktionsmittel zwingend angewiesen ist. Sie ist deshalb als der Hauptgrund für die Dynamisierung und Beschleunigung der sozialen Verhältnisse im 19. Jahrhundert anzusehen (vgl. Marx/Engels 1972: 465).

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Benjamins Schreibweise ›Chock‹ wird in der vorliegenden Arbeit dort, wo es sich nicht um ein direktes Zitat handelt, als ›Schock‹ wiedergegeben.

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Mensch einer schnellen Folge von Außenreizen ausgesetzt, durch die eine Fragmentierung der Zeit in der Wahrnehmung stattfindet. Baudelaire nennt den Mann in der Menge, »die Erfahrung des Chocks umschreibend, ›ein Kaleidoskop, das mit Bewußtsein versehen ist‹« (I, 630).10 Die Notwendigkeit, das Bewusstsein vor einer übergroßen Menge an Wahrnehmungsschocks zu schützen, und eine gesteigerte Aufmerksamkeit in gespannter Erwartung von Schockwahrnehmungen bringen den ›reflektorischen Charakter‹ hervor, als dessen ›Urgeschichte‹ Adorno Benjamins Studie versteht (vgl. Adorno/Benjamin 1994: 416). Seine Subjektivität ist geprägt von einer Folge unverbundener ›Erlebnisse‹ im Gegensatz zur Erfahrung, die für Benjamin an die Einbettung von Erlebtem in erfahrene Geschichte und Tradition gebunden ist: Sie entsteht durch die Aneignung des Erlebten in der Erinnerung und vor dem Hintergrund vorgängiger Erfahrungshorizonte. Erlebnisse können nur dann zu Erfahrungen werden, wenn sie zur eigenen individuellen und kollektiven Vergangenheit und Zukunft in eine bedeutungsvolle Beziehung gesetzt werden können – ansonsten bleibt ein Erlebnis unangeeignet und folgenlos. Die moderne Zeit besteht daher für Benjamin aus einer Kette unverbundener ›Erlebnisse‹, aus denen keine Erfahrungen resultieren, sondern an die sich die Subjekte mithilfe externer Erinnerungsspuren (z.B. Fotos und Andenken) zu erinnern versuchen (vgl. Reckwitz 2006: 310ff.; Rosa 2005: 235f.). Auch bei Benjamin geht es wie im Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ um die soziale Beeinflussung von Erinnerungsprozessen. Das ›Kollektive‹ hat hier jedoch primär nicht den Sinn, den es bei Jan und Aleida Assmann besitzt – den einer ›kollektiven Identität‹ –, sondern es geht um die intersubjektiven Konstitutionsbedingungen bzw. Verhinderungsgründe für ein identitätsrelevantes Erinnern. In Kapitel I.3 wurde ausgeführt, was vom Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ übrigbleibt, wenn man die Vorstellung ›kollektiver Identität‹ aus ihm herauskürzt: die ›Rahmen‹ des Gedächtnisses in sozialen Lebensformen und verschiedenartige Erinnerungsanlässe in Form kultureller Objektivationen. Für einen theoretischen Zugriff auf seine Diagnosen der modernen Zeiterfahrung im

10 Für das Phänomen der großstädtischen Menge als Beleg für den Wandel in der Wahrnehmung und in den Bewusstseinsstrukturen im 19. Jahrhundert ist Baudelaire als Schriftsteller, der die »Berührung mit den großstädtischen Massen« (I, 618) gesucht und in den als Pariser Bilder zusammengefassten Gedichten im dichterischen Hauptwerk Blumen des Bösen »die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit« gestellt hat (I, 616), ein wichtiger Zeuge. Baudelaire spricht von den »Chocks des Bewußtseins«, denen der ausgesetzt ist, »der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zu Hause ist« (I, 618).

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Sinne sowohl des gegenwärtigen Zeiterlebens als auch einer retrospektiven Geschichte der eigenen Lebenszeit arbeitet sich Benjamin über den konkreten Gegenstand des Textes – die Lyrik Baudelaires und ihre zeitgenössischen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen – hinaus an einer Vielzahl von philosophischen und literarischen Positionen ab. Die wichtigsten Bezugspunkte sind Henri Bergsons lebensphilosophische Überlegungen zur Zeitlichkeit, Marcel Prousts Theorie der unwillkürlichen Erinnerung sowie Sigmund Freuds und Theodor Reiks Untersuchungen zum Zusammenhang von Bewusstsein und Gedächtnis. Die Ausarbeitung einer dem modernen Erfahrungsverfall angemessenen Konzeption von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen beruft sich zudem auf die von Karl Marx und Georg Lukács stammende Theorie der Verdinglichung und auf Benjamins eigene Konzeption der ›Aura‹. Benjamins Umgang mit den Theorien beschränkt sich oftmals auf kursorische Bezugnahmen und einen eher fragmentalen Gebrauch, weshalb für die ausführliche Rekonstruktion von Benjamins Konzeption auch auf die jeweiligen Primärtexte zurückgegriffen wird. In diesem Teil geht es zunächst darum, den Zusammenhang von identitätsrelevanter Erfahrung mit Gedächtnis und Erinnerung sowie Benjamins Konzeption der entfremdeten Zeiterfahrung unter modernen Bedingungen aufzuzeigen, wie er sich nach Benjamins Modell in Über einige Motive bei Baudelaire mit Bezug auf Bergson, Proust und Freud darstellt (Kapitel 1). Danach wird, ausgehend von einer brieflichen Reaktion Adornos auf Über einige Motive bei Baudelaire, die Bedeutung des Vergessens für das erfahrungskonstituierende Erinnern behandelt. Gewissermaßen in Analogie zum ›kulturellen Gedächtnis‹ wird zudem die kollektiv-historische Dimension des Vergessens ausgeführt. Außerdem wird diejenige Dimension des Vergessens herausgestellt, die mit Bezug auf Marx, Lukács und Adorno als ›Verdinglichung‹ charakterisiert wird. (Kapitel 2). Das folgende Kapitel knüpft hier an und charakterisiert den Begriff einer nicht-entfremdeten Erfahrung mit Bezug auf Benjamins Konzeption der ›Aura‹. Nach bewusstseinstheoretischen Ausführungen werden mit der Figur des Sammlers die Überlegungen zu Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen exemplarisch einer soziohistorischen Analyse unterzogen (Kapitel 3). Anschließend wird in Bezug auf Benjamins Überlegungen zur identitätskonstituierenden Funktion von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen im Unterschied zum Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ das Fazit gezogen (Kapitel 4).

1. Erfahrung, Gedächtnis und Erinnerung

Das Aufkommen der Lebensphilosophie1, die Benjamin zufolge von Diltheys Werk Das Erlebnis und die Dichtung bis zu Ludwig Klages und Carl Gustav Jung in den Faschismus führt2, und ihr Bemühen um eine authentische Erfah-

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Will man – wie Benjamin – die Lebensphilosophie als einigermaßen homogene Strömung begreifen, so kann man sie als Versuch deuten, dem Leben in seiner Ganzheitlichkeit einen Vorrang gegenüber einer losgelösten Rationalität einzuräumen. Sie weist jene Tendenzen der Philosophie zurück, die das naturalistische Objektivitätspostulat als Maßstab für die Erforschung des Bewusstseinslebens ansehen und betont stattdessen die konkret erlebte Subjektivität des Individuums (vgl. Thönnes 2004: 4). Wilhelm Dilthey, auf den der Begriff der Lebensphilosophie zurückgeht, betont den seelischen Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen gegenüber dem technischen Denken. Auch Ludwig Klagesʼ Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele richtet sich mit der Annahme einer leibseelischen Einheit und eines Bilderstroms der Seele als Subjekt der Geschichte gegen einen einseitigen Rationalismus. C.G. Jung entwickelt mit seinem Begriff des ›kollektiven Unbewussten‹ und der Archetypenlehre ebenfalls eine Opposition gegen den Verstand (vgl. Bock 2010: 24ff.). Herbert Marcuse kritisiert, dass unter dem »Schlagwort ›Lebensphilosophie‹ […] eine unsinnige Mischung aller möglichen philosophischen und pseudophilosophischen Richtungen« zusammengefasst wird (Marcuse 1978: 474). Für ihn ist Wilhelm Dilthey der einzige echte Vertreter der Lebensphilosophie, an anderer Stelle spricht er von »der echten Lebensphilosophie Diltheys« (Marcuse 1979: 9). Zur Rezeption Diltheys bei Marcuse, Horkheimer und Habermas vgl. Johach 1988.

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Analog zu dieser Bemerkung Benjamins zeichnet Georg Lukács in seinem Buch Die Zerstörung der Vernunft im Kapitel »Die Lebensphilosophie im imperialistischen Deutschland« (Lukács 1962: 351ff.) die Entwicklung der Lebensphilosophie nach, die von ihrem Vordenker Nietzsche über Dilthey, Simmel, Sprengler, Scheler, Heidegger, Jaspers, Klages und Jünger bis zur Ideologie des Nationalsozialismus bei Bäumler,

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rung, »der ›wahren‹ Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung […], welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt« (I, 608), wertet Benjamin zunächst als Indiz für die Richtigkeit seiner These vom modernen Erfahrungswandel. Benjamin geht es im Gegensatz zu diesen Vertretern der Lebensphilosophie, die sich für die ›wahre‹ Erfahrung auf die Dichtung, die Natur und das mythische Zeitalter berufen, um die Erfahrung des Menschen in ihrem historisch spezifisch sozialen Horizont. Auch Benjamin spricht ähnlich wie die lebensphilosophischen Denker von der »Erfahrung im strikten Sinn« (I, 611) und beruft sich in Über einige Motive bei Baudelaire auf den Lebensphilosophen Henri Bergson. Das normative Moment seines Erfahrungsbegriffs will er allerdings historisch-analytisch fundieren und eine gesellschaftskritische Perspektive aufzeigen (vgl. Schmider/Werner 2011: 575; T. Weber 2000: 236). Eine Definition seines Begriffs der ›Erfahrung im strikten Sinn‹ gibt Benjamin zwar nicht, aber es lassen sich doch recht klare Bestimmungen aus Benjamins Verwendung herauslesen: Die ›Erfahrung im strikten Sinn‹ ist kontinuierlich, ganzheitlich und kohärent. Sie füllt und gliedert die Zeit, geht in die Tradition ein und vermittelt sich narrativ fast natürlich von einer Generation zur nächsten, wodurch Gruppenerinnerungen und Gemeinschaften von langer Dauer entstehen (vgl. Makropoulos 2007: 12; Traverso 2007: 9; Makropoulos 1998: 72f.). Der Gegenbegriff hierzu ist das ›Erlebnis‹: ›Erlebnisse‹ sind diskontinuierlich, isoliert, inkohärent, austauschbar und flüchtig und treten in Form von Schocks auf: »Was die Erfahrung vor dem Erlebnis auszeichnet, ist, daß sie von der Vorstellung einer Kontinuität, einer Folge nicht abzulösen ist.« (V, 964)3 Das

Böhm, Krieck und Rosenberg führt. ›Lebensphilosophie‹ bezeichnet für Lukács dabei keine eigenständige Schule, sondern eine allgemeine Tendenz, die weit über die Grenzen der Philosophie hinausreicht. Eines ihrer Hauptmerkmale ist eine Kritik des Verstandes, die das vom biologischen Begriff völlig losgelöste ›Leben‹ und sein subjektives Korrelat, das ›Erlebnis‹, als das nicht vom Verstand, sondern nur intuitiv fassbare Ursprüngliche der Armut des Verstandes entgegensetzt. Der von Lukács nicht behandelte, jedoch von Benjamin genannte C.G. Jung, von 1933 bis 1940 Vorsitzender der von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten ›Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie‹, redet von einem jungen, voller Potenzial steckenden germanischen Unbewussten in Opposition zum ›jüdischen‹ freudschen Unbewussten, das ein Sediment eines ›alten Volkes‹ darstellt (vgl. Bock 2010: 27; Jung 1974: 190f.). 3

Benjamin deutet damit den zentralen Begriff der Lebensphilosophie in der Tradition Diltheys, das ganzheitliche und unmittelbare ›Erlebnis‹, radikal um. Für Dilthey ist ein Erlebnis durch seine Bedeutung zur Einheit eines Sinnganzen zusammengeschlossen. Es gehört immer der Einheit eines Selbst an und enthält einen unverwechselbaren

E RFAHRUNG , G EDÄCHTNIS UND E RINNERUNG

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›Erlebnis‹ fungiert als die defizitäre Kompensationsform der Erfahrung und kann nicht in ›Erfahrung im strikten Sinn‹ transformiert werden (vgl. T. Weber 2000: 237). Entscheidende Bedeutung hat die Unterscheidung für die vorliegende Arbeit deshalb, weil zusammenhanglose ›Erlebnisse‹ auch die Aneignung der eigenen Vergangenheit durch die Erinnerung und damit die Kontinuität der Lebensgeschichte als zentraler Voraussetzung personaler Identität problematisch machen und zu Entfremdungserfahrungen führen (vgl. Abschnitt II.1.3.3). Zunächst geht es darum, den Zusammenhang von identitätsrelevanter Erfahrung mit Gedächtnis und Erinnerung zu rekonstruieren. Die Verwiesenheit der Erfahrung auf das Gedächtnis belegt Benjamin mit einem Rekurs auf Henri Bergson, dessen Theorie vor allem mit Bezug auf sein frühes Hauptwerk Materie und Gedächtnis rekapituliert wird (Abschnitt 1.1). Anschließend wird Marcel Prousts Konzeption unwillkürlicher Erinnerung in Abgrenzung zu Bergson beschrieben, was einer ersten Historisierung des Zusammenhangs von Erfahrung und Gedächtnis dient. Die Struktur der Subjektivität wird insofern bestimmt, als das erfahrungskonstituierende Erinnern von Benjamin als ein unverfügbares charakterisiert wird (Abschnitt 1.2). Die theoretische Begründung dafür, dass die Subjekte in der Moderne bloß noch zu ›Erlebnissen‹ kommen und keine Erfahrungen mehr machen, wird mit Bezug auf Sigmund Freuds Modell des psychischen Apparats ausgeführt (Abschnitt 1.3).

1.1 H ENRI B ERGSONS G EDÄCHTNISTHEORIE Bergsons Frühwerk Materie und Gedächtnis erhebt sich Benjamin zufolge als »weithin ragendes Monument« (I, 608) über die lebensphilosophische Literatur. Bergson ist neben Dilthey der zweite große Protagonist der Lebensphilosophie, der sich jedoch nicht auf Dichtung, Natur und das mythische Zeitalter bezieht, sondern vor allem an der Biologie orientiert ist und von dem aus sich eine völlig

und unersetzlichen Bezug auf das Ganze dieses einen Lebens. Die tiefere Bedeutung des ›Erlebnisses‹ besteht für Dilthey nicht im ursprünglich Erlebten, sondern darin, dass seine Verarbeitung ein langer Prozess ist, der grundsätzlich unerschöpflich ist (vgl. Dilthey 1927: 3ff., 191ff.; Dilthey 1924: 139ff.). Um die Jahrhundertwende wird ›Erlebnis‹ zu einem Modebegriff in nahezu sämtlichen philosophischen Teildisziplinen und bleibt ein Grundbegriff der Lebensphilosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhundert, was wesentlich auf den Einfluss Friedrich Nietzsches und Henri Bergsons, aber auch Georg Simmels und Max Schelers zurückgeführt werden kann (vgl. Gadamer 1986: 66ff.; Cramer 1972: 706ff.).

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eigenständige Interpretation der Lebensphilosophie entwickelt. Vor allem durch die Einführung des Begriffs der ›Dauer‹ als der ursprünglichen menschlichen Zeiterfahrung macht Bergson die subjektiv erfahrene Zeit zum zentralen Thema seiner Philosophie. Er beschreibt in Materie und Gedächtnis verschiedene Formen und Funktionen des Gedächtnisses und auf dieser Grundlage die Beziehung zwischen Körper und Geist. Materie und Gedächtnis entnimmt Benjamin den Verweis von der Erfahrung auf das Gedächtnis: »Sein Titel zeigt an, daß [dieses Werk] die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für die philosophische der Erfahrung ansieht.« (I, 608) Benjamin stimmt dieser grundlegenden Rückbindung der Erfahrung an das Gedächtnis zu, die seine Thesen aus dem Erzähler-Aufsatz bestätigt (vgl. Schmider/Werner 2011: 575). Er sieht die Tradition als intersubjektive Praxis als mit dem individuellen Gedächtnis strukturhomolog an: »In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben.« (I, 608) Zur Darstellung der Konzeption Bergsons werden neben Materie und Gedächtnis weitere Schriften herangezogen, in denen Bergson seine Konzeption der ›Dauer‹ entfaltet, die für sein gesamtes Werk maßgeblich ist. Im Folgenden wird zunächst ausgeführt, was Bergson unter ›Dauer‹ versteht (Abschnitt 1.1.1), dann der Zusammenhang von Wahrnehmung und Erinnerung geschildert (Abschnitt 1.1.2) und zwei Formen des Gedächtnisses in Bergsons Konzeption unterschieden: das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ und das ›reine Gedächtnis‹ bzw. ›Erinnerungsgedächtnis‹ (Abschnitt 1.1.3). Anschließend wird ausgeführt, wie Benjamin Bergsons Konzeption im Zusammenhang mit der These vom modernen Erfahrungsverfall deutet (Abschnitt 1.1.4). 1.1.1 Das Phänomen der ›Dauer‹ Der Begriff der ›Dauer‹ (durée), der den Lebensstrom charakterisiert, auf den Bergsons Erfahrungsbegriff abzielt, bezeichnet eine Bewahrung des Vergangenen im Folgenden, die es dem menschlichen Bewusstsein ermöglicht, Synthesen zu bilden (vgl. Patzel-Mattern 2002: 74ff.). Die ›Dauer‹ bestimmt Bergson, indem er sie als lebendige, innerliche und qualitative Zeit sowohl vom Raum als auch von der Zeit im Sinne der äußerlichen, quantitativen Zeit unterscheidet. Dauer und Raum sind dabei einander entgegengesetzte Pole, Zeit als befristete Periode ist durch ihre Verbindung mit Messung, Einteilung und mit Räumlichem eine Mischform beider und bleibt dem Erleben äußerlich. Bergson spricht der Wirklichkeit des Lebens und Erlebens, die in seiner Konzeption aller anderen Wirklichkeit vorgeordnet ist, sowohl Zählbarkeit als auch Messbarkeit und Räumlichkeit ab. Die Momente der ›Dauer‹, die ein Kontinuum des Bewusst-

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seins bilden, sind qualitativ verschieden und nicht wiederholbar. Spuren der vorherigen Momente finden sich in den nachfolgenden und vorherige Momente kündigen nachfolgende an (vgl. Oger 1991: XIV; Kozljanič 2004: 109f.). Die einzelnen Bewusstseinszustände sind nicht als voneinander getrennt und nacheinander angeordnet vorzustellen, sondern sie durchdringen einander. In dieser Weise ist der aktuelle Zustand des Bewusstseins unthematisch bzw. unbewusst jederzeit mit Vergangenem verbunden (vgl. Finkelde 2003: 39). Das kontinuierliche Fließen der ›Dauer‹ gerät im alltäglichen Bewusstsein aus dem Blick, da die Aufmerksamkeit sich ihr in diskontinuierlichen Akten zuwendet, sodass die Kontinuität unterbrochen wird und in Form von einzelnen, voneinander getrennten Zuständen erscheint. Bergson macht jedoch deutlich, dass jeder von diesen Zuständen lediglich der »am besten beleuchtete Punkt eines bewegten Bereichs [ist], der alles umfaßt, was wir fühlen, denken, wollen, kurz: alles, was wir in einem bestimmten Augenblick sind. Und dieser gesamte Bereich ist es, der in Wirklichkeit unseren Zustand ausmacht.« (Bergson 2013: 13) Die voneinander getrennten Zustände, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet, sind also in Wirklichkeit keine gesonderten Elemente, sondern »setzen einander fort in einem endlosen Fließen« (ebd.). Die ›Dauer‹ besteht in einer Sukzession qualitativer Veränderungen ohne feste Umrisse, die miteinander verschmelzen und sich gegenseitig durchdringen (vgl. Bergson 1994: 80). Die Erfahrung der ›Dauer‹ in ihrem ursprünglichen Prozesscharakter wird Bergson zufolge jedoch weitgehend verstellt, da im Alltag eine stark instrumentelle Prägung vorherrscht, wofür »die rein utilitären Ursprünge unserer Wahrnehmung der Dinge« (Bergson 1991: 154) ursächlich sind. In sozialen Kontexten müssen Eindrücke fixiert und die Zeit quantifizierend in Abschnitte unterteilt und in dieser Weise verräumlicht werden, um sie sprachlich ausdrücken zu können. Die ursprüngliche Erfahrung der ›Dauer‹ wird in dieser Weise negiert (vgl. Thönnes 2004: 5f.; Bergson 1994: 98). Aus diesen Überlegungen Bergsons ergibt sich, dass die ursprüngliche Zeiterfahrung der qualitativen ›Dauer‹ eine weitgehend individuelle Erfahrung ist. Sie wird innerlich erlebt und gefühlt, kann aber nicht präzise sprachlich erfasst werden. Diejenige Zeiterfahrung, die innerhalb des sozialen Kontextes zur Anwendung kommt, wird hingegen mithilfe räumlicher Vorstellungen gebildet und vermittelt ein grundsätzlich falsches Bild des Dahinfließens der Zeit (vgl. Thönnes 2004: 20; Bergson 1994: 95). In der sozialen Sphäre erscheint Bergson zufolge lediglich ein »Schatten des Ich« (Bergson 1994: 97), da das wirkliche Ich durch das ›unterscheidungssüchtige‹ Bewusstsein in Teilstücke zerkleinert und in dieser Weise für die Bedürfnisse des sozialen Lebens, insbesondere die Sprache, verfügbar gemacht wird.

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Der grundlegende Zugang zur ›Dauer‹ und zur eigenen Person in ihrem Fließen durch die Zeit in Bergsons Sinne ist ein intuitiv nach innen gerichteter (vgl. Bergson 2008: 184). Auf dem Weg zum eigenen inneren Lebensgrund bemerkt man zunächst die Wahrnehmungen der äußeren Welt, dann Erinnerungen, die mit diesen Wahrnehmungen zusammenhängen und dazu dienen, sie zu interpretieren, und dann, damit verbunden, Neigungen, Bewegungsantriebe und eine Fülle von virtuellen Handlungen. Alle diese Elemente der Peripherie sind als mehr oder weniger erstarrte und gegeneinander abgegrenzte vom ›eigentlichen Selbst‹ verschieden. Das weiter innen gelegene Wesen des Selbst findet Bergson in einer Kontinuität des Fließens, einer Aufeinanderfolge von Zuständen, von denen jeder den folgenden ankündigt und den vorhergehenden in sich enthält. In diesem inneren Grund des ›Tiefen-Ichs‹ ist jedes Element für das Ganze repräsentativ (vgl. ebd.: 184f.; Kozljanič 2004: 110f.; Bergson 1994: 77ff.). Die ›Dauer‹ ist also nicht als ein homogenes Kontinuum zu verstehen, das aus voneinander unterscheidbaren Elementen gebildet wird. Ein solches wäre wie die als Ordnung der Sukzessivität verstandene homogene Zeit ein Produkt des verräumlichenden und objektivierenden Verstandes. Die innere Zeiterfahrung der Dauer besteht dagegen in einem kontinuierlichen Erlebnisstrom, der durch eine unaufhörliche Veränderung gekennzeichnet ist (vgl. Thönnes 2004: 18f.). Bergson bestimmt die ›Dauer‹ als wesentlich gedächtnishaft, d.h. als bewahrend und kumulierend. Das bewahrende Element der ›Dauer‹ bedeutet für ihn, dass die vergangenen Momente nicht in ihrer Existenz ausgelöscht werden, sondern weiterhin existieren (vgl. Oger 1991: XVIIf.). ›Dauer‹ als Gedächtnis bedeutet nicht Vergänglichkeit, sondern Beständigkeit, sie bewahrt und behält: Das Vergangene geht nicht verloren, sondern wirkt in der Gegenwart fort (vgl. Bergson 2013: 12). Das kumulative Moment der inneren ›Dauer‹ als kontinuierliches Leben eines Gedächtnisses beschreibt Bergson metaphorisch als Schneeball, den der Seelenzustand während seines Vorrückens in der Zeit aus sich selbst rollt, bzw. als das beständige Aufrollen eines Fadens auf ein Knäuel (vgl. ebd.; Bergson 2008: 185). Die Gegenwart schließt das unaufhörlich wachsende Bild der Vergangenheit in sich ein bzw. bezeugt eine im Älterwerden immer schwerere Last. Die Vergangenheit wächst unaufhörlich mit der Gegenwart, die sie aufnimmt – anders gäbe es keine Dauer, sondern nur eine Augenblicklichkeit (vgl. Bergson 2008: 201; Oger 1991: XVIII). Die Betonung der Kontinuität der ›Dauer‹ tritt in Bergsons späteren Schriften etwas in den Hintergrund, da er immer entschiedener die schöpferische Kraft der ›Dauer‹ ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt und dadurch ein Moment der Diskontinuität in den Begriff aufnimmt (vgl. Oger 1991: XIII). Georg Simmel betont diesen schöpferischen Aspekt an Bergsons Begriff der ›Dauer‹ als zeitli-

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cher Dimension des Bewusstseins, da das Spätere sich nicht bloß aus Bestandteilen des Früheren zusammensetzt, sondern jeder Moment des Lebens etwas Neues ist, das es so in ihm noch nicht gab und das sich auch nicht wiederholen lässt. Allein dadurch, dass ein erster Moment einem zweiten vorangegangen ist, wird dieser zweite in einer für den ersten ganz unerreichbaren Weise modifiziert. Jede Gegenwart setzt die ganze Vergangenheit voraus, die beständig mehr wird, weshalb kein Moment des Lebens einem anderen völlig gleichen kann und das Künftige nicht aus dem Früheren oder Jetzigen berechenbar ist (vgl. Simmel 2000: 57f.). Dieses kontinuierliche Werden nennt Bergson die ›Dauer‹, da die Dinge nur in fortwährendem Anderswerden dauern können (vgl. ebd.: 67). 1.1.2 Wahrnehmung und Erinnerung Als Schritt zur genaueren Bestimmung des bergsonschen Gedächtnisbegriffs muss nun seine Gegenüberstellung und anschließende Verbindung von Wahrnehmung und Gedächtnis betrachtet werden. Für Bergson ist das Gedächtnis von der Wahrnehmung unterschieden, da es einen virtuellen Bereich konstituiert, in dem Spuren sämtlicher vergangener Erfahrungen koexistieren. Während die Wahrnehmung in einer diskontinuierlichen Abfolge von Momenten besteht, die dem Bewusstsein die aktuellen, objektiven und unpersönlichen Bilder von lebenspraktischer Bedeutung liefert, kommt dem Gedächtnis eine wirkliche ›Dauer‹ im ausgeführten Sinn zu: Die Erinnerung stellt subjektive Bilder eines unwiederholbaren Augenblicks der Vergangenheit bereit, die eine kontemplative Erkenntnis um ihrer selbst willen ermöglichen (vgl. Oger 1991: XXXII).4 Zusammenfassend bestimmt Bergson den Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Erinnerung dahingehend, dass die Wahrnehmung durch ihre Verbindung mit dem Handeln und dem Leib dem ›materiellen‹ Pol zuzurechnen ist, während die Erinnerung als eine ›geistige‹ Größe anzusehen ist. Bergson beabsichtigt nun, diese getrennten Pole ›Geist‹ und ›Materie‹ wieder miteinander zu verbinden: Der Dualismus muss »aufgehoben oder abgeschwächt« (Bergson 1991: 245) werden, da unbestreitbare Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist bestehen.

4

Bergson verwendet den Ausdruck ›Bild‹ sowohl für Bewusstseinszustände als auch für äußere Gegenstände. Im Vorwort zur siebten Auflage von Materie und Gedächtnis schreibt er: Unter »›Bild‹ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist, als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt, aber weniger, als was der Idealist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ›Ding‹ und der ›Vorstellung‹ liegt« (Bergson 1991: I; vgl. Oger 1991: XXIX).

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Die Wahrnehmung wird von Bergson an das Gedächtnis geknüpft, da sie auch als momentane aus erinnerten Elementen besteht, weshalb in Wahrheit jede Wahrnehmung eine Form von Gedächtnis ist: In der gegenwärtigen Wahrnehmung ist wesentlich das Fortschreiten des Vergangenen präsent: »Praktisch nehmen wir nur die Vergangenheit wahr, die reine Gegenwart ist das unfaßbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.« (Ebd.: 145) Es gibt demzufolge keine Wahrnehmung, die nicht mit einer Vielzahl von Erinnerungen angereichert ist und in dieser Weise an vergangener Erfahrung teil hat. In der Regel ist es laut Bergson sogar so, dass diese Erinnerungen die gegenwärtigen Wahrnehmungen verdrängen, von denen nur noch Andeutungen zurückbleiben, die die Erinnerung an Bilder früherer Erfahrungen gleichartiger Geschehnisse erzeugen (vgl. ebd.: 53f.).5 Notwendig ist die Leistung des Gedächtnisses für die Wahrnehmung deshalb, weil sie immer eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und die einzelnen Momente durch das Gedächtnis miteinander verbunden werden (vgl. ebd.: 61). Durch das Fortwirken des Vergangenen in der Wahrnehmung wird deren schnelles Funktionieren gewährleistet, jedoch stammen auch Täuschungen aller Art aus dieser Quelle (vgl. ebd.: 18). Wahrnehmungen und Erinnerungen sind faktisch nicht voneinander zu trennen und eine unmittelbare Wahrnehmung als ein Bewusstsein, das völlig in Jetzt-Momenten eingeschlossen wäre, ist nicht möglich. Die Wahrnehmung erhält dadurch zu einem gewissen Grad immer einen subjektiven Charakter (vgl. ebd.: 19; Oger 1991: XXXV). Die Gegenwart ist Bergson zufolge als der aktuelle Zustand des Körpers sensorisch und motorisch auf die bevorstehende Tätigkeit ausgerichtet, wohingegen der Körper nicht an der Erinnerung beteiligt ist. Das Vergangene wirkt nur dann, wenn es sich einer gegenwärtigen Empfindung einfügt – und dadurch aufhört, Erinnerung zu sein, und selbst zur Wahrnehmung als einem körperlich wirksamen Zustand wird (vgl. Bergson 1991: 134, 240). Die Leistung des Gedächtnisses besteht für Bergson dementsprechend »nicht in dem Zurückschreiten der Gegenwart zur Vergangenheit, sondern im Gegenteil in einem Fortschreiten der Vergangenheit zur Gegenwart« (ebd.: 239). Die Erinnerungen verlieren im Prozess des Erinnerns ihren virtuellen Charakter und materialisieren sich zu konkreten Erinnerungsbildern, einer Mischung aus reinen Erinnerungen und Wahrnehmungen, die körperlich ›nützlich‹ verwendbar sind, da sie sich dem motorischen Schema des Körpers einzupassen in der Lage sind (vgl. ebd.: 119, 130). Die Ak-

5

Umgekehrt ist die Erinnerung das Korrektiv der Wahrnehmung, indem sie das Potenzial bereitstellt, Wahrnehmungen in Beziehung zum eigenen Ich zu setzen und sie zu beurteilen (vgl. Patzel-Mattern 2002: 100).

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tualisierung von Erinnerungen als Erinnerungsbilder im Geist richtet sich nach den aktuellen körperlichen Bedürfnissen. Der Vorgang des Erinnerns besteht zunächst im Loslösen von der Gegenwart und einem Zurückversetzen in die Vergangenheit. Wer beabsichtigt, etwas zu erinnern, muss zunächst eine geeignete Haltung einnehmen, die dazu befähigt, eine Erinnerung aus der Virtualität zu materialisieren: ein probierendes Herumtasten, das Bergson mit dem Einstellen eines Fotoapparats vergleicht. Die Erinnerung wird nach und nach klarer und nähert sich immer mehr der Wahrnehmung an (vgl. ebd.: 127f.). Als eine aus der Virtualität in die Aktualität materialisierte Wahrnehmung wird sie ein Teil der Gegenwart (vgl. Thönnes 2004: 51). Bergson unterscheidet drei Komponenten: die reine Erinnerung, das Erinnerungsbild und die Wahrnehmung. Keines dieser Momente tritt in der Wirklichkeit jedoch isoliert auf. Die Wahrnehmung ist immer mit Erinnerungsbildern imprägniert und wird von ihnen vervollständigt. Die Erinnerungsbilder haben wiederum an der reinen Erinnerung teil, die sie materialisieren oder aktualisieren, und sind mit Wahrnehmung verbunden, die sie mit einer wirklichen Verkörperung versorgt und in dieser Weise gegenwärtig werden lässt (vgl. Bergson 1991: 127, 147f.). Die Wahrnehmung gehört dem Raum und der Materie an, die Erinnerung der ›Dauer‹ und dem Gedächtnis, der vergangenen erlebten Zeit, die fortdauert. Sie muss jedoch immer wieder von der Wahrnehmung aktualisiert werden, sodass das Zusammenwirken von Wahrnehmung und Gedächtnis der Erfahrung ihre Struktur verleiht. Erinnerungen werden durch Erfahrungen in der Gegenwart angeregt und beeinflussen diese wiederum. Da das Gedächtnis bei jedem Lebensvollzug unmittelbar beteiligt ist und die Wahrnehmung im Wesentlichen aus Erinnerungen besteht, existiert für Bergson keine klare Grenze zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: »Bewußtsein bedeutet Gedächtnis.« (Bergson 2008: 185; vgl. Thönnes 2004: 49) 1.1.3 Zwei Formen des Gedächtnisses Wahrnehmung und Gedächtnis sind, auch wenn sie unterschiedliche Realitäten abbilden, miteinander verbunden. Und doch ist Bergson davon überzeugt, dass das ›wahre Gedächtnis‹ (vgl. Bergson 1991: 146) keinerlei praktischen Anforderungen unterworfen ist. Er unterscheidet deshalb zwei Formen des Gedächtnisses, in denen das Vergangene fortlebt: einerseits in motorischen Mechanismen, andererseits in unabhängigen Erinnerungen (vgl. ebd.: 66). Diese beiden theoretisch voneinander unabhängigen Gedächtnisse nennt Bergson mémoire-habitude, das wiederholende ›Gewohnheitsgedächtnis‹, das »eher die Gewohnheit im Lich-

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te des Gedächtnisses als das Gedächtnis selbst« ist, und mémoire-souvenir, das vorstellende ›reine Gedächtnis‹ als »das Gedächtnis par exellence« (ebd.: 73). Die erste Form des Gedächtnisses, das ›Gewohnheitsgedächtnis‹, steht im Dienst der Wahrnehmung, der es für das Handeln nützliche Erfahrungen ähnlicher Situationen in der Vergangenheit bereitstellt (vgl. ebd.: 66). Das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ besteht aus körperlichen Gewohnheiten und sensomotorischen Mechanismen, gehört dem Raum und der Materie an und begleitet beständig die alltägliche Praxis. Es bildet sich durch die Wiederholung körperlicher Abläufe, die in der Folge durch leibliche Spuren des Vergangenen beliebig reproduzierbar sind und in Form von Schemata und Mechanismen Dispositionen des Handelns im Sinne von vorgefertigten Reaktionen auf äußere Reize bereitstellen (vgl. ebd.: 70f.). Es stellt die Vergangenheit nicht vor, sondern es agiert sie aus. Gedächtnis bedeutet in diesem Zusammenhang Bergson zufolge nicht, alte Bilder aufzubewahren, sondern zum Zweck der Nutzbarmachung seine Resultate in die Gegenwart hinein zu verlängern (vgl. ebd.: 71). ›Gewohnheit‹ bedeutet, dass das Erworbene im gegenwärtigen Erleben verkörpert ist und sich nicht ausdrücklich auf die Vergangenheit bezieht (vgl. Ricœur 2004: 52). Die zweite Form des Gedächtnisses, das ›reine Gedächtnis‹ oder ›Erinnerungsgedächtnis‹, dient keinem Zweck und keiner Wahrnehmung. Statt einer zukunftsorientierten Nützlichkeit dient das ›reine Gedächtnis‹ der verinnerlichenden Imagination von Bildern der eigenen Vergangenheit. Für ein Hervorrufen dieser Erinnerungen muss man vom gegenwärtigen Tun abstrahieren und dem Nutzlosen einen Wert geben können: Man muss »träumen wollen« (Bergson 1991: 72; vgl. ebd.: 98, 150). Der Abstand von der körperlichen Nützlichkeit macht das ›reine Gedächtnis‹ zu einem ›machtlosen‹ geistigen Phänomen, aus dem die Vorstellungen aus der Vergangenheit stammen (vgl. ebd.: 67, 135). Es behält die Ereignisse des täglichen Lebens in Form von Erinnerungsbildern, die das Erlebte als Vergangenes repräsentieren. Die Erinnerungsbilder haben für Bergson keinen habituellen Charakter, sie sind nicht durch einen Lernprozess erworben, sondern bereits beim ersten Erleben in Form eines singulären, genau datierten Ereignisses der eigenen Lebensgeschichte vom Gedächtnis registriert worden. Das ›reine Gedächtnis‹ ermöglicht das intellektuelle Wiedererkennen früherer Wahrnehmungen (vgl. ebd.: 69f.). Das Vergangene wird Bergson zufolge also in zwei Formen aufbewahrt: in motorischen Mechanismen, durch die es nutzbar gemacht wird, und in Erinnerungsbildern, die alle seine Ereignisse als klar umrissene Bilder mit zeitlicher Bestimmtheit zu zeigen vermögen (vgl. ebd.: 78). Die willentliche Aneignung von Erinnerungen bildet Bergson zufolge die Ausnahme, während sich die Registrierung einmaliger Tatsachen und Bilder durch das Gedächtnis beständig

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vollzieht. Die erlernten Erinnerungen werden leichter bemerkt, weil sie die nützlicheren sind (vgl. ebd.: 72). Die Erinnerungsbilder erscheinen und verschwinden normalerweise unabhängig vom Willen, weshalb eine Sache, die im Bereich des verfügbaren Wissens bleiben und deren Wiederholung nicht vom Zufall abhängen soll, auswendig gelernt werden und an die Stelle des spontanen Bildes ein gewohnheitsmäßiger Mechanismus gesetzt werden muss (vgl. ebd.: 75). Dennoch funktioniert das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ weitgehend automatisch und unbewusst und wiederholt das Vergangene, ohne es als Vergangenes zu begreifen. Das ›Erinnerungsgedächtnis‹ bewahrt das Vergangene als solches und macht eine diskontinuierliche Reproduktion früherer Wahrnehmungen »mit einem einzigen Sprunge« (ebd.: 141) möglich. Nur die ›reine Erinnerung‹ als rein geistige ist dazu in der Lage, die »schauende Vergegenwärtigung des Lebensstromes« (I, 609) zu vollbringen, auf die der bergsonsche Erfahrungsbegriff, wie Benjamin ihn darstellt, abzielt. Der Prozess der Erinnerung hat die Funktion der bewussten Aneignung von Erfahrung, also Ereignisse der eigenen Vergangenheit in eigene Erfahrungen zu verwandeln. Auf diese Weise gelingt es, dass »der einzelne von sich ein Bild bekommt, [...] sich seiner Erfahrung bemächtigen kann« (I, 610; vgl. T. Weber 2000: 238). Obwohl Bergson die beiden Gedächtnisformen scharf voneinander unterscheidet, geht er auch von ihrer wechselseitigen Durchdringung aus (vgl. Bergson 1991: 147). Das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ bildet die Grundlage für den natürlichen Bewegungsablauf des Menschen in Reaktion auf die Anforderungen seiner Umgebung und kann als solches nichts Neues hervorbringen. Das ›reine Gedächtnis‹, das als theoretisches Konstrukt von der Gegenwart, der Handlung und dem Leib vollständig getrennt ist, wird jedoch durch das motorische Gedächtnis ergänzt. Die ›reinen‹ Erinnerungen als Grundlage schöpferischer Entwicklung sind auf das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ angewiesen, insofern sie sich im Wahrnehmungsbereich aktualisieren bzw. vergegenwärtigen müssen, um sich eine handlungsrelevante Bedeutung zu verschaffen: Geistige Erinnerungen benötigen motorische Handlungen, um sich zu artikulieren (vgl. Rölli 2004; PatzelMattern 2002: 110).6

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Die Unterscheidung zweier grundlegender Formen des Gedächtnisses ist auch in der neueren Psychologie noch gebräuchlich, vor allem unter den Begriffen ›deklaratives‹ und ›nichtdeklaratives‹ Gedächtnis. Das ›deklarative Gedächtnis‹ bezeichnet den bewussten ›Abruf‹ von Tatsachen, Vorstellungen und Ereignissen, die sich in der Verbalisation oder als geistiges Bild ausdrücken und deklariert werden können. Innerhalb des ›deklarativen‹ Gedächtnisses lässt sich das ›episodische‹ vom ›semantischen‹ Gedächtnis unterscheiden: Das ›episodische‹ Gedächtnis, das in narrativierter Form auch

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1.1.4 Bergson und die These vom modernen Erfahrungsverfall In diesem Abschnitt wird die Gedächtnistheorie Bergsons in den Kontext von Benjamins Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire gestellt. Benjamin bezieht sich auf Bergson, um den Begriff der Erfahrung an das Gedächtnis zu binden, setzt sich für seine eigene Erfahrungstheorie jedoch auch von ihm ab. Das Gedächtnis als ›Dauer‹ besitzt insofern eine konservative Funktion, als es das Vergangene bewahrt und in die Gegenwart einbringt. Es hat zugleich jedoch auch ein kreatives Moment, weil die vergangenen Zustände beständig mit den neuen verbunden werden und in dieser Weise etwas Neues entsteht (vgl. Patzel-Mattern 2002: 80f.). Das ›reine Gedächtnis‹ leistet das intentionale Ausschalten der Wahrnehmung, um die »schauende Vergegenwärtigung des Lebensstromes« (I, 609) zu gewährleisten, in der Vergangenheit und Gegenwart in rein qualitativer Weise im Geist gemeinsam existieren. In dieser Weise werden die entscheidenden identitätsbildenden Leistungen begründet. Bergson richtet sich zwar gegen die Vorstellung vom Gedächtnis als »Behälter mit Erinnerungen« (Bergson 1991: 62) und beschreibt es vielmehr als Organ zur wiederholten Wahrnehmung. Dennoch wird bei ihm die Speicherfunktion des Gedächtnisses angesprochen, indem das Gedächtnis als die Summe der gemachten Erfahrungen gedacht wird, die im Prinzip zugänglich und verfügbar sein sollen (vgl. Zumbusch 2004: 109). Das Gedächtnis ist das Organ, mit dem die Subjekte sich ihrer Vergangenheit vergewissern.

dem ›autobiografischen‹ Gedächtnis als Grundlage dient, repräsentiert den persönlichen und emotionalen Bezug zu zeit- und kontextbezogenen Erlebnissen, die Erinnerung an eigene Lebenserfahrungen. Das ›semantische‹ Gedächtnis umfasst das unpersönliche, im Zusammenhang eines intersubjektiv gültigen Wissenssystems gelernte, symbolisch repräsentierte Wissen von der Welt. Das ›nichtdeklarative‹ Gedächtnis bezeichnet demgegenüber unbewusste Fertigkeiten und implizite Gewohnheiten, deren Ausübung von bewusstem Erinnern unabhängig ist. Es umfasst routinierte und habitualisierte Handlungs- und Verhaltensweisen: das ›prozedurale‹ Gedächtnis der ›automatisch‹ ablaufenden Handlungen wie die Regelbefolgung z.B. beim Sprechen sowie das ›perzeptuelle‹ Gedächtnis der Wahrnehmung von Reizen, ihrer ›Speicherung‹ und Verarbeitung nach Maßgabe von Bekanntheit oder Neuheit. Auch das ›Priming‹, die ›Bahnung‹, die eine höhere Wiedererkennungswahrscheinlichkeit eines zu einem früheren Zeitpunkt unbewusst wahrgenommenen Reizes ermöglicht, kann als ›nichtdeklarative‹ Gedächtnisform angesehen werden (vgl. Birbaumer/Schmidt 2010: 620ff.; Squire/Kandel 2009: 68). Zur Kritik der neuropsychologischen Gedächtnistheorien vgl. Bennett/Hacker 2010: 203ff.

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An dieser Stelle setzt Benjamins Kritik ein, dass Bergson intentional auf den Lebensfluss der ›Dauer‹ zugreifen will und dadurch deren Charakter als diskontinuierliches und flüchtiges Medium missachtet (vgl. Bock 2010: 82). Diese Deutung ist stark selektiv, da auch Bergson betont, dass die ›reinen‹ und identitätsrelevanten Erinnerungen nicht willkürlich durch das Subjekt heraufbeschworen werden können. Die genau lokalisierten persönlichen Erinnerungen, die in ihrer Gesamtheit den Lebenslauf eines Menschen bezeichnen, sind ihm zufolge außerordentlich flüchtig und gewinnen nur durch einen Zufall Gestalt, etwa indem eine bestimmte körperliche Haltung sie auslöst (vgl. Bergson 1991: 97f.). Benjamin zieht Bergson diesbezüglich strategisch heran, um seine Argumentation aufzubauen, deren nächster Schritt mit Marcel Proust vollzogen wird. Benjamin kritisiert an Bergsons lebensphilosophischer Gedächtnistheorie außerdem deren mangelnde historische Verortung: »Das Gedächtnis historisch zu spezifizieren, ist freilich Bergsons Absicht in keiner Weise. Jedwede geschichtliche Determinierung der Erfahrung weist er vielmehr zurück.« (I, 608f.) Hat Benjamin bereits im Erzähler-Aufsatz seine Diagnose einer Verkümmerung der Erfahrung im historischen Wandel dargestellt, so kritisiert er nun, dass Bergson seine Erkenntnisse nicht mit der historischen und sozialen Entwicklung in Beziehung setzt. Dem ›Gewohnheitsgedächtnis‹ stellt Bergson die ›reine Erinnerung‹ als Vergegenwärtigung des Vergangenen gegenüber, die eine Sache freier Entschließung sein soll. In dieser Konzeption wird jedoch nicht berücksichtigt, dass der Anteil, den die Gewohnheit an der Erfahrung hat, nicht im Sinne einer anthropologischen Konstante unveränderlich feststeht. Für Benjamin hingegen muss die Erfahrung auf ihre jeweilige Zusammensetzung hin analysiert werden, da ihre intersubjektive und gegenständliche Umgebung historisch variabel ist, was ihre subjektive Aneignung ermöglicht oder verunmöglicht. Der gesellschaftliche Umbruch, der sich Benjamin zufolge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ereignet, konfrontiert die Subjekte mit einer fundamental neuen Lebenswelt und verändert damit auch die Struktur der Subjektivität selbst. Beschleunigung und Reizüberflutung, die Schockabwehr und eine gesteigerte Aufmerksamkeit zur Folge haben, lassen die Wahrnehmung immer unzugänglicher für die Erfahrung werden und schaffen habitualisierte, stereotype Reaktionsformen. Gewohnheit ist deshalb keine feste Größe, sondern ändert sich in ihrer Funktion mit der historisch veränderlichen Struktur der Wahrnehmung (vgl. Teschke 2000: 17f.). Bergson setzt der Fragmentierung und Standardisierung der Erfahrung und der Automatisierung der Wahrnehmung in der Moderne eine Ganzheitserfahrung entgegen, die auf die Authentizität der inneren subjektiven Erfahrung aufbaut, ohne zu bedenken, wie diese Erfahrung durch dem Subjekt äußerliche Faktoren geprägt wird (vgl. Crary 2002: 260).

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Den von Bergson angenommenen unhistorischen Lebensstrom interpretiert Benjamin als das komplementäre »spontane Nachbild«, das sich einstellt, wenn man sein Auge vor der Erfahrung der »unwirtliche[n], blendende[n] Epoche der großen Industrie« (I, 609) verschließt: Es versucht eine Erfahrung festzuhalten, die bereits im Verfall begriffen ist. Für Benjamins Vorhaben, den modernen Erfahrungsverfall als historische und soziale Entwicklung zu beschreiben, ist sein Rekurs auf die Lebensphilosophie doppelt motiviert. Zum einen sieht er im Versuch der Lebensphilosophie, die leere Zeit der Moderne durch den Bezug auf einen unhistorischen Erfahrungsbegriff und traditionelle Ideen wie ›Dauer‹ und Tradition zu negieren, ein Symptom des modernen Erfahrungsverfalls.7 Zum anderen macht sich Benjamin trotz dieser Stoßrichtung Bergsons dessen Analyse des Zusammenhangs zwischen der Struktur des Gedächtnisses und der Zeitempfindung einerseits und der Erfahrung andererseits für seine eigene Reflexion produktiv zu eigen (vgl. Schmider/Werner 2011: 575). Es ist Bergsons Überzeugung, dass die Freiheit des Individuums durch ein zunehmendes Maß der Überschneidung von Gedächtnis und Wahrnehmung beeinträchtigt wird. Je mehr die perzeptuellen Reaktionen eines Subjekts auf seine Umgebung nur noch in Wiederholung und Gewohnheit und in der ›automatischen‹ Reaktion auf Reize bestehen, ohne dass die Persönlichkeit daran interessiert wäre, desto weniger Freiheit besitzt das Subjekt in seiner individuellen Existenz und desto weniger besteht die Möglichkeit für das Gedächtnis, noch eine schöpferische Rolle zu spielen (vgl. Crary 2002: 253f.). In diesem Sinn behält Benjamin Bergsons Unterscheidung zwischen ›Gewohnheitsgedächtnis‹ und

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Benjamins Kritik an Bergson deckt sich weitgehend mit derjenigen Max Horkheimers. Diesem zufolge durchschaut Bergson zwar die positivistischen Konzepte der Wissenschaft als historisch relative und veränderliche, doch seine eigenen Begriffe, insbesondere der Begriff der Zeit, werden von ihm als zeitlos intuitiv angesehen. Bergsons Denken hebt den eigenen Inhalt auf, da es die Zeit leugnet, indem es sie zum metaphysischen Prinzip erhebt (vgl. Horkheimer 1988: 228). Der unzeitliche Charakter von Bergsons ›Dauer‹ zeigt sich Horkheimer zufolge außerdem darin, dass Bergson sie zwar in ihrem ständigen Wechsel, aber nicht als endlich begreift: »Der Metaphysiker Bergson unterschlägt den Tod.« (Ebd.: 237) Benjamin formuliert: »Daß in Bergsons durée der Tod ausfällt, dichtet sie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab. […] Die durée, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen. Sie ist der Inbegriff des Erlebnisses, das im erborgten Kleid der Erfahrung einherstolziert.« (I, 643) Für eine Kritik an Horkheimers Bergson-Deutung vgl. Pflug 1991: 263ff.

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›reiner Erinnerung‹ bei, wenn er konstatiert, dass die erfahrungsbildende Erinnerung in der Moderne immer mehr durch prozedurale, ›reflektorische‹ Mechanismen abgelöst wird. Bergson ist für Benjamin demnach nicht bloß deshalb hilfreich, weil er die Erfahrung mit dem Gedächtnis in Verbindung bringt, sondern auch als Lebensphilosoph, dem es darum geht, das Individuum vor gefährlichen Vereinnahmungen durch die moderne Gesellschaft zu bewahren. Seine bloß einseitige Betonung individueller Subjektivität und Innerlichkeit geht Benjamin allerdings zu weit, da er die Erfahrung des Menschen in ihrem historisch spezifischen sozialen Horizont zu reflektieren beabsichtigt. Zur weiteren historischen Spezifikation von Bergsons Gedächtnistheorie erläutert Benjamin an Prousts »Penelopewerk des Eingedenkens« (II, 311) die Möglichkeit der Erfahrung der bergsonschen ›Dauer‹ »unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen« (I, 609). Hat Halbwachs den von Bergson in Materie und Gedächtnis gebildeten Begriff einer individuellen ›reinen Erinnerung‹ radikal umgedeutet und als ein ›kollektives Gedächtnis‹ gefasst, schließt Marcel Proust, dem der folgende Abschnitt gewidmet ist, ebenfalls an Bergson an, jedoch in gänzlich anderer Weise.

1.2 M ARCEL P ROUSTS K ONZEPTION UNWILLKÜRLICHER E RINNERUNG Benjamin führt aus, dass Bergsons Materie und Gedächtnis die Erfahrung in der ›Dauer‹ in einer Art und Weise bestimmt, dass sich der Leser einen Dichter als Subjekt denken muss (vgl. I, 609). Marcel Proust ist es, der diese Erfahrung in seinem großen Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit »unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen« (I, 609) versucht, da sie ohne diesen konstruktiven Zugriff immer weniger zustande kommt.8 Benjamin gehört zu den ersten, die Proust in Deutschland rezipieren. Er wird zum Übersetzer von Teilen von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Proust gewinnt eine herausragende Bedeutung für seine eigenen Arbeiten. Benjamin liest Proust als einen Kritiker Bergsons, der am eigenen Leibe erfuhr, dass die Informationen, die willentlich gesteuerte Erinnerungsakte »über das Verflos-

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Die Reflexionen zur Erinnerung finden sich vor allem im ersten (Unterwegs zu Swann) und im letzten (Die wiedergefundene Zeit) Teil des Romans.

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sene erteil[en], nichts von ihm aufbehalten« (I, 610).9 Kommt es bei Bergson zu einer Hinwendung zur ›Dauer‹ in der ›reinen Erinnerung‹ als eines freien und bewussten Akts, so ist es für Proust keine »Sache der freien Entschließung« (I, 609), dass Erlebtes in der Erinnerung zur Erfahrung wird, sondern dies geschieht ihm zufolge unwillkürlich. Er deutet die ›reine Erinnerung‹ Bergsons um zur unwillkürlichen Erinnerung (mémoire involontaire) im Unterschied zum willentlichen Gedächtnis (mémoire volontaire), das »sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet« (I, 609). Am Anfang seines Romanwerks setzt Proust diese beiden Formen der mémoire ins Verhältnis.10 Im Folgenden wird Prousts Unterscheidung von willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung näher ausgeführt (Abschnitt 1.2.1) und anschließend Benjamins Proust-Deutung im Kontext seiner These vom modernen Erfahrungsverfall geschildert (Abschnitt 1.2.2). 1.2.1 Willkürliches Gedächtnis und unwillkürliche Erinnerung Die Erinnerung ist in Prousts Roman ein zentrales Thema in Bezug auf die Selbsterkenntnis und den Entwicklungsgang des Protagonisten Marcel. Am Anfang des Romans befindet er sich in einem Zustand grundlegender Verlorenheit und Entfremdung von der Außenwelt und der eigenen Person gegenüber, die in ihrer Einheit zerstört ist. Dieser Auflösung seines Ich-Bewusstseins ist Marcel hilflos ausgeliefert, doch meint er durch den Rückgriff auf sein Gedächtnis eine Möglichkeit zu finden, seine Person durch Verinnerlichung neu zu begreifen und ihrer habhaft zu werden (vgl. Hölz 1972: 17f.). Doch auch im Bewusstsein eines dem Ich zugehörigen Gedächtnisinhalts findet Marcel noch nicht zu sich selbst, da die Bewusstseinsinhalte sich ihm nur als diskontinuierliche Folge darstellen, als bloße Aneinanderreihung von Augenblicken. Der Akt einer Gedächtnisleistung, der nur äußeres, faktisches Wissen bereitstellt, ist nicht geeignet, die angestrebte Verinnerlichung und Aneignung zu gewährleisten, da er nur ärmliche Bilder des Vergangenen liefert (vgl. I, 610).

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Zu Benjamins Verhältnis gegenüber Prousts Werk vgl. die Anmerkungen der Herausgeber zum Text Zum Bilde Prousts (II, 1044-1069).

10 Die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Erinnerung, die Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire erst an späterer Stelle explizit vornimmt, ist nicht vollständig mit der proustschen Unterscheidung zwischen mémoire involontaire und mémoire volontaire identisch. Es ist für das zu skizzierende Modell Benjamins jedoch plausibel, dass die proustschen Begriffe konsequent mit ›unwillkürliche Erinnerung‹ und ›willkürliches Gedächtnis‹ übersetzt werden.

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Das willkürliche Gedächtnis ist rational gesteuert, liefert aber kein wahres Bild des Vergangenen, sondern bloß eine registrierte Vergangenheit, die der Gegenwart des Erinnernden äußerlich bleibt. Es stellt zwar einen ›Speicher‹ bereit, auf den das Bewusstsein jederzeit Zugriff hat, die ›gespeicherten‹ Daten, diese unechten Bilder des Vergangenen, die das willkürliche Gedächtnis zurückrufen kann, sind aber nichtssagend für das Selbst (vgl. Weinrich 2005: 188; Proust 2004a: 65f.; T. Weber 2000: 238; Jauß 1986: 95). Die Erinnerung, die unwillkürlich aus dem Unbewussten bzw. dem Vergessenen aufsteigt, soll Marcel den Zugang zu seiner verlorenen Zeit ermöglichen und einen Weg zu einem neuen Dasein bereiten. Sie verfügt über die kreative Kraft, das Vergangene in der Gegenwart wiederherzustellen. Dabei geht es nicht um das objektive ›Abrufen‹ von vergangenen Ereignissen, sondern um einen imaginativen Bezug der eigenen Gegenwart zu dieser Vergangenheit. Das Vergangene selbst ist unwiederbringlich verloren und kann nie wieder als Kontinuum zurückgewonnen werden, sondern nur als Essenz der in der unwillkürlichen Erinnerung gewonnenen Augenblicke (vgl. Bohrer 2003: 12). Das Vergangene kann vom Verstand nicht wieder heraufbeschworen werden, da es sich außerhalb seines Machtbereichs befindet und für ihn unerkennbar in einem materiellen Gegenstand bzw. der Empfindung, die dieser Gegenstand auslöst, beschlossen liegt (vgl. Proust 2004a: 66). Die unwillkürliche Erinnerung entzieht sich dem bewussten Nachspüren: Das Vergangene inkarniert sich in materiellen, auf den ersten Blick bedeutungslosen Objekten, die in einem früheren Abschnitt des Lebens mit einem besonders konzentrierten Erlebnis verknüpft waren, und kann nur durch die zufällige Begegnung mit diesen Objekten in ihrer Einmaligkeit wieder erinnert werden. Diese Erlebnisse sind ursprünglich, zwingend und frisch, wie sie es bei der ersten Begegnung mit ihnen waren (vgl. Proust 1997: 9f.; Zapp 1962: 18). Doch selbst bei einer Begegnung mit den betreffenden Gegenständen ist die glückende Erinnerung nicht garantiert (vgl. Proust 1997: 13). Das erste Beispiel einer unwillkürlichen Erinnerung in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt Proust am Ende eines langen Auftakts des ersten Bandes des Romans, der von den misslungenen Versuchen Marcels erzählt, sein bisheriges Leben wiederzuerinnern. In der Episode, in der diese Versuche einen ersten Erfolg finden, wird die Erfahrung des unwillkürlichen Erinnerns durch den Duft einer teegetränkten Madeleine ausgelöst. Proust beschreibt, dass die durch den Geschmack des Gebäcks ausgelöste Empfindung zunächst in einem Glücksgefühl besteht, dessen Grund im Unbekannten bleibt (vgl. Proust 2004a: 67). In der Folge ist es für die glückende Erinnerung entscheidend, dass das Bewusstsein sie nicht in konzentrierter Anstrengung willentlich heraufzubeschwö-

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ren versucht – es ist vielmehr geboten, das Bewusstsein zu zerstreuen bzw. zu entleeren und an etwas anderes zu denken. Nur dann ist es möglich, dass sich etwas ›regt‹, etwas aus der Tiefe ›emporsteigt‹, von dem immer noch nicht genau gesagt werden kann, was es ist (vgl. ebd.: 68f.). Es ist die zum Geschmack der Madeleine gehörende visuelle Erinnerung, die Marcel in sich in Bewegung geraten fühlt, die jedoch nur fern und schwach erkennbar bleibt. Proust beschreibt, dass erst nach vielen wiederholten Versuchen die Erinnerung plötzlich mit einem Schlag auftaucht: Der vage vertraute Geschmack ist derjenige einer Madeleine, die seine Tante dem Protagonisten in seiner Kindheit sonntags vor dem Kirchgang anbot, nachdem sie sie in schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte (vgl. Warning 2012: 7). Der Anblick des Gebäcks sagt ihm nichts, bevor er davon kostet. Im Geschmack und Geruch war jedoch die Erinnerung unabhängig von jeder Zwischenzeit aufbewahrt (vgl. Proust 2004a: 69f.). Dieses zufällig auftretende Erlebnis eines in eine Tasse Tee getunkten Gebäcks bringt Marcel die verlorenen Erinnerungsbilder seiner Vergangenheit wieder, die er bislang vergeblich gesucht hat. Der aus der Kindheit vertraute Geruch verknüpft in Marcels Bewusstsein den aktuellen Augenblick mit der Vergangenheit und lässt ihn die vergangenen Ereignisse in zwingender Gegenwärtigkeit wiedererleben, sodass in der Erinnerung der kontinuierliche Lauf der Zeit durchbrochen wird (vgl. Jauß 1986: 103; Hölz 1972: 46). Im letzten Band von Prousts Roman erfährt Marcel eine ganze Reihe unwillkürlicher Erinnerungen. An einer zentralen Stelle erzählt Proust, wie Marcel beim Betreten von schlecht behauenen Pflastersteinen das gleiche Glücksgefühl erfährt wie in dem Augenblick, in dem er die Madeleine gekostet hat. Der Prozess des Erinnerns, in dem Marcel die heraufbeschworenen Bilder versucht zu sich vordringen zu lassen, vollzieht sich auf eine ähnliche Weise in einer bewussten Zerstreuung der Aufmerksamkeit auf die aktuelle Umgebung (vgl. Proust 2004b: 259). Er erfährt die Erinnerung ebenso wie in der Madeleine-Episode als Wiederauferstehung der verloren geglaubten Vergangenheit. Diese erscheint in Form von zeitenthobenen Präsenzen und Marcel glaubt, das Wesen der Dinge erkennen zu können. Am Ende des Romans deutet Marcel seine beglückenden Erinnerungen, deren Appellcharakter ihm zunächst rätselhaft geblieben war, als Berufung zum Schriftsteller, der seine verloren geglaubte Identität wiederzugewinnen hofft. Er kündigt an, seinen Lebensweg niederzuschreiben, den der Leser des Romans vom ersten Satz an mitverfolgt hat. Auf diese Weise kann er sein Leben gegen alle scheinbare Diskontinuität zur Geschichte einer Berufung totalisieren (vgl. Warning 2012: 8; Warning 1993: 163). In allen Beispielen unwillkürlicher Erinnerung in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spricht Proust den sogenannten niederen Sinnen, besonders dem

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Geruchs- und Geschmackssinn, allerdings auch den auditiven Sinneswahrnehmungen, dem kinästhetischen Sinn und dem Tastsinn, die höchste Fähigkeit zur Evokation von Erinnerungsbildern zu. Der Geruchs- und Geschmackssinn kommen in der Madeleine-Episode zum Tragen, der kinästhetische Sinn beim Betreten der Pflastersteine. Der Gehörsinn richtet sich hauptsächlich auf das Wörtergedächtnis und besonders auf Eigennamen. Der Tastsinn funktioniert etwa über bestimmte Lagen, die der Körper im Schlaf einnimmt und auf diese Weise im Traum oder beim Aufwachen Vergessenes ins Bewusstsein zurückruft. Alle beschriebenen Phänomene fügen sich bei Proust zu einem ›Gedächtnis des Leibes‹ zusammen, in dem unbewusst alles aufgehoben ist, was nur noch von den körpernahen, ›niederen‹ Sinnen erreicht werden kann, die wesentlich weiter als der Gesichtssinn in das Innere der Menschennatur hineinreichen. Proust befindet sich damit in Opposition zur Mnemotechnik, für die seit dem Altertum der Gesichtssinn als der oberste Sinn gilt, der der Vernunft am nächsten steht. Gedächtnisinhalte werden aus diesem Grund immer auch als Gedächtnisbilder betrachtet. Für die unwillkürliche Erinnerung Prousts hingegen sind die Augen nicht die bevorzugten Vermittler – mit dem Ausdruck ›Augengedächtnis‹ bezeichnet er vielmehr das willkürliche Gedächtnis (vgl. Weinrich 2005: 189ff.). Auch Benjamin betont die »besondere Zähigkeit […], mit der Erinnerungen im Geruchssinn […] bewahrt werden« (II, 323): »Der Geruch ist das unzugängliche Refugium der mémoire involontaire. […] Wenn dem Wiedererkennen eines Dufts vor jeder anderen Erinnerung das Vorrecht zu trösten eignet, so ist es vielleicht, weil diese das Bewußtsein des Zeitverlaufs tief betäubt. Ein Duft läßt Jahre in dem Dufte, den er erinnert, untergehen.« (I, 641) Der Gesichtssinn ist deshalb für diesen Zweck nicht besonders geeignet, weil er durch seine zu häufige Beanspruchung abgestumpft ist. Er gelangt meist nicht über ein bloßes Erfassen der Dinge hinaus und vermittelt bloß ein äußeres Bild ohne einen Bezug zu unbewussten Assoziationen. Die visuelle Wahrnehmung muss jedoch nicht zwangsläufig in einer solchen beobachtenden und registrierenden Bestandsaufnahme bestehen: Optischen Reizen können durchaus Vorstellungsinhalte anhaften, die mit dem Ich direkt verbunden sind (vgl. Hölz 1972: 48ff.). Die Impressionen der unwillkürlichen Erinnerung haben die Qualität einer authentischen Begegnung mit der eigenen Vergangenheit und ermöglichen so eine beglückende Ich-Erfahrung (vgl. ebd.: 55). Gerade ihre Unwillkürlichkeit macht für Proust ihre Authentizität aus: Das rein Willkürliche wird ausgeschlossen, das Erinnerte im wirksamen Abstand der Zeit von aller Kontingenz befreit und in dieser Weise die zeitlose Essenz oder Wahrheit der Dinge erschlossen (vgl. Jauß 1986: 95). Man sucht die Erinnerung nicht, doch die zufällige, unentrinnbare Weise, wie der Empfindung begegnet wird, bürgt für die Wahrheit der

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wiedererweckten Vergangenheit und der freigesetzten Bilder, da die Bewegung von ihnen auszugehen scheint (vgl. Proust 2004b: 276f.). Dadurch, dass sich das Erinnerungsbild als unwillkürliche Reaktion auf einen sinnlichen Eindruck einstellt, stehen Vorstellungsinhalt und sinnliche Wahrnehmung in Einklang, wirken Imagination und Wahrnehmung zusammen: Im Erinnerungsvorgang werden ferne Inhalte mit einem konkreten Wirklichkeitsgehalt versehen. Vermittelt durch die Wahrnehmung lassen die sinnlichen Gegenstände, mit denen sich ein bestimmter Eindruck verbindet, die unbewussten Bilder in der wahrnehmbaren Gegenwärtigkeit erscheinen. Das Wiedererinnern des Vergangenen ist nicht an einen Gegenstand aus früheren Zeiten gebunden, sondern an den sinnlichen Eindruck, den er bei einer früheren Begegnung im Gedächtnis hinterließ (vgl. Hölz 1972: 120f.). Prousts Beschreibung der unwillkürlichen Erinnerung verdeutlicht, dass es sich bei ihr nicht um das ›Abrufen‹ von Daten aus dem Gedächtnis handelt, sondern um ein Vermögen, durch das Vergangenes gegenwärtig wird. In der Erinnerung gehen Distanz und Nähe ein allen anderen Erfahrungen widersprechendes Verhältnis ein, da ein Bewusstsein der Vergangenheit im Erinnerungserlebnis in einem bildhaften Eindruck präsent ist, sodass die Gegenwart mit neuen Bildern erfüllt wird. Die Gehalte der unwillkürlichen Erinnerung sind nicht deshalb fern, weil eine quantitative zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegt – das Erinnerungserlebnis überbrückt noch so große Distanzen und vereint verschiedene Zeiträume in einem Augenblick –, sondern weil sie die vergangene Welt in einer Art und Weise darstellen, wie sie sich im ersten Erleben zeigte (vgl. ebd.: 150f.). In dieser Vergegenwärtigung der vergangenen Ereignisse wird das Leben als ein kontinuierlicher Verlauf von der Vergangenheit zur Gegenwart wahrgenommen (vgl. Ricœur 1989: 245; Hölz 1972: 155). Die unwillkürliche Erinnerung kann im Gegensatz zum willentlichen Gedächtnis das Vergangene nicht nur darstellen, sondern auch wiedergeben und zugleich auch die Distanz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem lebendig füllen (vgl. Jauß 1986: 107). Durch die Erfahrung des Erinnerns wird die Einheit der Person für Marcel nachträglich konstituiert. Das erinnernde Ich erkennt die Gemeinsamkeiten von vergangenem und gegenwärtigem Ich, die die Zeit überdauern und in der Gegenwart durch die Überwindung der zeitlichen Distanz wieder lebendig werden können, und eine beide umfassende essenzielle Einheit des Ich (vgl. Hölz 1972: 161). Marcel findet durch die aus der Ordnung der Zeit herausgehobene unwillkürliche Erinnerung und dadurch, dass ein gegenwärtiger Augenblick mit einem vergangenen identisch ist, nicht bloß sein vergangenes Ich wieder, sondern eine die Zeit überdauernde Ich-Essenz (vgl. Proust 2004b: 267; Jauß 1986: 108). Diese Essenz ist nicht bloß als Bewusstseinsinhalt zu verstehen,

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sondern Marcel ist sie selbst, weil eine verlorene Vergangenheit in ihr wiedererstanden ist und in neuer Aktualität erscheint (vgl. Jauß 1986: 104). Mit dem Finden der Ich-Essenz in der unwillkürlichen Erinnerung wird ein starkes Glücksgefühl ausgelöst. Diese Glückserfahrung ist für Marcel wesentlich darin begründet, dass in der unwillkürlichen Erinnerung ein eigentlich Abwesendes, ein bloß Vorgestelltes plötzlich anwesend und wirklich ist (vgl. Warning 1988: 441). Die Glückserfahrung deutet er in der Weise, dass die Erinnerung nicht bloß die Zeit, sondern mit ihr auch den Tod besiegt hat (vgl. Weinrich 2005: 189): »Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit befreiten Menschen erschaffen.« Für diesen Menschen hat »das Wort Tod keinen Sinn […]; was könnte er, der Zeit enthoben, von der Zukunft fürchten?« (Proust 2004b: 267f.) Die das Glück auslösenden Eindrücke haben gemeinsam, dass sie zugleich dem gegenwärtigen und einem entfernten Augenblick angehören, sodass die Vergangenheit auf die Gegenwart übergreift. Das Glück wird durch die Gemeinsamkeit von vergangenem und gegenwärtigem Zeitpunkt erfahren – die Erfahrung eines Außerzeitlichen, in dem sich die Essenz der Dinge offenbart und die Sorgen um den Tod ein Ende finden. Dieses Außerzeitliche kann nur außerhalb des Handelns und unmittelbaren Genießens in einer unwillkürlichen Erinnerung erfahren werden (vgl. ebd.: 265). In der Erinnerung befindet sich das Subjekt zugleich in einem vergangenen und in einem gegenwärtigen Augenblick und insofern außerhalb der linearen und irreversiblen Ordnung der Zeit, aber doch in der Immanenz der Zeit. Die Erfahrung des wirklichen Ich durch die Erfahrung der Essenz der Dinge ist nur durch das Wirken der Zeit möglich, da sich Vorstellung und Wahrnehmung erst dann nicht mehr ausschließen, wenn ihr Objekt zugleich in der Vergangenheit und in der Gegenwart ist (vgl. Jauß 1986: 254). Die Kontinuität der Erfahrung beruht in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auf der Kontingenz eines Weges und dem Zufall der unwillkürlichen Erinnerung (vgl. ebd.: 197f.). Diese Kontinuität ist nicht zu verwechseln mit dem bergsonschen Lebensstrom, der die verschiedenen Lebensepochen auf einer rein qualitativen Ebene einander angleicht; die Vergangenheit ist als erinnerte gegenwärtig und bleibt dennoch als vergangene gekennzeichnet. Es handelt sich lediglich um eine die Zeit in quantitativer Hinsicht überbrückende Wiedererweckung des Vergangenen (vgl. Hölz 1972: 156). Durch sie, die zwar unreflektiert ausgelöst wird, im Übrigen aber ein reflexiver Akt ist, der sich auf die eigene Vergangenheit richtet, wird eine retrospektive Einheit konstituiert. Die Ereignisse fallen als Erinnerungsbilder aus der Chronologie der Zeit heraus und die Zeit erweist sich im Gegensatz zur bergsonschen ›Dauer‹ als heterogene Folge von Zeitato-

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men, in der das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige nicht miteinander kommunizieren (vgl. Jauß 1986: 132). Die Identität zwischen dem vergangenen und dem gegenwärtigen Ich in der Erinnerung setzt zwar eine Kontinuität der inneren Zeit voraus, diese Zeit hat jedoch im Unterschied zur bergsonschen ›Dauer‹ wiederum die beständige Bewegung des Bewusstseins zur Voraussetzung und kann erst in einem retrospektiven Akt der Selbstfindung des Ichs erkannt werden (vgl. ebd.: 279). Während es bei Bergson immer dasselbe Ich ist, das sich als Einheit seiner heterogenen Zustände erkennt, gibt es dieses bergsonsche Subjekt bei Proust nicht, sondern, wie Giorgio Agamben ausführt, »nur ein unendliches Treiben und das zufällige Auffinden von Gegenständen und Empfindungen. Es ist das jeglicher Erfahrung enteignete Subjekt, das hier vorgeführt wird.« (Agamben 2004: 63) Neben der Überführung von Kontingenz in identitätsstiftende Kontinuität durch die unwillkürliche Erinnerung kennt Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auch die Erfahrung einer Diskontinuität, die nicht in Kontinuität überführt wird, eine Pluralität nichtsynthetisierter Bilder und eine Suche ohne das glückliche Finden: Das Subjekt erfährt sich in diesem Fall gerade in der Erinnerung als diskontinuierlich (vgl. Warning 1993: 161, 170). Überhaupt lässt sich bei Proust ein Spannungsverhältnis ausmachen zwischen der Erfahrung, die das Leben lebenswert macht, und dem kohärenten Verlauf dieses Lebens, da der Zugang zur Erfahrung mit der Zeit bricht, indem er auf ihren Ewigkeitswert abzielt (vgl. Thomä 1998: 211). Dennoch steht in der übergeordneten Erzählung seines Romans eine Zeiterfahrung im Vordergrund, die unter der erlebten und erinnerten Diskontinuität die Kontinuität von Marcels Berufungsgeschichte zum Vorschein bringt (vgl. Warning 2000: 84; Jauß 1986: 132). Das Wiedererkennen eines Vergangenen in der unwillkürlichen Erinnerung befähigt zur Konstruktion lebensgeschichtlicher Kontinuität. Auf der anderen Seite lässt sich die existenzielle Diskontinuität und die Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung ebensowenig leugnen, sodass die kontinuierliche Lebensgeschichte nicht in der Vergangenheit des Subjekts vorgegeben ist, sondern immer wieder neu entworfen werden muss. Aufgabe des Erinnerns als Wiedererkennen von Sinneseindrücken ist in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Mannigfaltigkeit des Lebens zu betonen, dessen fehlende Einheit der Protagonist anfangs bedauert. Am Ende wird der Beweis für die eigene dauerhafte Identität durch die Erinnerung gerade aufgrund dieser Verschiedenheit erbracht. Sie wird von der Mannigfaltigkeit des Lebens nicht verdeckt, sondern sie besteht gerade darin, wie das Leben erlebt wurde. Die Unverfügbarkeit und Zufälligkeit des Erinnerns zeigt einen Wechsel von Erinnern und Vergessen und eine Verbindung des Erinnerns mit dem Unbewussten an: Die Erinnerung bewahrt für das Subjekt unbe-

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wusst mehr als ein einfaches Bild der äußeren Welt auf (vgl. Henry 2009: 239f.). Diese Überlegungen werden im Abschnitt II.1.3.3 und im zweiten Kapitel dieses Teils wieder aufgegriffen. 1.2.2 Proust und die These vom modernen Erfahrungsverfall Bei Bergson wird das Gedächtnis als die Summe der gemachten Erfahrungen gedacht, die im Prinzip zugänglich und verfügbar sein sollen. Proust setzt sich deutlich von Bergsons Erfahrungsbegriff ab, da er Erfahrung als kognitiven Aneignungsprozess des kontemplativen Gedächtnisses versteht (vgl. Finkelde 2003: 39). Benjamin macht sich diese Kritik Prousts an Bergson zu eigen. Er gibt zwar das bergsonsche Anliegen einer Rettung der ›wahren‹ Erfahrung nicht gänzlich auf, möchte aber mit Proust und seiner Umformulierung der ›reinen Erinnerung‹ als unwillkürlicher Erinnerung zeigen, dass Erinnerung, die mit identitätsrelevanter Erfahrung verknüpft ist, sich nicht intentional herstellen lässt. Erfahrung ist nicht ›abrufbar‹, sondern unterliegt dem Gesetz der unwillkürlichen Erinnerung (vgl. Schmider/Werner 2011: 575f.; Zumbusch 2004: 109). Für Benjamin ist zunächst vor allem wichtig, dass die unwillkürliche Erinnerung die Kontrolle durch den Willen unterläuft: »Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann.« (I, 610) Es sind oft die unscheinbaren und leicht zu übersehenden Dinge, Haltungen oder Gesten, die von Bedeutung sind, weshalb das Subjekt sie oft gar nicht wahrnimmt und dadurch bestimmte Episoden der eigenen Vergangenheit vergisst (vgl. Hölz 1972: 217). Ein materielles Objekt ist die Vermittlungsinstanz, durch die das Erinnern zufällig ausgelöst und eine vergangene Episode aus dem Bereich des Vergessenen wieder in das Bewusstsein geholt wird. Erinnern realisiert sich erst dann, wenn die Konzentration auf das Bewusstsein nachlässt, weshalb das registrierende Gedächtnis mit seinem informativen, aber verarmten Gehalt das unwillkürliche Erinnern blockiert. Deshalb kann es sehr lange dauern, bis Erinnerungen wiederkehren – falls sie überhaupt jemals wiederkehren (vgl. Weinrich 2005: 189). Der Zeitraum zwischen dem vergangenen Ereignis und dem Augenblick des Erinnerns wird jedoch nicht als ›Dauer‹ im Sinne Bergsons erfahren, sondern bleibt in seiner zeitlichen Erstreckung unbewusst. Der zeitliche Ablauf von Eindrücken erscheint bei Proust im Bild einander überlagernder Schichten. Eindrücke werden durch spätere verdeckt und vergessen, jedoch nicht gänzlich verloren, sondern in einer tieferen Schicht bewahrt, aus der sich später die Erinnerung speisen kann (vgl. Warning 1993: 162).

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In der unwillkürlichen Erinnerung werden Gedächtnisinhalte im Subjekt gegenwärtig und erhalten eine aktuelle Bedeutung – im Gegensatz zum willkürlichen ›Abruf‹ von Gedächtnisinhalten, dem als Erfahrungsform das ›Erlebnis‹ entspricht, als dessen ›Komplement‹ Benjamin zufolge das ›Andenken‹ fungiert: »In ihm hat die zunehmende Selbstentfremdung des Menschen, der seine Vergangenheit als tote Habe inventarisiert, sich niedergeschlagen.« (I, 681) Dem willkürlichen Gedächtnis geht es mehr um das ›gehabt haben‹ als um das eigentliche Erinnerungsobjekt (vgl. Schmider/Werner 2011: 576).11 Das Erinnern als Bewusstseinsakt ist demgegenüber eine überaus komplexe Operation und gründet einerseits darin, dass ein jeweiliger Augenblick nicht bloß ein Datum auf einer Zeitskala ist, sondern in vielfältige materielle und virtuelle Kontexte eingebunden ist (vgl. Proust 2004b: 292). Zum anderen liegt ihm eine Subjektivität zugrunde, die voller unbewusster Vorstellungen und Assoziationen steckt. Die proustsche unwillkürliche Erinnerung ist eine komplizierte Reflexionsstruktur, die nicht nur unbewusst vergessene, sondern auch unbewusst erlebte Erfahrungen wachruft (vgl. Raulet 2004: 158). Es handelt sich bei ihr um eine Erinnerung an vor der Erfahrung des Erinnerns nicht gesehene Bilder (vgl. II, 1064).12 Im Zusammenhang mit Benjamins Untersuchung des modernen Erfahrungsverfalls als der eines epochalen Prozesses, in dessen Folge die ›äußeren Anliegen‹ der Menschen immer weniger die Chance erhalten, der Erfahrung des einzelnen Menschen ›assimiliert‹ zu werden (vgl. I, 610; T. Weber 2000: 242), übernimmt Proust wie auch Bergson zunächst die Rolle, die Symptome dieses Prozesses zu illustrieren. Prousts Darstellung seiner Kindheit und sein Begriff der unwillkürlichen Erinnerung sind eine rein private Angelegenheit, da die Er-

11 Benjamin verdeutlicht diese Aussage in einem Brief an Adorno vom 07.05.1940 mit einer Erinnerung aus seiner Kindheit. Sein Bruder pflegte nach Spaziergängen mit den Eltern zu sagen: »›Da wären wir nun gewesen.‹« Benjamin erblickt hier die »Wurzel meiner ›Theorie der Erfahrung‹« (Adorno/Benjamin 1994: 424f.). 12 Benjamin vergleicht die nie zuvor gesehenen Bilder von sich selbst mit kleinen Bildern, die Zigarettenpäckchen beigegeben sind und aus denen sich das ›ganze Leben‹ zusammensetzt: »Sie stellen einen schnellen Ablauf dar wie jene Hefte, die Vorläufer des Kinematographen, auf denen wir als Kinder einen Boxer, einen Schwimmer oder Tennisspieler bei seinen Künsten bewundern konnten.« (II, 1064) Die Analogie von ›Zigarettenbildchen‹ und den verwandten Bildern des Daumenkinos zu ›unseren tiefsten Augenblicken‹ zeigt den Gegensatz des von Benjamin übernommenen proustschen Modells zur bergsonschen ›Dauer‹ in aller Deutlichkeit: Für Bergson war der Film als räumlich-diskontinuierliche Bilderfolge gerade ungeeignet, die lebendige Kontinuität der ›Dauer‹ darzustellen (vgl. Link/Link-Heer 2003: 22f.).

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innerung erst durch eine zufällige Evokation möglich wird: Die »inneren Anliegen des Menschen« erhalten einen »ausweglos privaten Charakter« (I, 610). Dieser proustsche Zufall drückt für Benjamin das Risiko eines endgültigen Erfahrungsverfalls aus. Er sieht hierin einen Abstraktionsprozess durch die Auflösung der Verbindung der individuellen Erfahrung zu kollektiven Gedächtnisinhalten. Benjamin macht jedoch die Verbindung des Einzelnen mit gewissen Inhalten der kollektiven Vergangenheit, die dem Einzelnen nicht zum willentlichen und bewussten Zugriff zur Verfügung stehen, zur Bedingung einer ›Erfahrung im strikten Sinn‹: »Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.« (I, 611) Der Begriff der unwillkürlichen Erinnerung verdeutlicht die soziale Vereinzelung: »Er gehört zum Inventar der vielfältig isolierten Privatperson.« (I, 611) Dies hat zur Folge, dass der Gegensatz von willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung bei Proust ein ausschließlicher wird und der kollektive Sinn, wenn er überhaupt noch überlebt, in den unbewussten Schichten des Gedächtnisses verschüttet ist: »Sie [die Erfahrung] bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen.« (I, 608; vgl. Raulet 2004: 153) Wird die erinnernde Selbstreflexion bei Proust allein von Kontingenzerfahrungen abhängig gemacht, so wird daran symptomatisch deutlich, wie fragwürdig die identitätsstiftende Kraft der Erinnerung bereits für ihn geworden ist (vgl. Warning 1988: 442). Benjamin macht deutlich, dass Erinnern nicht rein zufällig geschehen soll, da dies einer Auslieferung an das Schicksal gleichkäme. Es gilt vielmehr zu versuchen, Situationen herzustellen, in denen Erinnerungen spontan auftauchen können. Wie bereits auf Bergson nimmt Benjamin auch auf Proust äußerst selektiv Bezug, um seine Argumentation strategisch zu stützen. Die binäre Opposition von willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung wird in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit selbst immer wieder unterlaufen und zwischen den beiden Formen der mémoire bestehen fließende Übergänge. Die ›Suche‹ ist für Proust eine Mischform aus willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung (vgl. Kasper 2003: 39), die von öffentlichen Ereignissen wie der Dreyfuß-Affaire durchzogen ist (vgl. Bock 2010: 36). Als Hinweis darauf, wie Benjamin sich die unwillkürliche Erinnerung als nicht rein zufällige und private Angelegenheit denkt, lässt sich das Fest als Wiederbelebung vergangener Ereignisse betrachten, das er als Beispiel einer leibhaft-kollektiven Erinnerung immer wieder anführt. Feste, die kalendarisch wiederkehren, ermöglichen eine praktizierte intersubjektive Erinnerung, die nicht

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spontan stattfindet (vgl. Weidmann 1992: 67). In dem Maße, wie ihre Vergegenwärtigung willkürlich zu sein scheint, rufen sie dennoch mehr hervor, als auf dem Kalender steht: »Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten und blieben Handhaben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit.« (I, 611; vgl. Raulet 2004: 156) Deren Konjunktion ist eine Bedingung für die Möglichkeit echter historischer Erfahrung, denn das willkürliche Gedächtnis repräsentiert für sich genommen einen bloß leeren Zeitverlauf, während die unwillkürliche Erinnerung jeden Zeitverlauf überspringt (vgl. T. Weber 2000: 241). In Kalendern ist ein Modell der Konjunktion beider gegeben, da sie die »Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität« vereinen und »mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens gleichsam aussparen« (I, 642f.). In Festen und Kulten verbinden sich Benjamin zufolge willkürliche Gedächtnisleistung und unwillkürliche Erinnerung, da sie zu bestimmten festgelegten Terminen zelebriert werden und die unwillkürliche Erinnerung in diesem kulturellen Rahmen gewissermaßen willkürlich provozieren, indem sie ein zeitlich Fernes zum Gegenstand erinnernder Reflexion machen. Sie bemühen sich gezielt um Hinweisreize, die das Erinnern planvoll erleichtern können, und verbinden in dieser Weise das Bewusstsein mit dem Unbewussten und die individuelle Erinnerung mit kollektiven Erinnerungsgehalten. Sie ermöglichen die »Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses« (I, 611; vgl. Hillach 1980: 113). Es ist dabei offensichtlich, dass Benjamin nicht offizielle Gedenktage im Sinn hat, an denen ein Staat sich öffentlich darstellt. Diese dienen zur legitimatorischen Geschichtspolitik, zur Sinnstiftung in der kollektiven Kultur eines Staates. Benjamins Gedanke in Bezug auf die Gedenktage ist lediglich, dass sie sich aus dem Fluss der Zeit herausheben und Raum zum Nachlassen der instrumentellen Aufmerksamkeit bieten können. Erfahrung hängt für Benjamin also in gewisser Weise mit Formen von ritualisierten Handlungen zusammen und die unwillkürliche Erinnerung kann geplant, aber nicht willentlich konstruiert werden. Benjamins Denkbild Ausgraben und Erinnern (IV, 400f.; VI, 486f.) charakterisiert die Erinnerung ebenfalls als eine Mischung aus willkürlichen und unwillkürlichen Momenten. Zunächst kommt im Vergleich von Erinnerungsarbeit und archäologischer Grabung die Auffassung von der konstruktiven Funktion des Erinnerns zum Ausdruck. Benjamin geht davon aus, dass das »Gedächtnis« nicht als »Instrument zur Erkundung der Vergangenheit«, sondern als »deren Schauplatz« bzw. »das Medium des Erlebten« aufzufassen ist, das der genauen Untersuchung durch den Erinnernden ebenso bedarf wie die Untersuchung des ›Erdreichs‹, »in dem die toten Städte verschüttet liegen«, durch den Archäologen (VI, 486; vgl. IV, 400).

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Die »Haltung echter Erinnerungen« zeichnet sich dadurch aus, dass derjenige, der »sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet«, sich verhalten muss »wie ein Mann, der gräbt«: »Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.« Der erfolgreichen ›Grabung‹ liegt Benjamin zufolge ein ›Plan‹ zugrunde, doch ebenso »der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich« (VI, 486; vgl. IV, 400; Schöttker 2000: 265ff.). Die durch die Erinnerung gefundene Vergangenheit existiert nicht als isolierter Gegenstand und wird dann in der Erinnerung abgebildet, sondern sie bedarf der Vervollständigung durch die Erinnerung. Die Erinnerung erscheint somit als ursprünglicher als die Vergangenheit, da sie erst den Sinn dessen stiftet, was sie als Vergangenes konstituiert (vgl. Finkelde 2003: 150f.).13 Das Denkbild betont den performativen Charakter von Gedächtnis und Erinnerung, dem für Benjamins Konzept von Identität eine entscheidende Bedeutung zukommt: Bei der Erinnerung kommt es nicht nur auf das »Inventar der Funde« (VI, 486; vgl. IV, 400) an, sondern vor allem auf das Erinnern selbst, das »vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche« (VI, 487). Die Metapher der archäologischen Grabung verdeutlicht die Diskontinuität und Unvollständigkeit der Erinnerung »und daher muß die Erinnerung nicht erzählend, noch viel

13 Im Denkbild kommt eine räumliche Vorstellung vom Gedächtnis zum Tragen, derzufolge die Erinnerungen zwar im Gedächtnis eine Einheit bilden, aber ihre jeweilige Eigenart behalten. Auch bei Proust finden sich entsprechende Umschreibungen: Das Gedächtnis wird etwa als das Magazin einer Bibliothek oder als Felsblock vorgestellt, in dem sich im Laufe der Jahre Erinnerungen als Schichten abgelagert haben. Dieser Prozess hat zur Folge, dass die eigene Person im Rückblick nicht als Einheit wahrgenommen wird, da die einzelnen Schichten sich stark voneinander unterscheiden und zu den jeweils vorangehenden und nachfolgenden keine Beziehung haben. Den maßgeblichen Unterschied zwischen geologischen Schichten und dem Gedächtnis bildet jedoch die Möglichkeit der Umwälzung, durch die frühe und längst vergessene Erinnerungen wieder an die Oberfläche des Bewusstseins aufsteigen können, indem sie alle über ihnen liegenden Schichten durchqueren, ohne sich dabei zu verändern (vgl. Gülich 1965: 51ff.). Das Vergessen zerstört die Erinnerungen dieser Vorstellung zufolge nicht, sondern umhüllt sie schützend und bewahrt sie. Nur unter der Voraussetzung eines solchen bewahrenden Vergessens kann ihre ›Auferstehung‹, wie Proust sie nennt, möglich werden (vgl. Warning 1993: 162; vgl. Abschnitt II.2.1).

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weniger berichtend vorgehn sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versuchen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend« (VI, 487; vgl. IV, 400f.). Das Gedächtnis, so lässt sich aus diesen Überlegungen folgern, ist kein ›Speicher‹, über den der Erinnernde nach Belieben verfügen kann, um Vergangenes in Erinnerung zu rufen. Es ist vielmehr das Medium, in dem Erinnern und Vergessen stattfinden (vgl. Borsò 2001: 48). Der Begriff ›Medium‹ drückt an dieser Stelle aus, dass das Gedächtnis beide Aspekte, die aktive Rekonstruktion wie das passive Ausgeliefertsein, in sich birgt (vgl. A. Assmann 2009: 164): Hinsichtlich ihrer Auslösung ist die unwillkürliche Erinnerung unreflektiert, in der Folge jedoch ein reflexiver Akt, der sich auf die eigene Vergangenheit richtet. Erinnern ist somit nicht bloß ein passives Empfangen, sondern auch ein aktives Suchen (vgl. Ricœur 2004: 95; Jauß 1986: 253f.).

1.3 S IGMUND F REUDS M ODELL DES PSYCHISCHEN APPARATS Zur weiteren Historisierung des Zusammenhangs von Gedächtnis, Erinnerung und Erfahrung wird nun Benjamins Konzeption der modernen entfremdeten Zeiterfahrung in Bezug auf das Modell des psychischen Apparats aus Sigmund Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips, ergänzt durch Überlegungen Theodor Reiks, bewusstseinstheoretisch fundiert. Benjamin zieht diesen Text heran, da er »eine Korrelation zwischen dem Gedächtnis (im Sinne der mémoire involontaire) und dem Bewußtsein aufstellt« (I, 612). Freud, auf den Benjamin sich in Über einige Motive bei Baudelaire erstmals explizit bezieht, dessen Analogie von Psychoanalytiker und Ausgräber jedoch bereits dem Denkbild Ausgraben und Erinnern zugrunde lag14, differenziert den psychischen Apparat in zwei Systeme: erstens das Bewusstsein und zweitens das Gedächtnis, in dem sich soge-

14 Freud hat die Arbeit des Psychoanalytikers bereits in der 1937 erschienenen Arbeit Konstruktionen in der Analyse mit der des Archäologen verglichen, der zerstörte und verschüttete Spuren des Vergangenen ausgräbt und anhand ihrer das Frühere rekonstruiert. Auch der Analytiker zieht aus unvollständigen Resten, nämlich ›Erinnerungsbrocken‹, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysanden seine Schlüsse in Bezug auf die Vergangenheit. Beide sind dabei zum Zweck der Rekonstruktion auf ein gewisses Maß an Interpretation durch Ergänzungen und Zusammenfügungen der erhaltenen Reste angewiesen (vgl. Freud 1975c: 396f.).

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nannte ›Erinnerungsspuren‹ ablagern.15 Das System ›Wahrnehmungs-Bewusstsein‹ registriert Wahrnehmungen, ohne Spuren von ihnen zu bewahren, das ›Erinnerungssystem‹ liegt dahinter und bewahrt Spuren der Wahrnehmungen. In diesem Modell und bei daran anschließenden Überlegungen von Freuds Schüler Theodor Reik findet Benjamin eine Bekräftigung der proustschen Unterscheidung zwischen willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung und zugleich die Spur einer »gehaltvolleren Bestimmung dessen, was als Abfallprodukt der Bergsonschen Theorie« (I, 612) in der von Proust vernachlässigten Seite des willkürlichen Gedächtnisses erscheint. Für Benjamin macht dieser Rückgriff auf Freud mit der Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Gedächtnis, kombiniert mit derjenigen zwischen Erfahrung und Schockerlebnis, einen wichtigen Teil des theoretischen Gesamtkonzepts in Über einige Motive bei Baudelaire aus. Ein wesentlicher Bestandteil von Freuds Modell besteht in der Vorstellung eines Reizschutzes, der die Funktion besitzt, den Organismus gegen äußere Reize zu schützen, die ihn durch ihre Vielzahl und Intensität bedrohen. Dieser Reizschutz ist dem Bewusstsein vorgelagert und beschränkt die Wahrnehmung auf eine fokussierte Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein verarbeitet dadurch viele Eindrücke nicht direkt, sondern leitet sie partiell an die unbewussten Teile des menschlichen Organismusʼ weiter. Diesen Gedanken Freuds verbindet Benjamin mit Prousts Konzeption, um das unbewusst im Gedächtnis Bewahrte zu erklären, auf das die unwillkürliche Erinnerung zurückgreift. Im Folgenden wird Freuds Konzeption aus Jenseits des Lustprinzips weiter ausgeführt (Abschnitt 1.3.1), dann Theodor Reiks ergänzende Ausführungen geschildert (Abschnitt 1.3.2) und anschließend das Modell des Zusammenhangs von Gedächtnis und Bewusstsein auf Prousts Konzeption von willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung zurückbezogen (Abschnitt 1.3.3). 1.3.1 Bewusstsein und Gedächtnis Freud konstruiert sein topisches Modell des lebenden Organismusʼ »als undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz« (Freud 1975a: 236), das aus verschiedenen Systemen zusammengesetzt ist, die jeweils spezifische Funktionen haben

15 Den Begriff der ›Erinnerungsspur‹ führt Freud in der Traumdeutung ein, wenn er die Kodierung von Wahrnehmungs- zu Gedächtnisinhalten beschreibt: »Von den Wahrnehmungen, die an uns herankommen, verbleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir ›Erinnerungsspur‹ heißen können.« ›Gedächtnis‹ nennt Freud die »Funktion, die sich auf diese Erinnerungsspur bezieht« (Freud 1972: 514).

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und in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet sind. Sie können metaphorisch als psychische Orte betrachtet werden, denen man eine räumliche Vorstellung verleihen kann (vgl. Laplanche/Pontalis 1982b: 503).16 Der Ausdruck ›System‹ meint kein Organ oder ein physiologisches Substrat, sondern die Form der Organisation psychischer Funktionen. In dieser Weise ist auch das Gedächtnis für Freud eine Funktion (vgl. Quindeau 2005: 40). Das Bewusstsein (das System ›Bw‹) und mit ihm die Wahrnehmung (das System ›W‹) liefert im Wesentlichen Wahrnehmungen äußerer Erregungen sowie innere Empfindungen von Lust und Unlust, weshalb es Freud zufolge an der Außenseite des ›Bläschens‹, an der Grenze von außen und innen, liegen muss (vgl. Freud 1975a: 234). Freud geht davon aus, dass Psychisches nicht auf das Bewusste reduzierbar ist und gewisse Inhalte dem Bewusstsein erst dann zugänglich werden können, wenn Widerstände überwunden wurden. Das psychische Leben ist außerdem von wirksamen, aber unbewussten Gedanken erfüllt. Unter dem System ›W-Bw‹ liegt das ›Vorbewusste‹ (das System ›Vbw‹), das bewusstseinsfähige, aber nicht aktuell bewusste Vorstellungen enthält. Noch tiefer liegt das ›Unbewusste‹ (das System ›Ubw‹), das von Inhalten gebildet wird, denen der Zugang zum System ›Vorbewusst-Bewusst‹ durch den Vorgang der Verdrängung verwehrt ist (vgl. Laplanche/Pontalis 1982b: 562, 612f.). Im Kontext der Rekonstruktion von Benjamins Modell menschlicher Identität wird die Unterscheidung zwischen Unbewusstem und Vorbewusstem im strengen Sinn und die freudsche Theorie der Verdrängung vernachlässigt. Der Ausdruck ›unbewusst‹ wird relativ unspezifisch verwendet, um alle Inhalte zu bezeichnen, die im aktuellen Bewusstsein nicht gegenwärtig sind. In Bezug auf das erfahrungskonstituierende Erinnern im Sinne Prousts ließe sich das Vergessene, das unwillkürlich wiedererinnert wird, in Freuds Terminologie als ›vorbewusst‹ bezeichnen. An dieser Stelle ist jedoch lediglich entscheidend, das Vergessene als ein Nicht-Bewusstes zu verstehen: als ein ehemals Bewusstes, das vergessen wurde. Es ist nicht mehr bewusst, aber es ist durch dieses Vergessen nicht aus der Welt: Es bildet eine ›latente‹ Schicht des Gedächtnisses und kann potenziell wiedererinnert werden (vgl. Weinrich 2005: 171).

16 In Bezug auf das Gesamtwerk Freuds wird üblicherweise zwischen zwei topischen Modellen unterschieden. Das erste, das Freud im VII. Kapitel der Traumdeutung einführt und in den metapsychologischen Schriften von 1915 weiterentwickelt, ist für Benjamins Konzeption in Über einige Motive bei Baudelaire maßgeblich. Die wesentliche Unterscheidung liegt zwischen den Instanzen ›Unbewusst‹, ›Vorbewusst‹ und ›Bewusst‹. Das zweite Modell Freuds unterscheidet zwischen den Instanzen ›Es‹, ›Ich‹ und ›Über-Ich‹ (vgl. Laplanche/Pontalis 1982b: 503).

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Freud nimmt an, dass die äußere Lage es dem Bewusstsein ermöglicht, Reize abzufangen und die Erregungen ins Innere weiterzuleiten. Dort kommt es zur Bahnung von Dauerspuren, im Bewusstsein bleibt jedoch keine Erinnerungsspur zurück. Die durch Erregungsvorgänge hinterlassenen Dauerspuren bilden die Grundlage des Gedächtnisses. Dauerspuren sind »oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist« (Freud 1975a: 235). Dass Dauerspuren im Bewusstsein nicht zustande kommen begründet Freud damit, dass das Bewusstsein von ihnen die Fähigkeit des Systems zur Aufnahme neuer Reize einschränken würde. Freud schließt aus dieser Annahme, dass »Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind« (ebd.). Das Bewusstsein unterscheidet sich von den anderen beiden Systemen des Apparats, dem Vorbewussten und dem Unbewussten, dadurch, dass der Erregungsvorgang in ihm keine dauerhaften Veränderungen hinterlässt, »sondern gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft« (ebd.). Die Spuren, auf die sich die Erinnerung bezieht, kommen zustande, indem die Erregungen in die nächsten inneren Systeme weitergeleitet werden. Hieraus schließt Freud, »das Bewußtsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur« (ebd.), was auch von Benjamin als die zentrale These zitiert wird.17 Das Bewusstseinssystem empfängt Reize aus zwei Quellen: von der Außenwelt und aus dem Inneren des psychischen Apparats. Für Benjamins Ausführungen in Über einige Motive bei Baudelaire ist an Freuds Modell vor allem der Gedanke entscheidend, dass der Organismus eines Reizschutzes bedarf, um nicht von den starken Reizwirkungen der Außenwelt überwältigt zu werden. Freud zufolge ist der primäre Reizschutz an der äußersten Oberfläche des psychischen Apparats, noch über dem System ›W-Bw‹, angesiedelt und hat die Aufgabe, die Quantität der von außen kommenden Erregungen zu reduzieren (vgl. ebd.: 237). Durch den beständigen »Anprall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens« bildet sich »eine Rinde, die endlich durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt und einer weiteren Modifikation nicht fähig ist« (ebd.: 236). Der Reizschutz ist demnach »gewissermaßen anorganisch« geworden und wirkt als schützende Hülle reizabwehrend, was bedeutet, dass »die Energien der Außenwelt sich nun mit einem Bruchteil ihrer Intensität auf die nächsten, lebend gebliebenen Schichten fortsetzen können« (ebd.: 237). Diese hinter dem Reizschutz gelegenen

17 Benjamin zitiert die Stelle in abgewandelter Form: »›das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur‹« (I, 612). Sigrid Weigel nimmt an, dass Benjamin aus seinen eigenen Notizen einer früheren Lektüre zitiert (vgl. Weigel 1997: 37).

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Schichten, zuerst das System ›W-Bw‹, sind nun in der Lage, sich der Aufnahme der verminderten Reizmengen zu widmen. Der Reizschutz, der mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet ist, ist Freud zufolge für den Organismus beinahe wichtiger als die Reizaufnahme. Diese äußere abgestorbene Schicht schützt die tieferen Schichten so lange, bis Reize von solcher Stärke herankommen, dass sie den Reizschutz durchbrechen (vgl. ebd.). Reize, die den Reizschutz durchbrechen, stellen den psychischen Apparat vor die Aufgabe, »die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden, um sie dann der Erledigung zuzuführen« (ebd.: 239): »Von allen Seiten her wird die Besetzungsenergie aufgeboten, um in der Umgebung der Einbruchstelle entsprechend hohe Energiebesetzungen zu schaffen. Es wird eine großartige ›Gegenbesetzung‹ hergestellt, zu deren Gunsten alle anderen psychischen Systeme verarmen« (ebd.: 240). Freud zieht aus diesen Überlegungen den Schluss, dass auch ein selbst hochbesetztes System dazu imstande ist, hinzukommende Energie aufzunehmen und sie in ruhende Besetzung umzuwandeln: sie psychisch zu binden. Die bindende Kraft eines Systems ergibt sich aus der eigenen ruhenden Besetzung. Besitzt ein System selbst eine niedrige Besetzung, so ist es auch weniger zur Aufnahme zuströmender Energie befähigt und ein Durchbruch des Reizschutzes zieht gewaltsame Folgen nach sich (vgl. ebd.). Der psychische Apparat ist demzufolge in zweifacher Weise gegen einen überfordernden Einbruch geschützt: Durch den vorgelagerten anorganischen Reizschutz und durch die ruhende Besetzung der einzelnen Systeme, die nach Freud durch Angstbereitschaft erhöht werden kann: Das System ›W-Bw‹ ist dafür zuständig, im Falle einer Gefahr für den Organismus die Reizaufnahme durch vorgängige Angstentwicklung zu organisieren, d.h. die Gefahr zu erwarten und auf sie vorzubereiten (vgl. ebd.: 222). Das Bewusstsein macht Empfindungserlebnisse, die einen traumatischen Schock auslösen können, damit im vorhinein unwirksam: »Je geläufiger ihre Registrierung dem Bewußtsein wird, desto weniger muß mit einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet werden.« (I, 613) Gelingt dies nicht, weil der Reiz die Psyche unvorhergesehen trifft, so wird der gesamte psychische Apparat mit einer übergroßen Erregungsmenge überschwemmt. Er erhält einen Schock und es muss damit gerechnet werden, dass das Unbewusste eine Gedächtnisspur des Reizes aufnimmt und der Schock aus dem Unbewussten heraus eine traumatische Wirkung entfaltet. Die traumatische Neurose beruht also auf einem Durchbrechen des Reizschutzes, dessen Ursache eine fehlende Angstbereitschaft war (vgl. Freud 1975a: 241). Diese Annahmen gewinnt Freud aus seinen Beobachtungen bei Unfallpatienten, die sich infolge eines Schocks nicht mehr an das traumatisierende Geschehen erinnern können. Er interpretiert dieses Vergessen so, dass der Eindruck des

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Geschehenen ins Gedächtnis verbannt wird, wo er nicht mehr erreichbar ist. Gelegentlich versucht die Psyche durch die Reproduktion der traumatischen Vorgänge in Träumen oder in der Erinnerung die versäumte Reizbewältigung nachzuholen, und zwar dadurch, dass die Wiederholung jetzt mit Angstentwicklung verbunden wird (vgl. ebd.: 241f.). Nicht allein der Reizschutz des Bewusstseins, sondern auch das Bewusstsein selbst dient Freud zufolge dazu, den Organismus vor Überforderung zu schützen, indem ein großer Teil der äußeren Eindrücke in seiner Wirkung abgemildert wird. Einzig die traumatischen Reize bleiben ungefiltert, da sie den Reizschutz außer Kraft setzen (vgl. Böning 2005: 231). Freuds Modell des psychischen Apparats beschreibt mehrere miteinander unvereinbare Systeme, von denen das Wahrnehmungs- und Bewusstseinssystem Reize aufnimmt und nichts von ihnen behält und das Unbewusste die momentanen Erregungen in Dauerspuren umsetzt. Damit konzeptualisiert er den psychischen Apparat so, dass er sowohl stets für neue Wahrnehmungen aufnahmebereit als auch die Veränderungen an seinen Elementen zu bewahren in der Lage ist (vgl. Freud 1975a: 241f.). Das Unbewusste ist unbegrenzt aufnahmefähig für immer neue Wahrnehmungen und schafft dauerhafte Erinnerungsspuren von ihnen, das Bewusstsein ist immer wieder bereit für neue Reize und besitzt einen Reizschutz, der den Organismus schützt, indem er die äußeren Reize filtert (vgl. Freud 1975b: 366). Das Bewusstsein eines Reizes und das Hinterlassen von Gedächtnisspuren ist diesem Modell des psychischen Apparats zufolge inkompatibel: Bewusstsein und Gedächtnis schließen sich streng aus. Reize strömen auf einen Organismus ein und werden zu einem großen Teil vom Reizschutz des Bewusstseins abgefangen. Bei einem Ausfall geht der Reiz als Schock in den Organismus ein und hinterlässt dort eine Erinnerungsspur. Der Ausfall des Reizschutzes, der primär einen Mangel bzw. eine Dysfunktionalität beschreibt, wird in dieser Konzeption zur Möglichkeit, wie Außenreize in das Gedächtnis eingehen und dadurch für die Erinnerung und die Erfahrung zugänglich werden können.18

18 Freud rekonstruiert in seiner Notiz über den Wunderblock den psychischen Apparat im Modell des sogenannten ›Wunderblocks‹, der die beiden grundlegenden Funktionen dieses Apparats abbildet. Der ›Wunderblock‹ ist sowohl zum immer neuen Beschreiben und Löschen von Zeichen in der Lage als auch zum Behalten von Dauerspuren der Aufschreibung, indem er die beiden Leistungen auf zwei ›Systeme‹ verteilt (vgl. Freud 1975b: 368). Das Deckblatt aus Zelluloid und Wachspapier steht für das System ›W-Bw‹ und seinen Reizschutz, die Wachstafel für das unbewusste Gedächtnis dahinter. Während das reizaufnehmende System ›W-Bw‹ keine Dauerspuren bilden kann, kommen die »Grundlagen der Erinnerung […] in anderen, anstoßenden Systemen zu-

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Bevor Freuds Modell auf die proustsche unwillkürliche Erinnerung und Benjamins These vom modernen Erfahrungsverfall rückbezogen wird, soll seine Weiterentwicklung durch Theodor Reik dargestellt werden, der stärker als Freud selbst die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung berücksichtigt. 1.3.2 Theodor Reiks Weiterentwicklung des Modells Benjamin knüpft für seine Historisierung des Konzepts menschlicher Identität, die vor allem eine Veränderung im Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Erfahrung konstatiert, an das freudsche Modell an, bezieht sich jedoch ebenfalls auf Theodor Reiks Buch Der überraschte Psychologe, in dem Reik im Unterschied zu Freud den Gegensatz zwischen Gedächtnis und Erinnerung betont19: »Das Gedächtnis, das man als allgemeine Qualität der organischen Materie gekennzeichnet hat, ist seiner Natur nach unbewußt. Jener kleine Teil, der bewußt gemacht werden kann, tritt uns als Erinnerung entgegen.« (Reik 1935: 130) Reiks Ausgangspunkt sind Freuds Forschungen zum psychischen Apparat, die sich auf nicht unmittelbar verarbeitbare Eindrücke beziehen. Er orientiert sich an Freuds Annahme zweier abgeschlossener Systeme eines mit einem Reizschutz ausgestatteten Bewusstseins und eines dahinter gelegenen Unbewussten, in dem sich das Gedächtnis im eigentlichen Sinn bildet, und betont die Anfälligkeit des Gedächtnisses für Außenreize (vgl. Zumbusch 2004: 110). Dabei nimmt er insofern eine Verschiebung in der Einschätzung des Gedächtnisses vor, als dass das Durchbrechen des Reizschutzes und das ›Zurücklegen‹ der Eindrücke

stande« (ebd.: 368), was beim ›Wunderblock‹ durch die Wachsschicht veranschaulicht wird. Der Vergleich zwischen dem ›Wunderblock‹ und dem Gedächtnis hat jedoch seine Grenzen, da der ›Wunderblock‹ einerseits jede Reizwirkung als Dauerspur aufzeichnet, während dies vom natürlichen Gedächtnis kaum angenommen werden kann. Andererseits kann der ›Wunderblock‹ zwar ›Speicherung‹ und Auslöschung darstellen, also den Prozess, in dem bewusste Wahrnehmung zu unbewusstem Gedächtnisinhalt wird, aber nicht das Wiederaktivieren, die ›Reproduktion‹ der Dauerspuren in der Erinnerung, sowie die Differenz, die sich zwischen ursprünglichem Ereignis und Erinnerung ergibt, und das Versagen des Gedächtnisses, das als Vergessen ins Bewusstsein tritt. Der spezifische Mangel des Modells des ›Wunderblocks‹ liegt darin begründet, dass es nicht dazu in der Lage ist, zeitlich bedingte Umarbeitungsprozesse adäquat darzustellen (vgl. Lemke 2008: 53; Kasper 2003: 30; Draaisma 1999: 32). 19 Benjamin weist in einer Fußnote darauf hin, dass die »Begriffe Erinnerung und Gedächtnis […] im Freudschen Essai keinen für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Bedeutungsunterschied auf[weisen]« (I, 612).

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»für spätere Verarbeitung« im Gedächtnis nicht bloß einen ausnahmsweisen Unfall darstellt, sondern »der größte Teil der Eindrücke den Menschen zu intensiv und zu unvermittelt antritt, so daß sie zunächst nicht bewältigt werden können« (Reik 1935: 131). Reik weist – über Freud hinausgehend – nicht bloß dem Reizschutz des Bewusstseins und diesem selber, sondern auch dem Gedächtnis eine schützende Funktion zu: die der Bewahrung der aufgenommenen Reize, deren Energie so stark ist, dass sie vom Reizschutz des Bewusstseins nicht pariert werden können (vgl. Schöttker 1999: 263). Da der psychische Apparat der direkten Bewältigung der zahlreichen Außeneindrücke nicht gewachsen ist, wird das Erlebte nur in einem geringen Ausmaß bewusst und oft wird das ursprüngliche Geschehen erst sehr viel später überhaupt erlebt und psychisch bewältigt. Den »Gegensatz zwischen Gedächtnis und Erinnerung« formuliert Reik nun so: »Die Funktion des Gedächtnisses ist der Schutz der Eindrücke; die Erinnerung zielt auf ihre Zersetzung. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die Erinnerung ist destruktiv.« Eine einzelne Erinnerung bedeutet demnach eine »Durchlöcherung des unbewußten Gedächtnisses als Ganzes, einen beginnenden Auflösungsprozeß im Bewußtwerden« (Reik 1935: 132). Die ›Wiederauferstehung‹ der unbewussten Erlebnisse in der Erinnerung »kommt aber meistens einer Verflüchtigung der früher verborgenen Wirkungen, einer langsamen Abschwächung ihrer unterirdischen seelischen Potenz gleich« (ebd.). Reik vergleicht diesen Vorgang mit einer archäologischen Ausgrabung, in der die Ausgrabungsstücke, die bis zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung in der Erde erhalten waren, nun ihrem Zersetzungsprozess ausgesetzt sind. Das Gedächtnis hat also Reik zufolge vor allem eine erhaltende, konservierende Funktion und die Eindrücke sind durch das unbewusste Gedächtnis bzw. das Vergessen geschützt, während die Erinnerung zur Erledigung von Eindrücken führt: »Erst wenn wir ein Erlebnis oft genug und klar genug erinnert haben, kann es unserem Gedächtnis entschwinden. Das Nicht-Erinnerte ist psychisch unsterblich. Mit einer bestimmten Einschränkung darf man sagen: die Vergangenheit kann erst versinken, wenn sie wieder Gegenwart geworden ist.« (Ebd.: 132f.) Umgekehrt gilt, dass dasjenige vergessen werden muss, was behalten werden soll (vgl. ebd.: 141). 1.3.3 Freud und die These vom modernen Erfahrungsverfall Die reiksche Unterscheidung zwischen der Funktion der Erinnerung und des Gedächtnisses sieht Benjamin »ganz auf der Linie von Prousts Unterscheidung zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Eingedenken« (I, 612).

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Freuds Hypothese, »›daß Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind‹«, dass vielmehr Erinnerungsreste »›oft am stärksten und haltbarsten [sind], wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist‹« (I, 612f.), lautet Benjamin zufolge in der Sprache Prousts: »Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist.« (I, 613)20 Die der Willkür des Subjekts entzogene Erinnerung ist eine nachgeholte Wahrnehmung eines einst nicht Wahrgenommenen und Erlebten. In halbwachen Dämmerzuständen wie dem Erwachen werden in der Erinnerungsarbeit Bilder hervorgebracht, die nie zuvor gesehen wurden (vgl. Agamben 2004: 63; Warning 1993: 176f.; Theunissen 1991: 313). Das unbewusste Gedächtnis, das Proust zufolge vor allem im Leib zu verorten ist – in Gerüchen, Geschmäckern, Haltungen und Bewegungen –, bildet den negativen Ermöglichungsgrund für die Bewusstseinsleistung ›Erinnern‹ (vgl. Bock 2010: 41).21 Umgekehrt hinterlässt das bewusste ›Erlebnis‹ keine dauerhaften Spuren im Gedächtnis. Das normale Funktionieren des Bewusstseins erhält für Benjamin in der Moderne eine dramatische Dimension, da die geforderte ständige Bereitschaft zur Abwehr von Schocks, denen das Subjekt ausgesetzt ist, einen Grad an Bewusstheit erfordert, der die Aufnahme von Dauerspuren, auf die die unwillkürliche Erinnerung später zurückgreifen könnte, tendenziell verhindert. Das ›Erlebnis‹ ist eine Form von Reizaufnahme, bei der »dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein« (I, 615) im Unterschied zur Zeitlosigkeit des unbewussten Gedächtnisses zugewiesen wird. Das ›Erlebnis‹ wird in dieser Weise bloß in das willkürliche Gedächtnis aufgenommen (vgl. Gerstner 2013: 83). Die Position Reiks nimmt hier eine Vermittlungsrolle ein, da ihr zufolge nicht bloß traumatische Schocks, sondern ein großer Teil der auf das Bewusstsein eingehenden Eindrücke nicht direkt verarbeitet werden kann, sondern zunächst im Gedächtnis bewahrt wird.

20 In einer Notiz im Passagen-Werk konstatiert Benjamin: »›Jenseits des Lustprinzips‹ ist wahrscheinlich der beste Kommentar, den es zu Prousts Werken gibt.« (V, 679) 21 Benjamin kommt in einer Fußnote auf dieses Körpergedächtnis zu sprechen, das Proust am liebsten »durch die Gliedmaßen [repräsentiert], und dabei wird er nicht müde, von den in ihnen deponierten Gedächtnisbildern zu sprechen, wie sie, keinem Wink des Bewußtseins hörig, unvermittelt in dieses einbrechen, wenn ein Schenkel, ein Arm oder ein Schulterblatt im Bett unwillkürlich in eine Lage kommen, wie sie sie vor Zeiten einmal eingenommen haben« (I, 613).

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Benjamin postuliert, dass die Menge der das Bewusstsein von außen beanspruchenden Reize in der Moderne derart zunimmt, dass sich eine schockförmige Wahrnehmung ausbildet, die zur Folge hat, dass das Erinnern lediglich noch zufällig und unkontrolliert durch leibliche Prozesse ausgelöst wird (vgl. Weidmann 1992: 66f.). Der Reizschutz des Bewusstseins beschränkt dieses auf eine konzentrierte Aufmerksamkeit, durch die die Dinge lediglich noch als isolierte ›Erlebnisse‹ wahrgenommen werden. Die unwillkürliche Erinnerung hingegen richtet sich auf den unbewusst gebliebenen Kontext der Dinge. Die habitualisierte Wahrnehmung muss darum sozusagen ›ausgeschaltet‹ werden, um Erfahrungen zu ermöglichen. Es gibt neben dem Reizschutz des Bewusstseins zwei Arten der Reizbewältigung, die das Subjekt gegen die Wahrnehmungsschocks in der beschleunigten modernen Welt schützen: die nachträgliche Verarbeitung durch Traum und Erinnerung einerseits und gesteigerte Aufmerksamkeit andererseits. Die Schockwahrnehmung ist für Benjamin insofern interessant, als sie mit der defizienten Erfahrungsform des ›Erlebnisses‹ zusammenhängt: Je »unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie [die Eindrücke] in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses« (I, 615). Benjamin ordnet die zwei Formen der Reizaufnahme dem willkürlichen Gedächtnis und der unwillkürlichen Erinnerung zu. Wird der Wahrnehmungsschock durch gesteigerte Aufmerksamkeit im Bewusstsein abgefangen, so geht er bloß in das willkürliche Gedächtnis als steriles, definitives und abgeschlossenes ›Erlebnis‹ im Unterschied zur Erfahrung ein. Die unwillkürliche Erinnerung bezieht sich demgegenüber auf die mit Erfahrung angereicherten, dem Bewusstsein aber unzugänglichen Dauerspuren (vgl. Zumbusch 2004: 111): Erfahrung bildet sich vor allem an dem, was der Verfügung des ›administrativen‹ Bewusstseins entzogen war und lediglich un- oder halbbewusst aufgenommen wurde (vgl. Greffrath 1981: 75). Aus der Notwendigkeit der Schockaufnahme als Leistung des Bewusstseins und dem ihm zu Gebote stehenden willkürlichen Gedächtnis resultiert die Verdrängung des erfahrungskonstituierenden unwillkürlichen Erinnerns. Die zum ›Erlebnis‹ gewordenen Eindrücke hinterlassen keine weiterwirkenden Spuren im Gedächtnis und gehen deshalb nicht in die Erfahrung ein, weil sie mit ihrer Registratur durchs Bewusstsein bereits erschöpft sind (vgl. Raulet 2004: 154; Finkelde 2003: 42; T. Weber 2000: 239). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff des Schocks in Benjamins Konzeption durchaus zweideutig ist im Hinblick darauf, ob er Erfahrung bedroht oder vielmehr hervorruft: Benjamin spricht teilweise von der ›Schockerfahrung‹ und teilweise vom ›Schockerlebnis‹ – je nach den Bedingungen, unter

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denen ein Schock auftritt. Als ein ins Bewusstsein aufgenommener Reiz bedroht der Schock die Erfahrung. Dringt er jedoch in die tieferen Schichten des psychischen Apparats ein, so kann er durch die unwillkürliche Erinnerung aufgegriffen werden und konstituiert somit Erfahrung (vgl. Greffrath 1981: 43f.). Freuds Modell verschafft Benjamins Erfahrungstheorie in Bezug auf die unwillkürliche Erinnerung eine theoretische Fundierung, die über Prousts Ausführungen hinausgeht. Problematisch ist dabei die Verbindung von Freuds Analyse der Reizaufnahme mit der von Benjamin untersuchten modernespezifischen Schockerfahrung in Bezug auf sein Verständnis der Reizabwehr. Benjamin postuliert, dass der Vorfall, der einen Schock auslöst, dadurch »den Charakter des Erlebnisses im prägnanten Sinn« erhält, indem der Schock »derart abgefangen, derart vom Bewußtsein pariert« wird (I, 614). Aus freudscher Sicht ist das ›Parieren‹ eines Schocks nicht möglich, da Schocks in jedem Fall durch ein traumatisches Durchbrechen der Reizabwehr zustandekommen, während die gelungene Reizabwehr ein alltäglicher Vorgang ist, der durch das normale Funktionieren des Bewusstseins gewährleistet wird (vgl. Schmider/ Werner 2011: 578). Zudem werden von Freud auch Impulse aus dem Inneren des Apparats berücksichtigt, die das Bewusstseins ebenfalls nicht aufnehmen kann und aus diesem Grund nach außen projiziert (vgl. Bock 2010: 42). Für Benjamins Argumentation ist aber lediglich die Wirkung der von außen kommenden Reize relevant. Das Subjekt ist in der Moderne einer schnellen Folge von Außenreizen ausgesetzt, sodass die Kontinuität seiner Zeitwahrnehmung in eine Vielzahl von Fragmenten aufgelöst wird. Es entsteht der Typus des ›reflektorischen Charakters‹, der durch reflektorische Aufmerksamkeit und Zerstreuung charakterisiert ist. Er ist von seiner Zeit entfremdet und nimmt sie als eine ihm gegenüber verselbständigte wahr, die in der bloßen Abfolge gleichförmiger Einheiten zu einer ›ewigen Wiederkehr des Immergleichen‹ wird und ihren qualitativen Charakter verliert. Diese Zeit bezeichnet Benjamin auch als ›höllische‹. In der Moderne als »Zeit der Hölle« (V, 1010) gibt es nichts wirklich Neues mehr: »Es ereignet sich ›immer dasselbe‹.« (I, 1151) Die Moderne lässt sich mit dem Blick auf die beschriebenen Beschleunigungstendenzen auch als Phänomen der komplementären Erstarrung deuten (vgl. Rosa 2005: 385f., 437). Die Kehrseite der erlebnisreichen Moderne ist ein Gefühl des Stillstands, das Benjamin als Zeiterfahrung der ›leeren homogenen Zeit‹ schildert und das sich unschwer als Entfremdungserfahrung deuten lässt.22

22 Baudelaires geschichtliche Erfahrung, dass ›nichts Neues mehr kommt‹, ist die, »die Nietzsche in den Satz faßte: Gott ist tot« (I, 676). Aus dieser Erfahrung ziehen Nietzsche und Baudelaire unterschiedliche Konsequenzen: Bei Nietzsche sieht der Mensch

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Eine Entsprechung findet diese Figur in der qualitätslosen Zeitwahrnehmung des von Baudelaire beschriebenen ›spleen‹ (vgl. V, 693). Die Zeitwahrnehmung des ›spleen‹, die »der Katastrophe in Permanenz entspricht« (I, 660; vgl. V, 437), besteht einerseits darin, dass das Subjekt einer unendlichen Folge isolierter Momente ausgesetzt ist und von geschichtlicher Erfahrung und Erinnerung abstrahiert, was zu einer Intensivierung des Zeitgefühls führt: Im ›spleen‹ »ist die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede Sekunde findet das Bewußtsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen« (I, 642). Die Zerstückelung der Zeit durch die Isolierung ihrer Momente führt jedoch dazu, dass ihre Momente sich völlig gleichen – ein Phänomen, das paradigmatisch durch die Arbeit am Fließband veranschaulicht wird.23 Als erstarrte lastet die Zeit auf dem Menschen; »die

der ewigen Wiederkehr mit heroischer Fassung entgegen, während es Baudelaire darum geht, dem Immerwiedergleichen das Neue abzuringen (vgl. V, 425). Der Gedanke der ›ewigen Wiederkehr des Immergleichen‹, der zeitgleich bei Baudelaire, Blanqui und Nietzsche aufkommt, beleuchtet einen realen Aspekt der Kultur der Moderne, der in der Massenproduktion besonders deutlich wird, die Produkte ohne jede Einzigartigkeit hervorbringt (vgl. V, 417). Er wird von Benjamin jedoch nicht nur in dieser Realdimension betrachtet, sondern ebenso als ›Phantasmagorie‹ im Sinne einer mythischen Denkweise des 19. Jahrhunderts. Das zyklische Modell der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ wird dem Modell einer linear ablaufenden Fortschrittsgeschichte entgegengesetzt und von Benjamin im Passagen-Werk besonders an der Mode als der »ewige[n] Wiederkehr des Neuen« (I, 677) herausarbeitet. In der Lehre von der ›ewigen Wiederkehr‹, in der das Neue immer wieder als das Uralte und immer schon Dagewesene wahrgenommen wird, erkennt Benjamin das entscheidende Paradigma des Mythischen: »Die ›ewige Wiederkehr‹ ist die Grundform des urgeschichtlichen, mythischen Bewußtseins.« (V, 177; vgl. V, 178) Geschichtliches wird in den mythischen Bereich der Natur projiziert und in dieser Weise von den Möglichkeiten menschlichen Handelns abgetrennt (vgl. Weidmann 1992: 45f.). 23 Die industrielle Fabrikarbeit, in der die kapitalistische ›Verkehrung‹ stattfindet, dass »die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet«, hat Marx als ›Dressur‹ des Arbeiters beschrieben (I, 631). Benjamin sieht in der großstädtischen Vergnügungskultur strukturelle Ähnlichkeiten zu dieser Form der Arbeit, besonders deutlich im Hasardspiel. Ebenso wie beim Arbeiter steht der Handgriff des Spielers mit dem vorhergehenden in keinem Zusammenhang, da er seine bloße Wiederholung ist: »Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm voraufgegangenen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit.« (I, 633) Fabrikarbeit und Hasardspiel ähneln sich in ihrer zeitlichen

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Minuten decken den Menschen wie Flocken zu«. Das Bewusstsein generiert den »leeren Zeitverlauf, dem das Subjekt im spleen ausgeliefert ist« (I, 642), gleich dem überlauten Sekundentakt der Uhr im leeren Zeitverlauf (vgl. V, 632; Schmider/Werner 2011: 579; Bange 1987: 54). Die Fragmentierung der Lebensabläufe lässt die Kontinuität und Dauer der individuellen Erfahrung und Erinnerung schwinden. Erinnerungen werden in der Folge zu Andenken, die das als Behälter gedachte Subjekt der Erinnerung ausfüllen (vgl. Nöding 1980: 128). Das Verlangen, mit diskontinuierlichen Schockerlebnissen den Augenblick zu einem erfüllten zu machen, ist ein »pervertierter Erfahrungshunger« (Hillach 1980: 116), da das ›Immer-wieder-von-vorn-anfangen‹ keine sinnhafte Verbindung zu Vergangenheit und Zukunft bietet und daher ohne die Möglichkeit authentischer Erfahrung bleibt. Immer mehr ›Erlebnisse‹ können aus diesem Grund nicht als wirkliche Kompensation angesehen werden, sondern müssen als eine Strategie der Verschleierung gelten. Mit ihrer Hilfe versucht das Subjekt, sich über die Verkümmerung der Erfahrung hinwegzutrösten. Benjamins Urteil ist jedoch eindeutig: »Für den, der keine Erfahrungen mehr machen kann, gibt es keinen Trost.« (I, 642; vgl. Schmider/Werner 2011: 580; Mičko 2010: 298) Die Verbindung von Gedächtnisinhalten und dem Bewusstsein wird durch die Reaktion auf Reize behindert, da das Bewusstsein ganz in der Gegenwart befangen bleibt.24 Diese Struktur macht es dem Individuum tendenziell unmöglich,

Struktur, die Arbeiter und Spieler dazu bringt, bloß noch reflektorisch zu reagieren. Das Spiel setzt in dieser Weise »die Ordnungen der Erfahrung außer Kraft« (I, 635) und die Spieler »leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben« (I, 634). Die Gemeinsamkeit von Hasardspiel und Fließbandarbeit liegt für Benjamin daher in der »Vergeblichkeit«, der »Leere«, dem »Nicht-vollenden-dürfen« (I, 633) und dem »Immer-wiedervon-vorn-anfangen« (I, 636). 24 Simmel hat in seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne aus seiner Soziologie, der auf dem Essay Die Großstädte und das Geistesleben basiert, noch vor Freud den Zusammenhang von Schockwirkung und Reizschutz in Bezug auf die Lebenswirklichkeit in der Großstadt dargestellt. Er konstatiert, dass die ›Steigerung des Nervenlebens‹, die aus ständig wechselnden äußeren und inneren Eindrücken hervorgeht, und ein entsprechend hohes ›Bewusstseinsquantum‹ die psychologische Grundlage für die Herausbildung des Typus großstädtischer Individualitäten bilden (vgl. Simmel 1995: 116f.). Auf die auf das Individuum einströmenden Außenreize reagiert der Mensch Simmel zufolge mit dem Verstand als Organ, das am nächsten zur Außenwelt und am weitesten von der inneren seelischen Struktur entfernt gelagert ist. Diese Schutzmaßnahme verhindert für Simmel die schädliche Wirkung der Nervenreize, die sich in ei-

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einmal Erlebtes in der Erinnerung in Erfahrung zu transformieren (vgl. Hillach 1980: 115). Das Vermögen der Menschen, die eigene Lebenswelt mit den Inhalten der individuellen und kollektiven Vergangenheit zu verbinden, ist in der Moderne also deutlich in Mitleidenschaft gezogen. Durch die mangelnde Vermittlung entstehen zwischen Bewusstsein und Gedächtnis ›Leerstellen‹, die in der Moderne bloß noch durch synthetische Erfahrungen ausgefüllt werden können. Das willkürliche Gedächtnis und das mit ihm korrespondierende ›Erlebnis‹ tritt an die Stelle echter Erinnerung und Erfahrung als eine Art ›Füllstoff‹, der die ›Systemstelle‹ der Erfahrung besetzt und die Illusion einer Bewusstseinskontinuität weiterhin aufrechtzuerhalten versucht (vgl. Bock 2010: 47; Pethes 1999: 410f.; Frisby 1989: 258f.). Die kollektive Seite dieses Kompensationsversuchs durch ein ›künstliches‹ Gedächtnis in Form von Mythen und einem auf ›Fixpunkte‹ der Vergangenheit abzielenden Bild der Geschichte wurde bereits in Kapitel I.3 in Bezug auf das assmannsche ›kulturelle Gedächtnis‹ berührt.25 In einer Welt sich schnell abwechselnder Erlebnisepisoden werden Erfahrungen zunehmend unmöglich. Die ›Erlebnisse‹ stehen in keinem Zusammenhang mit den übrigen Erfahrungen des Individuums und sind für die Identität der Sub-

ner Erschütterung des Inneren äußert. In seiner Philosophie des Geldes beschreibt Simmel als Ursache und zugleich Ausdruck der ›Steigerung des Lebenstempos‹ die Geldwirtschaft, die wirtschaftliche Transaktionen und Zirkulationen beschleunigt und vermehrt und gleichzeitig die sozialen Verhältnisse mobilisiert (vgl. Simmel 1989: 706f.). Ebenfalls beschreibt er, wie die Auflösung fester Rhythmen und die ständige Überreiztheit dazu führen, dass die Individuen einerseits mit Indifferenz gegenüber der Welt reagieren, andererseits aber auch mit der Sucht nach immer neuen und extremeren Erlebnissen, die eine momentane Befriedigung verschaffen (vgl. Rosa 2005: 100f.; Simmel 1989: 675). Die zentrale Bedeutung von Simmel für Benjamins Argumentation wird in Über einige Motive bei Baudelaire nicht recht deutlich. Dies hat seine Ursache zumindest auch beim für die Publikation des Aufsatzes maßgeblichen Adorno, der die Berufung auf Simmel bereits im ersten Aufsatz zu Baudelaire Das Paris des Second Empire bei Baudelaire (vgl. I, 539f.) massiv kritisiert hat, weshalb Benjamin eine strategische Verschiebung und Abschwächung der Relevanz des Zitats vornahm (vgl. I, 649f.). Zur Diskussion um das Zitat vgl. Schöttker 1999: 265; Adorno/Benjamin 1994: 367, 391f., 405f., 412. 25 Bereits Adorno hat diese Deutung als Kompensationsversuch, der tröstend und täuschend an das Verlorene erinnert, vorweggenommen: »Die Spekulationen über die Zeit, die heute blühen, spiegeln zurück, daß Erfahrung als zeitliche Kontinuität, im Gefolge der automatisierten Arbeitsprozesse den Menschen zunehmend verlorengeht« (Adorno 1973d: 127).

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jekte nicht relevant. Die Subjekte werden deshalb von der eigenen Lebenszeit entfremdet, weil der Alltag aus einer bloßen Abfolge unverbundener Erlebnisepisoden besteht, die für die Konstitution von Erfahrung und Identität bedeutungslos bleiben (vgl. Rosa 2005: 234ff.). Erlebnisse können nur dann zu Erfahrungen werden, wenn sie eine Vor- und Nachgeschichte haben, sich aneignen und mit der Biografie verbinden lassen. Dann berühren sie die Identität und haben einen Einfluss auf das, was und wer jemand ist. Vor dem Hintergrund der von Benjamin vorausgesetzten Struktur der Subjektivität, derzufolge nur die unwillkürliche Erinnerung eine Aneignung vergangener Ereignisse als zur eigenen Lebensgeschichte gehörige Erfahrungen ermöglicht, ist es unter modernen Bedingungen der Reizüberflutung gerade das Bewusstsein in seiner Funktion der Schockabwehr durch gesteigerte Aufmerksamkeit, das echte Erfahrung und Identität verhindert (vgl. T. Weber 2000: 238). Die Schockwahrnehmung vergisst die Erregung eines Geschehens im Moment ihres Bewusstwerdens und verhindert, dass dieses Erregende sich unbemerkt vom Bewusstsein als ›Erinnerungsspur‹ dem Gedächtnis einschreiben kann, was die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung im Augenblick des Erinnerns wäre (vgl. Specht 1981: 78). Der Ort der Erinnerungsspuren ist das Unbewusste des Individuums, auf das die Erinnerung in ihren Voraussetzungen notwendig verwiesen ist und dessen Bestandteile vor allem durch zufällig begegnende leibliche Hinweisreize wieder in das Bewusstsein des Subjekts treten. Die proustsche unwillkürliche Erinnerung, die nicht in der Verfügungsgewalt des Subjekts steht, und die unbewussten Bereiche des Gedächtnisses, auf die sie zurückgreift, bringen in die Vorstellung von Identität, die sich auf Gedächtnis und Erinnerung beruft, ein wesentlich neues Element gegenüber der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit dargestellten Konzeption innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹: Identität wird nicht bloß durch bewusst erlebte und in das willkürliche Gedächtnis eingegangene Ereignisse bestimmt, die ein Subjekt sich als Ereignisse der eigenen Vergangenheit zuschreibt und in eine Erzählung integriert, sondern ebenso durch Prozesse, die diese Identitätskonstruktion weit überschreiten, die jedoch durch die Beanspruchung durch Außenreize und die resultierenden Schutzmechanismen zum Teil verhindert werden. Die Souveränität der Konstruktion wird durch Freud ebenso wie durch Proust relativiert, da es sich bei den Daten des erfahrungskonstituierenden Erinnerns um ›ungeordnetes‹ Material handelt, das unwillkürlich ins Bewusstsein tritt.

2. Das Vergessen(e)

In diesem Kapitel wird die Konzeption des Zusammenhangs von identitätsrelevanter Erfahrung, Gedächtnis und Erinnerung, wie Benjamin sie in seinem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire mit selektivem Bezug auf Bergson, Proust und Freud entwickelt hat, durch den Begriff des Vergessens ergänzt. Die Auseinandersetzung mit dem Vergessen hat Theodor W. Adorno in seinem letzten inhaltlich bedeutsamen Brief an Benjamin vom 29.02.1940 angemahnt.1 Er kritisiert Benjamins Anwendung der freudschen Theorie des Reizschutzes des Bewusstseins auf Prousts unwillkürliche Erinnerung und stellt die Unbewusstheit des Grundeindrucks infrage, die Voraussetzung dafür ist, dass dieser der unwillkürlichen Erinnerung zufällt: »Kann man von dieser Unbewußtheit wirklich reden? War der Augenblick des Schmeckens der Madeleine, aus dem Prousts mémoire involontaire hervorgeht, in der Tat unbewußt? Es will mir scheinen, daß in dieser Theorie ein dialektisches Glied ausgefallen ist und zwar das des Vergessens.« (Adorno/Benjamin 1994: 417) Tatsächlich erscheint es zunächst merkwürdig, wenn Benjamin darauf besteht, dass die Unbewusstheit des Grundeindrucks die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass dieser in die unwillkürliche Erinnerung und in die Erfahrung eingeht. Es ist Adorno also darin zuzustimmen, dass das Vergessen in Benjamins Konzeption in Über einige Motive bei Baudelaire tatsächlich das ›fehlende

1

Der Briefwechsel mit Adorno ist neben dessen korrespondierenden Arbeiten in der Zeitschrift für Sozialforschung überaus bedeutend für das Verständnis des Spätwerks Benjamins. Die ausführlichen Briefe Adornos und die jeweiligen Reaktionen Benjamins beinhalten das Wichtigste: 17.12.1934 zum Kafka-Aufsatz, 02.08.1935 zum ersten Passagen-Exposee, 18.03.1936 zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 10.11.1938 und 01.02.1939 zu Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, 29.02.1940 zu Über einige Motive bei Baudelaire. Für eine Erörterung der zentralen Themen des Briefwechsels vgl. Kreuzer 2011; Reijen 2006.

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Glied‹ zwischen Grundeindruck und unwillkürlichem Wiedererinnern darstellt. Das Vergessen ist Adorno zufolge »in gewisser Weise die Grundlage für beides, für die Sphäre der ›Erfahrung‹ oder mémoire involontaire, und für den reflektorischen Charakter, dessen jähe Erinnerung selber das Vergessen voraussetzt« (ebd.). Adorno sieht die Aufgabe von Benjamins Theorie der Erfahrung in der Moderne deshalb darin, »den ganzen Gegensatz von Erlebnis und Erfahrung an eine dialektische Theorie des Vergessens anzuschließen« (ebd.). In der vorliegenden Arbeit wurde eine gesonderte Behandlung des Vergessens bislang ausgespart, jedoch wurden zentrale Aspekte des Vergessens in den vorangegangenen Kapiteln implizit berührt. Es lassen sich vorläufig folgende Formen des Vergessens unterscheiden (vgl. Pohl 2007: 37ff.; Vaterrodt-Plünnecke 2001: 624f.): Erstens ist das Phänomen zu nennen, dass Gedächtnisspuren mit der Zeit verblassen oder zerfallen, wenn sie nicht durch Wiederholung gefestigt werden. Eine nur oberflächliche Einprägung befördert dieses Vergessen eher als die Kontextualisierung und die Verknüpfung mit subjektiver Bedeutung. Es ist bei dieser Form des Vergessens nur schwer festzustellen, ob etwas tatsächlich verschwunden oder nur zeitlich begrenzt unzugänglich ist. Benjamins Konzeption legt in jedem Fall den Schwerpunkt auf das bloß Verblasste und berücksichtigt den Fall eines vollständigen Vergessens ohne die Möglichkeit eines Wiedererinnerns nicht, wie sowohl sein Bezug auf Proust als auch auf Freud deutlich macht: Es geht ihm um das Wiedererinnern als Voraussetzung der Aneignung vergangener Begebenheiten und hier besonders um das Erinnern eines vormals nicht vollständig bewusst Erlebten. Zweitens lässt sich dasjenige Vergessen anführen, das aufgrund der Begrenzung des Bewusstseins für jedes Erinnern notwendig ist: Ein Ganzes muss ausgeblendet werden, um etwas Einzelnes erkennen zu können. Das Vergessene ist als Hintergrund, vor dem etwas überhaupt erst erscheinen kann, Teil des Erinnerns. Auch dieses Motiv wird in diesem Kapitel immer wieder deutlich werden. Drittens ist das Phänomen zu nennen, bei dem Gedächtnisspuren durch andere Erfahrungen gestört werden. Es handelt sich bei diesem Aspekt des Vergessens nicht bloß um die notwendige Selektivität sämtlicher Bewusstseinsprozesse, also der Wahrnehmung ebenso wie des Erinnerns, sondern darum, dass es durch eine große Menge aufgenommener Eindrücke vorkommt, dass Informationen miteinander interferieren und so die für ein langfristiges Behalten notwendige Konsolidierung gestört wird. Ein viertes Phänomen betrifft Probleme des Erinnerns durch fehlende Hinweisreize als Erinnerungshilfen. Hinweisreize sind besonders dazu geeignet, eine Erinnerung hervorzurufen, wenn sie stark mit ihr assoziiert sind. Die Bedingung

D AS V ERGESSEN ( E)

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dafür, dass etwas durch fehlende Hinweisreize vergessen bleibt, betrifft besonders Prousts Konzeption der unwillkürlichen Erinnerung, die durch leibliche Hinweisreize, z.B. einen früher bereits wahrgenommenen Geruch, ausgelöst wird, wenn die hierfür notwendigen Voraussetzungen – wie das Nachlassen der bewussten Konzentration – gegeben sind. Schließlich sind Prozesse des motivierten Vergessens zu nennen, das willentliche Unterdrücken und die unbewusste Verdrängung und Selektion negativer oder belastender Erfahrungen. Auch sie werden nicht ›gelöscht‹, sondern lediglich vorübergehend unzugänglich aufbewahrt. Dieser Aspekt wurde in Bezug auf die Identitätserzählung des ›Funktionsgedächtnisses‹ angesprochen, in der vieles ausgeblendet werden muss, damit die Erzählung widerspruchsfrei bleibt (vgl. Abschnitt I.2.1.3). Adornos Forderung nach einer Theorie des Vergessens formuliert ein Abeitsprogramm, das von Benjamin – ebenso wie von Adorno – nicht mehr eingelöst wurde (vgl. Kreuzer 2011: 386). In diesem Kapitel werden zunächst in Bezug auf mehrere bislang unberücksichtigte Texte Benjamins einige Elemente einer Theorie des Vergessens als Bedingung der unwillkürlichen Erinnerung dargestellt (Abschnitt 2.1). Anschließend wird mit Bezug auf zentrale Überlegungen aus Benjamins Passagen-Werk sowie den Text Über den Begriff der Geschichte die Dimension des Vergessens in der Geschichte untersucht (Abschnitt 2.2). Dann wird das Vergessen in Anlehnung an Adornos Kritik mit einem zentralen Begriff der Kritischen Theorie als ›Verdinglichung‹ behandelt (Abschnitt 2.3).

2.1 V ERGESSEN

ALS V ORAUSSETZUNG UNWILLKÜRLICHER E RINNERUNG

Benjamin bestätigt in seinem Antwortbrief an Adorno dessen Einschätzung über die Bedeutung des Vergessens und merkt zudem an, dass er für eine weitere Beschäftigung mit dem Vergessen zunächst »auf den locus classicus der Theorie des Vergessens« zurückzugehen beabsichtigt, »den für mich, wie Sie wohl wissen, der ›Blonde Eckbert‹ darstellt« (Adorno/Benjamin 1994: 425). Der blonde Eckbert ist eine Erzählung von Ludwig Tieck, mit der Benjamin sich wiederholt beschäftigt hat.2 Eckberts Frau und Halbschwester Bertha sagt in dieser Erzäh-

2

Benjamin hat zwar keinen Text zum Blonden Eckbert hinterlassen, er plante jedoch eine kleine Arbeit für die Bremer Presse (vgl. 3, 38) und in seinem Kafka-Aufsatz taucht ein beiläufiger Verweis auf (vgl. II, 430). Vgl. auch Blochs Bericht vom Ge-

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lung zu ihrem Mann: »Du weißt, daß ich mich immer nicht, so oft ich von meiner Kindheit sprach, trotz aller angewandten Mühe auf den Namen des kleinen Hundes besinnen konnte, mit welchem ich so lange umging«, bis eines Abends »Walther beim Abschiede plötzlich zu mir [sagte]: ich kann mir Euch recht vorstellen, wir ihr den kleinen Strohmian füttert. […] Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen half.« (Tieck 1985: 141f.) Der Gedanke, der Benjamins gesamten Überlegungen zum Vergessen zugrunde liegt, ist in dieser kurzen Szene bereits enthalten. Er besteht darin, dass das Vergessene nicht gänzlich verschwunden ist, sondern die besondere Form einer ›reduzierten‹ Anwesenheit bildet, die in dieser Reduktion erst ihre produktive Kraft entwickelt: »Das Vergessene ist zwar weg, es ist aber immer auch da.« (Borgards 2009: 343) Eckbert ist in der Erzählung in eine ihm unbekannte Schuld verstrickt, die er am Ende erfährt (vgl. Stoessel 1983: 138f.). Berthas Fürsorgerin verhilft Eckbert zu seinen Erinnerungen: »Bertha war Deine Schwester. [...] Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter Deines Vaters. [-] Warum habʼ ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet? rief Eckbert aus. [-] Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest.« (Tieck 1985: 146) Der Blonde Eckbert hat Roland Borgards zufolge zwar nirgends für eine mögliche benjaminsche Theorie des Vergessens Modell gestanden, wohl aber ist er ihr als verborgene Figur eingeprägt (vgl. Borgards 2009: 343). Im Folgenden wird der Zusammenhang von unwillkürlicher Erinnerung und Vergessen mit Bezug auf Benjamins Text Zum Bilde Prousts (Abschnitt 2.1.1) und die Gestalt des ›Bucklichten Männleins‹ (Abschnitt 2.1.2) weiter ausgeführt sowie das Moment der Entstellung im Vergessen behandelt, indem auf Benjamins Überlegungen zu Franz Kafka und Freud zurückgegriffen wird (Abschnitt 2.1.3). Am Ende wird die Unterscheidung von ›epischem‹ und ›reflektorischem‹ Vergessen mit Bezug auf Adorno geschildert (Abschnitt 2.1.4). 2.1.1 Vergessen und unwillkürliche Erinnerung Ein naheliegender Anknüpfungspunkt, um mit Benjamin auf die Suche nach Elementen einer Theorie des Vergessens zu gehen, ist der Aufsatz Zum Bilde Prousts, in dem Benjamin die unwillkürliche Erinnerung mit dem Vergessen in Beziehung setzt. Zunächst stellt er fest, dass in Auf der Suche nach der verlore-

spräch über den Blonden Eckbert (E. Bloch 1965, besonders der Nachtrag, 240ff.). Eine Darlegung des Blonden Eckbert bietet auch Erdle 2004.

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nen Zeit nicht der erinnernde Autor und seine vergangenen Erlebnisse die Hauptrolle spielen, sondern »das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens« (II, 311) selbst. Damit macht er deutlich, was schon für das Denkbild Ausgraben und Erinnern maßgeblich war: dass Erinnern für Proust ein gegenwartsbezogener Akt ist, für den der performative Vollzug des Erinnerns mindestens genau so wichtig ist wie das Erinnerte. Es kommt für diesen Vollzug nicht auf das ursprünglich Erlebte an und er geht nicht von einem referenziellen Bezug in der Vergangenheit aus, sondern der Gegenstand der Erinnerung stellt sich im Erinnern selbst her (vgl. Borgards 2009: 344; Finkelde 2003: 15). Anschließend negiert Benjamin diejenige Vorstellung über das Verhältnis zwischen Vergessen und Erinnerung, in der das Vergessen als ein Vorgang bestimmt wird, der die Erinnerung nachträglich beeinträchtigt. Für ihn muss das Vergessen vielmehr als ein die Erinnerung vorgängig tragender Prozess gedacht werden, als das »Penelopewerk des Vergessens«, dem die unwillkürliche Erinnerung viel näher steht als dem, »was meist Erinnerung genannt wird«. Die unwillkürliche Erinnerung selbst erscheint als das »Gegenstück zum Werk der Penelope«: »An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen.« Der Tag jedoch »löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf« (II, 311). Das Vergessen bezeichnet für Benjamin nicht die ›Löschung‹ von Gedächtnisinhalten, sondern einen im Unbewussten vor sich gehenden produktiven Vorgang. Unter dem Druck des ›zweckverhafteten‹ Erinnerns wird das so unbewusst Produzierte jedoch im Sinne der von Benjamin kritisierten Vorstellung vergessen (vgl. Link-Heer 2011: 515). Benjamins Rede vom ›Weben‹ der Erinnerung, »in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist« (II, 311), kann mit Borgards dahingehend gedeutet werden, dass die Erinnerung das aktive Element darstellt, den »actus purus des Erinnerns«, auf den bezogen die erinnernden Personen nur noch als »das rückwärtige Muster des Teppichs« (II, 312) erscheinen, also nicht als das Subjekt, sondern als das Objekt der Erinnerung. In der ›Penelopearbeit des Vergessens‹ arbeitet – ›webt‹ – dementsprechend das Vergessen selbst: Es wird zum aktiven und produktiven Grundprinzip des Erinnerns (vgl. Borgards 2009: 345). Borgards weist zudem darauf hin, dass das Vergessen nicht nur die handelnde Instanz, sondern zugleich als der ›Zettel‹ eines der behandelten Materialien ist, in das als ›Einschlag‹ die Erinnerungen ›eingeschossen‹ werden. Das Vergessen ist in diesem Bild des Webens sowohl zeitlich vor dem Erinnern als auch räumlich in der Position des aufnehmenden Trägermaterials angesiedelt. Das Vergessen ist gewissermaßen als ›Rohstoff‹ des Erinnerns anzusehen (vgl. ebd.: 346).

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Diese Interpretation wird durch Benjamins Ausführungen zu Proust und Freud bestätigt, in denen sich das Gedächtnis als leiblich ansprechbarer Raum unbewusster Erinnerungen darstellt, der dem Bewusstsein im Wesentlichen unzugänglich bleibt.3 In seinem Antwortbrief an Adorno geht Benjamin nicht direkt auf das unbewusste Moment im ursprünglichen Wahrnehmungsakt ein, sondern lediglich auf die Gewöhnung, durch die eine Wahrnehmung im Laufe der Zeit unbewusst wird: »Die kindliche Erfahrung des Geschmacks der Madeleine, die Proust eines Tages involontairement wieder ins Gedächtnis tritt, war in der Tat unbewußt. Nicht wird es der erste Bissen in die erste Madeleine gewesen sein. (Kosten ist ein Bewußtseinsakt.) Wohl aber wird das Schmecken unbewußt in dem Maße als der Geschmack vertrauter wurde. Das ›Wiederschmecken‹ des Herangewachsenen ist dann, natürlich, bewußt.« (Adorno/Benjamin 1994: 426) Die Differenz von willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung erfordert jedoch zumindest eine Unvollständigkeit des Grundeindrucks: Etwas bleibt in jeder Wahrnehmung unbewusst, jede Gegenwart enthält einen Anteil an nicht bewusst Erlebtem. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Subjekt im unwillkürlichen Wiedererinnern noch etwas ursprünglich nicht Vergegenwärtigtes entdecken und für sich gegenwärtig werden lassen. Das Vergessen ist damit zur Bedingung von Erfahrung geworden, das nicht Erlebte hat einen entscheidenden Anteil an der Kontinuität und am Zusammenhalt dessen, was übergeordnet als Struktur der Identität beschrieben werden kann (vgl. Agamben 2009: 126f.; Teschke 2000: 26). Durch das Vergessen als Voraussetzung des unwillkürlichen Erinnerns werden Erfahrungen als vergessene so bewahrt, dass sie wiedererinnert erstmalig erfahr- und erzählbar werden. Die unwillkürliche Erinnerung »untertunnelt ein langes und tiefes Vergessen« (Weinrich 2005: 192) und der Zeitraum, den das Erinnern überbrückt, wird vom Vergessen umfasst.

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Die Gewebemetapher verdeutlicht, dass Erinnerungen nicht isoliert bleiben, sondern zu anderen mit ihnen verbundenen Erinnerungen Zugang gewähren, mit denen sie wie an einer Kette oder einem Faden zusammenhängen. Die Fäden können als miteinander verwoben vorgestellt werden, sodass im Laufe eines Lebens ein dichtes Netz von Erinnerungen entsteht. Die Metapher verdeutlicht außerdem, dass Erinnerungen nicht chronologisch geordnet sind, sondern in allen Richtungen mit anderen Erinnerungen in Verbindung stehen (vgl. Gülich 1965: 71ff.). Eine analoge Metapher bei Proust ist die der Gedächtnislandschaft, in der die Erinnerungen durch zahlreiche, einander überschneidende Wege miteinander verbunden sind. Aus diesem Grund können Erinnerungen auf ungewohnten Wegen erreicht und aus ungewohnten Perspektiven betrachtet werden (vgl. ebd.: 55).

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Das dem willkürlichen Gedächtnis Verfügbare kann keine lebendige Erinnerung vermitteln, da die Distanz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem leer bleibt. Das Vergangene, das das Subjekt angeht und ihm Erfahrung vermitteln kann, ist von der Intelligenz nicht zu erreichen: Es hat sich im Bereich des Vergessens abgelagert, in dem es dem Zugriff der Gegenwart und der Veränderung überhaupt entzogen ist. In der Erfahrung des Wiedererinnerns wird die Zeit zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem lebendig und das Subjekt findet in dieser Weise seine verloren geglaubte Essenz wieder (vgl. Jauß 1986: 106f.). Hans Robert Jauß deutet diese Erfahrung so, dass der Gegenstand der Wahrnehmung sich erst durch das Wiedererkennen in seinem Wesen enthüllen kann, weil er erst die ihn verhüllende Neuheit ablegen muss. Erst der wirksame Abstand der Zeit macht eine Aneignung möglich (vgl. ebd.: 243). Das Vergessen ist also für die unwillkürliche Erinnerung Prousts von zentraler Bedeutung, da sie nicht wie das willkürliche Gedächtnis auf kurzfristige Zwecke abzielt: Zwischen dem ursprünglichen Ereignis und der die Erinnerung zufällig auslösenden Sinneswahrnehmung kann eine lange Zeit vergehen und die Erinnerung somit einen großen Zeitraum überspringen. Dieser Zeitraum wird jedoch Proust zufolge nicht wie bei Bergson als ›Dauer‹ erfahren, sondern bleibt in seiner zeitlichen Erstreckung unbewusst. Gerade dieses lange dauernde und tiefe Vergessen ist die Grundlage dafür, dass ein Erlebtes in der unwillkürlichen Erinnerung, aller Kontingenz entledigt, erneuert und verwandelt erfahren werden kann (vgl. Weinrich 2005: 191f.). Das Vergessen wird von Proust als eine notwendige Bedingung des Wiedererinnerns gedacht und das Erinnern selbst ist auf den Zufall angewiesen. Proust betont zwar wie Bergson den qualitativen Aspekt der Zeit gegenüber einer rationalen Ordnung von Zeitpunkten, wendet sich jedoch gegen die Vorstellung, derzufolge dem Menschen seine Lebenszeit jederzeit abrufbar ist. Sie bewahrt vielmehr gerade in ihrer Unzugänglichkeit und Verborgenheit vor dem Bewusstsein ihre Authentizität. Die Lebenszeit ist für Proust keine ›Dauer‹, in der sich alle Zeitebenen gegenseitig durchdringen, sondern vielmehr von einer Reihe blinder Flecken durchsetzt: In ihren wesentlichen Gehalten ist das Vergangene für Proust nicht präsent, sondern permanent vergessen (vgl. Finkelde 2003: 39f.; Jauß 1986: 14). 2.1.2 Das ›bucklichte Männlein‹ Den Gedanken eines jeder Wahrnehmung inhärenten Vergessens behandelt Benjamin auch anhand der Gestalt des ›bucklichten Männleins‹, die er mehrfach anführt und die das Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen ebenso darstellt

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wie die Entzogenheit des Gedächtnisses für den Willen des Subjekts. Die Figur entstammt einem anonym überlieferten Gedicht, das Achim von Arnim und Clemens Brentano im dritten Band von Des Knaben Wunderhorn erstmals veröffentlicht haben. Benjamin selbst nennt das Deutsche Kinderbuch von Georg Scherer als seine Quelle (vgl. VII, 430). Der Text Das bucklichte Männlein, der den letzten Abschnitt der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert4 bildet, beginnt mit den Erinnerungen des Kindes an die erleuchteten Kellerluken der Berliner Proletarierwohnungen, wo es Kanarienvögel und Bewohner ebenso wie »Gnomen mit spitzen Mützen« entdeckt (IV, 303; vgl. VII, 430). Später begegnen ihm die Gnomen in Gestalt des ›bucklichten Männleins‹ wieder, das als eine Art Gegenspieler des Kindes fungiert, wenn es beispielsweise über Äußerungen der Mutter heißt: »›Ungeschickt läßt grüßen‹, sagte sie mir immer, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder hingefallen war. […] Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Es steht verstört vor einem Scherbenhaufen« (IV, 303; vgl. VII, 430; Schöttker 2000: 272).

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Benjamin hat bis 1934 etwa vierzig kurze und in sich abgeschlossene Texte geschrieben, in denen er seine Erinnerungen an Berlin, an das Leben im Haus seiner Eltern, an Ferienaufenthalte, Verwandtenbesuche und Schulerlebnisse darstellt. Als Einheit ist die Sammlung zu Benjamins Lebzeiten nicht erschienen, obwohl er das Manuskript mehreren Verlagen zur Publikation angeboten hatte. Erst 1950 hat Adorno die Sammlung als Buch veröffentlicht, wobei ihm ebenso wie der Fassung für die Gesammelten Schriften von 1972 keine komplette, von Benjamin autorisierte Manuskript- oder Typoskriptfassung zugrunde liegt. Mit der 1981 in der Pariser Nationalbibliothek aufgefundenen Typoskriptfassung Handexemplar komplett (VII, 385-433) sowie der 2000 publizierten »Gießener Fassung« von 1932 liegt mittlerweile eine frühe und eine späte von Benjamin selbst besorgte Textfassung vor. Wichtigste Vorarbeit zur Berliner Kindheit ist die Berliner Chronik, die aus autobiografischen Aufzeichnungen und theoretischen Überlegungen zum Phänomen der Erinnerung besteht und überwiegend während eines Aufenthalts auf Ibiza von April bis Juli 1932 entstand. Das mehrfach umgearbeitete Konvolut ist zu Lebzeiten nicht in Buchform erschienen. Es wurde zuerst 1970 von Scholem ediert und als Einzelband aus dem Nachlass veröffentlicht (vgl. Lemke 2011: 654f.; Schöttker 2000: 264, 268; Anmerkungen des Herausgebers zur Berliner Kindheit: IV, 964-986; Anmerkungen der Herausgeber zur Berliner Chronik: VI, 797-807; Anmerkungen der Herausgeber zur »Fassung letzter Hand« der Berliner Kindheit: VII, 691-723).

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Diese Erfahrung vertieft Benjamin, indem er das Nichtachtgeben mit dem ›Nachsehen haben‹ verbindet: »Wo es erschien«, so heißt es über das ›bucklichte Männlein‹, »da hatte ich das Nachsehn. […] Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sichʼs in den Weg. Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding, an das ich kam, den Halbpart des Vergessens einzutreiben«. Folgender Vers illustriert dieses Nachsehen: »›Will ich in mein Stüblein gehn, / Will mein Müslein essen: / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hatʼs schon halber ʼgessen.‹ So stand das Männlein oft. Allein, ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah.« (IV, 303f.; vgl. VII, 430) Steht das Männlein für das Vergessen, so lässt sich feststellen, dass das Vergessen – wie das Männlein das ›Müslein‹ zur Hälfte isst – den ›Halbpart‹ des Lebens eintreibt und das Gedächtnis in dieser Weise als Medium gekennzeichnet wird, das eine gewisse Eigenständigkeit besitzt und sich dem Willen des Subjekts entzieht. Das bereits zur Hälfte gegessene ›Müslein‹ veranschaulicht ein Vergessen, das von einem Eindruck bereits in der ursprünglichen Wahrnehmung einen Teil nicht zu Bewusstsein kommen lässt. Dieses Vergessene wird der unwillkürlichen Erinnerung zugänglich gemacht, da genau dieses zunächst nicht bewusst Wahrgenommene später erinnert wird (vgl. Borgards 2009: 352; Schöttker 2000: 273f.): Die unwillkürliche Erinnerung macht nicht bloß ein vergessenes Vergangenes bewusst, sondern sie erweckt es so, wie es nie bewusst erlebt wurde. In der unwillkürlichen Erinnerung wird Vergangenes in der Form eines ›Déja-vu des nie Erlebten‹ lesbar: Es handelt sich um die Erinnerung an ein Unbekanntes (vgl. Finkelde 2003: 67; Stüssi 1977: 106). Die unwillkürliche Erinnerung beruht auf einer ursprünglichen Unaufmerksamkeit: Die ›verlorene Zeit‹, die sie wiederfindet, ist in ihr vorausgesetzt (vgl. Wohlfarth 1988: 146). Das unbewusst Vergessene ist Grundlage für die unwillkürliche Erinnerung, die als Erfahrung die Begegnung mit dem früheren Selbst ermöglicht, das nun im Wiedererinnern erst wirklich bewusst wird und in dieser Erfahrung die Identität des Subjekts offenbart (vgl. Michel-Thiriet 1992: 359f.). Die Selbstbegegnung mit den Gedächtnisinhalten, die das ›bucklichte Männlein‹ besitzt und die Benjamin im letzten Abschnitt mit den Bildern eines Daumenkinos vergleicht (vgl. IV, 304), bedarf der Selbstwiederholung, wofür die Bilder zunächst unbewusst registriert werden müssen. Die Negativität des ›bucklichten Männleins‹, das die Bilder entwendet, bevor sie gesehen werden können, stellt sich am Ende als die Kehrseite einer Positivität heraus (vgl. Wohlfarth 1988: 146). Das ursprüngliche Nichtachtgeben und die Aufbewahrung des ›Halbparts des Vergessens‹ im unbewussten Gedächtnis ist Voraussetzung eines unwillkürlichen Nachholens, bei dem der Erinnernde sich selbst begegnet. Eine gewisse

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Unaufmerksamkeit ist die Bedingung für die Erfahrung des unwillkürlichen Erinnerns (vgl. ebd.: 148ff.). 2.1.3 Vergessen als Entstellung Das ›bucklichte Männlein‹, das »von jedwedem Ding, an das ›ich kam, den Halbpart des Vergessens‹ einbehielt« (II, 1241), taucht als »der Insasse des entstellten Lebens« (II, 432) auch in Benjamins Arbeiten zu Franz Kafka auf, in denen das Vergessen als Funktion des Gedächtnisses eine wichtige Bedeutung hat: »Das ist auch so ein Vergessenes, das bucklichte Männlein, das wir einmal gewußt haben, und da hatte es seinen Frieden, nun aber vertritt es uns den Weg in die Zukunft.« (II, 682) Die Figuren Kafkas sind »durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen« (II, 431), so schreibt Benjamin in Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. Er bezieht sich auf Kafkas Tiergestalten, die er als »Behältnisse des Vergessenen« bezeichnet (II, 430). Als weitere Beispiele für diese »Konfigurationen des Vergessens«, von denen »Kafkas Dichtung gänzlich erfüllt« ist, nennt Benjamin Gregor Samsa als Käfer in der Verwandlung, »die ›Kreuzung‹, das Tier, das halb Kätzchen, halb Lamm ist und für das vielleicht das Messer des Schlächters eine Erlösung wäre« sowie »die ›Sorge des Hausvaters‹, die seltsame redende Spule Odradek« (II, 682). Odradek steht ebenfalls für »die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.« (II, 431; vgl. II, 1239) Diese »Bote[n] aus dem Reich des Vergessenen« – Odradek ebenso wie Gregor Samsa und das ›bucklichte Männlein‹, »welches die Last der Entstellung auf dem Rücken von Haus aus trägt« (II, 1241) – bezeichnen als kleine und hässliche Gestalten die Entstellung des Vergessens, eine Verzerrung, die darin besteht, dass etwas nicht an seiner richtigen Stelle ist. Dass der Bucklige für Benjamin das Grundbild dieser Entstellung abgibt, erklärt sich daraus, dass der Rücken derjenige Körperteil ist, der grundsätzlich unfähig ist, achtzugeben. Das Vergessene liegt den Menschen als Last auf dem Rücken und bestimmt ihre Bewegungen mit, kann dabei jedoch nicht gesehen werden (vgl. Kramer 2010: 112; Wohlfarth 1988: 128). Jeder Erinnerungsprozess produziert solche Entstellungen, die Benjamin als Formen des Vergessens versteht. Er bringt in seinen Überlegungen die entstellten Figuren Kafkas mit Freuds Sprache des Unbewussten in Verbindung, in der Symptome und Träume als Erinnerungssymbole gefasst werden, deren entstellter und verschobener Darstellung stets ein Vergessen eingeschrieben ist (vgl. Weigel 2008: 184). So beziehen sich die Figur Odradek und das ›bucklichte Männlein‹ auf dasjenige, was im individuellen wie im kollektiven Leben in jedem Au-

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genblick vergessen wird und bei Weitem die bewusste Wahrnehmung übersteigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Vergessene nicht auch in der Gegenwart wirksam wäre; es ist Benjamin zufolge vielmehr gerade durch seine Vergessenheit gegenwärtig (vgl. II, 428). Das Vergessene entfaltet in der Gegenwart ebenso wie das bewusst Erinnerte seine Wirkungen, wenn auch auf andere Weise. Die Gegenwart des Vergessenen rührt daher, dass es sich um etwas handelt, das »nicht bewältigt, sondern nur verdrängt und vergessen« (II, 1236) wurde, weshalb es gerade fordert, nicht erinnert zu werden, sondern unvergesslich zu bleiben. Als Vergessenes ist es ein Unvergessliches. Es verfügt über eine nicht auf das Bewusstsein angewiesene Kraft und bestimmt dieses Bewusstsein (vgl. Agamben 2006: 51f.). In jedem Augenblick übertrifft das Vergessene bei Weitem das, was bewusst aufgenommen und willkürlich ins Gedächtnis gerufen werden kann. Dieses Vergessene ist nicht einfach ausgelöscht oder untätig, sondern übt einen unbewusst bleibenden Einfluss auf das Subjekt aus. Die Psychoanalyse im Sinne Freuds hat zum Ziel, dasjenige Unbewusste zu vergegenwärtigen, von dem das Subjekt beeinträchtigt und in seinem Handeln geleitet wird. Symptome und Träume sind für Freud die beiden zentralen Formen, in denen das Unbewusste sich äußert. Die Vorstellungen des Wachbewusstseins treten darin zurück und bieten Raum für die ansonsten unbewussten Erinnerungen. Das Unbewusste kann sich in dieser Weise artikulieren, unterliegt dabei jedoch den Umgestaltungsprozessen der Verdichtung und Verschiebung, der Auswahl und Modifikation, damit es dargestellt werden kann (vgl. Kasper 2003: 185). Vergangenes hinterlässt in Form von Erinnerungssymbolen einer entstellten Darstellung seine Spuren im Unbewussten und die durch Verdichtung und Verschiebung geformten Traumbilder oder körperlichen Symptome werden als Spuren lesbar. Erinnerung zeigt sich für Freud immer als ein Phänomen ursprünglicher Nachträglichkeit, da die unbewussten Gedächtnisinhalte nur nachträglich über die Entzifferung der entstellten Ausdrucksformen konstruiert werden können (vgl. Lemke 2008: 45f.; Weigel 1997: 36)5: »Der Analytiker […] hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren.« (Freud 1975c: 396) Diese Funktion des Gedächtnisses, die Dauerspuren zu entstellten Erinnerungsbildern umzuarbeiten, bleibt in der Vorstellung des Gedächtnisses als ›Speicher‹ und des Vergessens als Löschvorgang unberücksichtigt (vgl. Weigel 1996: 251f.). Die ursprüngliche Nachträglichkeit der Erinnerung reflektiert Benjamin bereits in der Notiz Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Ge-

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Zur Ursprünglichkeit dieser Nachträglichkeit vgl. Derrida 1976: 315ff.

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burtstag gehalten (II, 1064-1065). Hier schreibt er, dass Erinnerungen keine Vergegenwärtigung im Sinne einer Rekonstruktion des Gewesenen sind, sondern die Konstruktion von »Bilder[n], die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten« (II, 1064), da sie sich dem Zugriff des Bewusstseins im Moment des Erlebens entzogen. Erinnern heißt also auch für Benjamin, den vergangenen Wahrnehmungen nachträglich eine Form und Deutung zu geben, die sie im Rückblick schon immer gehabt zu haben scheinen: Erinnerungsspuren sind aufgrund neuer Erfahrungen und dem jeweiligen Verstehenshorizont unbewussten Ver- und Umarbeitungsprozessen ausgesetzt und werden permanent zu Umschriften vergangener Erlebnisse, sodass sie einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit erhalten (vgl. Laplanche/Pontalis 1982a: 313).6 Das Subjekt arbeitet auf diese Weise seine Vergangenheit aufgrund seines aktuellen Bewusstseins ständig um und Erinnern kann auch als Form der Deutung verstanden werden. Erinnern ist nicht als die Wiederherstellung eines faktisch Geschehenen zu denken, sondern als ein produktiver und konstruktiver Prozess, der über keinen verlässlichen Ursprung verfügt. Verdichtung und Entstellung wirken in unbewusster psychischer Arbeit auf das Erinnerungsmaterial ein, was Freud als den ›Primärprozess‹ bezeichnet. Das bewusste Erinnern beinhaltet demgegenüber eine sekundäre Bearbeitung, in der nachträglich die logischen Relationen des Wachbewusstseins angewandt werden, um eine konsistente Erzählung zu erhalten (vgl. Quindeau 2005: 62f., 87). Die Nachträglichkeit der Erinnerung konstituiert jedoch auch ihre Echtheit und insofern ihre Erfahrungsqualität: Das Vergessen eines Ereignisses und die Entfernung von seinem Ort und seiner Zeit macht es möglich, im Akt des Erinnerns nachträglich Ähnlichkeiten zwischen ei-

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Am 06.12.1896 skizziert Freud Wilhelm Fließ seine »Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt« (Freud 1986: 217). Laplanche und Pontalis machen deutlich, dass das Wahrgenommene selektiv einer nachträglichen Umarbeitung unterzogen wird, das im Augenblick des Erlebens – wie beim traumatischen Ereignis – nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte (vgl. Laplanche/Pontalis 1982a: 314). Am Ende seiner Arbeit Über Deckerinnerungen führt Freud zudem unmissverständlich aus, dass es sich bei Erinnerungen nicht um Reproduktionen ursprünglicher Eindrücke handelt: »Unsere Kindheitserinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind die Kindheitserinnerungen nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, sondern sie sind damals gebildet worden« (Freud 1952: 553f.; vgl. Quindeau 2005: 62f.).

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ner sich entziehenden Vergangenheit und der Gegenwart festzustellen (vgl. Finkelde 2003: 133). 2.1.4 ›Episches‹ und ›reflektorisches‹ Vergessen Alle bislang ausgeführten vergessenstheoretischen Motive unterlaufen die strikte Opposition von Vergessen und Erinnern: Die Formen des Vergessens spielen mit dem Erinnern zusammen und sind auf unterschiedliche Weise seine Bedingung. Weil das Vergessen mit dem Erinnern untrennbar verbunden ist, ist es mit der Vorstellung vom Gedächtnis als ›Speicher‹ unvereinbar. Das unbewusste Gedächtnis ist kein ›Speicher‹, in dem Erinnerungen unveränderlich bewahrt werden, sondern es entfaltet eine eigendynamische Kraft der Umwandlung, die dem bewussten Erinnern und dem nachträglich ordnenden willkürlichen Gedächtnis vorausgeht und zugrunde liegt. Zudem wird deutlich, dass jede Erinnerung dadurch Vergessen in sich schließt, dass sie eine selektive Rekonstruktion eines Vergangenen ist (vgl. Dimbath/Wehling 2011a: 17). Die Ereignisse, aus denen Erfahrung sich bildet, sind dermaßen zahlreich, dass nicht alle jederzeit verfügbar sein können. Die Ordnung, in die die Identität des Individuums gebracht wird und sich paradigmatisch in der Erzählung darstellt, ist eine immer unvollständige Repräsentation der inneren ›Unordnung‹. Für die von Adorno geforderte Theorie darf das Vergessen nicht der Erinnerung entgegengesetzt werden: Vergessenes dient der unwillkürlichen Erinnerung als Produktionsinstanz und ist erfahrungskonstitutiv. Aus diesem Grund muss es als eine die Erinnerung ermöglichende Grundfunktion des Gedächtnisses verstanden werden. Es kann nur etwas erinnert werden, das zuvor auch vergessen wurde, wie Johann Kreuzer betont: »Erinnern müssen wir, weil wir vergessen – und würden wir nicht vergessen, bräuchten wir nicht zu erinnern.« (Kreuzer 2011: 386; vgl. Kreuzer 2004: 167f.) Erst durch das Vergessen wird deutlich, dass Erinnern keinen Zustand zeitloser Präsenz umfasst, denn dann wäre die Erinnerung nutzlos. Erinnern ist kein Zustand, sondern ein Akt, der sich im Vergehen von Zeit vollzieht und voraussetzt, dass die Erinnerung durch Vergessen unterbrochen wird (vgl. Kreuzer 1996: 976; Kreuzer 1995: 66). Erinnerung ist keine ununterbrochene Präsenz von Erinnertem: Das unbewusst Erinnerte bzw. das Vergessene wird im Akt des Wiedererinnerns vergegenwärtigt (vgl. Kreuzer 1995: 25). Im Zustand der Vergessenheit ist Erinnertes vom bewussten Akt des Erinnerns getrennt und aus diesem Grund nicht mehr bzw. noch nicht wirksam gegenwärtig. Es ist erinnert, aber nicht ausdrücklich. In der Regel vollzieht sich Erinnern, wie bereits Bergson verdeutlicht hat, kontinuierlich, wird aber nur selten auch bewusst als Erin-

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nern wahrgenommen. Die Vergegenwärtigung dieses unthematisch Erinnerten im bewussten Erinnern setzt voraus, dass es entweder unwillkürlich oder intentional wiedererinnert wird (vgl. ebd.: 52f., 79). Vergessen lässt sich nicht als bloßes ›Negieren von Erinnerung‹ oder als ›Unglücksfall des Erinnerns‹ und gleichzeitig im Gegensatz zum Gedächtnis verstehen, wie es in konstruktivistischen Konzeptionen häufig geschieht, in denen Erinnern und Vergessen als willentlich steuerbare Mechanismen verstanden werden. Der unbewusst vergessene Gedächtnishintergrund fällt dann aus der Unterscheidung von ›gespeicherten‹ und deshalb erinnerbaren Gedächtnisinhalten und Vergessenem bzw. ›Gelöschtem‹ heraus. So funktioniert Erinnerung jedoch nicht, denn etwas ›neu‹ zu erinnern bedeutet, etwas Vergessenes wiederzuerinnern, das nicht ›gelöscht‹ wurde, sondern zu unthematisch Erinnertem geworden ist und die Vermittlung zwischen der ersten Wahrnehmung und ihrer Bewusstwerdung in der Erinnerung leistet (vgl. Teschke 2000: 25f.; Kreuzer 1996: 978). Friedrich Georg Jünger spricht in diesem Sinne von einem ›Verwahrensvergessen‹ und macht deutlich, dass etwas in der Vergessenheit verwahrt werden muss, um es ins Bewusstsein zurückrufen zu können: »Das Vergessen, das die Verwahrung des Gedachten und seine Rückkehr ins Denken ermöglicht, ist das unwahrnehmbare Verwahrensvergessen.« (Jünger 1957: 16f.) In dieser Weise sind Gedächtnis und Vergessen auch für Proust gleichbedeutend: als ›Vorrat‹ (réserve) an Erinnerungen (vgl. Gülich 1965: 54). Auch Ricœur spricht von einem »verwahrende[n] oder ermöglichende[n] Vergessen« im Unterschied zu einem Vergessen, das in einer Auslöschung der Spuren besteht (Ricœur 2004: 672). Dieses verwahrende Vergessen ist auch für ihn eine Bedingung für die Erfahrung des Wiedererkennens. Er beruft sich auf Bergsons Vorstellung von der Selbsterhaltung der ›Dauer‹, wenn er konstatiert, dass angesichts des Phänomens des Wiedererkennens ein unbewusstes Fortbestehen des ursprünglichen Eindrucks in der Erinnerung postuliert werden muss: »Wenn eine Erinnerung wiederkehrt, so heißt das, daß ich sie verloren habe; aber wenn ich sie trotz alledem wiederfinde und wiedererkenne, so weil ihr Bild überlebt hat.« (Ebd.: 657) Die Erfahrung des Wiedererkennens im Wiederfinden einer Erinnerung verweist auf einen Latenzzustand der Erinnerung des ersten Eindrucks. Das Weiterleben der Erinnerung bleibt in der Zeit zwischen dem ersten Eindruck und dem Wiedererkennen unbewusst und der Ausdruck ›verwahrendes Vergessen‹ bezeichnet eben diesen unbewussten Charakter der Erhaltung der Erinnerung: Sie ist dem Bewusstsein entzogen (vgl. ebd.: 672). Vergessen darf diesen Überlegungen zufolge nicht als ein totaler Verlust verstanden werden, sondern bezeichnet das Eingehen eines bereits Wahrgenommenen in das von der Zeit des Bewusstseins in seiner Chronologie unabhängige Un-

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bewusste und zumindest vorübergehend Unzugängliche des Gedächtnisses, das jedoch unter gewissen Bedingungen wiedererinnert werden kann. Dadurch, dass nur etwas erinnert werden kann, das zuvor vergessen wurde, ist Vergessen nicht der Gegensatz zum Erinnern, sondern – gemeinsam mit der Bewahrungsfunktion des Gedächtnisses – dessen Voraussetzung. Erinnern meint keine konservierende Gegenwärtigkeit, sondern einen Akt der Aktualisierung oder Vergegenwärtigung (vgl. Kreuzer 2010: 265). Auch Freuds Modell des ›Wunderblocks‹ (vgl. Kapitel I.1, Anm. 18) macht deutlich, dass es der Verlust ist, der einen Eindruck zur Spur und dadurch erst erinnerbar macht: Der ›Wunderblock‹ erhält in seiner Wachsschicht sowohl ein vergängliches als auch ein dauerhaftes Gedächtnis, dem auch ein vorübergehendes und ein bleibendes Vergessen entsprechen (vgl. Weinrich 2005: 170). Das totale Vergessen, durch das alle Spuren unwiederbringlich verlorengehen, und aus dem resultiert, dass nichts mehr erinnert werden kann, ist ein Grenzbegriff, der für die von Adorno angemahnte Konzeption eine untergeordnete Rolle spielt. Für diese ist in erster Linie das ›bewahrende‹ Vergessen in der Nichtaktualität des Gedächtnisses maßgeblich. Der Zugang zur unwillkürlichen Erinnerung und zur Erfahrung ist Adorno zufolge jedoch nicht nur davon abhängig, dass ein Mensch vergisst, sondern ob »ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt« (Adorno/Benjamin 1994: 417; Hervorhebung nicht i.O.). Adorno unterscheidet zwischen dem ›epischen‹ Vergessen, das Dauerspuren im Gedächtnis sichert und Erinnerung ermöglicht, und dem ›reflektorischen‹ Vergessen, das keine Spuren hinterlässt, weil es in einer ständigen Überlagerung von Reizen besteht: Im Bewusstsein verdrängt jeder neue Reiz den ihm vorangegangenen und macht ihn in dieser Weise vergessen (vgl. Kreuzer 2011: 386f.). Die defiziente Erfahrungsform des ›Erlebnisses‹ lässt sich auch mit dem Begriff des ›reflektorischen‹ Vergessens umschreiben: Das ›Erlebnis‹ wird bereits im Akt des Erlebens vergessen (vgl. Finkelde 2003: 43). Schon Bergson hat diese Möglichkeit einer gedächtnislosen Existenz bedacht, »die aus einer unaufhörlich von neuem beginnenden Gegenwart besteht – keine reale Dauer mehr, nur Momenthaftes, das immerfort stirbt und neu geboren wird« (Bergson 2013: 231). Durch diese gedächtnislose Existenz wird die Erfahrung der Begegnung mit dem früheren Selbst im Wiedererinnern, die die Identität des Subjekts offenbart, verunmöglicht. An der Kontinuität dieser Identität hat ein ursprünglich nicht Erlebtes einen entscheidenden Anteil, wie bereits mit Bezug auf Leibnizʼ Begriff der ›kleinen Perzeptionen‹ ausgeführt wurde (vgl. Abschnitt I.2.2.1). Für das erfahrungskonstitutive ›epische‹ Vergessen kommt es auf ein nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehendes, jedoch gemeinsam mit dem bewusst Wahrgenom-

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menen Aufgenommenes an, das später im unwillkürlichen Wiedererinnern entdeckt werden kann. Im Gegensatz zum erfahrungsbildenden Vergessen zeichnet sich das ›reflektorische‹ Vergessen durch seine Abspaltung vom Erinnerungsvorgang aus. Unter der Voraussetzung zerstreuter Wahrnehmung vollzieht sich ein ständiger Wechsel zwischen »breitem Vergessen und jähem, sogleich wieder untertauchenden Wiedererkennen« (Adorno 1973d: 34), wie Adorno in seinem Text Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens ausführt. Die Wahrnehmung erfolgt darum atomistisch und dissoziativ und nicht in Zusammenhängen als Erfahrung, die Adorno zufolge die »Auffassung eines Ganzen« ist: »Realisiert wird nur, worauf gerade der Scheinwerferkegel fällt« (ebd.: 37). Die Beschränkung der Aufmerksamkeit auf die Abwehr von Reizen, sodass gegenwärtige Eindrücke im Bewusstsein ›verpuffen‹, macht die Bewahrung einer Erinnerungsspur im unbewussten Gedächtnis und ihre spätere nachholende Aufnahme unmöglich und Erfahrung wird durch die Abtrennung des Erinnerungsvorgangs vom Vergessen zum Scheitern gebracht. Das Vergessen muss dieser ›Erledigung‹ der Eindrücke zuvorkommen, damit das Subjekt das ›Nachsehen‹ hat und die ursprüngliche Nachträglichkeit der Erinnerung zu ihrem Recht kommen kann (vgl. Wohlfarth 1988: 149; Bange 1987: 88f.).

2.2 D AS V ERGESSENE

IN DER

G ESCHICHTE

Der assmannsche Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ umfasst kulturelle Objektivationen, die als symbolische Repräsentationen von kollektiv relevantem Wissen über die Vergangenheit dem Selbstverständnis eines kulturellen Kollektivs Ausdruck geben und es für die Zukunft stabilisieren und tradieren sollen. Identität stiftend ist vor allem die Selektivität und Exklusivität in Form eines Ausschlusses der Geschichte anderer (vgl. Abschnitt I.2.1.3). In diesem Abschnitt wird eine dem Gegenstandsbereich des ›kulturellen Gedächtnisses‹ analoge Dimension beleuchtet, wie sie sich in Benjamins Programm einer historischmaterialistischen Geschichtsschreibung findet. Benjamin versucht die im Rahmen seiner Erfahrungstheorie erarbeitete Begrifflichkeit von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen auf die kollektive Dimension zu übertragen. Die Überlegungen, die Benjamin diesem Vorhaben zugrunde legt, sind vor allem in den als Konvolut N (V, 570-611) bezeichneten Notizen des Passagen-Werks und in Über den Begriff der Geschichte dargelegt. Über den Begriff der Geschichte, Benjamins letzte Arbeit, die eine annähernd

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abgeschlossene Gestalt angenommen hat7, und die nach Benjamins eigener Aussage »eine gewisse Etappe meiner Reflexionen zur Fortsetzung des ›Baudelaire‹ dar[stellt]« (Adorno/Benjamin 1994: 426), kann als eine Art Zusammenfassung der erkenntnistheoretischen Überlegungen angesehen werden, deren Entwicklung die Arbeit am Passagen-Werk begleitet hat.8 Benjamin skizziert seine Vorstellung einer materialistischen Geschichtsdarstellung, die Erinnerung zur Grundlage hat. Im Passagen-Werk beschreibt er die materiellen Objektivationen der Kultur im Paris des 19. Jahrhunderts als »Denkmäler eines nicht mehr seins« (V, 1001): »Die [Dinge], die sich überlebt haben, sind unerschöpfliche Behälter von Erinnerungen geworden.« (V, 447) Entscheidend ist für Benjamin jedoch, dass diese ›raumgewordene Vergangenheit‹ von Vergessen durchsetzt ist und lediglich in vieldeutigen, entstellten Spuren existiert. Sie lässt sich aus diesem Grund nicht in ihrer Einheit ›abrufen‹, sondern muss anhand der hinterlassenen Orte gedeutet werden (vgl. V, 1041; Weigel 1997: 39). Das Passagen-Werk macht es sich deshalb zur Aufgabe, die »Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts« und die von ihm kulturell hervorgebrachten Bilder »wie einen Text [zu] lesen«: »Wir schlagen das Buch des Geschehenen auf.« (V, 580) Benjamin betont dabei die praktische Dimension des Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit: Kulturelle Objektivationen haben von sich aus keine Bedeutung, sondern diese wird ihnen in intersubjektiven Prozessen erst verliehen. Geschichte entsteht erst im Prozess des Schreibens der Geschichte, in dem die vom Vergangenen hinterlassenen Spuren in einer jeweiligen Gegenwart interpretiert werden (vgl. Mosès 1992: 134).

7

Ausgenommen davon ist die Besprechung von Georges Salles Buch Le regard (III, 589-595). Es lässt sich angesichts der Neuedition von Gérard Raulet (Benjamin 2010) kaum abschätzen, wie ›abgeschlossen‹ der Text Über den Begriff der Geschichte für Benjamin war. Bereits in den Anmerkungen der Herausgeber der Gesammelten Schriften (I, 1223-1266), in denen Vorstufen und Aufzeichnungen aus dem Umkreis abgedruckt sind, ist von »nicht weniger als vier verschiedenen abgeschlossenen Versionen« (I, 1229) die Rede. Die Neuausgabe präsentiert sechs unfertige Fassungen in zwei Sprachen, dazu umfangreiche Materialien und Vorarbeiten. Eine ›abgeschlossene‹ oder letzte Textstufe lässt sich unter den überlieferten Typo- und Manuskripten nicht ausmachen. Zur Überlieferung des Textes vgl. Gagnebin 2011: 285f.

8

Benjamin hat bereits 1935 sowohl gegenüber Scholem als auch Adorno von der Notwendigkeit erkenntnistheoretischer Ausführungen für das geplante Buch Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts in Analogie zur erkenntniskritischen Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels (vgl. I, 207ff.) gesprochen (vgl. 5, 83; 5, 98).

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Aus der Perspektive Benjamins ist in diesem Zusammenhang vor allem die Frage wichtig, was durch den identitär vereinheitlichenden Mythos der kollektiven Geschichte als Bezugspunkt zum Zweck der Konstruktion einer ›kollektiven Identität‹ an der eigenen Geschichte vergessen wird. Die machtgestützte Institutionalisierung und Festschreibung bestimmter Deutungen der Vergangenheit beinhaltet immer auch die Verdrängung von Elementen des Vergangenen, die sich nicht in diese Deutungen fügen. In diesem Abschnitt werden die diesbezüglichen theoretischen Elemente aus dem Passagen-Werk und Über den Begriff der Geschichte miteinander verbunden. Analog zur individuellen Ebene werden die Erinnerung und das Vergessen in ihrer Funktion der Konstitution nicht-entfremdeter Erfahrung gegenüber der Speicherleistung des Gedächtnisses akzentuiert. Im Folgenden geht es neben der Vorstellung eines ›kollektiven Unbewussten‹ (Abschnitt 2.2.1) um Benjamins Kritik einer hegemonialen Kontinuität (Abschnitt 2.2.2) und die Konsequenzen aus den realen Diskontinuitäten der Geschichte (Abschnitt 2.2.3). 2.2.1 Das ›kollektive Unbewusste‹ Benjamin macht im Kafka-Aufsatz unzweifelhaft deutlich, dass das »Vergessene [...] niemals ein nur individuelles [ist]. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein.« (II, 430) Das Vergessene, das »außerordentlich beweglich und nicht zu fangen« (II, 1215) ist, dessen ›Wohnsitz‹ unbestimmt ist und das »nicht auf uns angewiesen« ist (II, 1214), bezeichnet die unbewusste Dimension des Gedächtnisses, in die immer auch kollektive Elemente eingehen und die gerade durch ihre Vergessenheit gegenwärtig bleibt (vgl. II, 428). Die zu entziffernden Spuren des ›kollektiven Gedächtnisses‹ müssen in der geschichtlichen Anschauung, auf die Benjamin abzielt, einer vergegenwärtigenden Lektüre unterzogen werden. Benjamin orientiert sich an Freud, insofern er dessen Begrifflichkeit von ›Traum‹ und ›Wachzustand‹ auf die kollektive Ebene überträgt.9 Den ›Traum‹ betrachtet Benjamin als eine zu entzif-

9

Benjamin greift die Motive der »Sensation des Neuesten, Modernsten« und der »ewige[n] Wiederkehr alles Gleichen« auf und bestimmt diese als »Traumform des Geschehens« (V, 679.; vgl. V, 1023): »Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte.« (V, 494) In diesem ›Traumschlaf‹ findet nach Benjamin eine unbewusste Bildproduktion des Kollektivs statt, die der von ihm anvisierten »Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts« als Quelle dient (V, 140).

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fernde Äußerungsweise des ›kollektiven Unbewussten‹, das er als ein Vergessenes deutet. Er denkt das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart als eine Beziehung zwischen ›Traum‹ und ›Wachzustand‹ (vgl. Weigel 1997: 32, 39).10 Freud setzt für die psychoanalytische Tätigkeit, in der die gegenwärtig wirksame Vergangenheit durch die Erinnerung ins Bewusstsein gebracht werden soll, voraus, dass vom Vergessenen nichts wirklich verloren ist, sondern bloß vorübergehend unzugänglich: »Es ist nur eine Frage der analytischen Technik, ob es gelingen wird, das Verborgene vollständig zum Vorschein zu bringen.« (Freud 1975c: 398) Analog zur psychoanalytischen Erinnerungsarbeit, in der wichtige nicht-bewusste Gedächtnisinhalte wieder bewusst gemacht werden sollen, beabsichtigt Benjamin, die verschütteten Bilder der Geschichte durch Erinnerung ins Bewusstsein zu bringen. Denn Geschichte wird zum pathologischen Prozess, wenn das Unbewältigte dieser Geschichte nicht reflektiert und durch die Erinnerung vergangen gemacht wird. Ein Kollektiv ist für Benjamin solange nicht Subjekt seiner Geschichte, wie das Unbewusste der Geschichte als solches weiterhin fortexistiert und wirksam ist. Unbewusst bleibend wird es bloß blind wiederholt (vgl. Weidmann 1992: 13; Wiegmann 1989: 52f.). Erst durch die Erinnerung wird Unbewusstes zur angeeigneten Geschichte, die imstande ist, zur Grundlage einer nicht-entfremdeten Identität zu werden. Die Form der Erinnerung, die Benjamin dabei im Blick hat, präzisiert er mit einem erneuten Rekurs auf die proustsche unwillkürliche Erinnerung: »Was Proust am Phänomen des Eingedenkens als Individuum erlebte, das haben wir [...] als ›Strömung‹, ›Mode‹, ›Richtung‹ (aufs 19te Jahrhundert) zu erfahren.« (V, 1031) Diese Ausrichtung der Erinnerung bindet Benjamin an die Kategorie des ›Erwachens‹ (vgl. V, 580). Das ›Erwachen‹ als »exemplarische[r] Fall des Erinnerns« (V, 1057) soll die »Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesnen« (V, 572; vgl. V, 1014; V, 491) leisten und den träumerischen Mythos durchbrechen, um ihn in Geschichte aufzuheben, die als gebildete und vergangene erkannt werden kann (vgl. Pethes 1999: 394): »Architekturen, Moden,

10 Bereits Freud erwägt die Möglichkeit einer »vollständigen Analogie [...] zwischen der Art wie Völkertraditionen und wie die Kindheitserinnerungen des einzelnen Individuums gebildet werden« (Freud 1941: 164): »Daß man bei der Entstehung der Traditionen und der Sagengeschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem Nationalgefühl Peinliche aus der Erinnerung auszumerzen, Rechnung tragen muß, wird allgemein zugestanden.« (Ebd.; vgl. Kirchhoff 2009: 113) Zu Freuds Begriff des ›kollektiven Unbewussten‹ vgl. auch seine Ausführungen über die ›archaische Erbschaft‹ und das ›kollektive Unbewusste‹ in Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Freud 1974, besonders 545ff., 577).

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ja selbst das Wetter sind im Innern des Kollektivums was Organempfindungen, Gefühl der Krankheit oder der Gesundheit im Innern des Individuums sind.« Solange sie als ›Traumgestalten‹ unbewusst bleiben, sind sie »so gut Naturvorgänge, wie der Verdauungsprozeß, die Atmung etc. Sie stehen im Kreislauf des ewig Selbigen, bis das Kollektivum sich ihrer in der Politik bemächtigt und Geschichte aus ihnen wird.« (V, 492; vgl. V, 1012) Benjamin zitiert in diesem Zusammenhang Marx: »Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt … aus dem Traume über sich selbst aufweckt.« (V, 570)11 Der Moment des ›Erwachens‹ wird in der unwillkürlichen Erinnerung dem Traumbild hinzugefügt, das auf die Gegenwart bezogen und für die Wacherfahrung gerettet wird. Denn als bloß geträumtes bleibt das Traumbild des Vergangenen für die Erfahrung unzugänglich (vgl. Teschke 2000: 81f.). Im Augenblick des Erwachens, der den Beginn von etwas Neuem bedeutet, kommt der bisher geträumte Traum in der Erinnerung schlagartig zu Bewusstsein. Die Gegenwart ist Benjamin zufolge als Erwachen zu erfahren, indem das Vergangene und gleichzeitig die Gegenwart als vom Vergangenen gemeint erkannt wird, weil in dieser Gegenwart gerade dieses bestimmte Vergangene erkannt werden kann (vgl. Weidmann 2000: 342f.): »Sollte Erwachen die Synthesis sein aus der Thesis des Traumbewußtseins und der Antithesis des Wachbewußtseins? Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem ›Jetzt der Erkennbarkeit‹« (V, 579). In diesem ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ wird ein Vergangenes in der Erinnerung so wirklich, wie es vorher nie war, es erhält »einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick seines Existierens« (V, 495), da der Traum nicht träumend erfasst werden kann, sondern erst in der Erinnerung an ihn, die ihn beendet und in dieser Weise einen revolutionären Umschwung einleitet (vgl. Weidmann 2000: 344). Der Begriff des ›Erwachens‹ weist auf den gegenwartsbezogenen Status hin, den das Erinnern für Benjamin hat: Ausgangspunkt der Geschichtsschreibung ist nicht das vergangene Ereignis, sondern die Gegenwart, in der ein Vergangenes lesbar wird. Wird Erinnern als ›Erwachen‹ aufgefasst, so steht die Vergegenwärtigung des Vergangenen zum Zweck der Gegenwartserkenntnis im Mittelpunkt des Interesses (vgl. Schöttker 2000: 279). Diese Idee, »die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahr-

11 Das Zitat entstammt einem in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern abgedruckten Brief an Arnold Ruge. Durch die »Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins« werde sich zeigen, »daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen« (Marx 1977: 346).

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heit bezieht«, beabsichtigt Benjamin zum Fundament einer »neue[n] dialektische[n] Methode der Historik« zu machen, die er mit dem Anspruch einer »kopernikanische[n] Wendung« der Geschichtsauffassung bzw. des Eingedenkens verbindet (V, 491; vgl. V, 490f.; V, 1006; V, 1058). Die ›kopernikanische Wendung des Eingedenkens‹ besteht darin, dass in der Konstruktion der Geschichte in der Erinnerung, deren ›exemplarischer Fall‹ das ›Erwachen‹ ist, Geschichte allererst konstituiert wird (vgl. V, 490f.; V, 1057f.). Der Traum, der dem ›Erwachen‹ vorausgeht, in dem der Traum zu Bewusstsein kommt, ist nicht schon vor dem plötzlich sich einstellenden Moment des ›Erwachens‹ gegeben. Genau in dieser Nachträglichkeit besteht die Analogie zwischen ›Erwachen‹ und Erinnerung, wie Henning Teschke verdeutlicht: »Wie vom Traum nur durch das Erwachen weiß man von der Vergangenheit nur durch Erinnerung.« (Teschke 2000: 13) Die Gegenwart wird durch die Aktualisierung der Vergangenheit ebenso hergestellt, wie sie umgekehrt diese Vergangenheit erst herstellt (vgl. Weidmann 2000: 342f.).12 Die Pariser Passagen dienen Benjamin als Beispiel einer objektivierten Kultur, die aus zu interpretierenden Spuren des Vergangenen besteht. Prinzipiell gehört die gesamte Lebenswelt zu diesen stummen Zeugen des Vergangenen. Sie umfassen nicht bloß materielle Objekte, sondern im Prinzip das Ganze des nicht aktuell Kommunizierten. Nicht bloß das kulturelle ›Speichergedächtnis‹, sondern auch das verkörperte, implizite und präreflexive Wissen kultureller Gewohnheiten ist ein Bereich des ständig präsenten Vergessenen und kann als ein ›kollektives Unbewusstes‹ bezeichnet werden. Benjamin selbst weist im Denkbild Gewohnheit und Aufmerksamkeit darauf hin, dass das alltägliche Leben sich notwendigerweise auch auf der Basis von Gewohnheiten vollzieht: »Alle Aufmerksamkeit muß in Gewohnheit münden, wenn sie den Menschen nicht sprengen, alle Gewohnheit von Aufmerksamkeit verstört werden, wenn sie den Menschen

12 Für Aleida Assmann bestimmt die Metaphorik des ›Erwachens‹ als zeitliche gegenüber räumlichen Gedächtnismetaphern bereits die Stoßrichtung der jeweiligen Konzeption. Auch wenn sie sich nicht explizit auf Benjamin bezieht, kann ihre Charakterisierung des ›Erwachens‹ durchaus als für Benjamin zutreffend angesehen werden: »Wo Gedächtnis im Horizont des Raumes konstituiert wird, steht die Persistenz und Kontinuität der Erinnerungen im Vordergrund; wo das Gedächtnis im Horizont der Zeit konstituiert wird, stehen Vergessen, Diskontinuität und Verfall im Vordergrund. An die Stelle einer durch technische und materielle Supplemente gesicherten Stabilität tritt die prinzipielle Unverfügbarkeit und Plötzlichkeit der Erinnerungen. Sie spiegeln nicht mehr Gewußtes und Bekanntes wider, sondern werden zum Einfallstor für das Neue.« (A. Assmann 1991: 22)

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nicht lähmen soll. Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und Hinnehmen sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele.« (IV, 407f.) In Kapitel I.3 wurde mit Bezug auf Harald Welzers Begriff des ›sozialen Gedächtnisses‹ auf diese Dimension des ›kollektiven Gedächtnisses‹ hingewiesen. Es umfasst die gesamte zur Gewohnheit erstarrte Praxis, die durch ihren selbstverständlichen Charakter für das Funktionieren sozialer Prozesse wichtige Funktionen übernimmt. Sie ist verfügbar, ohne immer wieder neu erlernt werden zu müssen und reicht von körperlichen Fähigkeiten, sozialen Gewohnheiten und Gebräuchen bis hin zu gesellschaftlichen Ritualen, die mit Phänomenen des Gedenkens zusammenhängen (vgl. Ricœur 2004: 54). Alle Bereiche des unbewussten Gedächtnisses haben im Unterschied zur unwillkürlichen Erinnerung eine ausgesprochen konservative Funktion, auf die bereits Theodor Reik hinweist: »Nicht gemeinsame Erinnerungen, sondern eher gemeinsame Gedächtnisspuren sind ein haltbares Band in den menschlichen Beziehungen.« Diese unbewussten Gedächtnisspuren binden Reik zufolge die Mitglieder einer Familie oder eines Volkes enger aneinander als die bewusste Tradition: »Diese unbewußte Gemeinsamkeit ist für den Fortbestand und die Weiterwirkung kultureller Faktoren wesentlicher als die bewußten Erinnerungen der Geschichte.« (Reik 1935: 133) Die Gedächtnisinhalte werden gerade dadurch bewahrt, dass sie zu unbewussten Komponenten von Gewohnheiten geworden sind, die äußerst veränderungsresistent sind. Dadurch, dass das Moment ihres Erwerbs vergessen ist, erscheinen sie als selbstverständlich und entziehen sich der Hinterfragung als etwas Gelerntes und Veränderbares (vgl. Kastl 2004: 206f.). Aus diesem Grund kann Samuel Beckett in seinem Buch über Proust schreiben: »Ein Mensch mit einem guten Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nichts vergißt. Sein Gedächtnis ist einförmig, ein Geschöpf der Routine, zugleich Bedingung und Funktion seiner unfehlbaren Gewohnheit, ein Instrument der Bezugnahme, statt ein Instrument der Entdeckung.« (Beckett 1960: 25) Die Gewohnheit ist dauerhaft präsent und wird nicht aktualisiert. Es sind insbesondere die kulturell vermittelten Gewohnheiten, die das ›kollektive Unbewusste‹ ausmachen und an denen die Subjekte unmerklich teilhaben. Benjamin zielt mit seiner Konzeption eines ›kollektiven Unbewussten‹ auf ein Vergessenes ab, das kein willentlich abrufbares ›Gespeichertes‹ ist, das je nach Bedarf bzw. Interesse in die dominante Erzählung des ›Funktionsgedächtnisses‹ integriert werden kann. Es ist vielmehr ein sich durch bestimmte Wahrnehmungen in der Erinnerung erst nachträglich Konstituierendes, das zuvor gar nicht erlebt wurde und aus diesem Grund die Erfahrung eines Neuen im Erinnern ermöglicht. In dieser Weise unbewusst sein können sowohl Ereignisse, die nicht in die herrschende Tradition eingegangen sind, als auch Verhaltensweisen im

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Sinne des bergsonschen ›Gewohnheitsgedächtnisses‹. Die Erinnerung besitzt in Bezug auf diese beiden Formen des ›kollektiven Unbewussten‹ einen wesentlich destruktiven Charakter. In den folgenden beiden Abschnitten wird dieser Gedanke, v.a. in Bezug auf Benjamins Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer Kontinuität der Geschichte, näher ausgeführt.13 2.2.2 Benjamins Kritik am Historismus Benjamin entwirft seine erkenntnistheoretische Konzeption in scharfer Abgrenzung gegen den ›Historismus‹, womit er – im Diskurs der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts durchaus üblich – eine positivistische und Wissen archivierende Geschichtswissenschaft bezeichnet. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie gleichberechtigt alles Vergangene untersucht, ohne nach der Bedeutung des jeweiligen Gegenstands für die Gegenwart und Zukunft zu fragen.14

13 Adorno hat Benjamin darauf hingewiesen, dass die »Beziehung von Ihrem ›Traum des Kollektivs‹ zum kollektiven Unbewußten Jungs […] gewiß nicht von der Hand zu weisen [ist]« (Adorno/Benjamin 1994: 83f.). Das ›kollektive Unbewusste‹ enthält Jung zufolge die Quelle und die regulierenden Kategorien der treibenden seelischen Kräfte, die er ›Archetypen‹ nennt, bei denen es sich um ›urtümliche‹ und allgemeine Formen sowie um mythologische Motive handelt (vgl. Jung 1989a: 78; Jung 1946: 165f.). Sie unterscheiden sich von den Inhalten des persönlichen Unbewussten dadurch, dass sie nicht individuell erworben, sondern ›seit Urzeiten‹ in der Gehirnstruktur vererbt wurden. Sie sind Jung zufolge nicht bewusstseinsfähig und können aus diesem Grund auch nicht wiedererinnert werden (vgl. Jung 1989b). Benjamin siedelt seine Version des ›kollektiven Unbewussten‹ nicht in einer angeborenen Tiefenschicht der individuellen Psyche als Archiv von ›Archetypen‹ an, sondern verlegt es in die objektiven Gestalten des Kollektivs. Er wird an dieser Stelle sehr deutlich: »Die archaische Form der Urgeschichte, die in jedem Zeitalter und gerade jetzt wieder von Jung aufgerufen wird, ist diejenige, die den Schein in der Geschichte um so blendender macht, als sie ihm die Natur als seine Heimat anweist.« (V, 595) Das Kollektivsubjekt selbst spezifiziert Benjamin entsprechend nicht archetypisch, sondern historisch. Es hat einen ›historischen Index‹ und die es bestimmenden Bilder gehen aus Konstellationen innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit hervor (vgl. Tiedemann 2002: 164f.; Horkheimer/Adorno 1985: 530f.). Zu Jungs Begriff der ›kollektiven Identität‹ vgl. Niethammer 2000: 173ff. 14 Leopold von Ranke führt in seinem berühmten Vortrag von 1854 aus: »Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.«

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Benjamin fordert demgegenüber eine neue Aneignung des Vergangenen als Grundlage einer nicht-entfremdeten Erfahrung und Identität. In Über den Begriff der Geschichte bezieht sich Benjamin auf Leopold von Rankes für den Historismus paradigmatisch gewordenes Diktum: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹.« (I, 695)15 Rankes Diktum verweist auf ein grundlegendes Missverständnis, da das Vergangene immer nur vermittelt durch seine Überlieferungsgeschichte erkannt werden kann. Die Geschichtswissenschaft spiegelt darum die Geschichte nicht wider, sondern konstruiert den Zusammenhang der Ereignisse als kohärente Erzählung der Geschichte (vgl. Kramer 2010: 114). Benjamins Kritik richtet sich in erster Linie gegen diese Vorstellung einer historischen Kontinuität, durch die systematisch bestimmte Elemente des Vergangenen vernachlässigt werden. Die Vorstellung, dass die Geschichte dargestellt wird, ›wie sie eigentlich gewesen ist‹, macht sie zum Mythos (vgl. V, 578; V, 1033; Greffrath 1981: 12). Benjamin zufolge gilt es, aus diesem Mythos zu ›erwachen‹, um einem ›unwiederbringlichen Bild‹ der Vergangenheit zur Aktualität zu verhelfen (vgl. I, 695). Da es Benjamin in erster Linie um eine die Gegenwart verändernde Erfahrung mit dem Vergangenen geht, können die historischen Ereignisse für die von ihm anvisierte historisch-materialistische Geschichtsschreibung keine Gegenstände einer vollkommen distanzierten Forschung sein. Die wissenschaftliche Distanzierung von der eigenen Gegenwart im Sinne des Historismus führt Benjamin zufolge außerdem nicht zu einer objektiven Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern erzeugt lediglich eine bestimmte Deutung der Geschichte. Die in dieser Deutung überlieferte Geschichte ist für ihn immer ein Dokument der Gewalt gegenüber demjenigen Vergangenen, das nicht überliefert wurde. Der distanzierte Historiker schreibt aus diesem Grund die Geschichte dessen, das sich durchgesetzt hat, er schreibt die ›Geschichte der Sieger‹. Benjamins historisch-materialistischer Geschichtsschreibung geht es hingegen darum, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten« (I, 697). Während es dem Historismus um das ›ewige‹ Bild der Vergangenheit geht, kommt es ihm darauf an, eine einzigartige Erfahrung mit der Geschichte zu machen und das Vergessene der Geschichte zu erinnern (vgl. II, 468).

(Ranke 1971: 59f.) Zur Nähe Benjamins zu einigen Motiven des Historismus vgl. Kittsteiner 1984. 15 Ranke zufolge darf der Historiker die Vergangenheit nicht richten, um »die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren«, sondern »bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen« ist (Ranke 1885: VII).

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Benjamin orientiert sich nicht am vermeintlich festen, positiven Kriterium des Gewesenen, sondern am Vergessenen, das der Historiker allmählich zutage treten lassen soll, »bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist« (V, 573; vgl. Raulet 2004: 100).16 Geschichtsschreibung, die dem Vergangenen eine neue Aktualität in der Gegenwart verleiht, darf sich nicht damit begnügen, die vergangenen Ereignisse einem kollektiven ›Erbe‹ zu übereignen und einen Kult dieser Ereignisse zu zelebrieren. Sie muss sich vielmehr darum bemühen, »sich einer Erinnerung [zu] bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. […] In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« (I, 695; vgl. Mosès 1992: 138) Das Geschichtsverständnis, das von der ›Geschichte der Sieger‹ vermittelt wird, nach der die »jeweils Herrschenden […] die Erben aller [sind], die je in der Geschichte gesiegt haben« (I, 1241), ist von der Vorstellung eines beständigen gleichförmigen Ablaufs von Ereignissen in einer »homogene[n] und leere[n] Zeit« (I, 701) geprägt. Nach dieser Vorstellung besteht Geschichte in der abstrakten Addition gleichförmiger zeitlicher Einheiten ohne Umbrüche und Zäsuren. Benjamin setzt gegen diese Vorstellung einen Zeitbegriff, der nicht dem Prinzip der Kontinuität folgt, sondern mit dem Prinzip der Erinnerung der ›Aufsprengung‹ des historischen Kontinuums verpflichtet ist (vgl. I, 701; Schöttker 2000: 295). Diese ›Aufsprengung‹, die das destruktive Moment der Geschichtsschreibung in Benjamins Sinne bezeichnet, konstituiert ihren Gegenstand, indem »der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen« und einer isolierten Betrachtung zugeführt wird (V, 595; vgl. V, 594). Durch die Dekontextualisierung der Bruchstücke der Geschichte wird die vorgebliche Geschlossenheit der Tradition aufgebrochen und das Vergangene durch seine Neukontextualisierung einer Aktualisierung unterzogen. Erinnerung

16 Der Begriff der Apokatastasis, der ›Wiederbringung aller‹, der aus der spätjüdischen Apokalyptik und neuplatonisch-gnostischen Spekulationen stammt, bezeichnet die vollkommene Wiederherstellung der Schöpfung in ihrem ursprünglich paradiesischen Zustand, wie er von der Ankunft des Messias erwartet wird (vgl. Gagnebin 2011: 289f.; Kittsteiner 1984: 170; Witte 1984: 23f.). Dass diese ›Apokatastasis‹ nicht im Sinne eines sich ›automatisch‹ vollziehenden teleologischen Prozesses der Geschichte verstanden werden darf, macht auch Benjamins scharfe Kritik am Fortschrittsglauben deutlich, der ihm zufolge zum Desinteresse an der Gegenwart und zur Verkennung des Faschismus geführt hat: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Die Katastrophe ist demnach »nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene« (V, 592).

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unterbricht den zeitlichen Ablauf und verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit in einer fragmentarischen Form. Denn das zu aktualisierende Ausgeschlossene und Vergessene der Geschichte, das »Gedächtnis der Namenlosen« (I, 1241), offenbart sich an den Brüchen im Kontinuum der Geschichte (vgl. Mosès 1992: 142). Deshalb gilt: »Die ›Konstruktion‹ setzt die ›Destruktion‹ voraus« (V, 587) und das Vergessen besitzt in doppeltem Sinne einen produktiven Aspekt: einerseits als destruktives Vergessen des Kontinuums der ›Geschichte der Sieger‹ und andererseits in Form desjenigen Vergessenen des ›kollektiven Unbewussten‹, das durch eine vergegenwärtigende Erinnerung der Geschichte eine andere Grundlage zu geben imstande ist (vgl. Weigel 1996: 256). Historische Erinnerung zielt darauf ab, einen vergangenen Augenblick von der Gegenwart aus zu verändern, sodass historisch Festgestelltes als reversibel erscheint (vgl. Mosès 1992: 153f.). Benjamin macht damit noch einmal seine ›kopernikanische Wendung des Eingedenkens‹ radikal deutlich: Geschichte wird in der Erinnerung konstituiert. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen Benjamins Sicht der Dinge und dem Geschichtsmodell des Historismus: Das Vergangene ist Benjamins Konzeption zufolge kein abgeschlossener Gegenstand, den man in seiner faktischen Gestalt für immer konservieren kann, sondern es verändert sich im Akt des Erinnerns (vgl. V, 588f.).17 Entsprechend schreibt Benjamin in seinem Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker (II, 465-505), dessen Formulierungen in Über den Begriff der Geschichte teilweise wörtlich wieder aufgenommen werden: »Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur ihm [dem historischen Materialismus] einen fetischistischen Zug.« (II, 477) Diesem erstarrten Bild der Geschichte setzt Benjamin ihre vergessenen Momente entgegen, die sich nicht erkennen lassen, ›wie sie wirklich gewesen sind‹, sondern die einer gegenwartsbezogenen Aktualisierung unterzogen werden müs-

17 Ludger Heidbrink sieht den Prozess des rettenden Eingedenkens an eine verschüttete Vergangenheit als gewaltsame Uminterpretation des historischen Geschehens, das von dem Scheitern der eigenen Übererwartung an eine unterstellte Ganzheit der Geschichte und der daraus resultierenden Verzweiflung an der widerspenstigen und eigenmächtigen Geschichte motiviert wird (vgl. Heidbrink 1995). Diese Gefahr ist nicht zu leugnen, jedoch bestimmt Benjamin das rettende Eingedenken als ein unwillkürliches und stellt es gerade nicht in die Verfügungsgewalt des Subjekts. Aufgrund der konstitutiven Nachträglichkeit der Erinnerung ist es außerdem unklar, inwieweit eine Deutung der Vergangenheit als gewaltsame Uminterpretation verstanden werden kann.

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sen: »Wir wissen ja, daß die Vergangenheit kein musealer Kronschatz ist, sondern etwas das immer von Gegenwart betroffen ist.« (2, 369) Benjamin beabsichtigt, die Vergangenheit durch die Erinnerung in eine Offenheit für neue Erfahrungen zu bringen, da das Vergangene, wenn es als abgeschlossen angesehen wird, vielleicht für immer verloren ist. Dieser Anspruch kann für Benjamin nur dann eingelöst werden, wenn die Erfahrung der erlebten Zeit aus der persönlichen Sphäre in die geschichtliche übertragen wird und die Vorstellung einer objektiven und linearen Zeit durch die subjektive Erfahrung einer qualitativen Zeit ersetzt wird, in der jeder Moment in seiner unvergleichlichen Einzigartigkeit erlebt wird (vgl. Mosès 1992: 136).18

18 Die Frage, inwieweit Benjamins Konzeption den Ausführungen Friedrich Nietzsches in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, dem zweiten Stück aus Unzeitgemäße Betrachtungen, entspricht, wäre eine eigene Untersuchung wert. Benjamin zitiert in Über den Begriff der Geschichte eine Formulierung aus dem Text als Motto: »Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.« (I, 700) Bei Nietzsche folgt darauf: »Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet« (Nietzsche 1981: 95). Die Historie im Sinne des wissenschaftlichen Historismus belastet Nietzsche zufolge den Menschen, der durch den großen Ballast des Vergangenen die Fähigkeit zu leben und zu handeln verliert. Nietzsche empfiehlt darum eine ›Kunst des Vergessens‹, um eine neue handlungsorientierende Historie zu ermöglichen. Das Vergessenkönnen bzw. das Vermögen, unhistorisch zu empfinden, gehört zu allem Handeln: »Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären, es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.« (Ebd.: 99) Es kommt Nietzsche zufolge auf das richtige Verhältnis zwischen Vergessen und Erinnern an, da das Unhistorische ebenso wie das Historische für das Leben und die Gesundheit eines Individuums, eines Volkes oder eine Kultur notwendig ist (vgl. ebd.: 101). Benjamin betont ebenso wie Nietzsche die Notwendigkeit des Vergessens in der Geschichte und den Vorrang der Gegenwart (bei Nietzsche: des Lebens) gegenüber einem bloßen Bewahren des Vergangenen. Bei ihm heißt es ganz ähnlich wie bei Nietzsche: »Nichts erneuert so wie Vergessenheit« (III, 287) und: »Aber das Vergessen be-

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2.2.3 Eine diskontinuierliche Geschichte Da Benjamin historische Erkenntnis strikt diskontinuierlich als Erinnerung zu denken beabsichtigt, besteht die Beziehung des Gewesenen zur Gegenwart für ihn nicht im Verlauf, sondern in einem ›Bild‹, in dem Gegenwärtiges und Vergangenes ›blitzhaft‹ zu einer Konstellation zusammentreten und die Ordnung der chronologischen Zeit unterbrochen wird (vgl. V, 576f.). Dieses Bild nennt Benjamin ein ›dialektisches‹. Die Beziehung der Gegenwart zum Vergangenen vollzieht sich in der Erinnerung sprunghaft und nicht in der leeren homogenen Zeit der Geschichtsdarstellung: »Der unwillkürlichen Erinnerung bietet sich – das unterscheidet sie von der willkürlichen – nie ein Verlauf dar sondern allein ein Bild. (Daher die ›Unordnung‹ als der Bildraum des unwillkürlichen Eingedenkens.)« (I, 1243) Die von Benjamin angesprochene ›Unordnung‹ bezeichnet das Gegenstück zur geordneten Registratur des willkürlichen Gedächtnisses. Im Bild tritt das Vergangene mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammen, sodass Geschichte entsteht.19 Die historischen Konstellationen der ›dialektischen Bilder‹ sind einmalig (vgl. V, 674f.). Ihre Lesbarkeit, die Möglichkeit ihrer Entzifferung ist an ihren

trifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.« (II, 434; vgl. Wolf 2004: 124; Schöttker 1999: 241f.) Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch große Unterschiede bestehen. Nietzsches Anspruch, den Wert des Vergangenen für das Leben und den richtigen Zeitpunkt zu erinnern und zu vergessen jederzeit bestimmen zu können, erscheint aus Benjamins Perspektive anmaßend. Außerdem ist Benjamin in der Beurteilung der ›monumentalistischen‹ Historie, die an die vermeintlich ›großen‹ Ereignisse erinnert, um geschichtliche Kontinuität herzustellen, radikaler als Nietzsche: Dieser gesteht ihr durchaus ein Recht zu, während sie Benjamin zufolge gerade vergessen werden muss, um eine echte historische Erfahrung zu ermöglichen. Insgesamt legt Nietzsche seinen Überlegungen ein anderes Verständnis des Vergessens zugrunde: Vergessen und Erinnern sind bei ihm dichotomisch gedacht und das Vergessen dient immer der Disqualifizierung des Vergangenen im Dienste der Gegenwart und Zukunft. Bei Benjamin ist das Vergessen demgegenüber die Voraussetzung des Erinnerns. 19 Im ›dialektischen Bild‹ fällt Vergangenheit mit Gegenwart zusammen und Geschichte wird als Sinn offenbart. Werner Fuld setzt Benjamins Auseinandersetzung mit dem ›dialektischen Bild‹ sehr früh an: Die Idee einer Ablösung der bürgerlichen historischen Geschichtsauffassung durch eine Theorie, derzufolge Geschichte sich in einem einzigen unwiederholbaren Augenblick sammelt, beschäftigt Benjamin Fuld zufolge seit seiner Rede Das Leben der Studenten von 1914 (vgl. Fuld 1981: 278).

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›historischen Index‹, das ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ gebunden, was bedeutet, dass die unbewussten Bilder, die potenziell historische Erfahrung ermöglichen, in der Gegenwart immer zu einer anderen Erkennbarkeit kommen können (vgl. V, 577f.). Es gilt, die Spuren des Indexʼ aufzunehmen, der in der Gegenwart verlangt, gelesen zu werden, denn das ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ ist gleichzeitig »der Augenblick des Erwachens« (V, 608). Durch das Erkennen eines historischen Augenblicks, in dem das Vergangene sich zum ›dialektischen Bild‹ zusammenzieht, »geht sie in die unwillkürliche Erinnerung der Menschheit ein« (I, 1233). Die unwillkürliche Erinnerung erkennt im Bild ein Vergangenes, wie es nur in dieser Gegenwart zu erkennen ist, die sich umgekehrt als der Moment konstituiert, in dem jenes Vergangene zu erkennen ist. Unwillkürlich ist diese Erinnerung, da ihr Gegenstand und ihr Zeitpunkt nicht beliebig gewählt werden können: In einem bestimmten Augenblick kann immer nur ein bestimmtes Vergangenes erinnert werden (vgl. Weidmann 2000: 343; Weidmann 1992: 144). Die Gefahr besteht darin, den Augenblick der Lesbarkeit zu verpassen, sodass das Bild wieder – und vielleicht für immer – vergessen wird. Da Erinnern nur in einer einmaligen Situation möglich ist, kann Erinnerung auch Misslingen, denn in ihrem Auftreten liegt bereits die Möglichkeit des Verschwindens vor jeder Erkenntnis begründet (vgl. Kasper 2003: 80f.; Hamacher 2002: 176). Die Rettung des Vergangenen durch die unwillkürliche Erinnerung ist kairologisch: Nur in einem besonderen Augenblick kann das Vergangene eine gegenwärtig ansprechende Anwesenheit erlangen, in der erkennbar wird, dass und wie es mit der Gegenwart zusammengehört, ohne dabei Moment eines homogenen oder kontinuierlichen Ganzen zu sein (vgl. Figal 1996: 53). Indem Benjamin Geschichtserfahrung als Erinnerung denkt, richtet er sich gegen die Zeitvorstellung eines punktuellen, unendlichen und quantifizierten Kontinuums, die mittels der Physik des Aristoteles die westliche Zeitvorstellung zweitausend Jahre lang bestimmt hat (vgl. Agamben 2004: 131ff.). Es ist diese Vorstellung von Geschichte, die Benjamin im Blick hat, wenn er in seinen Notizen zu Über den Begriff der Geschichte die ›landläufige Darstellung der Geschichte‹ (vgl. I, 1242) durch ihr Bemühen um Kontinuität und ihren Glauben an chronologische Lückenlosigkeit und Kausalität charakterisiert. Durch diese retrospektiv konstruierte Kontinuität soll die Gegenwart an die Vergangenheit angebunden werden: Von einem Anfangspunkt aus werden bestimmte Ereignisse zu Sinnkomplexen verbunden bis zur jeweiligen Gegenwart ein Zusammenhang hergestellt ist, sodass widerständige Elemente der Geschichte ausgeschlossen werden (vgl. Uhlig/Ruchatz 2001: 319). Geschichtliche Kontinuität ist Benjamin zufolge aus diesem Grund ein Mythos der ›Sieger‹, durch den die Spuren der Geschichte der ›Besiegten‹ ausge-

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schlossen werden, um die Gegenwart zu bestätigen. Diese Kontinuität muss unterbrochen werden, um die ›Geschichte der Besiegten‹ vor dem Vergessen zu bewahren. Diese ›Rettung‹ hält sich an »die Schroffen und Zacken« und »die revolutionären Momente des Geschichtsverlaufs«, die das scheinbar kontinuierliche Überlieferungsgeschehen unterbrechen können (I, 658; vgl. I, 1242; V, 592). Ihre Aufmerksamkeit gilt denjenigen »Stellen, an denen die Überlieferung abbricht« (V, 592), um aufzudecken, was sich dem Ganzen der Überlieferung nicht fügt und deshalb in der herrschenden Tradition verdrängt bzw. vergessen wird: »Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist.« (V, 591; vgl. Kaulen 2000: 647f.) Benjamins radikale Zusammenfassung dieser Aussagen lautet: »Während die Vorstellung des Kontinuums alles dem Erdboden gleichmacht, ist die Vorstellung des Diskontinuums die Grundlage echter Tradition.« (I, 1236) Die »epische Kontinuität« (I, 1252) des Historismus spiegelt Benjamin zufolge bloß noch das Kontinuum ununterbrochener Herrschaft wider. Der Historiker muss daher »das epische Element« (V, 592) der Geschichte aufgeben, die »Vorstellung, Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse« (I, 1252; vgl. I, 1240f.).20 Es ist nun jedoch die Frage, was noch unter Geschichtsschreibung zu verstehen ist, wenn die herrschende Kontinuität aufgebrochen werden soll. Benjamins Konzeption einer Tradition der Unterdrückten, die auf Diskontinuität beruht, führt – so hat er selbst erkannt – zu einer grundlegenden Aporie (vgl. I, 1236), da unklar bleibt, wie eine diskontinuierliche Geschichte geschrieben oder erzählt werden kann. Erinnerung ist demzufolge als doppelte Unmöglichkeit der Darstellung wie der Undarstellbarkeit zu bestimmen: Weder ist Kontinuität zu behaupten noch Diskontinuität zum Gegenstand einer wiederum formal kontinuierlichen Darstellung zu erheben (vgl. Pethes 1999: 318f.). Benjamins Einsatz gegen die Erzählung als dem Bild eines »homogenen Verlauf[s] der Geschichte« (I, 703) scheint zudem seiner Auffassung von der Erzählung als dem Gegenbild gegen die ›Information‹ und die »homogene und leere Zeit« (I, 702) als Aneinanderreihung isolierter ›Erlebnisse‹ zu widersprechen. Dieser Widerspruch ist jedoch ein bloß scheinbarer und die dargestellte Aporie kann aufgelöst werden. Benjamins Einwand gegen die homogenisierende Ge-

20 Der »Geschichts-Erzähler« (II, 451) soll erst am jüngsten Tag in Gestalt des ›Chronisten‹ wiederkehren, der imstande ist, sich der Geschichte als großem Ganzen wieder zuzuwenden, wobei keine hierarchischen Unterschiede zwischen ›kleinen‹ und ›großen‹ Ereignissen mehr bestehen. Er »trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.« Ihre Vergangenheit fällt Benjamin zufolge jedoch »erst der erlösten Menschheit […] vollauf zu« (I, 694; vgl. Wohlfarth 1981: 281).

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schichtsschreibung richtet sich zum einen dagegen, dass sie Ereignisse nur äußerlich und additiv in eine Ordnung bringt (vgl. I, 702), und zum anderen dagegen, dass sie zum Zweck der Konstruktion eines Kontinuums den Geschichtsverlauf einebnet und diejenigen Ereignisse, die nicht in diese einheitliche Deutung passen, vergessen lässt. Da die erzählende Darstellung jedoch ein notwendiges Moment wirklicher und identitätskonstitutiver Erinnerung ist, kommt es nun in Bezug auf die Struktur der Erzählung darauf an, die Art und Weise der Kontinuierung zu beachten. Die Erzählung, die Geschichte in eine vorläufige Abgeschlossenheit bringt, bleibt Voraussetzung ihrer Aneignung durch das Subjekt (vgl. Angehrn 1985: 22f.): Das willkürliche Gedächtnis in diesem Sinn ist ein unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Bezugs auf die Geschichte. Es kommt jedoch auf das Bewusstsein der nachträglichen Konstruktion dieser Kontinuität an, sodass die Identität unabgeschlossen und für Erfahrung durchlässig bleibt. Das aus unwillkürlicher Erinnerung resultierende Erzählen, das die Qualität seiner Bilder gerade dem Zurücktreten willkürlicher Gedächtniskonstruktionen verdankt und durch beiläufige, zufällige Anregungen ausgelöst wird (vgl. Konersmann 1991: 82), muss das Vergangene, soll seine Vereinnahmung und Funktionalisierung vermieden werden, vor der Endgültigkeit einer Deutung schützen (vgl. Thomä 1998: 230). Denn die Vorstellung einer Abgeschlossenheit des Vergangenen, gemäß der es sich in seiner festen Gestalt für immer konservieren lässt, behandelt das Vergangene so, als hätte es mit der Gegenwart nichts mehr zu tun, und dichtet es gegen jede Erfahrung ab. Die Überlieferung, die eine solche Kontinuität herstellt, beraubt die vergangenen Ereignisse ihres Kontextes und überdeckt die Anknüpfungspunkte für das unwillkürliche Erinnern, das immer eine diskontinuierliche Verknüpfung zwischen den Erinnerungsspuren und der aktuellen Wahrnehmung herstellt (vgl. Weigel 1997: 40f.). Eine Geschichte stiftet keine Identität, solange sie nicht in dieser Weise angeeignet und von einem Reflexionsprozeß begleitet als einheitliche Geschichte vergegenwärtigt wird (vgl. Angehrn 1985: 325). Kontinuität im Sinne zeitlicher Kohärenz besagt insofern etwas anderes als eine gradlinige und bruchlose Entwicklung. Sie besagt lediglich, dass die Erfahrung vergangener Ereignisse zu einer erzählbaren Geschichte geformt werden können, die in ihrer zeitlichen Verfasstheit eine geschichtliche Bewegung als ein Ganzes beschreibt, das in einer inneren Beziehung mit einem Anfang und einem Ende steht. Sie umfasst durchaus Diskontinuitäten und Brüche und ist daher in der Lage, ein bewusstes Verhältnis zur eigenen Existenz herzustellen: Sie ist der Horizont, innerhalb dessen Brüche im Zusammenhängenden auftreten (vgl. Rüsen 2008: 180; Holz 1995: 130; Angehrn 1985: 16f.). Kontinuität ist keine fraglose Gewissheit des historischen Geschehens, sondern eine Leistung des verste-

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henden Menschen (vgl. Baumgartner 1972: 37) und der Akt des Kontinuierens verleiht dem Vergangenen seine Bedeutsamkeit für das Subjekt. Das Anknüpfen an eine tradierte Vergangenheit ist nicht bloß aufgrund der Beschränktheit menschlicher Verfügungsgewalt notwendig, sondern auch für das zeitlich existierende Subjekt in seinem Anspruch auf Ganzheit wesentlich. Denn die Integration von Lebensabschnitten zu einem Ganzen ist Voraussetzung dafür, sich als die Person identifizieren zu können, die man durch die eigene Geschichte geworden ist. Erst durch diese Integration wird Vergangenes zu einem Teil der eigenen Geschichte und als Besonderes vor dem Vergessen bewahrt (vgl. Angehrn 1985: 293f., 328f.). Ihre Retrospektivität ist die Bedingung für die Reflexivität der Geschichte und der sich in ihr begründenden Identität. Identität ist darum immer reflexiv gewonnene, interpretierte Einheit (vgl. ebd.: 288). Die Inhalte des ›kulturellen Gedächtnisses‹ liegen zweifellos diskontinuierlich vor. Sie können auch selbst nicht als Träger von Bedeutung angesehen werden, sondern erhalten ihre Deutung erst durch übergreifende Geschichtserzählungen über Brüche und Grenzen hinweg, in die sie rückblickend als Bestandteile eingebettet werden und den Handlungsraum von Menschen strukturieren (vgl. Herold 1976b: 1044). Die Deutungen, die die Geschichte bietet, können nicht von den Inhalten des ›kulturellen Gedächtnisses‹ selbst herrühren, sondern sie entstammen einer intersubjektiven Praxis, durch die das ›kulturelle Gedächtnis‹ über die reine Speicherfunktion hinausgeht: Das Vergangene ist irreversibel vorbei und kann nur durch den vergegenwärtigenden Akt der Erzählung erinnert werden. Im Sinne eines retrospektiv entworfenen Erzählzusammenhangs ist von historischer Kontinuität zu sprechen (vgl. Herold 1976a: 1042). Die Mitteilungsform der Erzählung hat für Benjamin nur ihren Wert, insofern sie an Erfahrungen gebunden ist, und nicht bloß, weil sie die Geschehnisse in einen kontinuierlichen Zusammenhang bringt. Geschichten sind wichtige Konstituenten der Identität von Subjekten. Dem Kollektiv dienen sie zur Traditionsbildung, indem sie dazu beitragen, sich auf das Gemeinsame vergangener und heutiger Tage zu besinnen (vgl. Straub 1998a: 128ff.). Historische Erinnerung ermöglicht dem Individuum jedoch nicht nur eine Identifikation mit seinem Gewesensein, sondern ist gleichzeitig eine Veränderung des Vergangenen, insofern sie es in die historische Gegenwart integriert und sein inhaltliches Festgeschriebensein in dieser Weise auflöst (vgl. Angehrn 1985: 339). Das Motiv der Destruktion im Sinne des ›neuen, positiven Barbarentums‹ richtet sich gegen den Archivierungseifer eines Kulturkonservativismus, der seine Deutung historischer Kontinuität auf Kosten alternativer Geschichtsdeutungen durchsetzt. Benjamins kritisch erinnernde Geschichtsschreibung eröffnet in dieser Weise die Möglichkeit, Abweichendes und Vergessenes in der Vorstel-

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lung von Kultur und Geschichte zuzulassen und aufrechtzuerhalten und sie nicht ausschließlich als kontinuierlichen und einheitlich integrierenden Traditionszusammenhang zu bestimmen (vgl. Pethes 2012: 293). Es kommt in gewisser Weise zunächst gerade auf das an, was nicht erzählt wird – diesem muss dann allerdings wieder in einer aktualisierenden Erzählung Bedeutung verliehen werden (vgl. Konersmann 1991: 72).

2.3 V ERGESSEN

ALS

V ERDINGLICHUNG

Adorno setzt im bereits erwähnten Brief vom 29.02.1940 das Vergessen mit der Verdinglichung gleich, die ein Ausblenden bzw. ein Vergessen der Historizität von Dingen und eine Reduktion ihrer Qualitäten auf Quantitäten meint: »Denn alle Verdinglichung ist ein Vergessen: Objekte werden dinghaft im Augenblick, wo sie festgehalten sind, ohne in allen ihren Stücken gegenwärtig zu sein: wo etwas von ihnen vergessen ist.« (Adorno/Benjamin 1994: 417)21 Die Verdinglichung wurde ihrem sachlichen Gehalt nach in der vorliegenden Arbeit von Beginn an thematisiert als zu kritisierendes Moment des Gedächtnisses, etwa wenn die eigene Lebensgeschichte zur feststehenden Identität angeordnet und auf diese Weise nahezu undurchlässig für Veränderungen durch neue Erfahrungen und Erinnerungen wird. Oder wenn eine ›kollektive Identität‹ mit feststehenden Merkmalen an die Stelle einer auf Erfahrung und Erinnerung beruhenden offenen Identität gesetzt wird. Werden die Erlebnisse und Erinnerungen eines Subjekts als verdinglichter Besitz wahrgenommen, der passiv beobachtet oder willentlich erzeugt werden kann, dann findet keine Aneignung und keine Aktualisierung mehr statt, wodurch Erfahrung negiert wird. Adorno ist davon überzeugt, dass Benjamins Unterscheidung zwischen ›Erfahrung‹ und ›Erlebnis‹ und diejenige zwischen ›epischem‹ und ›reflektorischem‹ Vergessen »erst im Zusammenhang mit der Frage der Verdinglichung […] ihre universale gesellschaftliche Fruchtbarkeit gewinnen wird« (ebd.: 418).22

21 Der Satz »Alle Verdinglichung ist ein Vergessen« wurde auch in das Stück Le Prix du Progrès in der von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung aufgenommen (Horkheimer/Adorno 1987: 262). 22 Die Begriffe ›Verdinglichung‹ und ›Vergegenständlichung‹ werden sowohl wertneutral als auch affirmativ und kritisch verwendet und liegen auch bei den hier herangezogenen Autoren terminologisch nicht eindeutig vor (vgl. A. Schmidt 2001; Steinmetz 2001; Röttgers 1972). Hegels Phänomenologie des Geistes zufolge wird das Innere des Menschen – vor allem durch die Sprache – wahrnehmbar im gegenständlichen

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In diesem Abschnitt wird die Verdinglichung als Form des Vergessens einer genaueren Betrachtung unterzogen, wobei die beiden für Benjamin in diesem Zusammenhang zentralen Bezugsautoren herangezogen werden: Karl Marx und seine Analyse des Fetischcharakters der Ware sowie Georg Lukács, der Verdinglichung als Form des Vergessens dadurch bestimmt, dass die Menschen aufgrund der Anpassung ihrer Wahrnehmung und ihres Handelns an die Struktur des Austauschs von Waren vergessen, dass sie es in ihrer alltäglichen Praxis mit anderen Subjekten und nicht mit Dingen zu tun haben (Abschnitt 2.3.1). Mit Adorno wird anschließend zwischen der von Marx und Lukács beschriebenen und mit der Entfremdung verbundenen ›schlechten‹ und einer ›guten‹ Verdinglichung unterschieden (Abschnitt 2.3.2). 2.3.1 Verdinglichung bei Marx und Lukács Was Marx unter ›Verdinglichung‹ versteht, erläutert er insbesondere im ersten Band des Kapitals im für die marxistische Theorie klassischen Kapitel über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. Das Wesen der Ware, die für den Austausch bestimmt ist, besteht darin, dass sie einen Wert hat. Marx unterscheidet den Gebrauchswert, also ihre Nützlichkeit für das menschliche Leben

Ausdruck (vgl. Hegel 1951: 241f.; Lobeck 1977: 33). Diese Vergegenständlichung bedeutet für Hegel jedoch auch, dass das Innere sich entleert, entäußert. Es gibt sich eine konkrete Gestalt und nimmt gleichzeitig einen selbstentfremdeten Zustand an. Marx kritisiert in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten an Hegel, dass er die vergegenständlichende Entäußerung rein spekulativ und nicht als realhistorische Tätigkeit erfasst hat. In dieser Weise bleibt unberücksichtigt, dass die »Verwirklichung der Arbeit [...] in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters [erscheint], die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung« (Marx 1974: 512). Arbeit in nichtentfremdeter Form ist für Marx hingegen freie Lebensäußerung, wohingegen bei Hegel jede Vergegenständlichung als Entfremdung erscheint. Lukács verallgemeinert in Geschichte und Klassenbewußtsein die von Marx analysierte Verdinglichungsstruktur. Ihm zufolge ist die Ware in der modernen kapitalistischen Gesellschaft zur »Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins« (Lukács 1968: 260) geworden. ›Verdinglichung‹ bedeutet für Lukács immer auch Entfremdung. In der vorliegenden Arbeit wird in weitgehender Übereinstimmung mit Marx ›Vergegenständlichung‹ als neutraler Begriff im Sinne einer unaufhebbaren Äußerungsweise menschlichen Lebens verwendet, ›Verdinglichung‹ hingegen als Begriff, der eine entfremdete bzw. entfremdende Form der Vergegenständlichung bezeichnet.

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und seine Bedürfnisse aufgrund spezifischer Eigenschaften, und den Tauschwert der Ware. Der Tauschwert selbst ist keine Eigenschaft der Ware, sondern nur die Form, in der ihr Wert erscheint und die sie gegen alle anderen Waren austauschbar macht (vgl. Grigat 2007: 44f.). Dies ist nur möglich, indem der Tauschwert von der Qualität des Gebrauchswerts abstrahiert, um unterschiedliche Waren über ein rein quantitatives Verhältnis miteinander vergleichbar zu machen. Der Tauschwert einer Ware ist ein soziales Verhältnis und bestimmt sich durch die Menge der ihr zugrunde liegenden Arbeit als ›abstrakt-menschlicher Arbeit‹. Im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware führt Marx aus, dass in Bezug auf ihren Gebrauchswert nichts Mysteriöses an der Ware ist, insofern sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt und diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. In Bezug auf den Tauschwert jedoch ist sie ein »sehr vertracktes Ding«, »voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«, »ein sinnlich übersinnliches Ding« (Marx 1969: 85). Der Fetischcharakter der Ware entsteht Marx zufolge dadurch, dass die Produkte der menschlichen Arbeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, in der sie nicht mehr unmittelbar für den Gebrauch, sondern für den Verkauf als Waren hergestellt werden, die Eigenschaft des Werts annehmen und damit auch das Verhalten der mit ihnen umgehenden Menschen beeinflussen. Er besteht darin, dass die für den Austausch notwendigen Wertverhältnisse zwar keine Eigenschaften oder Beziehungen der Dinge selbst ausdrücken, sondern soziale Beziehungen der bei ihrer Produktion zusammenwirkenden Menschen, die abstrakte Größe des Werts sich allerdings gegenüber dem Gebrauchswert und der qualitativen Beschaffenheit der Ware verselbständigt und schließlich – in »gespenstige[r] Gegenständlichkeit« (ebd.: 52) verdinglicht – als Natureigenschaft der Ware erscheint. Das ›Geheimnisvolle‹ der Warenform besteht also darin, dass in ihr die sozialen Charaktere der menschlichen Arbeit – das soziale Verhältnis der Menschen selbst – als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst zurückgespiegelt werden. Das soziale Verhältnis der Menschen nimmt dadurch »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen« (ebd.: 86) an, was bedeutet, dass die sozialen Verhältnisse in den Waren verdinglicht werden (vgl. Grigat 2007: 51). Da die Menschen ihre Handlungen von diesen naturalisierten phantasmagorischen Vorstellungen, in denen die Dinge als Subjekte erscheinen, abhängig machen, werden sie von den eigenen Produkten beherrscht wie von einem Fetisch, dem Eigenschaften und Wirkungskräfte zugeschrieben werden, die er nicht besitzt, wenn nicht daran geglaubt wird (vgl. Korsch 1969: 96f.; Marx 1969: 86f.).

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Dieses Verhältnis bezeichnet Marx als »Verrücktheit« (Marx 1969: 90) und er stellt am Ende des dritten Bands des Kapitals in Bezug auf die »Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse« fest, dass die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft durch diese »Religion des Alltagslebens« in einer »verzauberte[n], verkehrte[n] und auf den Kopf gestellte[n] Welt« leben (Marx 1970: 838). Verdinglichung ist derjenige Vorgang, in dem soziale Beziehungen, menschliche Erzeugnisse und Zuschreibungen eine dingliche Form annehmen.23 In Bezug auf das Vergessen lässt sich festhalten, dass in der von Marx beschriebenen Verdinglichung insbesondere die nicht quantifizierbaren Eigenschaften menschlicher Arbeit sowie die soziale Entstehung des Werts ausgeblendet werden. In der Verdinglichung werden sowohl Qualität als auch Herkunft menschlicher Produkte vergessen (vgl. Hofer 2011: 97). Durch diesen Abstraktionsvorgang, der Adorno zufolge mit dem Begriff des Warenfetischismus gleichbedeutend ist, erscheint die Ware nicht länger als ein gesellschaftliches Verhältnis, »sondern es scheint so, als ob der Wert ein Ding an sich wäre« (Adorno 2011: 507). Georg Lukács hat in Geschichte und Klassenbewußtsein dem Begriff der Verdinglichung, die für ihn eine Folge der Ausdehnung des Warentauschs im modernen Kapitalismus ist, eine differenziertere Ausformulierung gewidmet (vgl. Hofer 2011: 97f.), die für Benjamin und besonders Adorno von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit werden sollte. Lukács orientiert sich an den marxschen Ausführungen, fügt seiner Kapitalismuskritik jedoch die lebensphilosophische Dimension in der Variante der weberschen Rationalisierungsthese hinzu (vgl. Dannemann 1987: 22; J. Habermas 1981a: 474ff.). Das Problem des Warenfetischismus ist Lukács zufolge »ein spezifisches Problem unserer Epoche, des modernen Kapitalismus« (Lukács 1968: 258). Im Unterschied zu Marx ist Verdinglichung für Lukács nicht auf die Sphäre der Ökonomie beschränkt, sondern umfasst aufgrund der Dominanz des ökonomischen Feldes sämtliche gesellschaftlichen Bereiche und ist mit erheblichen Folgen für die soziale Interaktion verbunden (vgl. Hofer 2011: 98). Der von Marx analysierte Zusammenhang kann nicht bei der Warenförmigkeit von Gegenständen der Bedürfnisbefriedigung stehenbleiben, da im Kapitalismus die Warenform das gesamte Bewusstsein der Menschen und die Beziehungen der Menschen zueinander strukturiert. Sämtliche menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten erscheinen als vom Menschen in seiner Ganzheit abgespaltene Dinge,

23 Der Fetischbegriff weist insofern eine Parallele zum Gebrauch bei Freud auf, als im sexuellen Fetischismus analog zur Überlagerung des Gebrauchswerts durch den Tauschwert der übliche Objektgebrauch durch einen spezifischen symbolischen Wert überlagert wird (vgl. Agamben 2012b: 58f.).

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die der Mensch in der gleichen Form besitzt und veräußert wie Gegenstände der äußeren Welt (vgl. Lukács 1968: 275f.). Die Verdinglichungsstruktur senkt sich Lukács zufolge »immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein« (ebd.: 268), sodass alle Beziehungen zwischen Personen und die Verhältnisse der einzelnen Personen zu sich selbst den »Charakter einer Dinghaftigkeit« (ebd.: 257) annehmen. Das Rätsel der Warenstruktur soll dementsprechend »als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen« (ebd.) gefasst werden, da die Ware »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdring[t] und nach ihrem Ebenbilde umform[t]« (ebd.: 259). Die Verdinglichung, die einerseits die Verhältnisse als ›natürlich‹ im Sinne eines Ungeschichtlichen und Überzeitlichen darstellt und andererseits auf die Instrumentalisierung und Verwertbarkeit aller Dinge abzielt, wird zur ›zweiten Natur‹. Durch die Übernahme dieser Denkgewohnheit als einer habituell erstarrten nehmen die Subjekte ihre soziale und physische Umwelt, aber auch sich selbst, ihre Gefühle, Eigenschaften und Fähigkeiten in dinghafter Gestalt wahr. Im Kapitalismus sind die Menschen somit einem undurchschauten ›Schicksal‹ unterworfen. Dieser Umstand erzeugt in ihnen ein Gefühl der Ohnmacht: Sie sehen sich einer objektiven, von ihnen unabhängigen Dynamik ausgeliefert (vgl. A. Schmidt 1974: 94). Jeder Mensch wird in der Folge zu einem kontemplativen, teilnahmslosen Beobachter dessen, was passiert, und beraubt sich in dieser Weise seiner Subjektivität (vgl. Honneth 2005: 63). Die ›kontemplative Haltung‹ ist für die Zeitwahrnehmung entscheidend: Sie »bringt Raum und Zeit auf einen Nenner, nivelliert die Zeit auf das Niveau des Raumes. […] Die Zeit verliert damit ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, quantitativ meßbaren […] Kontinuum: zu einem Raum.« (Lukács 1968: 264) Die Zeit als solcherart verobjektivierte wird zu einer bloßen Abfolge von gleichförmigen Einheiten und verliert ihren qualitativen Charakter. Diese deutlich an Bergsons Unterscheidung von qualitativer ›Dauer‹ und quantitativer Zeit erinnernden Ausführungen (vgl. Abschnitt II.1.1.1) sind für das Interesse maßgeblich, das Benjamin an den von Lukács beschriebenen Prozessen der Modernisierung hat: Es ist eine durch die signifikante Zunahme von Außenreizen veränderte Zeitwahrnehmung, die auch die Struktur des Gedächtnisses verändert und dadurch die gegenwärtige Wahrnehmung von der Erfahrung abtrennt.24

24 Ist in der handwerklichen Arbeit noch ein flüssiger Zusammenhang der einzelnen Arbeitsschritte gegeben, hat Erfahrung hier den Stellenwert in der Übung und für die Tradierung. Sind die Produkte der Arbeit Unikate, so beginnt in der Manufaktur der

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Die Verdinglichungskonzeption Lukácsʼ bezeichnet unter dem Gesichtspunkt des Vergessens zum einen das Ausblenden oder Vergessen der qualitativen Eigenschaften von Menschen und Dingen zugunsten einer rein quantifizierenden Betrachtungsweise. Zum anderen meint sie das durch Objektivierung und Institutionalisierung bedingte Ausblenden oder Vergessen des geschichtlichen Gewordenseins von menschlichen Erzeugnissen, die dadurch als ›natürliche‹ Faktizitäten aufgefasst werden. Hierzu zählt auch ein Vergessen, das weniger die menschliche Urheberschaft negiert, als vielmehr die Historizität überhaupt ausblendet und das Bewusstsein für die Relativität der jeweiligen Verhältnisse verliert, sodass diese unbewusst reproduziert werden (vgl. Hofer 2011: 100, 107f.). Die in der kapitalistischen Gesellschaft durch einseitige Rationalisierungsprozesse ausgelöste vorherrschende Form von Gegenständlichkeit bestimmt die Weltbezüge der Subjekte: Sie legt fest, wie sie die Dinge, Beziehungen und sich selbst kategorial auffassen (vgl. J. Habermas 1981b: 475). Insofern hat Lukács mit seiner Verallgemeinerung des Begriffs der Verdinglichung über die ökonomische Sphäre im engeren Sinn hinaus »eine objektivistische Verformung von Subjektivität überhaupt im Blick« (ebd.: 489). Er ebnet in dieser Weise den Weg zur Theorie und Kritik sozialer Pathologien in Form von Störungen im Verhältnis der Subjekte zu sich selbst, zu den Dingen und zur sozialen Welt, die sich in spezifischen Entfremdungserfahrungen ausdrücken, weil diese Verhältnisse den Subjekten als naturwüchsig und unveränderlich erscheinen und die Subjekte dadurch den Verhältnissen gegenüber eine passive Haltung einnehmen.

Prozess der Verkümmerung der Erfahrung (vgl. I, 631; V, 966). Die Arbeitsschritte des Handwerkers verselbständigen sich zu voneinander isolierten Teiloperationen und damit zu ausschließlichen Funktionen einzelner Arbeiter (vgl. Marx 1969: 356ff.). In der industriellen Arbeit, vor allem am Fließband, wird die Verkümmerung der Erfahrung im Arbeitszusammenhang dominant. Während der Arbeiter in Manufaktur und Handwerk sich Marx zufolge des Werkzeugs bedient, so dient er in der Fabrik der Maschine, deren mechanischer Bewegung er als lebendiges Anhängsel zu folgen hat, wobei jede freie körperliche und geistige Tätigkeit ausscheidet (vgl. ebd.: 445; I, 631). Lukács zufolge geht mit der Entwicklung vom Handwerk über die Manufaktur zur industriellen Produktion die immer stärkere Ausschaltung der individuellen qualitativen Eigenschaften des Arbeiters einher. Sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht wird dem Menschen die eigene Tätigkeit als etwas von ihm Unabhängiges gegenübergestellt (vgl. Lukács 1968: 260f.). Der Mensch »wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, das er fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend vorfindet, dessen Gesetzen er sich willenlos zu fügen hat« (Lukács 1968: 263). Auch Simmel beschreibt diesen Zusammenhang (vgl. Simmel 1989: 636).

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Dieser Lebensweise stünde eine Perspektive gegenüber, in der die Subjekte sich bewusst als Teilnehmer auf eine soziale Praxis beziehen und dadurch erkennen, dass die Praktiken und Institutionen ihres Kollektivs nicht alternativlos sind. Sie sind vielmehr nur durch die stetige Teilnahme an ihnen möglich und werden durch sie reproduziert. Die tatsächliche Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse ist durchaus skeptisch zu beurteilen. Verdinglichungskritik stellt jedoch zunächst scheinbar ›natürliche‹ soziale Institutionen und Praktiken in die Perspektive ihrer Veränderbarkeit (vgl. Jütten 2011: 728f.). 2.3.2 ›Schlechte‹ und ›gute‹ Verdinglichung Die Kategorie der Verdinglichung dient der Kritik der Stillstellung von Historizität, der Vorstellung einer statischen Identität und der Reduktion von Subjektivität auf die Speicherleistung des Gedächtnisses. Die von Marx und Lukács ausgeführten Bestimmungen von Verdinglichung bleiben in diesem Zusammenhang auch für Benjamin maßgeblich, der den »Fetischismus der Warenwelt« mit Karl Korsch im Kontext einer Theorie der »menschliche[n] Selbstentfremdung« liest (V, 813; vgl. Kittsteiner 1984: 188, Fn. 81; Korsch 1969: 97f.). Die »Marxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt bei Benjamin eine Schlüsselposition« (Adorno 1977b: 243).25 Paradigmatisch behauptet er im Zusammenhang mit den ersten Weltausstellungen von der Ware, dass »ihr Gebrauchswert zurücktritt« (V, 50) – und mit ihm die qualitative Eigenart der Dinge: Ihre Qualitäten werden

25 Am 20.05.1935 schreibt Benjamin an Gershom Scholem, dass im Mittelpunkt des geplanten Buchs Paris die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts eine Entfaltung des Begriffs des Fetischcharakters der Ware stehen soll (vgl. 5, 83). Und noch am 03.08.1938 heißt es in einem Brief an Horkheimer, dass die grundlegenden Kategorien des Passagen-Werks in der Bestimmung des Fetischcharakters der Ware übereinkommen (vgl. 6, 149). Im ersten Entwurf zum Passagen-Werk taucht der Begriff jedoch nur isoliert an einer einzigen Stelle auf (vgl. V, 1030). Da Benjamin am 10.06.1935, also nach der Verschriftlichung des ersten Exposees zum Passagen-Werk, an Adorno schreibt, er habe angefangen, sich »zunächst einmal im ersten Bande des ›Kapital‹ umzusehen« (Adorno/Benjamin 1994: 133), kann davon ausgegangen werden, dass ihm die marxschen Ausführungen zum Fetischcharakter der Ware bei Abfassung des Exposees noch nicht vertraut waren. Rolf Tiedemann vermutet, dass Benjamin die Theorie des Warenfetischismus in erster Linie durch das Verdinglichungskapitel in Lukácsʼ Geschichte und Klassenbwußtsein bekannt war (vgl. Tiedemann 1983: 24), das er als das »geschlossenste philosophische Werk der marxistischen Literatur« bezeichnet (III, 171).

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auf Quantitäten reduziert, was einer »Entwertung der Dingwelt« (I, 1151) gleichkommt. Wie Lukács stellt Benjamin eine »universale Ausdehnung des Warencharakters auf die Dingwelt« (V, 1222) fest.26 Die Warenform strukturiert die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Beziehungen der Menschen zu sich selbst. Das Verhältnis zur gesamten Kultur ist dadurch geprägt, dass die materiellen und geistigen Produkte zwar besessen, jedoch keiner aneignenden Aktualisierung mehr unterzogen werden. Die Verdinglichung greift auch auf das Innenleben der Menschen über, das als bloße Ansammlung von dinglichen Entitäten wahrgenommen wird, die sich im Besitz des Individuums befinden (vgl. Mičko 2010: 195). Diesem willkürlichen Gedächtnis entspricht die zerstreute Wahrnehmung, die Adorno zufolge zur ›Auffassung eines Ganzen‹ unfähig macht (vgl. Adorno 1973d: 37).27 Die verdinglichten Verhältnisse haben etwas Fetischistisches und Scheinhaftes. Dieser Schein hat jedoch auch eine reale Wirkung auf die Menschen, wie Adorno ebenfalls geltend macht (vgl. Adorno 1973b: 454). Die Warenwelt ist nicht nur Schein, sondern als dieser Schein auch Wirklichkeit: Insofern »die Menschen tatsächlich abhängig werden von diesen ihnen undurchsichtigen Objektivitäten, ist die Verdinglichung nicht nur ein falsches Bewußtsein, sondern zugleich auch Realität, insofern die Waren dem Menschen wirklich entfremdet sind. […] Auf der einen Seite ist der Warenfetischismus Schein, auf der anderen Seite – und das zeigt die Übermacht der verdinglichten Ware über den Menschen – ist er äußerste Realität. Daß alle Kategorien des Scheins in Wirklichkeit auch Kategorien der Realität sind, das ist Dialektik.« (Adorno 2011: 508) Schein ist

26 Der Fetischbegriff hat bei Benjamin eine doppelte Bedeutung: Einerseits werden die Dinge in ihrer Warenförmigkeit auf ihren Tauschwert reduziert und andererseits korrespondiert dieser objektiven Struktur als bewusstseinsmäßiger Ausdruck, als »Reflexionsform der falschen Objektivität« (Adorno 1973a: 191), ein warenästhetischer Animismus, der sich durch eine »Einfühlung in die Ware« (I, 561) bzw. »Einfühlung in den Tauschwert« (V, 963) äußert. 27 Adorno setzt sich im Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, zuerst erschienen 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung und 1956 aufgenommen in Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, mit dem bürgerlichen Kulturbetrieb am Beispiel der Kommerzialisierung des Musiklebens in den USA in den 1920er und 1930er Jahren auseinander. Aus der Tatsache, dass die Musikwerke von vornherein für den Markt produziert werden, leitet er im Anschluss an Lukács ab, dass der »Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt. In diesem quid pro quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der Musik« (Adorno 1973d: 25).

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»das Allerwirklichste, die Formel, nach der die Welt verhext ward« (Adorno 1972b: 209). Adorno formuliert es wie folgt: »Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste.« (Adorno 1973c: 365)28 Das von Menschen Erschaffene und in dieser Weise historisch Gewordene erscheint als Verdinglichtes nicht nur naturförmig, sondern es hat als solches auch eine unmittelbare Wirkung.29 In der gegenwärtigen Wahrnehmung beschreibt das ›Erlebnis‹ die Verdinglichung der eigenen Lebenszeit: ›Erlebnisse‹ gehen nicht nur deshalb nicht in die unbewussten Schichten des Gedächtnisses ein und werden zu konstituierenden Elementen der Erfahrung, weil sie durch ihre bewusste Registrierung bereits erledigt sind, sondern auch aufgrund ihrer Zufälligkeit und Austauschbarkeit. Denn das qualitative Moment der Dinge, der Ereignisse und ihrer Erinnerungsspuren, das sie einzigartig macht, die Anwesenheit qualitativer und der Reflexion nicht zugänglicher Sinnpotenziale ist für Benjamin das notwendige Kriterium für das Zustandekommen von ›Erfahrung im strikten Sinn‹ (vgl. Makropoulos 2007: 14f.; Makropoulos 1998: 75f.).

28 Adorno fordert, »das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen« und umgekehrt »die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein« (Adorno 1973c: 354f.; vgl. Adorno 1973a: 353). Schon dem marxschen Naturbegriff eignet wesentlich ein »gesellschaftlich-geschichtlicher Charakter«, Natur wird von Marx als »von vornherein relativ auf menschliche Tätigkeit« konzipiert. Umgekehrt zeigt sich »Gesellschaft ebensosehr als ein Naturzusammenhang« (A. Schmidt 1993: 7). Im Kapital spricht Marx vom zu enthüllenden »Naturgesetz« der Bewegung der modernen Gesellschaft (Marx 1969: 15) und stellt sich auf einen »Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt« (ebd.: 16; vgl. Marx 1983: 127). 29 Benjamins Konzeption von Verdinglichung findet neben Marx, Lukács und Adorno in Georg Simmel einen weiteren wichtigen Stichwortgeber, der bereits Lukácsʼ Studie beeinflusst hat. Simmel betont, dass durch das Geld eine nachhaltige Entwertung der Dinge und Menschen stattfindet, indem ihre qualitative Seite auf das bloße ›Wieviel‹ nivelliert wird, sodass sie selbst austauschbar werden (vgl. Simmel 1992b: 186). Simmel nimmt im Unterschied zu Lukács und Benjamin im Gebrauchswert kein ursprünglicheres Verhältnis zu den Objekten an, das durch verdinglichte Tauschwerte deformiert wird. Die Situation der Moderne ist für Simmel insgesamt eine höchst ambivalente, da das Individuum zwar in anonymen Strukturen von sachlichen Zwängen bestimmt wird, aber gleichzeitig mit der Lösung aus tradierten Beziehungen auch neue Freiheiten ermöglicht werden (vgl. Makropoulos 2008: 138f.; Makropoulos 1998: 76).

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Das ›Andenken‹ verdinglicht die Vergangenheit: Das Subjekt meint, den ›Bestand‹ bzw. das Inventar des Gedächtnisses in Analogie zur Warenform mit ihrem beliebig reproduzierbaren Tauschwert als Eigentum sicherstellen zu können. Diese »Einrichtung des Archivs seiner selbst« macht jedoch »den eigenen Erfahrungsbestand« in diesem Besitzverhältnis »zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen«: »Das vergangene Innenleben wird zum Mobiliar«, wird gegen die Zukunft und jede Erfahrung abgeschlossen und sein lebendiger Inhalt zu einem festgelegten Datum. Erst durch eine Wechselwirkung von Gegenwart und Vergangenheit können Erinnerungen wirklich werden, ohne jedoch garantiert zu sein (Adorno 1980: 187; vgl. Teschke 2000: 25). Es ist offensichtlich, dass mit der beschriebenen Struktur der Verdinglichung ein wesentliches Moment von Entfremdung angesprochen ist. Entfremdung ist im Verhältnis zur Verdinglichung »der subjektive Bewußtseinszustand, der ihr entspricht« (Adorno 1973a: 191).30 Mit ›Entfremdung‹ ist dabei nicht die Entfernung von einem früher einmal existierenden Zustand gemeint, sondern die Entfremdung oder Entfernung von den eigenen, historisch geschaffenen Möglichkeiten (vgl. Jaeggi 2005: 19). Im Kontext der vorliegenden Arbeit bedeutet dies in Bezug auf die Struktur der Subjektivität, dass die Individuen nicht fähig sind, sich das eigens Erlebte in der Erinnerung als Erfahrung anzueignen und ihre im Prinzip vorhandenen Möglichkeiten auch zu verwirklichen. ›Verdinglichung‹ bezeichnet die Erfahrung negierende Form von Vergegenständlichung. Vergegenständlichung ist der Erfahrung jedoch nicht äußerlich, da die Erinnerung nicht rein selbstbezüglich zu denken, sondern an Formen der Vergegenständlichung gebunden ist. Eine vermittelnde Äußerung ist notwendig, damit die Inhalte der Erinnerung zum einen Bewusstseinsinhalt und zum anderen Gegenstand intersubjektiven Austauschs werden können – und dies bedeutet gleichzeitig, dass umgekehrt an vergegenständlichten Gestalten Erfahrungen abgelesen werden können. Vergegenständlichung in diesem Sinn ist ein notwendiger Teil des menschlichen Lebens: Das menschliche Innenleben bedarf der Darstellung anhand eines intersubjektiv gültigen Zeichensystems, damit es zugänglich und verständlich werden kann.31

30 Diese Bestimmung Adornos wird durch Jürgen Habermas bestätigt (vgl. J. Habermas 1981b: 566). Auch Rahel Jaeggi zufolge können bestimmte Erscheinungsformen der Entfremdung als subjektive Momente der Verdinglichung verstanden werden (vgl. Jaeggi 2005: 22, 42). 31 Für eine genaue Analyse dieses Zusammenhangs in Bezug auf Hegel und Hölderlin vgl. Kreuzer 2008.

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Bedeutungen, auch solche, die sich in einer höchst individuellen Lebensgeschichte manifestieren, sind immer an Zeichen gebunden und aus diesem Grund niemals nur privat, sondern intersubjektiv gültig. Lebensgeschichte ist darum etwas, das sich nicht nur als ein zeitlicher Zusammenhang von kumulativen Erfahrungen eines Individuums konstituiert, sondern sich auf der Ebene der Intersubjektivität im Medium einer verschiedenen Subjekten gemeinsamen Kommunikation bildet, in der das Subjekt sich selbst ebenso wie andere Subjekte anhand von Objektivationen versteht (vgl. J. Habermas 1973: 196f.). Die Identität des Subjekts ist nichts Unmittelbares und schlechthin Innerliches, sondern bildet sich im Prozeß der Individuierung ›von außen nach innen‹ über die symbolisch vermittelte Beziehung zu Interaktionspartnern und besitzt aus diesem Grund einen intersubjektiven Kern (vgl. J. Habermas 1988: 209, 217). Sämtliche Prozesse der notwendigen Vergegenständlichung gehen, sofern sie mit Formen der allgemeinen Schematisierung und Systematisierung verbunden sind, auch mit einem Vergessen qualitativer Bestimmungen und der Historizität der jeweiligen Gegenstände einher. Es kommt nun darauf an, ob es sich bei diesem Vergessen um ein ›reflektorisches‹ oder um ein ›episches‹ handelt, wobei nur das ›epische‹ Vergessen ermöglicht, an den Gegenständen eine Erfahrung zu machen. Es geht Adorno dementsprechend »recht eigentlich um eine Kritik der Verdinglichung, d.h. um eine Entfaltung der widersprechenden Momente, die im Vergessen gelegen sind. Man könnte auch sagen: um die Unterscheidung von guter und schlechter Verdinglichung.« (Adorno/Benjamin 1994: 418)32 Während das ›reflektorische‹ Vergessen mit dem Fetisch und dem ›Erlebnis‹ verbunden ist, bildet das ›epische‹ Vergessen die Bedingung für Erinnerung und Erfahrung. Vergegenständlichung wirkt nur im Zusammenhang mit dem ›reflek-

32 Die Einsicht, dass es sich »für uns nicht darum handeln kann, das Hegelsche Verdikt gegen die Verdinglichung nochmals zu wiederholen« (Adorno/Benjamin 1994: 418), da dieses voraussetzt, es gebe eine unverdinglichte Sphäre reiner Selbstbezüglichkeit, und sich stattdessen eine Kritik und Theorie der Verdinglichung gegenüber ihrer Totalisierung und abstrakten Negation als Aufgabe stellt, formuliert Adorno erst in seinem Brief an Benjamin vom 29.02.1940. Noch 1935 bewegt er sich innerhalb des von Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein vorgegebenen Bezugsrahmens, der den Warenfetischismus zu einer alle gesellschaftlichen Bereiche entfremdenden Kategorie totalisiert, wenn er schreibt: »Der Fetischcharakter der Ware ist keine Tatsache des Bewußtseins sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, daß er Bewußtsein produziert.« (Ebd.: 139) Erst in der Negativen Dialektik führt Adorno aus, dass die »Kategorie der Verdinglichung […] inspiriert war vom Wunschbild ungebrochener subjektiver Unmittelbarkeit« (Adorno 1973a: 367; vgl. Kreuzer 2011: 377f.).

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torischen‹ Vergessen auch entfremdend, da Formen der Vergegenständlichung in den subjektiven Welt- und Sozialverhältnissen notwendig sind, wie in der Auseinandersetzung mit dem Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ und in der Betonung der Wichtigkeit von Erzählungen für die Darstellung menschlicher Identität deutlich geworden ist (vgl. Abschnitt I.2.2). Die Äußerungsweisen und Darstellungsformen von Erinnerungen sind nicht bloß deren unvollkommene Erscheinungsformen, sondern ihre einzige mögliche Verwirklichung: Erinnerung bezieht sich notwendig mithilfe von Zeichen auf das Vergangene, das als immer nur zeichenhaft Fassbares für das Subjekt durch eine wesentliche Nachträglichkeit gekennzeichnet ist. Es gibt keine ›reine‹ Erinnerung, die sich getrennt von den Formen ihrer Äußerung in den intersubjektiv verfügbaren und verständlichen Ausdrucksformen denken ließe. Das Subjekt hat keinen unmittelbaren Zugriff auf sein Selbst, sondern seine Selbstgewissheit ist Resultat einer Selbstvergewisserung, die das Subjekt vermittelt durch seinen vergegenständlichten Ausdruck zu erfassen sucht (vgl. Finkelde 2003: 141f.; Angehrn 1985: 36). Der Unterschied zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ Verdinglichung läuft auf die Frage hinaus, ob die gewonnenen Objektivierungen als abgeschlossen betrachtet werden oder eine Offenheit behalten, die sie für neue Erfahrungen und Erinnerungen durchlässig macht. Denn das, was vergegenständlicht verstanden und in die kontinuierliche Erzählung einer Lebensgeschichte integriert werden kann, ist, wie in der Auseinandersetzung mit Proust deutlich geworden ist, nur ein Ausschnitt des die Identität Bestimmenden.33 Die Vorstellung eines inneren Selbst, das unabhängig von Handlungen und Äußerungen existiert, führt zu verdinglichenden Wesensbestimmungen. Eine solche Erstarrung macht Personen in ihrer Identität unbeweglich und entfremdet sie möglicherweise von ihrem Selbst. Denn die Einheit des Selbst ist auf die immer wieder zu aktualisierende Integrationsleistung durch einen aneignenden Weltbezug angewiesen, ohne dass das Selbst vor dieser Integration schon gegeben wäre (vgl. Jaeggi 2005: 194f.). Aneignung ist ein Prozess, der auf etwas An-

33 Ohne zwischen Vergegenständlichung und Verdinglichung zu unterscheiden, kritisiert Lukács selbst die hegelsche Gleichsetzung von Entfremdung und Vergegenständlichung in Geschichte und Klassenbewußtsein in seinem Vorwort aus dem Jahr 1976. Er begreift Vergegenständlichung nun nicht mehr als spezifische Kategorie zur Beschreibung und Kritik kapitalistischer Warenproduktion, sondern als eine »unaufhebbare Äußerungsweise im gesellschaftlichen Leben der Menschen«. Entfremdung entstehe erst dann, »wenn die vergegenständlichten Formen in der Gesellschaft solche Funktionen erhalten, die das Wesen des Menschen mit seinem Sein in Gegensatz bringen« (Lukács 1968: 26f.).

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zueignendem beruht, das jedoch durch diese Aneignung gleichzeitig transformiert und in gewisser Hinsicht erst erzeugt wird, wie Rahel Jaeggi ausführt. Da das Vorgängige ebenfalls Resultat eines Aneignungsprozesses ist, gibt es keinen sinnvoll bestimmbaren Zustand außerhalb oder vor einem solchen Prozess (vgl. ebd.: 225). Auch Dieter Sturma zufolge beziehen sich Personen auf ihre Identität als eine gegebene und zugleich herzustellende Identität (vgl. Sturma 1997: 187). Die Praxis der Aneignung, in der das Angeeignete gleichzeitig geprägt, gestaltet und formiert wird (vgl. Jaeggi 2005: 57), ist nicht als bloßer Besitz zu verstehen, sondern als qualitativ-konkreter Bezug zur Wirklichkeit, wie bereits Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten betont hat. Der »Sinn des Habens« (Marx 1974: 540) bezeichnet ihm zufolge die Grundverfassung des abstrakten und entfremdeten Welt- wie Selbstbezugs gegenüber der »allseitige[n] Art«, in der sich der Mensch »als ein totaler Mensch« über seine Vermögen die Welt aneignet – im »Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben« (ebd.: 539; vgl. Angehrn 1986: 129): »Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, umso mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.« (Marx 1974: 549) Den Besitz im Gegensatz zur »Aneignung des menschlichen Wesens« (ebd.: 536) versteht Marx als statische Relation, die eine Aktualisierung verunmöglicht und Potenzialität eliminiert. Die Äußerung und beständige Aktualisierung der Potenzialitäten ist die einzige wirkliche Seinsweise der Subjektivität (vgl. Angehrn 1986: 131f.). Adorno zufolge besteht die Verdinglichung des Bewusstseins in der sozial erzeugten Unfähigkeit zur Erfahrung. Sie hat ihr Modell im Tausch, der alles Historische ausklammert, da es nicht in seiner Rechnung aufgeht (vgl. Adorno 1972c: 230): »Was nicht heut und hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen« (Adorno 1977c: 311). In der durch die Reduktion auf den Tauschwert geleisteten Quantifizierung wird Erfahrung negiert. Hierin liegt die Parallele zum isolierten und deshalb austauschbaren ›Erlebnis‹, das die Erfahrung ersetzt, die eine »Kontinuität des Bewusstseins [ist], in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften« (Adorno 1972a: 115). Gegen eine verkürzte Verdinglichungskritik gerichtet betont Adorno in der Negativen Dialektik, dass Vergegenständlichung aufgrund des ›Vorrangs des Objekts‹34 nie ganz aufhebbar ist und auch Autonomie und Spontaneität immer

34 Josef Früchtl führt aus, dass ›Objekt‹ hier äußerst Verschiedenes bedeuten kann: erstens das »gesellschaftliche Sein, das alles subjektive Bewusstsein zwar nicht vollständig determiniert, aber bestimmt«, zweitens »die innere Natur, wie sie psychoanaly-

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durch die materiellen Lebensbedingungen vermittelt sind. Aus diesem Grund muss die Kritik der Verdinglichung »das Wahrheitsmoment am Dinghaften« (ebd.: 368) berücksichtigen. Adorno zufolge sind Subjekt und Objekt zwar immer schon wechselseitig vermittelt, das Subjekt bleibt jedoch aufgrund der eigenen Dinghaftigkeit in anderer Weise auf das Objekt angewiesen als umgekehrt: »Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt.« (Ebd.: 184; vgl. Adorno 1977d: 742) Eine gegen Verdinglichung gerichtete, vermeintlich reine Unmittelbarkeit, ein »Subjektivismus des reinen Aktes«, der alles Dinghafte ohne Rest ›verflüssigt‹, ist darum ebenso unwahr wie der Fetischismus, da er sich »willkürlich des Moments der Andersheit in der Dialektik« entäußert (Adorno 1973a: 367). Adorno richtet sich gegen eine Vereinseitigung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, die er in derjenigen modernen Autonomiekonzeption erkennt, in der die Selbstbestimmung des Subjekts durch die Unterwerfung des Objekts zu einem Erzeugnis der Verstandestätigkeit gewährleistet wird. Im Hintergrund dieser Vorstellung steht Adorno zufolge ein Begriff von Freiheit, der sie als völlige Abwesenheit von Fremdbestimmung missversteht und damit die Abwertung des Gegenstandbezugs bestätigt, die Adorno einer einseitigen Verdinglichungskritik vorwirft. Bereits Bergson hat darauf hingewiesen, dass virtuelle ›reine Erinnerungen‹ sich im Bereich der Wahrnehmung artikulieren und dafür auf motorische Leistungen angewiesen sind. In der Auseinandersetzung mit Proust wurde deutlich, dass die Erinnerung eines unwillkürlichen Anstoßes durch einen äußeren Gegenstand bedarf. Sie bedeutet aus diesem Grund nicht das Gegenteil von Verdinglichung, sondern bedarf eines Moments von Passivität aufseiten des Subjekts, das der eigenen Dinghaftigkeit geschuldet ist (vgl. Quadflieg 2011: 705). Diese ›gute‹ Verdinglichung bewahrt Spuren von Erfahrung. Adorno warnt deshalb davor, »das Dinghafte als radikal Böses« anzusehen und »alles, was ist, zur reinen Aktualität dynamisieren« zu wollen, da man in diesem Fall »zur Feindschaft gegen das Andere, Fremde, dessen Name nicht umsonst in der Entfremdung anklingt« (Adorno 1973a: 191), tendiert. Kritik hätte hingegen nicht das Fremde zum Eigenen zu machen, sondern es als Fernes und Verschiedenes zu akzeptieren (vgl. ebd.: 192). Die Reaktion auf Wahrnehmungsschocks wird zum Habitus und die auf präreflexive Gehalte zurückgreifende Erfahrung zunehmend zu einem Randphäno-

tisch als libidinös Unbewusstes expliziert ist«, drittens »›das Außen‹«, »das Unmittelbare«, »die Existenz«, und viertens das ›Noch-nicht-Seiende‹, Utopische: »nicht bloß etwas, das gegeben, sondern aufgegeben ist« (Früchtl 2011: 313).

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men abgewertet (vgl. Makropoulos 2007: 13).35 Gerade dadurch, dass sie nicht bewusst gesteuert werden, sind Habitusformen weitgehend einem absoluten Vergessen entzogen. Als Selbstverständlichkeiten, die sich als Formen nicht-intentionaler Kontinuierung verstehen lassen, stützen sie auch die Homogenisierungsleistungen der ›kollektiven Identität‹ (vgl. Hahn 2007: 31f.). Benjamin nimmt nicht bloß die subjektive Zeiterfahrung, sondern auch die moderne Kultur als Ganzes in erster Linie als verdinglichte in den Blick. Die Phänomene des ›kollektiven Gedächtnisses‹ betrachtet er in ihrer konservativen, Identität stillstellenden Funktion als verdinglichte und verdinglichende. Dennoch legt Benjamin seiner Betrachtung der modernen Kultur einen Begriff der kulturellen Objektivation symbolischen Sinns zugrunde. Dieser Sinn unterliegt zwar einer verdinglichten Betrachtung, kann jedoch zumindest prinzipiell aktualisiert werden (vgl. Mičko 2010: 82). Bereits Dilthey hat gezeigt, dass aus dem Handeln der Menschen eine Ordnung entsteht, die den Menschen dann wiederum objektiv gegenübersteht und die Erfahrungen und Vorstellungen des Individuums mit der kollektiven Wirklichkeit vermittelt (vgl. Abschnitt I.2.2.3).36 Die subjektive Wirklichkeit entsteht in Prozessen der Verinnerlichung dieser objektivierten Welt. Dabei ist jedoch im Blick zu behalten, wie Georg Simmel betont, dass sich dieser ›objektive Geist‹ als Kulturinhalt eines Kollektivs in seiner praktischen Bedeutung immer an dem Umfang bemisst, in dem er auch zu Entwicklungsmomenten der Individuen wird (vgl. Simmel 1989: 628).

35 ›Habitus‹ als Bezeichnung für das gewohnheitsmäßige Verhalten eines Menschen, in dem Erfahrungen unbewusst fortwirken, wurde als theoretisches Konzept vor allem durch Pierre Bourdieu entwickelt, der darin eine Schnittstelle zwischen (Klassen-)Zugehörigkeit und Praxis sieht. Habitusformen bezeichnen für Bourdieu Systeme dauerhafter Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen fungieren. Sie folgen einer geordneten und kollektiv aufeinander abgestimmten Regelmäßigkeit, ohne dabei bewusst Regeln einzuhalten (vgl. Bourdieu 1993: 98f.; Bourdieu 1984: 277ff.). Zum Verständnis von Gewohnheiten im Sinne eines praktischen ›Sich-auf-etwas-Verstehens‹ vgl. auch Merleau-Ponty 1966: 173f. 36 Die Wissenssoziologen Peter Berger und Thomas Luckmann definieren Verdinglichung als »äußersten Schritt des Prozesses der Objektivation […], als einen Schritt, durch den die objektivierte Welt ihre Begreifbarkeit als eines menschlichen Unterfangens verliert und als außermenschlich, als nicht humanisierbare, starre Faktizität fixiert wird« (Berger/Luckmann 1974: 95). Dieses Vergessen der eigenen Urheberschaft ist für Berger und Luckmann kein spezifisch modernes Phänomen, das von der kapitalistischen Produktionsweise herrührt, sondern der Normalfall menschlicher Kultur (vgl. ebd.: 96).

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Adorno hat bereits 1935 in Reaktion auf Benjamins Exposee zum PassagenProjekt bemängelt, dass dieser den »Hegelsche[n], von Georg [Lukács] und seitdem aufgenommene[n] und sehr wichtige[n] Begriff der zweiten Natur« nicht zur Anwendung bringt (Adorno/Benjamin 1994: 145).37 Lukács führt den Begriff der historisch entstandenen ›zweiten Natur‹, die dem Subjekt als objektiver, von ihm unabhängiger Zusammenhang von Gesetzmäßigkeiten entgegentritt, in seiner Theorie des Romans ein und bestimmt sie im Unterschied zur »stumm[en], sinnfällig[en] und sinnesfremd[en]« ersten Natur: Sie ist ein »erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten« (Lukács 1986: 55). Als »Welt der Konvention, wie sie geschichtlich produziert ist, der uns fremd gewordenen Dinge, die nicht entziffert werden können, aber als Chiffern begegnen« (Adorno 1973c: 356), entspricht die Bestimmung der ›zweiten Natur‹ der grundlegenden Fassung des Verdinglichungsbegriffs, wie Lukács ihn in Geschichte und Klassenbewußtsein später weiter ausführt. Eine Aufnahme des Begriffs durch Benjamin liegt nahe, da es diesem im Zusammenhang des Passagen-Werks gerade um diejenigen Kulturprodukte geht, die aus den lebendigen Sinngebungsprozessen ausgeschieden sind. In seinem Vortrag Die Idee der Naturgeschichte macht Adorno am Begriff der ›Schädelstätte‹ auf den entscheidenden Unterschied zwischen Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (I, 203-430) und Lukácsʼ Theorie des Romans bezüglich der Möglichkeiten neuer Sinngebung aufmerksam: »Bei Lukács ist es etwas bloß Rätselhaftes, bei Benjamin wird es zur Chiffre, die zu lesen ist.« (Ebd.: 360) Adorno stellt in seinem Vortrag die Frage, »wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten« (ebd.: 356), denn: »In der Rede von der Schädelstätte liegt das Moment der Chiffre; daß all dies etwas bedeutet, was aber erst herausgeholt werden muß.« (Ebd.: 357) Als Antwort auf die Frage nach dem ›Wie‹ verweist Lukács darauf, dass die verdinglichten Gestalten der ›zweiten Natur‹ sich »nur durch den metaphysischen Akt einer Wiederentdeckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren

37 Der Begriff der ›zweiten Natur‹ wird von Hegel an verschiedenen Stellen mit Bezug auf die Gewohnheit verwendet und im Sinne einer vermittelten Unmittelbarkeit bestimmt. In Die Philosophie des Geistes im System der Philosophie heißt es, die Gewohnheit sei eine ›zweite Natur‹ – »Natur, denn sie ist ein unmittelbares Seyn der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Einund Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs-Willens-Bestimmtheiten, als verleiblichten [...], zukommt« (Hegel 1958: 236).

D AS V ERGESSEN ( E)

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oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt«, wieder zum Leben erwecken lassen (Lukács 1986: 55). Lukács kann die »Schädelstätte […] nicht anders denken als unter der Kategorie der theologischen Wiedererweckung, unter dem eschatologischen Horizont« (Adorno 1973c: 357) und bleibt in dieser Konstruktion einer Sinntotalität weitgehend Hegel verpflichtet, der am Ende der Phänomenologie des Geistes ebenfalls das Negative der Geschichte und der Wissenschaft als ›Schädelstätte‹ bezeichnet, durch deren ›Erinnerung‹ der ›absolute Geist‹ zu sich selbst findet (vgl. Hegel 1951: 619f.). Entgegen dieser Auflösung der ›zweiten Natur‹ in einer abstrakten Sinntotalität bei Lukács ist Adorno davon überzeugt, dass Geschichte als »ein durchaus Diskontinuierliches« begriffen werden muss, das nicht »in eine Strukturganzheit« (ebd.: 362) überführt werden darf. Benjamin hat Adorno zufolge im Unterschied zu Lukács »die Wiedererweckung der zweiten Natur aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe geholt und zum Gegenstand der philosophischen Interpretation gemacht« (ebd.: 357). Er steht den Möglichkeiten einer ›Wiedererweckung‹ dabei deutlich skeptischer gegenüber als Lukács, da Akte der Objektivation nicht die ›Wiedererweckung‹ der jeweiligen Objekte bedeuten, sondern immer nur eine Aktualisierung ihres Sinngehalts (vgl. Mičko 2010: 106ff.). An dieser Stelle lässt sich jedoch genauer bestimmen, was Adorno mit dem Begriff der ›guten‹ Verdinglichung andeutet: In den vergegenständlichten Gestalten des ›kollektiven Gedächtnisses‹ hat sich Erfahrung niedergeschlagen. Die kulturellen Objektivationen haben eine Vor- und Nachgeschichte und »sind unerschöpfliche Behälter von Erinnerungen geworden« (V, 447). Am dinglichen Charakter der Dinge wird erst anschaulich, dass sie aus lebendigen Prozessen entstanden sind, die sie nun vermissen lassen. Anders gesagt: An den vergegenständlichten Gestalten wird deutlich, dass Erinnerung nicht auf die Speicherleistung des Gedächtnisses reduziert werden kann. In den vergegenständlichten und entstellten historischen Gestalten sind Spuren von Erfahrungen enthalten. Da diese Gestalten nicht mehr mit der gegenwärtigen Erfahrung verbunden, sondern nur noch in vieldeutigen entstellten Spuren vorhanden sind, gilt es, sie vergegenwärtigend zu ›lesen‹. Die in den Objektivationen liegende lebendige Bedeutung ist zu interpretieren und zu aktualisieren, ohne auf eine Strukturganzheit der Geschichte zu verweisen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Kritik an einer Vorstellung, die in der Tradition eine Absicherung gegen die Veränderung des Bestehenden zu installieren sucht – ein Ansatz, der in Kapitel I.3 im Anschluss an Rahel Jaeggi als ›konservative‹ Entfremdungstheorie im Unterschied zu einer ›emanzipatorischen‹ Entfremdungstheorie bezeichnet wurde. Die Restauration der kulturellen Traditionen ist sinnlos, wenn ihre soziale Basis, das ›kommunikative Gedächt-

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nis‹ als Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht, verfallen ist. Adorno führt dementsprechend aus, dass Tradiertes nicht ›rein‹ aufbewahrt und das Ursprüngliche nicht willentlich wiederhergestellt werden kann; »wollte man aber auf die Möglichkeit, das Traditionelle zu erfahren, radikal verzichten, so überlieferte man sich aus lauter Kulturtreue der Barbarei. Daß die Welt aus den Fugen ist, zeigt allerorten sich daran, daß man es falsch macht, wie man es auch macht.« (Adorno 1977a: 182) Es bedarf einer kritischen Erinnerung, um Tradiertes durch seine Zerstörung hindurch bewahren zu können, ohne sich der Herrschaft einer Tradition zu unterwerfen. Tradition ist ins Bewusstsein zu heben, »ohne ihr sich zu beugen« (Adorno 1977c: 317). Es geht in kritischer Perspektive nicht um die Konservierung des Vergangenen zum Zweck der Absicherung eines erreichten Status durch Rückgriff auf Vergangenes, sondern um die »Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesnen« (V, 572; vgl. V, 491; V, 1014), um den ›träumerischen‹ Mythos zu durchbrechen, die Historizität des Bestehenden zu offenbaren und die verdrängten und vergessenen Potenziale des Vergangenen zu bewahren (vgl. Zamora 1995: 442f.). In der Beziehung zum Vergangenen darf in der Perspektive einer ›emanzipatorischen‹ Entfremdungstheorie demnach weder die Autorität der Tradition einfach hingenommen werden noch sich das Subjekt wie der Besitzer des Vergangenen verhalten. Es ist vielmehr entscheidend, dass das Vergangene in einer unwillkürlichen Erinnerung in seiner Fremdheit derart zum Erinnernden in Beziehung tritt, dass dieser sich selbst fremd wird und dadurch seine ›geordnete‹ Identität in eine neue Offenheit überträgt (vgl. ebd.: 443). Der Bezug auf unterdrücktes und vergessenes Vergangenes bewegt sich in der beständigen Bewegung von Objektivierung und Verflüssigung, um ›gute‹ Verdinglichung als notwendigen Bezugspunkt zu schaffen, ohne der ›schlechten‹ Verdinglichung im Sinne des konservativen Einschlusses in Traditionen zu verfallen. Die Bedrohung liegt nicht in der Vergegenständlichung an sich, auf die praktisch alles Denken und Handeln angewiesen ist, sondern in ihrer Verselbständigung, die keine produktive Aneignung mehr möglich macht. ›Entfremdung‹ bedeutet für Marx genau dies: Dass Erzeugnisse und Wirkungen menschlicher Praxis sich zu einer verselbständigten Objektivität verfestigen und als Fetische Herrschaft über die Menschen erlangen (vgl. Angehrn 1986: 125).

3. Die Dialektik nicht-entfremdeter Erfahrung

In den ersten beiden Kapiteln dieses Teils wurde Benjamins Konzeption identitätsrelevanter Erfahrung in Bezug auf die Begriffstrias Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen analysiert. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der Entfremdung theoretisch untermauert und verdeutlicht, welche Formen der subjektiven und kollektiven Zeiterfahrung die vorrangigen Gegenstände von Benjamins Erfahrungstheorie bilden. Da es jedoch relativ unbefriedigend ist, lediglich Verfallsdiagnosen zu stellen und Entfremdungserfahrungen zu beschreiben, ist es geboten zu überlegen, worin nicht-entfremdete Erfahrung bestehen könnte. Die Ereignisse und Erfahrungen der bestehenden sozialen Wirklichkeit werden insofern kritisiert, als die bestehende Gestalt ihrer Wirklichkeit am nicht erfüllten Gehalt ihrer Möglichkeiten und damit ihrer Veränderungsbedürftigkeit gemessen wird (vgl. Schweppenhäuser 2012: 197ff.).1 Die Frage nach einer nicht-entfremdeten Erfahrung wird in diesem Kapitel in zwei Formen behandelt: Zunächst wird die nicht-entfremdete Erfahrung mit Rekurs auf Benjamins Begriff der ›Aura‹ näher charakterisiert, um einen Gegenbegriff zur ›schlechten Verdinglichung‹, die mit einer entfremdeten Zeiterfahrung verbunden ist, zu umschreiben. Nicht-entfremdete Erfahrung im Unterschied zum ›Erlebnis‹ wird als Erfahrung der ›Aura‹ bestimmt, wodurch ein konstruktives Moment gewonnen wird, das über eine rein negative Kritik der Zeiterfahrung hinausgeht (Abschnitt 3.1). Die Frage nach einem Begriff der nicht-entfremdeten Erfahrung bei Benjamin wird dann in einem zweiten Anlauf anhand

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Gesellschaftskritik macht nur Sinn, wenn zumindest noch Spuren eines möglichen Andersseins zu finden sind. Das mögliche Anderssein der Gesellschaft tritt jedoch nicht im Sinne eines quasi selbständig verlaufenden Fortschrittsprozesses immer deutlicher hervor, sondern ist im Gegenteil immer unschärfer, bruchstückhafter und schwieriger zu finden. Gerade deshalb verstärkt sich aber auch die Wichtigkeit der Kritik (vgl. Bonß 2003: 374f.).

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der Figur des Sammlers paradigmatisch ausgeführt, indem die Überlegungen zu Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen exemplarisch einer soziohistorischen Betrachtung unterzogen werden (Abschnitt 3.2).

3.1 D IE E RFAHRUNG DER ›AURA‹ Baudelaire verdankt sein Wissen vom Verfall der Erfahrung und der darauf bezogenen ›Trostlosigkeit‹ der Moderne Benjamin zufolge seinem Bewusstsein vom und Leiden am Verfall der ›Aura‹ (vgl. V, 433). Der dem ›spleen‹ Verfallene, so Benjamin, sieht »die Erde in einen bloßen Naturzustand zurückgefallen. Kein Hauch von Vorgeschichte umwittert sie. Keine Aura.« (I, 643f.) Der ›Aura‹ und ihrem Verfall ist das 11. Kapitel von Über einige Motive bei Baudelaire gewidmet. Diese Zuordnung am Ende des Textes deutet auf die herausgehobene Stellung hin, die Phänomen und Begriff der ›Aura‹ in Benjamins Gedankengang einnehmen.2 Dem ›Aura‹-Begriff wird in diesem Abschnitt eine ausführliche Analyse gewidmet, für die weitere Texte von Benjamin herangezogen werden. Vor der Thematisierung des Begriffs der ›Aura‹, der wie wohl kaum ein anderer Begriff Benjamins posthum bekannt geworden und rezipiert worden ist, muss angemerkt werden, dass sich im Werk Benjamins unterschiedliche, teilweise nur schwer miteinander vereinbare Begriffsverwendungen ausmachen lassen, wobei Kontinuitäten ebenso wie Diskontinuitäten feststellbar sind. Der Begriff der ›Aura‹ ist bei Benjamin demnach nicht zu finden (vgl. Fürnkäs 2000: 103). Dass der Begriff auch mit den letzten seiner Schriften nicht als ›abgeschlossen‹ gelten kann, zeigt eine Notiz, in der es heißt, es sei vielleicht »notwendig, es mit dem Begriff einer von kultischen Fermenten gereinigten Aura zu versuchen? Vielleicht ist der Verfall der Aura nur ein Durchgangsstadium« (VII, 753; vgl. Lindner 2011a: 238). Benjamins vielfältiger Gebrauch des ›Aura‹-Begriffs hat ebenso vielfältige und sich teilweise widersprechende Deutungen mit unterschiedlichen Bezügen, Fragestellungen und Ansatzpunkten nach sich gezogen, wobei der Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wohl am wirkmächtigsten ist. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit steht aber der Begriff der ›Aura‹ im Mittelpunkt, wie er sich in Über einige Motive bei Baudelaire darstellt. Die Hinzunahme weiterer Schriften Benjamins dient der Qualifi-

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Marleen Stoessel sieht im »Problem des Aura-Verfalls« bei Benjamin eines der »entscheidenden Motive«, »wenn es nicht überhaupt das entscheidende ist« (Stoessel 1983: 23).

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zierung des Begriffs, jedoch lediglich vor dem Hintergrund des Verwendungskontextes in Über einige Motive bei Baudelaire. Zum ersten Mal findet der Begriff der ›Aura‹ im Werk Benjamins in seinen Erfahrungsprotokollen zu seinen Experimenten mit Haschisch Erwähnung (vgl. Fürnkäs 2000: 106).3 Die ›Aura‹ erscheint als eine Art Nimbus oder Hof, der eine Person oder einen Gegenstand der Wahrnehmung umgibt.4 Diese ›Aura‹ er-

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In der Notiz Haschisch Anfang März 1930 heißt es, der »Kern dieses Versuchs« waren »Mitteilungen, die ich über das Wesen der Aura machte«. Benjamin kennzeichnet drei Momente der ›echten Aura‹ im »Gegensatz zu den koventionellen banalen Vorstellungen der Theosophen«: »Erstens erscheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens ändert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kann die echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strahlenzauber gedacht werden, als den die vulgären mystischen Bücher sie abbilden und beschreiben. Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkelung in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt.« (VI, 588) Der Begriff der ›Aura‹ wird bereits früher vorbereitet, etwa wenn in der 1910 im Anfang publizierten Erzählung Die drei Religionssucher der Benjamin zufolge der Religion am nächsten Kommende auf einem Berggipfel die folgende Erfahrung macht: »Aber ein überirdisch hohes Licht blendete dort droben und deutlich konnte er in dem Glanz nichts erkennen, aber doch glaubte er, Gestalten darin leben zu sehen und krystallne Dome klangen fern im Morgenlicht herüber.« (II, 893) Für diesen und weitere Hinweise auf die Geschichte des ›Aura‹-Begriffs bei Benjamin vgl. Fuld 1979. Zur Verwandtschaft von Benjamins ›Aura‹-Konzeption mit entsprechenden Gedanken Ludwig Klagesʼ vgl. Hansen 2008; Pauen 1999; Grossheim 1997. Zu Proust sowie zu Rudolf Steiner und Alfred Schuler als Quellen von Benjamins ›Aura‹-Konzeption vgl. Recki 1988: 30ff. Giorgio Agamben zufolge hat Benjamin den Begriff der ›Aura‹ bei Léon Daudet in dessen Buch La melancholia (1928) vorgefunden, in dem Baudelaire als ›poète de lʼaura‹ bezeichnet wird. Auch Benjamins Überlegungen zum Geruch sowie zur Fotografie werden durch Daudets Einsichten vorweggenommen (vgl. Agamben 2012b: 69).

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Bereits in Hauptzüge der ersten Haschisch-Impression vom 18.12.1927 heißt es: »Verschrobene Äußerung über Äthermaske, die (selbstverständlich) auch Mund, Nase etc. habe.« Und: »Unbegrenztes Wohlwollen. Versagen der zwangsneurotischen Angstkomplexe. Die Sphäre ›Charakter‹ tut sich auf. Alle Anwesenden irisieren ins Komische. Zugleich durchdringt man sich mit ihrer Aura.« (VI, 558) In Hauptzüge der zweiten Haschisch-Impression vom 15.01.1928 schreibt Benjamin, er empfinde es als »höchst unangenehme Verletzung meiner Aura«, als Bloch versucht, »leise mein

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scheint an den Dingen jedoch erst in der einsetzenden Erinnerung an den Rausch und ist aus diesem Grund nur nachträglich, als Vergangenes und Vergehendes zu haben (vgl. VI, 588; Fürnkäs 2000: 109). Die Lokalisierung von Benjamins Auseinandersetzung mit dem Begriff der ›Aura‹ im Kontext seiner Haschischversuche aus den Jahren 1927-1928, deren Verständnis des Begriffs u.a. in seinem Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie (II, 368-385) von 1931 wieder auftaucht, gibt einen ersten Hinweis, auf welche Bedeutung dieser Begriff abzielt. Die Grenzbereiche des Denkens, der Erfahrung und Wahrnehmung, die nicht in einer abstrakten Rationalität aufgehen und darum nur noch im Traum oder im Rausch zum Ausdruck kommen, sind es, von denen sich Benjamin eine Überwindung der starren Fixierung von Subjekten und Objekten erhofft. Im Traum und im Rausch offenbart sich für Benjamin, wie er über die »Landschaft einer Passage« schreibt, »eine Welt von besondern geheimen Affinitäten«, in der die Dinge »die widersprechendste Verbindung« eingehen und ›unbestimmte Verwandtschaften‹ zeigen können (V, 993). Diese Welt bezeichnet einen Erfahrungsraum, in dem das Subjekt leibhaft mit den Dingen kommuniziert und sich den Dingen angleicht, so wie die Dinge selbst zu Subjekten werden (vgl. Tiedemann 1983: 17; Greffrath 1981: 97).5 Benjamin ist seit seinen philosophischen Anfängen auf der Suche nach einem weiten Erfahrungsbegriff. Wird die ›Aura‹ im Folgenden insbesondere mit Bezug auf die Wahrnehmung von Kunstwerken näher bestimmt, so ist dabei im Blick zu behalten, dass sie im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit als allgemeine Erfahrungskategorie von Interesse ist. Die Notiz aus den Haschisch-Protokollen liefert den Hinweis, dass die ›Aura‹ »an allen Dingen« (VI, 588) erscheint, womit sie als Kategorie zur Beschreibung des alltäglichen Lebens und nicht nur der Kunsterfahrung qualifiziert wird. Nach den eher allgemeinen Bestimmungen der Erfahrung der ›Aura‹ als Erfahrung einer Ferne (Abschnitt 3.1.1) und Erfahrung einer Blickerwiderung (Abschnitt 3.1.2) wird die Erfahrung der ›Aura‹ in der Erinnerung als zentrales Element von Benjamins Konzeption bestimmt (Abschnitt 3.1.3) und anschließend

Knie [zu] berühren. Die Berührung wird mir schon lange ehe sie mich erreicht hat, spürbar« (VI, 563). 5

Zu Benjamins Begriff der ›Aura‹, dessen Bestimmung an den Versuch einer »Definition des Undefinierbaren« (Stoessel 1983: 43) erinnert, bemerkt Brecht in seinem Arbeitsjournal: »alles mystik, bei einer haltung gegen mystik.« (Brecht 1973: 16) Wohlwollender, jedoch ähnlich schreibt Adorno über Benjamin, es hätten »bei ihm ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden« (Adorno 1977b: 252).

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die spezifische Dialektik im Prozess des modernen Erfahrungsverfalls verdeutlicht (Abschnitt 3.1.4). 3.1.1 ›Aura‹ als Erfahrung einer Ferne In den beiden Aufsätzen Kleine Geschichte der Photographie und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit reflektiert Benjamin die mediale Überformung der Realität, aus der neue Wahrnehmungsweisen resultieren, und konstatiert den sozial bedingten Verfall der ›Aura‹. Es geht in diesen Texten um das wahrnehmungstheoretisch Neue der Fotografie im 19. und des Films im frühen 20. Jahrhundert. Diese Medien werden von Benjamin in ihrem bestimmenden Einfluss auf die Wahrnehmung und Erfahrung der Rezipienten untersucht, welcher sich für ihn vor allem in der Einübung reflexhafter Wahrnehmungsweisen äußert. Hier führt Benjamin auch den Begriff des ›Schocks‹ ein, der die beschleunigten Handlungs- und Wahrnehmungsformen der Moderne bezeichnet, die einer Wahrnehmung der ›Aura‹ entgegenwirken. Benjamins erste ›Definition‹ der ›Aura‹ lautet folgendermaßen: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« (II, 378) Anhand der metaphorischen Beschreibung und des Beispiels wird deutlich, dass es sich bei der ›Aura‹ nicht um einen exakt definierten Begriff handelt, sondern dass es Benjamin um eine Erfahrung geht, die an eine Einmaligkeit von Zeit und Raum gebunden ist (vgl. Köhn 2011: 403). Der betrachtete Gegenstand lässt sich nicht durch seine ›gegenständlichen‹ Eigenschaften allein bestimmen, sondern zeichnet sich durch ein ›Mehr‹ aus, die Anwesenheit einer ›Ferne‹. In Analogie zur ›Atmosphäre‹, wie Gernot Böhme sie versteht, lässt sich von einem grundlegenden Wahrnehmungsereignis sprechen, das im flüchtigen, nicht greifbaren »Spüren von Anwesenheit« besteht: »Dieses Spüren von Anwesenheit ist zugleich und ungeschieden das Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt wie auch das Spüren der Anwesenheit von etwas.« (Böhme 2001: 45) Das ›Atmen‹ der ›Aura‹ deutet auf eine gewisse leibliche Qualität dieser Erfahrung hin.6

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Das ›Atmen‹ verweist zudem auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes αὔρα als Luft bzw. Hauch. In der esoterischen Kabbala wird ›Aura‹ dann als ein den Menschen umgebender Äther bestimmt, in dem seine Taten bis zum Jüngsten Gericht aufbewahrt werden (vgl. Fürnkäs 2000: 102; Recki 1988: 15).

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Insofern die ›Aura‹ die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als die Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden als die eigene leibliche Anwesenheit umfasst, ist die ›Aura‹ »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (Böhme 1995: 34). Die ›Aura‹ verbindet als Medium Subjekt und Objekt physisch und lässt sich als ›Erscheinung einer Ferne‹ gleichzeitig als Abstand oder Zwischenraum verstehen. Die Wahrnehmung der ›Aura‹ umfasst als visuelles Paradigma vor allem ein Vermögen der Distanz (vgl. Didi-Huberman 1999: 135). Die in der ›Aura‹ wahrgenommene Ferne ist keine Ferne im Sinne eines räumlichen Abstands, sondern vielmehr die Umschreibung der Erfahrung einer unaufhebbaren Distanz, des Bewusstseins eines Unerreichbaren (vgl. I, 480, Anm. 7; Recki 1988: 16). Den Verfall der ›Aura‹ zeigt Benjamin an technischen Bedingtheiten auf. So ist die frühe Fotografie Benjamin zufolge noch ›auratisch‹, weil sie die einmalige Begegnung von Fotograf und Porträtiertem zum Ausdruck bringt und die Porträtierten auf dem Foto von einem ›Hauchkreis‹ umgeben sind, der durch ein Kontinuum von hellstem Licht zu dunkelstem Schatten gebildet wird (vgl. II, 375f.). An diese frühe Periode schließt sich Benjamin zufolge der Verfall an. Die ›Aura‹ wird auf den Fotografien durch Retusche künstlich vorgetäuscht. Der erste Fotograf, der seine Wahrnehmung den neuen technischen Gegebenheiten anpasst und das Objekt von der ›Aura‹ befreit, ist Benjamin zufolge Eugène Atget (vgl. II, 378). Atgets Fotografien sind menschenleer und drücken in dieser Weise eine Entsprechung von Technik und der sich neu konstituierenden Subjektivität aus. In der Folge erscheinen in den Filmen von Eisenstein und Pudowkin zwar Menschen, jedoch in Form einer anonymen Masse. Es geht nun um die Überwindung des Einmaligen, um den »Sinn für alles Gleichartige auf der Welt« und die »Zertrümmerung der Aura« (II, 379). Diese Bilder sind »leer« und »stimmungslos«; »alle Intimitäten« verblassen »zugunsten der Erhellung des Details« (II, 379; vgl. Köhn 2011: 403; Fürnkäs 2000: 110ff.). Es geht in der Anwendung der neuen Techniken darum, einer Sache in der Reproduktion habhaft zu werden und sie als Abbild jederzeit verfügbar zu halten (vgl. II, 378f.): »Und unverkennbar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem.« (II, 379) Es geht Benjamin in seinen medientheoretischen Überlegungen nicht allein um Kunstgeschichte, sondern vielmehr um den geschichtlichen Wandel der menschlichen Wahrnehmung: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.« (I, 478) Die alltäglichen beschleunigten und schockhaften Wahrnehmungsformen in der Moderne finden im

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künstlerischen Medium des Films ihren adäquaten Ausdruck. Diesen Wandel bezeichnet Benjamin mit dem Verfall der ›Aura‹: »Und wenn Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.« (I, 479) Die Fotografie erscheint in der Kleinen Geschichte der Photographie noch als ein Medium, das sich von einem ›auratischen‹ zu einem nicht›auratischen‹ entwickelt. In den späteren Schriften bestimmt Benjamin sie jedoch immer entschiedener als Paradigma eines nicht-›auratischen‹ Mediums. Heißt es im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, dass im »flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts […] aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal [winkt]« (I, 485), so geht Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire so weit, auch die frühe Fotografie als Phänomen des Verfalls der ›Aura‹ zu charakterisieren (vgl. I, 646). Benjamin greift in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine Definition der ›Aura‹ aus der Kleinen Geschichte der Photographie als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, wieder auf und verbindet sie mit der »gesellschaftliche[n] Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura«: »Die Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹ ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.« (I, 479) Es ist bei Benjamins Definition offensichtlich, dass es sich bei der ›Nähe‹ um eine räumliche Kategorie handelt, während es sich bei der ›Ferne‹ um eine zeitliche handeln muss: Ein zeitlich Fernes kommt an einem räumlich nahen Gegenstand zur Erscheinung. Das bedeutet auch, dass die ›Aura‹ einerseits etwas am Kunstwerk selbst bezeichnet, sich andererseits als Vorstellungsinhalt in der Wahrnehmung herstellt und mit ihr verfällt. Sie manifestiert sich in der Wahrnehmung, die sozialen Bedingungen und Veränderungen unterliegt (vgl. Maras 2004: 19; Recki 1988: 17; Stoessel 1983: 25, 43ff.). Benjamins Definition besagt, dass in der Erfahrung der ›Aura‹ an einem räumlich nahen Gegenstand ein zeitlich Fernes in seiner Entzogenheit erscheint. Er betont die Einmaligkeit und Flüchtigkeit dieser Wahrnehmung, die sich nicht festhalten oder willentlich herstellen lässt. Vielmehr entzieht sie sich dem menschlichen Zugriff: In der Augenblickserfahrung der ›Aura‹ »bemächtigt sie [die Sache] sich unser« (V, 560). Die Einmaligkeit der ›Aura‹ verdeutlicht Benjamin an der Unnahbarkeit des Kunstwerks, die von seinem Charakter als Kultgegenstand herrührt (vgl. I, 480ff.) und die im Prozess der Säkularisierung vom Wert der Echtheit des Kunstwerks abgelöst wird (vgl. Maras 2004: 20). Die ›Aura‹ eines Gegenstands rührt von seinem »Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition« (I, 480)

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her und entsteht aus deren kultischer Aktualisierung. Der ›Kultwert‹ eines Gegenstands im Sinne seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit erinnert an den ehemals sakralen Charakter des Kunstwerks, der sich auch als seine ›Ferne‹ beschreiben lässt. Die ›Aura‹ als Wahrnehmungsmodus mit Ursprüngen im magischen Kult und in religiösen Ritualen vermittelt eine Authentizität, die durch Überlieferung beglaubigt wird: Die Echtheit des Kunstwerks konstituiert sich durch Tradition, durch seine wiederholte Aneignung. Kult und Ritual lassen sich in diesem Zusammenhang als ursprüngliche Reproduktionstechniken verstehen, die mit den modernen Reproduktionstechniken, die bloße Kopien herstellen, kaum zu vegleichen sind. Das ›Hier und Jetzt‹ wird dem Kunstwerk nicht durch die bloße Reproduktionsmechanik, sondern durch seine Rezeptionsgeschichte verliehen. Die »auratische Daseinsweise« des Kunstwerks ist darum für Benjamin an seine »Ritualfunktion« gebunden (I, 480; vgl. Finkelde 2003: 132). Dies kann jeden möglichen Gegenstand betreffen, solange er in irgendeiner Weise verehrungswürdig erscheint und solange er Achtung und Aufmerksamkeit hervorruft durch den in ihm bewahrten Ursprung (vgl. Fürnkäs 2000: 118; Hillach 1991: 168). Die »Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft« (I, 477; vgl. Stoessel 1983: 24). Diese für Ritual und Kult konstitutive Ferne, Einmaligkeit und Unnahbarkeit droht Benjamin zufolge durch die Technisierung der Reproduktion zu verschwinden. Die ›Aura‹ als Vermögen kultischer Zuwendung zu einem Gegenstand verfällt, wenn die infrage kommenden Gegenstände in täuschend echten oder gar identischen Kopien massenhaft verfügbar werden (vgl. Hillach 1991: 169). Schließlich hat die Durchsetzung der technischen Reproduktion von Kunstwerken zur Folge, dass der Ausstellungswert zum alleinigen Gradmesser des Kunstwerks wird (vgl. Maras 2004: 20). Die massenhafte technische Reproduzierbarkeit und jederzeitige Verfügbarkeit von Kunstwerken führt zur Entwertung ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit im ›Hier und Jetzt‹. Der moderne Erfahrungsverfall kann in Benjamins Konzeption auch als Verfall der ›Aura‹ beschrieben werden: »Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.« (I, 477) Benjamin beschreibt die der »Zertrümmerung der Aura« entsprechende Wahrnehmung dahingehend, dass ihr »›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt« (I, 480).

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Eine zentrale Unterscheidung, die Benjamin in Bezug auf diesen Prozess der Veränderung der Wahrnehmung trifft, ist diejenige von ›optisch‹ und ›taktil‹.7 Die ›optische‹ Wahrnehmung entspricht der Wahrnehmung der ›Aura‹. Sie ermöglicht eine distanzierte Kontemplation und Sammlung und der Betrachter bringt sich selbst mit seinen Erfahrungen und seiner gegenwärtigen Verfassung ein. Die ›taktile‹ Wahrnehmung hingegen kennzeichnet eine Rezeption, in der keine ›Aura‹ wahrgenommen wird. Sie bietet nicht die Möglichkeit zur Sammlung, sondern hat eine direkte Wirkung im aktuellen Erleben.8 Die moderne Welt stellt in diesem Sinn erhöhte Anforderungen an die Wahrnehmung der Menschen: »Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.« (I, 505) Gegenüber der ›optischen‹ Wahrnehmungsweise der distanzierten Kontemplation wäre die ›taktile‹ Wahrnehmungsweise als involvierte Gewöhnung zu kennzeichnen (vgl. Makropoulos 2007: 8). Die Begriffe ›taktil‹ und ›optisch‹ bestimmen als Grundfaktoren einer qualitativ veränderten Wahrnehmung durch die neue Technik der Visualisierung und Beschleunigung von Bildern in Film und Fotografie den Realitätsbezug des Wahrnehmenden, aus dem ein verändertes Bewusstsein hervorgeht. Die Gewöhnung, die dazu befähigt, auch unter der Bedingung zerstreuter Wahrnehmung handlungsfähig zu bleiben, kann Benjamin zufolge der Film in seiner Eigenschaft als nicht-›auratisches‹ Medium leisten. Der Film soll eine adäquate ästhetische Erfahrung der veränderten Altagswahrnehmung vermitteln und erscheint als »eigentliches Übungsinstrument« dieser »Rezeption in der Zerstreuung« (I, 505). Benjamin spricht sogar von einer »höchst produktive[n] Verwertung« der »Selbstentfremdung« des Menschen in seiner Repräsentation durch die Apparatur (VII, 369). Entscheidend für diese Funktion des Films ist die

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Benjamin wendet die Begriffe von Alois Riegl aus Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (1899) an, insbesondere die Opposition von kontemplativer Ferne und haptischer Nähe. Riegl führt diese Unterscheidung für die Entwicklung der bildenden Kunst im Altertum ein. Er spricht zunächst vom ›Optisch-Taktischen‹, ersetzt dann später letzteres durch den Terminus des ›Haptischen‹. Für Benjamins Bezug auf Riegl vgl. Kemp 1978.

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Peter Fischers Interpretation zufolge ist beim Wort ›taktil‹ an den Takt im Sinne einer zeitlichen Gliederung zu denken, die beim Film mit seinen Schnitten, Zooms, Schwenks und Kamerafahrten keine Zeit zur bewussten Stellungnahme zulässt, sondern eine direkte Wirkung auf den Rezipienten ausübt (vgl. Fischer 2003: 63f.).

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Schockwirkung, die aufgrund seiner unvorhersehbaren Schnitte, der Techniken der Zeitraffung und -dehnung sowie der Montage von seinen Bildern ausgeht: Die Schockwirkung als allgemeines Phänomen der Moderne, die eine Verknüpfung verschiedener Vorstellungen durch eine ständige Veränderung des Wahrgenommenen unterbricht und durch die Reizschutzmechanismen des Bewusstseins aufgefangen werden muss (vgl. I, 503), ist das formale Prinzip des Films. Wie am Fließband den Rhythmus der Produktion, so bestimmt sie beim Film den der Rezeption (vgl. I, 631): »Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.« (I, 503, Anm. 29; vgl. Makropoulos 2008: 8f.) Der Film mit der abrupten Abfolge von Bildern, »die jenem tiefsten Bedürfnis dieses Geschlechts genugtut, den ›Fluß‹ der ›Entwicklung‹ desavouiert zu sehen« (V, 1013), kann als das technische Leitmedium der klassischen Moderne angesehen werden. »Der Film dient«, so Benjamin, »den Menschen in denjenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt.« So ist es »die geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst der Film seinen wahren Sinn hat«, »die ungeheure technische Apparatur unserer Zeit zum Gegenstande der menschlichen Innervation zu machen« (I, 444f.). Der Film ist aus diesem Grund für Benjamin nicht bloß ein Medium der Zerstreuung und Unterhaltung, sondern vielmehr das adäquate Medium für einen »Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung«, in dem »sich im anschaulichen Bereich« wiederholt, »was sich im Bereiche der Theorie als die zunehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht«: die »Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie« (I, 440; vgl. Makropoulos 2008: 6). Der »Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle«, der »Zertrümmerung der Aura« (I, 479) und der »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe« ist Benjamins Ausführungen in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zufolge in der Krisensituation der Moderne eine »kathartische Seite« (I, 478) abzugewinnen. Die ›Zertrümmerung der Aura‹, die zwar Gefahr läuft, das Kunstwerk als Ware dem öffentlichen Marktwert zu unterstellen, soll es dennoch ermöglichen, in revolutionärer Absicht die mythische Gewalt der autoritativen Formen der Wahrnehmung wie die religiöse Verehrung und die ästhetische Bewunderung zu brechen. Das Kunstwerk soll im Namen der Emanzipation der kreativen Kräfte der Massen aus der das Geheimnis der Produktion

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autoritär hütenden ästhetischen Distanz des Kunstwerks zum Publikum befreit werden (vgl. Fürnkäs 2000: 118f.).9 Eine Vielzahl von ungewohnten haptischen und optischen Phänomenen beansprucht in der Moderne die Wahrnehmung. Dieser Umstand und die Isolierung der einzelnen Momente bringen eine neue Form der Ästhetik hervor, aus der nicht Konzentration, sondern Zerstreuung resultiert (vgl. Bock 2010: 59).10 Die von Benjamin angeführten neuen Techniken haben entscheidenden Anteil am

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Adorno kritisiert in der Ästhetischen Theorie an Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die »einfache Antithese zwischen dem auratischen und dem massenreproduzierten Werk, die, um ihrer Drastik willen, [einerseits] die Dialektik beider Typen vernachlässigt« und andererseits »das kultischen Zusammenhängen seinerseits opponierende Moment dessen, wofür Benjamin den Begriff der Aura einführte, das fernrückende, gegen die ideologische Oberfläche des Daseins kritische« missachtet. Die negative Beurteilung der ›Aura‹ führt Adorno zufolge dazu, dass auch »die qualitativ moderne, von der Logik der gewohnten Dinge sich entfernende Kunst« ihr zum Opfer fällt und »dafür die Produkte der Massenkultur, denen der Profit eingegraben ist und dessen Spur sie noch in vorgeblich sozialistischen Ländern tragen«, deckt. Die schlichte Opposition von ›auratischer‹ und Massenkunst gestattet nicht, »zwischen der Konzeption einer bis in ihre Grundschicht hinein entideologisierten Kunst und dem Mißbrauch ästhetischer Rationalität für Massenausbeutung und Massenbeherrschung zu unterscheiden« (Adorno 1970: 89f.).

10 Um die Beanspruchung des Bewusstseins durch schockartige Reize zu belegen, nennt Benjamin eine Reihe technischer Erfindungen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts auftreten und die »gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen«. Neue mechanische Ablaufreihen sind etwa das Anzünden eines Streichholzes und das Abnehmen eines Telefonhörers, das »an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient sein wollte«, getreten ist. Eine besondere Bedeutung hat für Benjamin das ›Knipsen‹ mit dem Fotoapparat: »Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock.« (I, 630) Zu diesen haptischen Erfahrungen treten optische Schocks. Benjamin nennt etwa den Inseratenteil einer Zeitung und den großstädtischen Verkehr: »Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den gefährlichen Kreuzungspunkten durchzucken ihn, gleich Stößen einer Batterie, Innervationen in rascher Folge.« Die abrupten Bewegungsabläufe, die von der Technik gefordert werden, haben Auswirkungen auf die alltägliche Wahrnehmung, was Benjamin in dem Satz zusammenfasst, die Technik »unterwarf […] das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art« (I, 630; vgl. Bock 2010: 59f.).

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Entstehen des ›reflektorischen Charakters‹ als eines neuen Sozialcharakters, der durch eine reflektorische Aufmerksamkeit als Schutzmechanismus des Bewusstseins gegen die Wahrnehmungsschocks und eine zerstreute Wahrnehmung charakterisiert werden kann. Die Entwicklung neuer Wahrnehmungsweisen wird von Benjamin als angemessene Reaktion auf die Überforderung der Menschen durch die Technisierung der Wirklichkeit gedeutet. Mithilfe des Films soll der Mensch sensorisch auf das Niveau dieser Wirklichkeit gebracht werden (vgl. Makropoulos 2008: 9). Benjamin sieht in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in der Zerstörung des ›Kultwerts‹ und der ›Aura‹ also auch noch die Chance der Gewöhnung an die neuen Erfahrungsbedingungen. In Über einige Motive bei Baudelaire führt Benjamin diesen Gedanken nicht mehr an. Die ›Aura‹ erhält nun die Funktion, die Vorstellung einer nicht-entfremdeten Wahrnehmung zu qualifizieren und übernimmt in dieser Weise den Gegenpart zum kritisierten Erfahrungsverfall des verdinglichten Bewusstseins. Im folgenden Abschnitt geht es um eine genauere Qualifizierung der nicht-entfremdeten Erfahrung als Phänomen des wechselseitigen Anblickens. 3.1.2 ›Aura‹ als Erfahrung einer Blickerwiderung Benjamin charakterisiert seine Konzeption einer Erfahrung der ›Aura‹ in der Wahrnehmung durch deren Bindung an die unwillkürliche Erinnerung: In Über einige Motive bei Baudelaire definiert Benjamin die ›Aura‹ zunächst als die »Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben« (I, 644). Es geht ihm demnach nicht ausschließlich um die Analyse eines ursächlichen Zusammenhangs technischer Errungenschaften mit dem diagnostizierten Verfall der ›Aura‹, sondern um einen grundlegenden Wandel im Zusammenhang von Erfahrung und Erinnerung. In Über einige Motive bei Baudelaire macht Benjamin den Begriff der ›Aura‹ an der Erwiderung des Blicks fest: »Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« (I, 646f.) Konzipiert Benjamin die Erfahrung der ›Aura‹ zunächst anhand der Wahrnehmung von Kunstwerken und natürlichen Gegenständen, so beabsichtigt er nun, sie von »einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen« (I, 646) zu übertragen: »Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird […], da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. […] Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf.« (I, 646) Diesen Gedanken fasst Benjamin

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in der Schrift Zentralpark (I, 655-690), den Aufzeichnungen aus den Jahren 1938/1939 zu den Baudelaire-Aufsätzen, prägnant zusammen: »Ableitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert.« (I, 670)11 Es handelt sich um eine quasi-subjektive Reziprozität, die Benjamin als die Erfahrung der ›Aura‹ konzipiert: um ein Verhältnis von Gegenstand und Betrachter, in dem die Gegenstände dem wahrnehmenden Subjekt durch den Bedeutungshof, der die Gegenstände kraft ihrer Geschichte umgibt, als ›beseelte‹ bzw. subjekthafte erscheinen (vgl. Witte 2010: 24f.; Maras 2004: 20). Und um die Dinge wahrzunehmen, muss man ihren Blick erwidern: »Nur was uns anschaut sehen wir.« (III, 198) Dementsprechend lässt sich der verdinglichenden Wahrnehmung eine ›beseelende‹ Wahrnehmung gegenüberstellen (vgl. Harth/ Grzimek 1976: 122). Kann der Mensch nur er selbst sein, indem er sich von sich unterscheidet und sich selbst mit anderen Augen sehen kann, wie Helmuth Plessner schreibt12, so

11 Vgl. dazu den Exkurs über die Soziologie der Sinne aus Simmels Soziologie: »Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.« (Simmel 1992a: 723) Als paradigmatisch kann in diesem Zusammenhang der Haschischesser gelten, der Erscheinungen der Ähnlichkeit erfährt, die von unbegrenzter Bedeutung sind. »In ihr [der Welt des Haschisch] ist nämlich alles: Gesicht, hat alles den Grad von leibhafter Präsenz, der es erlaubt, in ihm wie in einem Gesicht nach erscheinenden Zügen zu fahnden. Selbst ein Satz bekommt unter diesen Umständen ein Gesicht (ganz zu schweigen vom einzelnen Wort) und dieses Gesicht sieht dem des ihm entgegengesetzten Satzes ähnlich.« (V, 526) Vgl. folgende Abwandlung einer Notiz aus den Haschisch-Protokollen: »Blickwispern füllt die Passagen. Da ist kein Ding, das nicht ein kurzes Auge wo man es am wenigsten vermutet, aufschlägt, blinzelnd schließt, siehst du aber näher hin, ist es verschwunden. Dem Wispern dieser Blicke leiht der Raum sein Echo. ›Was mag in mir, so blinzelt er, sich wohl ereignet haben?‹ Wie stutzen. ›Ja, was mag in dir sich wohl ereignet haben?‹ So fragen wir ihn leise zurück.« (V, 672, vgl. VI, 564f.) 12 Im »Blick, der dem Blick des Anderen begegnet«, »haben wir das elementare Phänomen der Reziprozität zwischen mir und dem Anderen. Sobald mein Blick das Fremde Auge trifft, sehe ich mich erblickt, angeblickt – und nicht nur (etwa in der Art des Augenarztes) das Auge. Der Andere sieht nicht nur aus, sondern – mich an und steht damit in der Position des Vis-à-vis als derjenige, mit dem ich den Platz tauschen kann.«

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ist es Benjamin zufolge auch die ›Aura‹ der Dinge, die dieses Anblicken leistet und zur Grundlage der Ausbildung eines Selbstbildes werden kann. Der Vollzug dieses gegenseitigen Anblickens ist darauf angewiesen, dass die unbewussten Bereiche des Gedächtnisses in einer unwillkürlichen Erinnerung aktiviert werden können, die das Vergangene in seiner eigenen Zeitlichkeit und Räumlichkeit belässt. Nur in dieser Weise vermag das Vergangene sein eigenes Wesen zu entfalten und »den Blick aufzuschlagen« (I, 647). Auch Proust berührt die Theorie der ›Aura‹ in diesem Sinn, wenn er schreibt: »›Einige, die Geheimnisse lieben, schmeicheln sich, daß den Dingen etwas von den Blicken bleibt, welche jemals auf ihnen ruhten.‹ (Doch wohl das Vermögen, sie zu erwidern.)« (I, 647) Im Zusammenhang mit dem für die Erfahrung der ›Aura‹ zentralen Phänomen des Blicks wird auch die Fotografie in ihrer Rolle als Erscheinung des Verfalls der ›Aura‹ erneut nachvollziehbar, »da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben« (I, 646). Die ›Aura‹ entsteht durch die Fähigkeit des Menschen, Gegenständen in ihrer Betrachtung einen Blick zu verleihen. Sie ist an die Wahrnehmung gebunden und bezeichnet einen Vorstellungsinhalt, der sich aus der Verbindung von unwillkürlicher Erinnerung und der äußeren Erscheinung eines Gegenstands bildet. Diese Form der Wahrnehmung bezeichnet Benjamin als ›Belehnung‹, die zwar durch die Außenwelt hervorgerufen wird, jedoch einen intersubjektiven Vorgang meint, der die Spannung zwischen den objektiven und subjektiven Momenten der ›Aura‹ aufrechterhält (vgl. Kramer 2010: 93; Stoessel 1983: 46).13 Die ›Aura‹ ist zwar nicht intentional abrufbar und an eine einmalige Situation gebunden, da sie mit der unwillkürlichen Erinnerung verknüpft ist. Die ›Belehnung‹ besitzt jedoch auch eine willkürliche Dimension. Marleen Stoessel zufolge bezeichnet sie auch das bloß projektive, willkürliche Moment des ›reflektorischen‹ Vergessens (vgl. Stoessel 1983: 157). Man braucht dabei jedoch nicht

Durch diese »Vertauschbarkeit des Blickpunkts […] ist er ein Anderer, bin ich für ihn ein Anderer« (Plessner 1982: 394). 13 Adorno beabsichtigt, die ›Aura‹ unter den Fetischbegriff zu subsumieren: »Von früheren Formulierungen unterscheidet sich diese durch den Begriff des Belehnens. Ist er nicht ein Hinweis auf jenes Moment, das ich im Wagner der Konstruktion der Phantasmagorie zugrundegelegt habe, nämlich das Moment der menschlichen Arbeit?« (Adorno/ Benjamin 1994: 418) Benjamin weist diesen Gedanken zurück: »Aber wenn es sich in der Aura in der Tat um ein ›vergessenes Menschliches‹ handeln dürfte, so doch nicht notwendig um das, was in der Arbeit vorliegt. Baum und Strauch, die belehnt werden, sind nicht vom Menschen gemacht. Es muß also ein Menschliches an den Dingen sein, das nicht durch die Arbeit gestiftet wird.« (Ebd.: 425)

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so weit zu gehen wie Birgit Recki, derzufolge der ›auratische‹ Gegenstand der Wahrnehmung – entgegen der Intention Benjamins – lediglich als Projektionsfeld für die Subjektivität des Rezipienten fungiert (vgl. Recki 1988: 24f.): Die Erfahrung der ›Aura‹ impliziert das Innewerden eines objektiven Bedeutens, an das keine subjektive Intention heranreicht. Ein Gegenstand schlägt dann dem Betrachter die Augen auf, wenn er emphatisch ein nicht bloß vom Betrachter projiziertes Objektives sagt. Entauratisierung der Dinge bedeutet, dass sie einerseits zu bloßen Dingen unter anderen, andererseits zu Gefäßen für die Psychologie des Betrachters werden (vgl. Adorno 1970: 409f.). Die ›Aura‹ wird von Benjamin als ein ›mediales‹ Phänomen gekennzeichnet, das sich zwischen Gegenstand und Betrachter ereignet.14 Es handelt sich bei der Wahrnehmung der ›Aura‹ um einen dialogischen Prozess und nicht um eine Konstruktion, durch die der Sinn den Dingen willkürlich verliehen wird. Voraussetzung für diese Erfahrung, die Gegenständen in der ›Belehnung‹ eine ›einmalige Erscheinung einer Ferne‹ mit unwiederholbarem Charakter verleiht, ist wie bei der unwillkürlichen Erinnerung selbst eine gewisse Offenheit. Es handelt sich um einen Zustand zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, zwischen Zerstreutheit und Aufmerksamkeit, der den Dingen ihren Blick abzugewinnen in der Lage ist. Dieser Zustand ist auch als körperlicher aufzufassen, wie Dorothee Kimmich betont (vgl. Kimmich 2009: 362). Es sind immer die menschlichen Augen, die den Blick der Dinge wahrnehmen oder nicht. Unter modernen Bedingungen ist die Verhinderung dieser Wahrnehmung wesentlich wahrscheinlicher, da das moderne Auge des Großstadtmenschen sich gegen die Außenwelt verschließt (vgl. ebd.: 261f.). Wird die ›Aura‹ als dasjenige, was über die Dinghaftigkeit des Dings hinausweist und es mit identitätsrelevanten Bedeutungskomponenten ausstattet, nicht mehr wahrgenommen, dann werden die Dinge ausschließlich verdinglicht, d.h. sachlich identifizierend wahrgenommen, ohne zu vergegenwärtigen, dass sie für das Subjekt und die es umgebenden Personen eine Vielzahl von existenziellen Bedeutungen besitzen (vgl. Honneth 2005: 75ff.). Mit dieser Bestimmung ist der in der Einleitung skizzierte Begriff von Entfremdung angesprochen und die Erfahrung der ›Aura‹ qualifiziert umgekehrt eine nicht-entfremdete Erfahrung näher. Verdinglichung lässt sich in diesem Zusammenhang neben der angesproche-

14 Der hier verwendete Begriff des ›Medialen‹ beruft sich auf Hans-Georg Gadamer, der in Anlehnung an die griechische Verbform vom ›medialen‹ Charakter des Spiels und des Verstehens spricht. Gemeint ist eine subjektive Tätigkeit, die mit einem geschieht, also ein Vorgang zwischen einem aktiven oder rein passiven Vorgang (vgl. Gadamer 1986: 109ff.).

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nen Qualitäts- und Historizitätsvergessenheit wohl am besten als ›Beziehungsvergessenheit‹ fassen: Die Verdinglichung der Dinge verunmöglicht die Wahrnehmung derjenigen Verbindungen und Bedeutungen, die sie durch ihre Verknüpfung mit vergangenen Erfahrungen erhalten, und dadurch auch ihre Aneignung als Konstituenten der eigenen Identität.15 Denn Erfahrung in Benjamins Sinne macht aus, dass die Welt das Subjekt ›ansieht‹ und dabei ein Teil von ihm wird. Im Gedächtnis treten dann »gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion« (I, 611) und begleiten als Synthese der Geschichte und als Tradition das Subjekt (vgl. Stüssi 1977: 52). Mit Hartmut Rosa lässt sich das ›auratische‹ Verhältnis auch als eines der ›Resonanzerfahrung‹ beschreiben: In gelingenden Weltbeziehungen erscheint die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar ›gütiges‹, wohlwollendes oder entgegenkommendes ›Resonanzsystem‹ (vgl. Rosa 2012: 9). Die Metapher der ›Resonanz‹ besagt, dass es in diesem Verhältnis um ein Mitschwingen geht, das sich nicht auf das Schema von Ursache und Wirkung sowie von Reiz und Reaktion im positivistischen Sinn reduzieren lässt, wie Rudolf zur Lippe betont. Es handelt sich um ein ›Einschwingen‹ der Sinne, indem die Geschichten der Phänomene und ihrer Wahrnehmung mitschwingen. Diese Resonanzbewegung unbewusster Empfindungen macht auf eine entstehende und sich fortsetzende Beziehung aufmerksam (vgl. zur Lippe 2010: 99f.). Rosa führt die Beispiele der Ästhetik, der Naturerfahrung und der Religion als spezielle Resonanzsphären an und spricht im Zusammenhang mit den Momenten des ›Einklangs‹ bzw. der ›Tiefenresonanz‹ bezeichnenderweise – wie Benjamin – vom ›Atmen‹ der Welt. Er betont, dass es sich bei Resonanzerfahrungen um ein Moment in der Weltbeziehung von Subjekten handelt, das über instrumentelle und kausale Relationen hinausgeht und sich nicht manipulativ sicherstellen bzw. fixieren lässt (vgl. Rosa 2012: 10). Rosa zufolge stehen die Eindrücke bei Tätigkeiten, aus denen ›Erlebnisse‹ im Unterschied zu ›Erfahrungen‹ im Sinne Benjamins resultieren, in keinerlei ›Resonanzbeziehung‹ mit dem inneren Befinden und dem sozialen Leben der Subjekte, was bedeutet, dass sie nicht auf sie ›antworten‹. Selbstentfremdung und Weltentfremdung resultieren dementsprechend aus einem ›Verstummen‹ der Re-

15 Tilmann Habermas beruft sich in seiner Studie über ›geliebte Objekte‹ auf G.H. Mead, wenn er ausführt, dass »der Mensch auf die gleiche Weise [lernt], mit Dingen zu hantieren, wie er lernt, mit Menschen zu kommunizieren« (T. Habermas 1996: 215). Nach Mead werden Gegenstände phylo- wie ontogenetisch ursprünglich wie Personen behandelt. Der Mensch lernt im Laufe seiner Entwicklung durch eine Abstraktionsleistung, physische von sozialen Objekten zu differenzieren (vgl. ebd.: 216).

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sonanzachsen zwischen Selbst und Welt, da durch die sozialen und ökonomischen Organisationsformen der Welt in der Moderne tendenziell ausschließlich rein instrumentelle oder kausale und nicht dialogische Beziehungen des wechselseitigen Antwortens gefördert werden. Eine nicht-entfremdete Erfahrung besteht umgekehrt in einer Resonanzerfahrung, was bedeutet, dass die Dinge aufgrund ihrer vorgängigen Aneignung ›antworten‹ (vgl. ebd.; Rosa 2011: 246, 249). Es lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Verfall der ›Aura‹ einen durchaus ambivalenten Vorgang bezeichnet, da mit der ›Aura‹ zwar die nichtentfremdete Erfahrung im Unterschied zum reflektorischen ›Erlebnis‹ bedroht ist, sie jedoch erst im Verschwinden überhaupt wahrnehmbar wird: Durch Reproduzierbarkeit und jederzeitige Verfügbarkeit wird der Wert des Einmaligen deutlich. Zudem bezeichnet Benjamin mit dem Verfall der ›Aura‹ die Befreiung aus traditionellen Bezügen ebenso wie das Schwinden des Vermögens der kollektiven und individuellen Vergegenwärtigung des für die Gegenwart relevanten Vergangenen durch eine Beschleunigung und Atomisierung der modernen Lebensverhältnisse. Mögliche Befreiung und drohende Verarmung bezeichnen insofern zwei Seiten desselben historischen Prozesses (vgl. Seel 2004: 120f.). 3.1.3 Erfahrung der ›Aura‹ in der Erinnerung Die Verortung der ›Aura‹ in der unwillkürlichen Erinnerung, in der Assoziationen und Bilder aus leiblich aufbewahrten Erinnerungen aus einer sensorisch ausgelösten, scheinbar beiläufigen Wahrnehmung hervorgehen, macht deutlich, dass die ›Aura‹ nicht intentional ›abrufbar‹ ist, sondern eine einmalige und flüchtige Begegnung mit einem unverwechselbaren Gegenstand im ›Hier und Jetzt‹ bezeichnet. Als einzigartige und unverfügbare teilen die Bilder der unwillkürlichen Erinnerung mit der ›Aura‹ die Bestimmung der ›einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‹. Diese Bestimmung korrespondiert mit dem kultischen Charakter des Phänomens im Sinne eines Unnahbaren (vgl. I, 647; Schmider/Werner 2011: 580). Auf dem Weg ins Bewusstsein hat die Erinnerung eine Distanz zu überwinden, wodurch mit dem Erinnerten auch die Zeit zwischen dem Einst und dem Jetzt wieder lebendig wird. Wenn das Erinnerte wieder bewusst ist, ist es jedoch nicht einfach zuhanden, sondern bleibt bei aller Nähe zugleich auf Distanz (vgl. Warning 2004: 264). Die flüchtigen Momente der Wahrnehmung der ›Aura‹ aktualisieren ein Vergangenes, das dem wachen Bewusstsein normalerweise nicht verfügbar ist. Benjamin weist auf die Verwandtschaft mit Valérys Bestimmung der Wahrnehmung im Traum hin: »›Wenn ich sage: ich sehe das da, so ist damit nicht eine Gleichung zwischen mir und der Sache niedergelegt … Im Traume dagegen liegt ei-

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ne Gleichung vor. Die Dinge, die ich sehe, sehen mich ebensowohl wie ich sie sehe.‹« (I, 647) Diese Erfahrung der ›Aura‹, in der sich ein Gegenstand der Anschauung mit unbewussten Vorstellungen verbindet, verdankt sich der unwillkürlichen Erinnerung, in der sich verschiedene Zeiten miteinander verflechten (vgl. Didi-Huberman 1999: 137). Die ›Aura‹ ist darum kein Objekt des Besitzes, da die unwillkürliche Erinnerung deshalb fern und unnahbar ist, weil sie sich der willentlichen Verfügung durch das Gedächtnis entzieht und das durch das Vergessen unbewusst Bewahrte im unbeabsichtigten ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ erkennbar macht (vgl. Jauß 1989: 198f.). Bereits Proust beschreibt diese Flüchtigkeit der unwillkürlichen Erinnerung im Unterschied zu den dauerhafteren »Schauspielen des willentlichen Gedächtnisses« (Proust 2004b: 268), die er mit dem Durchblättern eines Bilderbuchs und mit der Sammlung und Katalogisierung von Illustrationen vergleicht, bei denen lediglich gleichartige Elemente miteinander kombiniert werden. In der unwillkürlichen Erinnerung, die Marcel die gegenwärtige Wirklichkeit seines Ichs in Zweifel ziehen lässt, anstatt ihm seine konstruierte Identitätsvorstellung lediglich zu bestätigen, bildet sich eine Empfindung, die deutlich als Erfahrung der ›Aura‹ zu erkennen ist, da ihre »Strahlung noch eine schmale Zone rings um mich herum durchdrang und dem Ort, an dem ich mich befand, sowie auch einem anderen Ort […] gemeinsam zugehörig war« (ebd.: 269). ›Aura‹ bezeichnet eine Atmosphäre, die über das bloß Dinghafte an den Gegenständen hinausweist und aus ihrer Geschichte hervorgeht. Proust weist selbst darauf hin, dass zwar nicht die Gegenstände selbst »etwas von den Augen an sich bewahren, die sie angeschaut haben, daß über Bauten und Bilden [k]ein Gefühlsschleier liegt, an dem Liebe und Bewunderung der vielen Anbeter jahrhundertelang gewirkt und gewoben haben«, dass aber ein ehemals betrachtetes Ding bei der wiederholten Betrachtung in der Empfindung sehr wohl »mit dem Blick, den wir darauf geheftet haben, alle Bilder zurück[bringt], von denen es damals erfüllt war«. Diese Erfahrung der ›Aura‹ der Dinge – die Benjamin als ›Belehnung‹ bezeichnet – hat ihre Ursache darin, dass die wahrgenommenen Dinge »einmal von uns wahrgenommen, in uns zu etwas Immateriellen von gleicher Art werden wie alle unsere Gedanken und Empfindungen jener Zeit und sich mit ihnen unauflöslich durchdringen« (ebd.: 285). Dinge werden niemals isoliert wahrgenommen, sondern immer verknüpft mit ihrer jeweiligen räumlichen und zeitlichen Umgebung. Darüber hinaus bleiben sie mit der Identität des Betrachters zum Zeitpunkt der Betrachtung verbunden und können nur durch diese hindurch zu einem späteren Zeitpunkt von neuem empfunden und bedacht werden: »Meine Person von heute ist nur ein aufgegebener Steinbruch; sie glaubt, alles, was sie enthält, sei gleichförmig und monoton;

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doch jede Erinnerung gewinnt daraus wie ein genialer Bildhauer unzählige Statuen.« (Ebd.: 286) Jeder Gegenstand der Betrachtung ist von anderen Dingen umgeben, die logisch gesehen nichts mit ihm zu tun haben. Der Eindruck bleibt jedoch nicht unberührt von ihnen, auch wenn sie durch den Verstand abgetrennt werden, indem ein Gegenstand von der Aufmerksamkeit isoliert wird. Aus diesem Grund und aufgrund des unaufhörlichen Wandels der Person ist der Eindruck einer Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen anderen Eindrücken wesentlich unterschieden: Er vermittelt eine gänzlich andere Atmosphäre. Der Abstand, der sich zwischen dem ursprünglichen Eindruck und der gegenwärtigen Erinnerung durch das ›epische‹ Vergessen bildet, führt dazu, dass die Eindrücke mitsamt ihrer damaligen ›Aura‹ abgeschieden ›an ihrem Ort‹ und ›in ihrer Zeit‹ bleiben. Genau deshalb vermittelt ihr Wiedererinnern, das Proust bezeichnenderweise mit dem ›Atmen‹ einer neuen Luft umschreibt, ein tiefes Gefühl von Erneuerung: »gerade weil es eine Luft ist, die wir früher schon geatmet haben […]; denn die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat« (ebd.: 264). Adorno orientiert dementsprechend das erfahrungsbildende ›epische‹ Vergessen, das in den Tiefenschichten des Gedächtnisses bewahrt, was nicht bewusst erlebt wurde, an der ›Aura‹, die »die Spur des vergessenen Menschlichen«, d.h. ihres Gemachtseins, an den uns »fremd gewordenen Dingen« ist (Adorno/Benjamin 1994: 418f.; vgl. Warning 1988: 441). Die Konzeption der ›Aura‹ muss Adorno zufolge diesem Vergessen gerecht werden, damit der ›auratische‹ Schein nicht zum Fetisch wird. Denn wird das geschichtliche Gewordensein der Dinge ausgeblendet bzw. vergessen, so ist das ›reflektorische‹ Vergessen bzw. die ›schlechte‹ Verdinglichung am Werk. Das ›epische‹ Vergessen ist hingegen mit einer Erinnerung verbunden, die das im Vergegenständlichten Vergessene wiederholend vergegenwärtigt (vgl. Maras 2004: 21). Die ›Aura‹ eines Gegenstands besteht aus den tradierten sinnhaften Bedeutungen und entsteht aus deren wiederholter kultischer Aktualisierung. ›Auratische‹ Gegenstände der Anschauung vermitteln präreflexive Sinnpotenziale analog der Übung im Umgang mit Gebrauchsgegenständen: Die »Aura am Gegenstand einer Anschauung [entspricht] eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt« (I, 644). Die Verkümmerung der ›Aura‹ bezeichnet den Verfall der Einzigartigkeit der Dinge aufgrund der fehlenden Anwesenheit präreflexiver Sinnpotenziale zugunsten ihrer Austauschbarkeit. Die ›Aura‹ lässt sich damit als imaginatives Analogon zum realen Gebrauchswert betrachten, während die Analogie zum ›Ausstellungswert‹ im Gegensatz zum ›Kultwert‹ eines Gegenstands die Warenform ist (vgl. Makropoulos 2008: 86f.; Makropoulos 2007: 7).

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Da die ›Aura‹ von Benjamin durch eine ursprünglich kultische Ferne charakterisiert wird, bezeichnet sie die genaue Gegenseite der modernen Reproduktionstechniken, die darauf abzielen, die Dinge in die Nähe zu rücken und sie in dieser Weise verfügbar zu machen. Sie erweitern aus diesem Grund nur den Umfang des willkürlichen Gedächtnisses, indem sie es »möglich [machen], ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten« (I, 644): »Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ›Verfalls der Aura‹ entscheidend teil.« (I, 646)16 Die Reproduzierbarkeit bringt das Erinnerte in die Verfügbarkeit des Subjekts und beraubt es der ›einmaligen Erscheinung einer Ferne‹. Mit dieser Einordnung der Fotografie knüpft Benjamin an Baudelaires Kritik der Fotografie an, der dieser zwar das Recht zuspricht, »sich unbehelligt die vergänglichen Dinge zu eigen [zu] machen, die ein Anrecht ›auf einen Platz in den Archiven unseres Gedächtnisses‹ haben«, sie jedoch vom »›Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen‹«, d.h. dem der Kunst, fernhalten will, »in dem nur das eine Stätte hat, ›dem der Mensch seine Seele mitgibt‹. […] [D]em Blick, der sich an einem Gemälde nicht sattsehen kann, bedeutet eine Photographie viel mehr das, was die Speise dem Hunger ist oder der Trank dem Durst.« (I, 644f.) Den Dingen ihre ›Aura‹ zu rauben bedeutet, sie zu entblößen: Es handelt sich um die Ausgrenzung aller nicht zum Ding im engen Sinn gehörigen Momente, insbesondere den gewobenen Beziehungen, die sie erst bedeutsam machen (vgl.

16 Bei Proust werden fotografische Metaphern in erster Linie in negativer Bedeutung verwendet: Durch die Fotografie werden Eindrücke rein mechanisch registriert und unbeweglich gezeigt, wodurch ein falsches Bild der Realität gewonnen wird (vgl. Gülich 1965: 62ff.). Der Befund, dass die Fotografie nur das willkürliche Gedächtnis unterstützt, wird von Roland Barthes in Die helle Kammer bestätigt: Die Fotografie ruft Barthes zufolge nicht das Vergangene ins Gedächtnis zurück, sondern ihre Wirkung liegt in der Beglaubigung, dass das Abgebildete tatsächlich dagewesen ist (vgl. Barthes 1989: 92f.). Der Anblick eines Fotos führt darum nicht zur Erinnerung, sondern nur zur Gewissheit. Ganz im Sinne Benjamins geht Barthes noch weiter, wenn er konstatiert, dass das Foto nicht nur seinem Wesen nach niemals Erinnerung ist, sondern diese vielmehr blockiert (vgl. ebd.: 102). Zum Zusammenhang von Barthesʼ Studie mit Benjamins Kleine Geschichte der Photographie vgl. Yacavone 2011. Auch Günther Anders spricht der Fotografie den Charakter ›wahrer‹ Erinnerung ab und bezieht sie auf die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte. Die Fotografien als verdinglichte Andenken lassen das Erinnern als Stimmung oder als Leistung verkümmern und ersetzen es, indem die Lebensgeschichte musealisiert wird (vgl. Anders 1987: 182f.).

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zur Lippe 1988: 9). Die Hülle, der Schein, die ›Aura‹ der Dinge ist das Ungreifbare an ihnen, das ›Nicht-Identische‹ im Sinne Adornos. Der Begriff der ›Aura‹ bezeichnet »das über sich Hinausweisen der Dinge« (Adorno 1973a: 112; vgl. Adorno 1970: 123): Es handelt sich um Erfahrungsgehalte, die nicht ›gespeichert‹ wurden und sich nicht ›speichern‹ lassen, sondern die im ›epischen‹ Vergessen gelegen sind und nur unwillkürlich erinnert werden können. Mit dieser Bestimmung der ›Aura‹ ist Baudelaires Konzeption der ›Korrespondenzen‹, die Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire heranzieht, eng verwandt. Baudelaire setzt dem ›spleen‹ und der ›höllischen‹ Zeit der Moderne das ›idéal‹ mit seiner erfüllten Zeit der ›Korrespondenzen‹ entgegen. Die ›Korrespondenzen‹ bestimmt Benjamin ausgehend von Prousts unwillkürlicher Erinnerung als die »Data des Eingedenkens« (I, 639). Sie bezeichnen eine im Ursprung mystische Erfahrung, in der durch die in der Vergangenheit hinterlassenen Spuren die Umwelt vertraut erscheint (vgl. Teschke 2000: 28f.). Diese Entsprechungen von Gegenwart und Vergangenheit, durch die in der gegenwärtigen Erfahrung Elemente der Vorgeschichte mitschwingen, gehören damit jener Erfahrung an, die nur die unwillkürliche Erinnerung hervorruft, in der die »korrespondierenden Sinnesdaten korrespondieren« (V, 464). Die Korrespondenzen stellen eine Erfahrung – oder zumindest die Erinnerung an eine Erfahrung – wieder her, wie sie in der ›vie antérieure‹, vor der modernen Zerstreuung, möglich gewesen ist (vgl. Raulet 2004: 166). Das besondere Charakteristikum der ›Korrespondenzen‹ als komplementärer Kategorie zur Erfahrungslosigkeit ist ihre Verortung außerhalb der geschichtlichen Zeit und im Bereich der Kulterfahrung (vgl. Zumbusch 2004: 114): »Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte.« (I, 639) In den ›Korrespondenzen‹ »murmelt« »Vergangenes« mit (I, 640) und ein »Hauch von Vorgeschichte umwittert sie« (I, 643f.). In ihnen wird die »Begegnung mit einem früheren Leben« (I, 639) spürbar und sie ragen aus der leeren, geschichtslosen Zeit der Moderne heraus (vgl. Schmider/Werner 2011: 579). 3.1.4 Dialektik der Erfahrung der ›Aura‹ Baudelaires Haltung zum Verfall der ›Aura‹, also dazu, »daß die Erwartung, die dem Blick des Menschen entgegendrängt, leer ausgeht« (I, 648), entspricht Benjamins Motto, gänzliche »Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm« (II, 216) walten zu lassen. Er beschreibt das Vermögen der Blickerwiderung als ein verlorenes und seine Lyrik hat »im Verfall der Aura eins ihrer Hauptmotive« (I, 1187). Baudelaire macht die ›Aura‹ unmissverständlich als unwiederbringlich verloren lesbar: »Er hat den Preis be-

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zeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis.« (I, 653) In Benjamins Interpretation sind Baudelaires ›Korrespondenzen‹ darum wie Bergsons ›Dauer‹ und Prousts unwillkürliche Erinnerung zunächst ein weiteres ›Nachbild‹ einer verlorenen Zeit der erfüllten Erfahrung, in der individuelle und kollektive Erinnerung noch zusammenfallen. Baudelaire beschreibt sie Benjamin zufolge jedoch in dem Bewusstsein, dass sie »einem unwiederbringlich Verlorenen gewidmet« sind (I, 638; vgl. Schmider/Werner 2011: 579). Bei Baudelaire wird der Erfahrungsverfall als solcher erkannt. Die ›Korrespondenzen‹ beschreiben einen Erfahrungsbegriff, der zwar kultische Elemente einschließt, aber gleichzeitig von einem unwiederbringlich Verlorenen zeugt. Es macht Benjamin zufolge jedoch die Bedeutung von Baudelaires Lyrik aus, dass sich in ihr dieses Wissen mit einem restaurativen Willen verbindet (vgl. Schmider/Werner 2011: 579). Zwar beinhaltet auch Baudelaires Standpunkt ein rückschrittliches Moment, weil er auf eine Erfahrung abzielt, »die sich krisensicher zu etablieren sucht«, doch ermöglicht ihm die Orientierung an ihr, »voll [zu] ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war« (I, 638). Deshalb beschränkt sich Baudelaire darauf, »dem Unvordenklichen, das sich ihm entzog, in der Gestalt des Altmodischen zu huldigen« (I, 640). Im Andenken bemächtigt sich Baudelaire der Vergangenheit als »tote Habe«, die keine echte, sondern nur ›abgestorbene‹ Erfahrung aufhebt (I, 681; vgl. Zumbusch 2004: 114). Baudelaire kann mit dem ›spleen‹ und der ›vie antérieure‹ nur die »auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung in den Händen« halten (I, 643): »Das idéal spendet die Kraft des Eingedenkens; der spleen bietet den Schwarm der Sekunden dagegen auf.« (I, 641) Der kultischen Begegnung mit den Korrespondenzen, die als eine von jedem geschichtlichen Zusammenhang abgeschnittene Erfahrung zum toten, nur scheinhaften ›Erlebnis‹ wird, entspricht das Misslingen der Erfahrung im ›spleen‹, der »das Erlebnis in seiner Blöße aus[stellt]« (I, 643; vgl. Schmider/ Werner 2011: 579f.). Beide Zeitwahrnehmungen sind je für sich unvermittelt und geschichtslos. Die eine springt in die Vorgeschichte zurück, die andere geht in der Aktualität auf (vgl. T. Weber 2000: 242). Die Leistung der Kalender, die abstrakten, bloß quantitativen Zeiteinheiten mit den unregelmäßigen, diesen Zeitverlauf unterbrechenden Kult- und Gedächtnispraktiken zu verbinden, ist in der Moderne der durchgängigen Gleichförmigkeit in nahezu allen Lebensbereichen gewichen. Baudelaire reagiert darauf wie Proust mit restaurativem Willen von einem rückschrittlichen Standpunkt aus. Während Baudelaire jedoch das Scheitern dieses Willens anerkennt, verkennt Proust es Benjamin zufolge: Indem er auf syn-

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thetischem Wege ›privat‹ erzeugt, was sozial nicht mehr möglich ist, »im bruchlosen Gelingen der Endabsicht«, die ›verlorene Zeit‹ tatsächlich zu finden, »bekundet sich bei Proust« gerade das, wogegen er anschreibt: die »Verkümmerung der Erfahrung« (I, 643; vgl. T. Weber 2000: 242). In Bezug auf Proust ist dies nur die halbe Wahrheit, da dieser nicht bloß die glückende Erinnerung beachtet, die zur Konstruktion lebensgeschichtlicher Kontinuität befähigt, sondern auch die Erfahrung existenzieller Diskontinuität. Benjamin geht es nun gerade darum, in seinem Erfahrungsbegriff beide Aspekte miteinander zu verbinden: das rettende Moment der Korrespondenzen mit dem Wissen um ihr Scheitern (vgl. Schmider/Werner 2011: 579). Durch den Verfall der ›Aura‹ wird deren Anteil an der Wahrnehmung überhaupt erst registrierbar. Benjamin spricht darum nicht vom ›Verlust‹, sondern vom ›Verfall‹ der ›Aura‹, um das Prozesshafte und Unabgeschlossene zu betonen, aus dem die Dialektik des Phänomens resultiert. Die ›Aura‹, die in der unwillkürlichen Erinnerung erfahren wird, entfernt sich in der Erinnerung zugleich: Die ›einmalige Erscheinung‹ einer Ferne tritt erst als Verlust hervor (vgl. Finkelde 2003: 134). Erst im Augenblick des Verfalls der ›Aura‹ wird diese bewusst und als etwas Erfahrbares thematisierbar: Die zerstreute Wahrnehmung der Moderne hat einerseits den Verfall der ›Aura‹, die »Krise in der Wahrnehmung« (I, 645) zur Folge, andererseits jedoch auch – in der Trauer über ein Entschwindendes bzw. ein unwiederbringlich Verlorenes – eine neue Erfahrungsqualität. Die Situation des Verfalls der ›Aura‹ ist damit eine spezifisch dialektische (vgl. DidiHuberman 1999: 142f.; Bange 1987: 156; Stoessel 1983: 35f.; Stüssi 1977: 53). Aus der von Benjamin zum Maßstab der Kritik an modernen Lebensformen verwendeten Erfahrungsarmut, die durch das Schwinden der ›Aura‹ verursacht wird, kann in dieser Weise eine neuartige Erfahrung erwachsen (vgl. Hillach 1991: 170). Es geht Benjamin nicht darum, Verdinglichung zu kritisieren, sondern ein Denken, das ausschließlich verdinglicht. Er beabsichtigt nicht, Entfremdung total zu denken, sondern sie als bedrohliche Tendenz wahrzunehmen und zu schildern, um dasjenige herauszustellen, was von dieser Tendenz bedroht ist. Die Konzeption der Erfahrung der ›Aura‹ hat durchaus eine konservative Dimension, da sie vom Verfall der ›Aura‹ handelt und zugleich davon, was immer noch oder wieder ›auratisch‹ erfahren werden kann. Benjamin macht die ›Aura‹ an der erscheinenden Natur gewissermaßen normativ fest und fundiert sie in der Vorgeschichte, in Ritual und Kult (vgl. ebd.: 168, 171). Klingen seine Ausführungen zum Teil nach einer restaurativen Kulturkritik, geht es ihm jedoch nicht um eine Wiederherstellung kultischer Erfahrung oder die Wiedergewinnung der ›Aura‹, sondern um eine Analyse der Erfahrungsbedingungen in der Moderne.

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Benjamin wechselt in Bezug auf die ›Aura‹ immer wieder von der Absicht, ›auratische‹ Potenziale in der modernen Wirklichkeitein aufzuspüren, hin zu einer endgültigen Verabschiedung der Erfahrung der ›Aura‹. Zumindest mit Blick auf Über einige Motive bei Baudelaire überwiegt jedoch der Eindruck, dass die ›Aura‹ als Ausdruck der Einzigartigkeit der Dinge und Momente im Prozess ihres Verfalls zu etwas Wünschenswertem und zum Moment der Hoffnung auf nicht-entfremdete Erfahrung wird. Einmalige Erfahrungen der ›Aura‹ lassen sich nicht willentlich herbeiführen, weshalb es Benjamin auch nicht um eine restaurative Absicht geht, sondern lediglich um das Aufspüren ›auratischer‹ Potenziale in der Erfahrung des Verfalls. Der moderne Erfahrungsverfall ist zwar nicht aufzuhalten, es ist jedoch möglich, ein Bewusstsein dieses Verfalls zu erlangen und die verfallende bzw. bereits verlorene Erfahrung der ›Aura‹ als Alternative zum Gegebenen in Erinnerung zu rufen: Sie lässt sich in der historischen Reflexion als kritische Instanz gegenüber dem Gegebenen stark machen. Die bislang erarbeitete Konzeption von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in Bezug auf die menschliche Identität wird in Benjamins Figur des ›Sammlers‹ paradigmatisch zusammengefasst. Im nun folgenden Abschnitt werden Benjamins diesbezüglichen Ausführungen analysiert.

3.2 S CHÖPFERISCHE U NORDNUNG : D ER S AMMLER Die Figur des Sammlers17 wird von Benjamin in mehreren Texten in verschiedenen Ausgestaltungen entfaltet. Dies sind insbesondere die beiden Aufsätze Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln (IV, 388-396), die einen »Einblick in das Verhältnis eines Sammlers zu seinen Beständen, einen Einblick in das Sammeln viel mehr als in eine Sammlung« (IV, 388) bieten soll und Sammeln als Leidenschaft behandelt, und Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in dem es Benjamin um den historischen Typus geht, den Fuchs als Sammler verkörpert (vgl. Köhn 2000: 716). Besonders das Verhältnis zum Be-

17 Dass Benjamin den Sammler als paradigmatische Figur im Sinne eines Sozialcharakters meint, macht er selbst an mehreren Stellen deutlich. In seinen Notizen zum Exposee Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts spricht er von ›physiognomischen Exkursen‹ zu den Figuren Flaneur, bohémien, Spieler, Dandy, Sammler (vgl. V, 1210). In den ›ersten Notizen‹ zum Passagen-Werk ist von ›physiognomischen Studien‹ zum Flaneur, Sammler, Fälscher und Spieler die Rede (vgl. V, 1037). Diese und weitere Figuren wie der Student oder die Prostituierte lassen sich auch ansonsten verstreut auffinden (vgl. I, 1119; V, 164; V, 278; V, 967; V, 969; V, 1034).

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sitz spielt in diesem Aufsatz eine entscheidende Rolle. Außerdem ist das Konvolut H – Der Sammler (V, 269-280) des Passagen-Werks zu nennen, Benjamins Grundlage einer »Theorie des Sammlers« (V, 1215). Hier wird der Sammler nicht nur als Gestalt des 19. Jahrhunderts behandelt, sondern stärker mit dem theoretischen Interesse im Zusammenhang der methodologischen Überlegungen zum Passagen-Werk in Verbindung gebracht.18 Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen ist die Figur des Sammlers, die laut Benjamin »dem Betrachtenden je länger desto anziehender« (II, 489f.) erscheint, höchst aufschlussreich. Sie fungiert als Modell innerhalb seiner antihistoristischen Konzeption materialistischer Geschichtsschreibung und das Sammeln gilt ihm als »eine Form des praktischen Erinnerns« (V, 271). Am Typus des Sammlers kann Benjamin die Ambivalenz einer auf das Konservieren ausgerichteten Haltung der kulturellen Dingwelt gegenüber verdeutlichen. So gibt es laut Benjamin viele Arten von Sammlern, in denen zudem »eine Fülle von Impulsen am Werk« (II, 466) ist. Der ›rechte‹, der »Sammler wie er sein soll«, hat im Besitz »das allertiefste Verhältnis […], das man zu Dingen überhaupt haben kann« (IV, 396). Insbesondere in den Ausführungen über Eduard Fuchs, der Karikaturen und erotische Drucke sammelt, wird jedoch der Umschlag in eine verdinglichte Besitzvorstellung deutlich. Diese parallelisiert Benjamin wiederum mit der Kulturgeschichte, die er bezüglich ihrer Vorstellung kritisiert, Kultur sei als ein ›Schatz von Werten‹ (vgl. V, 584) anzusehen, der unabhängig von seiner Überlieferung existiert, und Kulturgüter seien zum Zweck der unveränderten Konservierung anzuhäufen. Für seine eigene Position des Zitierens von Geschichte führt Benjamin einen anderen Typus des Sammlers an, der mit dem ›destruktiven Charakter‹ in Verbindung steht. Ihm geht es darum, in der Geschichtsbetrachtung den Erfahrungsgehalt des Vergangenen zu retten. Zu diesem Zweck müssen vorhandene Ordnungen, die jegliche Erfahrung verhindern, jedoch zunächst zerstört werden. Nach näheren Ausführungen zum Sammler als paradigmatischer Figur (Abschnitt 3.2.1) wird in mehreren Schritten ihre spezifische Dialektik im Verhältnis zum Besitz beschrieben: zunächst anhand Benjamins Ausführungen zum ›rechten‹ Sammler (Abschnitt 3.2.2), dann zum Sammeln als bloßem Horten von Besitz (Abschnitt 3.2.3) und schließlich zu Benjamins Vorstellung eines ›rettenden‹

18 An Texten, die stärker die praktische Dimension des Sammelns betrachten, sind zu nennen: Karl Hobrecker: Alte vergessene Kinderbücher (III, 12-14; III, 14-22), Aussicht ins Kinderbuch (IV, 609-615), Für arme Sammler (IV, 598-601) und Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung (IV, 615-619).

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Sammelns, die das Sammeln mit einem destruktiven Moment verbindet (Abschnitt 3.2.4). 3.2.1 Der Sammler als paradigmatische Figur ›Sammeln‹ ist der Gegenbegriff zum Zerstreuen. Von bloß zufällig zustande gekommenen Ansammlungen ist die Sammlung dadurch unterschieden, dass sie einem jeweils eigenen Ordnungsprinzip folgt und die gesammelten Gegenstände im Kontext der Sammlung in der Regel eine andere Bedeutung erhalten, als sie vorher hatten. Historisch betrachtet werden praktisch schon immer kostbare und rare Gegenstände gesammelt. Sammlungen stehen oftmals im Kontext repräsentativer oder legitimatorischer Funktionen. Mit den Entdeckungs- und Eroberungsreisen der Europäer und der damit veränderten Sicht der Welt im 16. Jahrhundert bildet sich ein Typus der Sammlung heraus, der dazu dient, dass man beispielhafte Exemplare zur Repräsentation der Welt zusammenträgt (vgl. Grote: 1994a: 11). Im späten 18. Jahrhundert verbindet sich das Sammeln mit dem Gedanken der historischen Aneignung des Gesammelten. Die Sammlung erhält nun den Status einer Organisationsform des menschlichen Wissens, Sammler tragen auch öffentlich anerkannt zum Erkenntnisfortschritt der Disziplinen bei und Sammlungen werden in Museen institutionalisiert (vgl. Köhn 2000: 696f.). Ein völlig neuartiger Typus des Sammlers tritt in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Erscheinung: Ihm geht es um seine persönliche Beziehung zu den Gegenständen seiner Sammlung. Das Sammeln ist ihm Leidenschaft und Selbstzweck, es geht um eine affektive Bindung an die Gegenstände. Er ist überzeugt von dem Wert der von ihm gesammelten Gegenstände, weil er sich als Sammler auf seine ästhetische und sachliche Urteilskraft verlässt (vgl. ebd.: 697). Krzysztof Pomian verdeutlicht den paradoxen Status der Gegenstände einer Sammlung: Sie werden durch ihre Eingliederung zumindest vorübergehend aus der ökonomischen Zirkulation entfernt, andererseits haben sie für den Sammler einen gewissen Wert, der nicht auf ihrer Nützlichkeit gründet, sondern auf ihrer Bedeutung, die sie nur ganz realisieren können, wenn sie aus dem ökonomischen Kreislauf herausgehalten werden (vgl. Pomian 1993: 50).19 Der

19 Die frühesten Sammlungen werden durch die Überführung von Gegenständen des Gebrauchs in die Sphäre des Kultes gebildet. In diesem neuen Referenzsystem stellen sie den Kontakt zum Unsichtbaren her: zu den Göttern und zur Vergangenheit (vgl. A. Assmann/Gomille/Rippl 1998a: 11).

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Sammler verbindet die Stücke der Sammlung mit seiner Biografie.20 Für diese Aneignung vom Markt ausgeschlossener Gegenstände ist ihre Individualisierung ein notwendiges Element, z.B. durch eine Spuren hinterlassende langfristige Nutzung (vgl. T. Habermas 1996: 187f.).21 In diesem letzten Sinne war auch Benjamin ein Sammler und die eigene Sammeltätigkeit bildet die Grundlage für seine theoretische Befassung mit der Figur des Sammlers.22 Sammeln als Gegensatz zur Zerstreuung begreift er als

20 Justin Stagl parallelisiert sie aus diesem Grund mit »der wichtigsten identitätsstiftenden Instanz […], dem Gedächtnis. […] Sammlungen sind materialisierte Gedächtnisse, das Gedächtnis ist eine entmaterialisierte Sammlung« (Stagl 1998: 41). Im Folgenden wird ausgeführt, dass diese Auffassung der Sammlung nur einen ihrer Aspekte beschreibt. 21 Mit vertrauten Objekten hat eine Person Erfahrungen gesammelt, weshalb sie auf ihre Erfahrungen verweisen. Vertrautheit ermöglicht ein selbstverständliches und darum nicht-bewusstes Handeln, weshalb Objekte des täglichen Gebrauchs bei der Person keine Reflexion hervorrufen und nicht auf ihre Vergangenheit verweisen. Anders verhält es sich mit Objekten, die nicht mehr genutzt werden und die deshalb als zur Vergangenheit gehörig gelten. Man führt keine Routinen mehr mit ihnen aus, weshalb sie eine reflektierende Haltung provozieren können, die das bewusste Erinnern an vergangene Verwendungen, Ereignisse, Orte und Personen erleichtert (vgl. T. Habermas 1996: 267f.). 22 Das Sammeln war seine »zentrale Leidenschaft«, wie Hannah Arendt bemerkt (Arendt 1986: 50). Adorno führt aus: »Er hatte aber zugleich etwas […] von einem Tier, das in seinen Backen Vorräte sammelt. Das Moment des Antiquars und des Sammlers, das in seinem Denken eine hervorragende Rolle spielt, hat sich auch in seiner physiognomischen Erscheinung ausgeprägt.« (Adorno 1986: 176) Benjamin sammelte in seiner Jugend Postkarten und Briefmarken. Im Zentrum seiner Sammelleidenschaft standen jedoch Bücher, die er noch als Student aus Antiquariaten und Auktionen zu beziehen begann, hinzu kam die Sammlung alter Kinderbücher aus dem Besitz seiner Mutter, die die Grundlage seiner Kinderbuchsammlung bildete, die er selbst als sein Spezialgebiet bezeichnete. Zudem sammelte er Bücher von Geisteskranken. Eine Sammlung barocker Emblembücher musste er abbrechen, weil ihm das Geld fehlte. Zudem kaufte Benjamin während seiner Reisen Ansichtspostkarten und Kinderspielzeug; bei bestimmten Gelegenheiten hat er kleine Sammlungen von Tätowiervorlagen oder Plakaten angelegt (vgl. 1, 466f.; 4, 104; Lindner 2011b: 451; Palmier 2009: 48). Benjamins Leidenschaft seiner Kinderbuchsammlung hat nur eine kurze Schrift hervorgebracht, Aussicht ins Kinderbuch. Zu Benjamins Kinderbuchsammlung vgl. Doderer 1988. In der reichhaltigen Sekundärliteratur zum Sammler und zum Sammeln findet Benjamin

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»eine spezifische Verhaltensweise des Geistes« (Schlüter 1993: 13), die im Kontext seiner Erfahrungstheorie paradigmatische Bedeutung erlangt. Das Sammeln ist Benjamin zufolge mit der Erinnerung verbunden: »Jede Leidenschaft grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen.« (IV, 388) Mit der Kennzeichnung als ›Chaos‹ wird bereits deutlich, dass Benjamin die Sammlung als Ort der Erinnerung nicht als Ordnung im Sinne der konstruierten Lebensgeschichte versteht, die gleichsam einen Spiegel darstellt, in dem der Sammler sich in einer kohärent geordneten veräußerten Form selbst zu begutachten in der Lage ist (vgl. Finkelde 2006: 194). In der Sammlung treten Ordnung und Unordnung vielmehr in ein spezifisches Verhältnis – ein zentraler Aspekt, der im Folgenden noch weiter entfaltet wird. 3.2.2 Der ›rechte‹ Sammler Der »Sammler wie er sein soll« (IV, 396), löst die Gegenstände aus ihren ursprünglichen Funktionen, er löst sie vom Nutzen ab, um sie in einem »neue[n] eigens geschaffene[n] historische[n] System«, der Sammlung, »in die denkbar engste Beziehung« zu ihresgleichen zu bringen (V, 271; vgl. V, 1016). Er »studiert und liebt« sie »als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals« (IV, 389; vgl. V, 275). Die Sammlung steht für den Sammler nicht unter der Kategorie der Nützlichkeit, sondern »unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit« (V, 271; vgl. V, 1016). So ist der Sammler immer weiter auf der Suche nach Stücken, die er seiner Sammlung einverleiben kann, »und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk« (V, 279). Für Benjamin ist das Sammeln ein »Kampf gegen die Zerstreuung« (V, 279). Der ›rechte‹ Sammler »wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von der Zerstreutheit angerührt, in dem die Dinge sich in der Welt vorfinden. […] Der Sammler […] vereint das Zueinandergehörige; es kann ihm derart gelingen, über die Dinge durch ihre Verwandtschaften oder durch ihre Abfolge in der Zeit zu belehren.« (V, 279) Jean Baudrillard betont in diesem Zusammenhang den Stellenwert der Serie, der Gattung für die Sammlung, in der jedes Element einerseits absolut qualitativ singulär ist, andererseits jedoch die Serienbildung ermöglicht (vgl. Baudrillard 1991: 113). Das einzelne Stück ist in dieser Sichtweise nicht bloß das Einzelstück, sondern auch Repräsentant. Das letzte fehlende Stück einer

immer wieder Erwähnung. An ausführlicheren Texten zu Benjamins ›Theorie des Sammlers‹ sind insbesondere zu nennen: Mičko 2010: 132ff.; Finkelde 2008; Finkelde 2006; Köhn 2000; Weidmann 1992: 93ff.; Missac 1991: 62ff.

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Sammlung ist damit besonders wichtig: Es ist gleichwertig mit der ganzen Sammlung ohne das letzte Stück. Für den ›wahren Sammler‹ wird im System seiner Sammlung »jedwedes einzelne Ding zu einer Enzyklopädie aller Wissenschaft von dem Zeitalter, der Landschaft, der Industrie, dem Besitzer, von dem es herstammt« (V, 271; vgl. IV, 389; V, 1021). Dem Sammler ist in den Gegenständen seiner Sammlung »die Welt präsent und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange. Der steht zu der geläufigen Anordnung und Schematisierung der Dinge ungefähr wie ihre Ordnung im Konversationslexikon zu einer natürlichen.« (V, 274) Die neue Ordnung der Sammlung bezeichnet Benjamin sogar als »Unordnung, in der Gewohnheit sich so heimisch machte, daß sie als Ordnung erscheinen kann«: »gewohnte[s] Durcheinander« (IV, 388). Der Sammler kann damit paradigmatisch für eine Haltung den Dingen gegenüber stehen, die sowohl ihrer Überlieferung als auch ihrer Aktualisierung im Rahmen einer neuen Ordnung gerecht wird (vgl. Mičko 2010: 137). Denn die »wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen«, so Benjamin in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen im Passagen-Werk, »ist, sie in unsere[m] Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote.) Die Dinge, so vorgestellt, dulden keine vermittelnde Konstruktion aus ›großen Zusammenhängen‹. […] Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben.« (V, 273; vgl. V, 1014f.) Der Sammler fühlt sich nicht darin ein, ›wie es eigentlich gewesen ist‹, sondern eignet sich einen Gegenstand aufgrund der ihm eigenen Aktualität an. Den Erwerb der einzelnen Stücke einer Sammlung bezeichnet Benjamin dementsprechend als »entscheidendes Faktum« (V, 1023). Zum Erwerb benötigt der Sammler Sachkunde und »eine feine Witterung«, um beurteilen zu können, ob etwa »ein Buch zu ihm gehört oder nicht« (IV, 392).23 Mit dem Erwerb gibt er dem Werk »die Freiheit«, »weil es so preisgegeben und verlassen auf dem offenen Markt stand« (IV, 392f.). Der Büchersammler etwa möchte die Bücher, die ›verlassen‹ und dem Markt ›preisgegeben‹ sind, zurück ins Leben holen. Sie sind aus ihren ursprünglichen Bezügen gerissen und haben als nutzlos gewordene Dinge in der Gegenwart keinen Platz mehr. Der Sammler sieht jedoch auch in ihnen einen Wert und gibt ihnen einen neuen Platz in der Ordnung seiner Sammlung (vgl. Schiavoni 2011: 375). »Für den Büchersammler ist nämlich die wahre

23 Das Sammeln hat damit Verwandtschaft mit dem Jagen (vgl. Stagl 1998: 43).

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Freiheit aller Bücher irgendwo auf seinen Regalen.« (IV, 393)24 Das Auffinden eines neuen Stücks wird vom Sammler als dessen ›Schicksal‹ (vgl. IV, 389f.) empfunden. Die Dinge »stoßen ihm zu. Wie er ihnen nachstellt und auf sie trifft, welche Veränderung in allen Stücken ein neues Stück, das hinzutritt, bewirkt, das alles zeigt ihm seine Sachen in ständigem Fluten.« (V, 272; vgl. V, 1009) Mehr noch, »für den wahren Sammler ist die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt« (IV, 389). Diese Haltung wird von Benjamin auch als das ›Kindhafte‹ des Sammlers bezeichnet, da Kinder über die Fähigkeit zur »Erneuerung des Daseins« verfügen: »Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneuerung […]. Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers« (IV, 389f.).25 Es geht dem Sammler also nicht in erster Linie um sachliche Vollständigkeit, der persönliche Erwerb der Stücke und das Zusammentreffen ihres Schicksals mit dem eigenen ist ihm wichtiger. So hat der Sammler einen Sinn für die Einzigartigkeit der jeweiligen Stücke und die ›Aura‹ der Dinge – was nur möglich ist, wenn sie aus ihren Funktionen gelöst wurden (vgl. Lindner 2011b: 452; Mičko 2010: 138).26

24 Benjamin schreibt über Fuchs, dass es sein Gedanke ist, »dem Kunstwerk das Dasein in der Gesellschaft zurückzugeben, von der es so sehr abgeschnürt worden war, daß der Ort, an dem er es auffand, der Kunstmarkt war, auf dem es, gleich weit von seinen Verfertigern wie von denen, die es verstehen konnten, entfernt, zur Ware eingeschrumpft, überdauerte« (II, 503). 25 Im Umgang des Kindes mit den Dingen entdeckt Benjamin einen archaischen Zug, der auch beim Sammler anzutreffen ist. Im Stück Unordentliches Kind aus der Einbahnstraße schreibt er: »Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. An ihm zeigt diese Leidenschaft ihr wahres Gesicht [...]. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert« (IV, 115). Das Kind erschafft seine eigene Ordnung nach einem eigenen Konzept von Ähnlichkeitsbezügen. Für das Kind bestehen die Ähnlichkeiten noch zwischen allen Dingen, sodass jedes Einzelstück schon den Anfang einer Sammlung bilden kann. Die Sammlung des modernen Sammlers wird nie dieselbe Vollständigkeit erreichen, die das Kind schon im Einzelobjekt erkennt, selbst wenn auch er seine Sammlung als ein System von Korrespondenzen erfährt (vgl. Finkelde 2006: 189f.). 26 Es wirkt wie eine Umschreibung der ›Aura‹, wenn Krzysztof Pomian über Sammlungen von Gegenständen – hier in Bezug auf Grabbeigaben, Opfergaben, Beutestücke,

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Das Sammeln fördert in dieser Weise auch den Sinn für die Vergangenheit, auf die die aufbewahrten Dinge verweisen. Es wird für Benjamin zu einer »Form des praktischen Erinnerns und [es ist] unter den profanen Manifestationen der ›Nähe‹ die bündigste« (V, 271). Als ›nah‹ kann man diese Form des praktischen Erinnerns bezeichnen, da der Sammler die Gegenstände besitzt, mit ihnen hantiert und in ihrer Einzigartigkeit wahrnimmt. Der Sammler ist Paradigma für ein handelndes Erinnern: »Besitz und Haben sind dem Taktischen zugeordnet und stehen in einem gewissen Gegensatz zum Optischen.« (V, 274; vgl. IV, 391) ›Bündig‹ ist dieses Erinnern, da die geschichtlichen Zusammenhänge der Gegenstände und die vom Sammler konstruierte historische Systematik nicht diskursiv erzählt werden, sondern in den Gegenständen auf einen Schlag ansichtig sind, wenn der Sammler »durch sie hindurch in ihre Ferne« schaut (V, 275; vgl. Mičko 2010: 140). Der Blick in die Ferne der Gegenstände ist bereits bekannt aus den Ausführungen zur Wahrnehmung der ›Aura‹. Die Sammlung ist für den Sammler mit Erinnerungen verbunden, vor allem an den ursprünglichen Kontext und sein schicksalhaftes Zusammentreffen mit den einzelnen Stücken. Der Sammler gelangt dadurch »zu einem unvergleichlichen Blick auf den Gegenstand […], einem Blick, der mehr und anderes sieht als der des profanen Besitzers und den man am besten mit dem Blick des großen Physiognomikers zu vergleichen hätte« (V, 274; vgl. V, 1027).27 Die ganze Vergangenheit, das ›Schicksal‹ der Gegenstände ist für den Sammler von Belang, seine Entstehung, sein Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert, etc. (vgl. III, 216f.; IV, 389; V, 274; V, 1027). Der Sammler hat ein persönliches Besitzverhältnis zu den Dingen, das diese als individuelle Exemplare wertschätzt und ihnen gegenüber verpflichtet ist. So ist laut Benjamin »Erbschaft die triftigste Art und Weise zu einer Sammlung zu kommen. […] Den vornehmsten Titel einer Sammlung wird darum immer ihre Vererbbarkeit bilden.« (IV, 395) Sammeln als das Glück des privaten Besitzes (vgl. IV, 396) ist Benjamin zufolge jedoch an die Verbindung der Dinge mit Erinnerungen aus der Lebensgeschichte des Sammlers gebunden, es ist nicht der bloße Besitz, der Glück bereitet (vgl. Köhn 2000: 706): »Denn in seinem Innern haben ja Geister, mindestens Geisterchen, sich angesiedelt, die es bewirken, daß für den Sammler […] der Besitz das allertiefste Verhältnis ist, das man zu Din-

Reliquien und Schatzkammern – schreibt, dass sie »an dem Austausch teilnehmen, durch den die sichtbare Welt mit der unsichtbaren verbunden ist« (Pomian 1993: 43). 27 Rolf Tiedemann bestimmt Physiognomik in Benjamins Sinne: Sie »schließt vom Äußeren aufs Innere, sie entziffert das Ganze aus dem Detail, stellt im Besonderen das Allgemeine dar« (Tiedemann 1982: 29).

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gen überhaupt haben kann: nicht daß sie ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt.« (IV, 396)28 Dieses Verhältnis ist das »Glück des Sammlers«: »Ist nicht das die Beseligung, die über unsern Erinnerungen waltet: daß wir in ihnen mit Dingen allein sind, die sich stillschweigend um uns anordnen und daß selbst die Menschen, die dann auftauchen, dieses zuverlässige, bündnishafte Schweigen der Dinge mit annehmen.« (V, 1036) Der Sammler ist in seinem Verhältnis zum Besitz ein durchaus ambivalenter Charakter. Er lehnt den Warencharakter der Dinge ab und nimmt sie darum aus der Zirkulation heraus und gliedert sie seinem Privatbesitz ein. In dieser Weise lässt er die Gegenstände seiner Sammlung zwar zu ihrem Recht kommen und verbindet sie mit seinen Erinnerungen, doch hegt er dabei immer auch den »›niederen‹ Wunsch des Besitzes« (II, 505). Der bürgerliche Sammler des 19. Jahrhunderts macht Benjamin zufolge auch »die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts.« Andererseits »träumt sich [der Sammler] nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der […] die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein« (V, 53). Somit gilt, dass ein möglicher »positive[r] Gegentypus zum Sammler […] zugleich dessen Vollendung darstellt« (V, 277). Er hätte die Dinge nicht zur bloßen Habe zu verdinglichen (vgl. Mičko 2010: 178). 3.2.3 Das Horten von Kulturgütern: Die ›Kulturgeschichte‹ So eindrücklich Benjamin in Ich packe meine Bibliothek aus das Glück des Sammlers beschreibt, so illusionslos führt er am Ende desselben Textes aus, dass für den beschriebenen Typus des ›rechten‹ Sammlers »die Nacht hereinbricht« (IV, 395). Der Sammler ist für Benjamin historisch an sein Ende gekommen, sei-

28 Sammeln ist, so Jean Baudrillard, eine »Leidenschaft des Besitzens« (Baudrillard 1991: 110). Sofern ein Gegenstand eine praktische Zweckdienlichkeit hat, besitzt man ihn nicht: Besitzen bildet immer einen Bezug auf ein von seiner Funktion enthobenes Objekt im Verhältnis zum Subjekt (vgl. ebd.). Jeder Gegenstand hat für Baudrillard zum einen eine praktische Funktion, zum anderen die Funktion, sich im Besitz zu befinden – und wenn der Gegenstand nicht gemäß seiner Funktion beurteilt wird, bekommt er als Besitzstück seine Rolle vom Subjekt zugewiesen –, wodurch sich eben dieses Subjekt wiederum als einzigartig erkennt: Mit den Gegenständen einer Sammlung sammelt der Sammler sich selbst (vgl. ebd.: 111, 116).

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ne Leidenschaft erscheint als unzeitgemäße. Sein Verhältnis zu den durch sein Wissen um ihre Geschichte angereicherten Dingen wirkt archaisch. Das Sammeln erscheint Benjamin zufolge darum als unzeitgemäß, weil die Massenproduktion dazu führt, dass die Dinge als standardisierte, schnell austauschbare Waren gekauft werden können (vgl. V, 278f.). Durch die Warenproduktion erfahren die Dinge eine Entwertung und werden nicht mehr in ihrer Einzigartigkeit erfahren. Sie sind günstig und umstandslos erhältlich, ohne nach ihnen suchen zu müssen, weshalb das Zusammentreffen mit ihnen nicht länger als schicksalhaft erfahren wird (vgl. Mičko 2010: 176). Das kapitalistische Wirtschaftssystem führt im 19. Jahrhundert dazu, dass immer mehr Dinge produziert werden, dadurch aber gleichzeitig die gerade noch aktuellen Dinge immer schneller veralten, von neuen Dingen abgelöst und als Abfall deklariert werden. Weil zudem die Produktion von Gütern in gewaltigem Maße beschleunigt wird, während sich ihre Reparatur nur in geringem Maße und oft gar nicht beschleunigen lässt, wird die letztere im Vergleich zur ersteren immer teurer, was mit ökonomischer Notwendigkeit eine ›Wegwerfgesellschaft‹ hervorbringt. Durch die ökonomische Rationalität des Wegwerfens und Ersetzens werden Prozesse der identitätskonstituierenden Aneignung von Dingen zunehmend unwahrscheinlich. Die Dinge bleiben fremd, es wird keine konstitutive Beziehung zu ihnen aufgebaut. Sie werden benutzt und dann, wenn sie nutzlos geworden sind, ausgetauscht (vgl. Rosa 2011: 237ff.).29

29 Den Umstand, dass die Beschleunigung das gerade noch Aktuelle immer schneller alt aussehen lässt, beschreibt Benjamin als die permanente Produktion von ›Urgeschichte‹ (vgl. V, 576; Kranz 2011: 147). Rudolf zur Lippe betont, dass das Überwiegen des Tauschwerts der Waren gegenüber ihrem Gebrauchswert dazu führt, dass die Neuheit sowohl der Produktionsmethoden als auch der Produkte immer mehr selbst als Argument gilt. Allein das Alter von Gegenständen kann nun genügen, um zu behaupten, dass sie ersetzt werden müssen (vgl. zur Lippe 2010: 9). Georg Simmel zufolge sind die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von relativ großer Einfachheit und Dauerhaftigkeit. Das ›Verwachsen‹ der Persönlichkeiten mit den Gegenständen ihrer Umgebung ist auf diese Weise gewährleistet. Später ist es zunächst die bloße Menge spezifischer Gegenstände, die ein persönliches Verhältnis zu den Einzelnen erschwert. Zudem werden die einzelnen Dinge immer gleichgültiger aufgrund ihrer unpersönlichen Entstehung und leichten Ersetzbarkeit. Außerdem unterbricht der beständige Wechsel der Mode den inneren Aneignungs- und ›Einwurzelungsprozess‹ zwischen Subjekt und Objekt (vgl. Simmel 1989: 637ff.; V, 299). Auch in einer Gesellschaft, in der Objekte als leicht austauschbare Wegwerfartikel produziert werden, bauen Subjekte jedoch durchaus noch enge

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Da Benjamin sich an dem Typus des Sammlers, ›wie er sein sollte‹, orientiert, stellt das Sammeln von Massenware für ihn eine Degeneration dieses Idealtyps dar. Das Andenken, das umstandslos gekauft werden kann, bedeutet für ihn »das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers« (I, 689). Es kann nur sehr begrenzt zur Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte dienen, da es in keiner lebendigen Beziehung zur Erinnerung des Sammlers steht (vgl. Mičko 2010: 244).30 Kann der ›rechte‹ Sammler paradigmatisch für Tradition und Erfahrung im Privatleben stehen, so fungieren Andenken lediglich als Surrogate dieses Verhältnisses zur Vergangenheit. Das mangelnde Interesse an individuellen Exemplaren und die objektiven Veränderungen in der Produktion der Gegenstände liegen einem neuen Typus des Sammlers zugrunde, der im Unterschied zum ›rechten‹ Sammler die Gegenstände zu seinem verdinglichten Besitz anhäuft und nach ihrem Geldwert bemisst (vgl. ebd.: 176). Über Balzacs Darstellung des Sammlers Cousin Pons führt Benjamin aus, dass man in ihr nichts über die Erwerbsgeschichte erfährt, sondern lediglich über Ponsʼ Stolz auf die Bestände seiner Sammlung: »Balzac legt allen Akzent auf die Darstellung des ›Besitzenden‹, und das Wort ›Millionär‹ läuft ihm als Synonym für das Wort ›Sammler‹ unter.« (II, 490)31 Auch Eduard Fuchs ist »als Sammler […] eine Balzacsche Figur«: »ein Sammler, dessen Stolz, dessen Expansivität ihn dahin führt, daß er, um nur vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erscheinen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und […] auf diese Weise ein reicher Mann wird« (II, 491). Fuchs erfreut sich in erster Linie an Quantitäten, was »sich bis in die üppigen Wiederholungen seiner Texte bemerkbar macht« (II, 491f.). In diesem Typus des Sammlers wird der Vorrang der Quantität vor der Qualität deutlich, der für die moderne Verdinglichung insgesamt kennzeichnend ist. Benjamin zitiert in diesem Zusammenhang Marx: »›An die Stelle aller physischen und geistigen

Beziehungen zu bestimmten Objekten auf. Identitätsrelevant werden solche Objekte jedoch kaum mehr durch einen Eigenwert oder durch ihre Fraglosigkeit, sondern durch bewusste Wahlentscheidungen der Subjekte. Sie sollen Kontinuität repräsentieren und symbolisieren und werden zu ›Platzhaltern‹ für eine zeitstabile substanzielle Identität (vgl. Rosa 2012: 250f.). 30 Das verdinglichte, vom Individuum nicht erinnerte und angeeignete Verhältnis zur eigenen Vergangenheit äußert sich für Benjamin auch bei Baudelaire darin, dass »bei ihm die Erinnerung zu gunsten des Andenkens ganz zurücktritt« (I, 690). 31 Benjamin weist auf das im »Grunde […] recht sonderbares Faktum« hin, »daß Sammelgegenstände als solche industriell hergestellt wurden« (V, 273).

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Sinne ist … die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten‹« (V, 277).32 Benjamin beschreibt Fuchs jedoch auch als »großen und planvollen, unablenkbar der einen Sache zugewandten Sammler« (II, 503). Fuchsʼ Verdienste sieht Benjamin in der Berücksichtigung der Technik bezüglich der materialistischen Kunstbetrachtung (vgl. II, 478f.). Sein Sammelinteresse konzentriert sich auf die für die materialistische Kunstgeschichte zentrale Massenkunst, die durch die technische Reproduktion bestimmt ist. Er ist nicht an ›Glanzstücken‹ und Meisternamen interessiert, sondern lässt sich »vom Objekt selber« leiten (II, 502; vgl. Köhn 2000: 717). Das Interesse an den ›Glanzstücken‹ ist zwar in Museen bereits durch den herrschenden Platzmangel bedingt, aber »diese … Bedingtheit vermag an der Tatsache nichts zu ändern, daß wir dadurch ganz unvollständige … Vorstellungen von der Kultur der Vergangenheit bekommen. Wir sehen diese … im prunkvollen Festtagsgewand und nur sehr selten in ihrem meist dürftigen Werkeltagskleid.« (II, 502) Sind öffentliche Sammlungen auch »nach der sozialen Seite hin unanstößiger, nach der wissenschaftlichen nützlicher […] als die privaten – die Gegenstände kommen nur in diesen zu ihrem Recht« (IV, 395; vgl. II, 502). Dies geschieht nicht nur aufgrund der vermeidbaren Reduktion auf ›Glanzstücke‹: Im ›rechten‹ Sammler hat die Sammlung ihr Subjekt, ohne das sie ihren Sinn verliert (vgl. IV, 395). Der private Sammler hat die Chance, kulturelles Wissen zu sammeln und zu verwalten, das abseits des an Institutionen Gebundenen liegt (vgl. A. Assmann/Gomille/Rippl 1998a: 13). Benjamin lässt am Ende seines Aufsatzes über Fuchs jedoch offen, ob der Sammler und seine historische Vergegenwärtigung in der Betrachtung der »Namenlosen und dem, was die Spur ihrer Hände bewahrte«, etwas zur »Humanisierung der Menschheit« beizutragen hat (II, 505; vgl. Köhn 2000: 717f.).33

32 Die Stelle befindet sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Auf den von Benjamin zitierten Satz folgt: »Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre.« (Marx 1974: 540) 33 Heiner Weidmann vertritt eine entschieden kritische Sicht auf das Verhältnis des Sammlers zu den Gegenständen seiner Sammlung: Er versteht Sammeln als »neurotische Besitzsucht«, in der der Sammler sich lediglich einbildet, die Dinge durch seine Sammeltätigkeit zu retten. Sie sind jedoch nur in Bezug auf das Subjekt in ihrer Objektivität geheiligt. Für den Sammler erschöpft sich das Sammeln darin, »Subjekt zu sein, sich mit auf ihn bezogenen Gegenständen zu umgeben und diese Eigentumsbeziehung zu pflegen« (Weidmann 1992: 97).

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In Bezug auf das ›kollektive Gedächtnis‹ ist das Sammeln vor allem in Bezug auf das Wissen eines Kollektivs bedeutsam. Das Forschen etwa lässt sich als ein systematisches Sammeln von Erkenntnissen betrachten, das in enger Verbindung mit Sammlungen wie Archiven und Bibliotheken steht. Bestimmte Richtungen der Wissenschaft sind in erster Linie damit beschäftigt, Erkenntnisse und Objekte von Bedeutung zusammenzutragen und zu ordnen – mit dem Ziel, dass aus ihrer Ordnung neue Erkenntnisse hervorgehen (vgl. Stagl 1998: 51).34 Benjamin vergleicht den Sammler in diesem Zusammenhang auch mit dem Studenten, da dieser wie der Sammler die Dinge als unabschließbares Wissen sammelt (vgl. V, 278; V, 963). Der Sammler steht in Benjamins Konzeption paradigmatisch für die Ordnung, Bewahrung und Tradierung kollektiven Wissens und seine verschiedenen Ausformungen können aus diesem Grund mit Haltungen zur Kultur überhaupt verglichen werden. Der ›rechte‹ Sammler steht für einen aneignenden, aktualisierenden und darum erinnernden Umgang mit der Vergangenheit. Den Sammler, der die Stücke seiner Sammlung lediglich noch als seinen verdinglichten Besitz ansieht, setzt Benjamin jedoch mit der ›Kulturgeschichte‹ in Beziehung, die sich auf Kultur lediglich noch in Form verdinglichter ›Kulturgüter‹ bezieht. Die Begriffe der ›Kultur‹, der ›Kulturgüter‹ und der ›Kulturgeschichte‹ haben für Benjamin vor allem die Bedeutung eines bürgerlichen Kanons von Werten und einer Bildung, die bloß zur Legitimation des ›Bürgertums‹ beiträgt, das sie als ihren Besitz veranschlagt: »Nun ist die ›allgemeine‹ Bildung, die vor hundert Jahren als Kulturparole der herrschenden Klasse aufkam, ein Herrschafts-, kein Befreiungsinstrument gewesen.« (III, 203; vgl. Mičko 2010: 61) Die ›bürgerliche‹ Überlieferung im Sinne einer Vereinnahmung und Verdinglichung der materiellen und geistigen Produkte steht im Interesse ihrer eigenen Erhaltung. Der ›Bestand‹ der Kultur ist die ›Beute‹, die die ›Sieger der Geschichte‹ zur Schau stellen: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« (I, 696; vgl. I, 1241; II, 477) Die ›bürgerliche‹ Kultur als der ›Besitz‹, die ›Beute‹ der ›Sieger der Geschichte‹, verdankt sich der »na-

34 Neben dem Wissenserwerb und der Wissensklassifizierung hat das Sammeln historisch oftmals die Funktionen der Legitimierung von Macht und der Konstruktion ›kollektiver Identität‹. So wurden bereits im imperialen Rom die Sammlungen von Kriegsbeutestücken als ›Museen‹ wahrgenommen und entsprechend katalogisiert (vgl. A. Assmann/Gomille/Rippl 1998a: 12). Hier findet sich noch nicht die neuzeitliche Bindung der Sammlung an die Person des Sammlers: Es geht um die Bewahrung und Rekonstruktion von Geschichte als Zweck der Sammlung, um den identitätsstiftenden Verweis auf mythische Ereignisse (vgl. wiederum zum alten Rom Stähli 1998: 57f.).

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menlosen Fron« ihrer Produzenten (II, 476), die in den verdinglichten Kulturgütern jedoch vergessen ist. »Dem Grundsätzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, und sie kann das auch schwerlich hoffen.« (II, 477) Der bildungsbürgerliche Kulturbegriff bezeichnet für Benjamin deshalb eine gänzlich »verdinglichte Vorstellung von Kultur« (V, 1256), die zudem für ideologische Funktionen vereinnahmt wird.35 Diese Verdinglichung wird von der historischen Kulturgeschichte bzw. durch die »Geschichtsbetrachtung des letzten Jahrhunderts« besonders prägnant vorgenommen, in der die verdinglichten historischen Phänomene inventarisiert und gegen Erfahrungen abgedichtet werden. Es wird darin vergessen, dass sie sowohl ihr Entstehen als auch ihre Überlieferung »einer dauernden gesellschaftlichen Arbeit verdanken, in der zudem diese Güter selbst verarbeitet, nämlich verändert werden« (V, 1255).36 Während es Benjamin zufolge den ›Bürgerlichen‹ nur recht sein kann, sich die »Summe ihrer Privilegien als ›die Kultur‹ vorzustellen« (III, 486) und als einen unveränderbaren Zustand auszugeben, hindert diese Betrachtungsweise die von dieser ›Kultur‹ Ausgeschlossenen daran, deren Sinnpotenzial als historisch bedingt und veränderbar wahrzunehmen und im eigenen Interesse zu aktualisieren (vgl. Mičko 2010: 63).37 Die in Kulturgüter zerfallene Kultur wird, weil sie für die Gegenwart unproduktiv ist, schließlich zum Ballast, zu einer ›musealisierten‹ Kultur. Benjamin stellt im Passagen-Werk mehrmals die Frage, wozu Institutionen wie Sammlungen, Wachsfigurenkabinette und Museen noch dienen (vgl. Finkelde 2008: 248). Sie erscheinen als willkürliche Akkumulation von

35 Benjamin umschreibt hingegen den deskriptiven Kulturbegriff im Sinne der Objektivationen von Sinn. Er spricht von ›Schöpfungen des menschlichen Geistes‹, ›Gütern‹ und ›Kreationen‹ (vgl. V, 1255f.) sowie von ›geistigen‹ und ›materiellen Produkten‹ (vgl. I, 1161; Mičko 2010: 62). 36 Zu Benjamins Begriff von Kulturgeschichte vgl. Caygill 2004. Für Benjamin maßgeblich sind Heinrich Wölfflin, Alois Riegl, Aby Warburg und seine Schule, des Weiteren Eduard Fuchs und die historischen Materialisten. Weniger hervorstechend, aber bedeutend sind außerdem Jacob Burckhardt, Johan Huizinga und Franz Mehring. 37 Das Bild, das ein Kollektiv in dieser Weise von sich und seiner Kultur produziert, entspricht Benjamin zufolge »dem Begriffe der Phantasmagorie«: »ein Konsumgut, in dem nichts mehr daran gemahnen soll, wie es zustandekam. Es wird magisiert, indem die darin aufgespeicherte Arbeit im gleichen Augenblick als supranatural und heilig erscheint, da sie als Arbeit nicht mehr zu erkennen ist.« (V, 822f.; vgl. Adorno 1939; Adorno 1971: 80f.) Der Begriff der ›Phantasmagorie‹ scheint hier lediglich ein anderes Wort für den ›Fetischcharakter‹ der Ware zu sein (vgl. Tiedemann 1983: 25).

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Dingen und die Menge an Kunstwerken im Museum nähert sie den Waren an (vgl. V, 522). Die ersten Weltausstellungen schließlich sind für Benjamin gänzlich geprägt vom Warenfetischismus: »Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.« (V, 50)38 An dieser Stelle erweist sich erneut das kritische Potenzial von Benjamins Konzeption gegenüber einer rein konservativen Vorstellung vom ›kollektiven Gedächtnis‹: Ihm kommt es auf die Aktualisierung der kulturellen Sinngehalte in kultureller Praxis an, was die ›Heraussprengung‹ der Dinge aus der Überlieferung voraussetzt. Die ›Kulturgeschichte‹ »vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr nicht die Kraft, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen«, denn »es fehlt ihr das destruktive Moment, das das dialektische Denken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentische sicherstellt« (II, 478). Als bloßer ›Bestand‹ ist der Sinngehalt des Überlieferten gegen Erfahrung abgedichtet – und »was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet« (II, 215)? Der ›rechte‹ Sammler steht hingegen für diejenige Art von Geschichtsbetrachtung, auf die Benjamins gesamte Konzeption abzielt: Es geht ihm um die ständige aktualisierende Aneignung der Dinge im Rahmen einer Ordnung, die keine allgemeinen Schemata erfüllen muss. So vergleicht Benjamin gar den ›Kanon‹ des Sammlers mit dem der unwillkürlichen Erinnerung, da beide in einer »produktive[n] Unordnung« bestehen. Demgegenüber ist das willkürliche Gedächtnis »eine Registratur, die den Gegenstand mit einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er verschwindet« (V, 280). 3.2.4 Der Sammler und der destruktive Charakter Auch im Zusammenhang mit der Figur des Sammlers lässt sich Benjamins Forderung aus Erfahrung und Armut anführen, derzufolge es gilt, einen »neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen« (II, 215). Positiv ›barbarisch‹ ist

38 Benjamin führt aus: »Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen.« (V, 50) Giorgio Agamben zufolge hat der Eindruck der ersten Weltausstellung, die 1851 im Hyde Park in London eröffnet wurde, zu Marxʼ Überlegungen zum Fetischcharakter der Ware beigetragen. Die ›Phantasmagorie‹ findet sich in den Absichten der Organisatoren wieder, die den Entwurf von Paxton auswählten, einen riesigen, vollständig aus Kristall erbauten Palast. Die Ansichtskarten aus der damaligen Zeit umgeben das Ausstellungsgebäude mit einer strahlenden Aureole (vgl. Agamben 2012b: 59).

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sein Umgang mit der Kultur insofern, als er sie nicht in eine bereits bestehende Tradition historischer Kontinuität eingliedert, sondern das durch die ›falsche‹ Überlieferung vergessene Erfahrungspotenzial rettet. Dieses Erfahrungspotenzial ist unerschöpflich, denn es kann immer wieder als Zitat in neue Kontexte bzw. Konstellationen überführt werden.39 Gegen die Rede vom ›Kulturerbe‹ gerichtet mahnt Benjamin an, »einen kritischen Begriff der Kultur dem ›affirmativen Kulturbegriff‹ [...] entgegenzusetzen« (III, 525).40 Es gilt, in einer ›echten Überlieferung‹ die alten und vergessenen Dinge zu retten, die als nutzlose oft marginalisiert oder ausgegrenzt sind, und ihnen einen neuen Platz zu geben – vergleichbar mit der Ordnung einer Sammlung, die nicht integrierte Bruchstücke zusammenträgt. Diese Sammlung untersteht der Ordnung des Sammlers und nicht üblichen Klassifikationssystemen. Sie ist nicht reduziert auf das Typische, sondern vemag gerade das aus der geschichtlichen Kontinuität Ausgeschlossene zu beherbergen und insofern auch zu retten (vgl. Lindner 2011b: 452; Mičko 2010: 145f.). Unschwer lässt sich an dieser Stelle wieder das Motiv des ›Kampfes gegen die Zerstreutheit‹ erkennen: Der Sammler ergreift Partei für die Reste und den Abfall der Geschichte und schafft die Voraussetzungen, um das Versäumte der Geschichte erkennen zu können und einer neuen Ordnung zuzuführen, und zwar in »diametrale[m] Gegensatz zum Nutzen« (V, 271). Die Figur des Sammlers erhält in dieser Weise ein höchst revolutionäres Potenzial, da sie sich in ihrem

39 Auch die technische Reproduktion von Kulturprodukten, besonders der Film, kann Benjamin zufolge eine solche Aktualisierung leisten: »Die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. […] Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.« (I, 477) 40 Dies ließe sich in der Gegenwart auf das ›Weltkulturerbe‹-Programm der Unesco beziehen (vgl. Willer 2009). Der ›affirmative‹ Kulturbegriff und die aus ihm abgeleitete Funktion des Sammelns lassen sich wiederum an der konservativen Kompensationstheorie veranschaulichen. Für Joachim Ritter sind Institutionen wie Museen kompensatorische Erfindungen eines Verlusts von ›historischem Sinn‹ (vgl. Ritter 1974). Odo Marquard beschreibt die »moderne Fortschrittswelt«, in der die Traditionen immer schneller »ausrangiert« werden, als »Neutralisierungswelt«, »Vergessenswelt« und »Wegwerfgesellschaft«, was jedoch zugleich kompensatorisch eine kontinuitatsschützende »Bewahrungskultur« hervorbringt: »Niemals zuvor wurde so viel weggeworfen wie heute; doch auch niemals zuvor wurde so viel aufbewahrt wie heute […]. Zum Fortschritt des Ausrangierens gehört – und zwar unvermeidlich – die Konjunktur des bewahrenden Sammelns.« (Marquard 1994: 914ff.)

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praktischen Wiedererinnern des von der Geschichte Vergessenen gegen die bestehende Ordnung der historischen Kontinuität und Abgeschlossenheit der Geschichte richtet. Die historische Wiedereingliederung durch den Sammler führt beim Sammeln und Zusammenführen des Ausgesonderten dazu, die Erinnerung – und die Identität jenseits der verdinglichten Kontinuität und Geschichte – vor dem Verfall zu bewahren (vgl. Schiavoni 2011: 375). Die Figur des Sammlers und ihre Glücksmöglichkeiten, wie sie, wenn auch dort bereits als unzeitgemäße, in Ich packe meine Bibliothek aus noch erschienen, werden von Benjamin zugunsten des historischen Modells im Kontext des Passagen-Werks preisgegeben. Der Sammler, wie er ihn sich vor dem Hintergrund seiner Theorie materialistischer Geschichtsschreibung vorstellt, ist nicht ausschließlich konservativ, sondern Traditionsbildung und Destruktion gehören für Benjamin zusammen: Um die historischen Gegenstände einzusammeln, muss der materialistische Historiker die historische Kontinuität zunächst ›aufsprengen‹. Das selektive Sammeln im Rahmen einer neuen Ordnung entspricht dem Erkennen einer historischen Konstellation, in der ein vergangenes Ereignis sich mit der Gegenwart befindet (vgl. II, 467f.). Dem Puppensammler Max von Boehn spricht Benjamin die »Haltung des Sammlers« ab, da er ohne Leidenschaft, »so kühl und so emsig« vorgeht. Die Leidenschaft des Sammlers ist vielmehr »immer anarchistisch, destruktiv. Denn dies ist ihre Dialektik: Mit der Treue zum Ding, zum Einzelnen, bei ihm Geborgenen, den eigensinnigen subversiven Protest gegen das Typische, Klassifizierbare zu verbinden.« (III, 216) Der Sammler und der ›destruktive Charakter‹ gehören zusammen, beide verrichten eine Arbeit des Überlieferns: »Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven.« (IV, 398) Überlieferung ist für Benjamin nicht das unveränderlich Tradierte, sondern etwas, das immer wieder neu hergestellt wird. Der ›destruktive Charakter‹ beabsichtigt, die Welt zu verjüngen, indem sie jederzeit auf »ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird« (IV, 999; vgl. Lindner 2011b: 453). So ist für den destruktiven Charakter nichts von Bestand. Doch er ist destruktiv nicht um der bloßen Zerstörung willen, sondern, um durch die Zerstörung des Bestehenden neue Wege freizulegen, die durch das Bestehende verstellt sind: »Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.« (IV, 398) In dieser Beschreibung der Dialektik zwischen Bewahrung und Destruktion in der Geschichtsschreibung klingen wieder frühere Bestimmungen des Samm-

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lers an: Es geht diesem nicht um die Nützlichkeit, sondern um die Geschichte, das Schicksal und die Einzigartigkeit der Dinge. Auch die ›geheime Ordnung‹ (vgl. III, 216f.) der Sammlung gehört zu der destruktiven Seite des Sammlers: Er ordnet seine Sammlung nicht nach allgemeinen Schemata, sondern nach subjektiven Kriterien. Der Sammler geht in seiner Beziehung zu den Dingen sowohl über ihre Nützlichkeit als Gebrauchsgegenstand als auch über ihren Tauschwert hinaus.41 Benjamins Historiker geht es dieser Bestimmung entsprechend nicht um eine bloße Würdigung des Überlieferten, sondern darum, »die Abgeschiedenen zu Tische« zu laden (V, 603).42 Die Unabgeschlossenheit des historischen Gegenstands ist sowohl Voraussetzung für Benjamins Konzeption des geschichtlichen Erkennens als auch für das historische Interesse des Sammlers, der einer selbst geschaffenen Ordnung Platz schafft. Er trägt die Gegenstände zusammen und gibt ihnen im Rahmen einer neuen Ordnung auch eine neue Bedeutung. Die Figur des Sammlers macht kulturelle Praxis anschaulich, zum einen als vollkommen verdinglichte Vorstellung von Kultur als ›Bestand‹, die Kultur als bloße Ansammlung von Besitztümern begreift, zum anderen als praktisches Wiedererinnern und Aneignung von Kultur, die mit einem Subjekt verbunden ist, das aus dieser Praxis immer wieder neu hervorgeht. In dieser praktischen Erinnerung und Lektüre des Vergangenen ist außerdem evident, dass sie aus dem Vergessenen der Geschichte schöpft: Das Neue, das Revolutionäre des historisch-materialistischen Geschichtsschreibers ist immer etwas Altes: »Doch nicht das Neue zu halten, sondern das Alte zu erneuern lag in meinem Sinn. Das Alte zu erneuern dadurch, daß ich selbst, der Neuling, mirʼs zum Meinen machte, war das Werk der Sammlung, die sich mir im Schubfach häufte.« (IV, 286) Das Archiv als »Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder [und] Handlungsmuster« (J. Assmann 1988: 13) zur Grundlage von Kultur zu machen und

41 Diese Möglichkeit wird von Marx nicht berücksichtigt, der den Genuss der Dinge in ihrem Gebrauchswert als ursprüngliche und natürliche Beziehung der Menschen zu den Dingen denkt und dieser den Tauschwert als abstrakt gegenüberstellt (vgl. Agamben 2012b: 74f.). 42 Es wird immer wieder angemerkt, dass sich Benjamin im Passagen-Werk selbst als ein Sammler von Zitaten verstehen lässt. Das Zitieren isoliert das jeweilige Zitat als Fundstück und stellt es in einen neuen Zusammenhang, sodass es eine neue Bedeutung erhält. Das Passagen-Werk selbst wäre somit eine niemals definitiv abgeschlossene Sammlung (vgl. Mičko 2010: 137; Weidmann 1992: 93). Köhn weist jedoch darauf hin, dass das Sammeln im Hinblick auf das Passagen-Werk eine begrenzte Metapher bleibt, da mit dem Abschluss der Sammeltätigkeit die Phase der Ausführung erst begonnen hätte (vgl. Köhn 2000: 713).

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Bibliotheken, Museen und Monumente als den Sitz von Kultur zu veranschlagen, bedroht kulturelle Innovation und negiert, was Kultur im Kern ausmacht (vgl. Hetzel 2001: 11, 40f.). Benjamin geht es in erster Linie um die Aktualisierung des in der materiellen Kultur verobjektivierten Sinns. Dieser Sinn ist zwar beständig der Gefahr einer verdinglichten Betrachtungsweise ausgesetzt, er kann jedoch in dialogischer kultureller Praxis auch aktualisiert werden, wofür der Erzähler und der Sammler paradigmatisch stehen. ›Kultur‹ in Benjamins Sinn ist also immer beides: einerseits das Gedächtnis, d.h. die Objektivierungen, Gewohnheiten, unbewussten Wiederholungen und Überlieferungen, andererseits die destruktive und erneuernde Erinnerung. Die erstarrten Formen und festgefahrenen Gewohnheiten der modernen Kultur sind dabei selbst einmal aus der schöpferischen Aneignung der Welt hervorgegangen (vgl. Mičko 2010: 100f.) und die einmal angeeignete Ordnung der Welt wird maßgeblich durch Gewohnheit aufrecht erhalten. Sie kann jedoch zugleich eine gewisse Eigendynamik entwickeln und auf die Begierden und Wünsche, Handlungen und Interpretationen der Individuen zurückwirken (vgl. ebd.: 181). Der Sammler mit seiner Art der Aneignung verdeutlicht, dass Identität und Geschichte aus diskontinuierlich Gesammeltem bestehen, das in einer Ordnung verfestigt wurde, die jedoch immer veränderlich ist. Eine wesentliche, an dieser Stelle jedoch nicht zu klärende Frage ist, inwiefern es tatsächlich gelingen kann, das erlöste Vergangene nicht umstandslos in die herrschende Kulturüberlieferung zu integrieren. Eine Vereinnahmung durch diese erscheint wesentlich wahrscheinlicher, als dass sich ein klar vom herrschenden unterschiedenes alternatives ›kollektives Gedächtnis‹ herausbildet (vgl. Agamben 2013: 260; Niethammer 1993: 47f.; Niethammer 1985: 7f.). Auch ein solches wäre jedoch nicht unproblematisch, wenn es dazu führt, dass die ›Opfer der Geschichte‹ ihre eigene Geschichte zu einem ›Erbe‹ verfestigen, das bloß noch als Gegenstand feierlichen Andenkens betrachtet wird und aus diesem Grund nicht länger an die gegenwärtige Erfahrung gebunden ist sowie beständig aktualisiert wird. Die ›Tradition der Unterdrückten‹, auf die Benjamin abzielt, ist an eine radikal andere Form von Geschichte gebunden als die einer kontinuierlichen Entwicklung, die sich in der Erzählung eines wie auch immer inhaltlich beschaffenen ›Funktionsgedächtnisses‹ ausdrückt. Das Eingedenken der Tradition der ›Besiegten‹ beruht wie die individuelle unwillkürliche Erinnerung auf der Nichtlinearität, den Brüchen und Unregelmäßigkeiten der Geschichte. Nur in dieser Weise kann entgegen dem homogenen Dahinfließen der Zeit etwas unvorhersehbares Neues auftauchen (vgl. Mosès 1992: 143f.).

4. Folgerungen

In diesem Kapitel wird anhand von drei Schwerpunkten das Fazit in Bezug auf Benjamins Konzeption im Unterschied zum Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gezogen: a) Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen; b) die Erzählung der Lebensgeschichte und c) die Potenziale des Vergangenen. a) Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen: Benjamin zielt mit Bergson und Proust auf etwas ›Innerliches‹ ab, das in besonderer Weise mit der menschlichen Identität verbunden ist und für das Leben der Person in anderer Weise zu bürgen vermag als die Daten des willkürlichen Gedächtnisses. Bergson und Proust ist die Erwartung gemeinsam, dass im Inneren des Gedächtnisses für das Subjekt hochbedeutsame, aber in ihrer Bedeutung noch unerkannte oder nicht mehr anerkannte Anteile des Selbst aus der eigenen Vergangenheit vorhanden sind und sie unter bestimmten Bedingungen teilweise zu Bewusstsein kommen bzw. dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden können und sollten (vgl. Niethammer 2000: 332). Diese Perspektive ist derjenigen von Halbwachs entgegengesetzt, für den das Gedächtnis eine rein äußerliche, räumliche Angelegenheit von sozialen Gruppen ist, deren Bilder nichts mit der Wirklichkeit der Vergangenheit zu tun haben, sondern mit den Bedürfnissen der Trägergruppe wechseln (vgl. ebd.: 344, Anm. 81). Die Vorstellung einer ›Dauer‹ als der Einheit des menschlichen Zeitempfindens ist Bergson und Proust ebenfalls gemeinsam, jedoch steht die von Proust herausgestellte Diskontinuität der unwillkürlichen Erinnerung im Widerspruch zu Bergsons Lebensstrom, durch den das Vergangene unaufhörlich in die Gegenwart hineinwirkt (vgl. Zapp 1962: 32). Für die Erinnerung entscheidend ist die Verbindung von Subjekt und Objekt durch das, was in Bezug auf das ›kollektive Gedächtnis‹ als Erinnerungsanlass bezeichnet wurde. Ohne einen äußeren Gegenstand oder eine zufällige Gestik des Körpers als Anstoß ist Erinnerung im Sinne Prousts nicht möglich und Erfahrung lässt sich auch als die körperlich eingeschriebene Spur vergangener Sinneseindrücke verstehen (vgl. Finkelde 2003: 41). Diese sind jedoch immer auch

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mit den intersubjektiv verfügbaren Erzählungen als geschichtlich erworbenen, individuell und sozial bedingten Bedeutungen und Besetzungen vermittelt, den ›Rahmen‹ im Sinne Halbwachsʼ (vgl. Bay 1995: 25f.). Die Erfahrung von Objektivem hängt von der lebensgeschichtlich gewordenen Identität ab und Identitätsbildung vollzieht sich immer in konkreten historisch variablen Lebensformen mit ihren jeweiligen sozial sedimentierten Ausdrucksformen. Benjamin betont mit Proust vor allem die Ausschnitthaftigkeit des Erinnerns und seine Unverfügbarkeit für das Subjekt: Erinnern ist dem Bewusstsein nicht voll intentional verfügbar. Dies steht ganz im Gegensatz zur im ersten Teil der vorliegenden Arbeit dargestellten ›sozial-konstruktivistischen‹ Gedächtnistheorie, die auf eine willentlich konstruierbare Identität abzielt. Teilt man Benjamins Einschätzung, dann kommt es für die Möglichkeiten nicht-entfremdeter Erfahrung und Identität vor allem auf das Erinnern als Akt der Vergegenwärtigung oder Aktualisierung im Unterschied zum ›Speichern‹ im Sinne eines Festhaltens von Gedächtnisinhalten an. Denn ein Gedächtnisspeicher als Kompensation für die verlorenen Erfahrungen negiert die für identitätsrelevante Erfahrung entscheidende Aktualisierung und Erneuerung der Vergangenheit anhand von Erinnerungsleistungen in Verbindung mit kollektiv-historischen Zusammenhängen. Der Gedächtnisbegriff wird von Benjamin in zwei Bedeutungen verwendet: Einerseits bezeichnet er den willentlichen und bewussten Abruf von Wissen, das proustsche willkürliche Gedächtnis, und andererseits den unbewussten bzw. vergessenen Hintergrund, der der zufällig auftretenden und erfahrungsbildenden unwillkürlichen Erinnerung als Grundlage dient. Die unwillkürliche Erinnerung zeigt, dass das Gedächtnis nicht in allen Bereichen bewusstseinsfähig oder gar bewusstsseinspflichtig ist, weshalb der Bereich des Gedächtnisses als ›größer‹ anzunehmen ist als der des bewusst Erinnerten. Das Gedächtnis umfasst zahlreiche unbewusste Vorgänge, wie Siegfried J. Schmidt ausführt (vgl. S.J. Schmidt 1991a: 33). Wesentliche Prozesse der Organisation des Bewusstseins vollziehen sich demnach ›hinter dem Rücken‹ der Subjekte. Auf diese Weise werden Selbsterkenntnisprozesse, die sich auf die internen Bewusstseinszustände einer Person richten, von vornherein eingegrenzt (vgl. Sturma 1997: 240). Mit dem Begriff des ›Unbewussten‹ wird an dieser Stelle der gesamte Bereich präreflexiver Prozesse bezeichnet, also auch das, was Bergson als das ›Gewohnheitsgedächtnis‹ bezeichnet und das im alltäglichen Handlungsvollzug einen wesentlichen Einfluss nimmt. Die unbewussten Inhalte des Gedächtnisses, die das Fundament für die unwillkürliche Erinnerung bilden, liegen nicht in zeitlich geordneter Form vor, sondern sind ungeordnet und werden in verschiedenen Zusammenhängen mobilisiert. Gegenwärtige Haltungen können zwar mit vergangenen Ereignissen assozi-

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iert sein, schließen jedoch nicht im Sinne historischer Kontinuität bei ihnen an (vgl. Thomä 1998: 98). Diskontinuität ist Benjamin zufolge das Merkmal des ›Epischen‹, wie bereits im Zusammenhang mit seinem Denkbild Ausgraben und Erinnern ausgeführt wurde. Der Akt des Wiedererinnerns eines vorher nur virtuell Erinnerten schließt eine Reflexion ein: Der Erinnernde ist sich der Wiederholung des Vollzugs des Vergangenen bewusst und bemerkt darin, dass es vergangen ist. Johann Kreuzer führt aus, dass die Erinnerung »ein Vorgang [ist], der sich auf etwas bezieht – das Erinnerte als vergangenes Gegenwärtiges und als nicht-gegenwärtig Gegenwärtiges« und »der sich auf sich selbst bezieht – in dem das Vergangene erinnert wird, wird zugleich das vergangene Erinnern erinnert«. Die Erinnerung »ist schließlich die Form von Selbstgegenwärtigkeit, in der sich das Ich als erinnerndes erinnert« (Kreuzer 1995: 39). Diese Selbstbezüglichkeit der Erinnerung ist nicht in Form eines retrospektiven Entwurfs eines souveränen Subjekts zu denken: Sie vollzieht sich nicht als souveräne Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins, sondern ist eine Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht. Diese wesentliche Passivität ist jedoch keine totale, sondern Aktivität und Passivität sind zugleich Aspekte des Erinnerns: Ist das Subjekt der Auslösung des Erinnerns passiv ausgeliefert, so richtet es sich in der Folge intentional und reflexiv auf die eigene Vergangenheit. An der wesentlichen Unwillkürlichkeit der Erinnerung wird deutlich, dass das, was für die identitätsrelevante Erinnerung benötigt wird, weit über den Bereich des willkürlichen Gedächtnisses im Sinne eines ›Speichers‹ und des ›Abrufs‹ von Daten hinausgeht. Erinnerung umfasst die Aufbewahrung von Inhalten im Gedächtnis, den Akt des Erinnerns und den erzählenden Ausdruck. Eine Bedingung für die Prozesse erfahrungsbildender Erinnerung ist, dass das Gedächtnis mehr umfasst als die Daten, auf die das Subjekt bewusst zurückgreifen kann: Unwillkürliches Erinnern ist das Wiedererinnern eines Vergessenen. Es funktioniert nicht als willkürlicher ›Abruf‹ eines ›Gespeicherten‹, es ist vielmehr unwillkürlich, weil es nicht als ein nach Belieben verfügbares Instrument eingesetzt werden kann. Das für die Erinnerung konstitutive Vergessene umfasst Eindrücke, die im Augenblick der ursprünglichen Wahrnehmung nicht bewusst registriert wurden und lediglich als unbewusste Gedächtnisspuren weiter existieren, sowie diejenigen Elemente der Vergangenheit, die im Prozess der Bildung einer Identitätserzählung ausgestoßen wurden. Erfahrung entsteht durch das Erinnern dessen, was sich nicht durchgesetzt hat und in die Erzählung der Identität eingegangen ist, und besitzt damit eine spezifische Negativität. Erinnern bedeutet eine Aktualisierung von Gedächtnisinhalten, durch die in der Vergangenheit Aufgenommenes in einer aktuellen Gegenwart zu einem Neuen wird.

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Henri Bergsons Unterscheidung zwischen dem ›Gewohnheitsgedächtnis‹ und dem ›Erinnerungsgedächtnis‹, die von Proust als diejenige zwischen willkürlichem Gedächtnis und unwillkürlicher Erinnerung interpretiert wird, bleibt auch für Benjamin entscheidend: Das Gedächtnis ist eine Sache der Wiederholung, der Gewohnheit und des Automatismus, während die Erinnerung grundsätzlich nicht wiederholbar ist und daher frei von jeder Abnutzung bleibt. Bedingung für die Erinnerung ist jedoch, dass das Vergessen im Sinne einer unbewussten Bewahrung sie vor der Abnutzung durch Wiederholung schützt (vgl. Lemke 2008: 114f.). Dieses ›epische‹ Vergessen, das Bedingung für das Erfahrungsmoment der Erinnerung ist, bildet jedoch nur eine Form des Vergessens im Unterschied zu weiteren Formen, die der Erfahrung durch Erinnerung hinderlich sind. Adorno nennt das ›reflektorische Vergessen‹, das in Benjamins Analyse für die moderne Schockwahrnehmung charakteristisch ist. Der Zugang zur unwillkürlichen Erinnerung und zur Erfahrung ist demnach vom ›Wie‹ des Vergessens abhängig. Nach Benjamins Deutung von Freuds Modell des psychischen Apparats muss das Bewusstsein unter modernen Bedingungen der Beschleunigung und Reizüberflutung in gespannter Erwartung der Schockwahrnehmung ständig aufmerksam sein. Daraus resultierende ›Erlebnisse‹ werden bereits im Akt des Erlebens vergessen und bleiben unverbunden. In der bloßen Abfolge gleichförmiger Einheiten wird die Zeit zu einer ›ewigen Wiederkehr des Immergleichen‹ und verliert ihren qualitativen Charakter. Das ›reflektorische‹ Vergessen hinterlässt keine Dauerspuren im Gedächtnis, wodurch eine spätere nachholende Aufnahme im erfahrungskonstituierenden Erinnern unmöglich wird. Um erfahrungskontitutiv zu sein, muss das Vergessen der Registrierung und ›Erledigung‹ der Eindrücke zuvorkommen, damit die ursprüngliche Nachträglichkeit der Erinnerung zu ihrem Recht kommen kann. Die Fähigkeit der Subjekte, konstitutiv mit der eigenen und kollektiven Vergangenheit in Verbindung treten zu können, hängt Benjamin zufolge wesentlich von der sozialen Prägung des Bewusstseins und der historisch bedingten »Art und Weise [der] Sinneswahrnehmung« (I, 478) ab. Als geschichtliche Wesen sind die Subjekte wesentlich von ihrem Gedächtnis geprägt, aber die Struktur des Zusammenhangs von Erfahrung und Gedächtnis wird ihrerseits von der Gegenwart beeinflusst, die in der Moderne durch die immer vollständigere Durchdringung aller Lebensbereiche durch eine Verwertungs- und Tauschlogik und eine zunehmende Medialisierung und Beschleunigung des Informationsflusses geprägt ist. Durch die notwendige Ausbildung reflexhafter Reaktionsweisen wird die Verbindung des bewussten Erlebens mit unbewussten Gedächtnisinhalten verunmöglicht und Erfahrung wird zunehmend durch immer mehr und immer neue ›Erlebnisse‹ ersetzt.

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Benjamin idealisiert in seiner kritischen Perspektive in gewisser Weise eine kultische Urzeit als Ort erfüllter Erfahrung, um demgegenüber den modernen Erfahrungsverfall zu konturieren (vgl. Bock 1999: 159f.). Dennoch geht es ihm nicht bloß darum, mit kulturkonservativem Gestus die Erfahrungsarmut in der Moderne zu beklagen (vgl. Zumbusch 2004: 113), da eine einfache Negation des Erfahrungsverfalls im Rückgriff auf eine unhistorische Wahrheit archaischer Weltbilder nicht erfassen kann, was sich in der Erfahrung der Menschen verändert hat: Die Möglichkeiten der Moderne können nur dann erkannt werden, wenn man begreift, was in ihr verloren geht (vgl. Bock 2010: 95). Benjamin zeigt Tendenzen des Verfalls auf, um anhand ihrer Darstellung eine kritische Perspektive zu gewinnen. Es geht ihm nicht darum, den Verfall rückgängig zu machen, sondern darum, in der modernen Situation Möglichkeiten nicht-entfremdeter Erfahrung aufzuzeigen. Paradigmatisch für den historisch variablen Zusammenhang von Gedächtnis und Erfahrung sind für Benjamin die jeweils vorherrschenden ›Mitteilungsformen‹, von der mündlichen Erzählung über den Buchdruck hin zu den technisch reproduzierbaren Bildmedien. Die Technik wird zur ›zweiten Natur‹, die zwar von den Menschen erfunden wurde, aber nicht mehr von ihnen beherrscht wird (vgl. I, 444f; I, 1045; VII, 665f.). Benjamin liest die Mediengeschichte mit ihren wechselnden Leitmedien vor allem als eine Verfallsgeschichte der Erfahrung. Es geht ihm um eine tendenzielle Verdrängung der ›alten‹ durch die ›neuen‹ Medien, anhand derer er paradigmatisch zu verdeutlichen versucht, was in diesem Prozess verloren zu gehen droht. Für die Gegenwart im 21. Jahrhundert wäre zu zeigen, inwieweit die neuen medialen Möglichkeiten eine Modifikation von Benjamins Modell erfordern, da sich seit Baudelaires und auch Benjamins Lebzeit zweifellos gewaltige Veränderungen vollzogen haben. Die individuelle Erfahrungswirklichkeit wird von der modernen Reizüberflutung zunehmend beansprucht: Benjamins Analyse des ›reflektorischen Charakters‹ ließe sich mit einem Blick in die Gegenwart der digitalen Informationsgesellschaft gewiss bestätigen. Es sind dabei in erster Linie visuelle Medien, die die Lebenswelten prägen, wobei sich Anzahl und Zirkulationsgeschwindigkeit der Bilder beständig steigern, wodurch die Reizschutzmechanismen des Bewusstseins in zunehmendem Maße beansprucht werden und das ›reflektorische‹ Vergessen in dieser Weise befördert wird. Das Internet kann für diese Prozesse sicherlich als neues Paradigma gelten. Es wäre zu fragen, ob sich durch die Einführung neuer Medien eine grundlegende qualitative Veränderung oder in erster Linie die quantitative Steigerung und Beschleunigung bereits vorhandener Strukturen herausbildet.

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Jan Assmann zufolge vollzieht sich durch die neuen elektronischen Medien, insbesondere das Internet, eine »tiefgreifende Veränderung in der Architektur des kulturellen Gedächtnisses« (J. Assmann 2002b: 246), die in ihrer Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks und zuvor der Schrift gleichkommt. Die Grenzen zwischen dem ›kommunikativen‹ und dem ›kulturellen Gedächtnis‹ sowie zwischen dem ›Funktions-‹ und dem ›Speichergedächtnis‹ verschieben sich und verwischen demnach, indem mithilfe des Internets zugleich schriftlich und interaktiv, weltweit und zeitgleich kommuniziert werden kann. Nahezu unbegrenzte Speichermöglichkeiten und die ständige Verfügbarkeit aller Informationen machen diesbezügliche Selektionsmechanismen hinfällig, sodass sozial vorgegebene Relevanzperspektiven verschwinden, die das Wichtige hervorheben und in dieser Weise Struktur und Orientierung ermöglichen. Das Internet ermöglicht somit nicht die für das ›kulturelle Gedächtnis‹ wesentlichen Momente der Stabilisierung von Erfahrung und der Erschließung von Zeithorizonten, die die Lebenszeit transzendieren. Jan Assmann merkt an, dass sich kaum absehen lässt, was diese Veränderungen für die Zukunft des ›kulturellen Gedächtnisses‹ bedeuten. Aleida Assmann vertritt demgegenüber die These einer Krise des Gedächtnisses oder sogar des Endes des Gedächtnisses durch digitale Speichersysteme und das Internet (vgl. A. Assmann 2009: 408ff.; A. Assmann 2004: 55ff.). Das Internet ist Assmann zufolge »ganz auf Gegenwart eingestellt« (A. Assmann 2004: 56). Sie betont die verkürzte Haltbarkeit der Datenträger gegenüber Büchern und die Entwertung der gespeicherten Informationen durch den beschleunigten Datenfluss. Die Reduktion auf pure Information, die das Internet leistet, beraubt die erinnerungsrelevanten Objekte ihrer Materialität, sodass »Realität, Geschichte und Gedächtnis« (ebd.: 58) verschwinden. Auch Manfred Osten spricht von einer ›Zerstörung der Erinnerungskultur‹ (vgl. Osten 2004). Uwe Jochum zufolge wird durch die Ersetzung materieller Träger durch elektronische Trägermedien aufgrund mangelnder Haltbarkeit das ›kulturelle Gedächtnis‹ zerstört (vgl. Jochum 2003: 22). Harald Weinrich konstatiert in Übereinstimmung mit Jan Assmann, dass das unaufhaltsame Anwachsen der Datenmengen die Übersicht verlieren lässt, was nützlich und was überflüssig ist (vgl. Weinrich 2005: 257). Ob das von Aleida Assmann dargestellte Krisenszenario zutrifft, ist aktuell nicht zu entscheiden. Es lässt sich jedoch beobachten, dass sich im und durch das Internet Formen kollektiver Erinnerungskulturen ausbilden und das Internet in dieser Weise zum Medium ›kollektiver Gedächtnisse‹ wird (vgl. Dornik 2010: 236). Durch zunehmende Interaktivität, Konnektivität und Internationalität des Internets dominieren immer mehr transnational und -kulturell determinierte und zugleich hoch individualisierte Gruppengedächtnisse. Das Individuum ist in der

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Lage, sich die ansprechendsten Elemente unabhängig von seiner Herkunft zu suchen und selbst Teil des Entstehungsprozesses von Gruppenerzählungen zu werden (vgl. ebd.: 236f., 239). Auf der anderen Seite sind Daten im Internet fluktuativ und ihre mittel- bis langfristige Speicherung ist fraglich. Sie können jederzeit kopiert, gelöscht, verschoben oder verändert werden (vgl. ebd.: 235f.). Insgesamt lässt sich in Bezug auf das Internet wohl eher von einem Kommunikations- statt einem klassischen Speichermedium sprechen (vgl. ebd.: 236). Mit der Ausbildung eines neuen ›kulturellen Gedächtnisses‹ im Sinne Jan und Aleida Assmanns ist aus diesen Gründen nicht zu rechnen. Es muss jedoch auch angemerkt werden, dass das Internet keine festen Eigenschaften und keine unveränderliche Logik hat. Es besteht aus einer Reihe technischer Möglichkeiten, die in vielfältiger Weise genutzt werden können. Es ist aus diesem Grund nicht so, dass die mediale Technik einseitig die sie nutzende Gesellschaft und Kultur prägt, sondern Gesellschaft und Kultur machen ebenso die Medien zu dem, was sie politisch, materiell und symbolisch sind (vgl. Morozov 2013: 100). b) Erzählung der Lebensgeschichte: Die Erfahrung des Erinnerns besitzt in ihrer Selbstbezüglichkeit, in der das Subjekt den Gegenstand des Erinnerns als ihm zugehörig erkennt, für die Konstitution von Identität einen zentralen Stellenwert. Erinnerung bindet vergangene Geschehnisse an die eigene Person und ermöglicht ihre zeitliche Ordnung, sodass das Werden der eigenen Person erkennbar wird. Dies ist zugleich die Voraussetzung für die Darstellung einer Lebensgeschichte, in der sich personale Identität manifestieren kann: Das Subjekt wird Subjekt durch einen Aneignungsprozess, in dem sich aus unbewussten Erinnerungsspuren autobiografische Erinnerungen formieren, die als Lebensgeschichte zusammengefügt eine identitätsbildende Funktion erhalten (vgl. Quindeau 2005: 224f.; Patzel-Mattern 2002: 255f.). Als Erzählung rekonstruiert kommt der Erinnerung das Vermögen zu, diejenigen lebensgeschichtlichen Zusammenhänge freizulegen, die Gegenwart und Vergangenheit zu einem Ganzen verbinden. Die Erzählung bildet einen kohärenten Kontext für den lebensgeschichtlichen Sinngehalt der einzelnen Vergangenheitselemente (vgl. Palazzo 2004: 181). Die Vergangenheit muss jedoch mehr sein als die Aneinanderreihung von Daten eines vergangenen Geschehens, um einen Bezug auf die lebendige Erfahrung des Subjekts zu behalten. Sie muss als sinnhafter Zusammenhang in eine Beziehung zum Menschen treten (vgl. PatzelMattern 2002: 247). Aus diesem Grund ergibt sich eine erfüllte Identität nicht aus dem ›Speichern‹ von die eigene Vergangenheit betreffenden Gedächtnisinhalten, sondern aus ihrer Aneignung als Erfahrung in der Erinnerung. Die Erinnerung besitzt eine doppelte Funktion: Zum einen bildet sie die Grundlage einer erzählfähigen Geschichte und geht in dieser Weise in das wil-

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lentlich ›abrufbare‹ Gedächtnis ein und zum anderen kann sich durch sie die Persönlichkeit verändern. Erfahrung und Identität beruhen einerseits auf der Bewahrung von Erinnerungen und andererseits auf ihrer permanenten Veränderung. Der Prozess der Bildung von Erinnerungen, ihrem Vergessen und der Aneignung durch ein bewusstes Erinnern ist ein dialektischer Prozess, weil immer wieder neue Konstellationen entstehen, die diesen Prozess beständig von Neuem initiieren. Das Erinnern geht stets von der Gegenwart aus, weshalb es in jedem Akt des Erinnerns unweigerlich zu einer Erneuerung des Erinnerten kommt. Das Subjekt ist permanent im Entstehen begriffen und kann nicht als eine zeitlose Größe verstanden werden. Der Bezug auf das eigene Leben, in dem die Bedeutung der Vergangenheit erkannt wird, muss immer wieder aktualisiert werden. Erzählungen der eigenen Lebensgeschichte können niemals die gesamte Lebenswirklichkeit erfassen und ausdrücken: Die Integration von Erfahrungen in eine Erzählung als zentrale Funktion der Identität wird immer durch die Ausblendung anderer Erfahrungen erkauft, die sich nicht in dieses Selbstbild fügen (vgl. Bay 1995: 39f.). Zwischen der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte und den Erfahrungen des Subjekts besteht jedoch eine dialektische Beziehung der wechselseitigen Vermittlung: Erzählungen reagieren auf Erfahrungen und bedingen sie gleichzeitig. Sie bedürfen einer gewissen Festigkeit und Verselbständigung gegenüber Erfahrungen, um der Orientierung im Leben dienen zu können und eine kritische Distanzierung von der Erfahrungswirklichkeit zu ermöglichen. Absolut gesetzt, erstarrt und gegen Erfahrung abgedichtet können Erzählungen jedoch nicht durch neue Erfahrungen irritiert und korrigiert werden, was ihre Fort- und Umschreibung unmöglich macht. Das Subjekt ist im eigenen Selbstbild gewissermaßen zu stabil, da Erfahrungen nicht zu ihm vordringen können und eine produktive Reaktion auf diese verhindert wird (vgl. ebd.: 27). Die unwillkürliche Erinnerung ist imstande, die Identität einer Person als eine bloße Maske, als »Attrappe« (II, 314) zu entlarven, da jeder in ihr objektivierte Gedächtnisinhalt ›aufgespalten‹ und entfaltet werden kann, wodurch substanziell gedachte Entitäten sich auflösen, denn »in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten in Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt.« (VI, 467f.; vgl. Finkelde 2003: 63) Proust spricht in diesem Zusammenhang von einem inneren Buch voller unbekannter Zeichen, deren Lektüre einem Schöpfungsakt gleicht (vgl. Proust

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2004b: 277)1: »Was wir nicht durch unser persönliches Bemühen erst haben entziffern, erst haben aufhellen müssen, was schon klar war, ehe wir darauf stießen, gehört uns nicht eigentlich an. Aus uns selbst kommt nur, was wir ganz allein aus dem Dunkel unseres Inneren herausholen und was den anderen unbekannt ist.« (Ebd.: 278) Die ›Attrappe‹ der öffentlichen Identität, der Ausdruck, den ein Subjekt seinem Leben gibt und den es selbst nach kurzer Zeit für Wirklichkeit hält, weicht erheblich vom erlebten Leben ab – auch aus diesem Grund lässt sich ein starkes Glücksgefühl erfahren, wenn ein Zufall zu einer wahren Erinnerung verhilft (vgl. ebd.: 279f.). Prousts Konzeption unwillkürlicher Erinnerung zerstört in dieser Weise die Vorstellung von der Einheit und Ganzheit der Person und präsentiert dem Subjekt seine Nichtidentität (vgl. Adorno 1974a: 206). Weil Erinnerung nicht rein selbstbezüglich zu denken ist, sondern eines unwillkürlichen Anstoßes durch ein Extramentales bedarf und an äußerliche, intersubjektiv zugängliche Darstellungsformen gebunden ist, darf die Vergegenständlichung der Erfahrung nicht ausschließlich entgegengesetzt werden. Die Selbstbeziehung, die durch das Vermögen der Erinnerung wirklich wird, vollzieht sich nicht in bloßer Innerlichkeit, sondern in der Beziehung auf anderes (vgl. Kreuzer 1996: 977). Identität besteht in der Äußerung und beständigen Aktualisierung ihrer Potenzialitäten. Vergegenständlichung ist für diesen Prozess zwar notwendig, es besteht aber immer auch die Gefahr, dass die lebendige Erfahrung durch dinghafte Gestalten ersetzt wird. Die konstruierte Kontinuität muss sich darum der existenziellen Diskontinuität bewusst bleiben, da eine bloße Ersetzung erfahrungskonstituierenden Erinnerns in seiner Sprunghaftigkeit und seinem elementaren diskontinuierlichen Charakter zeitlicher Erfahrung durch eine stillgestellte Identitätserzählung einem entfremdeten Selbstverhältnis gleichkommt. Identität geht nicht in einer bruchlosen und widerspruchsfreien Kontinuität auf, der Ordnung dessen, was im individuellen Gedächtnis und der konkreten Erfahrung nicht geordnet ist. Sie lässt sich besser als kontinuierliche Diskontinuität verstehen, die immer wieder moment-

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In der Metapher des Gedächtnisbuchs fungieren Erinnerungen als Schrift oder Bilder auf den Seiten eines Buchs. Das willkürliche Gedächtnis lässt das Subjekt in diesem Buch blättern und die Seiten betrachten, die jeweils von Interesse sind. Es gelingt jedoch häufig nicht, willentlich eine bestimmte Stelle zu finden. Das Gedächtnis stellt sich als ein Buch heraus, das über keinen vollständigen, überall gleichmäßig lesbaren Text verfügt, vielmehr sind viele Stellen weiß. Einzig die unwillkürliche Erinnerung ist dazu imstande, mühelos Stücke des Vergangenen wiederzufinden und zufällig eine vertraute Stelle im Gedächtnisbuch aufzuschlagen, ohne sie zu suchen (vgl. Gülich 1965: 59f.).

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haft verfestigt wird, indem durch Erinnerung und die durch sie ermöglichte Aneignung von Inhalten als zur eigenen Person gehörige Erfahrungen zu denen der eigenen Lebensgeschichte gemacht werden. Aus diesem Grund muss das Subjekt als mit sich identisch gedacht werden, gleichzeitig jedoch auch ein Nichtidentisches beinhalten. Demnach müsste es gelingen, so Dieter Thomä, »das Verhältnis zu sich so zu fassen, daß man die Vergegenständlichung überwindet, die sich im Zuge narrativer Selbstfindung und Selbsterfindung ergibt, ohne daß man damit die aktuelle Situation im Sinne abstrakter Selbstbestimmung von der eigenen Geschichte isolierte« (Thomä 1998: 166). Gegenüber der Erzählung des eigenen Lebens als retrospektiver Konstruktion ließe sich die Identität einer Person in dem Sinn verstehen, dass sie auf Erfahrungen beruht, die nicht in einer einheitlichen Erzählung aufgehen. Identität ist nie etwas Feststehendes, sondern ein performatives Verhältnis zur eigenen Vergangenheit in der immer wieder neu zu vollziehenden Aneignung von Erfahrungen. Sie ergibt sich aus einer Selbstbeziehung, die dem Subjekt in der Erinnerung gegenwärtig wird. Diese Selbst-Gegenwärtigkeit vollzieht sich nicht in andauernder Präsenz, sondern ist vom Vergessen unterbrochen, das die Voraussetzung des Erinnerns ist. Grundlage personaler Identität sind, wie in Bezug auf Bergson und Leibniz ausgeführt wurde, viele unbewusst vollzogene Erinnerungsakte. Sie sind nicht schon Akte eines identischen Subjekts, sondern Identität ergibt sich erst aus ihnen (vgl. Kreuzer 1996: 979). Analog erweist sich auf der kollektiven Ebene das kritische Potenzial von Benjamins Konzeption im Sinne einer ›emanzipatorischen‹ Entfremdungstheorie in Ergänzung zum Paradigma des ›kulturellen Gedächtnisses‹. Dieses steht für die Identitätsstiftung und -bewahrung durch Mythen und Riten und lässt sich in seiner konservativen, Identität stillstellenden Funktion als verdinglichtes und verdinglichendes betrachten. An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass der notwendig selektive Charakter der Erzählung in ihren Missbrauch im Sinne eines strategischen Vergessens umschlagen kann: Eine Geschichte lässt sich immer auch anders erzählen, etwa, indem Teile ausgelassen oder indem Bedeutungsakzente verschoben werden. Die größte Gefahr liegt dabei Ricœur zufolge in der Handhabung der offiziellen Geschichte, deren Abgeschlossenheit in den Dienst der identitären Abgeschlossenheit der Gemeinschaft gestellt wird. In Bezug auf diese autorisierte, verbindlich gemachte, gefeierte und in gemeinsamem Gedenken begangene Geschichte wird das Hilfsmittel der Erzählung zur Falle, sobald eine kanonische Erzählung mit Macht durchgesetzt wird (vgl. Ricœur 2004: 137, 684). Demgegenüber unterzieht Benjamin die Geschichtsbetrachtung zum einen einer Historisierung, insofern ihre Gegenstände sich in der Erinnerung immer erst gegenwärtig

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herstellen, zum anderen einer ›Politisierung‹, insofern die Erinnerung gerade auf diejenigen Elemente des Vergangenen abzielt, die nicht Bestandteil des Kontinuums einer konservativen Geschichtsdeutung geworden sind, sondern dieses Kontinuum und damit den Mythos der geordneten Identität ›aufzusprengen‹ vermögen und in dieser Weise eine echte Geschichtsaneignung ermöglichen. Die homogenisierende Geschichtsschreibung ebnet zum Zweck der Konstruktion eines Kontinuums den Geschichtsverlauf ein und lässt diejenigen Ereignisse vergessen, die nicht in diese Deutung passen. Auf das willkürliche Gedächtnis kann man nicht verzichten, es kommt Benjamin jedoch darauf an, die Vereinnahmung des Vergangenen durch eine ideologische Überformung zu vermeiden. Während das ›schlechte‹ Vergessen ins schon Dagewesene einschließt, macht das ›gute‹ Vergessen empfänglich für das Neue, das mit dem Alten zu einer noch nie dagewesenen Einheit zu verschmelzen vermag (vgl. Krämer 2000: 259; Gadamer 1986: 21). Anhand dieser Überlegungen lässt sich das im ersten Teil der vorliegenden Arbeit ausgeführte Modell von Identität modifizieren: Die Erzählung der Lebensgeschichte – zumal nach den bekannten Ordnungsschemata – hat diesem zufolge identitätsstiftende Funktion, ja ›Erzählung‹ und ›Identität‹ sind geradezu austauschbare Begriffe. Die Erzählung der Lebensgeschichte, die als Kontinuität erlebt wird, indem Erfahrungen als eigene in sie integriert werden, ist die eigene Identität. Benjamins Zugang zum eigenen Leben lässt sich zwar ebenfalls als ein narratives Unternehmen verstehen. Es ist jedoch keine Erzählung mehr, die als Lebensgeschichte auftritt, sondern in der Festlegung auf die Lebensgeschichte vielmehr in ihren Möglichkeiten unterboten wird (vgl. ebd.: 98f.), da die Erinnerung in ihrer Bruchstückhaftigkeit und Diskontinuität gerade das bezeichnet, was nicht in der Erzählung der Lebensgeschichte aufgeht und deshalb zu echter Selbsterkenntnis führen kann. Die Daten des willkürlichen Gedächtnisses sind demgegenüber der Identität äußerlich bleibende Kennzeichnungen, die die individuelle Lebensgeschichte in eine Ordnung bringen, um ihre Entwicklung verständlich machen zu können. Das willkürliche Gedächtnis hat eine zweckorientierte Funktion, die einem Bedürfnis nach Ordnung entspricht, auch wenn das Leben selbst nicht in gleicher Weise geordnet verläuft. Das, was solcherart verstanden und in die Konstruktion der Lebensgeschichte integriert werden kann, ist immer nur ein Ausschnitt des Lebens. Wird das Verhältnis des Individuums zu seiner erlebten Vergangenheit in der Regel durch das willkürliche Gedächtnis organisiert, so sind ursprünglich nicht wahrgenommene Erlebnisse, die für das willkürliche Gedächtnis verloren sind, davon ausgenommen und können deshalb auch nicht durch die Gewohnheit verfälscht werden und behalten ihre ursprüngliche Kraft. Das in der gegenwärti-

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gen Aktualität befangene Ich geht in der unwillkürlichen Erinnerung vorübergehend in einer früheren Stufe seiner selbst auf (vgl. Zapp 1962: 19). Es ist darum geboten, sich in einen Zustand der passiven Empfänglichkeit zu versetzen, um etwas über sich selbst erfahren zu können, das jenseits der festgefügten Erzählung liegt. Nur in Augenblicken, in denen die Konzentration des Bewusstseins nachlässt und die habitualisierten Gedächtnisschemata ihre handlungssteuernde Kraft verlieren, können Erinnerungsbilder zu Bewusstsein gelangen, in denen eine Spur der ursprünglichen Erlebnisfülle bewahrt ist. Adorno zufolge verwandelt sich das Leben bei Proust in Kindheit, da das Kind noch über »unendliche Möglichkeiten von Erfahrung« verfügt und die Welt mit »staunenden und fremden Augen« betrachtet (Adorno 1974b: 672). Proust kommt es demnach darauf an, die Möglichkeiten ungeschmälerter Erfahrung beizubehalten und mit dem Bewusstsein und der Reflektiertheit eines Erwachsenen die Welt unverstellt in einer ›zweiten Naivität‹ wahrzunehmen, die nicht durch die ansonsten übliche Automatisierung und Technisierung des eigenen Denkens getrübt ist (vgl. ebd.: 673). Die öffentliche Identitätserzählung, mit der das Subjekt sich im intersubjektiven Raum repräsentiert, ist Ausdruck des Gedächtnisses. ›Gedächtnis‹ in diesem Sinn ist der Name für die Aufbewahrung der für das Subjekt verfügbaren und ›festgestellten‹ Erinnerungen und ihre willentliche Reproduktion. Dieses ›Speichern‹ und Reproduzieren ist von der von Bergson beschriebenen unbewussten Erinnerung zu unterscheiden, die sich in jedem Augenblick vollzieht. Es ist auch zu unterscheiden vom Bewusstwerden von Vergangenem in Akten unwillkürlichen Erinnerns, in denen der Erinnernde eine Erfahrung macht, die ihn unmittelbar betrifft: Der Erinnernde ist mit dem Erinnerten verbunden und etwas erinnern heißt aus diesem Grund auch sich erinnern. c) Potenziale des Vergangenen: Es ist an dieser Stelle eine entscheidende Frage, wie über die verdinglichten Verhältnisse hinausgegangen und wie nichtentfremdete Erfahrung gewonnen werden kann. Klar ist, dass der Ansatz für Benjamin in der unwillkürlichen Erinnerung liegt. Denn wie gilt, dass alle Verdinglichung ein Vergessen ist, so gilt auch: »Kritik heißt eigentlich soviel wie Erinnerung, nämlich in den Phänomenen mobilisieren, wodurch sie das wurden, was sie geworden sind, und dadurch der Möglichkeit innewerden, daß sie auch ein Anderes hätten werden und dadurch ein Anderes sein können.« (Adorno 1993: 250) Den modernen Erfahrungsverfall gilt es zu erkennen. Er ist jedoch nicht zur Bestimmung des modernen Menschen zu erklären, sondern durch seine Kritik ist die Möglichkeit seiner Überwindung grundsätzlich beizubehalten. Zu diesem Zweck muss das Vergangene einer neuen Betrachtung unterzogen werden, um in dieser Weise an nicht bearbeitete Erfahrungen heranzukommen.

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Benjamins Erfahrungstheorie zielt nicht auf das Gedächtnis im Sinne eines ›Speicherns‹ von Informationen, sondern auf die Fähigkeit zum Erinnern verschütteter Erfahrung. Dieses Motiv lässt sich nicht bloß auf die je eigene Lebensgeschichte beziehen, sondern auch auf Formen kultureller Erfahrung, die zum einen in Erzählungen des kollektiven ›Funktionsgedächtnisses‹ verdinglicht sind und zum anderen im ›Speichergedächtnis‹ und im ›kollektiven Unbewussten‹ als vergessene bewahrt werden. Wie das Individuum hat auch jedes kulturelle Kollektiv seine Geschichte, in der bestimmte historische Möglichkeiten forciert und verwirklicht und andere liegen gelassen und vergessen wurden. Die Vergangenheit ist aus diesem Grund mehr als nur Vorgeschichte der Gegenwart: Sie bot Optionen, die prinzipiell noch erinnerbar sind. In jedem Augenblick der Geschichte entscheidet sich Benjamin zufolge, ob sich die ›ewige Wiederkehr des Immergleichen‹ fortsetzt oder aus der Erinnerung vergangener Möglichkeiten ein Neues auftaucht. Dieses Auftauchen eines radikal Neuen bezeichnet Benjamin als ›Erlösung‹ und den rettenden Zugriff auf das Vergangene als ›Eingedenken‹ (vgl. Mosès 1992: 139f.). Allem in der Vergangenheit Gescheiterten, kollektiv Verdrängten und Vergessenen soll von Neuem die Chance gegeben werden, in der gegenwärtigen Erfahrung aktualisiert zu werden. Die Hoffnung des Eingedenkens beschreibt ein utopisches Verhältnis zur Vergangenheit und die geschichtliche Zeit hört in ihm auf, als irreversibel zu erscheinen: Im Eingedenken wirkt die Gegenwart rückwärts auf die Vergangenheit ein und verwandelt das Vergangene (vgl. ebd.: 153f.).2

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Max Horkheimer meldet Benjamin gegenüber in seinem Brief vom 16.03.1937 Bedenken bezüglich einer Unabgeschlossenheit der Geschichte an: »Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Letzten Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken jedoch zu sehr materialistisch verseucht. Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und Negativen, so daß das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst im individuellen Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird. Das Gute und das Schlechte verhalten sich nicht in gleicher Weise zur Zeit. Auch für diese Kategorien ist die diskursive, dem Inhalt der Begriffe gegenüber gleichgültige Logik daher unzulänglich.« (Horkheimer 1995: 82f.) Benjamin nimmt diese Stelle aus Horkheimers Brief leicht gekürzt in seine

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Indem Benjamin die geschichtliche Zeit als von den Prinzipien der Kontinuität und der Kausalität unabhängig betrachtet, wird die Korrektur von Irrtümern der Vergangenheit im Licht der Gegenwart ebenso möglich wie das unvorhersehbare Auftauchen neuer Möglichkeiten: das Erscheinen von Neuem in der revolutionären Veränderung der Vergangenheit. Der Begriff der Erlösung richtet sich demnach nicht auf die Erwartung einer Erlösung am Ende einer linearen und kontinuierlichen Zeit, sondern auf die in jedem Augenblick gegebene Möglichkeit, daß sich Neues ereignet (vgl. ebd.: 158f.). Es gilt Benjamin zufolge, die revolutionäre »Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit« (I, 703) wahrzunehmen und die Spuren eines vergessenen oder verdrängten Vergangenen zu lesen, in der Hoffnung, dass die Vergangenheit »einen heimlichen Index mit[führt], durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird« (I, 693). Dabei geht es Benjamin nicht darum, ein zeitliches Kontinuum zu konstruieren, das zu einem eschatologischen Ziel führt, sondern lediglich darum, ›Splitter‹ und ›Funken‹ aufzuzeigen, die in einem jeweils korrespondierenden unterdrückten Vergangenen auf eine zukünftige Erlösung hinweisen (vgl. Liska 2010: 216). Dieser Anspruch basiert zum einen auf der Möglichkeit, vergangene Ereignisse zu vergegenwärtigen, und zum anderen darauf, jeden ›Sieg‹ infrage zu stellen, »der den Herrschenden jemals zugefallen ist« (I, 694). Erlösung wird als Erinnerung aus ihren religiösen und geschichtsphilosophischen Bindungen gelöst und von einer ungewissen Zukunftserwartung zu einem Augenblicksphänomen, das prinzipiell jederzeit erfahrbar ist (vgl. Schöttker 2000: 290f.). Die Augenblicke der tatsächlichen Erfahrbarkeit sind jedoch an das ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ einer unwillkürlichen Erinnerung gebunden. Es geht Benjamin in Analogie zur Psychoanalyse um den Zugang zu einem Vergangenen, das nicht erlebt wurde und darum nicht ›vergangen‹ im Sinne eines abgeschlossenen Ereignisses, sondern unbewusst gegenwärtig geblieben ist: »Je weiter der Geist in die Vergangenheit zurückgeht, desto mehr wächst die Masse dessen, was überhaupt noch nicht Geschichte geworden ist.« (I, 1175)

Aufzeichnungen zum Passagen-Werk auf und kommentiert sie wie folgt: »Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ›festgestellt‹ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.« (V, 589)

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Die historische Erkenntnis im Sinne Benjamins ist Erkenntnis dessen, was noch nicht Geschichte geworden ist, weil seine Möglichkeiten noch nicht verwirklicht wurden. Das Vergangene, auf das diese Erkenntnis abzielt, denkt Benjamin als ein sich in der Zukunft zu verwirklichendes Potenzial. Die Erinnerung stellt für diese nicht verwirklichten Möglichkeiten des Vergangenen, die nicht in die historische Überlieferung eingegangen sind, die Möglichkeit wieder her (vgl. Agamben 1998: 63f.). Die Herstellung eines nicht-entfremdeten Bezugs auf die Geschichte beruht auf der Bewältigung und Aufarbeitung von »Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben« (V, 47). Das ›Durcharbeiten‹ dieses Vergangenen erweist sich dabei als unendliche Aufgabe (vgl. Kramer 2010: 112). Es geht in der Erinnerung nicht darum, die Vergangenheit zu wiederholen, sondern darum, sich von ihr zu befreien, um einen Zugang zum noch nie Gewesenen zu gewinnen (vgl. Agamben 2009: 128, 132). Die Speicherfunktion des Gedächtnisses, die die Ereignisse lediglich archiviert und sie in eine Kontinuität integriert, macht sie im Unterschied zur Erinnerung bloß dem Konformismus der Tradition verfügbar (vgl. Mosès 1992: 138). Vergegenwärtigung bzw. Aktualisierung ist die Grundbedingung, die erfüllt sein muss, um über die gegebenen Bedingungen und Umstände der aktuellen Praxis hinausgelangen zu können: Erinnerung lässt ein Bild der Veränderung gegebener Lebensverhältnisse in der Vergangenheit erscheinen (vgl. Rüsen 2008: 71). Jürgen Habermas bezeichnet Erinnerung im Sinne ihrer widerspenstigen Rolle im Historisierungsprozess als die Widerlegung einer »fugendichten Normalität dessen, was sich nun mal durchgesetzt hat« (J. Habermas 1987: 175). Die Aktualisierung kann sich zu diesem Zweck nicht an die chronologische Ordnung halten, sondern muss die flüchtige Gelegenheit nutzen, in der sich die Möglichkeit zur Rettung und Bewahrung der Potenziale des Vergangenen ergibt. Dies ist für Benjamin allerdings nur eine vage Hoffnung: »Das Eingedenken als der Strohhalm« (I, 1244). Benjamins Erfahrungstheorie mündet in die Vorstellung einer Veränderung der Geschichte durch die unwillkürliche Erinnerung. Die grundlegende Haltung, die dazu befähigen soll, nennt Benjamin ›Geistesgegenwart‹, die deutlich werden lässt, was die aktuelle Situation mit dem Vergangenen verbindet (vgl. I, 1244). ›Geistesgegenwart‹ in diesem spezifischen Sinn darf nicht mit der konzentrierten Anspannung des Bewusstseins verwechselt werden. Sie liegt nicht in der souveränen Kontrolle des Subjekts, aber befähigt zu einer Wahrnehmung, die aus dem Mythos ›erwachen‹ und die Historizität und Veränderbarkeit der Verhältnisse erkennen lässt. Wie Proust beschreibt, vollzieht Erinnerung sich immer zwischen der Unverfügbarkeit und Zufälligkeit des unwillkürlichen Erinnerns und der be-

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wussten Anstrengung. Erinnern wird unwillkürlich ausgelöst, es bedarf aber des Bewusstseins und der Technik, um eine Erinnerung zu halten und ihr nachzuspüren. Das erste unwillkürliche Erinnern ist noch nicht Erinnerung im kritischen Sinn, die sich die Vergangenheit anzueignen imstande ist. Gegenüber den rein konstruktivistischen Konzepten des ›kollektiven Gedächtnisses‹, bei denen der Eindruck entsteht, dass die Erinnerung in der Verfügungsgewalt des Subjekts steht und von diesem willkürlich nach Maßgabe von Interessen und Bedürfnissen der Gegenwart rekonstruiert bzw. aus einem statischen Gedächtnisspeicher geschöpft wird, trägt Benjamin sowohl dem Konstruktionscharakter der Erinnerung als auch den Grenzen der Konstruierbarkeit Rechnung: Erinnerung befindet sich immer in einem Spannungsverhältnis zwischen aktiver Konstitution und geschichtlicher Vorgängigkeit (vgl. Angehrn 1985: 330). Unbewusste Erinnerungsimpulse und eine bewusste Bearbeitung des unwillkürlich Erinnerten wirken zusammen, um das im Gedächtnis Verschüttete zu vergegenwärtigen (vgl. Zumbusch 2004: 115). Die Erinnerung an das, was Erfahrung verhindert, bleibt bei dieser Suche nach den Potenzialen nicht-entfremdeter Erfahrung wesentlich, da der Verlauf der Geschichte, in der bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten entfaltet und andere nicht genutzt und vergessen wurden, als Ursprung gegenwärtig selbstverständlich erscheinender Verhältnisse erscheint. Erinnern und Vergessen beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht mehr vorrangig auf konkrete Ereignisse einer individuellen Vergangenheit, sondern auf historische Möglichkeiten für Erfahrungsweisen: Die Rekonstruktion dessen, was die Möglichkeiten für nicht-entfremdete Erfahrung einst konstituierte, und dessen, was ihre Realisierung verhinderte, löst historische Möglichkeiten aus den vergessenen Bereichen des Vergangenen heraus, bringt sie durch Erinnerung in die Offenheit ihrer Entfaltung und Verhinderung und gewinnt sie damit zumindest der Möglichkeit nach als realisierbare Potenziale wieder. Die Reflexion der Verhinderungen von Erfahrung ermöglicht einen Erkenntnisgewinn, der eine Voraussetzung für Veränderung ist (vgl. zur Lippe 1974: 35). Die Bestimmung der Verdinglichung als Form des Vergessens macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass das Vergangene das Gegenwärtige in der Erinnerung aus seiner Beschränktheit zu führen imstande ist. Um eine solche Erinnerung zu ermöglichen, gilt es, sich bewusst auf das Unbewusste hin durchlässig zu machen (vgl. zur Lippe 2010: 111). Gegenüber der Totaltendenz des ›Funktionsgedächtnisses‹ handelt es sich bei diesem Vergessenen um etwas Widersprüchliches, das nicht in der repräsentierten Identität aufgeht. Im verdinglichten Ausdruck der Identität ist vergessen, dass es nur ein Ausschnitt ist. Aus diesem Grund muss das erstarrte Ganze ver-

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gessen werden, um etwas Neues in die Identitätserzählung integrieren zu können: Erfahrung durch Erinnerung ist immer die Erfahrung eines Neuen. Auch Ricœur zufolge darf das Vergangene nicht unter dem Blickwinkel des Abgeschlossenen, Unveränderlichen und als ein für alle Mal Vergangenes betrachtet werden, um einer Verengung des Erfahrungsraums zu widerstehen. Vergangenheit muss offen werden, um unerfüllte, zurückgehaltene oder mit Gewalt unterdrückte Potenzialitäten des Vergangenen zu neuem Leben erwecken zu können. Nur indem die Erfahrung unbestimmter, die Neuinterpretation der Vergangenheit beeinflussender Erwartungen bestimmter wird, kann nachträglich aus der Vergangenheit eine lebendige Tradition entstehen (vgl. Ricœur 1991: 349). Ricœur betont auch die Notwendigkeit einer Destruktion der Geschichte, sofern sie die Vergangenheit einschließt: »Eine Zeit der Schwebe, in der noch nichts entschieden ist, ist zweifellos vonnöten, damit unsere Zukunftsentwürfe die Kraft haben, die unerfüllten Möglichkeiten der Vergangenheit zu reaktivieren, und damit die Wirkungsgeschichte auf Traditionen aufruht, die noch lebendig sind.« (Ebd.: 388) Auch wenn Ricœur an dieser Stelle nicht auf Benjamin verweist, ist die große Nähe zu dessen Konzeption nicht zu übersehen. Benjamins Ansatz lässt sich in Analogie zur Restauration der Erzählkunst im Sinne von Proust verstehen: Die Geschichte bzw. das ›kollektive Gedächtnis‹ ist nicht mehr durch ein funktionierendes Gemeinwesen fraglos gegeben und muss deshalb mühsam erkämpft und in einer künstlichen Erzählung konstruiert werden. Dieser Umstand ergibt sich aus der widersprüchlichen Lage, die die Forderung aufweist, das Recht des Möglichen gegen das Bestehende geltend machen zu wollen: Einerseits soll der Verfall von Erinnerung und Erfahrung schonungslos diagnostiziert und andererseits Erinnerung und Erfahrung als unverzichtbare Bedingungen der Kritik eingefordert werden (vgl. Zamora 1995: 442). Benjamin bewegt sich in der unauflösbaren Spannung zwischen Vergangenheitsbezug und Kritik der Tradition. Absolute Traditionslosigkeit wirkt ebenso entfremdend wie die Verdinglichung der Tradition, die Kritik an der traditionslosen Gesellschaft kann sich jedoch nicht auf die unbeschädigte Einheit eines ›kollektiven Gedächtnisses‹ beziehen (vgl. König 2008: 165). Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Forderung nach einem selbstreflexiven kritischen Erzählen der Geschichte. Die Gegenwart muss als historisch geworden und trotz aller Bedingtheiten als Produkt des eigenen Handelns begriffen werden, damit die Aneignung der Vergangenheit eine emanzipative Selbsterkenntnis ermöglichen kann. Dazu muss die Vergangenheit geöffnet werden, indem ihre unerfüllten und durch die identitäre Konstruktion der Lebensgeschichte bzw. der kollektiven Geschichte unterdrückten Potenzialitäten erinnert werden.

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Als Kehrseite dieser Konzeption muss festgehalten werden, dass geschichtliche Möglichkeiten immer auch nicht ergriffen werden können. Es gibt keinen ›Speicher‹ aller geschichtlichen Möglichkeiten, die jederzeit verfügbar wären und willkürlich herausgegriffen und verwirklicht werden könnten. Da Benjamin Geschichte von ihren flüchtigen Möglichkeiten her denkt, erscheint sie bei ihm nicht als ein mechanisches Geschehen, sondern als singuläre Tat, als die immer auch verfehlbare Antwort auf eine Möglichkeit (vgl. Hamacher 2002: 148f., 153f.). Die gegebenen historischen Umstände ermöglichen die tatsächliche Realisierung von Erfahrungsweisen nicht jederzeit. Eine wesentliche Pointe des kritischen Ansatzes von Benjamin ist jedoch darin zu erkennen, dass der Erinnernde bereits durch die Reflexion der Verhinderung von Erfahrung ein anderer wird, indem er erfährt, welche Möglichkeiten in seiner Subjektivität zwar angelegt, aktuell jedoch verstellt sind (vgl. Kany 1987: 216f.).

Schluss

Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel, die Bedeutung von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen für die Konstitution menschlicher Identität zu analysieren. Es sollte zum einen eine grundbegriffliche Klärung zum Themenkomplex ›kollektives Gedächtnis‹ geleistet und zum anderen ein Korrektiv zur Konzeption von Jan und Aleida Assmann formuliert werden, da einige ihrer Implikationen problematisch erscheinen. Da der Identitätsbegriff bei Jan und Aleida Assmann im Zentrum steht, beziehen sich auch alle Überlegungen auf ihn. Als Gesamtheit der bis zu einem bestimmten als Gegenwart erlebten Zeitpunkt abgelaufenen Vollzüge und ausgelösten Zustände bildet Vergangenheit ein unmittelbares Korrelat zu Erinnerung und Gedächtnis. Die Vergangenheit prägt die Gegenwart durch Gedächtnisleistungen wie Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten und wird durch die Erinnerung als Erfahrung für die Gegenwart wirksam. Vergangenheit meint also sowohl die Gesamtheit der Prozesse und Zustände, die implizit oder explizit gegenwärtiges individuelles oder kollektives Handeln durch Gedächtnisspuren beeinflussen als auch die bewusst rekonstruierte Geschichte (vgl. Rosa 2001: 617f.). Es gibt keinen Zugriff auf eine Vergangenheit ›an sich‹, sondern immer nur selektiv konstruierte, gegenwärtige Vergangenheit. Als Vergangenheit erscheint all das, was erinnert werden kann. Genau genommen erinnert ein Mensch sich nicht an die Vergangenheit, sondern am Erinnerten wird das Vergehen von Zeit erfahren – was voraussetzt, dass Erinnern keine zeitlose Gegenwärtigkeit meint, sondern von Vergessen unterbrochen ist (vgl. Lotz 2001: 660). Der Titel ›Vergangenheitsverhältnisse‹ drückt aus, dass das Verhältnis zur Vergangenheit durchaus sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann, es verschiedene Verhaltensweisen zur Vergangenheit gibt. Die groben Koordinaten sind dabei die Vorstellung von der Abgeschlossenheit der Vergangenheit und darauf beruhend die bloße Bewahrung von Spuren des Vergangenen einerseits und andererseits die aktualisierende Vergegenwärtigung von Vergangenem. Das Subjekt,

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das zwar uneinheitlich strukturiert ist, sich aber in der Regel als Einheit wahrnimmt, läuft beständig Gefahr, diese Einheit verdinglichend zu fixieren und sich auf diese Weise gegen Erfahrung abzudichten. Die gleiche Gefahr droht der Übertragung des Modells individueller Identität auf das Kollektiv, wenn die konstruierte Abgeschlossenheit der gemeinsamen Geschichte zu einer abgeschlossenen Identität der Gemeinschaft führen soll. Der Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zielt dann in erster Linie auf ein konservatives Modell menschlicher Identität, das ihrem Erhalt und ihrer statischen Fixierung dient. Dieser Vorstellung wurde mit Walter Benjamin ein progressives Modell gegenübergestellt, das die von dieser Vorstellung unberührten deskriptiven Aspekte des ›kollektiven Gedächtnisses‹ ergänzt. Benjamin betont mit der erneuernden Kraft der Erinnerung und des Vergessens gegenüber dem Gedächtnis die Veränderungsfähigkeit von Identitäten und betrachtet das Zusammenspiel von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen mit Bezug auf den von ihm diagnostizierten Verfall der Erfahrung unter einer historischen Perspektive. Es geht ihm um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Erfahrung als Grundlage einer erfüllten Identität, die er mit Vorstellungen von Entfremdung und nicht-entfremdetem Leben verbindet. Für die Möglichkeiten von nicht-entfremdeter Erfahrung und Identität betont er gegenüber einem strikten Konstruktivismus mit Marcel Prousts unwillkürlicher Erinnerung und Sigmund Freuds Archäologie des Unbewussten die Unverfügbarkeit des Erinnerns. Benjamins Modell vermag wichtige, die kollektive Dimension des Gedächtnisses betreffende Erkenntnisse zu integrieren, geht jedoch in Bezug auf den Erfahrungsgehalt der menschlichen Identität im Verhältnis von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in einigen Punkten weit über das Paradigma des ›kollektiven Gedächtnisses‹ hinaus. Zudem ist es imstande, einen spezifisch kritischen Zugriff auf dieses Verhältnis zu bieten. Benjamin charakterisiert seine Konzeption nicht-entfremdeter Erfahrung mit Konzepten, die er zum Teil selbst als unhistorische Modernitätssymptome kritisiert hat (vgl. Schöttker 1999: 266): Sein Erfahrungsbegriff hat Ähnlichkeit mit der ›wahren Erfahrung‹ der Lebensphilosophie, auch wenn er deren zentralen Begriff des ›Erlebnisses‹ dazu benutzt, um Erfahrung gegen ihn zu konturieren. Von Bergson, den er als unhistorisch kritisiert, übernimmt Benjamin die Vorstellung der Verwiesenheit der Erfahrung auf das Gedächtnis, einer ›Dauer‹ im Sinne des Fortexistierens des Vergangenen. Prousts unwillkürliche Erinnerung, die Benjamin als rein private Angelegenheit und aus diesem Grund als für den Erfahrungsbegriff untauglich bestimmt, übernimmt Benjamin als Medium zur Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit. Seine eigene Konzeption der Erfah-

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rung der ›Aura‹ als Wahrnehmung einmaliger Erscheinungen hat Ähnlichkeit mit der Konzeption der ›Korrespondenzen‹ Baudelaires. Bestimmt man Entfremdung als misslungene Aneignung, dann ist die Erinnerung die zentrale Instanz, an der über Entfremdung oder nicht-entfremdete Erfahrung entschieden wird: Auch Räume, Menschen und Dinge werden vermittelt durch die Erinnerung angeeignet. Menschliche Identität ist darum etwas, das sich – tendenziell unverfügbar für die jeweiligen Subjekte – durch die Erinnerung als Selbstreflexion und Aneignung von Erfahrung erst bildet. Das rahmende ›kollektive Gedächtnis‹ lässt sich weder als eine sich von selbst verstehende Kontinuitätsstiftung verstehen, noch liegt diese allein in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Subjekte. Vielmehr geschieht die Aneignung von Erfahrung in der intersubjektiv konstituierten erinnernden Konstruktion narrativer Identität. Als paradigmatisch für die erfüllte geschichtliche Zeit im Unterschied zur homogen dahinfließenden Zeit können die Festtage gelten, die Benjamin zufolge die chronologische Zeit mit qualitativen Aspekten vermitteln und in dieser Weise dazu imstande sind, unwillkürliche Erinnerungen durch gezielte Hinweisreize willkürlich zu provozieren. Auch Baudelaires Plan, seine ›Staatsraison‹, umfasst nach Muster des Kalenders das Aussparen von Tagen des Eingedenkens als »ungleichartige, ausgezeichnete Fragmente« (I, 642), an denen die Erinnerung den ›Korrespondenzen‹ nachspüren kann, um das durch Schockwahrnehmung überbeanspruchte Bewusstsein an einen kultischen Gedächtnisraum zurückzubinden (vgl. Hillach 1980: 118): »›Die Zeit‹, sagt Proust, ›ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende […].‹ Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus.« (I, 637) Es wird an der paradigmatischen Stellung der Tage des Eingedenkens deutlich, dass ›Erfahrung im strikten Sinn‹ Benjamin zufolge nicht auf das innerliche Selbst zu reduzieren ist, sondern dass sich in ihr individuelle mit kollektiven Anteilen verbinden. Dieser Gedanke wird besonders deutlich auch anhand von Benjamins Ausführungen zur Mitteilungsform des Erzählens als Form des ›praktischen Erinnerns‹, d.h. der konstanten, aber diskontinuierlichen Aktualisierung von Erfahrung (vgl. Müller-Funk 2004: 146). Erzählen repräsentiert die Erinnerung in Gestalt eines von Vergessen durchsetzten Textes. Benjamin setzt es direkt mit dem Gedächtnis als dem »epische[n] Vermögen vor allen anderen« (II, 453) in Beziehung. Die Weiterführung der Erinnerung, die Tradition, ist eine intersubjektive Praxis, der die Erzählung als Medium des symmetrischen Erfahrungsaustausches von Mund zu Mund zugrunde liegt, wobei Erzählen und Erfahrung wechselseitig aneinander gebunden sind (vgl. Pethes 1999: 194). Das ›kollektive Gedächtnis‹ lässt sich darum auch als das verstehen, was wiedererzählt

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und immer neu formuliert und revidiert wird (vgl. Hillach 1980: 113). Auch das Erzählen ist Benjamin zufolge in der Moderne von dem Umbruch betroffen, den er als die Krise der Erfahrung und den Verfall der ›Aura‹ bezeichnet (vgl. Honold 2000: 364): Durch das Dominantwerden der ›Information‹ schwinden die Möglichkeiten der Weitergabe von Erfahrungen und Erinnerungen. Die gewandelten Bedingungen der Erinnerung sind wesentlich durch eine Tendenz zur Unerzählbarkeit gekennzeichnet (vgl. Pethes 1999: 323). Im Fest wie in der Erzählung als institutionalisierten Rahmen, durch die eine unwillkürliche Erinnerung aus dem willkürlichen Gedächtnis entstehen kann, ist die ›gute‹, für Erinnerung und Erfahrung notwendige Verdinglichung im Unterschied zur entfremdenden ›schlechten‹ Verdinglichung, die von Marx und Lukács beschrieben wird, wirksam. Für alle Momente des ›kollektiven Gedächtnisses‹ und die mit ihm verbundenen Orientierungen in der Zeit ist Vergegenständlichung notwendig. Die Loslösung von der lebendigen Erfahrung birgt jedoch immer die Gefahr der Instrumentalisierung im Sinne der Identitätspolitik und der Manipulation durch Machthaber. Die identitäre Versuchung besteht dabei Ricœur zufolge darin, dass die Identität im Sinne der Selbstheit (ipse) auf eine Identität im Sinne der Gleichheit (idem) reduziert wird (vgl. Ricœur 2004: 131). Erfüllte Erfahrung und Identität bewegen sich hingegen beständig zwischen Verfestigung und Verflüssigung: Ein vergegenständlichender Ausdruck ist konstitutiv für eine lebenspraktische Orientierung und den intersubjektiven Austausch. Um nicht entfremdend zu wirken, muss er jedoch für Erfahrungen durchlässig bleiben und wird aus diesem Grund immer wieder aufgelöst und neu gebildet. Eine dynamische Konzeption menschlicher Identität ist Ausdruck des grundlegenden Anliegens Kritischer Theorie, den Einzelnen nicht bloß über seine Zugehörigkeit zu Kollektiven zu bestimmen, sondern ein kritisches Bewusstsein zu schärfen. Das ›kollektive Gedächtnis‹ ist aus dieser Perspektive eine konservative Instanz, die ihre Identitätsvorstellungen tendenziell total zu institutionalisieren strebt. Während das Individuum innerhalb des Paradigmas des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gewissermaßen gar nicht existiert, geht Benjamin vom Individuum aus, das durch die kollektiven ›Rahmen‹ der Vergesellschaftung eher beschädigt wird und tendenziell verschwindet. Die Erinnerung des Einzelnen kann gegenüber dieser Überformung des individuellen Gedächtnisses in Richtung auf Kollektivität und Kontinuität eine kritische Instanz sein. Benjamin ist grundsätzlich mit der Annahme eines ›kollektiven Gedächtnisses‹ und einigen der Kennzeichnungen einverstanden, die von Maurice Halb-

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wachs sowie Jan und Aleida Assmann herausgearbeitet werden.1 Die in Lebensformen intersubjektiv eingespielten Erinnerungsgewohnheiten üben einen entscheidenden Einfluss auf die Praxis der Erinnerung und die Darstellung einer Identität in der Erzählung der Lebensgeschichte aus. Außerdem sind Erfahrung und die Erzählung einer Identität auch für Benjamin grundsätzlich mit der Vorstellung von Kontinuität und dem Eingebundensein in Traditionen verbunden sowie von einem einheitlichen Selbst getragen. Er konstatiert jedoch im Verhältnis der individuellen Erfahrung und den kollektiven Bindungen einen grundlegenden Bruch, der sich nicht durch von der Erfahrung losgelöste Erzählungen ›kollektiver Identität‹ und ›Inhalte‹ des ›kulturellen Gedächtnisses‹ ersetzen oder kompensieren lässt. Denn jeder Erinnerungsakt vermittelt nicht nur den Eindruck eines Vergangenen, sondern darüber hinaus ein jeweils gegenwärtig verändertes Verhältnis zu diesem Vergangenen. Das ›Speichern‹ des Vergangenen im Sinne eines willkürlichen Gedächtnisses, dem die Zeit nichts anhaben kann, scheint eine fixierte und verlässliche Identität des Subjekts zu verbürgen, wird jedoch durch die Unwillkürlichkeit des Erinnerns negiert. Aus diesem Grund sind die von Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann analysierten Aspekte des ›kollektiven Gedächtnisses‹ auch für Benjamins Vorstellung des willkürlichen Gedächtnisses maßgeblich, eine normative Wendung der Konzeption des ›kollektiven Gedächtnisses‹ im Sinne einer konservativen Entfremdungstheorie ist jedoch mit seiner kritischen Perspektive nicht mehr vereinbar. Eine ›kollektive Identität‹, die auf die Vereinheitlichung von Zugehörigkeitsbedingungen und die Konstruktion einer Kontinuität notwendig angewiesen ist und die von Halbwachs betonte Pluralität der ›kollektiven Gedächtnisse‹ negiert, kann keine erfahrungsgesättigte Identität vermitteln und wirkt verdinglichend. Die intersubjektiv gültigen Typisierungen sind Modelle, die als soziale Identitätsvorstellungen von den besonderen Umständen und Gegebenheiten des konkreten, einzelnen Lebens abstrahieren und etwa auch beeinflussen, welche Ereignisse überhaupt als identitätsrelevant gelten können. Die Konstruktion und Darstellung einer Identität richtet sich nach kulturellen Rahmenbedingungen und muss intersubjektiv nachvollziehbar sein. Das individuelle Leben ist aber nicht als bloßer Vollzug des kollektiv Vorgegebenen misszuverstehen: Die Voraussetzung für die subjektive Sinnhaftigkeit dieser sozialen Identitäten ist, dass sie ge-

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Detlev Schöttker vermutet, dass Benjamin die Arbeiten Halbwachsʼ kannte, auch wenn er sie nie zitiert hat. Dass Benjamin Halbwachs selbst durch dessen Verbindung zum Pariser Büro des Instituts für Sozialforschung kannte, geht aus zwei Briefen an Horkheimer im November und Dezember 1939 hervor, vgl. 6, 360 und 6, 375; Schöttker 2000: 277.

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genüber den individuellen Erfahrungen aufrechterhalten werden, ohne diese jedoch zu ignorieren. Soziale Identität und individuelle Erfahrungen müssen miteinander vereinbart werden können (vgl. Leitner 1982: 66). Die Reichweite der ›kollektiven Identität‹ und überhaupt der kollektiven Rahmenbedingungen des Erinnerns ist darum in ihrer Bedeutung für die personale Identität einzuschränken. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt das ›kollektive Unbewusste‹, das in intersubjektiv eingespielten Gewohnheiten vergessen wirksam und aus diesem Grund besonders resistent gegen Veränderung ist. Aus der kritischen Perspektive Benjamins kommt es darauf an, das konstruierte Kontinuum des ›Funktionsgedächtnisses‹ zu durchbrechen und die kollektiv unbewussten Gehalte in der Erinnerung bewusst zu machen, um sich zum Subjekt der eigenen Geschichte machen zu können. Praktisch alle Kennzeichnungen des ›kulturellen Gedächtnisses‹ von Jan und Aleida Assmann lassen sich auch auf das individuelle Gedächtnis anwenden: Es ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion, es hat ›festere‹ und ›flüssigere‹ Anteile, vermittelt sich in einer Vielzahl von Medien und umfasst neben der Identitätserzählung einen großen Bereich des aktuell nicht verwendeten Materials. Der große Unterschied ist jedoch, dass die individuelle Identität nicht auf das willkürliche Gedächtnis beschränkt ist, sondern im Gegenteil weit über den Bereich des willkürlich ›Gespeicherten‹ und ›Abgerufenen‹ hinausgeht. Das Gedächtnis lässt sich nicht als ›Speicher‹ denken, aus dem Erinnerungen unverändert abgerufen werden können. Diese Vorstellung des Gedächtnisses als ›Speicher‹ entspricht dem Wunsch nach einer fixierten Identität, der der beständige Wandel in allen Lebensbereichen nichts anhaben kann. Identität wird in der Folge zu einem objektiv wirksamen Fetisch, bei dem vergessen wird, dass er – wie auch immer bedingt – selbst hergestellt wurde. Das Gedächtnis als Möglichkeitsraum und Ausdruck des Subjekts muss beständig durch die konstitutiv diskontinuierliche Erinnerung aktualisiert werden. Diese Aussage bedeutet gleichzeitig, dass das, was für die identitätsrelevante Erinnerung notwendig ist, weit über den Bereich des willentlich Abrufbaren hinausgeht. Das unbewusst Vergessene des Gedächtnisses ist dieses Nichtidentische. Um es paradox zu formulieren: In Bezug auf Erfahrung verweist Identität wesentlich auf Nichtidentität, Kontinuität wesentlich auf Diskontinuität und Ordnung wesentlich auf ›Unordnung‹. Mit diesen Entgegensetzungen ist nicht nur gemeint, dass Identität, Kontinuität und Ordnung jeweils notwendig eines negativen Hintergrunds zur Abgrenzung bedürfen, sondern darüber hinausgehend, dass sie aus ihm schöpfen.

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Der Begriff des Vergessens bezeichnet mit dem ›reflektorischen‹ Vergessen, der Verdinglichung und dem motivierten Vergessen des ›Funktionsgedächtnisses‹ zu kritisierende Aspekte, hingegen mit dem ›epischen‹ Vergessen des Unbewussten und der ›guten‹ Verdinglichung die Voraussetzungen von Erfahrung und nicht-entfremdeter Identität. Das in dieser Weise Vergessene ist ein »Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren« (I, 637). Das Subjekt versucht sein vergangenes, sein ›verlorenes Ich‹ durch die Erinnerung wiederzufinden. Im Rückgriff auf die Fragmentensammlung der Erinnerungen liegt jedoch eine andere Möglichkeit: Das verlorene Ich ist endgültig verloren und ein anderes, noch unbenanntes statt seiner möglich geworden (vgl. Blumenberg 1997: 44f.). Die Suche nach der ›verlorenen Zeit‹ ermöglicht ein Selbstverständnis, in dem sich der Verlust und das Wiederfinden ununterscheidbar miteinander verbinden (vgl. ebd.: 125). Seinen eigenen autobiografischen Versuchen in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert und ihrer Vorstufe, der Berliner Chronik, gibt Benjamin nicht die Gestalt eines epischen Kontinuums, sondern die einer aus kleinen Textstücken bestehenden Sammlung. Diese Art der Darstellung, die seine Kindheitserinnerungen nicht mit der Ordnung einer zusammenhängenden Erzählung verbindet, ist, wie Benjamin an Scholem schreibt, »gegenständlich unbedingt erforderlich« (4, 134), da vergangene Ereignisse in der Erinnerung zu Bildern verdichtet werden, die blitzhaft auftauchen und wieder verschwinden. Die Texte erzählen aus diesem Grund »keineswegs chronistisch«, sondern stellen bruchstückhaft »einzelne Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung« dar (4, 135; vgl. Schöttker 2000: 269). Während Proust aus seinen Erinnerungen einen Roman äußerster Dichte schafft, geht es Benjamin um die flüchtige Gestalt ihrer Bilder (vgl. Lange 2008: 114). Das Ich nimmt in diesen separaten Denkbildern keine klar umrissene Gestalt an. Benjamin verdeutlicht in dieser Weise, dass sich das Subjekt nicht autonom und selbstbestimmt in einem narrativen Kontinuum als Ganzes hervorbringt. Die einzelnen Bilder lassen sich nicht im Sinne eines kohärenten Lebenszusammenhangs zu einer symbolischen Totalität zusammenschließen (vgl. Lemke 2011: 660; Lange 2008: 171). Es handelt sich bei der Berliner Kindheit nicht um chronologisch verbundene Erinnerungsepisoden aus der eigenen Kindheit. Die für eine Autobiografie übliche kontinuierliche Erzählung anhand der Stationen des Lebenslaufs wird abgelöst durch fragmentarische Erinnerungen an Orte und Gegenstände der Kindheit als zentrale Strukturmerkmale des Textes. Benjamin grenzt sein Vorhaben explizit von der Form der Autobiografie ab: »Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite

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gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist.« Dies begründet Benjamin damit, dass es ihm im Unterschied zur Autobiografie nicht um die Zeit, den Ablauf und den stetigen Fluß des Lebens geht, sondern um den Raum, um Augenblicke und das Unstetige: »Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben.« (VI, 488) Nicht der zeitlichen Erstreckung, sondern dem Raum und seinen Stellen, d.h. den dem Kind vertrauten Orten in Haus und Stadt sowie prägnanten Gegenständen gilt somit die Aufmerksamkeit. Diese Bildzeichen macht Benjamin zum Medium seiner Erinnerungen, die wiederum mit Träumen und Reflexionen verknüpft werden (vgl. Lemke 2011: 653; Schöttker 2000: 271). Es handelt sich bei den Texten der Berliner Kindheit nicht um eine Autobiografie aus einer subjektzentrierten und innerlichen Perspektive, sondern um die fragmentarische Vergegenwärtigung verstreuter Orte als den äußerlichen Umständen der kindlichen Erfahrung: Es geht um die »Schauplätze [...], an denen wir andern oder uns selber begegneten« (VI, 491). In dieser Darstellung der räumlichen Struktur der Stadt, ihren Straßen, Plätzen, Monumenten und Wohnungen verbinden sich die individuellen Erinnerungen des Kindes mit den kulturellen Voraussetzungen der Identitätsbildung. Die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen tragen in dieser Weise die Signatur einer ganzen Epoche in Deutschland (vgl. Lemke 2011: 660; Lange 2008: 121). Die ›berliner Kindheit‹ aus dem Titel ist somit durchaus allgemein und überindividuell zu verstehen und nicht ausschließlich im Sinne der Erinnerungen des Autorsubjekts Walter Benjamin. Es geht in den persönlichen Erinnerungen Benjamins nicht nur um seine persönliche Geschichte zum Zweck der Selbstversicherung oder Kontinuitätsstiftung eines Subjekts, sondern auch um das Erinnerungsbild einer Epoche im Sinne der Wiedergewinnung einer Wahrnehmung, die eine generelle Geschichte von Subjektivität in der frühen Moderne veranschaulicht (vgl. Pethes 1999: 278). Zur zentralen Metapher des Erinnerns wird bei Benjamin der Strumpf. Strümpfe, im Kleiderschrank »in althergebrachter Art gerollt und eingeschlagen«, haben »das Aussehen einer kleinen Tasche«. Benjamin beschreibt »das Vergnügen, die Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken«: »Es war ›Das Mitgebrachte‹, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte.« Dann machte sich das Kind nämlich daran, »›Das Mitgebrachte‹ aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln.

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Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte ›Das Mitgebrachte‹ herausgeholt, aber ›Die Tasche‹, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da.« Dieser Vorgang »lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus ›Der Tasche‹ holte.« (VII, 416f.)2 Der Griff des Kindes fördert nichts aus dem Inneren des Strumpfs zutage, sondern zerstört die Doppelung von Form und Inhalt. In dieser Weise wird das Suchen und Hervorholen des Inhalts durch Verlust und gleichzeitige Herstellung der Form selbst zum Dritten. So wie die Kinder nicht genug davon bekommen, »dies beides: Tasche und was darin liegt, mit einem Griff in etwas Drittes zu verwandeln: in den Strumpf, so war Proust unersättlich, die Attrappe, das Ich mit einem Griffe zu entleeren, um immer wieder jenes Dritte: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, einzubringen« (II, 314). Die Verwandlung in ein Drittes verdeutlicht eine Erfahrung der autobiografischen Suche nach der ›verlorenen Zeit‹ und die von Benjamin beschriebene Episode lässt sich als Vorbild für den Prozess des autobiografischen Schreibens verstehen: Der Schreibprozess ist das Dritte, das die Doppelung und Ununterscheidbarkeit von Inhalt und Form erfahrbar macht. Er gilt nicht einem autobiografischen Substrat im Sinne der Vergangenheit oder der Identität im Sinne der Summe lebensgeschichtlicher Erinnerungen, sondern dem Ich des Textes als Bild, durch das die Erinnerungen in der Verwandlung in dieses Dritte als solche lesbar werden. Der Griff, der den Zugang zu diesem Bild schafft, befreit zugleich von der mythischen ›Attrappe‹ des Ichs (vgl. Lange 2008: 130; Lemke 2008: 42; Pethes 1999: 277). Die Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, bestimmt ihn im Guten wie im Schlechten. Sie schafft den ›reflektorischen Charakter‹, ist aber auch die Grundlage der Ermöglichung erinnernder Reflexion. In der vorliegenden Arbeit wurde mit Bezug auf die Begriffstrias Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen die moderne Verfassung menschlicher Identität analysiert, die sich in Spannung befindet zwischen einem geschichtslosen Präsentismus der ›Erlebnisse‹ einerseits und andererseits der Beschwörung eines ›kollektiven Gedächtnisses‹ und einer Identität, die sich vor allem durch die statische Bewahrung bestimmter Inhalte auszeichnet. Eine solche unhistorisch konstruierte Identität verliert ihren Bezug auf Erfahrung, sie wird zur ›zweiten Natur‹ verdinglicht und zum Fetisch, der das Leben der Menschen bestimmt, anstatt von ihm bestimmt zu werden.

2

Der Text Der Strumpf in der Fassung letzter Hand der Berliner Kindheit ist in einer früheren Version leicht abweichend in den Text Schränke integriert, vgl. IV, 283ff.

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Mit Walter Benjamin wurde bezüglich der verschiedenen Vergangenheitsverhältnisse eine Perspektive gewonnen, die den Identitätsbegriff gegenüber der Konstruktion einer bruchlosen Kontinuität als ›kontinuierliche Diskontinuität‹ begreift und dem bloß willentlich verfügbaren Gedächtnis den weit darüber hinausgehenden Bereich einer ›schöpferischen Unordnung‹ entgegensetzt. Diese Konzeption ist in der Lage, das angesichts der medialen Allgegenwart des Gedächtnisbegriffes, der technischen Perfektionierung von Gedächtnisleistungen und der alltäglichen Beschwörung ›kollektiver Identitäten‹ sich einstellende ›Unbehagen‹ (vgl. A. Assmann 2013; Jureit/Schneider/Frölich 2012) theoretisch zu fundieren. Mit ihr wird ein Identitätsbegriff im Sinne eines selbstreflexiven Prozesses gewonnen, der für eine politische Vereinnahmung unbrauchbar ist, da er das individuelle Erfahrungsmoment gegenüber der intersubjektiv verfügbaren und beherrschbaren sozialen Identität stärkt: Während Ordnung die Grundlage für Intersubjektivität ist, ist ›Unordnung‹ die Grundlage für Subjektivität.

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Band III: Kritiken und Rezensionen. Darin: Karl Hobrecker: Alte vergessene Kinderbücher. Berlin: Mauritius-Verlag 1924. 160 S., 12-14; »Alte vergessene Kinderbücher«, 14-22; Bücher, die lebendig geblieben sind, 169-171; Die Wiederkehr des Flaneurs, 194-199; Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt, 203-206; Lob der Puppe. Kritische Glossen zu Max v. Boehns »Puppen und Puppenspiele«, 213-218; Krisis des Romans. Zu Döblins »Berlin Alexanderplatz«, 230-236; Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, 283-290; Pariser Brief (I). André Gide und sein neuer Gegner, 482-495; Ein deutsches Institut freier Forschung, 518-526; Georges Salles, Le regard. La collection, Le musée, La fouille, Une journée, Lʼécole. Paris: Librairie Plon (1939). 301 S. (Erste Fassung), 589-595 Band IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Darin: Einbahnstraße, 83-148; Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, 235-304; Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln, 388-396; Der destruktive Charakter, 396-398; Ausgraben und Erinnern, 400-401; Ibizenkische Folge, 402409; Kleine Kunst-Stücke, 435-438; Für arme Sammler, 598-601; Aussicht ins Kinderbuch, 609-615; Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung, 615-619; Das Taschentuch, 741-745; Anmerkungen des Herausgebers, 881-1098 Band V: Das Passagen-Werk Band VI: Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften. Darin: Curriculum Vitae Dr. Walter Benjamin, 225-228; Berliner Chronik, 465519; Protokolle zu Drogenversuchen, 558-618; Anmerkungen der Herausgeber, 623-828 Band VII: Nachträge. Darin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), 350-384; Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (Fassung letzter Hand), 385-433; Anmerkungen der Herausgeber, 523-726; Nachträge zu den Anmerkungen der Bände I bis VI, 727-881 — (1995–2000): Gesammelte Briefe. Hg. vom Theodor-W.-Adorno-Archiv, 6 Bde., Frankfurt am Main (1-6) — (2010): Über den Begriff der Geschichte (Werke und Nachlaß, Bd. 19), Berlin Bennett, Maxwell R./Hacker, Peter M. S. (2010): Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt Berger, Peter/Luckmann, Thomas (41974): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. Bergson, Henri (1991): Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg — (1994): Zeit und Freiheit, Hamburg

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— (1975c): Konstruktionen in der Analyse, in: ders.: Schriften zur Behandlungstechnik (Studienausgabe, Ergänzungsband), Frankfurt a.M., 393-406 — (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, Frankfurt a.M. Frisby, David (1989): Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück Fromm, Erich (1981): Das Menschenbild bei Marx, in: ders.: Politik und sozialistische Gesellschaftskritik (Gesamtausgabe, Bd. V), Stuttgart, 335-393 Früchtl, Josef (2011): »Großartige Zweideutigkeit«: Kant, in: Klein/Kreuzer/ Müller-Doohm (2011), 311-317 Fuld, Werner (1979): Die Aura. Zur Geschichte eines Begriffs bei Benjamin, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 26, 352-370 — (1981): Walter Benjamins Beziehung zu Ludwig Klages, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 28, 274-287 Fürnkäs, Josef (2000): Aura, in: Opitz/Wizisla (2000a), 95-146 Gadamer, Hans-Georg (1986): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke, Bd. 1: Hermeneutik I), Tübingen Gagnebin, Jeanne Marie (2011): »Über den Begriff der Geschichte«, in: Lindner (2011), 284-300 Garber, Klaus/Rehm, Ludger (Hg.) (1999): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 2, München Gergen, Kenneth J. (1998): Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. Eine sozialkonstruktionistische Darstellung, in: Straub (1998), 170-202 Gerstner, Jan (2013): Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld Giesen, Bernhard (1999): Codes kollektiver Identität, in: Gephart, Werner/Waldenfels, Hans (Hg.): Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a.M., 13-43 — (2002): Soziologische Notizen, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13, 203-205 Giordano, Christian (2002): Erinnern... und Vergessen?, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13, 205-207 Gnam, Andrea (1999): Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« und Walter Benjamins Spätwerk, München Greffrath, Krista R. (1981): Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins, München

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Kany, Roland (1987): Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen Kasper, Judith (2003): Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, München Kastl, Jörg Michael (2004): Habitus als non-deklaratives Gedächtnis. Zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Soziologie, in: sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 5, 195-226 Kaulen, Heinrich (2000): Rettung, in: Opitz/Wizisla (2000b), 619-664 Kemp, Wolfgang (1978): Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft, in: Lindner, Burkhardt (Hg.): »Links hatte noch alles sich zu enträtseln...«. Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt a.M., 224-257 Kible, Brigitte (1998): Subjekt I, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St-T, Basel, Sp. 373-383 Kimmich, Dorothee (2009): »Nur was uns anschaut sehen wir«. Walter Benjamin und die Dinge, in: Brüggemann/Oesterle (2009), 355-369 Kirchhoff, Christine (2009): Zur Nachträglichkeit kollektiver Erinnerungsprozesse: Erinnerung als Entübersetzung, in.: Schmid (2009), 107-120 Kittler, Friedrich A. (1986): Grammophon Film Typewriter, Berlin — (31995): Aufschreibesysteme 1800/1900, München Kittsteiner, Heinz Dieter (1984): Walter Benjamins Historismus, in: Bolz, Norbert/Witte, Bernd (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München, 163-197 Klein, Richard/Kreuzer, Johann/Müller-Doohm, Stefan (Hg.) (2011): AdornoHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar Köhn, Eckhardt (2000): Sammler, in: Opitz/Wizisla (2000b), 695-724 — (2011): »Kleine Geschichte der Photographie«, in: Lindner (2011), 399-406 Konersmann, Ralf (1991): Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt a.M. König, Helmut (2008): Politik und Gedächtnis, Weilerswist Korsch, Karl (1969): Karl Marx, Frankfurt a.M./Wien Koselleck, Reinhart (1979): ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M., 349-375 Kozljanič, Robert Josef (2004): Lebensphilosophie. Eine Einführung, Stuttgart Kramer, Sven (32010): Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg Krämer, Sybille (2000): Das Vergessen nicht vergessen! Oder: Ist das Vergessen ein defizienter Modus von Erinnerung?, in: Paragrana 9, 251-275

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Kranz, Isabel (2011): Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte, Paderborn Krapoth, Hermann/Laborde, Denis (Hg.) (2005): Jahrbuch für Soziologiegeschichte: Erinnerung und Gesellschaft. Hommage à Maurice Halbwachs (1877-1945), Wiesbaden Kreuzer, Johann (1995): PULCHRITUDO – Vom Erkennen Gottes bei Augustin. Bemerkungen zu den Büchern IX, X und XI der Confessiones, München — (1996): »Petites perceptiones«. Über Hintergründe eines Theorems von Leibniz, in: Hubig, Christoph/Poser, Hans (Hg.): Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte. XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Leipzig 1996. Workshop-Beiträge, Band 2, Leipzig, 974-981 — (2001): Der Begriff der Person in der Philosophie des Mittelalters, in: Sturma (2001), 59-77 — (2004): »Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt«. Überlegungen zu einer Notiz Adornos, in: Butzer/Günter (2004), 168-183 — (2008): Zeichen machende Phantasie. Über ein Stichwort Hegels und eine ursprüngliche Einsicht Hölderlins, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2008, 253-278 — (2010): Philosophie, in: Gudehus/Eichenberg/Welzer (2010), 261-272 — (2011): Das Gespräch mit Benjamin, in: Klein/Kreuzer/Müller-Doohm (2011), 373-389 Lachmann, Renate (1993): Kultursemiotischer Prospekt, in: Haverkamp/Lachmann (1993), XVII-XXVII Lange, Katrin (2008): Selbstfragmente. Autobiographien der Kindheit, Würzburg Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (51982a): Das Vokabular der Psychoanalyse, Erster Bd., Frankfurt a.M. — (51982b): Das Vokabular der Psychoanalyse, Zweiter Bd., Frankfurt a.M. LeGoff, Jacques (1992): Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M./New York Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996): Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg Leitner, Hartmann (1982): Lebenslauf und Identität. Die kulturelle Konstruktion von Zeit in der Biographie, Frankfurt a.M. Lemke, Anja (22008): Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, Würzburg — (2011): »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, in: Lindner (2011), 653663

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Danksagung

An dieser Stelle finden die Menschen Erwähnung, die an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren. Mein Freund Jan Ferdinand hat die Arbeit am Text in allen Phasen begleitet und mir durch unzählige Gespräche, das wiederholte Lesen des Textes sowie viele Korrekturen und Änderungsvorschläge sehr geholfen. Johann Kreuzer hat mir die Auseinandersetzung mit der Philosophie Walter Benjamins nahegelegt und die Arbeit an meiner Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, betreut. Andrea Moritz und Gerhard Denschlag haben den Text gelesen und einige wertvolle Korrekturen eingebracht. Mein philosophischer Lehrer und langjähriger Wegbegleiter Reinhard Schulz hat das Zweitgutachten für die Dissertation geschrieben. Meine Lebensgefährtin Marja Moritz hat es mir ermöglicht, neben Erwerbsarbeit und Betreuung unserer Kinder Zeit für die Arbeit am Text zu finden. Ihnen allen danke ich herzlich.

Philosophie Les Convivialistes Das konvivialistische Manifest Für eine neue Kunst des Zusammenlebens (herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer) 2014, 80 S., kart., 7,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2898-2 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2898-6 EPUB: ISBN 978-3-7328-2898-2

Jürgen Manemann Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3324-5 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3324-9 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3324-5

Hans-Willi Weis Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart., 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3175-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Philosophie Jürgen Manemann Kritik des Anthropozäns Plädoyer für eine neue Humanökologie 2014, 144 S., kart., 16,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2773-2 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2773-6 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-2773-2

Franck Fischbach Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) Juli 2016, 160 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

Claus Dierksmeier Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung Mai 2016, 456 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3477-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

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