Vergangenheiten auf der Spur: Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften [1. Aufl.] 9783839421505

Die modernen Kulturwissenschaften können im Anschluss an Carlo Ginzburg als Ausprägungen eines seit dem 19. Jahrhundert

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Vergangenheiten auf der Spur: Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften [1. Aufl.]
 9783839421505

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Einführung
Denunzianten der Vergangenheit? Methodologische Potentiale einer indexikalischen Semiotik für die Historischen Kulturwissenschaften
Geistesgeschichte der Bezugnahme auf Spuren
Traces of Traces in the Semiotic Tradition
Poesie des Überrests. Zur Konstruktion von Vorzeitigkeit in Thürings von Ringoltingen Melusine und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Methodologie der Rekonstruktion aufgrund von Spuren
Historische Quellen als indexikalische Zeichen. Zum Verhältnis zwischen Semiotik und allgemeiner Quellenkunde
Entführung aus dem Detail. Abduktion und die Logik der kulturwissenschaftlichen Forschung
Empirie. Spurensuchen
Griechische Miniaturobjekte als kommunikative und indexikalische Zeichen
Der „schwarze Sklave“ und der „Prophet der Araber“. Khārijitische Herrschaftskonzepte als Spuren frühislamischer Ethnoreligiosität
Spuren dynastischer Repräsentation. Indexikalische Zeichen dynastischer Geltung im Herzogtum Urbino
Auf den Spuren der Französischen Religionskriege. Der Topos einer katholischen Verschwörung in reformierter Propaganda als autoreferentieller Denkrahmen
Verträge als Zeichen. Bündnisverträge europäischer Großmächte im 18. Jahrhundert
„Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht...“ Zum Umgang mit dem Zeichencharakter von Kunst in der reeducation
Autorinnen und Autoren

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Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 10

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.)

Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften

Publikation gefördert durch den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Sascha Weber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2150-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Vorwort ....................................................................... ANDREAS FRINGS/ANDREAS LINSENMANN/SASCHA WEBER

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Einführung Denunzianten der Vergangenheit? Methodologische Potentiale einer indexikalischen Semiotik für die Historischen Kulturwissenschaften ..... 11 ANDREAS FRINGS

Geistesgeschichte der Bezugnahme auf Spuren Traces of Traces in the Semiotic Tradition .............. 35 SØREN KJØRUP Poesie des Überrests Zur Konstruktion von Vorzeitigkeit in Thürings von Ringoltingen Melusine und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch ............................................... 63 MARCO LEHMANN / KERSTIN RÜTHER

Methodologie der Rekonstruktion aufgrund von Spuren Historische Quellen als indexikalische Zeichen Zum Verhältnis zwischen Semiotik und allgemeiner Quellenkunde .............................................................. 107 SASCHA WEBER Entführung aus dem Detail Abduktion und die Logik der kulturwissenschaftlichen Forschung ............................. 115 ANDREAS FRINGS

Empirie. Spurensuchen Griechische Miniaturobjekte als kommunikative und indexikalische Zeichen ...................................... 149 OLIVER PILZ Der „schwarze Sklave“ und der „Prophet der Araber“ Khārijitische Herrschaftskonzepte als Spuren frühislamischer Ethnoreligiosität .................................. 173 MICHAEL ROHSCHÜRMANN Spuren dynastischer Repräsentation Indexikalische Zeichen dynastischer Geltung im Herzogtum Urbino ................................................... 195 SEBASTIAN BECKER

Auf den Spuren der Französischen Religionskriege Der Topos einer katholischen Verschwörung in reformierter Propaganda als autoreferentieller Denkrahmen ............................... 213 ALEXANDRA SCHÄFER Verträge als Zeichen Bündnisverträge europäischer Großmächte im 18. Jahrhundert ....................................................... 247 CHARLOTTE BACKERRA „Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht…“ Zum Umgang mit dem Zeichencharakter von Kunst in der reeducation ....................................... 261 ANDREAS LINSENMANN Autorinnen und Autoren ............................................ 277

Vorwort ANDREAS FRINGS/ANDREAS LINSENMANN/SASCHA WEBER

Der vorliegende Sammelband ist ein ganz besonderer: Er ist die erste Veröffentlichung des Forums Junge Kulturwissenschaften im Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Der Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften wurde 2008 im Rahmen der „Forschungsinitiative 2008-2011“ des Landes Rheinland-Pfalz gegründet. Dass Nachwuchsförderung in einem solchen Forschungsschwerpunkt eine Rolle spielen würde, war klar; ungewöhnlich war jedoch sicher die Entscheidung, diese Nachwuchsarbeit dem Nachwuchs selbst zu überlassen und ihm, anders als dies der Begriff „Nachwuchs“ suggerieren mag, zuzutrauen, dass er sehr wohl auch selbst herausfinden und benennen kann, was er braucht und womit er sich beschäftigen möchte – auch über Fächergrenzen hinweg. Das Forum Junge Kulturwissenschaften, das seitdem ganz aus eigener Forschungs- und Diskussionsdynamik heraus kontinuierlich arbeitet und immer wieder sowohl neue Themen für die Weiterarbeit als auch Anknüpfungspunkte zum Forschungsschwerpunkt selbst findet, hat sich seither als eine der produktivsten Nachwuchs-Institutionen der JGU Mainz (neben bekannteren wie etwa dem naturwissenschaftlichen Publikationsprojekt „Journal of Unsolved Questions“) etabliert. Der vorliegende Sammelband geht auf den ersten wissenschaftlichen Workshop zurück, den das Forum Junge Kulturwissenschaften am 25. Juni 2010 unter dem Titel „SPURENSUCHE. Methodologische Potentiale der Semiotik in der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung“ veranstaltete. Als Experte eingeladen war der dänische Philosoph und Theoretiker der Geisteswissenschaften Prof. Dr. Søren Kjørup

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Vergangenheiten auf der Spur

(Roskilde Universitet). Er schien uns für einen solchen Workshop besonders geeignet: Als Semiotiker hat er mehrfach auf die Relevanz indexikalischer Zeichen aufmerksam gemacht. Er gehört zudem zu jenen Geisteswissenschaftlern, die auch für Diskussionen der analytischen Philosophie sensibilisiert sind, wenig beachtete Autoren zu ihrem Recht bringen (im Hinblick auf eine Semiotik des Bildes z.B. Nelson Goodman), stark beachtete Autoren wie etwa Roland Barthes mit der notwendigen und angemessenen Respektlosigkeit kritisch in den Blick nehmen und zugleich einen Blick für internationale Forschungsdiskussionen (u.a. die englische, französische, deutsche und nordeuropäische Diskussionslandschaft) bewahrt haben. Der Workshop selbst, auf den die meisten hier versammelten Beiträge zurückgehen, verlief lebhaft, kritisch und zugleich in guter Gesprächsatmosphäre und bewies so auch, dass das Projekt Forum Junge Kulturwissenschaften funktionieren kann. Nicht gehalten wurden lediglich der Beitrag von Andreas Frings über die Rolle der Abduktion sowie der Beitrag von Kerstin Rüther und Maro Lehmann über die „Poesie des Überrests“ – Kerstin Rüther hatte für die Zwecke des Vortrags und des Impulses für die Diskussion zunächst den höfischen Roman vorgestellt („Die Spur und die Narbe. Das materielle Gedächtnis und die Zeichenordnung des höfischen Romans“). Für die finanzielle Förderung des Workshops – und auch dieses Bandes – danken wir dem Forschungschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften an der JGU Mainz sehr herzlich. Das gilt auch für die Aufnahme dieses Sammelbandes in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften. Wir hoffen, dass auch dieser Band selbst als Spur lesbar wird, als Spur der Begründung eines Fachgrenzen überschreitenden kulturwissenschaftlichen Diskussionszusammenhangs, der mit diesem Workshop nicht endet, sondern erst Fahrt aufnimmt und weitere Workshops, Tagungen und vor allem das konstante wissenschaftliche Gespräch generiert. Und das, wenn möglich, auch über die Grenzen des Forums selbst und der JGU Mainz hinaus.

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Denunzianten der Vergangenheit? Methodologische Potentiale einer indexikalischen Semiotik für die Historischen Kulturw issenschaften ANDREAS FRINGS

„Methodologische Potentiale einer indexikalischen Semiotik für die Historischen Kulturwissenschaften“ – eine solche Ankündigung im Untertitel mag Erstaunen hervorrufen, wenn nicht gar Langeweile. Es klingt nach einem der vielen kulturwissenschaftlichen Spezialthemen, die für „Außenstehende“ wie Esoterik anmuten, wie eine Wissenschaft nur für Eingeweihte. Der Begriff des „Index“ jedoch, der unter anderem mit „Denunziant“, „Verräter“ oder „Spion“ übersetzt werden könnte, deutet schon eine gewisse Subversion an, die hiermit geplant ist. Der vorliegende Beitrag soll nämlich zeigen, dass es bei der Diskussion um die indexikalische Semiotik gerade nicht um hochspezialisierte Kulturwissenschaft, sondern um wissenschaftstheoretische Grundfragen der Kulturwissenschaften geht. Zugleich geht es um die Frage, wie wir Spuren der Vergangenheit eigentlich dazu bringen, eben jene Vergangenheit zu „denunzieren“. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass Historische Kulturwissenschaftler der Rekonstruktion und Interpretation vergangener kultureller Sachverhalte auf der Spur sind. Auch wenn es keinen standardisierten, für Kulturwissenschaftler verbindlichen Kulturbegriff gibt, existiert doch ein gewisser Konsens, der vor allem auf symbolische Ausdrucksformen menschlichen Daseins in der Welt zielt: 11

Andreas Frings

„Der Kulturbegriff, den ich verwende, […] bezeichnet ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln.“1

Kulturw issenschaft liche Methode nach Clifford Geertz Will man sich mit so verstandenen kulturellen Sachverhalten der Vergangenheit auseinandersetzen, bedarf dies besonderer methodischer Anstrengungen, denn die (Systeme von) Bedeutungen sind nicht ohne weiteres zugänglich; empirisch erfahrbar sind nur die Ausdrucksformen, nicht die mit ihnen verbundenen Bedeutungen. Clifford Geertz schlug deshalb die „dichte Beschreibung“, eine Bedeutungen interpretierende Art der Erzählung, als angemessenen Zugang zur vergangenen kulturellen Wirklichkeit vor.2 Den methodischen Kern seines interpretatorischen Zugriffs beschrieb Clifford Geertz in Anlehnung an den Philosophen Gilbert Ryle folgendermaßen:

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GEERTZ, 1983d, S. 46. Es mag nicht fair erscheinen, einen Artikel, der sich als Beitrag zur Theorie- und Methodendiskussion in den Historischen Kulturwissenschaften versteht, um eine Kritik an einer Autorität der frühen kulturwissenschaftlichen Diskussionen aufzubauen, deren Stern in den letzten Jahren eher gesunken ist. Während Clifford Geertz mit dem „ethnologischen“ Kulturbegriff (in der Ethnologie würde man ihn wohl kaum als verbindlich ansehen), der „dichten Beschreibung“ und dem balinesischen Hahnenkampf im späten 20. Jahrhundert unter Historikerinnen und Historikern rege diskutiert und vielfach „angewandt“ wurde, hat die Marke Clifford Geertz ihr Potential in der Drittmittelgenerierung inzwischen weitgehend eingebüßt; Clifford Geertz wird heute seltener zitiert. Das ändert jedoch zum einen nichts daran, dass seine Überlegungen inhaltlich weiter fruchtbar diskutiert werden können. Zum anderen geht es bei den folgenden Überlegungen nicht darum, Clifford Geertz selbst kritisch zu lesen oder gar exegetisch zu traktieren, sondern vielmehr darum, grundsätzliche Überlegungen vorzustellen, die sich meines Erachtens sehr gut entlang der methodologischen Konzeptionen von Clifford Geertz entwickeln lassen.

Denunzianten der Vergangenheit?

„Stellen wir uns […] zwei Knaben vor, die blitzschnell das Lid des rechten Auges bewegen. Beim einen ist es ein ungewolltes Zucken, beim anderen ein heimliches Zeichen an seinen Freund. Als Bewegungen sind die beiden Bewegungen identisch […]. Es ist nicht etwa so […], dass derjenige, der zwinkert, zwei Dinge tut – sein Augenlid bewegt und zwinkert –, während derjenige, der zuckt, nur sein Augenlid bewegt. Sobald es einen öffentlichen Code gibt, demzufolge das absichtliche Bewegen des Augenlids als geheimes Zeichen gilt, so ist das eben Zwinkern. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt: ein bißchen Verhalten, ein wenig Kultur und – voilà – eine Gebärde.“3

In Anlehnung an Gilbert Ryle entwickelt Clifford Geertz hieraus seine Vorstellung von einer „dichten“ Beschreibung: Während eine „dünne“ Beschreibung nur das äußerlich zu beobachtende Zucken des Augenlids anspricht, erzählt eine „dichte“ Beschreibung den gleichen Vorgang als „Zwinkern“, sie interpretiert gleichsam das Zucken als Zwinkern und erzählt es damit im Rahmen seiner Bedeutung. Den Gegenstand der Ethnologie, man könnte hier ergänzen: der Kulturwissenschaften beschreibt er demgemäß als „geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden […].“4 Die Frage, die sich an diese Gegenstandsbestimmung anschließt, lautet dementsprechend: „Was wird mit ihnen [dem parodierten Zwinkern oder anderen Gesten; A.F.] und durch sie gesagt – Lächerlichkeit oder Herausforderung, Ironie oder Ärger, Hochnäsigkeit oder Stolz?“5 Damit stehen Zeichen im Zentrum des kulturwissenschaftlichen Arbeitens, zumindest im Verständnis von Clifford Geertz, das ich für die Zwecke dieser Ausführungen als beispielhaft unterstellen möchte (denn tatsächlich beschäftigen sich alle Kulturwissenschaften, ob historisch oder systematisch, mit bedeutungsvollen Hervorbringungen menschlichen Handelns), mit Zeichen. Kulturwissenschaftliches Arbeiten ist somit immer schon eingebettet in eine Arbeitsweise, die in diesem Sinne als semiotisch begriffen 3 4 5

GEERTZ, 1983b, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 16.

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werden kann, und die modernen Kulturwissenschaften können in Anschluss an einen beeindruckenden Essay des italienischen Historikers Carlo Ginzburg6 durchaus als Ausprägungen und Fortentwicklungen eines seit dem 19. Jahrhundert dominanten, semiotischen Indizienparadigmas angesehen werden, das an sehr alte Formen der Spurensuche und des Fährtenlesens anknüpft. Damit ist jedoch ein recht enges Verständnis von Semiotik angesprochen; denn Clifford Geertz hebt ganz im Sinne eines engen Verständnisses von Kulturwissenschaft allein auf bedeutungstragende Zeichen ab, auf Zeichen, die Produkt menschlichen Handelns sind und etwas vermitteln sollen, denen also vom Handelnden bereits eine Bedeutung zugeschrieben wird. Geertz orientiert sich mithin ausschließlich an Symbolen, nicht an anderen Zeichen, die in der langen Geschichte der Semiotik ebenfalls diskutiert worden sind.

Semiotische Zeichenbegriffe Als umfassende Lehre von den Zeichen befasst sich die kulturwissenschaftliche Semiotik mit Zeichen aller Art, anders gesprochen: mit Artefakten und Überbleibseln menschlichen Handelns, die Informationen über Zeit und Raum hinweg übermitteln. Die Genese der Semiotik selbst reicht weit zurück; vor allem seit dem 19. Jahrhundert jedoch hat sie kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Es verwundert daher wohl nicht, dass semiotische Terminologien, Konzepte und Modelle nicht nur in den klassischen Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern auch in der Medizintheorie, der Rechtswissenschaft oder anderen Sozial- und sogar Naturwissenschaften Anwendung finden. Als klassischer Gegenstand der Semiotik gelten heute die Produktion und Interpretation von Zeichen. Zeichen sind dabei zunächst definiert als „etwas, das für etwas anderes steht“, oder, in der ausführlicheren Definition von Charles Sanders Peirce:

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Vgl. GINZBURG, 1993. Eine interessante Erweiterung, die Parallelen zwischen der Einführung des juristischen Indidizienbeweises und der Arbeitsweise des Historismus aufdeckt, bietet SAUPE, 2007.

Denunzianten der Vergangenheit? „A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity.“7

Peirce differenziert dabei Index (ein Zeichen, das zu dem Bezeichneten in einer kausalen Beziehung steht), Ikon (ein Zeichen, das dem Bezeichneten ähnlich sieht) und Symbol (ein Zeichen, das zu dem Bezeichneten in einer willkürlichen, z.B. durch Konvention geschaffenen Beziehung steht). Paradigmatisch denkt man bei solcherart definierten Zeichen meist an Wörter oder Bilder. Tatsächlich hat sich der deutlich größere Teil semiotischer Bemühungen in der jüngeren Vergangenheit auf konventionelle Zeichensysteme wie Sprachen oder auch auf Bilder gerichtet. Auch die mit der Semiotik verwandte Semiologie/Semeologie im Anschluss an Ferdinand de Saussure oder Roland Barthes, also die „Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“8, konzentriert sich im Wesentlichen auf konventionelle Zeichensysteme, also auf Sprachen oder auch Schriften, Höflichkeitsformeln oder militärische Signale. Clifford Geertz’ Konzentration auf jene Zeichen, die Menschen in einem gegebenen kulturellen Kontext verwenden, um damit etwas zum Ausdruck zu bringen, fällt also nicht aus dem Rahmen. Damit gerät jedoch eine wichtige semiotische Tradition teilweise in Vergessenheit: die Konzentration auf die indexalischen Zeichen, auf Zeichen also, die nur deshalb für etwas stehen, weil dieses Etwas ihre Existenz kausal verursacht hat – und die erst durch das Auge des Betrachters (genauer: durch eine entsprechende Frage) zum Zeichen werden. Beispiele hierfür sind unabsichtlich hinterlassene Fußabdrücke, Spuren von Lagerfeuern und Müllabladestätten oder Ähnliches, die natürlich Hinterlassenschaften menschlichen Handelns sind, bedeutungsvollen menschlichen Handelns, die aber selbst nicht bedeutungstragend sind. Schon in der Antike wurde das Augenmerk eher auf solche Zeichen von etwas als auf Zeichen für etwas gelegt. Zeichen galten als Spuren, deren Ursprung herauszufinden war, als Symptome eines bisher noch nicht entdeckten Sachverhaltes, den es aufzuspüren galt. 7 8

PEIRCE, ca. 1897, CP 2.228. (Ich folge hier der für Charles S. Peirce international üblichen Zitierweise.) SAUSSURE, 2001, S. 19.

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Diese indexikalische Semiotik hat in den Geistes- und Kulturwissenschaften eine lange Tradition. Wie Carlo Ginzburg in dem schon angesprochenen Essay gezeigt hat, gehört sie wesentlich zur Entstehungsgeschichte der modernen Geisteswissenschaften. Das von ihm „Indizienparadigma“ genannte epistemologische Modell weist er in den Arbeiten des Kunsthistorikers Giovannio Morelli, in der Struktur der Sherlock Holmes-Romane, in der Entwicklung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud und in der Entdeckung des Fingerabdruckes als kriminalistischem Identifikationsmerkmal durch Francis Galton nach; er umschreibt damit „eine Vorgehensweise, die sich auf die Analyse von Einzelfällen richtete, welche sich nur durch Spuren, Symptome und Indizien rekonstruieren ließen.“9 Das Indizienparadigma, so Ginzburg, begründe die modernen historischen Wissenschaften und statte sie mit eigenen wissenschaftstheoretischen Problemen aus. Diese Traditionslinie einer auf indexikalische Zeichen konzentrierten Semiotik ist weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden; überlebt hat sie allenfalls in den quellenkundlichen Hilfsdisziplinen oder den methodischen Handouts der einzelnen historisch-kulturwissenschaftlichen Fächer, etwa als allgemeine Quellenkunde in der Geschichtswissenschaft oder als ikonologische Interpretation (dritte Ebene der Ikonologie nach Erwin Panofsky), jedoch ohne dass dies in semiotischer Terminologie reflektiert würde (und damit ohne das Potential der semiotischen Tradition bergen zu können). Und obwohl viele theoretische und methodische Diskussionen in den historisch-kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen in den letzten Jahrzehnten darauf abzielten, von alten intentionalen Schemata wegzukommen und etwa den Autor eines Textes in den Hintergrund treten zu lassen, wird in den semiotischen und semiologischen Diskussionssträngen weiterhin vor allem an jenen Autoren und Denkmodellen festgehalten, die Zeichen als Ikone und Symbole, also als Produkt bewussten menschlichen Handelns, thematisieren.

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GINZBURG, 1995, S. 17.

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Potentiale einer indexikalischen Semioti k Für die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung stellt sich nun die Frage, ob nicht gerade diese Tradition, die Aufmerksamkeit für indexikalische Zeichen, zu Unrecht verloren gegangen ist, ob sie nicht für methodologische Fragen fruchtbar gemacht werden könnte, ob sie nicht vielleicht Probleme kulturwissenschaftlicher Forschung besser beschreiben kann als eine auf willkürlich produzierte und konventionalisierte Zeichen konzentrierte Semiotik und ob nicht vielleicht sogar indexikalische Zeichen den umfassenderen Zugriff auf Zeichen aller Art bieten. Die These dieses Sammelbandes ist dementsprechend provokant formuliert: Eine auf indexikalischen Zeichen konzentrierte Semiotik ist der angemessenere methodologische Zugriff auf grundlegende Forschungsprobleme der Historischen Kulturwissenschaften als eine auf menschliche Symbolsysteme konzentrierte Perspektive (die in der ersteren eingeschlossen wäre). Das möchte ich kurz in Form von wenigen Thesen erläutern.

1. Historische Kulturwissenschaftler arbeiten mit Quellen im weitesten Sinne, also mit all jenen „Texte[n], Gegenstände[n] oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“10 – so die klassische Definition einer geschichtswissenschaftlichen Quelle von Paul Kirn. Quellen sind aber im semiotischen Sinne vermutlich das Gleiche wie indexikalische Zeichen; sie stehen in einer kausalen Beziehung mit dem, worauf sie verweisen (das wird zumindest vermutet); und nur insofern haben sie auch eine Aussagekraft für das untersuchte Problem. (Diese Gedanken könnte man weiter ausführen; Sascha Weber hat genau diese Relation in seinem Beitrag für diesen Band untersucht.) Was nun zunächst wie eine rein geschichtswissenschaftliche Methodenfrage im engeren Sinne aussehen mag, gilt natürlich nicht weniger für andere Kulturwissenschaftler: Auch der Ethnologe Clifford Geertz, der gemeinsam mit anderen Teilnehmern eines balinesischen Hahnenkamp10 KIRN, 1968, S. 29.

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fes vor der Polizei flieht und so Zugang zur lokalen Kultur findet, wird nicht einfach von Balinesen über das kulturelle System informiert – er muss es sich erarbeiten. Zum einen steht ein kulturelles System, in dem Menschen leben, diesen nicht zur freien Reflexion offen, sondern entzieht sich zumindest in Teilen der Reflexion und damit auch der Mitteilbarkeit. Vor allem aber sind alle symbolischen Ausdrucksformen, mit denen die Balinesen Geertz möglicherweise unterrichten wollen, Symbole innerhalb eines kulturellen Kontextes, dessen Mitglied Geertz zunächst einmal gar nicht ist. Alle empirischen Erfahrungen, die Geertz mithin auf Bali macht, seien es kommunikative Äußerungen, Artefakte oder etwas anders, sind in diesem Sinne „Quellen“ für Geertz’ Forschung. Nichts anderes gilt für Romane oder Novellen als „Quellen“ des Literaturwissenschaftlers.11

2. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Quellen sprachlich oder bildlich verfasst sind, ob ihr Produzent sie bewusst oder unbewusst produziert hat oder ob sie im gegebenen historischen Kontext tatsächlich Ikon oder Symbol waren. Dem Forscher treten sie immer als indexikalische Zeichen gegenüber; denn selbst wenn z.B. ein Mensch der Frühen Neuzeit seinem Gegenüber zuzwinkert, um im anfangs vorgestellten Bild von Clifford Geertz zu bleiben, dann ist dies zwar ein bedeutungsvolles Zeichen, aber nur innerhalb des kulturellen Kontextes jener Zeit; für den historisch-kulturwissenschaftlichen Forscher ist dieses Zwinkern immer nur Index jener möglicherweise symbolischen Handlung. 12 Es richtet sich nicht an ihn, und es ist aus seiner Sicht zunächst einmal ein Symptom oder eine Ausprägung jenes kulturellen Kontextes, für den er 11 Eine interessante Diskussion des Problems der Erstübersetzung findet sich bei QUINE, 1980 (vgl. das bekannte Beispiel des „Gavagai“) und in der hierüber geführten Diskussion; im Rahmen dieses Aufsatzes kann ich hierauf leider nicht eingehen. Vgl. beispielsweise CAPPAI, 2000; ders., 2003. 12 Da die historische Kulturwissenschaftlerin zudem immer nur aus Texten oder Bildern von diesem Augenzwinkern erfährt, sind streng genommen jene Texte oder Bilder die eigentlichen indexikalischen Zeichen, die uns vom Augenzwinkern als für uns ebenfalls indexikalischem Zeichen erzählen – aber darauf kommt es mir hier nicht an.

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sich interessiert. Es ist der kulturelle Kontext, der dieses Symptom verursacht hat (neben dem individuellen Zwinkernden, der sich hier des kulturellen Repertoires absichtsvoll bedient hat) und in dem es seine Bedeutung trägt. Das Zwinkern ist somit gleichzeitig Symbol und Index, je nach Rahmen, aber für den Historiker eben zunächst einmal Index. Historische Kulturwissenschaftler haben es demgemäß permanent mit indexikalischen Zeichen zu tun. Die Dreiteilung in Index, Ikon und Symbol ist also keineswegs wechselseitig ausschließend. Es hängt vielmehr von der Perspektive ab, ob ein Sachverhalt oder ein Artefakt zutreffend als Ikon, als Symbol oder als Index bezeichnet werden können. Ob beispielsweise die Charakterisierung eines Artefaktes als Symbol zutreffend ist, hängt davon ab, ob es sich um ein Zeichen handelt, dessen Beziehung zum Bezeichneten willkürlich hergestellt wurde. Ob es sich um Ikone handelt, hängt wesentlich davon ab, was wir als „Ähnlichkeit“ in der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gelten lassen wollen. Insbesondere aber gilt: Alle Symbole und Ikone können als indexikalisches Zeichen betrachtet und genutzt werden, als Spuren etwa einer Sprachhandlung oder eines bildgestaltenden Aktes, und genau in diesem Sinne ist der Index (und nicht etwa das Symbol) der umfassende Zeichenbegriff, von dem auszugehen sein wird, wenn man sich überlegt, wie Historische Kulturwissenschaftler mit Zeichen (Spuren, Symptomen usw.) arbeiten.

3. Wenn man Zeichen wie das Augenzwinkern eines frühneuzeitlichen Menschen als indexikalisches Zeichen begreift, dann hat dies eine weitere Konsequenz: Indexikalische Zeichen existieren nicht als solche in der Welt, sie werden erst durch eine spezifische Fragestellung des Forschenden zur Quelle, zum Zeichen, das Auskunft über die interessierende Vergangenheit gibt: „Indexe sagen uns etwas über die Welt, aber nicht, weil uns irgend jemand etwas über die Welt erzählen will; wir müssen vielmehr selbst danach Ausschau halten und sie deuten, wenn wir irgendetwas wissen wollen. Anders ausgedrückt: Nichts ist per se ein indexikalisches Zei-

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Andreas Frings chen, aber alles kann zu einem indexikalischen Zeichen werden, nämlich dann, wenn es von irgendjemand als Zeichen aufgefasst und gedeutet wird.“13

Dahinter steckt zum einen die inzwischen sicher triviale Behauptung, dass alle wissenschaftliche, auch historisch-kulturwissenschaftliche Erkenntnis von einer Frage ausgeht. Was als Quelle dienen kann, ist selbstverständlich nur unter einer spezifischen Fragestellung angebbar, und auch das nur, wenn die Kontrastklasse der Frage hinreichend präzisiert ist. Zum anderen aber geht es um mehr: um die Vermutung, dass Historiker ihre Quellen mitunter erst produzieren oder so transformieren, dass sie erst zur Beantwortung einer Frage taugen. Das ist etwa in der Oral History der Fall, aber auch in der statistischen Aufarbeitung disparater Überreste wie Lohnzettel, Rechnungen oder Wetteraufzeichnungen. Irritierend ist dennoch die nicht selten anzutreffende Idee, eine Spur werde zur Spur erst „im Auge des Betrachters“. So reizvoll diese Metapher sein mag, ist sie dennoch nicht zutreffend, denn damit wäre zwischen „echten“ und „falschen“ Spuren nicht mehr sinnvoll zu unterscheiden, also zwischen Artefakten und Sachverhalten, die mit dem eigentlich interessierenden Sachverhalt in kausaler Beziehung stehen. Diese kausale Beziehung ist an sich keine Zuschreibung durch den Betrachter, sondern sie besteht zwischen den untersuchten Sachverhalten – oder sie besteht nicht. Natürlich kann der Forscher über diese kausale Beziehung nur Vermutungen anstellen, und das ist der Punkt, an dem die Theorie ihre Rolle spielt: Sie erlaubt es dem Forscher, kausale Beziehungen zu unterstellen, über deren tatsächliches Vorliegen er prinzipiell kein sicheres Wissen erlangen wird. Die Spur wird somit nicht „im Auge des Betrachters“ zur Spur – aber sie ist es natürlich auch nicht „an sich“. Selbst wenn die kausale Beziehung im oben genannten Sinne besteht, ist damit noch kein „Zeichen“, keine „Spur“ konstituiert; das entsteht erst durch eine Fragestellung. Zur Spur wird somit etwas durch eine entsprechende Befragung – und die entsprechend unterstellte, prinzipiell durchaus wahre oder falsche kausale Beziehung zum interessierenden Sachverhalt.

13 KJØRUP, 2009, S. 37-38.

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4. Mit der Konzentration auf indexikalische Zeichen treten auch die Erklärungsprobleme historisch-kulturwissenschaftlicher Forschung deutlicher hervor. Indexikalische Zeichen sind definiert durch ihre kausale Beziehung zum Bezeichneten; der Fokus auf indexikalische Zeichen spricht damit auch Fragen der Kausalität und der Logik an: „Der alte indexikalische Zeichenbegriff ist, wie man deutlich erkennen kann, auch eng mit den Begriffen Kausalität und Logik verknüpft, also mit der Frage, an welche Kausalzusammenhänge man glauben soll und wie man von dem einen Einzelfall auf einen anderen – oder auf die Gesamtheit der Fälle – schließen kann.“14

Es handelt sich hier um Fragen, die in der historisch-kulturwissenschaftlichen Grundlagendiskussion nicht selten zu kurz kommen. Der Siegeszug der deduktiven Logik nach Karl Popper und Carl G. Hempel in der Mitte des 20. Jahrhunderts hatte nicht nur Historiker, sondern Kulturwissenschaftler allgemein in ein Dilemma gestürzt, da sie in ihren eigenen Erklärungen selten oder nie allgemeine Sätze verwendeten. „Gesetze“ im Sinne der deduktiven Logik wurden zudem in aller Regel explizit abgelehnt. Das daraus entstehende Dilemma wurde mitunter im Rückgriff auf Wilhelm Dilthey angegangen, indem etwa das Verstehen als genuin geisteswissenschaftlicher Zugang dem Erklären der exakten Wissenschaften gegenübergestellt wurde; befriedigend war das auf Dauer jedoch nicht. Für eine semiotische Arbeitsweise scheint sich jedoch auch ein alternatives Verfahren anzubieten. Nach Peirce kommen für die Beschäftigung mit Zeichen aller Art (d.h. auch mit indexikalischen Zeichen) die klassischen Schlussverfahren der Induktion (d.h. des Schlusses von Einzelbeobachtungen auf eine allgemeine Aussage) und der Deduktion (d.h. der Ableitung konkreter Einzelaussagen aus allgemeinen Sätzen) nicht in Frage. Stattdessen sei die Abduktion die alltägliche, wenn auch logisch nicht zwingende Schlussweise. Mit Abduktion meint er die Ableitung der Randbedingungen aus der Kenntnis allgemeiner Sätze

14 KJØRUP, 2001, S. 213.

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und der Einzelbeobachtung; von der Kenntnis, unter welchen allgemeinen Umständen das zu erklärende Einzelphänomen erwartbar sei, werde auf das Vorliegen eben dieser allgemeinen Umstände geschlossen: „The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course, Hence, there is reason to suspect that A is true.“15

Auch für Peirce war die Abduktion nicht mehr als ein alltagslogisches Schlussverfahren, das allenfalls die Möglichkeit einer Kausalbeziehung konstatiere; sie ist insofern nur ein Verfahren, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird. Die Abduktion hat mithin einen hohen heuristischen Wert; sie birgt aber auch Gefahren der mangelnden Prüfbarkeit. Dennoch wird die Abduktion von vielen Geistes- und Kulturwissenschaftlern zunehmend als Alternative zur strengen deduktiven Logik verstanden16, die u.a. für historisch-kulturwissenschaftliche Argumentationen mangels allgemeiner Sätze kaum anwendbar sei. Fakt ist jedoch, dass ein abduktiver Schluss gehaltserweiternd, also logisch nicht zwingend ist. Und er entbindet uns nicht von der von Kulturwissenschaftlern nicht selten gefürchteten Notwendigkeit, mit Gesetzesannahmen zu arbeiten: „Wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zurechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung ‚nomologischer‘ Kenntnis – Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge – überhaupt nicht möglich“17, so Max Weber; und das von Peirce vorgeschlagene Schlussverfahren der Abduktion vertauscht lediglich Explanandum und Randbedingungen, da im Falle einer Erklärung eben das Explanandum schon bekannt ist, die Randbedingungen hingegen gesucht werden; faktisch handelt es 15 PEIRCE, CP 5.189. 16 Diese Konjunktur gilt selbst für die analytische Philosophie; vgl. BARTELBORTH, 1996; ders., 2007. In den Kulturwissenschaften siehe z.B. WIRTH, 1995; ders., 2003; oder REICHERTZ, 2003 (und viele weitere Aufsätze). 17 WEBER, 1988, S. 179.

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sich auch bei einer semiotischen Erklärung somit immer um eine Deduktion, und die praktische Vorgehensweise bei einer kausalen Rekonstruktion wäre wohl am besten als ätiologisch zu begreifen (dazu mehr in meinem Beitrag in diesem Band). Vielleicht liegt hier ein komplementäres Verhältnis vor; demnach wäre die Abduktion ein heuristisches Verfahren im Entdeckungskontext, das zur ätiologischen Rekonstruktion kausaler Beziehungen beiträgt, keineswegs aber ein gültiges Schlussverfahren im Rechtfertigungskontext. Nun könnte man einwenden, dass Historische Kulturwissenschaftler ja gar nicht immer nach Kausalitäten suchen. Clifford Geertz beispielsweise hatte ganz im Sinne der oben beschrieben Skepsis vor erklärenden Ansätzen von Kultur gewarnt: „Ihre Untersuchung ist […] keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.“18 Tatsache ist jedoch, dass Erklärungsversuche in historisch-kulturwissenschaftlichen Untersuchungen allgegenwärtig sind. Es scheint auch dem kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse inhärent zu sein, nach Erklärungen zu streben. Interpretationen sind offenbar erst dann akzeptabel, wenn sie plausibel zu erklären vermögen, was vorher rätselhaft erschien.

5. Damit ist jedoch nicht die Vorstellung verbunden, dass eine entsprechend deduktiv verfahrende Semiotik notwendigerweise ein nomothetisches Interesse verfolgen müsste; im Gegenteil. Die meisten historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen dürften vielmehr ein idiographisches Erkenntnisinteresse haben:

18 GEERTZ, 1983b, S. 9.

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„Eine Archäologin mag sich der Tatsache bewusst sein, dass sie die Asche oder das rostige Schwert als Zeichen ‚liest‘, die ihr etwas über das Leben der Wikinger berichten sollen; die semiotische Deutung kann also darin bestehen, dass man einzelne Phänomene vor einem zeichentheoretischen Hintergrund interpretiert.“19

Søren Kjørup hat jedoch nicht nur darauf hingewiesen, dass die indexikalische Semiotik tendenziell eher idiographisch sei. Er hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass eine eher nomothetische Semiotik, wie sie u.a. in den vergangenen Jahrzehnten häufig betrieben wurde, wenig zur Praxis der Deutung von Zeichen zu sagen habe: „Auch wegen der unbestreitbaren Tatsache, dass die Deutung von Zeichen keine tiefen Einsichten in den Begriff des Zeichens erfordert, sondern statt dessen Einsicht und Wissen über den Bereich der Wirklichkeit, zu der das Zeichen gehört.“20

Die indexikalische Semiotik verweist somit auf die Tatsache, dass theoretische und methodische Reflexion zwar zu einer guten historischkulturwissenschaftlichen Forschung und Darstellung gehören, aber empirische, idiographische Erkenntnisinteressen den Primat haben und zur Erklärung konkreter historischer Kulturphänomene das Wissen um den historischen Kontext unabdingbar ist, das nicht durch anders geartetes Wissen etwa um Typologien von Zeichen ersetzt werden kann. Dies dürfte auch erklären, was Clifford Geertz für Historiker längere Zeit so attraktiv machte: Zum einen legimitierte er kleinräumige, mikrohistorische Einzelstudien, in denen ein eng begrenzter kultureller Kontext so komplex wie möglich rekonstruiert werden konnte, und zum anderen war dafür streng genommen keine besondere Methode, Typologie oder gar Theorie notwendig: Geertz empfahl lediglich die Konzentration auf „Kultur“ im Sinne „selbstgesponnene[r] Bedeutungsgewebe“. Die „dichte Beschreibung“ hingegen, vielfach als Methode verstanden, war nichts anderes als eine narrative Strategie, in der die Erzählung menschlicher Handlungen immer mit einer Interpretation des

19 KJØRUP, 2009, S. 8. 20 Ebd., S. 9.

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mit ihnen subjektiv verbundenen Sinns verbunden sein sollte. Von Historikern zumindest verlangte das eigentlich nicht viel Neues.

6. Nicht zufällig entspricht die Aufgabenstellung und Charakteristik einer indexikalischen Semiotik den Herausforderungen historisch-kulturwissenschaftlicher Forschung: „Das Ziel der indexikalischen Semiotik ist also, in der Wirklichkeit Spuren oder Züge zu finden, die uns etwas über Sachverhalte erzählen, die uns interessieren, oder aber, Situationen (oder Instrumente) zu schaffen, welche die Wirklichkeit dazu bringen, für uns solche Zeichen zu produzieren.“21 Sie gehört damit wissenschaftstheoretisch gesehen zunächst einmal zur Forschung, d.h. zur Erkenntnis generierenden Seite wissenschaftlicher Arbeit. Gleichzeitig hat sie aber durchaus auch ästhetisches Potential; nicht zufällig sind gute historische Arbeiten, in denen die Spurensuche in die Darstellung integriert wird, zuweilen mit Detektivromanen verglichen worden. Sie verfällt jedoch nicht in den Fehler einer jüngeren Rhetorik (im Anschluss eher an Platon), die die wissenschaftliche Erzählung eher als Instrument der Überredung oder gar der Überwältigung zu deuten scheint. Stattdessen steht sie stärker in einer aristotelischen Tradition der Rhetorik, die die wissenschaftliche Erzählung eher als Instrument der (argumentativen) Überzeugung versteht. 22 Hier fließen Forschung und Darstellung zusammen, da die Wiedergabe nicht nur des Ergebnisses, sondern auch der Forschung, die dorthin führte, Teil einer überzeugenden Darstellung ist. Insofern verbindet die Perspektive einer indexikalischen Semiotik jene zwei Seiten der Medaille, die z.B. in der geschichtstheoretischen Diskussion meist unter den Stichwörtern „Forschung“ und „Darstellung“ verhandelt werden.

21 Ebd., S. 40. 22 Zu dieser (hier naturgemäß sehr grob angedeuteten) Unterscheidung vgl. GINZBURG, 2001b; 2001c.

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7. Die indexikalische Lesart von Zeichen zwingt nicht zuletzt zu einem Realismus, der eine Welt außerhalb des erkennenden Subjekts und unabhängig von ihm anerkennt. Nicht nur die Artefakte und Schverhalte, die als Index für die interessierende Vergangenheit gelesen werden, sind im Gegensatz zu dieser Vergangenheit selbst in der Gegenwart wirklich da. Wenn man sie nämlich als Index auffasst, dann unterstellt man immer auch, dass sie das Ergebnis einer wie auch immer gearteten Verursachung durch etwas anderes sind, i.d.R. durch den eigentlich interessierenden Sachverhalt. Das mag für konstruktivistisch argumentierende Historiker naiv klingen, entspricht aber durchaus der Arbeitsweise eigentlich aller historischen Kulturwissenschaftler, auch wenn sie ihre eigene Epistemologie als konstruktivistisch verstehen. 23 Denn spätestens im Gespräch über die verschiedenen Fragen an die Vergangenheit und über die vorgetragenen Antworten (und Wissenschaft ist ganz wesentlich ein dialogischer Erkenntnisprozess) kommen wir nicht umhin zu unterstellen, dass wir uns gemeinsam über eben jene Vergangenheit unterhalten; gäbe es bloß immer wieder andere individuelle Konstruktionen der Vergangenheit, dann hätte der Dialog keinen Sinn, es sei denn einen bloß ästhetischen (und eben dies ist ja die Konsequenz der Argumentationen von Hayden White und Frank Anker-

23 Symbole sind Ausdruck menschlichen Zugriffs auf die Welt, menschlicher Verständigung über die Welt; sie scheinen mithin in mancher Hinsicht einen konstruktivistischen Zugriff nahezulegen. Hier wäre aber zwischen einem Sozialkonstruktivismus, der auf der Ebene der untersuchten Subjekte einen konstruktiven Umgang mit der Welt vermutet, und einem radikalen Konstruktivismus auf der erkenntnistheoretischen Ebene des Forschenden dringend zu unterscheiden; zwischen beiden klafft eine riesige Lücke, die allzu oft schnell übersprungen wird. THOMAS LUCKMANN, dessen mit PETER BERGER 1966 verfasstes Buch The Social Construction of Reality häufig als Autorität des modernen Sozialkonstruktivismus angeführt wird, hat vor einer Gleichsetzung von Sozialkonstruktivismus und Konstruktivismus zu Recht gewarnt: „Ich bin kein Konstruktivist, jedenfalls nicht im Sinne der Angehörigkeit zu einer wissenschaftstheoretischen Richtung, die sich als Konstruktivismus bezeichnet. [...] es besteht kein Mangel an meiner Sorte eines irgendwie doch noch an einer realistischen Ontologie und Epistemologie festhaltenden Nichtkonstruktivisten […].“ Luckmann, 1999, S. 17; vgl. auch SOEFFNER, 1992.

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smit). John Searle hat dieses Plädoyer für Realismus prägnant zugespitzt: „Nehmen wir zum Beispiel an, ich rufe meinen Automechaniker an, um herauszufinden, ob der Vergaser repariert ist; oder ich rufe den Arzt an, um die Ergebnisse meiner letzten ärztlichen Untersuchung zu erfahren. Nehmen wir nun an, ich habe einen dekonstruktivistischen Automechaniker erwischt, und er versucht mir zu erklären, dass ein Vergaser sowieso nur ein Text ist und dass es nichts gibt, worüber zu reden wäre außer der Textualität des Textes. Oder nehmen wir an, ich habe einen postmodernistischen Arzt erwischt, der mir erklärt, dass Krankheit wesentlich ein metaphorisches Konstrukt ist. Was man auch sonst noch über diese Situationen sagen kann, eines ist klar: die Kommunikation ist zusammengebrochen. Die normalen Voraussetzungen hinter unserer praktischen Alltagskommunikation und a fortiori hinter unserer theoretischen Kommunikation erfordern die Voraussetzung des vorherigen Vorhandenseins einer Realität für ihre normale Verständlichkeit. […] Eine öffentliche Sprache setzt eine öffentliche Welt voraus. Realismus funktioniert nicht als eine These, Hypothese oder Voraussetzung. Er ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Reihe von Praktiken, insbesondere sprachlicher Praktiken.“24 Indexikalische Zeichen erzwingen mithin einen gewissen wissenschaftlichen Realismus, der eine Welt unabhängig vom Forschenden annimmt, ja mehr noch: in der grundsätzlich Kausalitäten herrschen, Verursachungen, denen man mit entsprechenden theoretischen und empirischen Versuchen näher kommen will.

8. Die eigentliche Pointe jedoch liegt schließlich darin, dass eine Wahrnehmung unserer Quellen als indexikalische Zeichen uns zur Offenlegung unserer theoretischen Annahmen zwingt. Dies ist in einer Arbeitsweise, die Artefakte gleich als bedeutungsgeladene Zeichen inter-

24 SEARLE, 1994, S. 391.

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pretiert, nicht immer so. Clifford Geertz beispielsweise geht davon aus, dass die von ihm untersuchten Zeichensysteme von sich aus einen Zugang zur untersuchten Kultur eröffnen: „Der Angelpunkt des semiotischen Ansatzes liegt, wie bereits gesagt, darin, dass er uns einen Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so dass wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können.“25

Wie gelangt der Forscher aber in diese Gedankenwelt der von ihm untersuchten Subjekte? Das scheint in einem ersten Zugriff gar nicht so schwierig zu sein; Kulturen im Sinne Geertz’ sind schließlich lesbare Texte: „Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble aus Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen. […] Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muss nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen.“26 Dahinter verbergen sich m.E. gleich zwei naive Vorannahmen, die den eigentlich theoretischen Gehalt dieser methodischen Operationen verschleiern. Zum einen unterstellt Geertz, dass die von ihm untersuchten Sachverhalte bedeutungsvolle Zeichen sind und Bedeutung tragen; vielleicht handelt sich aber lediglich um das Zucken eines Augenlids. Zum anderen unterstellt Geertz eine grundsätzliche Lesbarkeit dieser Zeichen, ohne dabei offenzulegen, dass er sich bei dieser „Lektüre“ theoretischer Annahmen bedient, die ihm sagen, wie er eine reine Beobachtung in eine Deutung überführt. Was erlaubt es ihm zum Beispiel, das Zucken eines Augenlids nicht nur als Zwinkern, sondern z.B. als Parodie zu werten? Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive handelt es sich hier um theoretische Zuschreibungen, die nicht aus dem Material selbst alleine abgeleitet werden können. Beschränkt man sich darauf, einen Artefakt zunächst als Index zu betrachten, dann wird meines 25 GEERTZ, 1983b, S. 35. 26 GEERTZ, 1983c, S. 259, 260.

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Erachtens das theoretische Fundament aller methodischen Operationen mit diesem Material deutlicher.

9. Denkt man die Theorieabhängigkeit des Zeichenlesens und die Frageabhängigkeit des Zeichencharakters weiter, so entpuppt sich die oft behauptete Polysemie von Zeichen als nicht selten überladene Metapher. Artefakte und Sachverhalte können natürlich für verschiedene andere Sachverhalte in der Welt Spur, indexikalisches Zeichen sein – aber nur abhängig von der Fragestellung. Im Hinblick auf eine konkrete Fragestellung verliert sich der polysemische Charakter im Grunde schnell, da der Forschende sich ja nicht für das Zeichen selbst interessiert, sondern für die historische Wirklichkeit, deren Spur das untersuchten Zeichen oft ist. In diesem Zusammenhang schrumpft die Polysemie des Zeichens vermutlich nicht selten zu einer Monosemie zusammen, oder noch genauer: es geht dabei gar nicht so sehr um Bedeutungen, die man hinter dem Reden von Mono- oder Polysemie vermuten könnte, sondern um den Aussage- und Informationsgehalt einer Spur im Hinblick auf die interessierende Wirklichkeit – und dabei dürfte ein Zeichen mitunter mehrere Aussagen zulassen (bzw. sie nicht verhindern), mitunter nur eine. Aber die Menge der im Hinblick auf eine Frage und die jeweilige Spur untersuchten zulässigen Aussagen ist eine Funktion der Frage – und keine besondere Qualität des Zeichens an sich.

Fazit Die methodologischen Potentiale einer indexikalischen Semiotik sind damit nicht ausgeschöpft27 – die Ausführungen haben zunächst nur 27 Ein letzter Hinweis sei erlaubt, der den Rahmen dieser Einführung ebenfalls sprengen würde: Auf der Basis einer indexikalischen Semiotik dürfte es sicher auch leichter fallen, den interdisziplinären Brückenschlag zu nicht genuin kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu wagen. Viele Naturwissenschaften (z.B. auch die Medizin) argumentieren semiotisch, und selbst eine

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gezeigt, dass die Grundprobleme einer Semiotik, die sich mit indexikalischen Zeichen beschäftigt, auch die Grundprobleme historischkulturwissenschaftlichen Arbeitens sind, selbst dort, wo diese „Kultur“ als Systeme von Bedeutungen zu rekonstruieren bemüht sind, und auch dann, wenn es damit vordergründig zuallererst um Symbole geht. Glaubt man Søren Kjørup, dann wird die methodologische Herausforderung einer solchen Semiotik auch und vor allem in der historisch komplexen und detailgenauen Rekonstruktion von Sachverhalten liegen, eine Aufgabe, die mit semiotischen Typologien und Modellen kaum zu bewältigen ist, weil diese das historische Kontextwissen nicht ersetzen oder fehlendes Wissen nicht kompensieren können. Schon dies ist aber eine entscheidende Schlussfolgerung – historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeiten wird ja nicht selten (und häufig wohl auch zu Recht) eine überbordende Theorie und eine damit nicht korrespondierende Knappheit an empirischem Material vorgeworfen. Eine indexikalische Semiotik ist damit aber nicht theoriefeindlich, im Gegenteil: Sie zwingt uns zur Schärfung unserer Fragestellung und zur Explikation unser theoretischen Annahmen. Kann man damit sagen, dass eine solche indexikalische Semiotik die Spuren der Vergangenheit zur Denunziation überredet? Wohl kaum, denn das Bild ist schief. Die Quellen reden nicht mit uns, und wir bringen sie auch nicht zum Reden. Wir konstruieren höchstens einen hypothetischen vergangenen Kontext, in den alle empirischen Befunde kohärent integriert werden können. In diesem Verständnis aber sind Indexe das, was Indizien vor Gericht sind: Belege dafür, dass eine bestimmte Deutung plausibel ist. Indexe als Symbole oder Ikone zu interpretieren ist dann natürlich zulässig, wenn der so konstruierte Zusammenhang plausibel wird; aber es gibt eben auch Indexe, die nicht als Symbole oder Ikone interpretiert werden können und dennoch zur Rekonstrukti-

quantitativ ausgerichtete und die eigenen Daten erst produzierende Sozialwissenschaft ließe sich indexikalisch-semiotisch deuten: Umfragen und andere Instrumente sind schließlich nichts anderes als ein Wetterhahn, Instrumente, die nach ihrer Einrichtung geeignet sind, die interessierenden Sachverhalte indexikalisch anzuzeigen. Dabei würden zum Beispiel Unterschiede zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren, die oft als unüberbrückbar oder als durch Triangulation vermittelbar thematisiert werden, mutmaßlich an Relevanz verlieren – und das wäre sicher ein Gewinn für jede interdisziplinäre Auseinandersetzung.

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on kultureller Zusammenhänge in der Vergangenheit beitragen können. Und eben deshalb ist eine indexikalische Semiotik wohl der angemessenere methodologische Zugriff auf grundlegende Forschungsprobleme der Historischen Kulturwissenschaften.

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“Spurensuche”, looking for traces, searching for signs – we are in the territory of semiotic thinking of the American philosopher Charles Sanders Peirce (1839-1914). In his many writings (some published during his lifetime, most only posthumously) Peirce tries out many slightly different definitions of the very concept of a sign, but most of them centre around what is probably the nowadays best known one, even though it was not published during Peirce’s own life, but stems from a manuscript from 1897: “A sign or representamen is something which stands to somebody for something in some respect or capacity.”1

Looking for traces, however, is not looking for just any kind of signs that would comply with the Peircean definition. We are not looking for signs that only have a conventional relation to what they stand for, i.e. what Peirce calls symbols, and not for likenesses, i.e. icons. Looking for traces is looking for indices “which show something about things, on account of their being physically connected with them.” 2 It should be noted, however, that Peirce had a much broader view of this kind of

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PEIRCE, 1934, p. 135 (2.228). PEIRCE, 1998, p. 5.

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signs than explained in most introductions to semiotics; my quotation of his definition actually continues like this: “Such is a guidepost, which points down the road to be taken, or a relative pronoun, which is placed just after the name of the thing intended to be denoted, or a vocative exclamation, as ‚Hi! there‘ which acts upon the nerves of the person addressed and forces his attention.”3

Even so, looking for considerations about indices in the semiotic tradition in this paper, I shall be using the narrow concept of the index, often in the most narrow sense of seeing indices as having a causal connection to what they stand for, as traces of events and situations like (with a standard example) when a footprint in the snow tells us that somebody has been walking there. On the other hand, I shall notice both theoretical considerations and considerations about the use of indices in science, philosophy and daily life. Obviously I shall not mention every single contribution to the tradition, not only because of limits of space (or to observe the difference between a paper and a catalogue), but also because of the limits of my own erudition. But I shall try to sketch the development of the concept of traces as I see it (with side glances to the two other basic concepts of signs in the typical Peircean trichotomy, the symbol and the icon). It will be a story about the way in which logical reasoning always has a role to play, while in Antiquity the index is important within rhetoric, in the 18th century has a short spell as an ontological concept, and since then more and more clearly becomes an epistemological concept. The whole story will culminate in Peirce’s claim that “In all reasoning, we have to use a mixture of likenesses, indices, and symbols,”4 and in his use specifically of the index in his contribution to the small repertoire of basic forms of reasoning, adding abduction to the two standard ones, deduction and induction. But before all that, I shall look a little closer into the general semiotic (and epistemological) character of the index.

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Ibid. PEIRCE, 1992, p. 10, italics in orig.

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Communicati ve and Epistemic Signs In the semiotic tradition the icon and the index are often (although not necessarily explicitly) combined as examples of “natural” or “motivated” signs – as opposed to the “conventional” or “arbitrary” symbol. Less common are discussions of the other possible dichotomy that reveals itself in everyday speech as the distinction between signs for and signs of something or other: The symbol and the icon belong together as signs for something in a group that might be called communicative signs, namely signs that people use intentionally to communicate with one another (and to make records of various kinds), and where the communicators can roughly be said to use already existing signs (as words or signals) or at least already existing communicational possibilities or conventions (as the possibility of making a drawing of the appearance of something or somebody if it does not exist in advance). Hereby the symbol and the icon are radically different from indices, which we might call epistemic signs. Indices are not signs for anything at all, and actually not even signs of anything either until somebody starts interpreting them as signs that in a way “tell us” about the world, or (with a better expression that does not turn indices into active communicators) “mirror” what goes on in the world. What we take as a sign of something (for instance as a symptom of an illness), is from the outset not a sign at all, but only a feature of the world. But on the other hand, any odd feature of the world may be turned into an index if only somebody decides to look upon it as a trace of something and therefore as a sign that should be interpreted. One might say that the standard example “footprint” is slightly misleading because the very term has already categorized the irregularity of the surface of the snow as something caused by a person walking there (and even more so in German, where the “Fußspur” is already disclosed as a trace after a foot). But also the closed door to my study, the bunch of flowers on my desk and the screams of gulls that I hear from the outside, can be viewed as indices if I so decide: The closed door may be taken as an index that somebody has closed it (and this may lead to another indexical consideration of the question why); the bouquet of roses may be taken as an index of what the garden can offer now in the middle of summer; and the screams may be taken as an index of the fact

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that somebody has moved too close to the gull chicks that have fallen down from the nest on the roof and now run around out there on the lawn. Here it is important to notice the double point that on the one hand anything can be turned into an indexical sign if someone takes the initiative to interpret it, and on the other that it is the interpreter who decides what the sign should be taken as a sign of, not only within the possibilities of the current sign but also within the range of knowledge of the interpreter: The footprint is most often seen as a sign of somebody having passed, but it may just as well be seen as a sign of the depth and texture of the snow (and for the expert give an indication of the outdoor temperature and of which kind of ski lubrication that will be the right one for optimal gliding). But beware: Although in principle anything may be conceived and interpreted as an index, and although in principle there are unlimited possibilities of interpretation, it is not the case that anything may be correctly interpreted in any possible way!

The Tw o Modern Semiotic Paradigms Another warning may be necessary here, namely that the Peircean semiotic distinction between indices, icons and symbols cannot be expressed within semiology, i.e. within the tradition originating with the Swiss linguist Ferdinand de Saussure (1857-1913) – just as most of the Peircean thinking about signs does not fit into the Saussurean framework (and vice versa).5 You may indeed find many contemporary introductions to semiotics that seemingly do merge the two traditions, especially introductions that do not have semiotics as their main topic but just pass through semiotics as one out of several theoretical and methodological ingredients in multidisciplinary studies like Critical Theory or Cultural Studies.6 But actually Peirce’s and Saussure’s concepts of signs and the general theoretical structures to which they belong, are radically different – and the difference between the structures of

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SAUSSURE, 1969. Two fairly recent examples would be TYSON, 1999, pp. 206-207, and LEWIS, 2002, pp. 150-153.

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trichotomies cultivated by Peirce and dichotomies preferred by Saussure, is only the least problem here. As we saw above, Peirce distinguishes between an index, an icon and a symbol according to how these signs are related to the objects for which they stand. A statement like that does not make any sense within the Saussurean paradigm, however. A Saussurean “sign” does not “stand for” anything at all. What Saussure calls a sign, is a two-sided entity (think of a word), on the one side a signifier (a sound, a graphic mark etc.) and on the other a signified (a meaning, a thought – and not an object, even though this important distinction often disappears from introductory text). If we really want to find parallels between the two paradigms, we might of course hesitantly notice that Saussure considers the relationship between signifier and signified as purely conventional and therefore suggest that the Saussurean sign is a kind of Peircean symbol. But Saussure’s conventional relationship is not between the sign and what it “stands for”, but between the two sides of the sign itself. The closest parallel you can get is between the Peircean “sign or representamen” and the Saussurean signifier, which is however only one side of the Saussurean “sign”. Even more hesitantly we might say that the other half of the Saussurean sign, the signified, corresponds more or less to the understanding of this “something in some respect or capacity” that the “somebody” of the Peircean definition has of that for which the representamen stands. The important thing here again is that the signified is a kind of thought, not a “something” like an object. But even if you do not mistake the “signified” for an object in the world outside the sign system, and you do remember that it is part of the sign itself, the parallel is misleading because it suggests that Saussurean signs are only words like “elephant”, “green” and maybe even “love”, i.e. only nouns, although maybe quite “abstract” ones. The point is that they may also be words and expressions like “perhaps”, “of course” and “not”. And then take the word “perhaps” as an example. How is it related to what it stands for? Obviously, it does not stand for anything at all; it just has a meaning. And the whole consideration becomes ridiculous if we start considering whether it has a causal relation or a relation of likeness to what it stands for, or whether it just has a conventional rela-

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tionship. Which may all be taken as a solid sign of the fact that the distinction between indices, icons and symbols belongs within the Peircean paradigm, and only there.

Signs in Antiquit y The rather complicated semiotic circumstances around indices may lead one to think that this kind of signs must be a late element in the development of the semiotic tradition. Words with conventional meanings and pictorial likenesses seem much easier to handle. The semiotic reality, however, is the opposite. The index was the sole real sign in antiquity. Words enter semiotics only around AD 400, pictures even later than that. This does not mean that there were no scholarly debate about the character of words and pictures in antiquity. On the contrary! As many will recall, Plato (427-347) lets his spokesman Socrates discuss both in his dialogues. In Cratylus the question is whether the meanings of words are due to pure conventions (as argued by the discussant Hermogenes), or whether they stem from nature (as argued by Cratylus, and what also Socrates tends to think, even if he does not want to make a final decision in the matter).7 In The Republic we have a discussion about pictures in the well-known passage where Socrates considers whether the carpenter who makes a bed, or the painter who makes a picture of a bed, should have the highest rank (and obviously that honour goes to the carpenter because he is a real maker who knows what a bed is, whereas the painter is only an imitator).8 In Aristotle’s Poetics we have the interesting situation that Aristotle (384-322) seems to presuppose that we all know the potential of pictures, so that many points about the drama are explained through comparisons with paintings, e.g. the fundamental question why we are interested in the imitative artistic form of tragedy at all: “Objects which in themselves we view with pain, we delight to contemplate when reproduced with minute fidelity: such as the forms of the 7 8

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PLATO, 1957, pp. 126-181. PLATO, 1997, pp. 325-327 (597a-598d).

Traces of Traces in the Semiotic Tradition most ignoble animals and of dead bodies. The cause of this again is, that to learn gives the liveliest pleasure, not only to philosophers but to men in general; whose capacity, however, of learning is more limited. Thus the reason why men enjoy seeing a likeness is, that in contemplating it they find themselves learning or inferring, and saying perhaps, ‘Ah, that is he’.”9

However, even though the character and use of words and pictures were discussed in antiquity, they were not discussed as signs, i.e. not under that name (semeion) and not in connection with the typical examples of what were seen as signs. At Plato’s time a word was a “symbol” (symbolon), and a sign was primarily what was discussed within medicine; a sign was first of all understood as a symptom of an illness (even though it might also be a trace of former events as when a scar would be taken as a sign for a now healed wound). Behind this way of using these concepts we find an even earlier one where a semeiotikos, an interpreter of the entrails of sacrificial animals or of the positions of the sun, the moon or the planets as prophesies of what might be in store. The signs of antiquity were the expression by nature of causal (or mystic) connections. And the interpretation of these signs had to be performed through a kind of reasoning within the framework of causal thinking: A corporeal condition might be taken as a symptom in the sense of an effect of an illness, but the condition might also be seen as a premonition of impending recovery or a foreboding of the opposite, a speedy death.

The Index in Rhetoric If you read the physician Hippocrates (460-377) of the generation before Plato you are struck by his insistence on the importance of the interpretation of signs, not only as a precondition for the healing medical business, but just as much to gain the confidence of the patients: The interpretation of symptoms is just as much a rhetorical practice as a medical and epistemological one.

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ARISTOTLE, 1951, p. 15 (IV.3-5; 1448b 10-15).

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I hold that it is an excellent thing for a physician to practise forecasting. For if he discover and declare unaided by the side of his patients the present, the past and the future, and fill in the gaps in the account given by the sick, he will be the more believed to understand the cases, so that men will confidently entrust themselves to him for treatment. Furthermore, he will carry out the treatment best if he know beforehand from the present symptoms what will take place later. 10 Interestingly, the gist of Aristotle's semiotic reflections, bound up with a discussion of conclusive and inconclusive logical reasoning, can be found in his book (probably lecture notes) on Rhetoric in a short passage that overlaps with the not much more elaborate treatment in the last pages of his Prior Analytics11 – and at both places we are sure to find traces as the only category of sign and examples gathered from medicine: Among signs, some are related as the particular to the universal; for instance, if one were to say that all wise men are just, because Socrates was both wise and just. Now this is a sign, but even though the particular statement is true, it can be refuted, because it cannot be reduced to syllogistic form. But if one were to say that it is a sign that a man is ill, because he has a fever, or that a woman has had a child because she has milk, this is a necessary sign. This alone among signs is a tekmērion; for only in this case, if the fact is true, is the argument irrefutable. Other signs are related as the universal to the particular, for instance, if one were to say that it is a sign that this man has a fever, because he breathes hard; but even if the fact be true, this argument also can be refuted, for it is possible for a man to breathe hard without having a fever.12 Worth noticing here is that Aristotle makes a distinction between a “sign” in general (semeion), a “necessary” (or maybe rather “sure”) sign (tekmērion) and finally what we would probably call an “indication” that gives only “circumstantial evidence”, but for which there is no Greek term. Traces of the same way of treating signs can be found in the Sophistic tradition – if we take the Rhetoric to Alexander to represent that (and not to be a juvenile work by Aristotle as some scholars 10 CLARKE, 1990, p. 11. 11 ARISTOTLE, 1996, pp. 522-531. 12 ARISTOTLE, 1982, p. 27 (I.ii.18).

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have it): “A sign may produce either opinion or full knowledge; the best kind of sign is one that produces knowledge, but one that causes an extremely probable opinion is the second best kind.”13 Also in Roman writings on rhetoric we meet discussions of signs of the indexical kind. Most of the rhetorical works by Cicero (106-43) have passages on signa, on signs, and it is revealing of the epistemological position of signs in Cicero's account of the practices of oratory that a translator of De Inventione like C.D. Younge – not simply incorrectly, but for good reasons – can render Cicero’s “signum” as “proof” and not as “sign” (but obviously this means that the connection to semiotics will escape the reader of only the English version). And it nearly goes without saying that also the main introduction to Roman rhetoric, Institutio Oratoria by Quintillian (35-100), has a passage on the use of signs in oratory (the opening of Book 5, Chapter 9), obviously described in a rhetorical perspective where the point is to specially discuss what the “rhetor” must produce by his professional “art” to persuade his audience (“artificial proofs”), not what comes nearly without the use of words (“inartificial proofs”); unfortunately Quintillian is rather long-winded, so my quotation also has to be rather long (and here the translator from the middle of the 19th Century, Rev. John Selby Watson, comes closer to the later Peircean vocabulary by translating “signa” as “indications”, rather than just “signs”): 1. All artificial proof, then, depends on indications, arguments, or examples. I am aware that indications are thought by many a species of arguments, and I had, in consequence, two motives for distinguishing them. The first is that indications generally, almost always, belong to inartificial proofs, for a blood-stained garment, a shriek, a livid spot, and similar particulars, are circumstances of the same nature as writings, reports, and depositions; they are not invented by the orator, but communicated to him with the cause itself. 2. The second is that neither can indications, if they are certain, be arguments, because where there are certain indications, there is no question, and there can be no room for argument except upon a controverted point. Nor, if they are uncertain, can they be arguments, but have themselves need of arguments. 3. All artificial proofs, then, as I say, are distinguished, first of 13 ARISTOTLE, 1983, p. 337 (1430 b 37-41).

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all, into two kinds, one in which the conclusion is necessary, the other in which it is not necessary. The former are those which cannot be otherwise, and which the Greeks call τεκμήρια (tekmēria) or ἄλυτα σημεῖα (aluta sēmeia), “irrefutable signs”. These scarcely seem to me to come under the rules of art, for when there is an irrefutable indication, there can be no ground for dispute. 4. This happens whenever a thing must be, or must have been; or cannot be, or cannot have been; and this being stated in a cause, there can be no contention about the point. 5. This kind of proof is considered with reference at all times, past, present, and future, for “that she who has had a child must have lain with a man” regards the past; “that there must be waves when a strong wind has fallen on the sea” concerns the present, and “that he whose heart is wounded must die” relates to the future.14

Words as Signs But when did verbal language – words – become members of the category of signs? When did the concept of signs expand to not only cover symptoms and other interpretable traces, situations and events in the mute reality, but also intentional communicative utterances? The standard position is the one I also proposed above, i.e. that the concept of sign in antiquity did not contain words. But now look at this very rare quotation from the beginning of On Interpretation by Aristotle (in my own translation, building on the one by Harold P. Cooke in the Loeb edition, 1938, and with a few Greek terms added by me in brackets): “Words spoken are symbols [symbola] of affections of the soul; written words [grafomena] of words spoken. As writing, so also is speech not the same for all races of men. But the mental affections themselves, of which these words are primarily signs [semeia], are the same for the whole of mankind, as are also the objects of which those affections are likenesses.”15

14 QUINTILLIAN, 2011. 15 ARISTOTLE, 1996, 115 (16 a 4-7).

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Words as semeia, as signs for “affections of the soul”?! Since this is the one and only place where not only Aristotle, but (as far as I know), any antique Greek or Roman author makes such a statement using the term “sign”, one may be tempted to write it off as the result of some kind of sloppiness or mistake, either by Aristotle himself or by some scribe somewhere in the textual tradition (and the term semeion is often hidden in translations). Another possible interpretation might be that words on the one hand are “symbols” with a certain meaning, on the other “signs” in the standard sense of traces; the expression “I am happy” may be my way of intentionally expressing my feeling, but it may also be a symptom of my inner happiness that just gushes out of me. At any rate this is the way words are taken up in the category of signs by Augustine (354430), who traditionally is mentioned as the first theoretician to combine what Aristotle still distinguished as “symbols” and “signs”, respectively. In the second book of Augustine’s De doctrina christiana (397) he discusses both concepts under the Latin term signum, but the signs are then divided into signa naturalia, “natural signs” (corresponding to Aristotle's semeia) and signa data, “given signs” in the sense of signs that are “intentional” or “uttered” (corresponding to Aristotle’s symbola) – and once again we meet the standard example of the footprint: For a sign is a thing which, over and above the impression it makes on the senses, causes something else to come into the mind as a consequence of itself: as when we see a footprint, we conclude that an animal whose footprint this is has passed by; and when we see smoke, we know that there is fire beneath; and when we hear the voice of a living man, we think of the feeling in his mind; and when the trumpet sounds, soldiers know that they are to advance or retreat, or do whatever else the state of the battle requires. Now some signs are natural, others conventional. Natural signs are those which, apart from any intention or desire of using them as signs, do yet lead to the knowledge of something else, as, for example, smoke when it indicates fire. For it is not from any intention of making it a sign that it is so, but through attention to experience we come to know that fire is beneath, even when nothing but smoke can be seen. And the footprint of an animal passing by belongs to this class of signs. And the countenance of an angry or sorrowful man indicates the feeling in his

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mind, independently of his will: and in the same way every other emotion of the mind is betrayed by the tell-tale countenance, even though we do nothing with the intention of making it known. This class of signs, however, it is no part of my design to discuss at present. But as it comes under this division of the subject, I could not altogether pass it over. It will be enough to have noticed it thus far. Conventional signs, on the other hand, are those which living beings mutually exchange for the purpose of showing, as well as they can, the feelings of their minds, or their perceptions, or their thoughts. Nor is there any reason for giving a sign except the desire of drawing forth and conveying into another's mind what the giver of the sign has in his own mind.16 With Augustine the words of verbal language (and other conventional means of communication like signals) were finally solidly established within semiotics, besides the traces of reality. Now the road was open for the extensive Medieval writings on signs, mostly in the form of commentaries to the semiotic remarks of Aristotle and Augustine. These writings were rarely specific works on semiotics, but were rather interwoven in treatises on the disciplines of the trivium, i.e. grammar, rhetoric and logic, and were mostly in the form of more and more sophisticated attempts at defining the various types of sign.

Pictures and the Remaining Repertoire of Signs One rare example of what may be seen as a semiotic monograph from the Middle Ages is the De signis (ca. 1267) by the English Franciscan friar Roger Bacon (ca. 1214-1293), a 55 page text in the so far only printed version (1978), and probably a fragment of Bacon’s great encyclopaedic Opus Maius from the second part of the 1260’ies. Most of the pages contain a thorough discussion of verbal language, which is Bacon’s main preoccupation, just as it was Augustine’s. But the text opens with a set of definitions of various types of signs, and here the “natural” ones, nearly only indices (signs that demand various kinds of inference 16 AUGUSTINE, 2011.

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to be interpreted), are given the most elaborate treatment, yet covering just a couple of pages: We have a distinction between “necessary” signs and only “probable” ones, and each type is further divided into signs of things present, signs pointing towards the past, and signs pointing into the future, all with a mixture of well-known examples dating back to Antiquity (e.g. lactation as a sign of having had a baby) and examples anticipating later textbook fare (wet ground indicating previous rain).17 Bacon even has an interesting discussion of signs based on causal relations, pointing out that sign relations presuppose an “apprehending soul”, whereas causal relations are just natural facts.18 But Bacon also has a little surprise in store for us: He introduces the Peircean icon into his classification! The passage is very short, and he only mentions the icon once more in the rest of the book, yet he manages to sketch a very broad conception of “likenesses” (a conception that would have pleased Peirce): „The second mode of the natural sign is when something signifies something else not by inference, but by conformity and configuration of one thing to another in the parts and the attributes, as images and pictures and likenesses and the like, and the appearance of colours and tastes and sounds and all things as much in essence as in the accidental since they are all similar and conformed to the others.“19

“Images and pictures” – the surprise is that in most histories of semiotics, pictures are supposed to enter the semiotic discussion almost 400 years later, i.e. in the Tractatus de signis (“Treaty on Signs”, 1632) by the not so often mentioned, originally Portuguese theologian and philosopher John of St. Thomas (João Poinsot, 1589-1644): „A sign by its definition is „that which represents something other than itself to a cognitive power. [...] for a sign to be said to represent this rather than that, there has to be in it some congruence or proportion and connection with the given significate. This proportion or congruence can take several forms. Sometimes it is one of an effect to a cause or of

17 BACON, 1978, pp. 81-83. 18 Ibid., p. 83. 19 Ibid. (My own translation).

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Søren Kjørup cause to effect, as, for example, smoke as an effect signifies fire, clouds or wind as a cause signify rain. Sometimes it is one of similitude or of an image or of whatever other proportion.”20

John of St. Thomas, however, does not leave the pictorial sign with just this sentence (much as the way Bacon treats it), but does have a rather thorough discussion, even though also he, like his Medieval predecessors, is more interested in the signs of verbal language. But at any rate: At least at the beginning of the 17th Century the Peircean indices, symbols and icons were all firmly established as belonging to the category of signs. And half a century after John, in 1683, the Jansenists Antoine Arnault (1612-1694) and Pierre Nicole (1625-1695) can publish the fifth edition of their (anonymous) Logique ou l'Art de penser (“Logic or Art of Thinking”) with four new chapters with a comprehensive discussion of natural and conventional signs, of indices, words and pictures as signs, of sure signs and probable signs, of signs that are copresent with what they represent and those that are not, of maps and mirror images, of signs as things and signs as signs (as thing warm ashes cover fire, whereas it discloses fire as sign, i.e. as index), and not least of various religious signs, first of all the bread and wine of the Eucharist, which (in my own translation) “hide the Body of Jesus Christ as thing, and show it forth as symbol”.21 As both Bacon and John of St. Thomas had already discussed most of these things in single treatises concentrating on signs and having “signs” in their title, the only thing that one might still look for in vain, was a name for this whole field.

The British Empiricists And the name was actually given before the century came to an end: It would be semiotics (or rather “semeiotiké”, actually written in Greek letters in an English text), used for the very first time in An Essay Concerning Humane Understanding (1690) by the philosopher John Locke 20 CLARKE, 1990, pp. 37f. 21 [ARNAULT AND NICOLE], 1683, p. 57. (My own translation).

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(1632-1704). The term appears in the last paragraph but one (§ 4) in the very short (two pages!), very last chapter (Chap. 21) of the book, “On the Division of the Sciences”, where Locke distinguishes between “three sorts” of “sciences”, namely “natural philosophy” (“knowledge of things”), ethics, and then it comes: “The Third Branch may be called σεμειωτική [semeiotike], or the Doctrine of Signs, the most usual whereof being Words, it is aptly enough termed also λογική [logike], Logick; the business whereof, is to consider the Nature of Signs, the Mind makes use of for the understanding of Things, or conveying its Knowledge to others.”22

But as the quotation shows, even though Locke constructs the name of the semiotic discipline by way of the ancient Greek term for signs, he nearly excludes the only kind of signs known to antiquity, the indices. Not only in the very last chapter, but in the whole “essay”, including the whole of “Book III” (out of four in all) on language, there is not the least trace of the sign as an epistemological entity (or as a persuasive or rhetorical one, for that matter). Words are signs, Locke repeats many times in the first chapters of “Book III”, signs of “those invisible Ideas, which his [man’s] thoughts are made up of” (p. 405, italics in the original), and as he says in the quotation above from the end of the essay, „the most usual“ kind of signs – but he does not give any other examples. The main problem of the British Empiricist tradition in philosophy, which Locke inaugurated, was the relationship between our thinking and the external reality we are (or seem to be) thinking of and experiencing. Locke does not seem to have cared very much for the exact way the “external, sensible objects” enter our minds so that the sensations or perceptions are turned into ideas, and the same goes for the concepts that should be used to express this mechanism. The senses “convey” perceptions “into the Mind”, or external objects “furnish the Mind” with ideas, etc., according to Locke; a good guess would be that he envisages a kind of causal relation between the external objects and the mind.23 Half a century later David Hume (1711-1776) is more explicit 22 LOCKE, 1991, p. 720. 23 Ibid., p. 105-106 (Book II, Chap. I, § 3, § 5).

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here; in his Treatise of Human Nature (1739) he makes it clear that he sees our fleeting impressions as the “causes” of our ideas.24 George Berkeley (1685-1753), however, already as a very young man, had escaped the inevitable scepticism inherent in these attempts of talking about an external reality that we only know from our internal ideas, and talking about the relation between this reality and the ideas, by simply denying the existence of an external reality as such. Our experience of an external world that we meet in touch and vision is just a consequence of our adaptation to a certain regularity in the “signs” we meet from infancy, Berkeley writes in the New Theory of Vision (1709), and we therefore easily jump to the false conclusion that what we see is what we touch, i.e. something “out there”: “It must be confessed that we are not so apt to confound other signs with the things signified, or to think them of the same species, as we are visible and tangible ideas. […] When we observe that signs [of verbal language] are variable, and of human institution; when we remember, there was a time they were not connected in our minds, with those things they now so readily suggest; but that their signification was learned by the slow steps of experience; this preserves us from confounding them. But when we find the same signs [of vision] suggest the same things all over the world; when we know they are not of human institution, and cannot remember that we ever learned their signification, but think that at first sight they would have suggested to us the same things they do now, all this persuades us they are of the same species as the things respectively represented by them, and that it is by a natural resemblance they suggest them to our minds.”25

In his Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (1710) he repeats the point about the visible world as a world of traces: “The ideas of sight and touch make two species, entirely distinct and heterogeneous. The former are marks and prognostics of the latter.”26 And he goes on by redefining the whole concept of (physical) causality into a at one and the same time ontological and semiotic concept: 24 HUME, 1960, p. 5 (Book I, Sect. I). 25 BERKELEY, 1969, p. 81-82. 26 Ibid., p. 133, italics in orig.

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Traces of Traces in the Semiotic Tradition “[…] the connexion of ideas does not imply the relation of cause and effect, but only of a mark or sign with the thing signified. The fire which I see is not the cause of the pain I suffer upon my approaching it, but the mark that forewarns me of it. In like manner, the noise that I hear is not the effect of this or that motion or collision of the ambient bodies, but the sign thereof.”27

If we stick to the three Peircean kinds of signs, index, icon and symbol, it is somewhat unclear which kind of sign Berkeley is thinking of. The natural interpretation of the last example would be that we here have an index, but since the cause/effect relationship is explicitly denied, that is not so obvious. The other examples and the treatise on vision (not least the comparison with words) rather seem to point to the position that the signs tell us about the world but in a kind of conventional fashion, i.e. as Peircean symbols: There is no real connection between the sign and what it signifies, but we have gotten used to experiencing the two together and therefore perceive them as belonging to one another.

Common Sense on Signs This is much easier with the 18th Century Scottish philosopher Thomas Reid (1710-1796), even though he does follow up on Berkeley (and Hume’s general scepticism against the concept of causality) when he writes in his Inquiry into the Human Mind (1764) that “What we commonly call natural causes might, with more propriety, be called natural signs, and what we call effects, the things signified.”28 In his book, however, he gives a very broad description of various kinds of signs and sign systems, not least verbal language, which he conceives of as having both a conventional and a natural aspect (the latter as a necessary condition for developing the conventional language). He even claims that two “savages” with no common “artificial” language, can converse purely through “modulations of the voice, gestures, and features”, i.e. expressive indices, and in this connection he reveals a very

27 Ibid., p. 145, italics in orig. 28 CLARKE, p. 52, italics in orig.

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modern and multifaceted conception of what communication is, including different speech acts; the “savages” “can converse together; can communicate their thoughts in some tolerable manner; can ask and refuse, affirm and deny, threaten and supplicate; can traffic, enter into covenants, and plight their faith.”29

That all this can be done without an “artificial” language does not sound quite convincing to me, but Reid claims that “This might be confirmed by historical facts of undoubted credit, if it were necessary.”30 But maybe even more important to Reid is the use of natural signs, especially indices, in the sciences, and here Reid declares himself a follower of Francis Bacon, Lord Verulam (1561-1626): “The first class of natural signs comprehends those whose connection with the thing is established by nature, but discovered only by experience. The whole of genuine philosophy consists in discovering such connections, and reducing them to general rules. The great Lord Verulam had a perfect comprehension of this, when he called it an interpretation of nature.”31

And here any sceptical doubt one might have had is put aside by this so-called “common sense” philosopher: “[…] nature has established a constant conjunction between [causes] and the things called their effects; and hath given to mankind a disposition to observe those connections, to confide in their continuance, and to make use of them for the improvement of our knowledge, and increase of our power.”32

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Ibid., p. 49. Ibid. Ibid., p. 51, italics in orig. Ibid., p. 52.

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Enlightenment semi otics The Enlightenment was in general very much characterized by semiotic thinking; many questions were discussed in a semiotic vocabulary, yet often without the least mention of indexical signs. One famous example is the discussion by Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in his Laocoon (1766) “on the limits of painting and poetry” (as the subtitle says). With arguments he actually was given by his friend Moses Mendelssohn (1729-1786), published in Mendelssohn’s essay “Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften” (“On the principles of the fine arts and sciences”, 1757), Lessing delineates a clear distinction between the motivated and space-based (or simultaneous) signs of painting and the arbitrary and time-based (or discursive) signs of literature. Using this distinction between the character of these two systems of signs, Lessing argues that paintings are not suitable for telling stories, and (more important to him) that the language of poetry is not suitable for elaborate descriptions of e.g. landscape (thereby forgetting that he presupposes a metalevel semiotic position that all kinds of communicative signs should be motivated by a structural likeness to what they signify!). But Mendelssohn and Lessing are by far the only Enlightenment scholars who engage in semiotic considerations of the communicative kind (leaving the epistemological kind to the side). An example of a late Enlightenment account of semiotics can be found in the Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (“Anthropology from a Pragmatic Point of View”) that Immanuel Kant (1724-1804) published in 1798 (but based on lectures on the theme since 1772). Here pictures have disappeared from the semiotic horizon, but many other kinds of communicative signs, mostly arbitrary (“willkürlich”), are very much present, not only verbal language, but also “1) signs of gesticulation (imitative, which are also partly natural); 2) characters (letters, which are signs for sounds); 3) tone signs (notes); 4) purely visual signs that have been agreed upon between individuals (ciphers); 5) signs of social standing for free men honored with hereditary rank (coats of arms); 6) signs of service, in prescribed clothing (uni-

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Søren Kjørup forms and liveries); 7) signs of honor, for service (ribbons awarded by orders); 8) signs of disgrace (brandings and so on).”33

But Kant’s text also has traces of very old discussions on natural signs, mixed with modern ones and those wonderful glimpses into social life in Königsberg of which Kant’s less strictly philosophical works (like also his Kritik der Urteilskraft, “Critique of Judgment”, 1790) are so full: “Pulsation signifies to the physician the presence of a feverish condition in the patient, as smoke signifies fire. Reagents reveal to the chemist what hidden substances are present in water, just as the weathervane reveals the wind, etc. However, whether blushing reveals consciousness of guilt, or rather a delicate sense of honor, or just an imposition of something about which one would have to suffer shame, is uncertain in cases that come before us.”34

Finally one sees the ancient semiotic situation completely turned upside down in the great German Enlightenment philosopher Johann Heinrich Lambert’s Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (“The New Organon or Thoughts about Research and Designation of Truth and its Distinction from Error and Fantasy”, 1764). The title of the third part of the work, “Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge” (“Semiotics, or Teachings on the Designation of Thoughts and Things”) already gives us a trace of the reduction of the former range of functions of signs within semiotic considerations to just one. In this book with epistemological problems as its main theme, and semiotics as one out of four subthemes, the question is never how we may “read” the signs of nature as evidence, but how we come to grips with and communicate our experiences by way of words, first of all, but also gestures and drawings.

33 KANT, 2006, p. 85-86, (Part I, Book I, § 39), italics in orig.; the translation is obviously in American. 34 Ibid., p. 86, italics in orig.

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An “Evi dential Paradigm ” of the 19th Century? Early Romantics like Hegel (1770-1831), early Positivists like Auguste Comte (1798-1857) and John Stuart Mill (1806-1873) and theoreticians like Karl Marx (1818-1883) do not seem to have been interested in semiotics. I have, at any rate, not been able to find any theoretical discussions or use of the concept of signs in their works – not even in Mill’s huge A System of Logic of around 1840 (but I may have overlooked something). But what about semiotic practice? In 1979 the Italian historian Carlo Ginzburg (b. 1939) published a wonderful essay, “Spie: Radici di un paradigma indiziario” (“Clues: Roots of an Evidential Paradigm”), later included in a collection that appeared in English as Clues, Myths and the Historical Method (1989). Here he argues for what he sees as a late 19th Century semiotic practice in science in a broad sense, a practice that does not take its point of departure in communicative signs, but in epistemic signs and more concretely in indices. His three main examples (actually inspired by other scholars, but interestingly highlighted by Ginzburg himself) are the Italian art historian Giovanni Morelli (1816-1891), the Austrian psychoanalyst Sigmund Freud (1856-1939) and the famous British – but only fictitious – detective Sherlock Holmes! “In each case”, Ginzburg writes, “infinitesimal traces permit the comprehension of a deeper, otherwise unattainable reality: traces – more precisely, symptoms (in the case of Freud), clues (in the case of Sherlock Holmes), pictorial marks (in the case of Morelli).”35

A few more words on the method of the least generally known of these scholars, Giovanni Morelli, may perhaps make it clearer what the point of this “Evidential Paradigm” is: Morelli set out to detect who were the painters behind anonymous works in European art collections (and disclose eventual copies, fakes and false attributions); and he did so not by looking at the general “feeling” of the paintings (“This simply must be an early Rafael!”) or the spectacular and well-known individual

35 GINZBURG, 1989, p. 101.

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details that can easily be imitated (like Leonardo’s smiles or the pious eyes full of wonder in Perugino’s paintings), but by looking at marginal details like the rendering of fingernails or earlobes, generally overlooked not only by art historians or producers of fakes, but probably also by the original artists themselves, as just part of their routines, yet very characteristic for them. Ginzburg argues that this way of doing research, or maybe rather “finding out” or “detecting” by way of indices, was quite new in the humanities towards the end of the 19. Century, even though it had some immediate predecessors, e.g. in philology (textual criticism) and the use of fingerprints made known by Frances Galton (1822-1911) in 1888, but with references e.g. back to the Czech medical doctor Jan Evangelista Purkyně (1787-1869; his discussion of fingerprints is from 1823). But somehow Ginzburg also retracts his claim by venturing into a brillant tour de force of an exploration of all kinds of more or less obscure forerunners, theoreticians and practicioners of “venatic, divinatory, conjectural, or semiotic”36 (strangely forgetting to mention “evidential”!) studies within the history of ideas and of scholarship, starting with Hippocrates. One might say that the real, boiled down message of the essay is not so much the initial pointing to the “evidential” paradigm as to the distinction between what the German philosopher Wilhelm Windelband (1848-1915) called nomothetic and idiographic studies, the first aiming for general knowledge (often natural laws), the latter for knowledge about individual topics (e.g. historical periods – or, to use Ginzburg’s examples: individual painters, psychological problems and criminals). 37 At any rate, the two villains of the complex narrative turn out to be Plato with his “prestigious (and socially higher) model of knowledge” and despect for the individual fact and the early modern scientist Galileo Galilei (1564-1642) with his insistence on the general and calculable.38 What Ginzburg overlooks, however, is that Galileo often argues through single examples, single pieces of evidence, single traces of regularity in the physical world, even though he is heading for general 36 Ibid., p. 117. 37 WINDELBAND, 1915. 38 GINZBURG, 1989, p. 105-106.

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knowledge. The nice (but probably fictitious) story about him watching the swings of the bronze chandelier in the cathedral of Pisa to conclude about the indifference of weight to pendulum movement, actually puts him into the range of evidential scholars, noticing the overlooked and drawing conclusions – even though in this case nomothetic ones. But this is one of the often in itself overlooked features of indices: They do not necessarily tell us about singular facts; they may just as well tell us about generalities. Seeing the footstep in the snow may make you conclude that somebody has walked there. But it may just as well remind you that people who walk in the snow, make footsteps.

Deduction, Induction, Abduction And this brings us back to Aristotle and the quotation above from his Rhetoric, here repeated in a very abridged version: “Among signs, some are related as the particular to the universal; for instance, if one were to say that all wise men are just, because Socrates was both wise and just. […] Other signs are related as the universal to the particular, for instance, if one were to say that it is a sign that this man has a fever, because he breathes hard […].”39

But first of all it brings us back to Charles Sanders Peirce and his way of handling indices as part of his general logical and epistemological considerations. Just look at this example, taken from an essay originally from the Popular Science Monthly (1878): “A certain anonymous writing is upon a torn piece of paper. It is suspected that the author is a certain person. His desk, to which only he has had access, is searched, and in it is found a piece of paper, the torn edge of which exactly fits, in all its irregularities, that of the paper in question. It is a fair hypothetic inference that the suspected man was actually the author. The ground of this inference evidently is that two torn pieces of paper are extremely unlikely to fit together by accident.”40 39 See note 12. 40 PEIRCE, 1992, p. 192.

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One would nearly think that Peirce had been reading Conan Doyle, but that is impossible: The first Sherlock Holmes text, the novel A Study in Scarlett, was not published before 1887. And even though the essay has a few more examples of this “popular” kind, its title, “Deduction, Induction, and Hypothesis”, reveals that it is a rather technical text where Peirce has set out to give examples and theoretical discussions about not only the two standard forms of reasoning, deduction and induction, but also of what he here calls “hypothesis”, but later would call “abduction”, the inference from indices. Ordinary popular introductions to logic distinguish between two kinds of reasoning, deductive and inductive; with the words of Aristotle’s translator above, we can say deduction goes from the universal to the particular, and induction from the particular to the universal. The costumary “technical” way of putting up a piece of deductive reasoning is through two premises and a conclusion, i.e. as a syllogism; even though we colloquially just say things like “He breathes hard, so he must have a fever”, the traditional textbook puts it up in a structure like this: All people who breathe hard, have a fever. This man breathes hard. Therefore this man has a fever.

An important point here is that if the two premises are true, the same necessarily goes for the conclusion. Induction, however, is not only colloquially put up as a statement with two parts, but also in more formal reasoning: “The wise Socrates is just, so therefore all wise men are just.”41 But Peirce prefers to put it up as a triadic, syllogistic structure, which would be: Socrates is a wise man. Socrates is just. Therefore all wise men are just.

41 The well-known textbook example is of course „This swan is white, therefore all swans are white“, or rather „All swans I have ever seen are white, therefore all swans are white“, but the logical structure is the same if only one swan is mentioned as evidence.

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Inductive reasoning, obviously, does not guarantee the truth of the conclusion, but only some degree of probability. And the same goes for the third kind of reasoning, abduction. In the example from Peirce above we have a piece of discursive reasoning, actually combining two inferences, one deductive and one abductive, that might be put up like this in triadic structures: Two torn pieces of paper that fit perfectly together, are parts of the same sheet. These two torn pieces of paper, P1 and P2, fit perfectly together. Therefore P1 and P2 are parts of the same sheet. P1 (which is part of the same sheet as P2) stems from the author A. Torn pieces of paper from the same sheet, stem from the same author. Therefore P2 also stems from the author A.

Peirce makes the remark that because of the common inconclusive character of the reasoning, abduction (“hypothesis”) is often mixed up with induction,42 but the difference is that the abducted conclusion is about a particular fact, not a general statement like the inductive one; abduction rather uses general knowledge (or what is taken for general knowledge) to reach the conclusion. Peirce emphasizes that all three kinds of signs are involved in any kind of reasoning, but obviously for us the most important, and the most easily detected, is the index, the trace of some situation or event. And just as obviously, in the sciences of culture we more often than not make use of traces to create knowledge that is both idiographic and all but apodictic. We are primarily looking for knowledge about the particular person, the particular historical period, the particular work of art etc., and even though we are looking for facts (and may feel pretty sure that the author A in Peirce’s example above did write the anonymous note), we do not pressupose that we can produce knowledge that is safely beyond any kind of dispute. So it is neither induction nor deduction that is the prototypal form of reasoning in the sciences of culture, but abduction using traces as launch pad.

42 Ibid.

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Lookin g for Traces Spurensuche, looking for traces – and the incipit of this text, seen as signs, brought me straight to Peircean semiotics. By way of abduction, of course: These young cultural scholars from Mainz are looking for traces. Peirce is the modern semiotician who most thoroughly has discussed traces as signs. Therefore we are joining these young cultural scholars in Peircean territory!

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Poesie des Überrests Zur Konstruktion von Vorzeitigkeit in Thürings von Ringoltingen Melusine und Hans Jacob Christoffel von Grimmels hausens Simplicissimus Teutsch MARCO LEHMANN/KERSTIN RÜTHER

Die folgenden Überlegungen erkunden den Stellenwert, den zwei gattungsgeschichtlich herausragende Romane aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit der Figur des Überrests einräumen. Genauer gesagt wird es um architektonische Überbleibsel, um alte Schlösser und Ruinen, gehen. Sowohl die Melusine Thürings von Ringoltingen als auch Grimmelshausens Abentheurlicher Simplicissimus Teutsch setzen solche bauliche Relikte in Szene, die sich als Spuren einer abgesunkenen Vorzeit in die erzählte Gegenwart hinein erhalten. (In Form eines Zwischenspiels werden wir uns zudem einem Sonett Francisco Quevedos zuwenden, das in exemplarischer Weise für die barocke Perspektive auf architektonische Fragmente einstehen kann und sich deshalb als Folie für Grimmelshausens Indienstnahme des Motivs empfiehlt.) Wo literarische Texte in der fiktionalen Welt, die sie entwerfen, indexikalische Zeichen lancieren – ganz gleich ob es sich um Fußabdrücke, Narben oder eben Ruinen handelt –, wird es ihnen beinahe immer um die Verknüpfung mit einer Vorgeschichte zu tun sein; diese dokumentiert sich in den ausgelegten Indizien oder muss aus ihnen

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überhaupt erst rekonstruiert werden. Entsprechend erweisen sich auch die baulichen Überreste in unseren beiden Romanen als Portale in eine dem Jetzt des Erzählens vorgeschaltete Vergangenheit. Die Texte öffnen sich jeweils auf eine Zeittiefe, die dazu herausfordert, narrativ ausgelotet zu werden. Dem Leser wird auf diesem Wege eine detektivische oder eher noch historiographische Optik angetragen: Sein Augenmerk soll sich auf den Zeichen- und damit auch auf den möglichen Zeugniswert der in den Textwelten placierten Architekturreste richten; zugleich wird ihm die Frage nahegelegt, wie die in ihnen konservierte Vorgeschichte sich zu der übergeordneten Zeitebene der Narration verhält. Wir nehmen diese von den Romanen selbst dargebotene Perspektive auf und versuchen im folgenden, einerseits die temporalen Strukturen genauer zu entziffern, die in der Melusine und im Simplicissimus dort impliziert sind, wo an baulichen Spuren entlang erzählt wird. Zum anderen analysieren wir die erkenntnistheoretischen und semiologischen Modelle, auf denen die einschlägigen Konstellationen aufruhen. Die so umrissenen Problemstellungen lassen sich auf die Frage hin engführen, welche Konzeptionen von (Vor-)Geschichte und historischer Beglaubigung die Texte entwickeln. Wird das Verhältnis zwischen erzählter Vergangenheit und Gegenwart durch Alterität oder Kontinuität bestimmt? Und welche Verschiebungen ergeben sich unter den aufgeführten Aspekten, wenn man die Schwelle zur Neuzeit überschreitet? Die communis opinio dürfte dahingehen, dass die Faszination durch Ruinen, der sentimentalische Blick auf sie, der die eigene Distanz gegenüber der in ihnen bezeugten Vergangenheit mitreflektiert, ein spezifisch modernes, dem mittelalterlichen Denken fremdes Phänomen darstellt. Zumindest für den spätmittelalterlichen Melusinen-Roman muss, so werden wir sehen, diese These relativiert werden. Schließlich interessiert uns die spezifisch literarische, poetologische Einfärbung, welche die Beziehung zwischen architektonischer Spur und der von ihr vergegenwärtigten Vorgeschichte in unseren Texten erfährt.

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Thüring von Ringoltingen: Melusine – Der curiöse Blick und die Sichtbarkeit des Vergangenen Wohl kaum ein anderer mittelalterlicher Text hebt so hartnäckig die Figur des architektonischen Überrestes in das Bewusstsein seiner Rezipienten wie der Melusinenroman. Dessen deutscher Bearbeiter, Thüring von Ringoltingen, verschärft diese Tendenz sogar noch, indem er, unabhängig von seiner Vorlage, einen zusätzlichen ruinösen Schauplatz einführt – wir kommen gleich darauf zurück. Die Geschichte von der Heirat Reymunds mit der ‚Merfaye‘ Melusine modelliert insgesamt ein narratives Universum, in dem so gut wie nichts geschieht, ohne sich nachdrücklich ins Register der Sichtbarkeit einzutragen und also Spuren zu hinterlassen. Man erkennt leicht, dass diese Beschaffenheit der dargestellten Welt mit der erklärten Absicht des Romans zusammenhängt, das Geschlecht derer von Lusignan durch eine rühmende Ursprungserzählung zu verherrlichen. Das genealogische Projekt, dem der Text sich derart verschreibt, ist nur unter der Bedingung überhaupt sinnvoll, dass die geschilderten Ereignisse anhaltende Konsequenzen zeitigen und nicht etwa in eine immer von neuem sich wiederherstellende Ausgangsposition zurücksinken. Erfordert wird ein Chronotopos 1, der es erlaubt, die Gegenwart des Erzählakts mit der erzählten Vergangenheit zu verketten. Diese Voraussetzung mag trivial erscheinen; man muss jedoch in Betracht ziehen, dass viele narrative Texte, zumal unter vormodernen Auspizien, entweder mit zyklischen Zeitstrukturen oder aber mit einer isolierenden Episodenfügung 2 arbeiten, die lebensweltlich zu erwartende Wirkungen von Szene zu Szene ‚vergisst’. Charakteristischerweise stilisiert der Melusinenroman gerade ein Schloss, das als bauliches Residuum in die Gegenwart der Narration hineinragt, zum Erzählanlass und Ausgangspunkt seiner historischen Imaginationsarbeit. In den Worten Thürings von Ringoltingen:

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Zum Konzept des Chronotopos vgl. BACHTIN, 1989, S. 7-9 u. passim. Zur isolierenden Erzählweise vgl. LUGOWSKI, 1994, S. 22-24. Lugowskis Untersuchungen richten sich vornehmlich gerade auf den frühen Prosaroman und zeigen damit auch, dass die entsprechenden narratologischen Phänomene dieser literarhistorischen Formation an sich keineswegs fremd sind.

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Wie sich hier bereits andeutet, illustriert der Roman die genealogische Kontinuität, um die es ihm zu tun ist, beharrlich durch die Dauerhaftigkeit architektonischer Zeugnisse. Entsprechend führt er Melusines Rolle als Gebärerin und Ahnfrau bis in die Ebene des discours hinein mit denjenigen Initiativen eng, die sie als bedeutende Bauherrin ausweisen. Nachdem er von der Errichtung des Schlosses Lusignan durch Melusine berichtet und die einleitende Fragestellung also eingeholt hat, fährt der Erzähler beispielsweise fort: „DO nun das schloß mit türnen / ringkmauren zwinggolffen und gräben auß bereÿtt ward und auß der massen starck gemachet / vnd aller mengklich da verwundret der grossen gebeẅe vnd wercks Do nächnet die zeÿt das Melusina nun eines kindes solt niderkummen vnd genesen / do genaß si eines sunes [/] den nampte sÿ Vriens / der darnach zuo grossen eren kam [.]“ (M 46f.)

Der Melusinen-Roman entwirft sich also unter dem doppelten Aspekt von Abstammung und Architektur als Vorgeschichte von Erscheinungen, die der zeitgenössische Rezipient prinzipiell noch wahrnehmen kann. Thüring verbleibt dabei, was seine Selbstinszenierung als Erzähler betrifft, innerhalb der Grenzen, die ihm durch seine tatsächliche Rolle als Bearbeiter und Übersetzer vorgezeichnet sind. Er muss deshalb gleich mehrfach treuherzig beteuern, der Verfasser seiner Vorlage – Couldrette also – habe mit eigenen Augen diese oder jene Folge der erzählten Geschehnisse gesehen. Auf diesem Wege soll der Anspruch auf „warheit“ (M 176) beglaubigt werden, den auch Thüring noch mit der von ihm vorgetragenen Geschichte verknüpft und der, wie in der Forschung immer wieder hervorgehoben wurde, in eine merkwürdige Spannung zur phantastisch-mythischen Kontur des Melusinen-Stoffs

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gerät.3 Man muss hervorheben, dass das gemeinhin als genuin neuzeitlich taxierte Erkenntnisprinzip der Autopsie sich im spätmittelalterlichen Melusinen-Roman bereits zu einer entscheidenden Instanz aufschwingt. Bemerkenswert dabei ist, dass seine Wirksamkeit nicht auf solche Spuren beschränkt bleibt, welche geeignet sind, die im Text ausgebreitete Version der familiären Frühgeschichte derer von Lusignan zu untermauern. Thüring schwächt die Geltung der Wahrheitstechnik ‚Autopsie‘ zwar insofern ab, als er sich selbst auf die auctoritas seiner Vorlage stützt – deren Verfasser die aufgerufenen Zeugnisse freilich ‚mit eigenen Augen‘ gesehen haben soll. Er kompensiert dies jedoch zum einen, indem er noch einen zweiten, ihm persönlich bekannten Gewährsmann anführt, einen Herrn von Erlach, der „da in vil schlössern die Melusina erbawen hat / als dises buoch beweÿset gewesen ist / vnd die gesehen hat“ (M 175).4 Zudem inseriert er an entscheidender Stelle eine Anekdote, deren Überzeugungskraft er seinerseits im Rückgriff auf das autoptische Verfahren zu steigern sucht. Einmal mehr steht dabei, wie angedeutet, ein architektonischer Überrest im Fokus. Genau an dem Punkt, an dem Reymundts Glück sich zu wenden scheint, führt Thüring eine Maxime des Augustinus ins Feld, der zufolge weltlicher Erfolg ein verlässliches Symptom jenseitiger Verdammnis darstellt. Er veranschaulicht diese Behauptung durch einen narrativen Exkurs, der den Kirchenvater (in einigen Handschriften: dessen Lehrer Ambrosius) auf einer Reise im Gespräch mit seinem wirt, 3

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Vgl. die häufig variierte Kennzeichnung Hugo Kuhns: „Was an dieser Geschichte, ob in Versen oder, mehr kanzleimäßig, in Prosa erzählt, irritiert, ist eben diese völlig unmotivierte Verbindung der, immer wieder durch Zeugen und Zeugnisse bewährten, Historizität des Aufstiegs der Familie Lusignan-Parthenay – die ja eigentlich kaum mehr als lokales Interesse beanspruchen kann – mit der absolut unbekümmerten MärchenStofflichkeit und -Systematik , die dieses historisch ‚neue‘ Glück der Familie wie ein Signum, ein Zeichen überdeckt […]“ KUHN, 1980, S. 154. Die Berufung auf den Berner Twingherrn kann durchaus als Appell an das Publikum verstanden werden, sich die vermeintlichen Spuren von Melusines Wirken selbst vor Augen zu führen: „Die obligate Tour durch die Höfe Burgunds und Frankreichs, Gegenstand einer ausgedehnten Berner Reise- und Memoirenliteratur, […] wird hier gleichsam zum Äquivalent für die ‚klassischen‘ Vollzugsformen höfischer Literatur. Der Bericht des Erlachers ist so gesehen nicht nur Beleg für die Authentizität der Sage, sondern auch ein Angebot, sie in eigener Praxis nachzuvollziehen.“ (WEINMAYER, 1982, S. 78f.)

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einem ehemaligen „schuolgesel“ (M 95), zeigt. Als dieser ihm gegenüber sein zeitliches Wohlergehen und seinen Reichtum anpreist, ergreift Augustinus eilig die Flucht. Dazu hat er in der Tat allen Grund: „Do sant Augustin nit verr von dem hause auf die strasse kam / do gieng das hauß oder die herberg dar jnnen sant Augustin das nachtmal gessen hett an und verpran. vnd verdarb der wirt und alles sein hawßgesinde weib und kind knechtt und meýde Vnd man sicht noch heẅt zuo tagen die gruoben desselbigen hawß [.]“ (M 93)

Die christliche Variante des Polykrates-Topos5, die der Roman so aufbietet, wird mit gewichtiger Geste als Interpretament zu Reymundts Biographie vorgebracht; sie trägt in Wahrheit aber wenig dazu bei, dieser einen eindeutigen Sinn beizulegen. Thürings Zutat verschärft vielmehr den für den Melusinen-Roman ohnehin fundamentalen Widerspruch noch einmal – dass die Historie der Familie Lusignan doch offenbar als Erfolgsgeschichte zu denken ist, obwohl Reymundts Tabubruch eigentlich böse Konsequenzen nach sich ziehen müsste. Der Protagonist überlässt sich der Todsünde des Zorns und vereitelt durch seine Unbesonnenheit Melusines Erlösung – soll man unterstellen, er setze so zwar einerseits dem ungehemmten Fortprosperieren seiner Nachkommenschaft eine Grenze, demonstriere aber gerade hierdurch

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Die im deutschsprachigen Kontext namentlich durch Schillers Ballade prominent gebliebene Geschichte von Polykrates, dem der Pharao Amasis die Gastfreundschaft aufkündigt, weil er in seinem fortwährenden Glück die Ankündigung einer finalen Katastrophe erkennt, ist bei Herodot, Historien, III, 39-45 überliefert. In der christlichen Version der Legenda aurea wird aus dem Tyrannen, als der Polykrates bei Herodot erscheint, schlicht ein reicher Mann, der Ambrosius bei sich beherbergt. Im Hintergrund der Anekdote steht unverkennbar die genuin pagane Vorstellung vom Neid der Götter. Es kann deshalb im Grunde nicht überraschen, dass die christliche Adaption der Geschichte ein so brüchiges Gepräge zeigt: Denn das Glück des Gastfreundes soll ja als Zeichen einer jenseitigen Verdammnis vorgestellt werden; was dann aber strafend eintritt, ist ein Hausbrand, ein weltlicher Schadensfall also. Dieser soll zwar sicherlich so verstanden werden, dass der wirt zur Hölle bestimmt ist, wohin ihn die göttliche Gerechtigkeit gewissermaßen vom Fleck weg beordert. Nur ist es dann eben das Unglück, nicht das Glück, des Gastgebers, das seine Verwerfung durch das göttliche Gericht anzeigt.

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auch, dass diese nicht zur damnatio eterna bestimmt ist?6 Wie dem auch sei: Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass Thüring, um die Glaubwürdigkeit der von ihm angezogenen Anekdote zu bekräftigen, die Möglichkeit in Spiel bringt, seine Leser könnten die Grube jetzt noch selbst besichtigen, die der Überlieferung nach von dem Schicksal des hochmütigen Gastfreundes kündet. Zwar beruft sich die Legenda aurea, der er die eingeschobene Erzählung entnimmt, ebenfalls bereits auf diese angebliche Spur des Geschehens. Thüring überführt die damit vorgegebene rhetorische Strategie aber in einen Kontext, in dem die Figur der Autopsie zur dominanten Beglaubigungstechnik avanciert ist und nicht mehr nur akzidentelle, sondern grundsätzliche Bedeutung beansprucht. Das wird nicht zuletzt daran kenntlich, dass auch die Figuren des Romans auf sie zurückgreifen, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, was vorgefallen ist. Als Reymundt Nachricht davon erhält, dass Geffroy das Kloster zu Malliers in Schutt und Asche gelegt und dabei seinen Bruder Freymundt getötet hat, gibt er sich mit der mündlichen Botschaft nicht zufrieden: „Er saß auff gar schnell on allen verzug vnd reit selbs gen malliers.“ (M 112) Bald kommen ihm umlaufende Gerüchte und Klagen über die Zerstörung des Klosters zu Ohren; von der Wahrheit des Vernommenen kann ihn jedoch erst der Augenschein überzeugen: „Er kam auff die hoffstat [/] do sahe er das closter vnd alle münch gancz verprant Do wart er so zornig das es auß dermassen was vnd souil das er sein selbs entgalt […].“ (M 112) Das Verfahren der Autopsie wird also nicht allein dem Leser angetragen, dem der Text zu suggerieren sucht, die Zeugnisse der erzählten Vergangenheit seien im Augenblick der Narration noch gegenwärtig. Es ist insgesamt das angemessene Erkenntnisprinzip für die im Roman modellierte Welt, in der 6

Zu den Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man versucht, der Einschaltung Thürings eine Deutungsanweisung für den Handlungsverlauf des Romans insgesamt zu entnehmen, vgl. VON ERTZDORFF, 1996, S. 444: „Raimunds und Melusines Verhalten in der glücklichen Phase ist christlich-vorbildlich, es besteht daher kein Grund, aus ihrem glücklichen Leben auf ihre Verdammung zu schließen. Ferner vernichtet das Unglück, das angeblich zu ihrem Heil sein soll, gerade Melusines Erlösungsmöglichkeit. Wie verhält sich außerdem diese höhere Notwendigkeit des Unglücks zu der von Thüring betonten moralischen Verantwortung Geffroys und Raimunds an der Katastrophe? Der Erzähler reflektiert über diese Fragen nicht.“

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alles zur Sichtbarkeit drängt und fast nichts geschieht, ohne in Form eines indexikalischen Zeichens zu Buche zu schlagen. Die – handlungslogisch zentrale – Episode um die Verwüstung des Klosters zu Mailliers bestätigt überdies noch einmal, dass der Roman die Dimension der Genealogie beharrlich mit der Dauerhaftigkeit baulicher Denkmäler assoziiert: Indem er seinen Bruder Freymundt ermordet, begeht Geffroy einen drastischen Verstoß gegen die familiäre Ordnung; gleichzeitig vernichtet er mit dem Kloster zu Malliers aber auch eine der architektonischen Stiftungen seiner Mutter. Signifikanterweise schreiben sich in der Vorzeit, die der Roman entwirft, gerade auch die Abstammungsverhältnisse unmittelbar in das visuelle Register ein. Melusines Söhne sind in ihrer Mehrzahl durch sonderbare körperliche Entstellungen als die Nachkommen eines übernatürlichen Wesens ausgewiesen. 7 Allein in Geffroys Falle deutet die Deformation, die er trägt – der überproportionierte Eberzahn –, augenscheinlich auf seinen Vater zurück. Sie hält als Erinnerungszeichen den denkbar zwielichtigen Jagdunfall präsent, bei dem der Graf Emmerich, Reymundts Pflegevater, ums Leben kommt: Als er versucht, einen angreifenden Eber zu erlegen, rutscht Reymundt mit seinem Spieß ab und tötet seinen ‚vetter‘ – versehentlich, wie der Roman nicht müde wird zu betonen.8 Unter strukturellen Gesichtspunkten erscheint Reymundt an dem Unglück, das seinen wundersamen Aufstieg zu Macht und Reichtum einläutet, allerdings keineswegs so unschuldig,

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Zum Doppelcharakter dieser Anomalien als ‚Zeichnung‘ und ‚Auszeichnung‘ vgl. MÜHLHERR, 1993, S. 26. Vgl. weiterhin STÖRMER-CAYSA, 1999, die betont, dass die phantastischen Körpermerkmale ein „Handlungsprogramm“ (S. 254) beinhalten, welches Melusines Söhne an entlegene Länder verweist – dem Prinzip mittelalterlicher Kosmographie folgend, dass das Wunderbare als räumlich entfernt imaginiert wird. Auf die Verbindung zwischen Geffroys Entstellung und dem Jagdunfall seines Vaters weist Claude Lecouteux hin: „Nous pouvons comprendre la dent de sanglier que possède Geoffroy si nous nous souvenons de la nuit fatale au cours de laquelle Raymond tue son oncle.“ (LECOUTEUX, 1982, S. 50.) Vgl. auch STÖRMER CAYSA, 1999, S. 251: „Geffroys Eberzahn erinnert seinen Vater für immer an den Totschlag, dem er die Bekanntschaft mit Melusine verdankte.“ Zumindest sollte er das – denn wie sich zeigt, hat Reymundt diesen Zusammenhang an bedeutsamer Stelle gerade nicht vor Augen.

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wie die Versicherungen des Erzählers es glauben machen wollen.9 Wenn Geffroy seinerseits einen Verwandten, seinen Bruder Freymundt eben, tötet, bewegt er sich nur allzu deutlich in den Fußstapfen seines Vaters. Das signalisiert nicht allein der ominöse Eberzahn: Als Geffroy erfährt, dass Freymundt sich für die aus seiner Sicht ehrenrührige Laufbahn eines Mönchs entschieden hat, schäumt er, wie es ausdrücklich heißt, vor Zorn „als ein wildes schwein“ (M 107). Von hier aus fällt einiges Licht auf die für den Roman so zentrale Szene, in der Reymundt Melusine die Schuld an Geffroys Untat zuschiebt, sie öffentlich als „schlang“ verklagt und damit das ihm auferlegte Tabu irreversibel bricht: „O du pöse schlang und schemlicher wuorm / Dein sam noch dein geschlecht thuot nymmer mer guot / Sich was schönen anfangs dein sun Geffroÿ mit dem grossen czan hat gethan. vnd das er hat seinen pruoder vnd nemlich hundert münch vnd einen. vnd das schön goczhauß verprant vnd lesterlich verderbet. vnd besunder meinen sun Fraÿmund. den ich doch von herczen lieb hette. vnd ich pin do gewesen vnd hab es alles selbs mit den augen gesehen.“ (M 114f.)

Offenkundig hat man es mit einer drastischen Selbsttäuschung zu tun (deren implizite Komik vom Leser durchschaut werden soll), wenn Reymund derart säuberlich zwischen „dein[em] sun Geffroÿ“ und „meine[m] sun Fraÿmund“ unterscheidet.10 Genau der Jähzorn, der es 9

Anna Mühlherr hat deutlich gemacht, dass Reymundts Verhalten auch aus der Perspektive der zeitgenössischen Rechtsprechung ins Zwielicht rückt: Indem er den Unfall zu verheimlichen trachtet, stempelt er sich quasi selbst zum Mörder; vgl. MÜHLHERR, 1993, S. 18f. Einige der dubiosen Züge der Jagdunglück-Episode hebt Ursula Liebertz-Grün hervor: „Warum benutzt Raymond nicht die eigene Waffe, sondern die seines Verwandten […], der somit waffenlos ist? War das Wildschwein schon in dem Moment nicht mehr in der Nähe des Herrn […], als Raymond den Herrn versehentlich erstochen hat? Hat die Weissagung Raymond veranlasst, auf den am Boden liegenden Herrn einzustechen, reflexartig, unwillkürlich, ohne sich selbst die Absicht einzugestehen? Handelt es sich um einen Unfall oder um einen, man könnte sagen, ‚Freudschen Verstecher‘?“ (LIEBERTZ-GRÜN, 1990, S. 231.) 10 Auf den tendenziösen Gebrauch, den Reymundt hier von den Possesivpronomina macht, wird Anna Mühlherr aufmerksam: „Das Unterscheiden der Söhne in din und min ist eine kongeniale Herausarbeitung der ‚Sub-

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erlaubt, ihn rhetorisch einem „wilde[n] schwein“ anzunähern, verdeutlicht, dass Geffroy im Gegenteil ganz nach der Seite seines nicht minder leicht erregbaren Vaters ausschlägt. Reymundt mag die Spuren von Geffroys Verbrechen „selbs mit den augen“ gewahrt haben; das heißt aber keineswegs, dass er nicht für entscheidende Aspekte seiner Familiengeschichte blind wäre – sogar dann, wenn diese in Gestalt eines Körperzeichens offen genug zu Tage liegen. Nach allem, was bisher ausgeführt wurde, zeichnet sich ab, dass der Akt des Sehens im Melusinen-Roman eine höchst zwiespältige Bewertung erfährt. Einerseits wird die Autopsie, das Mit-den-eigenen-AugenWahrnehmen, im Text als zentraler Modus der Beglaubigung aufgebaut, der gerade auch der erzählten Geschichte insgesamt Kredit verschaffen soll. Davon hebt sich jedoch prägnant ab, dass das Verbot, gegen welches Reymundt verstößt, in erster Linie ein Sichtbarkeitstabu darstellt. Der Protagonist sündigt mit den Augen, wenn er – wider den Eid, den er geleistet hat – Melusine an einem Samstag im Bad beobachtet. Zwar bemüht der Roman sich nach Kräften, diesen Grundzug der in ihm bearbeiteten Fabel abzuschwächen. Er trägt etwa Sorge dafür, dass Reymundt eine zweite Chance eingeräumt wird und erst der Zornesausbruch, der ihn dazu verleitet, seine Entdeckung öffentlich zu machen, als die ausschlaggebende Tabuverletzung erscheint. Die evokative Kraft der Szene, in deren Rahmen Reymundt Melusine im Bad erspäht, wird hierdurch jedoch mitnichten geschmälert; ebenso bleiben ihre semiotischen Implikationen auch gegen den Strich der Umdeutungen lesbar, die der Text auf der Ebene des Plots vornimmt. So kann man schwerlich die erotische Einfärbung überlesen, die das Geschehen an der Badezimmertür offenbart. Unter pragmatischem Aspekt mag die Frage legitim sein, warum der Protagonist sich seiner Ehefrau, mit der er eine stattliche Anzahl von Kindern gezeugt hat, in der Art eines Voyeurs

stanz‘ der Rede Raymonds [durch Thüring]: eben der Versuch [sic], von sich selbst abzusehen und die ‚Schuld‘ Melusine zuzuschieben.“ (MÜHLHERR, 1993, S. 42.) Mühlherr erkennt auch gewisse Ähnlichkeitsrelationen, die der Text zwischen Reymundts und Geffroys Verhalten einrichtet (vgl. ebd., S. 44: „Raymond handelt im Prinzip genau wie sein Sohn.“). Sie thematisiert allerdings nicht die entscheidende Bedeutung, die dem Motiv des Ebers beziehungsweise des Eberzahns in dem skizzierten Zusammenhang zukommt, und kann deshalb die doppelbödige Anlage der zitierten Passage nicht wirklich ausloten.

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nähern sollte. Wenn Reymundt allerdings sein Schwert zückt, um ein „loch durch die türe“ (M 97) zu bohren und so in das Bad hineinlugen zu können, ist der dieser Konfiguration innewohnende Bedeutungsüberschuss mit Händen zu greifen. Einen zusätzlichen Wink gibt die Episode um Reymundts Enkel Gys, die markant als Parallelveranstaltung zur Verfehlung des Protagonisten angelegt ist. Gys besteht zwar die mit Melusines Schwester Meliora verknüpfte Sperber-Aventiure, verstößt danach aber gegen die für diese fundamentale Klausel: Der Gewinner der Aventiure darf alles fordern, nicht jedoch „die iunkfrawen Meliora“ (M 157). Der Erzähler kommentiert Gys’ unheilvolle Leidenschaft für seine Großtante durch folgenden Vergleich: „Diser torete künig von Armenie der ließ sich betriegen die schön vnd die liebe. oder begierde der frawen / Als auch thetten die zwen alten richter gegen Susanna. als uns Daniel der prophet beweiset[.]“ (M 162) Betont beiläufig spielt der Text so auf eine apokryphe Erzählung an, die sich einige Prominenz insbesondere als Vorlage für ikonische Umsetzungen bewahrt hat. Bekanntlich befindet sich die besagte Susanna gerade ‚im Bade’, als sie die Aufmerksamkeit der beiden lüsternen Richter erregt. 11 Mit dem Hinweis auf sie offeriert der Melusinen-Roman demnach eine Deutungshilfe für diejenige Badezimmerszene, die er selbst seinen Lesern vor Augen stellt. Die Figur der Susanna empfiehlt sich schon deshalb als Folie für Melusine, weil sie genau wie diese fälschlich des Ehebruchs bezichtigt wird – Melusine wird von Reymundts Bruder, dem Grafen vom Forst, verleumdet, Susanna von den zwei alten Richtern, deren Avancen sie sich entzieht. 12 Reymundt wiederum gerät durch seine Position vor der Badezimmertür in eine prekäre Nähe zu den beiden Antihelden der Apokryphe; der Text spiegelt sein Verhalten an der Schaulust, als deren Verkörperung die Richter in das kulturelle Bildgedächtnis eingegangen sind. Die „begierde der frawen“, der diese ebenso wenig wie Gys widerstehen können (und auch die inzestuöse 11 Die pikturalen Anverwandlungen der Erzählung kaprizieren sich selbstverständlich genau auf diese Szene, erlaubt sie es doch, die Schaulust des Betrachters im Bild selbst vorwegzunehmen und zu verdoppeln. Prominente Gestaltungen des ‚Susanna-im-Bade‘-Motivs finden sich etwa bei Altdorfer, Rembrandt, Rubens, van Dyk oder Tintoretto. 12 Es ist dann der Prophet Daniel, der die beiden unehrlichen Richter forensisch ausmanövriert, indem er sie unabhängig von einander befragt und so der Falschaussage überführt.

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Tinktion, die sie im Falle des Letzteren annimmt), wird auf Reymundt zurückprojiziert – auch wenn der Roman an Ort und Stelle ganz andere Motivationen für dessen Handeln namhaft macht. 13 Die Figur der Autopsie in der Melusine muss nicht zuletzt im Lichte der curiositas-Motivik14 betrachtet werden, die den Text hintergründig durchzieht. Auch hier erweist sich die Szene an der Badezimmertür als besonders aufschlußreich. Der Roman lässt wohlverstanden kaum etwas unversucht, um seinen Helden von dem Verdacht freizuhalten, er obliege, wenn er dem samstäglichen Treiben seiner Ehefrau nachforscht, dem Laster der Neugierde. Im Gegenteil hat es ganz den Anschein, als werde Reymundt mit Blick auf das Tabu, das seine ehelichen Rechte einschränkt, selbst nie auch nur von der leisesten Unruhe befallen. Einzig die Insinuationen des Grafen vom Forst verleiten ihn dazu, nach vielen Jahren den Eid doch noch zu brechen, den er Melusine geleistet 13 Man sitzt also keineswegs einer anachronistischen Fehllektüre auf, wenn man registriert, dass Reymundts Auftritt vor der Badezimmertür eine entschieden sexuelle Konnotation trägt – die entsprechende Lesart wird im Gegenteil durch die paradigmatische Erzählweise des Romans selbst bekräftigt. Die psychosemiotische Ausdeutbarkeit des im Text aufgebauten Szenarios lässt sich ohnehin nur schwer bestreiten; sie dürfte entscheidend zu der anhaltenden Attraktivität beigetragen haben, die der MelusinenStoff auf spätere Epochen und insbesondere die Literatur der Romantik ausgeübt hat. Indem er sein Schwert hervorzieht und sich damit an der Tür zu schaffen macht, vollführt Reymundt eine phallische Parade. Was er jedoch durch den Blickkanal, den er sich öffnet, zu sehen bekommt, ist der „grosse[] lange[] veÿntliche[] vnd ungeheẅre[] wurmes schwancz“ (M 97), in den Melusines Körper an Samstagen ausläuft. Reymundt wird mit der Imago der phallischen Frau konfrontiert; dieser gegenüber nimmt sein Schwert sich wenig eindrucksvoll aus (zu Melusines Schlangenschwanz als Phallussymbol bzw. Melusine als phallischer Mutter vgl. LECOUTEUX, 1982, S. 56 sowie MERTENS, 1992). Bei all dem darf man nicht aus den Augen verlieren, dass der Romanheld am Beginn seiner Laufbahn auf die geschilderte dubiose Art den Grafen Emmerich vom Leben zum Tode befördert – eine ausgesprochene Vaterfigur. In nur geringfügig verschobener Form zieht der Melusinen-Roman die Grundlinien eines ödipalen Dramas aus – wobei dem Aspekt der Schaulust besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. 14 Zur philosophischen und theologischen Diskussion um die curiositas in der europäischen Geistesgeschichte vgl. die klassische Studie von Hans Blumenberg (BLUMENBERG, 1996); zu curiositas und visueller Überprüfbarkeit als Wahrheitskriterium im frühneuhochdeutschen Prosaroman allgemein – mit Schwerpunkt auf Fortunatus und Faustbuch – vgl. MÜLLER, 1984.

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hat. Nicht einmal die tendenziell doch befremdliche Entdeckung, dass seiner Ehefrau von Zeit zu Zeit ein schuppiger Schlangenschwanz wächst, vermag Reymundt zu irritieren. Der Erzähler weiß jedenfalls ausschließlich von dem großen Zorn zu berichten, der den Helden überkommt, nachdem er sich mit eigenen Augen die Gewissheit verschafft hat, dass die von seinem Bruder aufgebrachten Vorwürfe haltlos sind. Melusine mag sich unterhalb des Nabels regelmäßig in einen „grosse[n] lange[n] veÿntliche[n] vnd ungeheẅre[n] wurmes schwancz“ (M 97) verwandeln – ihren Gatten lässt dies völlig kalt, solange sie nur nicht fremdgeht. Die nächstliegende Motivation für Reymundts Recherche, Neugierde eben, wird mit einer Gründlichkeit aus der Erzählung getilgt, die man nur als überwertig bezeichnen kann. Auch in dieser Hinsicht spricht freilich die Ikonographie der im Roman ausgefalteten Szene eine ganz andere Sprache. Wenn Reymundt ein Loch in die Tür bohrt, um seiner Ehefrau auf die Schliche zu kommen, scheint der Text geradezu ein Sinnbild der curiositas vor seinen Lesern auszubreiten. Es überrascht deshalb nicht, auch in anderen Passagen auf die Spur dieser nirgendwo explizit gemachten Thematik zu stoßen. So trifft es zwar möglicherweise zu, dass der berühmte Einleitungssatz der aristotelischen Metaphysik, dem zufolge alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, im Spätmittelalter zu einer „trivialen Sentenz“15 herabgesunken ist, die überall dort zur Hand ist, wo die Ausbreitung von Erkenntnisbeständen einer Rechtfertigung bedarf. Trotzdem sollte man nicht zu rasch darüber hinweggehen, dass der Melusinen-Roman den Anfang der Metaphysik in seiner Vorrede zitiert (vgl. M 11). Denn mit ihm wird natürlich ein wichtiger Topos aus der Diskussion über die curiositas abgerufen, der sich gegen ihre Brandmarkung als Laster durch Augustinus in Anspruch nehmen ließ. 16 Prima facie scheinen Couldrette und Thüring den aristotelischen Elementarsatz lediglich anzuführen, um ihre Beschäftigung mit dem Melusinenstoff respektive dessen abenteuerlich-wunderbaren Aspekten zu legitimieren; 17 bei 15 MÜLLER, 1990, S. 1042. 16 Zum Stellenwert, der dem aristotelischen Axiom von der Natürlichkeit menschlicher Wissbegierde innerhalb der curiositas-Debatte zukommt, vgl. BLUMENBERG, 1996, S. 292-296 und passim. 17 Jan-Dirk Müller hat herausgearbeitet, dass Thüring dabei den Akzent anders setzt als seine Vorlage. Er führt die aristotelische Rechtfertigung der Wissbegierde nicht auf das Interesse an der Geschichte des eigenen Hauses

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genauerer Betrachtung entpuppt sich die Zitation jedoch als ein an der Schwelle zur Romanhandlung placiertes Vorzeichen, das auf die verdeckte Präsenz des curiositas-Problems in der Motivstruktur der Melusine hinweist. Reymundt agiert, so wird von hier aus kenntlich, als Stellvertreter des Lesers, wenn er sich der Badezimmertür nähert, um einen verbotenen Blick auf die Meerfee zu erhaschen. Die Schaulust und Neugierde, die der Roman auf der Handlungsebene zwar als mögliche Antriebe Reymundts verleugnet, die er aber eben in der szenischen Ausgestaltung der Episode doch konnotiert, spiegeln die Neugierde und die Textlust, mit der sich der Rezipient Melusines „wunderliche[r] fremde[r] hÿstorýen“ (M 11) zuwendet.18 Beweiskräftiger stellen sich womöglich noch die Details des Jagdunglücks dar, bei dem der Graf Emmerich ums Leben kommt. Bevor er stirbt, entpuppt sich Reymundts Pflegevater nämlich noch als „ein guotter Astronomus“ (M 18). Er vermag aus den Sternen zu lesen, dass gerade „auff diese stund“ (M 19) ein Mann seinen Herrn töten und dadurch zu Macht und Reichtum gelangen werde. Selbstverständlich ahnt er nicht, dass sich die Himmelszeichen, denen er diese Botschaft entnimmt, auf Reymundt beziehen; der Protagonist bewahrheitet Emmerichs Prophezeiung sogleich, indem er ihn unter den beschriebenen zweideutigen Umständen ersticht und damit den Grundstein für seinen wundersamen Aufstieg legt. Nun firmiert Sternenkunde aber im Diskurs über die curiositas als deren bevorzugter Gegenstandsbereich; in dem Bestreben, die Geheimnisse der Planetenbewegungen zu entschlüsseln, tritt der traditionellen christlichen Auffassung zufolge besonders eindrucksvoll die Hybris hervor, die sie als Motor des menschlichen Er-

und auf „adlige[] memoria“ hin eng, sondern belässt ihr einen umfassenderen Sinn: „Hier gilt der Satz so allgemein wie gewöhnlich in mittelalterlichen Fachtexten: als Rechtfertigung eines natürlichen Erkenntnisstrebens, das auch das Abseitige, Fremde, Wunderbare einschließt.“ (MÜLLER, 1990, S. 1043; ähnlich bereits DERS., 1984, S. 256.) 18 Wie wir gesehen haben, interpretiert Thüring Reymundts Tabubruch durch eine Anspielung auf die apokryphe Geschichte von Susanna und den lüsternen Richtern. Nun wird kenntlich, dass Thürings Text strukturell die Pointe vorwegnimmt, die für die in der Frühen Neuzeit so verbreiteten ikonischen Darstellungen der ‚Susanna-im-Bade‘-Situation charakteristisch ist: Diese reflektieren ja dem Betrachter seinen eigenen Voyeurismus zurück, indem sie ihn auf der Ebene des Bildinhalts zum Thema machen.

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kenntniswillens verdächtigt.19 Wenn er sich anschickt, Reymundt in seine Beobachtungen einzuweihen, greift Emmerich denn auch auf eine Semantik zurück, die unmittelbar auf die curiositas-Problematik verweist: Er kündigt seinem Ziehsohn an, er werde ihm „groß wunder vnd fremde abenteẅr der geleich du nie vernomen hast“ (M 19) bekannt machen. Der Erzähler des Melusinen-Romans sieht davon ab, Emmerichs Fürwitz explizit zu verurteilen oder ihn auch nur als solchen zu benennen. Die althergebrachte Abwertung der theoretischen Neugierde findet sich gleichwohl in die Struktur der Narration eingesenkt. Emmerich wird dafür bestraft, dass er sich anmaßt, die Zukunft aus den Himmelsbewegungen erschließen zu wollen. Denn was er in den Sternen liest, ist nichts anderes als sein eigenes Todesurteil – und dies wird ihm in einer Formulierung mitgeteilt, in der es ihm unverständlich bleiben muss.20 Die offizielle Deutung der Ereignisse, die der Melusinen-Roman vorträgt, lässt nur wenig Raum für die Vermutung, Reymundt entschließe sich, dem samstäglichen Verschwinden seiner Ehefrau auf den Grund zu gehen, weil er entweder von erotischer Schaulust oder von einem curiösen Wissensdurst angetrieben werde. Die Sequenz jedoch, die ihn vor Melusines Badezimmer zeigt, beschwört diese möglichen Motivationen nicht nur ihrer semiotischen Komplexion nach herauf, sondern führt sie überdies auch eng. Die entsprechende Überblendung 19 Zur „Sonderstellung der astronomischen Neugierde im Komplex der Frage nach der Angemessenheit der Wißbegierde“ vgl. BLUMENBERG, 1996, vor allem – mit Bezug auf Augustinus – S. 367-376; Zitat S. 388 [Herv. i. O.]. Bei Augustinus, aber auch schon bei Philo von Alexandria, spielt der rhetorisch fruchtbar zu machende Vorwurf eine Rolle, dem astronomischen Interesse liege insgeheim der Wunsch zugrunde, den dem Menschen zugewiesenen Platz in der kosmischen Ordnung zu verlassen und sich selbst unter die Gegenstände der Beobachtung – die Sterne also – zu versetzen. 20 Anhand von Emmerichs Schicksal wird so in zugespitzter Form vorexerziert, was Blumenberg als eine Grundfigur der Reserve im Verhältnis zur wissenschaftlichen Neugierde beschrieben hat: „Die theoretische Einstellung wird an dem exemplarischen Modell der astronomischen Vorhersage als zukunftsbezogen erkannt und gerade darin der Gefahr ausgesetzt gesehen, sich der transzendenten Bedingtheit ihrer Herkunft und der Kontingenz ihrer Gegenwart zu entziehen.“ (BLUMENBERG, 1996, S. 359; [Herv. i. O.]) Was Emmerich beim Blick in die Sterne übersieht, ist die menschliche Kontingenzerfahrung par excellence, nämlich die in seinem Fall nur allzu gegenwärtige Möglichkeit des eigenen Todes.

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wird von der Tradition der curiositas-Kritik vorgezeichnet: Augustinus selbst nutzt die Gelegenheit, die curiositas auch dadurch zu verlästern, dass er sie rhetorisch sexualisiert. Er stilisiert sie zur concupiscientia oculorum21, zur Augenlust also. Der Melusinen-Roman nimmt folglich die Autopsie auf der einen Seite als Wahrheitstechnik in Dienst, um diejenige Version der Frühgeschichte des Hauses Lusignan mit einem Schein von Glaubwürdigkeit zu versehen, die er selbst verbreitet. Bei genauerer Lektüre wird aber deutlich, dass im Text noch eine ganze Reihe der klassischen Vorbehalte gegenüber dem Bedürfnis mitläuft, sich Wissen oder Gewissheit durch den Gebrauch der eigenen Augen zu verschaffen. Wenn Reymundt auf das autoptische Verfahren zurückgreift, um sich davon zu überzeugen, dass die Anschuldigungen des Grafen vom Forst unbegründet sind, ist dieses Vorgehen für den Roman offenkundig alles andere als unproblematisch. Signifikanterweise gibt der Text sich einige Mühe, die kritische Perspektivierung von Autopsie und Neugierde, die in seinem Ausgangsmaterial angelegt gewesen sein mag, zu überspielen. Auch hier bestätigt sich jedoch, dass derartige Versuche der Invisibilisierung die Tendenz zeigen, sich in indirekte Markierungen zu verkehren: Reymundts überzogene Nonchalance im Angesicht von Melusines Verwandlung lenkt das Augenmerk erst recht auf die konzeptionellen Schwierigkeiten, an denen der Roman sich abarbeitet. Trifft es zu, dass es sich bei der Aufwertung von curiositas und Autopsie um ein spezifisch neuzeitliches Phänomen handelt, dann fügt sich die zwiespältige Haltung, die der Melusinen-Roman ihnen gegenüber an den Tag legt, recht gut zu seiner historischen Position im Vorfeld der Epochenzäsur. Der Melusinen-Roman bietet sich, wie beschrieben, als Vorgeschichte zu einer Gegenwart dar, in der sich die Überreste des in der Erzählung Ausgefalteten noch allerorten aufspüren lassen sollen. Die Vergangenheit, die der Text modelliert, öffnet sich aber ihrerseits wiederum auf eine Art narratives Plusquamperfekt. Dies geschieht dann, wenn Geffroy bei der Verfolgung des Riesen Grymmolt in eine Höhle gerät und dabei auf die Grabstätte seines Großvaters Helmas stößt – ein hybrides Gebilde, zu dem auch eine Frauenstatue mitsamt einer Steinta21 Augustinus, Confessiones, X, 35; hier zitiert nach: AUGUSTINUS, 1987, S. 572.

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fel gehört. Auf der Letzteren hat Presine, Geffroys Großmutter, ihre Geschichte niedergelegt; sie berichtet von ihrer unglücklichen Ehe mit Helmas und von dem Schicksal ihrer drei Töchter. Geffroy wird durchaus gewahr, dass ihm in Gestalt der Schrifttafel seine eigene Familienhistorie entgegentritt, allerdings schiebt sich rasch wieder seine Absicht, den Riesen zu töten, in den Vordergrund: „[D]och so was Geffroÿ noch ettwas in zweÿffel was diß were, oder ob er gewißlich des geschlechts wär / wann sein hercz und muot stuond darnach das er den risen fünde[.]“ (M 141) Das räumliche Arrangement, in das der Roman diese Episode einbettet, trägt zeichenhafte Züge. Indem Geffroy sich in die Höhle im Berg Awelon hinunterlässt, steigt er zugleich in seine eigene familiäre Vergangenheit hinab. Als Wesen, das von archaischen Konnotationen umgeben wird, mag auch der Riese anzeigen, dass der Roman an dieser Stelle einen Chronotopos potenzierter Vorzeitigkeit entwirft. Was die Grabstätte des Helmas betrifft, so sticht ein paradoxes Moment hervor: Insofern sie auch Merkmale eines Denkmals aufweist, scheint diese sich an eine Öffentlichkeit zu wenden, der sie die Geschichte der Presine und ihres Ehemanns überliefert. Dagegen spricht jedoch, dass sie ausgerechnet im Inneren eines Berges situiert ist und also für die Außenwelt unsichtbar bleibt. Presine beantwortet die naheliegende Frage, an wen eigentlich sie ihre Schrifttafel adressiert, gleich selbst: Sie gibt an, alles so eingerichtet zu haben, „das nÿemandt darzuo komm der nit von vnserm geschlecht were“ (M 139). Im Lokal der Grabstätte verschränken sich demnach zwei semantische Werte, die dem Melusinen-Roman insgesamt über weite Strecken Struktur verleihen: diejenigen von Öffentlichkeit und Heimlichkeit. 22 Die gegenläufigen Bewegungen des Ver- und Enthüllens werden in der Idee einer rein familieninternen Kommunikation zusammengeschlossen. Letztlich lässt sich die paradoxe Fügung, die der Text hier vornimmt, natürlich dahingehend auflösen, dass Presines im Berg verkapselte Botschaft sich genau an den richtet, der sie de facto liest: an Geffroy also. Indem Geffroy durch Presines Hinterlassenschaft in seine Familiengeschichte eingeweiht wird, erhält er zugleich Gelegenheit, seiner eigenen, genealogisch verankerten Identität inne zu werden. Die Höhle im Berg 22 Zu dieser semantischen Grundopposition im Melusinen-Roman vgl. RÖKKE, 1996.

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Awelon ist auch der Ort einer möglichen Selbstbegegnung; 23 und eben dieser Aspekt wird dadurch noch unterstrichen, dass die Nachricht, die Geffroy auf der Schrifttafel vorfindet, nur für ihn bestimmt zu sein scheint. Unter dieser Voraussetzung fällt erst recht ins Auge, wie gleichgültig Geffroy dem Aufschluss, den er über sein genealogisches Herkommen gewinnt, letztlich doch gegenübersteht. Nach einer kurzen Phase der Verwunderung ist es ihm allemal wichtiger, dem verwundeten Riesen hinterherzujagen. Tatsächlich geht er aus dem Rendezvous mit der eigenen familiären Vergangenheit, wie der Text es ihm einräumt, gänzlich unverändert und jedenfalls ohne größere Reflexionsgewinne hervor. Der Roman setzt in dieser Beziehung ein deutliches Zeichen: Dass Geffroy am Grabmal seines Großvaters mit der eigenen Genealogie Bekanntschaft macht, hindert ihn keineswegs daran, nur wenig später den Grafen vom Forst zu töten, also – nachdem er schon seinen Bruder Freymund ums Leben gebracht hat – noch einen zweiten Verwandtenmord zu begehen. Christian Kiening hat auf die heterotopische Qualität aufmerksam gemacht, die der Höhle im Berg Awelon eignet. 24 Man wird seiner Beobachtung zustimmen; allerdings muss man hinzufügen, dass der Melusinen-Roman eine ganze Reihe solcher ‚anderen Orte‘ aufbietet und sich der ausgezeichnete Status, den Kiening dem Lokal der Grab-

23 Christian Kiening hat in seiner Interpretation der Episode im Berg Awelon die in dieser ausgebreitete Szenerie nicht nur mit dem Gedächtnissaal des Tristanromans sowie den Grabstätten aus dem Prosa-Lancelot in Beziehung gesetzt, sondern beiläufig auch die Bergwerkssequenz aus Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen als Vergleichsfolie herangezogen (vgl. KIENING, 2005, S. 27f.). Die Ähnlichkeit der Raumkompositionen ist in der Tat auffällig; allerdings lassen sich die Struktur einer literarischen mise-enabyme, wie sie die Szene aus dem Roman des Novalis exemplarisch realisiert, und das ihr eigene Potential ästhetischer Selbstreflexion nur unter Schwierigkeiten in die Episode aus der Melusine hineinlesen – wie Kiening zumindest partiell auch einräumt. Vielleicht sollte man stärker in den Vordergrund rücken, dass Heinrich in der Höhle des Einsiedlers, auf die er in dem Bergwerksstollen stößt, sich selbst gegenübertritt – bezeichnenderweise vermittelt über eine alte Handschrift. Über diverse literaturgeschichtliche Abgründe hinweg scheinen die beiden Romane doch darin übereinzukommen, dass sie den ‚Gang in die Tiefe’ als eine Passage ausgestalten, die den Helden an die Voraussetzungen seines eigenen Ich führt. 24 Vgl. KIENING, 2005, S. 17f. Zuvor hatte schon Bruno Quast den anderweltlichen Zuschnitt dieser Raumzone betont; vgl. QUAST, 2004, S. 90.

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stätte zubilligt, insofern relativiert. Geffroys Abenteuer ist nicht zuletzt mit Blick auf die ihm zugrundeliegende Raumsemiotik fest in die Kette von Wiederholungen eingebunden, über die der Roman sich konstituiert. Ein ums andere Mal werden im Text invasive Bewegungen in Szene gesetzt, die auf zuvor abgeschlossenes, als ‚nicht-öffentlich‘ ausgewiesenes Terrain vordringen. Nachdem sich Geffroy in das Innere des Berges hinabgelassen hat, orientiert er sich in der Dunkelheit, indem er seine Lanze umkehrt und mit ihr seine Umgebung abtastet. In der Schilderung dieser Vorgehensweise stiftet der Text eine semiotische Verbindung zum Verhalten Reymundts, der vor der Badezimmertür Melusines sein Schwert zieht und sich mit ihm eine Blickschneise öffnet: Jeweils kommt also eine Waffe zum Einsatz, um einem Mangel an Sichtbarkeit abzuhelfen.25 Erst recht unterhält die Geschichte seiner Großeltern, die Geffroy im Berg Awelon erfährt, einen durchsichtigen Bezug zu Reymundts Übertretung. Indem er Presine ihrem ausdrücklichen Verbot zuwider im Kindbett aufsucht, präfiguriert Helmas die Tabuverletzung des Protagonisten. Reymundts Transgression verbleibt, anders als diejenige seines Schwiegervaters, ganz im Medium des Visuellen; ihr sexueller Nebensinn wird aber gerade auch durch die Spiegelung am Schicksal der Vorgängergeneration bestätigt. Dabei ist zu bedenken, dass das Kindbett Foucault zufolge eine Heterotopie par excellence darstellt.26 Nicht weniger deutlich untersteht das Badezim25 Wenn Geffroy seine Lanze umdreht, bevor er das Innere des Berges erkundet, also das durch die Waffe konnotierte Moment der Aggression zurücknimmt, so kann man hierin einen Hinweis darauf erkennen, dass er (qua Familienzugehörigkeit) legitimiert ist, die Grabkammer des Helmas zu betreten – er muss sich den Zugang quasi nicht erst gewaltsam verschaffen. Bedeutsam erscheint dabei, dass innerhalb der Diskurses über die curiositas das Interesse an Höhlen als ähnlich einschlägig wie dasjenige an den Planetenbewegungen gelten muss (vgl. BLUMENBERG, 1996, S. 414). Auch Geffroys Erforschung der Höhle zu Awelon verweist implizit – und quer zu den der Figur zugeschriebenen Motivationen – auf die Thematik der Wissbegierde im Roman. In Geffroys Fall erscheint diese insofern in einem freundlicheren Licht, als es die eigene Familiengeschichte ist, in die sich der Held mit seinem Abstieg in die Höhle einführt. 26 Genau genommen handelt es sich um ein Paradebeispiel für das, was Foucault, nicht ohne Seitenblick auf Victor Turners Konzept des Liminalen, als Krisenheterotopie namhaft gemacht hat: „In den sogenannten Urgesellschaften gibt es eine Form der von Heterotopien, die ich die Krisenheterotopien nennen würde, d. h. es gibt privilegierte oder geheiligte oder

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mer, in das Reymundts Blick eindringt, der Logik des ‚anderen Raumes‘, enthüllt es sich doch als Schauplatz von Melusines Verwandlung. Um hervorzuheben, dass es sich bei den von ihrer Umgebung abgesetzten, als ‚geheim’ codierten Lokalen um die Elemente eines gemeinsamen Paradigmas handelt, spielt Thürings Text im Übrigen einen bestimmten Leitbegriff aus. Die einschlägig charakterisierten Raumzonen werden im Roman beharrlich als ‚Kammern‘ angesprochen. Melusines samstägliches Badezimmer entdeckt Reymundt – ein deutlicher Hinweis auf seine heterotope Beschaffenheit – in einer „kamern darein er vor nie kommen was“ (M 96); das Grab des Helmas wiederum hat seinen Platz in einer mit Edelsteinen überzogenen „schöne[n] kamer[n]“ (M 137). Nachdem Reymundt die Gewissheit gewonnen hat, dass das Kloster zu Malliers tatsächlich von Geffroy niedergebrannt worden ist, zieht er sich, um seinem Zorn und seiner Trauer freien Lauf zu lassen, „in ein kamer“ (M 112) zurück; nur leider besitzt Melusine einen Schlüssel zu diesem Kabinett, so dass sie ihren Gatten „mit ir ritter vnd knechtt frawen vnd iunckfrawen“ (M 113) aufsuchen kann. Ausgerechnet an einem ursprünglich abgeschiedenen, ‚geheimen‘ Ort stellt sie also jene Öffentlichkeit her, die dann die Kulisse für Reymundts zweiten Tabubruch abgibt, diesen bezeugt und damit zugleich besiegelt. Schließlich stößt auch Gys in Melioras Palast auf „ein schöne kamer“ (M 159); in dieser befindet sich eine Bildergalerie mit den Porträts der Ritter, die sich vor ihm an der Sperber-Aventiure versucht haben. Die Vorgeschichte, mit der das Haus Lusignan im Roman ausgestattet wird, scheint von der Gegenwart des Erzählens einerseits durch eine Kluft getrennt zu sein. Der Text präsentiert sie als einen Zeitraum des Mythischen und Wunderbaren. In Thürings Vorrede ist mit Blick auf Melusine als von „diser fremden figur und hÿstorÿen“ (M 12) die Rede; der Roman spricht ihr und ihrer Geschichte so ausdrücklich eine Alterität zu, die sie der Lebenswelt seiner Rezipienten entrückt und der Rechtfertigung durch göttliche Allmacht bedarf: „Got ist wund… erlich in seinen wercken[.]“ (M 12) Auch Thürings Text (der ja nicht mehr

verbotene Orte, die Individuen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zur Gesellschaft und inmitten ihrer menschlichen Umwelt in einem Krisenzustand befinden: die Heranwachsenden, die menstruierenden Frauen, die Frauen im Wochenbett, die Alten usw.“ (FOUCAULT, Jahr, S. 40.)

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denselben pragmatischen Voraussetzungen wie seine Vorlage unterliegt) beharrt auf der anderen Seite noch darauf, nicht irgendeine merkwürdige, möglicherweise fiktive Erzählung wiederzugeben, sondern die Familienchronik derer von Lusignan aufzublättern; ihm muss also daran gelegen sein, die Vergangenheit durch das Band genealogischer Filiation mit der Gegenwart zu verknüpfen. Die als Faszinosum vorgestellte Fremdheit der Ursprünge darf nicht so radikal ausfallen, dass sich die jüngste Generation des Hauses gar nicht mehr auf sie zurückführen ließe. Diesem konzeptionellen Zwiespalt, den er austrägt, versucht der Roman unter anderem beizukommen, indem er bereits durch die erste Generation von Melusines Nachfahren einen Schnitt legt. Die älteren Söhne der Meerfee geben, wie angedeutet, durch phantastische Körperzeichen unmittelbar zu erkennen, dass sie dem Bezirk des Wunderbaren entstammen. Die hypertrophe Sichtbarkeit der Verwandtschaftsbeziehungen hält sich aber wohlgemerkt nicht bis in die Jetztzeit des Erzählakts durch. Die Herren von Portenach, deren jüngster Spross die Recherche nach den Ursprüngen der Familie anstößt, stammen ausgerechnet von Dieterich ab, also einem der letzten Söhne Melusines, denen das Erbteil ihrer Mutter gerade nicht mehr auf den Leib geschrieben steht. Dass die dynastischen Verhältnisse auf der Oberfläche des Körpers abgelesen werden können, ist ein Merkmal der mythischen Vorzeit; der zukunftsträchtige Zweig der Familie bleibt unberührt von ihm. Nur deshalb, so ließe sich folgern, muss die genealogische Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit im Text durch supplementäre Zeugnisse bestätigt werden, wie der Erzähler sie wiederholt aufruft. Strenggenommen genügen nur die architektonischen Überreste, die die Historizität des Erzählten beglaubigen sollen, dem Kriterium der „expergentz“ (M 11), der autoptischen Überprüfbarkeit, wie Thüring es an seine Geschichte anlegt. Zugleich wird vor dem skizzierten Hintergrund deutlich, dass der Beginn des Romans das „schloß oder stat Lusinÿen“ (M 13) als einen Index ehemaliger Größe ins Bild setzt. Es ragt fremd genug in die Gegenwart hinein, um die Frage nach seiner Entstehung zu provozieren und die Rekonstruktion einer Vergangenheit anzuregen, die den Zeitgenossen nicht mehr selbstverständlich präsent ist. Die Vorgeschichte der Vorgeschichte, die Narration von Helmas und Presine, vergegenwärtigt sich hingegen nicht in Spuren und Überresten; vielmehr kommt sie

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durch einen Akt bewusster Tradierung auf die Nachwelt, wie ihn die zum Denkmal ausgebaute Grabstätte mitsamt der Schrifttafel darstellt. Aber auch unabhängig von dieser familieninternen Kommunikation teilt sich das Schicksal des Helmas den nachfolgenden Generationen mit, in Gestalt eines Wiederholungszwanges nämlich, der Reymundt und Gys trifft und sie dazu bewegt, den Fehltritt ihres Vorfahren unter nur geringfügig abgewandelten Vorzeichen nachzuspielen. Hier, im Verhältnis von Vorgeschichte und Vorgeschichte der Vorgeschichte, etabliert der Roman eine quasi-mythische Zeitstruktur: Reymundts Tabubruch wird dadurch ‚erklärt‘, dass er verdoppelt und in die Elterngeneration zurückprojiziert wird.27 Das Augenmerk des Melusinen-Romans, so 27 Bruno Quast hat, im Rekurs auf Cassierer, die mythische Kontur der Raumstruktur herausgestrichen, die der Roman der Helmas-Episode zugrundelegt. Er macht darauf aufmerksam, dass der Text in der hybriden Örtlichkeit ‚Awelon‘, die den Schauplatz für die Geschichte von Melusines Vater darstellt, den „Berg der Gefangenschaft“ mit dem „Feenreich des Tabubruchs“ zusammenfallen lässt. Darin finde eine genuin mythische Logik ihren Niederschlag, die Vergehen und Strafe zusammenrückt. (QUAST, 2004, S. 90.) Des weiteren geht Quast davon aus, dass der Roman den „mythischen Raum“ der Helmas-Episode gewissermaßen aufbreche, nämlich auf „Zeit, historische Zeit“ hin öffne (ebd., S. 91). Die Beobachtung, hier werde eine mythenförmige Konstruktion mit den auf historische Überlieferung verweisenden Medien des Denkmals und der Schrift gekreuzt, trifft sicherlich zu. Quast nimmt allerdings an, allein die Raumkomposition der Episode weise ein mythomorphes Gepräge auf, während ihre zeitliche Faktur ganz im Zeichen von Entzauberung und Historisierung stehen soll. So urteilt er etwa, ein „Effekt der Historisierung des Mythischen“ sei „der Sachverhalt, dass das Tabu der Melusine, der Fluch der samstäglichen Verwandlung, nicht wie häufig in Melusinengeschichten einfach gegeben ist, sondern bei Thüring familien-geschichtlich als Bestrafung durch die Mutter plausibilisiert wird“ (ebd., S. 91 [Herv. i. O.]). Uns scheint eher, dass sich die angesprochene ‚Plausibilisierung‘ durchaus in den Bahnen der mythischen Denkform bewegt. Der Roman verlegt die Faktizität des Tabus lediglich um eine Generation zurück, das Verbot, das Presine Helmas auferlegt, leitet er aber nicht noch einmal ab. Wenn damit eine zeitliche Tiefendimension eröffnet wird, so heißt das nicht, dass zwingend eine geschichtsaffine Betrachtungsweise vorläge, die sich ohne weiteres vom Mythos absetzen ließe. Vielmehr lohnt es sich, die Strategie des Romans in diesem Punkt mit einer (von Quast nicht zitierten) Überlegung Ernst Cassierers zur Zeitform des Mythos zusammenzuhalten: „Hier [im Mythos] ist eine Stufe erreicht, auf welcher der Gedanke sich bei der bloßen Gegebenheit, sei es der Dinge, sei es der Gebräuche und Vorschriften, bei ihrem einfachen Dasein und ihrer einfachen Gegenwart nicht mehr beru-

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zeichnet sich ab, gilt ganz zentral der Frage, wie das Vergangene in der Gegenwart überlebt, wie es namentlich innerhalb eines familiaren Zusammenhangs über Generationen hinweg wirkmächtig bleibt – unterschiedliche Modi eines solchen Fortdauerns werden im Text erprobt. Es mag mit diesem Interesse zu tun haben, dass eines der auffälligsten, mehrmals variierten Motive des Romans dasjenige des „gespenste[s]“ (M 11) ist.

Francisco de Quevedo – Der melancholische Blick und die Ruinen der Zukunft Im 17. Jahrhundert sind es nicht länger nur einzelne Texte, die ein besonderes Interesse an architektonischen Überresten erkennen lassen. Diese rücken vielmehr zu einem der ästhetischen Leitmotive der Epoche auf, das sich in der Literatur nicht weniger deutlich als in der Malerei ausprägt. Der „barocke Kultus der Ruine“28 untersteht, wie unschwer wahrzunehmen, der in der artistischen Produktion der Zeit omnipräsenten Vanitas-Vorstellung; er legt es darauf an, die notorische Hinfälligkeit aller irdischen Größe zur Anschauung zu bringen. Wenn man, wie wir hier, den Akzent auf die semiotische und temporale Struktur des Überrests legt, sticht also eine im Vergleich mit den älteren (aber auch neueren) Konstellationen markante Verkehrung der Zeigerichtung ins Auge: Die barocken Ruinen verweisen allenfalls sekundär auf eine Vergangenheit, die sich in ihnen bezeugte; in erster Linie werden sie als ein Vorgriff auf die Zukunft inszeniert, der die Gegenwart mit ihrem vermeintlich unausweichlichen Niedergang konfrontieren soll. Man kann diese ästhetische Indienstnahme von architektonischen Reliquien sehr schön in der Lyrik Francisco de Quevedos (1580-1645) verfolgen, einer der für die europäische Literatur des Barockzeitalters prägenden Figuren. Quevedos Poesie entfaltet eine regelrechte Phänohigt, während er andererseits alsbald stillesteht, sowie es ihm gelungen ist, diese Gegenwart auf irgendeine Weise in die Form der Vergangenheit umzusetzen. Die Vergangenheit selbst hat kein ‚Warum‘ mehr: Sie ist das Warum der Dinge.“ (CASSIERER, 2010, S. 124f.) 28 BENJAMIN, 1974. S. 354.

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menologie der Ruine. Ziehen wir exemplarisch das berühmte Sonett Enseña cómo todas las cosas avisan de la muerte heran: „Miré los muros de la patria mía, / si un tiempo fuertes, ya desmoronados, / de la carrera de la edad cansados, / por quien caduca ya su valentía. Salíme al campo, vi que el sol bebía / los arroyos del hielo desatados; / y del monte, quejosos, los ganados, / que con sombras hurtó su luz al día. Entré en mi casa, vi que amancillada / de anciana habitación era despojos; / mi báculo más corvo y menos fuerte, vencida de la edad sentí mi espada, / y no hallé cosa en que poner los ojos / que no fuese recuerdo de la muerte.“29

Der Beginn des Gedichts macht sich, wie man sieht, sogleich daran, eine in sich gestaffelte zeitliche Tiefendimension auszuheben: Das Sprecher-Ich erinnert sich daran, wie es – in der Vergangenheit – die Mauerreste betrachtete, die ihrerseits von einer noch länger zurückliegenden, nun nicht mehr existenten politisch-militärischen Stärke künden. Das zweideutige Substantiv patria lässt in der Schwebe, ob von der Heimatstadt oder dem Vaterland des lyrischen Subjekts die Rede ist. Da Quevedo in verschiedenen seiner Texte dem spanischen Weltreich eine höchst ungünstige Prognose stellt, 30 wird man die zweite Lesart in keinem Fall ausschließen können; mit dieser zeichnet sich aber noch einmal eine erhebliche Komplikation der dem Gedicht unterlegten Zeitstruktur ab. Das Ich des Textes wird, hält man sich an diese Sinnschicht des Sonetts, in eine Zukunft katapultiert, in der es auf den (sich de facto erst vollziehenden) Untergang des spanischen Imperiums bereits wie auf eine ferne Vergangenheit zurückblickt. Es deutet sich damit ein charakteristisch prophetischer Sprachgestus an. 31 Tritt das lyrische Subjekt im zweiten Quartett auf das Feld hinaus, ohne dass sich ihm freilich in der Natur ein freundlicherer Prospekt eröffnete, so kehrt es am Beginn der Terzette in seine alte Wohnung 29 Quevedo y Villegas, 1967. S. 42. 30 Vgl. von Koppenfels, 2003, S. 276f. 31 Man vergleiche den Wahrnehmungsmodus der Johannes-Apokalypse, deren visionäre Vorwegnahme des Weltendes durch die wiederkehrende Formel „Und ich sah“ skandiert wird.

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zurück. Auch diese bietet sich ihm nurmehr als Trümmerlandschaft dar – despojos, ‚Überreste’, knüpft semantisch wie morphologisch (über das Präfix des-) an die muros desmoronados der ersten Strophe an32 und vermittelt zwischen den im Text evozierten Bildern architektonischen und physischen Verfalls33. Im Übergang zur zweiten Texthälfte erfährt der das Ich des Gedichts umgebende Raum eine trichterförmige Verengung, die dem Leser nun auch zwei intim mit der Person wie der Körperlichkeit des Sprechers assoziierte Gegenstände, Stock und Schwert, vor Augen bringt.34 Die beiden Requisiten stehen metonymisch für ihren Besitzer ein; auf sie wird seine Ohnmacht der allesverschlingenden Zeit gegenüber verschoben. Am Ende des Textes ist der Sog der Zerstörung, der die patria bereits erfasst hat, dicht an das Sprecher-Ich herangerückt. Einen Rest von Souveränität kann dieses sich nur als das Subjekt eines melancholisch-allegorisierenden Blicks bewahren, der in allen Dingen die Mahnung an den Tod entziffert. Die barocke Verbindung zwischen memento mori und Ruine wird von Quevedos Gedicht in schwer zu überbietender Weise auskomponiert. Dabei ist nicht allein in Betracht zu ziehen, mit welcher rhetorisch-poetischen Stringenz das Sonett von den verfallenen Mauern der ersten Strophe zu den bruchstückhaft verstreuten cosas der Terzette überleitet.35 Vor allem wird mit dem in jeder Beziehung letzten Wort des Gedichts – muerte – ein Bogen zurück zu dessen Anfang geschlagen, nimmt dieses doch die m-r-Alliteration von Miré los muros auf. Die spezifischen Möglichkeiten des Spanischen ingeniös nutzend, trägt Quevedo Sorge dafür, dass sich in den muros des Texteinstiegs bereits der Tod, die muerte, als dasjenige Signifikat ankündigt, welches das lyrische Subjekt am Ende in alle Gegenstände hineinliest.36 32 Diese Bezüge werden durch eine augenfällige Responsion noch unterstrichen: desmoronados beschließt als Reimwort den zweiten Vers der Quartette, despojos den zweiten Vers der Terzette. 33 Das Lexem despojos findet eine prominente Verwendung in der Phrase despojos mortales – ‚sterbliche Überreste‘. 34 Mit mi báculo verbindet sich zudem eine konkrete Anspielung auf die Person des empirischen Autors: Quevedo hinkte! 35 Man beachte hier auch die Wortrekurrenzen si un tiempo fuertes (1, 2) – menos fuerte (3, 4) sowie edad (1, 3) – edad (4, 1). 36 Quevedos Gedicht scheint Benjamins Überlegungen zur melancholischen Trübung des allegorischen Blicks zunächst auf das schönste zu illustrieren. Man sollte jedoch nicht verkennen, dass die Beziehung zwischen dem an-

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Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch – Der getrübte Blick und die Zeittiefe des Subjekts Die bereits aus der antiken Literatur vertraute Einsicht, dass der Tod vor Steinen und Monumenten nicht haltmacht, liefert dem barocken Vanitas-Konzept eine besonders anschauliche Handhabe, um den menschlichen Hochmut in seine Schranken zu weisen. Mit dieser Denkfigur spielt offenkundig auch eine Szene aus Grimmelshausens Abentheurlichem Simplicissimus Teutsch, in der eine Ruine zum Handlungsschauplatz avanciert. Wie bei diesem Roman kaum anders zu erwarten, erweist sich die hier aufgespannte Konstellation allerdings als viel zu vertrackt, um auf das vergleichsweise schlichte Argument von der Vergänglichkeit aller weltlichen Bestrebungen heruntergebrochen zu werden. Stattdessen gibt sie in verdichteter Form Einblick sowohl in die verwickelte Zeitstruktur wie auch in den nicht weniger intrikaten Subjektentwurf des Textes. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Episode, in der sich der Leser des Simplicissimus mit den architektonischen Relikten einer rätselhaften Vorgeschichte konfrontiert sieht: In der Lebensphase, in der Simplicius als ‚Jäger von Soest‘ reüssiert, lässt er es sich angelegen sein, die Topographie der Umgegend auf ihre militärischen Verwendungsmöglichkeiten hin zu erforschen. Einmal stößt er so auf ein „alte[s] Gemäur“, die Überreste eines Hauses, das an dieser Stelle „vor Zeiten“ (ST 289) gestanden hat. Als er das Gelände näher in Augenschein nimmt und an dem noch erhaltenen Keller des Gebäudes vorbeireitet, scheut sein Pferd. Um der Ursache für dieses Verhalten auf die Spur zu kommen, steigt Simplicius, das Reittier an der Hand, in das Untergeschoss hinab, wo ihn alsbald selbst ein unerklärliches „Grausen“ (ST 290) überfällt. Gleich darauf aber wird ihm auch die Eingebung zuteil, in dem alten Mauerwerk könne ein Schatz verborgen sein. fänglichen Gegenstand der Betrachtung und dem ihm zugeordneten melancholischen Sinngehalt, dem Tod, sich gerade nicht, wie bei Benjamin vorgesehen, als willkürlich darstellt. (Vgl. BENJAMIN, 1974, S. 359: „[A]n Bedeutung kommt ihm [dem Gegenstand] das zu, was der Allegoriker ihm verleiht.“) Vielmehr wird sie durch eine Ähnlichkeit auf der Signifikantenebene motiviert.

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Vor Angst gelähmt und der Verzweiflung nahe, feuert er schließlich in der Absicht, auf seine missliche Lage aufmerksam zu machen, seine Pistole gerade in diejenige Ecke des Kellers ab, von der für ihn und das Pferd der größte Schrecken ausgeht. Daraufhin hebt der Spuk sich hinweg, und Simplicius entdeckt hinter der Mauer, die er durch seinen Schuss aufgebrochen hat, tatsächlich einen Schatz von „Silber / Gold und Edelgesteinen“ (ST 292). Als er die Ruine, derart bereichert, verlässt, bekommt er noch Gelegenheit, zwei Bauern, die er durch seinen Schuss angelockt hat, zur Rede zu stellen, was es mit diesem sonderbaren Ort auf sich habe. Sie berichten ihm von einer „alten Sag“ (ST 293) und Prophezeiung, die sich auf den „öden Edelhof“ (ST 292) bezieht und eine erlösungsbedürftige Jungfrau ins Spiel bringt; der Jäger tut ihre Auskünfte jedoch als „albere [sic] Fabeln“ (ST 293) ab. Auf Anhieb ist auffällig, dass die detaillierte Ausschilderung und die phantastisch-arabeske Kontur der Episode sich zu ihrem handlungslogischen Ertrag überschüssig verhalten. Der Schatz, den Simplicius hier gewinnt, wird im Folgenden zwar noch wichtig, wenn es darum geht, den Protagonisten aus der narrativen Sackgasse seines Ehelebens herauszuholen; für den Reichtum des Helden hätte sich aber gewiss auch eine weniger extravagante Begründung gefunden – zumal die in Rede stehende Sequenz nicht allein ihrerseits markante Motivationslükken aufweist, sondern diese nachgerade ausstellt. Die Episode ist syntagmatisch nur locker eingebunden – man beachte die Einleitung mit „einsmals“ (ST 289) – und könnte innerhalb bestimmter Grenzen problemlos verschoben werden. Umso bemerkenswerter erscheint, dass der Roman es vorzieht, sie recht genau „im formalen Zentrum“ 37 des dritten Buchs zu placieren, sie nämlich in das zwölfte von vierundzwanzig Kapiteln verlegt. Man kann diese Beobachtung noch zuspitzen: Eingefaltet in die Mitte des dritten Buchs, kommt unsere Sequenz zugleich auch im Zentrum des gesamten Simplicissimus zu stehen, der in seiner ursprünglichen Gestalt (ohne Continuatio) bekanntlich fünf Bücher umfasst. Unter diesen Gesichtspunkten liegt die Annahme mehr als nahe, die Funktion der Schatz-Episode sei vor allem in einer paradigmatischen Bedeutsamkeit zu suchen, die entscheidende Themen und Zeichenprozesse des Romans bündelt. Tatsächlich handelt es sich um eine ‚Schlüsselszene‘ des Simplicissimus – nicht umsonst spielt für das 37 HABERKAMM, 1972, S. 221.

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erzählte Geschehen ein „feurige[r] Schlüssel“ (ST 293) eine wichtige Rolle.38 Eine erste Annäherung an die Sinnkomplexion der Sequenz bestätigt, dass die verfallenen Mauern bei Grimmelshausen gleich so vielen anderen barocken Ruinen die Konnotation der Vergänglichkeit tragen. Wie die Überschrift des zwölften Kapitels – „Das Glück thut dem Jäger unversehens eine Adeliche Verehrung“ (ST 288) – unmissverständlich anzeigt, müssen die in ihm zur Darstellung gelangenden Ereignisse im Horizont des traditionsreichen Fortuna-Modells betrachtet werden, das sich für den Roman durchgehend als strukturbildend erweist. Vor dieser Folie liegt für den Leser offen zutage, dass Simplicius auf einen Höhepunkt seiner Laufbahn zusteuert, damit aber auch sein baldiger Absturz näher rückt. Tatsächlich lässt es die Einleitung des zwölften Kapitels nicht an warnenden Vorzeichen fehlen: Deutlich wird die selbstgefällige Attitüde herausgestrichen, der sich Simplicius in seiner Rolle als Jäger hingibt und auf die, der Logik der Fortuna-Konzeption gemäß, eigentlich nur ein tiefer Fall folgen kann. Im Rückblick brandmarkt Grimmelshausens Protagonist nicht allein sein damaliges Auftreten; er legt sich vor allem auch Rechenschaft darüber ab, wie dieses auf unbefangene oder gar latent missgünstige Beobachter gewirkt haben müssen: „Jn Summa / die Allerklügsten müssen mich ohn allen Zweiffel vor einen jungen Lappen gehalten haben / dessen Hoffart nothwendig nicht lang dauren würde / weil sie auff einem schlechten Fundament bestünde […].“ (ST 289) Eben die Architekturmetapher vom „schlechten Fundament“ wird offenbar in die epische Realität übersetzt, wenn der Roman seinen Helden im unmittelbaren Anschluss an diese Überlegung vor ein Gebäude führt, von dem sich nur Bruchstücke erhalten haben. Just in dem Moment, in dem Simplicius zu Reichtum kommt, stellt die Ruine ihm die Unbeständigkeit aller Erwerbungen in der von der Fortuna regierten Welt vor Augen; mit Recht, versteht sich, büßt der Protagonist seinen Schatz doch nur allzu bald wieder ein. Das zerstörte Mauerwerk präsentiert sich dem Helden als emblematische pictura, die

38 Angesichts dieser zentralen Stellung erscheint bemerkenswert, dass die in Rede stehende Sequenz innerhalb der Forschung zum Simplicissimus nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Einlässlichere Lektüren bieten H ABERKAMM, 1972, S. 215-221 sowie HOFMEISTER, 1978.

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geeignet wäre, ihn von dem närrischen Charakter seiner im Wortsinn schlecht begründeten „Hoffart“ zu überzeugen. Indem sie sie in den Kontext der Vanitas-Motivik einholen, etablieren Literatur und Malerei der Frühen Neuzeit die Ruine als melancholischen Topos par excellence. Grimmelshausens Roman schließt an die entsprechende Ikonographie an, verleiht ihr aber eine eigentümliche Wendung. Der Handlungsschauplatz des zwölften Kapitels ist übersät mit melancholischen Zeichen; zweifellos geben diese nicht zuletzt zu erkennen, dass es um die vermeintlich glänzenden Aussichten, die sich Simplicius eröffnen, de facto nicht zum Besten bestellt ist. Darüber hinaus lässt die Szene auf dem verfallenen ‚Edelhof‘ aber auch durchblicken, dass die Zeichnung des Protagonisten bis in die Einzelheiten hinein dem Typus des Saturnkindes folgt.39 Schon die Aktivität, die Simplicius zu der Ruine führt, ist unter diesem Blickwinkel signifikant. Nicht zufällig legt Simplicius einen gewissen Nachdruck darauf, dass er, indem er die Westfälische Topographie auskundschaftet und sich ihre Besonderheiten einprägt, eine Gedächtnisleistung vollbringt; angespielt wird so auf das vorzügliche Erinnerungsvermögen, das man dem homo melancholicus herkömmlicherweise zuspricht. 40 In erster Linie führt die Episode den Romanhelden aber in einer der Paraderollen des Saturnkindes vor, in der des Schatzsuchers eben. 41 Vor diesem Hintergrund nimmt es schon weitaus weniger wunder, wenn Simplicius durch eine plötzliche Intuition auf die Spur der im Keller versteckten Kostbarkeiten kommt: In dem unvermittelten „Einfall“ (ST 290) schlägt die saturnische Komplexion des Romanhelden durch. Die „Hoffart“ (ST 289), der sich der Protagonist nachträglich selbst zeiht, findet ihren Niederschlag vor allem darin, dass er unentwegt mit zwei besonders schönen Pferden paradiert. Als Jäger von Soest sitzt 39 Zur saturnischen Einfärbung der Episode vgl. HABERKAMM, 1972, S. 217221. 40 Vgl. KLIBANSKY/PANOFSKY/SAXL, 1992, S. 128 (zur mittelalterlichen Melancholieauffassung): „Dass die Melancholie, als den schweren und eindrucksfähigen Elementen des Wassers und der Erde entsprechend, das Gedächtnis begünstige, ist allgemein verbreitete Ansicht“. 41 Vgl. ebd. S. 407: „Denn der mythologische Kronos-Saturn, dem neben vielen anderen Eigenschaften auch die des Reichtum-Spenders und Behüters zukam, galt in der Antike […] als der Hüter des Schatzes“ – hieraus leitet sich die einschlägige Sensibilität der Saturnkinder für das Aufspüren von Schätzen her.

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Simplicius buchstäblich auf einem hohen Ross. Die Konfiguration, wie sie am Beginn des zwölften Kapitels ausgefaltet wird, erinnert an eine bedeutungsvolle Episode aus dem Fortunatus. Dessen Titelheld konkurriert unmittelbar, nachdem er der Jungfrau des Glücks begegnet ist, mit einem Grafen um drei wertvolle Pferde. Dank der unerschöpflichen Geldreserve, die ihm in Gestalt seines berühmten Wundersäckels zur Verfügung steht, kann er den Adligen zunächst übertrumpfen; dieser lässt ihn jedoch umgehend festsetzen, nimmt ihm die Pferde wieder ab und foltert ihn, so dass der Günstling Fortunas nur knapp mit Leben und Säckel davonkommt. Schon wenn Fortunatus zum ersten Mal Gebrauch von seinem wunderbaren Reichtum macht, muss er also lernen, dass der Faktor Geld, selbst wenn er auf unendlich gestellt wird, in einer ständischen Gesellschaft nicht beliebig in Besitz oder gar Macht konvertiert werden kann. Im Vergleich mit dem älteren, Grimmelshausen bestens bekannten Prosaroman tritt besonders prägnant hervor, dass Simplicius, indem er aller Welt seine prächtigen Pferde vorführt, eine adlige Lebensweise adoptiert, die ihm mitnichten zuzustehen scheint – und dass dieses Verhalten fatale Konsequenzen für ihn zeitigen könnte. Die Anordnung im Simplicissimus hat allerdings einen doppelten Boden: Wie dem Leser spätestens im fünften Buch des Romans aufgeht, ist Simplicius wirklich von adliger Abstammung; damit aber bietet sich für seine vermeintlich anmaßenden Aufführungen in der Rolle des Jägers auch die Interpretation an, in ihnen gelange seine wahre, von den Umständen auf Dauer nicht zu unterdrückende Natur zum Durchbruch. Das zwölfte Kapitel reizt die Zweideutigkeit dieser Konstellation raffiniert aus. Bereits seine Überschrift, die ankündigt, das Glück werde Simplicius im Folgenden eine ‚adeliche Verehrung tun‘, erlaubt, abhängig vom Wissensstand des Rezipienten, unterschiedliche Lesarten. Es liegt zunächst nahe, „Verehrung“ hier im Sinne von ‚Geschenk‘ zu verstehen; das irritierende Attribut ‚adelich‘ wird man dann möglicherweise darauf beziehen, dass Simplicius den Schatz ja ausdrücklich in den Trümmern eines ‚Edelhofs‘ aufspürt, die Gabe, die ihm Fortuna zuteilt, also tatsächlich einen adligen Ursprung besitzt. Der Wiederholungsleser, der sich über die illustre Abkunft des Protagonisten bereits im Klaren ist, kommt hingegen kaum umhin, in der Kennzeichnung ‚adelich‘ eine Anspielung auf dessen hohe Geburt wahrzunehmen. Er könnte der Überschrift dann etwa entnehmen, das Glück erweise

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Simplicius in der folgenden Episode eine Reverenz, die ihn als Adligen identifiziere. Zu diesem Verständnis fügt sich die Prophezeiung, von der die beiden Bauern dem Protagonisten berichten und die dieser vorschnell als leeres Gerede beiseite schiebt. Sie wird von den Bauern wie folgt zusammengefasst: „Die gemeine Sag gienge im Land / es wäre ein eiserner Trog voller Gelds darinnen / den ein schwartzer Hund hüte / zusampt einer verfluchten Jungfrauen / und wie die alte Sag gienge / sie auch selbsten von ihren Groß-Eltern gehört hätten / so solte ein fremder Edelmann / der weder seinen Vatter noch Mutter kenne / ins Land kommen / dieselbe Jungfrau erlösen / den eisernen Trog mit einem feurigen Schlüssel auffschliessen / und das verborgen Geld darvon bringen.“ (ST 293)

Zumindest der Leser, der von der Anagnorisis-Szene des fünften Buchs her auf diese Passage zurückblickt, hat keine Mühe mehr, in der Beschreibung des von der ‚Sag‘ angekündigten Edelmanns ein Porträt des Romanhelden zu erkennen; der ‚feurige Schlüssel‘ verweist auf den Pistolenschuss, durch den Simplicius den Schatz freilegt. Eine Aufklärung darüber, was es mit der Jungfrau und dem schwarzen Hund auf sich hat, verweigert der Roman hingegen bis zu seinem Ende; diese beiden Elemente der von den Bauern kolportierten Überlieferung bleiben in schon ostentativer Form als blinde Motive stehen. Sofern er den Handlungsgang des Romans bereits überschaut, genießt der Rezipient demnach, was die Prophezeiung und ihre Ausdeutbarkeit anbelangt, einen eklatanten Wissensvorsprung gegenüber dem Protagonisten. Das narratologische Skandalon der Episode besteht darin, dass dies offenkundig nicht allein mit Blick auf Simplicius als Objekt der Erzählung gilt. Auch in seiner Funktion als Erzähler, retrospektiv also, durchschaut Simplicius nicht, von wem in der Sage die Rede ist. Pragmatisch oder psychologisch plausibilisieren lässt sich dieser Ausfall an Einsicht kaum;42 er dient dazu, der Inszenierung der Selbst-

42 Bereits Lothar Schmidt hat, ohne Bezug auf die hier diskutierte Szene zu nehmen, von narratologischer Warte aus festgehalten, dass im Simplicissimus „das Ich der Erzählung nicht einheitlich im Sinne psychologischer Forderungen ist“ (SCHMIDT, 1960, S. 215).

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verkennung, die dem Romanhelden unterläuft, eine besondere Emphase zu verleihen. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass es viel zu kurz griffe, die Ruinen-Sequenz aus dem Simplicissimus einsinnig auf den barocken Topos von der Unbeständigkeit des Glücks festzuschreiben. Eher gewinnt man den Eindruck, der Text biete – ähnlich wie im Fall der prominenten Baltanders-Episode – die gängige, kulturell approbierte Motivik als eine Art Fassade auf, in deren Schutz wesentlich diffizilere Fragen nach dem Verhältnis von literarischem Schreiben und biographischer Identität verhandelt werden. Indem Simplicius in den Keller des ‚Edelhofes‘ hinabsteigt, sucht er zugleich die Wurzel seines eigenen Ich auf. Er kommt mit dem ‚adelichen‘ (und eben nicht ‚schlechten‘, sprich einfachen) Fundament seiner Existenz in Berührung. Denn der Roman spielt ihm über die Schatzsucher-Episode die Möglichkeit zu, im Spiegel der Prophezeiung seiner selbst gegenwärtig zu werden und Aufschluss über sein genealogisches Herkommen zu gewinnen – allerdings nur, um vorzuführen, dass der Protagonist nicht in der Lage ist, sie zu ergreifen. Heimtückischerweise lässt der Text Simplicius selbst aussprechen, dass die ‚Fabeln‘, die er als ‚alber‘ disqualifiziert, nicht ohne Bezug auf seine Person sind. Sucht man nach einem lateinischen Äquivalent für ‚alber‘, so bietet sich die Übersetzung mit simplex an. Diese Lektüre wird durch ein Detail in der Beschreibung der von Simplicius entdeckten Kostbarkeiten erhärtet, dessen Bedeutung Rudolf Hofmeister dechiffriert hat. Unter den Schätzen, die Simplicius hinter dem demolierten Mauerwerk hervorzieht, befindet sich auch ein „versporte[r] lederne[r] Sack“ (ST 292), der verschiedene Münzen enthält. Durch die präzise Mengenangabe stechen „893. Goldstücke mit dem Frantzös. Wappen und einem Adler“ hervor, „welche Müntz niemand kennen wolte / weil man / wie sie sagten / die Schrifft nicht lesen konte“ (ST 292). Hofmeister ist darauf aufmerksam geworden, dass Grimmelshausen hier, sich an die kabbalistische Tradition der Gematria anlehnend, eine bestimmte Zeichenfolge im Wortsinn verziffert hat. Zu lesen sind der achte, neunte und dritte Buchstabe des Alphabets; die Sigle HJC, die sich so ergibt, kann als Monogramm des empirischen Autors identifiziert werden. Sie führt die Initialen von Grimmelshausens Vornamen zusammen: Hans Jacob Christoffel. 43 Hofmeister weist 43 Vgl. HOFMEISTER, 1978, S. 137f.

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auch bereits darauf hin, dass sich aus diesen Buchstaben durch das Prinzip des ‚Letternwechsels‘ die Abbreviatur JHC – eine Chiffre für den Namen Jesus Christus –, aber auch das nicht ganz unwichtige Pronomen ‚Jch‘ formen lässt. 44 Indem er auf die spirituelle Auslegbarkeit des Schatzmotivs abstellt, gelangt er dazu, der vom Helden versäumten Gelegenheit zur Selbsterkenntnis einen heilsgeschichtlichen Sinn zuzusprechen: „[I]n finding himself, the hero would also find God, or vice versa, in finding God, he would also fulfill the principle of ‚know thyself‘“45 – aber weil Simplicius auf dem Höhepunkt seines weltlichen Erfolgs weit davon entfernt ist, sich als Ebenbild der Gottheit zu verhalten, kann er sich der Aufgabe des ‚nosce te ipsum‘, die ihm bereits sein Einsiedler-Vater ans Herz gelegt hatte, nicht gewachsen zeigen. Hofmeisters Entzifferungsarbeit, die auf analoge Denkstrukturen in der barocken Mystik verweisen kann, legt zweifellos eine wichtige Bedeutungsdimension der Schatzsucher-Episode offen. Sie schöpft allerdings deren Sinnpotential keineswegs aus, sondern bedarf der Ergänzung um eine Perspektive, die dem poetologischen und metahermeneutischen Grundzug des im zwölften Kapitel entworfenen Szenarios gerecht wird. Man muss zunächst bedenken, dass es sich bei dem ‚Jch‘, das hier im anagrammatischen Buchstabenspiel figuriert wird, um nicht weniger als den Zentralsignifikanten des gesamten Romans handelt. Schon der Vorspruch zum Simplicissimus räumt ihm eine Spitzenstellung ein, die mehrfach anaphorisch bekräftigt wird: „Jch wurde durchs Fewer wie Phoenix geborn / Jch flog durch die Lüffte! wurd doch nit verlorn. / Jch wandert durchs Wasser / Jch raißt über Landt […].“ (ST 10) Systematisch betrachtet, verdankt der Signifikant ‚Jch‘ seine herausgehobene Position vor allem dem Umstand, dass er genau im Schnittpunkt zweier für den Text grundlegender Differenzen steht. Seine freischwebende Beziehbarkeit erlaubt es gerade, im narrativen Prozess mit diesen Unterscheidungen zu spielen und ineinander verschwimmen zu lassen, was analytisch zu trennen wäre.46 Zum einen 44 Vgl. Ebd., S. 138. 45 HOFMEISTER, 1978, S. 139. 46 Die spezifischen Unsicherheiten der Referenz, die dem Gebrauch des Pronomens ‚Ich‘ anhaften, rückt Gerhart von Graevenitz in das Zentrum einer anregenden Simplicissimus-Lektüre, wobei der Fokus allerdings auf der fiktiven Biographie des Protagonisten und dessen Rollenrepertoire, nicht auf Erzählkonstruktion und Autorschaftsentwurf des Romans liegt:

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berühren sich im Pronomen ‚Jch‘ Erzählinstanz und erzählte Figur. Grimmelshausens Roman bringt die entsprechende Amphibolie, die für jedes sich autobiographisch gebende Erzählen konstitutiv ist, seinen Lesern nahe, indem er wiederholt den Wissenshorizont des Erzählers an denjenigen des jungen Simplicius angleicht und somit eine narratologische Irritation erzeugt. 47 Wie wir gesehen haben, wartet unsere Episode mit einem besonders drastischen Beispiel für dieses Verfahren auf. Zum anderen verschleift der Simplicissimus über die Mehrdeutigkeit des Signifikanten ‚Jch‘ den fundamentalen Unterschied, der zwischen dem fiktiven Romanhelden und seinem leibhaftigen Erfinder besteht. Auch diese Strategie kündigt bereits der Vorspruch an, in dem doppelsinnig versichert wird: „[I]n solchem Umbschwermen macht ich mir bekandt / was mich oft betrüebet und selten ergetzt / was war das? Jch habs in dies Buche gesetzt […].“ (ST 10) Auf der Schwelle zur erzählten Welt referiert das ‚Jch‘ dieser Aussage vordergründig auf Simplicius als Verfasser seiner eigenen Biographie; hinter ihm lugt jedoch, allenfalls halbherzig maskiert, der reale Autor hervor. Die derart aufscheinende Zweideutigkeit des Roman-‚Jch‘ wird etwa dann noch vertieft, wenn Simplicius die Urheberschaft an Grimmelshausens Frühwerk für sich reklamiert, das er selbst den fiktionsinternen Gegebenheiten zufolge schwerlich „concipirt[]“ (ST 121) haben kann.48 Eben das Problem, in welchem Verhältnis das ‚Jch‘ als Medium und „Das Ich des Simplicius unterliegt ganz der Relativität der Deixis. […] Jede Redesituation ist Aufbau und Aufhebung einer Rollenposition zugleich. Ich stabilisiert sein Mich im Bezug auf Du und Er/Sie, und es ist zugleich ganz instabil, denn ‚ich‘ ist kein Eigenname für ein festes Rollensubjekt, sondern Indikator, der von jeder Position aus in bezug auf andere Positionen benutzt werden kann.“ ( VON GRAEVENITZ, 1996, S. 145). 47 Vgl. SCHMIDT, 1960, S. 215: „Der fiktive Erzähler nimmt dabei seinem Stoff gegenüber zwei verschiedene Haltungen ein, die ständig ausgewechselt und durcheinandergespielt werden. Zum Teil erzählt er von einem am Schluss des Romans gewonnenen Standpunkt aus und misst seine früheren Erlebnisse an den Erfahrungen des Alters. um sich völlig in die erzählte Lage hineinzuversetzen.“ Allerdings wird man kaum sagen können, dass die Erzählinstanz im zweiten Fall auf „die Stilform des Tagebuchs“ (ebd.) zurückgreife – eine solche Kennzeichnung verdeckt lediglich den paradoxalen Zuschnitt der narrativen Konstruktion, den der Roman nachgerade ausstellt. 48 Zum ironischen Spiel mit der Vermischung von Autor- und Erzählerfunktion an dieser Stelle vgl. MERZHÄUSER 2002, S. 77f.

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Objekt des Erzählens zum empirischen Autornamen steht, wird nun aber durch das Zahlenrätsel der Schatzsucher-Episode adressiert. Von hier aus rechtfertigt sich deren Placierung im Herzen des Romanganzen: Das anagrammatische Letternspiel, auf das die Episode den Rezipienten hinführt, macht schockhaft klar, dass das ‚Jch‘ des Textes durchgehend als Umschrift der Autorinitialen zu lesen ist. Unter raumsemiotischen Gesichtspunkten deutet die Geschichte von der Schatzsuche in den Ruinen des ‚Edelhofes‘ auf die symbolische Verwandlung des Helden in ein närrisches Kalb zurück, wie sie der Gouverneur von Hanau an ihm vollstrecken lässt. Denn auch die Letztere geht zu einem gewichtigen Teil in einem Kellergewölbe vonstatten. Nun zeichnet sich ab, was es mit diesem Korrespondenzverhältnis auf sich hat: Simplicius’ Kalbwerdung ist nur die prominenteste, am detailliertesten ausgeführte von zahlreichen Transformationen, die der Protagonist im Verlauf des Romans durchlebt. In ihnen allen aber spiegelt sich immer auch die eine, zentrale Metamorphose, über die der empirische Autor H. J. C. Grimmelshausen seine Biographie ins Fiktionale und Phantastische verschiebt. In kryptierter und verdichteter Form prägt sich diese entscheidende poetische Operation den Münzen auf, die Simplicius in den Trümmern des verfallenen Hofes entdeckt. Es lohnt sich, von hier aus noch einmal zurückzublicken und die Episode aus dem Simplicissimus mit der analogen Konstellation in Thürings Melusine zu vergleichen, eben mit jenem oben schon diskutierten Abschnitt, in dem Geffroy Aufschluss über seine Familiengeschichte erlangt. Gleich eine ganze Reihe von Parallelen lädt dazu ein, Simplicius’ Schatzfund auf der Folie dieser Sequenz zu lesen. In beiden Fällen wird die Bewegung, die die Figuren in Kontakt mit ihren jeweiligen genealogischen Ursprüngen bringt, als ein Gang in die Tiefe modelliert. Nicht anders als die Höhle, in der Geffroy auf das Grabmal seines Großvaters stößt, weist auch der Keller aus dem Simplicissimus markante Züge einer Heterotopie auf: Grimmelshausens Erzähler spricht mit Blick auf das Souterrain des ‚Edelhofes‘ ausdrücklich von einem „Wunder-ort“ (ST 291). Hierzu fügt sich, dass beiden Stätten eine spukhafte Qualität eignet. Simplicius wird von den zwei Bauern, als er zurück an die Oberfläche kommt, sogar selbst für das Gespenst gehalten, das, wie die Fama behauptet, in den Ruinen hausen soll. In der Melusine wiederum spricht Persina den Berg Awelon, in dem sich

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Grabmonument und die Schrifttafel befinden, mit einer sonderbaren Wendung als den Ort an, „da das gespenst ist“ (ST 106). Schließlich kann man geradezu eine Reminiszenz an die Melusine darin erkennen, dass Grimmelshausen die Geschichte des verborgenen Schatzes mit dem – auf der Handlungsebene folgen- und funktionslos bleibenden – Motiv der erlösungsbedürftigen Jungfrau ausschmückt. Der intertextuelle Vergleich macht in jedem Fall sichtbar: In die Schatzsucher-Episode aus dem Simplicissimus sind verschiedene Vorzeichen eingelassen, die den Verdacht nähren, hier werde ausgestaltet, wie der Held in seine genealogische Vorgeschichte hinabsteige und also auch die eigene Identität erkunde. Angesichts der diversen Entsprechungen stechen aber auch die Differenzen zwischen den beiden Szenarien umso prägnanter ins Auge. Auffällig ist nicht allein, dass Simplicius die Gelegenheit zur Selbstbegegnung auf noch spektakulärere Weise als Geffroy versäumt, welcher immerhin erkennt, dass es sein eigener Familienroman ist, in den ihn die Schrifttafel im Berg Awelon einweiht. Vor allem erscheint bemerkenswert, dass der Simplicissimus völlig davon absieht, das Schicksal des verödeten ‚Edelhofes‘ respektive des in seinen Trümmern versteckten Schatzes mit dem genealogischen Herkommen des Protagonisten zu verknüpfen. Nirgendwo leistet der Text dem Gedanken Vorschub, das alte Gemäuer, in dem Simplicius umherstreift, könnte in einer näheren Beziehung zur Historie seiner Ahnen stehen. Stattdessen bleibt es allein der von den beiden Bauern mitgeteilten Prophezeiung überlassen, die wahre Identität und Abstammung des Protagonisten im Umriss zu bezeichnen. Simplicius erkennt also sich selbst zwar nicht als denjenigen, von dem in der Sage die Rede ist. Aber deren Einzelheiten stehen ihm eben auch von vornherein fremd gegenüber, weil der Roman die naheliegende Möglichkeit ausschlägt, die Zeitentiefe, die im räumlichen Arrangement bedeutet wird, mit der (Familien-)Geschichte des Helden in eins zu setzen. Vor dem Hintergrund der Melusinen-Episode wird sinnfällig, dass der fehlende Konnex an diesem Punkt eine Abweichung gegenüber dem Erwartbaren darstellt. Und in der Tat streicht Grimmelshausens Text den verstörenden Aspekt der Figuration zusätzlich heraus, indem er darauf verzichtet, für den schwarzen Hund und die Jungfrau der Prophezeiung eine alternative kontextuelle Rahmung anzubieten. Sie ragen als erratische Details aus der Romanhandlung heraus, die sich – für den

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Leser ebenso wie für den Protagonisten – einer interpretierenden Einordnung entziehen. Wie nach alldem offen zutage liegt, kreist die Episode des Schatzfundes ganz wesentlich um hermeneutische Prozesse, die sie hartnäckig und auf mehr als einer Ebene problematisiert. Sie stellt zunächst Simplicius’ Verständnislosigkeit angesichts der Tatsache aus, dass er die Prophezeiung, die er für albernes Gerede hält, soeben selbst erfüllt hat. Der Leser hat – möglicherweise erst im zweiten Lektüredurchgang – die Chance, diesen quasi hinter dem Rücken des Protagonisten und Erzählers lancierten Zusammenhang zu durchschauen; auch sein Verständnis bleibt jedoch unvollständig, wird ihm doch eine Auskunft darüber verweigert, welche Bewandtnis es mit Jungfrau und Hund hat. Gleichzeitig konfrontiert ihn die Sequenz mit einer Staffelung von Sinnschichten, wie sie zuvörderst in der auf Dechiffrierbarkeit angelegten Zahlenangabe 893 greifbar wird. Die hermeneutischen Konnotationen der Schatzsuche insgesamt lassen sich schwerlich übersehen, so dass man kaum umhin kommt, sein Augenmerk auf die selbstreferentielle Dimension des Geschehens zu richten: Die Kostbarkeiten im Keller erscheinen als doppelt eingeschachtelt und müssen erst mühsam freigelegt werden; der Pistolenschuss, der Simplicius auf ihre Spur bringt, firmiert im verrätselnden Sprachgestus der Prophezeiung als ‚feuriger Schlüssel‘. Der Leser erhält so einen dezenten Fingerzeig, dass es auch für ihn in dieser Episode etwas aufzuschließen und zu entschlüsseln gibt. Vor allen Dingen tritt die metahermeneutische Implikation des Szenarios in dem Hinweis hervor, niemand habe die 893 Münzen, die Simplicius im Keller unter anderem findet, zu identifizieren gewusst, weil man, wie es heißt, „die Schrifft nicht lesen konte“ (ST 292). Der Roman schmuggelt so eine Figur der Unlesbarkeit ein, die offenbar dazu bestimmt ist, die in der Episode entfaltete Konstellation in sich zusammenzufassen und zu kommentieren. Durch sie werden nachdrücklich die Schwierigkeiten und Widerstände pointiert, denen sich eine hermeneutische Annäherung an unsere Sequenz gegenübersieht. Womöglich ist die Schatzsuche-Episode nicht nur mit Überresten im architektonischen Sinne befasst, sondern soll gerade auch in den Vordergrund rücken, was im Prozess des Verstehens als unauflöslicher Rest zurückbleibt. Bedeutsam dabei ist sicherlich, dass der Roman das Motiv der unlesbaren Schrift metonymisch eng auf die

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kryptierte Autorchiffre HJC bezieht. Die zeichenhafte Verdichtung legt nahe, dass es hier vor allem auch um eine Hermeneutik der ästhetischen Subjektivität geht.49 Implizit wird die Frage aufgeworfen, inwieweit Grimmelshausens Projekt einer fiktional verfremdeten Lebensbeschreibung dem christlich legitimierten Imperativ des ‚nosce te ipsum‘ dienlich sein kann – ob also, anders gesagt, die Literatur zum Organ der Selbstvergegenwärtigung taugt oder ob der Zugang zum eigenen Ich im poetischen Maskenspiel nicht eher verstellt und aufgeschoben wird. Wir haben gesehen, dass die Episode des Schatzfundes gerade ein Modell gebrochener Subjektivität in Szene setzt, nicht allein insofern, als Simplicius es verfehlt, sich in der Erlöserfigur der Prophezeiung zu erkennen, sondern, grundsätzlicher, auch mit Blick darauf, dass die Ruinen des ‚Edelhofs‘ ihn einer Zeittiefe aussetzen, in der er seine eigene (genealogische) Geschichte nicht wiederfindet. Grimmelshausens Text wahrt Skepsis der Vorstellung gegenüber, das in ihm so prominente Pronomen ‚Jch‘ stehe für eine Identität ein, die sich durch alle Metamorphosen hindurch erhält, 50 die sich folglich jede ihrer Ver49 Es handelt sich hier übrigens nicht um die einzige Passage, in der Grimmelshausens Roman das für ihn ohnehin wichtige Motiv des Geldes mit der Form der Schrift in Zusammenhang bringt und ihm so einen poetologischen Nebensinn zueignet. Bereits das Tintenfass des Secretarius, mit dem sich Simplicius in Hanau unterhält, erinnert ihn an „des Fortunati Säckel“; aus besagtem Tintenfass behauptet der Schreiber aber kraft eines „künstlichen Griff[s]“, den er mit einem „Arm im Kopf“ ausführt, „große Sachen“ hervorziehen zu können. Damit ist nicht nur auf die pragmatische Wirkungsmacht der Rhetorik, sondern vor allem auch auf die imaginative Potenz literarischen Schreibens angespielt. Zum rhetorischen Referenzhorizont des vom Secretarius angeführten ‚künstlichen Griffs’ vgl. SOLBACH, 1994, S. 25f. 50 Gerhart von Graevenitz hat für eine der zentralen intertextuellen Folien des Simplicissimus, die auch als Goldener Esel bekannten Metamorphosen des Apuleius, herausgearbeitet, dass die titelgebenden Verwandlungen im antiken Roman als ein durchaus unheimliches Überschreiten des Endes, der den Figuren durch ihren Tod gesteckten Grenze nämlich, konzipiert werden. Im Simplicissimus sieht von Graevenitz dieses Modell mit der „Forderung […] nach einem auf sein Ende hin geplanten Ich mit fester Kontur“ (VON GRAEVENITZ, 1996, S. 146) konfrontiert. Die hier diskutierte Episode scheint uns demgegenüber zu unterstreichen, wie brüchig sich die damit unterstellte „Finalisierung der Rollenkontingenz“ (ebd.) in Grimmelshausens Roman letztlich doch ausnimmt. Mit Blick auf die Thematik des unheimlichen Überlebens, die von Graevenitz im Roman des Apuleius markiert, fällt im Übrigen noch einmal besonders ins Auge, dass Sim-

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gangenheiten als anderes ihrer selbst einzuverleiben vermag. Der entsprechende Vorbehalt strahlt nicht zuletzt auch auf die poetische Transformation aus, durch die sich – im Medium des ‚Jch‘ – der Schriftsteller H. J. C. von Grimmelshausen in die literarische Figur Melchior Sternfels von Fuchshaim alias Simplicius Simplicissimus übersetzt. Ob die literarische Schrift tatsächlich zum Monogramm des Autors zusammenschießt, der sich, frei von Residuen der Intransparenz, in seiner ästhetischen Veräußerung selbst lesbar wird, bleibt aus der Perspektive des Romans letztlich zweifelhaft.

Fazit Alle drei Texte, die wir diskutiert haben, finden im Motiv des architektonischen Überbleibsels ein geeignetes Medium, um eine komplexe Verschränkung von Zeitdimensionen zu inszenieren. In den baulichen Reliquien der Melusine bezeugt sich die Gegenwart einer insistierenden Vorgeschichte. Quevedos Sonett setzt eine ‚vergangene Zukunft‘ (R. Koselleck) ins Bild, die im Zeichen der Ruine und also im Vorgriff auf ihren unausweichlichen Verfall präsentiert wird. Die ‚Edelhof‘-Sequenz aus dem Simplicissimus lässt sich, ohne einer allzu großen Systematisierungswut Raum zu geben, als Synthese dieser beiden Modelle verstehen: Grimmelshausen nimmt im ruinösen Arrangement der Episode die düsteren Zukunftsaussichten seines Protagonisten vorweg, dessen weltliche Laufbahn ihren Zenit sehr bald überschritten haben wird; zugleich lebt in der gespenstischen Kulisse des alten Edelhofs eine Vergangenheit fort, die allerdings von der Biographie des Helden auf irritierende Weise abgespalten bleibt. Im Fall der Melusine haben wir es mit einem Roman zu tun, der sich selbst, unbeschadet all seiner phantastischen Durchschüsse, als Geschichtsschreibung versteht und mit dem ausdrücklichen Anspruch auftritt, historische Wahrheit zu vermitteln. Die Autopsie wird im Text als eine zentrale Technik ausgezeichnet, durch die diese Wahrheit beglaubigt werden kann; erprobt wird sie, wie wir gesehen haben, auf verschiedenen narrativen Ebenen bevorzugt an architektonischen Überresten. Unter der Oberfläche allerdings, konserplicius von den beiden Bauern, denen er begegnet, zuerst für das im Gemäuer des ‚Edelhofs‘ vermutete „Gespenst“ (ST 292) gehalten wird.

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viert in den semiotischen und motivischen Figurationen des Romans, finden sich noch zahlreiche Spuren des alten Misstrauens, mit dem die philosophisch-theologische Tradition den zudringlichen Blick der theoretischen Neugierde zu bedenken pflegte. Obwohl das genealogische Formular des Romans es zwingend erfordert, im Verhältnis zur Vorgeschichte den Aspekt historischer Kontinuität stark zu machen, wird die Vergangenheit in der Melusine durchaus mit einem deutlichen Akzent von Alterität versehen. In der Komplexion der erzählten Vorzeit durchdringen sich mythische und historische Züge; analog dazu oszilliert sie, was ihre Stellung zur narrativen Gegenwart betrifft, zwischen Fremdheit und Vertrautheit.51 Der Simplicissimus bekennt sich demgegenüber nachdrücklich als Fiktion ein, genauer gesagt: er entwirft sich als Verschiebung (lebens-)geschichtlichen Materials in den fiktionalen Bereich. Schon die Melusine führt im Ansatz (über die Episode von Geffroys Abstieg in seine Familienhistorie) die Modellierung einer zeitlichen Tiefendimension mit dem Problem personaler Identität zusammen. Die Bewegung, die sich hier andeutet, wird in Grimmelshausens Roman weiter vorangetrieben und auf die Frage nach dem Status von Autorschaft zugespitzt. Die Vorzeit, in welche die Ruine des Edelhofs weist, zeigt dabei ein noch fremderes Gepräge als die Vergangenheit, die in der Melusine ausgeleuchtet wird. Sie verweigert sich der Integration in die Lebensgeschichte des Protagonisten; ja, der semiotische Mechanismus, der von der architektonischen Spur zu der Geschichte zurückgeleitet, die sich in ihr abdrückt, erscheint insgesamt als blockiert. Die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass es in dem alten

51 Reinhart Koselleck illustriert seine These, der zufolge die geschichtliche Vergangenheit erst in der ‚Sattelzeit‘ um 1800 als von der Gegenwart grundlegend verschieden konzipiert wird, an Altdorfers Alexanderschlacht: Das Gemälde präsentiert die auf ihm versammelten Heerscharen gewissermaßen arglos und von jedem Alteritätsbewußtsein unbelastet im Kostüm des frühen sechzehnten Jahrhunderts, dem es selbst entstammt (vgl. KOSELLECK 2000, S. 17f.). Wie deutlich geworden sein sollte, liegen die Dinge in der einige Jahrzehnte älteren Melusine jedenfalls erheblich komplexer. Die hier gestaltete Vorzeit wird sehr wohl als andersartig markiert; die Frage ist eher, inwieweit sie dem zeitgenössischen Leser als historische und inwieweit als mythische (im Sinne der in-illo-tempore-Vorstellung) entgegentritt beziehungsweise ob sich beide Aspekte so säuberlich scheiden lassen, dass die Fremdheitsanmutung eindeutig auf die mythische Seite eingeschränkt werden könnte.

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Gemäuer spukt, dass in ihm ein Schatz versteckt ist etc., zeichnen sich allenfalls in vagen Umrissen ab; offenbar wesentliche Elemente dieser Vorgeschichte werden narrativ nie eingeholt. Der Simplicissimus irritiert damit den narratologisch so naheliegenden Rückschluss von der gegenwärtigen Spur auf eine der erzählerischen Form zugängliche Vergangenheit. Er setzt eine hermeneutische Frustration in Szene, die über ein vielschichtiges Arrangement im Text selbst reflektiert und an den Leser weitergereicht wird.

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Historische Quellen als indexikalische Zeichen Zum Verhältnis zwischen Semiotik und allgemeiner Quellenkunde

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SASCHA WEBER „And if you hear vague traces of skippin’ reels of rhyme / To your tambourine in time, it’s just a ragged clown behind / I wouldn’t pay it any mind / It’s just a shadow you’re seein’ that he’s chasing“ Bob Dylan, Mr. Tambourine Man (Bringing it all back home, 1965)

Im Gegensatz zu den an Fallbeispielen orientierten Vorträgen in der nachfolgenden Sektion habe ich einen allgemeineren Ansatz gewählt und möchte über das Verhältnis von Semiotik und allgemeiner Quellenkunde sprechen. Dabei folge ich keiner bestimmten theoretischen Schule oder theoretischen Diskussionen, sondern beschränke mich auf allgemein anerkannte Grundlagen der Geschichtswissenschaft und

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Überarbeiteter Text, des am 25. Juni 2010 gehaltenen Vortrages. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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konfrontiere damit sozusagen Ahasver von Brandt2 mit der Semiotik. Einiges von dem, was ich im Folgenden erzählen werde, mag für Fachkollegen banal klingen, doch ist es gerade bei einer interdisziplinären Veranstaltung unabdingbar, dass fachliche Begriffe und Methoden geklärt werden und die beteiligten Fächer einander auch verstehen. So zeigt sich bei interdisziplinären Gesprächen und Diskussionen häufig, dass die meisten Disziplinen ein ganz anderes Verständnis von Quellen haben als die Geschichtswissenschaft und es gerade dadurch zu Missverständnissen kommen kann. Inwieweit diese Missverständnisse auch zwischen der linguistisch-philosophisch geprägten Semiotik und der Geschichtswissenschaft bestehen, wird auch Thema meines Vortrages sein. Was mich zu diesem Thema gebracht hat, war das außergewöhnliche Gefühl der Vertrautheit in den Aussagen der Semiotik in Bezug auf die alltägliche Arbeit des Historikers, auf den gewöhnlichen Umgang mit historischen Quellen. Ist dieses Gefühl der Vertrautheit verlässlich? Besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen semiotischer Theorie und historischer Praxis? Oder ist dies doch nur eine oberflächliche und trügerische Wahrnehmung der Semiotik von Seiten des Historikers? Aus der Perspektive der Semiotik erscheinen historische Quellen, die Spuren einer vergangenen Wirklichkeit, als kommunikative und indexikalische Zeichen. Hier stellen sich nun für den Historiker verschiedene Fragen: Ist die Betrachtung historischer Quellen als kommunikative und indexikalische Zeichen mit der traditionellen Quellenkunde vereinbar? Kann eine semiotische Perspektive für die Quellenkunde befruchtend sein? Welche Konsequenzen hat dies für die Arbeit des Historikers und den Umgang mit historischen Quellen? Nicht zuletzt stellt sich die Frage: Was bedeutet eine semiotische Perspektive auf die allgemeine Quellenkunde für die Geschichtswissenschaft als eine Wissenschaftsdisziplin, die sich zwar von Zeit zu Zeit neuen Quellengattungen öffnet, jedoch in Forschung, Lehre und Methodik im Wesentlichen ihrem philologischen Ursprung verhaftet ist?

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Ahasver von Brandt war Archivar und Historiker und lehrte bis 1974 Historische Hilfswissenschaften an der Universität Heidelberg. Sein erstmals 1958 erschienenes Buch „Werkzeug des Historikers“ ist noch immer das Standardwerk für die Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften.

Historische Quellen als indexikalische Zeichen

Wichtig ist zunächst die semiotische Unterscheidung von kommunikativen und indexikalischen Zeichen. Während das indexikalische Zeichen ein Zeichen von etwas ist, also ein Zeichen das etwas anzeigt, sind die kommunikativen Zeichen Zeichen für etwas.3 Aus der Perspektive der Semiotik unterteilen sich auch die historischen Quellen in kommunikative und indexikalische Zeichen. Unter die kommunikativen Zeichen fallen alle Schriftquellen, also Briefe, Tagebücher, Urkunden und Akten sowie Bildquellen, die die Vergangenheit in Form von kommunikativen Zeichen beschreiben. Die indexikalischen Zeichen sind die Überreste der Vergangenheit, also alle erhaltenen physischen Spuren. Dabei können alle Spuren der Vergangenheit zu indexikalischen Zeichen werden, sobald sie von jemandem als Zeichen von etwas verstanden und gedeutet werden. 4 Bereits an dieser Stelle werden die ersten Probleme deutlich, da die Quellenkunde von einer anderen Unterteilung ausgeht und auch unter dem Begriff Überrest etwas anderes versteht, als nur die physischen Spuren der Vergangenheit. Für den Historiker sind Quellen nach der klassischen Definition von Paul Kirn „alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“.5 Die Quellenkunde unterscheidet dabei nicht zwischen kommunikativen und indexikalischen Zeichen, sondern trennt in Überrest und Tradition: Überreste sind in der Quellenkunde nicht ausschließlich physische Überreste, sondern im Gegenteil alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben ist. Diese gliedern sich wiederum in drei Gruppen, die Sachüberreste, die abstrakten Überreste und die schriftlichen Überreste. Unter Sachüberreste fällt vornehmlich das, was die Semiotik unter Überresten versteht, also die physischen Spuren der Vergangenheit, seien es nun Gegenstände, Gebäude oder auch Skelette und Mumien. Die abstrakten Überreste betreffen vor allem Sprache, Sitten und Gebräuche. Die schriftlichen Überreste sind schließlich die Hauptquellen des Historikers, alle schriftlichen Quellen, die unabsichtlich, weil nur für ihren Gegenwartszweck gedacht, übriggeblieben sind, vornehmlich Urkunden für den Mittelalterhistoriker und Akten für den 3 4 5

KJØRUP, 2009, S. 7. Ebd., S. 38. BRANDT, 2003, S. 48.

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Neuzeithistoriker. Unter Tradition sammeln sich alle Quellengruppen, die eigens und absichtlich zum Zweck historischer Unterrichtung geschaffen worden sind, nämlich die mündliche Überlieferung und die literarischen Quellen.6 Während die Traditionsquellen nun keinesfalls als indexikalische Zeichen aufgefaßt werden können, gehören aus semiotischem Blickwinkel auch die meisten Überrestquellen zu den kommunikativen Zeichen. An diesem Punkt kann man zumindest für die Sachüberreste die Bezeichnung „indexikalische Zeichen“ in Anspruch nehmen und auch in der historischen Praxis anwenden. Volker Sellin macht dies recht anschaulich am Beispiel der Heidelberger Altstadt. Allein der Unterschied zwischen dem Baustil der spätgotischen Heiliggeistkirche und dem Stil fast aller anderen Gebäude der Altstadt zeige, dass die Stadt am Ende des 17. Jahrhunderts vollständig zerstört worden sein muss, wohingegen die Schlichtheit der Häuser aus dem frühen 18. Jahrhundert zeige, dass Heidelberg keine wohlhabende Handelsstadt, sondern, als kurpfälzische Residenz, eine Beamtenstadt war. Die gesamte menschliche Welt bestehe, so Sellin, aus lauter Elementen, die zugleich als Quelle der Erkenntnis von geschichtlichen Entwicklungen und vergangenem Leben dienen können. 7 Macht man sich nun aber den Zeichenbegriff von Peirce zu eigen, werden die Möglichkeiten historische Quellen als indexikalische Zeichen aufzufassen, noch stärker eingeschränkt. Nach Peirce ist der Index ein Zeichen, das sich in einer kausalen, wirklichen Beziehung zu seinem Objekt befindet. Es sei das Wesen eines Index, in wirklichem Zusammenhang mit seinem Objekt zu stehen.8 „Ein Ausruf wie „He!“, „Sag bloß!“ oder „Hallo!“ ist ein Index. Ein deutender Finger ist ein Index. Ein Krankheitssymptom ist ein Index. Das indizierte Objekt muß wirklich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus. Doch sind beide insofern gleich, als die zeichenkonstitutive Beschaffenheit gänzlich

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BRANDT, 2003, S. 52 u. 61. SELLIN, 2001, S. 46. KJØRUP, 2001, S. 219; PEIRCE, 1998, S. 41 u. 47.

Historische Quellen als indexikalische Zeichen unabhängig davon ist, ob sie tatsächlich jemals als Zeichen wirken, indem sie als solche verstanden werden.“9

Ein reiner Index erzwinge einfach Aufmerksamkeit für das Objekt, mit dem er reagiert, und versetze den Interpreten in mittelbare Reaktion mit diesem Objekt, aber er vermittle keine Informationen. Der Index vermittle dem Interpreten die Erfahrung des benannten Objektes, ein reiner Index jedoch könne nie etwas behaupten oder bezeichnen, wenn es nicht zugleich einen ikonischen Teil enthalte.10 Legt man also nun diesen Zeichenbegriff an, so schwinden letztlich alle Anknüpfungspunkte an die Quellenkunde bis auf einen, nämlich die Funktion von Sachüberresten, namentlich den physischen Spuren, überhaupt historische Neugier anzustoßen und Fragen zu veranlassen. An dieser Stelle könnte nun eigentlich mein Vortrag enden, mit dem knappen Fazit, dass die Anwendung semiotischer Zeichenbegriffe auf die allgemeine Quellenkunde weder zu einer Erweiterung der Perspektiven führt noch einem besseren Verständnis der historischen Quellen dient. Wie aber bereits an dem „eigentlich“ deutlich wird, werde ich nicht mit diesem Fazit enden. Gehen wir noch einmal etwas zurück und hören ein Beispiel für einen mit einem Ikon verbundenen Index von Peirce: „So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird. Doch darüber hinaus liefert ein Foto ein Ikon des Objektes, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts macht.“11

Dieses Beispiel brachte mich, um in der Terminologie des Workshops zu bleiben, auf eine neue „Spur“. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass zwar eine Unterteilung von Quellen in kommunikative und indexikalische Zeichen in der allgemeinen Quellenkunde nicht zielführend und wenig sinnvoll ist, jedoch unterscheidet die allgemeine 9 PEIRCE, 1983, S. 65. 10 DERS., 1998, S. 42f u. 49. 11 DERS., 1983, S. 65.

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Quellenkunde selbst im semiotischen Sinne zwischen kommunikativen und indexikalischen Quellen. Dies will ich an einem Beispiel Ahasvers von Brandt zeigen: „Für den Überrest scheint fast immer eines charakteristisch: er gibt ein objektives Bild – der Lichtstrahl der Begebenheit trifft das Auge des Betrachters unmittelbar, ungebrochen –, aber er gibt meist nur eine ‚Momentaufnahme‘, um im photographischen Bild zu sprechen. Mit ‚feststehender Kamera‘, unter einem durch den Zweck festgelegten Blickwinkel wird aufgenommen; alles, was die einmalige ‚Einstellung‘ erfaßt, wird reproduziert, alles, was zeitlich davor oder danach, räumlich außerhalb liegt, bleibt ‚unbelichtet‘.“12

Die Traditionsquellen hingegen vergleicht von Brandt mit einer Filmkamera, die Abläufe, Bewegungen und Zusammenhänge erkennen lassen.13 Die Traditionsquellen erzählen und beschreiben uns die Vergangenheit. Die Überrestquellen zeigen uns einen Ausschnitt der Vergangenheit und sind aus dieser semiotisch ignoranten Historiker-Perspektive immer Zeichen von etwas, während die Traditionsquellen immer Zeichen für etwas sind. Sellin macht dies am Beispiel der Tatsachen und Sachverhalte besonders deutlich: „Tatsachen und Sachverhalte sind Teil unserer Überlieferung, Teil der Traditionen, in denen wir stehen. Jede Tradition verweist als solche zurück auf ihre Ursprünge und auf ihr Fortwirken bis in die Gegenwart. Insofern ist die heute bestehende Tradition eine unmittelbare Erkenntnisquelle für geschichtliches Leben.“14

Wie kommt es denn aber nun dazu, dass sich zwar historische Quellen in Erzählende und Zeigende unterscheiden lassen, die Anwendung von semiotischen Begrifflichkeiten auf die allgemeine Quellenkunde jedoch keinen Gewinn darzustellen scheint?

12 BRANDT, 2003, S. 60. 13 Ebd., S. 61. 14 SELLIN, 2001, S. 45.

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Historische Quellen als indexikalische Zeichen

Die Antwort liegt im Denken und in der Methodologie der Geschichtswissenschaft: Der historische Quellenbegriff ist allumfassend. Alles kann zu einer historischen Quelle werden. Betrachtet man verschiedene Aussagen zu Indexen und indexikalischen Zeichen von Søren Kjørup und ersetzt diese Begriffe mit dem Wort „Quelle“, so erhält man die treffendsten Aussagen zur Quellenkunde: Quellen sagen uns etwas über die Vergangenheit, aber nicht, weil uns irgendjemand etwas über die Vergangenheit erzählen will; wir müssen vielmehr selbst danach Ausschau halten und sie deuten, wenn wir irgendetwas wissen wollen. Alles kann zu einer Quelle werden, nämlich dann, wenn sie von irgendjemand als Quelle aufgefaßt und gedeutet wird. Eine Quelle wird erst dann zur Quelle, wenn sich jemand dafür interessiert und Fragen an die Quelle stellt, die sie beantworten kann.15

Auch die von Kjørup als bewusst installierte Zeichenerzeuger bezeichneten Zeichen, wie der Wetterhahn16, finden ihre Entsprechung in den bewusst für die Nachwelt als Zeichenerzeuger installierten Traditionsquellen. Genauso wie die indexikalische Semiotik in der Wirklichkeit Spuren finden will, die uns etwas über Sachverhalte erzählen, oder Situationen und Instrumente schafft, die die Wirklichkeit dazu bringen, für uns solche Zeichen zu produzieren, versucht die Geschichtswissenschaft, Quellen zu finden, die uns etwas über die Vergangenheit erzählen, oder Instrumente zu schaffen, um sie zu lesen. Eine Quelle ist dabei nie Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck historischer Erkenntnis.17 Dies führt mich zu der Schlussfolgerung, dass das größte Missverständnis zwischen Semiotik und allgemeiner Quellenkunde darin besteht, dass für die Geschichtswissenschaft grundsätzlich jede Quelle einen Index für die Vergangenheit darstellt und grundsätzlich alles Quelle sein und werden kann. Ich schließe deshalb meinen Vortrag mit den Worten von Volker Sellin:

15 Frei nach KJØRUP, 2009, S. 37-40. 16 Ebd., 2009, S. 39f. 17 BRANDT, 2003, S. 50.

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Sascha Weber „Die ganze Welt, in der wir leben, ist historische Quelle. Die Welt ist Geschichte. Man muß nur sehen lernen.“18

Literatur BRANDT, AHASVER VON: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 16. Aufl. 2003. KJØRUP, SØREN, Humanities. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 2001. DERS., Semiotik, Paderborn 2009. PEIRCE, CHARLES SANDERS, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. von HELMUT PAPE, Frankfurt 1983. DERS., Neue Elemente, in: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis Umberto Eco und Jacques Derrida, hg. von DIETER MERSCH, München 1998, S. 37-56. SELLIN, VOLKER, Einführung in die Geschichtswissenschaft, Göttingen 2. Aufl. 2001.

18 SELLIN, 2001, S. 45.

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Entführung aus dem Detail Abduktion und die Logik der kulturw issenschaftlichen Forschung ANDREAS FRINGS „Most people, if you describe a train of events to them, will tell you what the result would be. They can put those events together in their minds, and argue from them that something will come to pass. There are few people, however, who, if you told them a result, would be able to evolve from their own inner consciousness what the steps were which led up to that result. This power is what I mean when I talk of reasoning backwards, or analytically.“1

Die moderne historisch-kulturwissenschaftliche Forschung steht vor einigen methodischen Schwierigkeiten: Sie interessiert sich i.d.R. für Details und genaues historisches Wissen – und scheint ohne nomothetisches, allgemeines Wissen doch nicht auszukommen. Sie re1

DOYLE, 1984, S. 83-84; aus dem Kriminalroman „A Study in Scarlet“.

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konstruiert aus Details heraus einen größeren historischen Zusammenhang, dem ja häufig ihr eigentliches Interesse gilt – und findet diesen Zusammenhang doch nicht in den Details selbst, auch nicht in den Quellen, die von diesem Zusammenhang wiederum in irgendeiner Art und Weise „zeugen“. Historisch-kulturwissenschaftliches Arbeiten besteht in der Rekonstruktion kultureller Zusammenhänge der Vergangenheit, in die die beobachtbaren Einzelphänomene der Vergangenheit eingebettet waren – und die selbst erst dazu dienen, eben jenen kulturellen Kontext zu rekonstruieren. Der kulturwissenschaftliche Historiker oder die historische Kulturwissenschaftlerin (beides soll im Folgenden synonym verwendet werden; es geht um jene/n Forschende/n, der/die kulturelle Sachverhalte der Vergangenheit zu rekonstruieren bemüht ist) stehen damit in mehrfacher Weise vor jenem Problem, das mit diesem Sammelband angesprochen werden soll: 1. Die Zusammenhänge der Vergangenheit werden als kulturelle aufgefasst; es geht um jene „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe“2, die Clifford Geertz Kultur nennt, um das „historisch überlieferte[s] System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“3. Die Überreste der Vergangenheit werden somit meist als Symbole gedeutet, liegen uns jedoch zunächst nur als Index möglicherweise symbolischer Handlungen vor. Die Vermutung, es handele sich um Symbole, ist somit zunächst einmal eine Zuschreibung, die richtig oder falsch sein kann. Der Schluss von einem Index auf seine Symbolizität ist grundsätzlich gehaltserweiternd. 2. Die Perspektive auf die Quellen historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeitens als Indexe lassen Fragen nach den unterstellten Kausalitäten virulent werden. Nicht, dass damit alle Fragen nach Kausalität angesprochen wären; die Indexikalität der Quellen, die darin besteht, dass sie kausales Produkt von etwas anderem sind, spricht nur einen Teil der Kausalitätsprobleme historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeitens an. Viel wichtiger sind mutmaßlich die kausalen Beziehungen, die 2 3

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GEERTZ, 1987b, S. 9. GEERTZ, 1987c, S. 46.

Entführung aus dem Detail

man innerhalb kultureller, sozialer, ökonomischer usw. Zusammenhänge sucht oder unterstellt. Entscheidender aber ist, dass die Historischen Kulturwissenschaften damit aufgefordert werden, sich zu ihren unterstellten Kausalitätsannahmen zu bekennen – und damit zu ihren Theorien. Denn bei aller immer wieder vorgetragenen Präferenz für theoriegeleitetes Arbeiten sucht man explizite Aussagensysteme, die zu vermuteten Kausalbeziehungen Stellung nehmen, eher vergebens – und einen einheitlichen und kulturwissenschaftlich breit akzeptierten, gewissermaßen standardisierten Theoriebegriff für die Kulturwissenschaften gibt es bisher nicht.4 3. Die angesprochene Überbrückung eines eigentlich unüberwindbaren Grabens zwischen den historisch-empirischen Befunden an Quellen und Einzeltatsachen einerseits und dem (re-)konstruierten historischkulturellen Zusammenhang andererseits lenkt den Blick auch auf die Methode: Mit welchen Verfahren darf ich eigentlich legitimerweise von einer konkreten Menge an Befunden auf jenen Zusammenhang schließen? Eine methodologische Diskussion, die zur Kritik der vielfältigen und in ihrer Vielzahl auch kaum noch überschaubaren kulturwissenschaftlichen Methoden befähigen würde, findet bisher kaum statt. All diese Fragen sprechen ein Problem an, das mit dem Begriff der „Abduktion“ im Folgenden angegangen werden soll. Wörtlich genommen, und so erklärt sich auch der Titel dieses Beitrags, geht es um die Frage, welches Verfahren den kulturwissenschaftlichen Historiker aus der Menge der Einzelbefunde „entführt“ und in den kulturellen Gesamtzusammenhang hineinbringt. Abstrakt gesprochen geht es um das oben mehrfach beschriebene Problem, das der Philosoph Charles S. Peirce eben mit dem Verfahren der „Abduktion“ begrifflich fassen wollte: den riskanten Schluss von Einzelbeobachtungen auf einen sie erklärenden Zusammenhang. Dabei stellt sich die Frage, ob das von Charles S. Peirce beschriebene Verfahren tatsächlich jene „Entführung“ 4

Stattdessen wird meist der theroetische „Ekklektizismus“ gefeiert. Das ist jedoch wenig hilfreich: Solange man nicht weiß, wie der Begriff „Theorie“ definiert ist, kann man nicht einmal sinnvoll von einer Vielzahl oder gar einem Ekklektizismus von Theorien sprechen. Das Lob des Ekklektizismus verdeckt nur die Tatsache, dass man eigentlich nicht genau weiß, was eine kulturwissenschaftliche Theorie auszeichnen und leisten soll – und was die Qualitätsmerkmale einer guten kulturwissenschaftlichen Theorie wären. Zum Theoriebegriff dieses Aufsatzes weiter unten mehr.

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erlaubt. Der vorliegende Artikel versteht sich somit als Beitrag zu einer Fortentwicklung der Historischen Kulturwissenschaften, die bisher durch das fast völlige Fehlen methodologischer Reflexionen gekennzeichnet sind.5

„Logik“ und „Kreati vität“ der Abduktion Deutschsprachigen Historikern wurde der Graben zwischen Einzelbeobachtungen und dem hypothetischen (Re-)Konstrukt des vergangenen (kulturellen) Sachverhaltes spätestens in der Debatte um die „Theoriebedürftigkeit“ der Geschichtswissenschaft klar. Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka wiesen nachdrücklich daraufhin, dass es zur Rekonstruktion von Vergangenheiten Begriffe und Annahmen brauche, die nicht den Quellen entnommen werden könnten. Dementsprechend schlugen sie einen Theoriebegriff vor, der genau hierauf aufmerksam machen sollte: „Mit ‚Theorien‘ sollte zunächst einmal nicht mehr gemeint sein als dies: explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Identifikation, Erschließung und Erklärung von bestimmten zu untersuchenden historischen Gegenständen dienen sollen und sich nicht hinreichend aus den Quellen ergeben, nicht aus diesen abgeleitet werden können.“6 5

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Vgl. dazu überzeugend HÜTIG, 2008, der zeigt, dass in den einschlägigen Handbüchern und Lexika Begriffe wie „Methodik“ oder „Methodologie“ meist fehlen. Dieser Befund spricht nach Hütig „trotz aller vorgeblichen Theorieorientierung nicht gerade für eine verbreitete Methodendiskussion als Teil der kulturwissenschaftlichen Selbstreflexion“ (ebd., S. 61). KOCKA, 1977, S. 10. Diese mittlerweile klassische und oft zitierte Definition ist im Grunde nicht sehr hilfreich, da Systeme von Begriffen nichts erklären können – zumal Begriffe kaum sinnvoll zu Systemen, d.h. Gruppen von aufeinander bezogenen und miteinander wechselwirkenden Elementen, zusammengefasst werden können. Gruppen von Begriffen ergeben zunächst nur Listen. Theorien sind zudem auch nicht bloß Sprachen, d.h. Gruppen von Begriffen mitsamt ihrer Kombinationsregeln (das wäre dann tatsächlich schon ein System), sondern sie haben darüber hinaus eine wissenschaftstheoretisch zugewiesene Aufgabe: die Aufgabe der Erklärung. Günther Patzig wandte deshalb gegen die Definition Jürgen Kockas zu Recht ein: „Man darf [...] davon ausgehen, dass hier vielmehr ein Satzsy-

Entführung aus dem Detail

Die Übertragung dieses Gedankens auf das historische Arbeiten insgesamt hat Reinhart Koselleck in einem Interview so beschrieben: „Wenn er [der Historiker; A.F.] […] Urteile fällt, muss er zeitlich, räumlich oder quellentechnisch Auseinanderliegendes verknüpfen, zum Beispiel verdeckte psychische Dispositionen und sichtbare Handlungen. Der Historiker muss kombinieren, und er urteilt entlang von Prämissen, die nicht in den Einzelquellen enthalten sind. Die historische Wahrheit ist also eine Neuzusammenfügung von ‚Fakten‘ und insoweit ein Stück Fiktionalität.“7

Damit beschreibt Koselleck im Grunde, was wissenschaftstheoretisch als Problem der Abduktion, des Schlusses auf die beste Erklärung für das zu erklärende und bereits beobachtete Detail, diskutiert wird. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion über die Abduktion spielt das Werk des amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce eine besondere Rolle.8 Das mag vielleicht auch daran liegen, dass seine

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stem mit zum Teil theoretischen Begriffen gemeint ist, wobei die Sätze gewisse allgemeine Annahmen ausdrücken [...]“ (PATZIG, 1979, S. 138). Theorien sind nämlich nicht einfach nur Empirie-ferne, abstrakte Redeweisen, sondern vor allem Systeme von aufeinander bezogenen Sätzen, unter denen immer auch allgemeine Sätze sind. Und diese allgemeinen Sätze („Gesetze“) gehen implizit oder explizit in jede historisch-kulturwissenschaftliche Erklärung ein. Im Folgenden soll dieser eher klassische Theoriebegriff zugrundegelegt werden. KOSELLECK, 1995. Ähnlich, aber viel optimistischer und näher am „naiven“ Realismus schon Droysen zur Hypothesenbildung im Rahmen des komparativen Verfahrens als auch der Analogie: „[…] wir zeichnen uns […] eine hypothetische Peripherie auf und versuchen, ob die Fragmente des Tatbestandes da sich einfügen, auf diese, auf jene Frage antworten; es bleibt wohl da und dort eine Lücke, aber das meiste, das Wesentliche werden wir deutlich und sicher verstehen, und was nicht paßt, zeigt uns, wie wir unsere Hypothese zu modifizieren haben.“ (DROYSEN, 1977, S. 171.) Konkreter DERS., 1953, S. 264.: „Freilich in den Trümmern der Überlieferung ist von alledem fast keine Spur mehr. Wir wissen nicht, wie und in welchem Maße sich die genannten Staaten für Seleukos etwa erhoben, ob sie an jener Seerüstung, die der Sturm zerstörte, teilgenommen haben. Nur eine verlorene Angabe, die in die hypothetisch gezeichnete Peripherie von Verhältnissen sich auf überraschende Weise einfügt, bestätigt die Richtigkeit der gewagten Konstruktion.“ Insbesondere Seidel macht darauf aufmerksam, dass das Modell der Abduktion deutlich älter ist und „innerhalb der PEIRCEschen Logik nur einen

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Andreas Frings

eigenen Überlegungen, wie schon oft angemerkt wurde, einem gewissen Wandel unterlagen, steng logische zum Beispiel von eher phänomenologischen Betrachtungen eigentlich zu trennen sind 9, dies jedoch eine vielfältige Anschlussfähigkeit generiert. Die zunächst wichtigste Unterscheidung, die zwischen der Abduktion und den beiden anderen, bis heute meistdiskutierten Schlussformen (Induktion, Deduktion) trifft Peirce selbst so: „Suppose I enter a room and there find a number of bags, containing different kinds of beans. On the table there is a handful of white beans; and, after some searching, I find one of the bags contains white beans only. I at once infer as a probability, or as a fair guess, that this handful was taken out of that bag. This sort of inference is called making an hypothesis. It is the inference of a case from a rule and a result. We have, then— DEDUCTION. Rule.--All the beans from this bag are white. Case.--These beans are from this bag. .·.Result.--These beans are white. INDUCTION. Case.--These beans are from this bag. Result.--These beans are white. .·.Rule.--All the beans from this bag are white HYPOTHESIS. Rule.--All the beans from this bag are white. Result.--These beans are white. .·.Case.--These beans are from this bag.“10 relativ geringen Teil einnimmt“. Dennoch macht es Sinn, hier zunächst den (für die Zwecke dieses Aufsatzes „standardisierten“) Peirce zu Grunde zu legen, da sich daran viele Diskussionen um die Abduktion anlagern. Vgl. SEIDEL, 2004. 9 Der vorliegende Artikel kann und soll dies nicht leisten. Die exegetische Literatur zu Peirce ist umfassend genug. Ich werde mich stattdessen im Folgenden an einer „standardisierten“ Lesart von Peirce abarbeiten, die Peirce selbst im Einzelnen nicht immer gerecht werden mag. 10 PEIRCE, 1878, CP 2.623. Dieses Beispiel hat im übrigen durch Umwandlung und Anpassung eine erstaunliche, eigene Karriere hinter sich. Vgl. z.B. ECO, 1988, S. 207: „[…] ich finde vor mir auf dem Tisch ein Säckchen und daneben ein Häufchen weißer Bohnen. Ich weiß nicht, wie

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Entführung aus dem Detail

In diesem Beispiel ist die Abduktion, hier „Hypothese“ genannt (den Begriff „Abduktion“ führte Peirce erst später ein; wiederum später sprach er dann häufiger von „Retroduktion“11), ein Schluss von einer Regel und einem Ergebnis auf den zugrundeliegenden Fall.12 Ähnlich drückt Peirce es in der wohl bekannteren Charakterisierung der Abduktion in den Harvard Lectures on Pragmatism aus: „The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course, Hence, there is reason to suspect that A is true.

sie dorthin gekommen sind, wer sie dorthin gelegt hat noch woher sie stammen. […] Ich müsste nun ein Gesetz finden, demzufolge – vorausgesetzt, es ist wahr und der Befund ist ein Fall dieses Gesetzes – das Phänomen nicht mehr sonderbar wäre, sondern ein ganz vernünftiges Resultat. Ich mache daher eine Konjektur: Ich unterstelle ein hypothetisches Gesetz, demzufolge a) das Säckchen Bohnen enthält und b) diese Bohnen weiß sind, und ich probiere, ob sich der Befund, den ich vor Augen habe, als ein Fall dieses Gesetzes betrachten lässt.“ Diese Umformulierung, die eine neue logische Struktur aufweist, lässt ein Problem klar erkennen: die Schwierigkeit des empirischen Nachweises, dass hier das Resultat tatsächlich deshalb und genau deshalb vorliegt, weil es sich um einen Fall des unterstellten Gesetzes handelt. Da die Bohnen nicht mehr im Säckchen liegen, kann dieser Nachweis nur noch, wenn überhaupt, durch andere Indizien erbracht werden (etwa Zeugenaussagen). 11 REICHERTZ, 1999, verweist darauf, dass die Begriffe Abduktion und Hypothese bei Peirce nicht streng synonym sind. An der hier vorgetragenen Kritik eines „standardisierten Peirce“ würde die von Reichertz zu Recht angemahnte Unterscheidung aber nichts Wesentliches ändern. 12 Auf dieser Abfolge beruht die weit verbreitete und oft diskutierte Idee, dass der klassische Detektivroman seit dem 19. Jahrhundert einen abduktiven Erkenntnisprozess nachbildet: „Die formale Struktur all dieser Schlüsse ist identisch: (1) Beobachtung eines Resultats, (2) Heranziehung eines Gesetzes und (3) Erklärung des Beobachteten als Fall des Gesetzes – immer wird von Resultat und Regel auf den Fall geschlossen“ (REICHERTZ, 1990, S. 310). Oder: „Jeder, der mit Peircess Werk vertraut ist, wird ohne Schwierigkeit die vollkommene Strukturverwandtschaft zwischen der Holmesschen Untersuchungslogik und der Logik des Erkenntnisprozesses im allgemeinen wie im wissenschaftlichen, bei Peirces formulierten Sinn erkennen“ (BONFANTINI/PRONI, 1985, S. 186).

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Andreas Frings Thus, A cannot be abductively inferred, or if you prefer the expression, cannot be abductively conjectured until its entire content is already present in the premiss, ‘If A were true, C would be a matter of course’.“13

Schaut man genauer hin, so fällt auf, dass die logische Form beider Abduktionsmodelle leicht voneinander abweicht. Im ersten Beispiel ist zunächst die Regel bekannt, die Anwendung finden soll, und dann wird ein Ergebnis präsentiert, dass, wenn die Regel hier zutrifft, auch zutreffen sollte. Das Vorliegen des Ergebnisses ist somit ein (wenn auch schwacher) Hinweis darauf, dass hier tatsächlich die zunächst eingeführte Regel zum Tragen kam. In dieser Formulierung beschreibt das Abduktionsmodell also gewissermaßen die Probleme jeder vermeintlich deduktiven Verfahrensweise, die zwar aus Theorien Prognosen ableitet, aber selbst bei dann auch zutreffenden Prognosen nie sicher sein kann, ob tatsächlich jene Regel, aus der die Prognose abgeleitet wurde, für den Erfolg der Prognose verantwortlich war. Im zweiten Modell hingegen liegt zunächst eine überraschende Tatsache vor; gesucht wird im Grunde eine Regel, die diese Überraschung zu erklären vermag. Der Schluss, der im ersten Modell noch eindeutig von den Sätzen 1 und 2 auf Satz 3 gezogen wird, findet hier zwar auch zwischen den Sätzen 2 und 3 statt14 – aber der Peirce interessierende Zusammenhang ist eher der zwischen Satz 1 und Satz 2. Dieser Sprung von einem Sachverhalt, der als „Ergebnis“ interpretiert wird (und damit indexikalisch – dies hat Peirce selbst leider nirgendwo, soweit mir bekannt, angesprochen), zu einem Kontext, der den Sachverhalt erklärt, 13 PEIRCE, 1903, CP 5.188-189. Auffällig ist, dass Peirce hiermit einen Gedanken vorwegnimmt, der für den weiteren Gang der Argumentation wichtig ist, dass nämlich eigentlich keine Gehaltserweiterung stattfindet; denn A und C sind ja schon bekannt. Das widerspricht jedoch anderen Aussagen von Peirce, eine Inkonsistenz, die ihm selbst offenbar nicht aufgefallen ist; die sich aber vielleicht auflösen lässt, wenn man Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext unterscheidet. 14 Das wird mitunter anders gelesen, was wohl an Peirces unklaren Formulierungen liegen dürfte. So schreibt etwa NÖTH, 2000, S. 68: „Eine Abduktion schließt von einem erklärungsbedürftigen Resultat auf eine bisher unbekannte und nur probeweise angenommene (hypothetische) Regel, um einen Fall zu erklären.“ Erklärt werden soll nicht der Fall, denn er gehört zusammen mit der Regel zum Explanans; und der Schluss findet auch nicht auf die hypothetische Regel statt, denn von einem Phänomen lässt sich nicht auf eine Regel schließen.

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Entführung aus dem Detail

macht den eigentlichen Kern von Peirces Abduktionskonzept aus; entscheidend ist, „[…] dass uns der Abduktionsschluß auf eine hypothetische Tatsachenbehauptung führt, die in den Prämissen nicht ausgedrückt ist, diesen aber nicht widerspricht. Damit wird deutlich, dass das eigentliche Einsatzgebiet abduktiver Schlüsse in der hypothetischen Verbindung empirischer Befunde zu einem kausalen Zusammenhang besteht.“15

Ähnliches gilt für die historischen Kulturwissenschaften. Ein „Schluss“ im engeren Sinne mag nur der 3. Satz sein: Wenn C überraschenderweise der Fall ist, und wenn A eine gute Erklärung dafür sein könnte, dann legt das die Vermutung nahe, dass hier wirklich A für das Vorliegen von C verantwortlich war. Die für die historische Kulturwissenschaftlerin in der Forschungspraxis aber viel wichtigere Frage ist, wie man von überraschenden Einzelbeobachtungen zu einer Hypothese, hier: der historisch-kulturwissenschaftlichen (Re-)Konstruktion eines Sachverhaltes gelangt, der diese überraschenden Einzelbeobachtungen potentiell zu erklären vermag. Peirce selbst hat zu diesem Punkt wenig Instruktives gesagt und schließlich vor allem phänomenologische, wenn nicht gar teilweise biologistische16 Überlegungen vorgelegt. Dass Abduktionen doch häu-

15 PECKHAUS, 1999. 16 Für den offenkundig nicht allzu seltenen Erfolg des wissenschaftlichen Ratens macht Peirce mitunter biologische Instinkte verantwortlich, die nicht weiter erklärt werden können: „However man may have acquired his faculty of divining the ways of Nature, it has certainly not been by a selfcontrolled and critical logic. Even now he cannot give any exact reason for his best guesses. It appears to me that the clearest statement we can make of the logical situation […] is to say that man has a certain Insight, not strong enough to be oftener right than wrong, but strong enough not to be overwhelmingly more often wrong than right, into the Thirdnesses, the general elements, of Nature. An Insight, I call it, because it is to be referred to the same general class of operations to which Perceptive Judgments belong. This Faculty is at the same time of the general nature of Instinct, resembling the instincts of the animals in its so far surpassing the general powers of our reason and for its directing us as if we were in possession of facts that are entirely beyond the reach of our senses. It resembles instinct too in its small liability to error; for though it goes wrong oftener than

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figer gelingen (wie er vermutet – beweisen lässt sich eine solche Annahme nicht), liege vor allem an einem Rate-Instinkt des Menschen. Abduktionen seien im Grunde auch nichts anderes als Raten, und eben dieses Raten ermögliche den Eintritt des Neuen in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess: „Now, that the matter of no new truth can come from induction or from deduction, we have seen. It can only come from abduction; and abduction is, after all, nothing but guessing. We are therefore bound to hope that, although the possible explanations of our facts may be strictly innumerable, yet our mind will be able, in some finite number of guesses, to guess the sole true explanation of them.“17

Trotz dieser wenig instruktiven Ausführung ist es gerade der Aspekt der – vermeintlichen oder tatsächlichen – Kreativität, die Peircess Abduktion zugrunde liegen soll, die für ihre Attraktivität bei Geistes- und Sozialwissenschaftlern verantwortlich zu sein scheint. Dabei drängt sich der Verdacht geradezu auf, dass die beiden wichtigsten Aspekte des Abduktionsbegriffs, die eigentlich getrennt voneinander untersucht werden müssten, nämlich sein – vermeintlicher oder tatsächlicher – logischer Charakter und eben die Kreativität, nicht miteinander zu vereinbaren sind: Ein logischer Schluss ist per se nie gehaltserweiternd, ein kreativer „Schluss“ hingegen per se immer.18 Logisch ist der abduktive Schritt vom Fall zur allgemeinen Regel also vielleicht gerade deshalb nicht, weil er kreativ ist? Schaut man genauer hin, so erschöpft sich jedoch die Kreativität darin, dass beim Sprung zur Hypothese den Einzelbeobachtungen etwas hinzugefügt wird, was ihnen selbst nicht anhaftet. Wie das geschieht, bleibt eher rätselhaft, es ist (so zumindest der spätere, eher phänomenologisch right, yet the relative frequency with which it is right is on the whole the most wonderful thing in our constitution.“ PEIRCE, 1903, CP 5.173. 17 PEIRCE, 1901, CP 7.219. 18 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Schaffung von Neuem noch keine erschöpfende Definition von „kreativ“ sein dürfte. Hinzu kommen mindestens die soziale Aufnahme des Neuen einschließlich seiner Verbreitung und die Viabilität des Neuen, also der „Erfolg“ des Neuen im Hinblick auf seinen Kontext (hier: seine Fähigkeit, zur Erklärung der Einzelbeobachtungen beizutragen). Diese Diskussion würde hier aber zu weit führen.

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argumentierende Peirce) eher eine Frage der Wahrnehmung19 als der Methode. Und über den Erklärungserfolg der Hypothese ist mit der Vermutung, sie sei „kreativ“ zustandegekommen, ja auch noch nicht viel gesagt. Die Kreativität des abduktiven Schlusses gehört mithin, wie Jo Reichertz angemerkt hat, zu jenen Missverständnissen, die sich lange halten, weil sie „stets aufs Neue wiederholt werden“ und „tief verwurzelte Hoffnungen füttern“, nämlich vor allem die „Hoffnung auf eine regelgeleitete, reproduzierbare und auch gültige Produktion neuen wissenschaftlichen Wissens“20. Schaut man sich nämlich genauer an, welche Empfehlungen für einen kreativen abduktiven Schluss ausgegeben werden, so landet man bei altbekannten Heuristiken: bei Analogieschlüssen, Metaphern oder Vergleichen. Solchen heuristischen Operationen sind jedoch keine Grenzen gesetzt, da prinzipiell jede noch so absurde Denkhilfe, die – aus welchen Gründen auch immer – zu interessanten und neuen Einsichten führt, als Heuristik21 gerechtfertigt ist, auch wenn die neue Einsicht i.d.R. nicht mehr über eben jene Heuristik, sondern entlang allgemein akzeptierter Kriterien der Rechtfertigung gerechtfertigt werden muss.22 Gleichwohl handelt es sich bei solchen Heuristiken um potentiell erkenntniserweiternde Verfahren. 19 Vgl. PEIRCE, 1903, CP 1.194: „[…] self-control is the character which distinguishes reasonings from the process by which perceptual judgements are formed, and self-control of any kind is purely inhibitory. It originates nothing. Therefore it cannot be in the act of adoption of an inference, in the pronouncing of it to be reasonable, that the formal conceptions in question can first emerge. It must be in the first perceiving that so one might conceivably reason. And what is the nature of that? I see that I have instinctively described the phenomenon as ‘perceiving‘. […] What can our first acquaintance with an inference, when it is not yet adopted, be but a perception of the world of ideas?“ 20 REICHERTZ, 1999, S. 47. 21 Mit „Heuristik“ ist hier nicht der erste Schritt der historischen Methode im Anschluss an Droysen gemeint, sondern vielmehr Techniken, die das Finden von Antworten auf Forschungsfragen erleichtern sollen. 22 Die hier implizit unterstellte, von manchen Wissenschaftlern aber angegriffene Trennung von Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext, die von Karl Popper und Hans Reichenbach in die moderne Wissenschaftstheorie eingeführt wurde, kann also zumindest nicht mit Hilfe der Abduktion überwunden werden. Eine interessante Entwicklung dieser Ablehnung der Disjunktion von Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext scheint mir in der in den Kulturwissenschaften allgemein üblichen Konzentration auf wissen-

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Man wird also mit guten Gründen davon ausgehen müssen, dass die Abduktion kein „Schlussverfahren“ darstellt. Während in der Induktion mehrere Einzelbeobachtungen zu einer generalisierenden Aussage zusammengeführt werden, von einer Vielzahl also auf alle geschlossen wird, und in der Deduktion von einem Gesetz und der Existenz der Randbedingungen auf das Vorliegen des Explanandums, ist in der Peircesschen Abduktion im Grunde nicht ganz klar, welche Prämissen gegeben sein müssen und was genau geschlussfolgert wird. Als Schlussfolgerung lässt sich der Schluss von Gesetzesvermutungen und Erklärungszusammenhang („Hypothese“; A) und dem Vorliegen der Einzelbeobachtung (C) auf die Richtigkeit der Hypothese interpretieren, auch wenn es sich nicht um einen logisch notwendigen Schluss handelt. Der eigentlich kreative Akt ist jedoch die Konstruktion von A – und diese folgt eben nicht irgendwelchen Schlussregeln. Das Schema scheint vielmehr zu unterstellen, dass A irgendwoher kommen mag, Hauptsache, es erlaubt die Konstruktion eines kohärenten Erklärungszusammenhangs. Dennoch gehen unterschiedliche, vor allem semiotisch inspirierte Wissenschaftler davon aus, dass es sich bei der Abduktion um ein logisches Schlussverfahren handelt: „In erster Linie ist die Abduktion ein Schlussverfahren; das heißt der letzte Schritt besteht bei einem abduktiven Argument in der Ableitung einer Konklusion aus zwei Prämissen. In dieser Beziehung ist die abduktion genauso formal und mechanisch wie Deduktion und Induktion: Die Art und Weise, wie die Konklusion gebildet wird, ist durch ein strenges Gesetz bestimmt.“23

schaftssoziologische Studien zu bestehen, die als wissenschaftstheoretisch verstanden werden; die Studien von Karin Knorr-Cetina oder Bruno Latour stellen jedoch strenggenommen keinen wissenschaftstheoretischen Beitrag dar, da sie z.B. keinerlei Kriterien für die qualitative Beurteilung von Wissenschaft oder gar die Abgrenzung von Wissenschaft gegenüber NichtWissenschaft nennen können. Es handelt sich um Wissenschaftssoziologie, die durchaus Interessantes über den Entdeckungskontext zu berichten weiß – aber eben nichts über die Logik eines wissenschaftlichen Arguments. 23 BONFANTINI/PRONI, 1985, S. 197.

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Doch genau das ist eben nicht der Fall. Zum einen ist die Abduktion alles andere als eine mechanische Ableitung: Aus der Verbindung der Sätze „Diese Bohnen sind weiß“ und „Alle Bohnen in jenem Sack sind weiß“ folgt nicht mechanisch, dass die Bohnen des ersten Satzes aus dem Sack des zweiten Satzes stammen. Beide Sätze können auch überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Und zum anderen führt das strenge Gesetz, demzufolge alle Bohnen aus jenem Sack weiß sind, nicht zum Fall, sondern nur dann, wenn der Fall unterstellt wird, zum Resultat – und damit ergäbe sich das tatsächlich strenge Schlussschema einer Deduktion. Die Tatsache, dass in Deduktion, Induktion und Abduktion auf zwei Sätze jeweils ein dritter folgt, der mit den beiden ersten etwas zu tun haben soll, heißt eben nicht, dass sie alle die gleiche oder überhaupt irgendeine logische Struktur haben. Entgegen den vielen Bedeutungen, die mit dem Wort „Logik“ in unterschiedlichen Wissenschaften verbunden wird, sei kurz angemerkt, dass für die philosophische Diskussion die Definition von „Logik“ als „Lehre vom richtigen Schließen“ als allgemein akzeptiert gelten darf: „Logik ist die Wissenschaft des Wörtchens ‚also‘ […], d.h. die Wissenschaft, die zu systematisieren versucht, unter welchen Bedingungen die Behauptung, einen gültigen Schluss vorgebracht zu haben, als gerechtfertigt gelten kann.“24 Ein gültiger Schluss besteht dabei aus Prämissen und einer Konklusion, wobei die Konklusion notwendig aus den Prämissen folgt und sich die Wahrheit der Prämissen auf die Konklusion überträgt (wenn die Prämissen wahr sind, dann ist es auch die Konklusion). Wohlgemerkt: Die Frage der logischen Struktur hat mit der Frage nach der Wahrheit eines Schlusses noch nicht viel zu tun; Ernst Tugendhat hat zu Recht betont, dass „die Logik (im Sinn des Schlussfolgerns) zur Wahrheitsfindung nicht viel beiträgt, aber das beanspruchte sie auch nie.“25 Zu Peircess Zeiten (wie auch heute) waren jedoch andere, weitere Verständnisse des Begriffs „Logik“ üblich, die über die strenge Notwendigkeit eines Schlusses hinausgehen (oder auch etwas ganz anderes meinen) und ihrerseits möglicherweise die moderne Rezeption dieser Texte erschweren.

24 STROBACH, 2005, S. 12. 25 TUGENDHAT/ WOLF, 1983, S. 13-14.

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Zw eifel am Wert der Abduktion für die historisch- kulturw issenschaftliche Forschung Die logisch unzulässige Verquickung von Logik und Kreativität oder auch die weiterhin fehlenden Ausführungen zur Methodik des gehaltserweiternden Schrittes vom Fall zur Regel sind jedoch nicht die einzigen Aspekte, die zur Warnung vor einer allzu naiven Verwendung des Denkmodells „Abduktion“ in den Historischen Kulturwissenschaften Anlass geben. Das Modell selbst verbindet sich vielleicht auch mit falschen Annahmen über Charakteristika des historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Fraglich ist beispielsweise, ob immer eine Überraschung oder Irritation Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung sein muss.26 Im Bereich der Historischen Kulturwissenschaften dürften es auch Unstimmigkeiten in der bestehenden Forschungslage sein, die neue Studien generieren, oder viel häufiger sogar das noch sehr unbestimmte Unbehagen einer konkreten Forscherin gegenüber einer weit verbreiteten Darstellungsweise historischer Zusammenhänge. Hinzu kommt das ausgeprägte Bestreben, andere Erzählweisen als die bereits etablierten Narrative auszuprobieren und so zu dann tatsächlich überraschenden Einsichten zu gelangen.27 Selbstverständlich mag es auch Fälle geben, in denen der Forschungsstand gut etabliert und argumentativ stark unterfüttert ist, in denen keine konkurrenzfähigen alternativen Narrative vorliegen – und in denen neue, vor dem Hintergrund der etablierten Narrative überraschende Quellenfunde die Diskussion schlagartig verändern und zur Suche nach neuen Erzähl- und Erklärungsmustern auffordern. Doch die Mehrheit der Fälle ist dies wohl kaum. Und selbst wenn eine Erzählung einen überraschenden Sachverhalt weniger überraschend macht – erklärt sie ihn damit auch immer? Manch ein Zeitgenosse mag sich gewundert haben, warum Hitlers Vorstoß in die Sowjetunion nach beeindruckenden militärischen Erfolgen im frühen Kriegsverlauf gestoppt werden konnte – und wieso der Rück26 Der Beitrag von Andreas Linsenmann in diesem Band zeigt, dass dies durchaus der Fall sein kann. 27 Eine beeindruckende Rechtfertigung für dieses Streben, Geschichte immer wieder anders zu erzählen, bietet GRAF, 2008.

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zug dann so verlustreich war. Würde ein Kollege diesem Zeitgenossen nun erzählen, dass schon Napoleon 1812 mit einer großen Armee bis Moskau vorrücken konnte und sich dann „auf Grund der Weite des Landes“ verlustreich zurückziehen musste, dann würde unser erster Zeitgenosse vielleicht sagen: Aha, jetzt habe ich es verstanden. Aber würde es sich in diesem Fall um eine gute Erklärung handeln? Wohl kaum. Und eine weitere Frage, die sich hier stellen würde: Welcher imaginierte Zuhörer müsste eigentlich nach der Erzählung weniger irritiert sein, damit wir eine solche Erzählung schlussendlich als gute Erklärung gelten lassen würden? Die hier ins Spiel kommenden pragmatischen Aspekte einer guten Erklärung sind für die Abduktion bisher kaum diskutiert worden. Beispielhaft lässt sich diese Gefahr der Beliebigkeit einer historischen Erklärung an den Zweifeln demonstrieren, die der russische Gelehrte und Schriftsteller in seinen anti-utopischen Novellen „Russische Nächte“ geäußert hat: „Nichts könnte interessanter sein als eine Sammlung von historischen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ursachen von Ereignissen und der Bewertung historischer Persönlichkeiten. Der eine sagt, ein gegebenes Land habe sich behauptet, weil es, trotz ungünstiger Umstände, sich entschlossen habe, seine Nationalität zu bewahren; ein anderer meint, irgendein gegebenes Land sei zugrunde gegangen, weil es, trotz derselben Umstände, sich behaupten wollte. Ein Feldherr übereilte sich, trotz aller Ermahnungen, und verlor deshalb die Schlacht; ein anderer aber wollte, unter denselben Umständen, trotz aller Ermahnungen nicht zögern und gewann die Schlacht. [...] Das sind die Lehren dieser sogenannten Schule der Völker, der Historie. Fragt sie, was ihr wollt: Auf alles gibt sie eine Antwort, sowohl im bejahenden wie im verneinenden Sinne.“28

28 ODOJEWSKIJ, 1984, S. 337-338. Ganz ähnlich auch der Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller: „Versuchen wir, uns geistig in die Situation der Bewohner einer belagerten Stadt zu versetzen – man denke etwa an die Türken-Belagerung Wiens –, so können wir ebenso gut verstehen, dass aufgrund der langen Kämpfe und Entbehrungen der Durchhaltewille der Bevölkerung zusammenbricht, sodass schließlich die Stadt vor dem Feind kapituliert, wie wir verstehen können, dass sich ein trotziger Widerstandsgeist entwickelt, der zur erfolgreichen Verteidigung der Stadt führt, bis der

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Fraglich ist schließlich auch, ob die Abduktion wirklich die einzige Operation ist, die neue Erkenntnisse und Einsichten zu generieren vermag. Interessanterweise hat bisher fast niemand diese Idee angegriffen, die für Peirces Denken doch so zentral ist und erst die besondere Rolle der Abduktion rechtfertigt.29 Stattdessen drehen sich ausführliche Erörterungen um die Frage, wo und wie genau das Neue in den abduktiven Prozess hineinkommt – durch Analogie, durch Neuschaffung oder durch andere Verfahren. Diskutiert wird, ob ein wirklich neuer Gedanke eher durch hohe Konzentration und sogar ein aktives Sich-Selbst-UnterDruck-Setzen oder eher durch Entspannung und Beschäftigung mit weniger anstrengenden Dingen befördert werden kann. 30 Man sollte mit dieser Vorfestlegung jedoch vorsichtig sein. Sie rührt wohl vor allem daher, dass man dem deduktiven Schluss als gehaltsbewahrendem, konservativem, nicht-riskantem Schluss nicht zutraut, Neues zu generieren. Entscheidend ist jedoch nicht, wie der allgemeine Satz zustandekommt – schon Karl Popper hat darauf hingewiesen, dass dies eher eine Frage der Psychologie als der Erkenntnistheorie sei: „Wir haben die Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers eingangs dahin charakterisiert, dass er Theorien aufstellt und überprüft. Die erste Feind unverrichteter Dinge abzieht. Aufgrund historischer Berichte wissen wir, wie es tatsächlich ausgegangen ist. Wenn wir uns aber aufgrund dieses Tatsachenberichts für die eine und nicht für die andere Alternative entscheiden, so ist damit der Erklärungswert der durch die Methode des Verstehens gewonnenen Hypothese vollkommen entwertet. Die angebliche Erklärung aus den Motiven der beteiligten Personen ist wegen ihres ex post facto Charakters eine Pseudoerklärung.“ (Stegmüller, 1967, S. 10f.) 29 Vgl. PEIRCE, 1906, NEM 4: 319-320: „[…] no new truth is ever otherwise reached while some new truths are thus reached.“ 30 In diese Richtung gehen die Überlegungen von REICHERTZ, 1999, der damit zwar von der Idee wegkommen will, „dass die abduktive Entdekkung von Neuem entweder auf den blinden Zufall, ein glückliches Schicksal, einen gütigen Gott oder eine besonders günstige Gehirnpsychologie angewiesen ist“ (ebd., S. 55) – doch am Ende landet er bei Peirces recht trivialen psychologischen Ratgeber-Tipps: „So, continuing the counsels that had been asked of me, I should say, ‚Enter your skiff of Musement, push off into the lake of thought, and leave the breath of heaven to swell your sail. With your eyes open, awake to what is about or within you, and open conversation with yourself; for such is all meditation.‘“ (PEIRCE, 1908, CP 6.461).

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Entführung aus dem Detail Hälfte dieser Tätigkeit, das Aufstellen der Theorie, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, dass jemandem etwas Neues einfällt – sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie – hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik.“31

Die neue Einsicht, die deduktiven Verfahren entspringen kann, bildet sich vielmehr in der Übertragung und Anwendung allgemeiner Sätze auf neue Sachverhalte.32 Dies zeigt sich gerade auch in der historischkulturwissenschaftlichen Forschung, pikanterweise aber außerhalb der Geschichtswissenschaft. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben etwa bedeutende Vertreter der internationalen Politischen Ökonomie auf der Grundlage spieltheoretischer Modellierungen Prognosen für historische Analysen vorgelegt, d.h. deduktiv ermittelt, welcher historische Befund spieltheoretisch zu erwarten wäre, und diesen prognostischen Befund dann empirisch geprüft – was wiederum zur Anpassung der spieltheoretischen Modellierung zwang. Wichtig erscheint mir, dass hier dezidiert deduktiv gearbeitet wurde und gleichzeitig neue Einsichten in historische Prozesse generiert wurden, die produktiv waren.33 31 POPPER, 1984 [1934/35], S. 6. Ähnlich auch REICHENBACH, 1983 [1938]. Im Grunde deutet auch Peirce selbst in späteren Schriften auf diese mangelnde logische Formalisierbarkeit der abduktiven Entdeckung hin: “The abductive suggestion comes to us like a flash. It is an act of insight, although of extremely fallible insight. It is true that the different elements of the hypothesis were in our minds before; but it is the idea of putting together what we had never before dreamed of putting together which flashes the new suggestion before our contemplation. On its side, the perceptive judgment is the result of a process, although of a process not sufficiently conscious to be controlled, or, to state it more truly, not controllable and therefore not fully conscious. If we were to subject this subconscious process to logical analysis, we should find that it terminated in what that analysis would represent as an abductive inference, resting on the result of a similar process which a similar logical analysis would represent to be terminated by a similar abductive inference, and so on ad infinitum” (P EIRCE, 1903, CP 5.181). 32 Ein ähnliches Plädoyer für die Kreativität auch deduktiver Verfahren, aber mit anderen (wissenschaftshistorischen) Argumenten, bei PECKHAUS, 1999. 33 Vgl. unter vielen anderen NORTH/WEINGAST, 1989; GREIF/MILGROM/ WEINGAST, 1998; GREIF, 1998; GREIF, 2006; RIKER, 1998; BATES, 1998;

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Auf eine weitere Gefahr von Abduktionen soll nur kurz hingewiesen werden: Legt man Imre Lakatos’ Vorstellungen von der Dynamik wissenschaftlicher Forschungsprogramme zu Grunde 34, dann bliebe bei kreativen abduktiven Schritten die Frage offen, ob der gehaltserweiternde Schritt vom Fall zur Regel, der Neues in die Erklärung einführt, um eine plausible Erklärung zu generieren, indem das Überraschende in Vertrautes integriert wird, nicht auch Ausdruck einer „degenerativen“ Theorieentwicklung sein kann. Das wäre immer dann der Fall, wenn Überraschungen auf eine Art und Weise in das etablierte Hintergrundwissen eingebunden werden, die lediglich die Zahl der erklärenden Zusatzannahmen vermehrt, man bei immer neuen Überraschungen also fortlaufend neue Erklärungsrahmen einführt. Die Tatsache, dass hier „Neues“ generiert wird, sollte also zumindest nicht ohne Weiteres als Vorteil verstanden werden; es kann genauso auch ein Problem darstellen. Wohlgemerkt: Die Abduktion ist gleichermaßen für progressive und degenerative Theoriedynamiken offen, sie hat selbst vor allem keine Kriterien, um zwischen diesen Entwicklungen zu diskriminieren. Insofern ist es auch schwierig, im Rahmen des Denkmodells „Abduktion“ über die Güte einer Erklärung zu entscheiden. Peirce selbst geht zu Recht davon aus, dass der aus der Induktion vertraute Gedanke, die „Wahrscheinlichkeit“ einer Regel sei Maßstab für ihre Güte, nicht weit führt: „But I wish to notice one fallacy each in retroduction, in deduction, and in induction. The commonest fallacy of retroduction, as it seems to me, is the idea that the most probable hypothesis is the best. If you consult almost any treatise on logic you will find it laid down after Aristotle, that a hypothesis should be more antecedently probable than the facts which it serves to explain; and on the same principle a most probable hypothesis is superior to a less probable one. There is some reason in

MILGROM/NORTH/WEINGAST, 1990; Greif, 2006; ROSENTHAL/HOFFMAN/ POSTEL-VINAY, 2000; ROSENTHAL, 1992; LEVI, 1989; BATES, 1999. 34 Ohne näher auf Imre Lakatos eingehen zu können, sei dieser kurze Exkurs zumindest damit begründet, dass Imre Lakatos den bisher wohl einzigen überzeugenden Versuch vorgelegt hat, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, systematische und historische Argumentation zu integrieren, was einer historisch-kulturwissenschaftlichen Diskussion entgegenkommen dürfte. Vgl. LAKATOS, 1977.

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Entführung aus dem Detail this, too. If you really can find an explanation having sufficient probability to be worth consideration, you escape in great measure from reposing upon retroduction and make your inference inductive. But probability in that sense of the term in which it is of value, is some positive information you possess. It is not mere seeming and not mere ignorance. The difficulty is that in most cases where resort is had to retroduction you know nothing about any factual probability. A much more useful maxim is, be upon your guard against assuming anything to be true because it seems likely or a matter of course; for that is the great source of delusions.“35

Noch komplizierter wird es, wenn man sich auf die analytischphilosophische Diskussion der Abduktion als eines „Schlusses auf die beste Erklärung“ (inference to the best explanation, oft IBE abgekürzt; zum Teil als IBAE, als inference to the best available explanation, abgeschwächt) einlässt.36 Manche analytischen Philosophen gehen davon aus, dass sich mit der Konzentration auf die Abduktion die oft diskutierten Probleme des deduktiven Erklärungsschemas umgehen lassen. Die Abduktion sei gewissermaßen der Versuch, auf die bestmögliche Erklärung zu schließen. Es wird also zwischen alternativen Erklärungsmöglichkeiten diskriminiert, und darin eben bestehe die Abduktion. Es gibt jedoch keinen Konsens, wie nun genau zu bestimmen sei, weshalb eine Erklärung besser sei als eine andere; diese Diskussion beschränkt sich im Wesentlichen auf den Hinweis, dass diese Diskriminierung im Regelfall vom Hintergrundwissen des Forschers abhänge. Damit ist dieses Erklärungsverständnis zwar kompatibel mit der Duhem-Quine-These, derzufolge jede Erklärung nur innerhalb eines gesamten Netzes von Überzeugungen verständlich und rechtfertigbar sei, sie hat aber Schwierigkeiten, wissenschaftliche Revolutionen im Sinne Thomas S. Kuhns zu erklären. Selbst wenn man nicht – wie Kuhn – Inkommensurabilitäten unterstellen möchte37, wird man doch annehmen müssen, dass das IBE-Konzept von Abduktion eine konservative Wissenschaft nahelegt – und das erscheint wenig wünschenswert. 38 Viel 35 36 37 38

PEIRCE, RLT, S. 193. Vgl. z.B. BARTELBORTH, 1996; SCHURZ, 2006; SCHURZ, 2008. Kritisch dagegen DAVIDSON, 1973-1974. Anders hingegen Peirce: „[…] the scientific spirit requires a man to be at all times ready to dump his whole cart-load of beliefs, the moment experi-

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wichtiger aber noch ist, dass wir die Plausibilität einer Abduktion, auch in Abhängigkeit vom jeweiligen Hintergrundverständnis, letztendlich nur in den gleichen logischen Kategorien (logische Widerspruchsfreiheit, Kohärenz, Übereinstimmung mit den Beobachtungssätzen) beurteilen können wie ein deduktives Argument. Der Mehrwert des Nachdenkens über die Abduktion besteht jedenfalls nicht im Schlusscharakter der Abduktion.

Stärken der Abdukt ion Man wird vielmehr davon ausgehen müssen, dass der Wert des Denkmodells „Abduktion“ in anderen Aspekten zu suchen sein wird. Zu den Stärken dieses Modells gehört beispielsweise die Konzentration auf den Kontext der Forschung: Während die moderne geschichtstheoretische Diskussion den Fokus eher auf den Aspekt der historischen Darstellung gelegt hat, hat schon Chris Lorenz gefordert, die Forschung wieder in den Blick zu nehmen und zu fragen, was Historiker eigentlich tun, wenn sie forschen. Spätestens an dieser Stelle zeigen sich Unzulänglichkeiten und Defizite in den Theorieansätzen zur historischen Narrativität (Hayden White, Frank Ankersmit), die nicht zu beschreiben vermögen, was einer historischen Darstellung vorausgeht und oft den eigentlichen Reiz historisch-kulturwissenschaftlicher Arbeit ausmacht: die Suche nach jenen Spuren vergangener kultureller Zusammenhänge, die eine (Re-)Konstruktion derselben erlauben. Das Modell der Abduktion beschreibt eben diesen Prozess, genauer: den letzten eben beschriebenen Schritt, nämlich die Suche nach dem kulturellen Kontext, der das Vorhandensein der „Spur“ im Heute der historischen Kulturwissenschaftlerin zu erklären vermag. Das Modell der Abduktion selbst beschreibt jedoch nicht die logische Struktur dieses Prozesses, denn von einer logischen Struktur wird man (wie ja auch der bereits zitierte Karl Popper eher beiläufig angemerkt hat) hier kaum sprechen können. Es macht daher auch nichts, dass weder Peirce noch andere Wissenschaftler, die sich auf dessen Abduktionskonzept stützen, hierzu klare methodische Anregungen liefern können; im Interesse des ence is against them“ (PEIRCE, 1896, CP 1.55). Dem hätte wohl auch Willard Van Orman Quine zugestimmt.

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wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ist jede Heuristik, wie abstrus sie auch sein mag, begrüßenswert, wenn sie dazu beiträgt, neue Hypothesen zu generieren, die in der wissenschaftlichen Diskussion Bestand haben. (Theoretisch unterfütterte Heuristiken wie die oben bereits zitierten spieltheoretischen Annäherungen an historische Prozesse sind aus Sicht des Autors noch wertvoller, weil sie ein systematisches Arbeiten, Abarbeiten und Suchen erlauben; aber das ist vielleicht auch nur eine Frage der Arbeitsökonomie oder der individuellen Präferenzen). Auch für Peirce selbst war die Abduktion eher im Kontext der Forschung als auf der Ebene der Darstellung zu verorten, auch wenn Unterscheidungen wie die zwischen Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext zu seiner Zeit noch nicht getroffen wurden. Es mag daher vielleicht auch ein Problem eher der Rezeption sein, dass die eingangs zitierten Peircesschen Darstellungen der Struktur der Abduktion als Beschreibung der logischen Struktur im Begründungszusammenhang gelesen wurden. Peirce selbst ging es viel eher um die Pragmatik des Suchens und Findens, also um die Forschung im engeren Sinne; und das Erraten einer potentiell erklärungsstarken Hypothese war für ihn auch keineswegs der Abschluss des Forschungsprozesses, sondern erst der Anfang. Auf die Abduktion sollte zunächst die Deduktion von weiteren Folgen der unterstellten Regel folgen, die dann induktiv zu prüfen seien39; und

39 Ob man diesem Dreischritt nun folgt oder nicht (er ist jedenfalls nur eine unvollkommene Formalisierung des viel komplexeren hermeneutischen Zirkels), so fordert er doch etwas ein, dem sich auch historische Kulturwissenschaftler stellen müssen: die empirische Prüfung der eigenen Erzählung an einem Quellenmaterial, das nicht schon zur Bildung der Hypothese diente. Dabei ist nicht entscheidend, ob man diese Prüfung auch in der Darstellung zur Abbildung bringt oder die Darstellung der Forschungsergebnisse auf die historische Erzählung im engeren Sinne (zur historischen Erzählung vgl. FRINGS, 2008) beschränkt. Entscheidend ist vielmehr, die eigenen Hypothesen in einem forschungsökonomisch vertretbaren Maß (und das ist oft mehr, als tatsächlich getan wird) auf die Probe zu stellen. Wohlgemerkt: Diese empirische Prüfung ist nicht an den strengen Maßstäben eines Popperschen Falsifizierungsversuchs zu prüfen; Prüfungen, an denen die Erzählung scheitern, machen nicht gleich die ganze Erzählung zunichte, sondern zwingen im Sinne der Duhem-Quine-These zunächst nur zur Anpassung der Erzählung.

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das ganz im Sinne eines gewissermaßen vorweggenommen, vielleicht auch naiven Falsifikationismus.40 Bereits Peirce hatte gesehen, dass es für jedes Erklärungsproblem tatsächlich eine prinzipiell unendliche Menge an Erklärungen gibt. Vor diesem Hintergrund kam es darauf an, in vertretbarer Zeit jene wenigen Hypothesen herauszufiltern (oder überhaupt erst nur solche zu konstruieren), die eine Überprüfung lohnen. Für die Frage, nach welchen Kritieren prüfwürdige Hypothesen zu selektieren seien, kamen für Peirce unter anderem forschungsökonomische Überlegungen (Wie schnell ist eine Hypothese prüfbar? Wie aufwendig ist diese Prüfung?), der Abgleich mit anderweitigem Vorwissen (Kohärenzprüfung) oder der Abgleich mit grundlegenderen theoretischen Prämissen der eigenen Arbeit in Frage. Das Denkmodell der Abduktion hat aber auch eine andere, zunächst verborgene Stärke: Es verweist implizit auf die Anforderungen an eine gute „Regel“ zur Erklärung des Falles. Genauer: Die Abduktion erweist sich bei näherem Hinsehen als „Antizipation künftiger Begründbarkeit“41, der abduktive Prozess als „Vorgriff auf einen logischen Begründungszusammenhang, der sich im Verlauf des infiniten Interpretationsprozesses als gültiger erst noch erweisen muss“42: „Die Abduktion hingegen ist, vom logischen Standpunkt aus ‚reasoning from consequent to antecedent‘ (CP 6.469), also ein Rückschluss von der logischen Konsequenz C auf die noch unbekannten AntezendenzPrämissen A, welche den Status einer hypothetischen Erklärung oder einer provisorischen Theorie haben.“43

Die Abduktion erweist sich somit weniger als Lösung eines Forschungsproblems als vielmehr als Aufforderung, als Arbeitsanweisung. Das bedeutet zum einen, auf die empirische Suche nach Belegen zu 40 Vgl. etwa PEIRCE, 1898, RLT 141-142: „We can only say that the Economy of Research prescribes that we should at a given stage of our inquiry try a given hypothesis, and we are to hold to it provisionally as long as the facts will permit. There is no probability about it. It is a mere suggestion which we tentatively adopt.“ 41 WIRTH, 2003, S. 595. 42 Ebd., S. 599. 43 WIRTH, 2000, S. 138.

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gehen, die die unterstellte Regel zu stützen vermögen, indem man „einen Zusammenhang voraussetzt, der an sich möglich ist, und nun versucht, ob er sich in diesem Material bestätigt“44. Zum anderen kann man diese Anweisung als Aufforderung zur Deduktion verstehen.45 Uwe Wirth hat die Abduktion als einen Rückschluss beschrieben, „der weniger auf logische Gültigkeit, denn auf eine plausible Erklärung abzielt“46. Logische Gültigkeit wäre nun bei einem gehaltserweiternden Schluss tatsächlich nicht zu erwarten; aber auch der unverbindlichere Begriff der Plausibilität zwingt die Forscherin, genau zu prüfen, ob der hypothetische Zusammenhang das Vorliegen der Einzelbeobachtungen korrekt, d.h. logisch gültig zu erklären vermag. Die Konstruktion der historischen Kulturwissenschaftlerin muss hier nun zumindest zwei Kriterien genügen, die einigermaßen lose an das wissenschaftliche Rationalitätspostulat angelehnt sind: Sie muss logisch widerspruchsfrei sein (logische und sprachliche Präzision), und sie muss intersubjektiv nachvollziehbar sein (methodisch kontrolliertes Vorgehen, Begründung durch Argumente, Beleg durch Daten). Anders ausgedrückt: Die Konstruktion sollte logisch und empirisch widerspruchsfrei sein, d.h. nicht sich selbst und auch nicht den empirischen Funden (Spuren, Quellen) widersprechen. Diese Überlegungen zur potentiellen Falsifizierung erinnern stark an das unter Historikern gern zitierte „Vetorecht der Quellen“, das Stefan Jordan als Übertragung des Popperschen Falsifizierungsprinzips in den

44 DROYSEN, 1977, S. 173. 45 Nur so wird man auch Peirces Einschränkung verstehen können, Abduktion und Deduktion seien irreduzibel aufeinander. Vgl. P EIRCE, Harvard Lectures on Pragmatism, CP 5.146, 1903: „Among these opinions which I have constantly maintained is this, that while abductive and inductive reasoning are utterly irreducible, either to the other or to deduction, or deduction to either of them, yet the only rationale of these methods is essentially deductive or necessary. If then we can state wherein the validity of deductive reasoning lies, we shall have defined the foundation of logical goodness of whatever kind.“ Mit anderen Worten: Abduktion und Deduktion beschreiben Sachverhalte auf unterschiedlichen Ebenen, sind mithin nicht aufeinander zurückführbar; die Standards des logischen Schließens werden in der Deduktion gesetzt. 46 WIRTH, 2008, S. 1.

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Bereich historischer Erkenntnistheorie bezeichnet hat. 47 Dafür spricht zunächst Kosellecks eigene Formulierung: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken.“48

Letztlich wird man diese Anforderungen an eine gute Abduktion in einer wesentlichen Forderung zusammenfassen können. Bedenkt man, dass bereits für Karl Popper klar war, dass auch Sätze über empirische Beobachtungen vor allem eines sind: Sätze, und bedenkt man zudem die radikale linguistische Wende der analytischen Philosophie seit Willard Van Orman Quine, Donald Davidson oder Hilary Putnam, dann wird klar, dass es eigentlich nur um Widerspruchsfreiheit innerhalb des wissenschaftlichen Textes gehen kann. Gleichzeitig wird man nun die üblichen Adäquatheitsbedingungen der Deduktion auf die im abduktiven Prozess gewonnene Hypothese anwenden können: „B1) Das Argument, welches vom Explanans zum Explanandum führt, muss korrekt sein. B2) Das Explanans muss mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten (oder einen Satz, aus dem ein allgemeines Gesetz logisch folgt). B3) Das Explanans muss einen empirischen Gehalt besitzen. B4) Die Sätze, aus denen das Explanans besteht, müssen wahr sein.“49

Es spricht nichts dagegen, auch kein verbreiteter, in der Sache aber unhaltbarer Vorbehalt gegen einen undefinierten „Positivismus“, diese Adäquatheitsbedingungen auch auf historisch-kulturwissenschaftliche Erklärungen anzuwenden; es würde vielmehr die Argumentation schär47 JORDAN, 2010. 48 KOSELLECK, 1977, S. 45-46. 49 STEGMÜLLER, 1983, S. 124.

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fen, z.B. auch bei komplexen historisch-kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten nach ihren empirischen Korrelaten zu fragen (→ Signifikanzbedingung, → Wahrheitsbedingung), also etwa danach, welcher empirisch beobachtbare Sachverhalt zutreffend als (zum Beispiel) „Diskurs“ beschrieben werden kann50, oder die nomologischen Gerüste einer historisch-kulturwissenschaftlichen Argumentation (→ Folgerungsbedingung, → Gesetzesbedingung) offenzulegen. In der Sache erweist sich die Abduktion damit als rückwärts gewandte Deduktion, als „Retroduktion“ in der Terminologie von Peirce oder auch, um es mit einem etablierteren, weniger kontroversen Begriff auszudrücken, als Ätiologie51; sie verweist jedoch stärker als das deduktiv-nomologische Erklärungsschema auf den bereits von Willard Van Orman Quine postulierten semantischen Aufstieg, der mit einer abduktiv gewonnenen Erklärung erreicht wird. 52

Exkurs: Historische Kulturw issenschaf ten und kausales Erklären Die Abduktion ist also im Grunde nichts anderes als die Aufforderung, kreativ nach deduktiven Erklärungen für historisch-kulturelle Sachverhalte zu suchen. Sie ist zudem natürlich eine ausgezeichnete Hand-

50 Gefragt wäre damit nicht einfach eine Definition; denn an Definitionsversuchen für „Diskurs“ mangelt es wahrlich nicht. Es mangelt aber an definierenden Eigenheiten, denen jeder Zusammenhang in der Wirklichkeit genügen muss, wenn er korrekt als „Diskurs“ beschrieben sein soll. Ähnliches gilt für viele komplexe Begrifflichkeiten insbesondere auf der Makroebene kultureller Zusammenhänge wie „Mentalität“ oder „Habitus“. 51 Der Begriff der „Ätiologie“ meint letztlich auch nur die Suche nach den Ursachen für beobachtete Phänomene und damit nichts anderes als Abduktion; er wird heute vor allem in der Medizin verwendet, deren praktische Aufgabe ja auch in der Diagnose (und Therapie) einer Krankheit besteht, die nur in Gestalt ihrer Symptome beobachtbar ist. Auch Blutproben oder die Produkte bildgebender Verfahren sind aus medizinsemiotischer Sicht nichts anderes als indexikalische Zeichen, die zur Bildung einer Hypothese auffordern, die wiederum das Vorliegen der Symptome und die charakteristische Zusammensetzung des Blutes oder das im Röntgen oder in der Magnetresonanztomographie gewonnene Bild zu erklären vermögen. 52 Vgl. DRUWE, 2002.

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lungsanweisung für den Umgang mit indexikalischen Zeichen (Spuren), da diese als kausal verursachte Zeichen von ihren „Verursachern“ Zeugnis ablegen. Doch ist damit überhaupt etwas beschrieben, was historische Kulturwissenschaftler in ihrem wissenschaftlichen Arbeitsalltag umtreibt? Ein oberflächlicher Blick in kulturwissenschaftliche Veröffentlichungen wird nicht dazu beitragen, diese Frage positiv zu beantworten. Nicht nur, dass Fragen der Kausalität oder der logischen Struktur von kulturwissenschaftlichen Aussagen und Aussagensystemen in einschlägigen Handbüchern keine große Rolle spielen; mitunter wird die Frage nach kausalen Zurechnungen gar als Relikt eines inzwischen überwundenen Wissenschaftsverständnisses abgetan. So erklärt der Kulturhistoriker Thomas Mergel: „Sie [= die Kulturgeschichte; A.F.] arbeitet mehr mit Analogien, Kongruenzen, mit der Frage nach (Un-) Gleichzeitigkeiten. Historische Befunde zu Verläufen zusammenzufügen ist ein hochgradig konstruktives Unterfangen, das methodisch oft nur mit weitreichenden Vorannahmen funktioniert. Gegenüber diesen Fragen nach dem ‚Woher‘ und dem ‚Warum‘ wertet die Kulturgeschichte die Frage nach dem ‚Wie‘, nach Konstellationen und Beziehungen, wieder auf.“53

Ganz explizit ordnet Thomas Mergel hier die Frage nach kausalen Rekonstruktionen den für ihn interessanteren Fragen nach „Konstellationen und Beziehungen“ unter.54 Doch welche Konstellationen und Beziehungen sollen das sein? Beziehungen, in denen nicht wenigstens einer der beteiligten Partner (sei es ein Mensch, ein Ereignis oder auch eine Struktur) den anderen (kausal) beeinflusst – oder in denen gar Wechselwirkungen vermutet werden müssten? Und selbst wenn es solche einflussfreien Konstellationen und Beziehungen gäbe – wie würde man sie ohne „weitreichende[n] Vorannahmen“ rekonstruieren? Geht es dann tatsächlich nur um (zufällige) Kongruenzen (Gleichzeitigkeiten?) und Ungleichzeitigkeiten? Aber für wen wäre eigentlich eine

53 MERGEL, THOMAS (2002): Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik. In: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, S. 574-606, S. 605. 54 Nur am Rande sei ergänzt, dass wohl kaum noch ein Historiker nach einem „Woher“ fragt; Warum-Fragen und Woher-Fragen sind nicht das Gleiche.

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historische Studie interessant, die eine Gleichzeitigkeit von Lena Meyer-Landruts Erfolg beim Eurovision Song Contest 2010, dem Europäischen Jahr der indigenen Völker, der Explosion auf der Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko und der Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott durch die Länder der Euro-Gruppe (die 2011 wieder in Gefahr war – der Ausgang dieser Krise ist zum Zeitpunkt der Abfasssung dieses Artikels nicht abzusehen) konstatieren würde, ohne zwischen diesen distinkten Sachverhalten irgendwelche Einflüsse (die hier ja tatsächlich absurd zu unterstellen wären) zu behaupten? Viel wichtiger aber: Ist die Wie-Frage tatsächlich eine, die die methodischen Schwierigkeiten einer kausalen Rekonstruktion zu umgehen vermag? Oder handelt es sich nicht viel eher um eine (möglicherweise ja durchaus legitime) Verschiebung des Erkenntnisinteresses, die dann aber nicht in dieser dichotomen Gegenüberstellung zu rechtfertigen wäre? Denn selbst wenn eine historische Kulturwissenschaftlerin sich eher für Wie- als Warum-Fragen interessiert, so wird sie doch an der Beantwortung untergeordneter Warum-Fragen nicht vorbeikommen (dem Beleg dieser Vermutung dienten die Fragen einen Absatz weiter oben); und umgekehrt: Wer Warum-Fragen beantworten möchte, kann Wie-Fragen nicht umgehen. Die von Thomas Mergel implizierte Alternative existiert einfach nicht. Schon bei oberflächlichem Hinsehen entpuppt sich die historisch-kulturwissenschaftliche Kritik am kausalen Erklären also als (bisher) recht schwach begründet. 55

55 Zumindest tentativ lässt sich zudem sagen, dass es offenbar die durchaus berechtigte Ablehnung ganz konkreter Ausprägungen des Erklärens (das intentionale Erklärungsmodell des Historismus, das tendentiell funktionale Erklären in der Historischen Sozialwissenschaft) ist, die in den Historischen Kulturwissenschaften ein Misstrauen gegen Kausalität ganz allgemein generiert; gleichzeitig wird man aber davon ausgehen dürfen, dass die Historischen Kulturwissenschaften um kausale Erklärungen nicht herumkommen, weil sie den elementaren Erkenntnis- und Orientierungsbedürfnissen des Menschen entspringen.

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Zusammenfassung Ausgangspunkt des Artikels war die Frage, welches Verfahren den kulturwissenschaftlichen Historiker aus der Menge der Einzelbefunde in den kulturellen Gesamtzusammenhang „entführt“. Abstrakt gesprochen ging es um die Frage, ob das von Charles S. Peirce eingeführte Verfahren der Abduktion tatsächlich jene „Entführung“ erlaubt. Aus logischer Perspektive kann die Abduktion viele in sie gesetzte Hoffnungen nicht erfüllen. Der Schritt vom Einzelfall zur vermuteten Regel ist gehaltserweiternd und daher nicht wahrheitskonservierend, und er ist nicht logisch notwendig. Aber auch die dem abduktiven „Schließen“ zugeschriebene Kreaitivät lässt sich nicht ohne Weiteres halten; zumindest gibt es selbstverständlich auch wenig kreative abduktive Operationen, und es ließen sich Beispiele für kreative deduktive (und andere) Schlüsse anführen – die Abduktion hat also kein Monopol auf Kreativität noch eine eingebaute Kreativitätsgarantie. Die Abduktion ist also weder ein logisches Schlussverfahren noch eine zwingend kreative Operation. Inwiefern entführt dann die Abduktion aus der Menge der zunächst angestellten Einzelbeobachtungen in die Rekonstruktion eines kulturellen Zusammenhangs? Ganz einfach: Sie beschreibt sehr gut die Aufgabe und die Herausforderung, die sich der historischen Kulturwissenschaftlerin stellen. Gleichzeitig verbindet sie dies mit einfachen, aber zentralen Forderungen wie etwa der nach der „Erlangung einer Haltung, bereit zu sein, alte Überzeugungen aufzugeben und neue zu suchen“ 56, Forderungen, die auf die einfache Einsicht in die Fallibilität menschlichen Wissens zurückgehen. Es geht nicht um eine klar beschreibbare Methode, sondern um eine Haltung (Reichertz), und es geht darüber hinaus um Erfolgskriterien für die wissenschaftliche Suche, nämlich u.a. Plausibilität, und spätestens hier findet die Deduktion durch die Hintertür wieder Eingang. Die Abduktion entführt den Beobachter damit in nichts anderes als in die Welt der wissenschaftlichen, d.h. theoriegeleiteten, kausalen Rekonstruktion – und das nicht im Sinne einer methodischen Forderung, sondern als (durchaus gelungener) Ver-

56 REICHERTZ, 1999, S. 57.

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such einer Beschreibung des tatsächlichen forschenden Arbeitens und seiner Probleme. Man mag dieses Fazit dafür kritisieren, „dass kein anderes als das am Positivismus orientierte Weltbild wissenschaftliche Kriterien an die Hand gibt, die hier nicht erfüllt sind“57, dass also die Abduktion auf wissenschaftliche Kriterien verweist, denen sie selbst nicht gerecht werden kann (und die gleichzeitig recht unscharf und wahrscheinlich unzutreffend als „Positivismus“ kritisiert werden). Aber diesen Kriterien gerecht zu werden war nie Aufgabe der Abduktion; die Abduktion ist Teil des Forschungszusammenhangs, des Entdeckungszusammenhangs, mehr noch aber als andere Heuristiken verweist sie dabei schon auf jene vermeintlich „positivistischen“ Kriterien, denen die spätere Erklärung im Rechtfertigungskontext gerecht werden wird und werden muss, wenn sie Bestand haben will (“[…] a retroductive conclusion is only justified by its explaining an observed fact”58). Eine solche Perspektive fehlt den Historischen Kulturwissenschaften bisher weitgehend.

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Griechische Miniaturobjekte als kommunikative und indexikalische Zeichen OLIVER PILZ

1. Wenn Archäologie die wissenschaftliche Beschäftigung mit den materiellen Hinterlassenschaften, den Spuren, die menschliches Handeln hinterlassen hat, darstellt, dann ist archäologische Feldforschung in Form von Ausgrabungen oder Oberflächenprospektionen (Surveys) Spurensuche par excellence. Insbesondere die archäologische Grabungstätigkeit zielt explizit darauf ab, physische Überreste vergangener Kulturen zutage zu fördern. Der häufig äußerst fragmentarische Zustand dieser Hinterlassenschaften lässt umso deutlicher ihren Spuren- bzw. Indiziencharakter hervortreten. Ist archäologische Forschung somit bloßes Detektivspiel, um der Vergangenheit ‚auf die Spur zu kommen‘? Dies ist vor allem deshalb nicht der Fall, weil es genaugenommen nicht auf die Spuren ankommt, sondern auf ihre Interpretation. 1 Entgegen einer verbreiteten Ansicht rekonstruiert die Archäologie nicht die Vergangenheit; was sie als historische Kulturwissenschaft letztlich leistet, ist die Konstruktion einer Vergangenheit. Da dieser Konstruktionspro*

1

Mein Dank gilt Søren Kjørup für seine Diskussionsbereitschaft und wichtige Hinweise, die mich im Hinblick auf die semiotische Analyse vor manchen Fehlern bewahrt haben. Klaus Junker sei für die kritische Durchsicht des Manuskripts gedankt. HOLTROFF, 2003, S. 538. Vgl. HODDER, 1991.

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zess jeweils von spezifischen epistemologischen, ideologischen, sozioökonomischen und individuellen (Geschlecht, Rasse, Religion) Rahmenbedingungen beeinflusst wird, sind auch seine Ergebnisse (narratives) in jeder Hinsicht von den genannten Faktoren abhängig. Bis etwa zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts herrschte in der Klassischen Archäologie eine erkenntnistheoretische Ausrichtung vor, die von Carlo Ginzburg in seinem 1979 erschienenen Aufsatz Spie. Radici di un paradigma indiziario als „Indizienparadigma“ bezeichnet wurde.2 Ginzburg vergleicht die methodische Vorgehensweise des Kunsthistorikers Giovanni Morelli, des fiktiven Detektivs Sherlock Holmes sowie des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud und kommt zu dem Ergebnis, dass sich zwischen 1870 und 1880 in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein epistemologisches Modell durchgesetzt habe, das auf der Auswertung kleinster Indizien und Details beruht.3 Es ist sicher kein Zufall, dass sich die Archäologie in ebendiesem Zeitraum auf ihrer ‚Spurensuche‘ erstmals systematischer Ausgrabungsmethoden bedient. Bereits in den 1860er Jahren fanden in Pompeji unter der Leitung von Giovanni Fiorelli Grabungen statt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen; auf griechischem Boden begann die systematische Grabungstätigkeit mit den Untersuchungen, die Alexander Conze in den Jahren 1873 und 1875 im Kabirenheiligtum von Samothrake durchführte, sowie der deutschen Olympiagrabung von 1875 bis 1881.4 In der Klassischen Archäologie hat die von dem italienischen Arzt und Kunsthistoriker Giovanni Morelli entwickelte empirisch-vergleichende Methode der Zuschreibung von Gemälden an bestimmte Malerpersönlichkeiten vor allem in der Vasenforschung eine beträchtliche Wirkung entfaltet. Ohne sich explizit auf Morelli zu beziehen, wendete der englische Archäologe Sir John Beazley seit den frühen 1920er Jahren dessen Methode an, um in der attischen schwarz- und rotfigurigen Vasenmalerei einzelne Malerhände zu unterscheiden. 5 Ebenso wie Morelli erkannte Beazley in scheinbar nebensächlichen Details, wie beispielsweise bei menschlichen Figuren der Gestaltung der Ohren,

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GINZBURG, 1983. Ebd., S. 69. LANG, 2002, S. 76f. KURTZ, 1985; WHITLEY, 1997; JUNKER, 1999.

Griechische Miniaturobjekte

Finger oder Füße, die individuelle ‚Handschrift‘ eines Vasenmalers. Die Ergebnisse seiner Arbeit veröffentlichte Beazley in zahlreichen Aufsätzen sowie in den 1942 bzw. 1956 publizierten umfangreichen Listenwerken Attic red-figure vase-painters und Attic black-figure vasepainters.6 Die Tatsache, dass Beazleys Malerzuschreibungen, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Gültigkeit bis zum heutigen Tag bewahrt haben, zeugt von seinem überragenden Gedächtnis und seiner außerordentlichen Kennerschaft. Die von Ginzburg als Indizienparadigma bezeichnete epistemologische Ausrichtung kam in der Klassischen Archäologie durchaus nicht erst bei Beazley zum Tragen – wo sie allerdings gleichsam den Höhepunkt ihrer Wirkung erreicht –, sondern hatte bereits die im späten 19. Jahrhundert einsetzende Meisterforschung zur griechischen Vasenmalerei und Plastik tiefgreifend geprägt. Vorrangiges Ziel der Meisterforschung war es, durch die Analyse stilistischer Details einzelne Künstlerpersönlichkeiten zu isolieren. 7 Daneben wurzelt Beazleys klassifikatorischer Ansatz in der als connoisseurship bezeichneten Kunst-Kennerschaft, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts herauszubilden beginnt und naturgemäß zu großen Teilen auf einer intimen Vertrautheit mit dem Material beruht. 8 Aus dieser Vertrautheit wiederum erwächst ein gleichsam intuitives Urteilsvermögen. Gerade dadurch aber ist der eigentliche Erkenntnisweg für den Außenstehenden häufig nur schwer nachvollziehbar. Etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat das Indizienparadigma in den historischen Kulturwissenschaften zunehmend an Bedeutung verloren. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung in der kunstgeschichtlichen Forschung. Im Jahre 1955 legte Erwin Panofsky die letztgültige Fassung seines dreistufigen Interpretationsschemas zur Deutung von Kunstwerken vor und entwickelte damit die von seinem Lehrer Aby Warburg begründete ikonographisch-ikonologische Methode ent6 7 8

BEAZLEY, 1942; DERS., 1956. Vgl. LANG, 2002, S. 194-200; BORBEIN, 2005. Zu den Anfängen der connoisseurship, die er mit dem Arzt, Gemäldesammler und Verfasser der Considerazioni sulla pittura Giulio Mancini (1558-1630) verbindet, siehe GINZBURG, 1983, S. 75-78. Anders jetzt SPARTI, 2008, die die Auffassung vertritt, dass die moderne KunstKennerschaft erst im England und Frankreich des 18. Jahrhunderts entstanden sei.

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scheidend weiter.9 Obwohl die dritte, ikonologische Stufe der Deutung, wie Søren Kjørup kürzlich hervorgehoben hat, im Grunde auf einer indexikalischen Zeichenauffassung beruht, 10 trat auf das Ganze gesehen dennoch die inhaltliche Deutung und damit der kommunikative Aspekt bildlicher Darstellungen verstärkt in den Vordergrund. Dies trug, neben anderen Faktoren, zu einer Auffassung von Kunst als Botschaft bei, wie sie in der Folge insbesondere von Ernst H. Gombrich vertreten wurde. 11 Freilich mit einer gewissen Verzögerung hat sich auch die klassischarchäologische Forschung seit den 1970er Jahren in viel stärkerem Maße als zuvor Deutungsansätzen geöffnet, welche die inhaltlichen Aspekte sowie die kommunikative Funktion von Kunstwerken und Artefakten in den Blick nehmen.12 Seit einiger Zeit beherrschen diese Ansätze nicht nur in der Vasenforschung, sondern auch in anderen Teilbereichen der Klassischen Archäologie die Diskussion in einem Maße, dass man – in Analogie zu Ginzburgs Indizienparadigma – sogar von einem Kommunikationsparadigma sprechen könnte. Dagegen sind Forschungsansätze, die explizit auf eine indexikalische Lesart rekurrieren, in den letzten Jahrzehnten sukzessive in den Hintergrund getreten.

2. Wenden wir uns nun dem eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung, den griechischen Miniaturobjekten, zu, wird zunächst eine knappe Begriffsklärung notwendig sein. Als Miniatur oder Miniaturobjekt bezeichnet man sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der archäologischen Fachsprache stark verkleinerte Nachbildungen normalgroßer Gegenstände. Ebenso wie seine Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen leitet sich das deutsche Wort ‚Miniatur‘ von der mittellateinischen Bezeichnung minium für die in der Buchmalerei verwendete Zinnoberfarbe Mennige her und wurde wohl durch den Anklang an den lateinischen Komparativ minor ‚kleiner‘ auf die klein-

9 10 11 12

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PANOFSKY, 1955. KJØRUP, 2009, S. 62f. GOMBRICH, 1978, S. 108-113. LANG, 2002, S. 234-239.

Griechische Miniaturobjekte

formatigen Illustrationen von Handschriften übertragen. 13 Als substantivisches Erstglied von Komposita zielt ‚Miniatur-‘ und dessen umgangssprachliche Verkürzung ‚Mini-‘, die im Übrigen erst über das Englische in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen ist, im Allgemeinen auf die extreme Verkleinerung eines Gegenstands ab. In diesem Sinne versteht man unter archäologischen Fachbegriffen wie ‚Miniaturskyphos‘ oder ‚Miniaturhelm‘ eine mehr oder minder getreue Nachbildung des entsprechenden Gegenstands in einem erheblich verkleinerten Maßstab.14

Abb. 1: Helmbusch (Höhe 8,5 cm) eines Miniaturhelms mit Weihinschrift von der Insel Leukas

13 KLUGE, 2002. 14 Unter den Miniaturvasen kommen allerdings vereinzelt auch Gefäßformen vor, die offenbar keine normalgroßen Vorbilder besitzen: EKROTH, 2003, S. 35; HAMMOND, 2005, S. 417, 422.

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Die Miniaturisierung von Gegenständen ist kein spezifisches Merkmal der antiken griechischen Kultur, sondern lässt sich in den frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens ebenfalls nachweisen. Im ägäischen Raum wird die Verwendung von Miniaturobjekten erstmals im Neolithikum fassbar und ist in der Folge sowohl in der minoischen als auch in der mykenischen Kultur der Bronzezeit gut dokumentiert. 15 In der Tat scheint die Miniaturisierung von Gegenständen eine Grundkonstante der materiellen Kultur der Menschheit darzustellen; denkt man an Modelleisenbahnen oder die Ausstattung von Puppenstuben, wird klar, dass das Phänomen auch in unserer heutigen Zeit verbreitet ist. In der antiken griechischen Welt erscheinen Miniaturobjekte in einer Vielzahl von Kontexten. An erster Stelle stehen die Heiligtümer, in denen miniaturisierte Gegenstände den Göttern als Weihgaben dargebracht wurden. Explizit belegt ist eine Funktion als Votiv bei den wenigen Miniaturgegenständen, die mit einer Weihinschrift versehen sind. Als Beispiel sei ein von der Insel Leukas stammender fragmentierter Miniaturhelm (Abb. 1) aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. angeführt; auf dem Helmbusch findet sich die eingeritzte Inschrift „Euphraios hat mich der Athena geweiht“.16 Daneben sind Miniaturobjekte häufig in sepulkralen Kontexten als Grabbeigaben anzutreffen.17 Gelegentlich tauchen Miniaturen, insbesondere Miniaturgefäße, aber auch in Wohnhäusern auf.18 Hier vermutet die Forschung eine Verbindung zu sogenannten Hauskulten, die zumindest für den griechischen Bereich vorwiegend aus der schriftlichen Überlieferung erschlossen werden. Die griechischen Miniaturobjekte umfassen ein breites Spektrum von Gegenständen. Zu den Artefakten, die am häufigsten dem Miniaturisierungsprozess unterzogen wurden, zählen bestimmte Formen von Ton- und Metallgefäßen, Möbel, Waffen (Abb. 1) sowie einige Werkzeuge und Geräte (Abb. 2).19 In diesem Zusammenhang wird zumeist

15 TOURNAVITOU, 2009; DAMM, 1997. 16 Εὐφραῖος μʼ ἀνέθεκε τἀθάναι. PREUNER, 1902, S. 363-366 Nr. 25 mit Abb.; LAZZARINI, 1976, S. 198 Nr. 145; BOARDMAN u. a., 2004, S. 302 Nr. 152 Taf. 77. 17 DI STEFANO, 2003. 18 KASSAPOGLOU, 1998, S. 266f. Nr. 13-22 Abb. 272; HORSNÆS, 2001; AULT, 2005, S. 75f. 19 Miniaturkeramik: EKROTH, 2003; HAMMOND, 2005. – Möbel: ANDRIANOU, 2007. – Waffen: MARTELLI CRISTOFANI, 2003. – Geräte und Werkzeuge:

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Griechische Miniaturobjekte

übersehen, dass auch die sogenannten Haus-, Schiffs- und Wagenmodelle zu den Miniaturobjekten gerechnet werden müssen. Bei ihnen handelt es sich keineswegs um Modelle im technischen Sinne von Vorbildern oder Prototypen, sondern eindeutig um mehr oder minder getreue Nachbildungen in stark verkleinertem Maßstab.20

Abb. 2: Miniaturdreifuß aus Olympia (Höhe 7,5 cm) In der bisherigen archäologischen Forschung sind Miniaturobjekte häufig marginalisiert worden, indem sie als qualitätslose Massenware und billige Weihgaben der unteren sozialen Schichten abgetan wurden.21 Im Zusammenhang damit wird oft der angebliche Substitutcharakter von Miniaturobjekten betont: In ihrer Funktion als Votive oder Grabbeigaben hätten sie als Ersatz für aufwändigere Gaben gedient.22 Im Extremfall wird von dem geringen materiellen Wert eines Großteils der erhaltenen Miniaturvotive sogar auf eine angeblich manMAASS, 1978, S. 117-125 (Dreifüße); KASSAPOGLOU, 1998, S. 267 Nr. 16, 17, 19 Abb. 272 (Pflug, Schlüssel, Sichel); VARKIVANÇ, 1998 (Lampen). 20 Vgl. PILZ, im Druck. 21 z. B. BOEHRINGER, 2001, S. 92: „Der geringe Preis billiger Miniaturgefäße erlaubte der ärmeren Bevölkerung die Teilnahme am Kult.“ 22 Beispielsweise CZECH-SCHNEIDER, 2004, S. 109: „Ersatzgabe“.

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gelnde Frömmigkeit ihrer Stifter geschlossen.23 Es ist unschwer erkennbar, dass ein solches ‚ökonomistisches‘ Deutungsmodell, welches in den Miniaturobjekten lediglich kostengünstige Substitute für die entsprechenden großformatigen Gegenstände sieht, auf der herrschenden kapitalistischen Marktideologie beruht, in der im Grunde einzig und allein die materielle Werthaltigkeit von Gütern von Belang ist. Erst in jüngerer Zeit vollzieht sich allmählich eine Abkehr von diesen Denkgewohnheiten24. So konnte Gunnel Ekroth nachweisen, dass Miniaturgefäße mitunter in Heiligtümern geweiht wurden, die sich in beträchtlicher Entfernung vom Ort ihrer Herstellung befinden.25 Dies steht zweifellos in deutlichem Gegensatz zu der Auffassung, dass Miniaturvasen generell billige Ersatzgaben seien.

3. In einem früheren Beitrag habe ich u. a. zu zeigen versucht, dass Miniaturobjekte als ikonische Zeichen der entsprechenden normalgroßen Gegenstände aufgefasst werden können. 26 Bevor im nächsten Abschnitt der indexikalische Zeugniswert der Miniaturobjekte erörtert werden kann, wird es zunächst erforderlich sein, ihre Zeichenstruktur zu analysieren. Dies soll am Beispiel der Miniaturnachbildungen bronzener Dreifußkessel (Abb. 2) geschehen. Der häufig zitierten Definition von Charles Sanders Peirce zufolge steht ein ikonisches Zeichen (Ikon) zu seinem Referenten in einem Verhältnis der Ähnlichkeit.27 Da es weit über den Rahmen des vorliegenden Beitrags hinausführen würde, ausführlich auf das hochgradig komplexe und umstrittene Konzept der Ähnlichkeit bzw. Ikonizität einzugehen, muss die Feststellung genügen, dass wir die Miniaturdreifüße aufgrund einer hinreichenden ‚geometrischen‘ Ähnlichkeit als

23 FOXHALL/STEARS, 2000, S. 8: „[…] substitutes for the poor or less devout.“ 24 CIPRIANI/ARDOVINO, 1989/1990, S. 346 Anm. 21; KILIAN-DIRLMEIER, 2002, S. 218; EKROTH, 2003, S. 35-37. Vgl. auch SCHATTNER/ZUCHTRIEGEL, im Druck. 25 EKROTH, 2003, S. 36. 26 PILZ, im Druck. 27 PEIRCE, 1931-1958, 2.276. Vgl. SCHNEIDER u. a., 1979, S. 11-13.

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verkleinerte Nachbildung ihrer großformatigen Gegenstücke wahrnehmen.28 Aus den homerischen Epen erfahren wir, dass bronzene Dreifußkessel im häuslichen Bereich, über das Herdfeuer gestellt, sowohl als Kochtöpfe als auch zum Erhitzen von Badewasser dienten. 29 Darüber hinaus stellen sie aufgrund ihres beträchtlichen Materialwertes nicht nur wertvolle Gastgeschenke dar, sondern wurden auch als Siegespreise in athletischen und musischen Wettkämpfen vergeben.30 Im kultischen Kontext dienten die Dreifußkessel ursprünglich wohl zum Kochen des Fleisches der geopferten Tiere.31 Nach ihrer Verwendung im Ritual verblieben die Kessel als Weihgaben an die Gottheit im Heiligtum und erinnerten auf diese Weise an das vollzogene Opfer. Erst in späterer Zeit sind Dreifüße auch losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion als eigenständige Gaben geweiht worden. Wiederum wegen ihres hohen materiellen Wertes sind Dreifußkessel sicher in erster Linie von Angehörigen der Adelsschicht gestiftet worden. 32 Der Bronzedreifuß kann somit, um einen von Mary Douglas geprägten Begriff aufzugreifen, als condensed symbol, verdichtetes Symbol für die Lebensweise und die Wertvorstellungen der griechischen Aristokratie der geometrischen und archaischen Zeit gelten.33 Als Zeichen denotiert der Dreifußkessel ein spezifisches Bronzegerät, umfasst daneben aber ein breites Spektrum konnotativer Bedeutungsinhalte, die von der aristokratischen Praxis des Austauschs kostbarer Geschenke über den athletischen und musischen Wettstreit bis hin zur Opfer- und Weihpraxis der Adelsschicht reichen. In Anlehnung an den Neologismus ‚Italianität‘, mit dem Roland Barthes in seinem Aufsatz Die Rhetorik des Bildes,34 der semiologischen Bildanalyse einer Pasta-Werbung, eines der Signifikate des Werbebil28 In der Geometrie besteht die Ähnlichkeit zweier Figuren darin, dass sie gleiche Winkel und proportional äquivalente Seiten aufweisen. Zur Bedeutung der geometrischen Ähnlichkeit für die Semiotik siehe ECO, 1991, S. 260f. Natürlich kann Ähnlichkeit auch klanglicher, haptischer oder anderer Art sein. 29 BRUNS, 1970, S. 37f.; BROMMER, 1942, S. 359, 361f. 30 STEIN-HÖLKESKAMP, 1989, S. 49-53. 31 BURKERT, 1977, S. 155. 32 MORGAN, 1990, S. 43-47, 192; DE POLIGNAC, 1996, S. 64f.; KILIANDIRLMEIER, 2002, S. 216, 220. 33 Vgl. DOUGLAS, 1974, S. 23f. 34 BARTHES, 1990.

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des bezeichnet hat,35 könnte man die Konnotationen eines Dreifußes mit dem Begriff ‚Aristokrazität‘ umschreiben. Im Sinne eines idealisierten sozialen Rollenmodells stellt ‚Aristokrazität‘ dabei gleichsam das Kondensat der griechischen Adelsideologie in all ihren Formen und Ausprägungen dar.

Abb. 3: Zeichenstruktur von Miniaturobjekten Ein Miniaturdreifuß ist, in einer Mischung zwischen semiotischer und semiologischer Terminologie ausgedrückt, zunächst einmal ein Zeichen, dessen Ausdrucksseite (Signifikant) von einem Ikon gebildet wird. Dieses ikonische Zeichen jedoch beinhaltet das gesamte Zeichen ‚Dreifuß‘, also Ausdrucks- und Inhaltsseite (Signifikat). Bei einem Zeichen, als dessen Ausdrucksseite ein anderes Zeichen fungiert, handelt es sich um ein konnotatives Zeichen. Ein Miniaturobjekt stellt folglich ein konnotatives Zeichen dar, dessen Ausdrucksseite das entsprechende normalgroße Vorbild als Zeichen zugrunde liegt (das Schema Abb. 3 veranschaulicht diesen Zusammenhang unter Verwendung der semiologischen Begrifflichkeit). Indem durch die starke Verkleine35 Ebd., S. 43: „Die Italianität [Herv. i. O.] ist nicht Italien, sie ist das kondensierte Wesen all dessen, was italienisch sein kann, von den Spaghetti bis zur Malerei.“

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rung eines Gegenstands gewissermaßen von seiner praktischen Funktionalität abstrahiert wird, findet eine deutliche Akzentverschiebung von der denotativen Hauptbedeutung (Kochtopf, Gastgeschenk, Siegespreis) hin zur konnotativen Nebenbedeutung (‚Aristokrazität‘) statt. 36 Der Prozess der Miniaturisierung führt also letztlich zu einer stärkeren Konzentration auf die konnotativen Bedeutungsinhalte. Die Auswahl der Gegenstände, die dem Verkleinerungsprozess unterzogen wurden, ist, anders als man zunächst vermuten könnte, im Übrigen keineswegs willkürlich. Vielmehr handelt es sich bei den griechischen Miniaturobjekten regelhaft um stark verkleinerte Nachbildungen von Gegenständen, die in Bezug auf Ritualhandlungen oder/und soziale Rollenmodelle symbolisch hoch bedeutsam waren.37

4. Im vorigen Abschnitt wurden miniaturisierte Gegenstände als kommunikative Zeichen gedeutet. Worin aber besteht ihr indexikalischer Zeugniswert, wovon stellen sie gleichsam Spuren dar, was indizieren sie?38 Angesichts des heute vorherrschenden ‚Kommunikationsparadigmas‘ verwundert es nicht, dass die Frage nach dem Spurenwert von Miniaturobjekten bisher kaum gestellt wurde. Am Beispiel der Dreifußkessel, die ja im kultischen Kontext ursprünglich sehr wahrscheinlich zum Kochen des Opferfleisches dienten,39 hat sich gezeigt, dass normalgroße Gegenstände, die bei rituellen Handlungen benutzt wurden, in Miniaturversionen erscheinen können. Der indexikalische Zeugniswert der Miniaturdreifüße, deren essentieller Bedeutungsinhalt mit dem Neologismus ‚Aristokrazität‘ umschrieben wurde, besteht einerseits darin, dass ihr Vorkommen im Votivspektrum eines Heiligtums auf die Artikulation des entsprechenden sozialen Rollenmodells und daher mit einiger Sicherheit auf die Teilnahme von Angehörigen der Adelsschicht am Kult weist. Betont werden muss, dass 36 Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, zu sagen, dass sich ihre Gewichtung gewissermaßen umkehrt. 37 PILZ, im Druck. 38 Zur Unterscheidung zwischen kommunikativer und indexikalischer Zeichenauffassung siehe KJØRUP, 2009, S. 7f. 39 Siehe Anm. 31.

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diese Interpretation bereits auf der inhaltlichen Deutung der miniaturisierten Dreifüße aufbaut und der kommunikativen Zeichenauffassung damit gleichsam nachgeordnet ist. Daneben stellen die Miniaturdreifüße aber auch Indizien für die Ritualhandlung – nämlich das Tieropfer – dar, in deren Rahmen ihre Vorbilder in Normalgröße für die Zubereitung des Opferfleisches verwendet wurden.

Abb. 4: Miniaturhydrien vom ‚nördlichen Opferplatz‘ in Eretria, 7. Jahrhundert v. Chr. Eine andere Gruppe von Miniaturobjekten, die Miniaturhydrien (Abb. 4), kann diesen zweifachen Spurenwert miniaturisierter Gegenstände weiter verdeutlichen. Miniaturhydrien treten in vielen Heiligtümern der Göttin Demeter, aber auch an Kultplätzen der Hera und der Artemis, teilweise in großer Zahl auf. 40 Um das Spektrum der mit diesen Miniaturgefäßen verbundenen Konnotationen zu erfassen, ist es wiederum erforderlich, in einiger Ausführlichkeit auf ihre großformatigen Gegenstücke einzugehen. Als Hydrien bezeichnet man große, bauchige Bronze- oder Tongefäße mit zwei vertikalen und einem horizontalen Henkel; Gefäße dieser Form dienten in erster Linie zum Transport

40 Vgl. die Zusammenstellungen der Fundorte bei DIEHL, 1964, S. 178-180, 190f. und HÖLSCHER/KRAUSKOPF, 2005, S. 172 Nr. 81.

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und zur Aufbewahrung von Wasser.41 Auf zahlreichen attischen Vasenbildern der archaischen und klassischen Zeit sieht man Frauen und Mädchen, deren Aufgabe es war, den Haushalt mit Wasser zu versorgen, mit derartigen Gefäßen an öffentlichen Brunnenhäusern. 42 Auch im kultischen Bereich spielte Wasser bei Reinigungsriten sowie im Rahmen des Tieropferrituals eine wichtige Rolle und musste immer in ausreichendem Maße vorhanden sein.43 Dem entspricht, dass Hydrien in der Vasenmalerei gelegentlich in Opferszenen und Prozessionen des Alltags, 44 aber auch in mythischen Opferdarstellungen erscheinen. 45 Ähnlich wie im Fall der Dreifußkessel hängt auch der Brauch, den Göttern Hydrien zu weihen,46 letztlich zumindest zum Teil mit ihrer Funktion als Kultgerät im Rahmen des Tieropferrituals zusammen. Neben ihrer Verwendung beim Tieropfer hat die Hydria im Kult bestimmter Gottheiten eine spezifischere Bedeutung erlangt. So deuten Befunde im Demeter-Heiligtum von Bitalemi bei Gela darauf hin, dass Hydrien dort für Spenden von Wasser (und anderer Flüssigkeiten?) benutzt und anschließend innerhalb des heiligen Bezirks deponiert wurden. In der untersten Schicht (Stratum 5), die der ältesten Nutzungsphase des Heiligtums ab der zweiten Hälfte des 7. bis etwa zur Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entspricht, fand sich ein Depot aus zwei kopfüber gestellten Hydrien, zwischen denen waagerecht eine Amphora lag.47 Aus dem in Rede stehenden Stratum 5 stammen zahllo-

41 DIEHL, 1964, S. 1f.; HÖLSCHER/KRAUSKOPF, 2005, S. 170; TRINKL, 2009, S. 153. 42 Zu diesen sogenannten Brunnenhausszenen zuletzt ausführlich PFISTERERHAAS, 2002, S. 7-18, 22-25, 59-70 (Katalog). Vgl. auch TRINKL, 2009, S. 155f., 169. 43 BURKERT, 1977, S. 101f., 132f., 145; COLE, 1988, S. 162. 44 TRINKL, 2009, S. 164f., 166 Abb. 8a-b, 9. 45 Hier sind insbesondere die Darstellungen des Busirisabenteuers des Herakles zu nennen: LAURENS, 1986, S. 149f. Nr. 15, 16, 20 Taf. 129-130. 46 Zu Bronze- und Tonhydrien mit Weihinschriften an Hera, Demeter, Zeus und Athena siehe DIEHL, 1964, S. 179, 214 (B 39a), 218 (B 108); TRINKL, 2009, S. 161f. Ergänze zehn große Tonhydrien aus Herakleia in Lukanien mit Dedikationsinschriften an Demeter: SARTORI, 1980, S. 403-407 Abb. 1-10 Taf. 74, 6-10; 75, 14-15; HINZ, 1998, S. 192f. Abb. 52; HÖLSCHER/KRAUSKOPF, 2005, S. 172 Nr. 80. 47 ORSI, 1906, S. 588 Abb. 397-399; KRON, 1992, S. 646 Anm. 196.

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se weitere Hydrien unterschiedlicher Größe und Form. 48 Die Mehrzahl dieser Hydrien scheint auf dem Kopf stehend im sandigen Boden deponiert worden zu sein.49 Dass die Öffnung der Gefäße nach unten gerichtet ist, mag symbolisch auf den chthonischen, erdverbundenen Charakter der verehrten Gottheit verweisen,50 hatte aber eventuell auch den praktischen Grund, die Hydrien, deren Inhalt als Spende ausgegossen worden war, tatsächlich vollständig zu entleeren. In der Tat wurden Flüssigkeitsspenden in die Erde nicht nur den Verstorbenen, sondern auch den chthonischen Göttern, zu denen Demeter zählt, zuteil. 51 Für den letzten Tag der eleusinischen Mysterien ist bei Athenaios ein Ritual überliefert, dass im Ausgießen einer Flüssigkeit aus speziellen Kultgefäßen, den Plemochoen, bestand.52 Athenaios erwähnt dabei ausdrücklich, dass die Gefäße, eines nach Osten, eines nach Westen, kopfüber gestellt wurden (ἀνατρέπουσιν).53 ‚Nüchterne‘, d. h. weinlose Spenden (νηφάλια) für Demeter sind bei Dionysios von Halikarnassos für ein Heiligtum in der arkadischen Stadt Pallantion bezeugt.54 Bereits im homerischen Demeterhymnos lehnt die um ihre von Hades geraubte Tochter trauernde Göttin Wein ab und spricht stattdessen einem mit Minze gewürzten Mischtrank (κυκεών) aus Wasser und Gerste zu. 55 Aus dem Zeugnis des Dionysios geht weiterhin hervor, dass die erwähnten nephalia von Frauen ausgeführt wurden. Dies lässt an einen Kult der Demeter Thesmophoros denken, der wohl in der gesamten griechischen Welt den Frauen vorbehalten war.56 Auch im Thesmophorion von Bitalemi könnten weinlose Spenden im Zusammenhang mit dem Tieropfer und/oder als eigenständige Opferhandlung eine 48 ORLANDINI, 1966, S. 26 bezeichnet die Hydria als „[…] tipo di offerta più comune della prima fase del santuario.“; KRON, 1992, S. 629. 49 ORLANDINI, 1966, S. 29 spricht davon, dass 90 % der Gefäße aus der Schicht 5 kopfüber standen. 50 Ebd. 51 STENGEL, 1910, S. 181-183; ZIEHEN, 1935, Sp. 2486-2488; BURKERT, 1977, S. 123. Allgemein zu Flüssigkeitsspenden (Libationen) siehe Ebd., S. 121-125; GRAF, 1980. 52 Athen. 11, 496 a-b. 53 Vgl. MILES, 1998, S. 95-103; MITSOPOULOU, 2010, S. 169f. 54 Dion. Hal. ant. 1, 33, 1: τὰς θυσίας αὐτῇ διὰ γυναικῶν τε καὶ νηφαλίους ἔθυσαν. Vgl. STIGLITZ, 1967, S. 68f. 55 Hom. h. 1, 206-211. 56 Zum Thesmophorienfest siehe BURKERT, 1977, S. 365-370; KRON, 1992, S. 615-620.

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wichtige Rolle im Kult der Demeter gespielt haben. Reichliche Spenden wachstumsfördernden Wassers wären gerade für Demeter, die wie keine andere Gottheit mit der agrarischen Fruchtbarkeit verbunden ist, ein in jeder Hinsicht angemessenes Opfer. Dass hydriai aber nicht nur Wasser, sondern auch andere Substanzen enthalten konnten, zeigen sechs mit Honig gefüllte Bronzehydrien, die im Hypogäum auf der Agora von Poseidonia, das gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. errichtet wurde, zutage kamen. 57 Vorstellbar wären mithin auch Spendenopfer mit anderen Flüssigkeiten, wie beispielsweise dem oben erwähnten kykeon. Neben großformatigen Hydrien sind im Thesmophorion von Bitalemi auch zahlreiche Miniaturhydrien vertreten; sie stammen hauptsächlich aus den auf das Stratum 5 folgenden Schichten 4a und 4b, die etwa den Zeitraum von der Mitte des 6. bis in das späte 5. Jahrhundert v. Chr. umfassen.58 Ganz offenbar leitet sich die Bedeutung der Miniaturhydrien also von der spezifischen Rolle her, die ihre großformatigen Gegenstücke in der Opferpraxis des Heiligtums spielten. Deutlicher als die miniaturisierten Dreifüße sind die Miniaturhydrien gewissermaßen ‚Symptome‘ der Ritualhandlungen, in die ihre normalgroßen Vorbilder eingebunden waren. Obwohl Hydrien vereinzelt auch von Männern geweiht wurden, 59 ist die Gefäßform dennoch in vieler Hinsicht eng mit dem weiblichen Lebensbereich verbunden. 60 Dies zeigt sich auch daran, dass in vielen Demeter-Heiligtümern Terrakottastatuetten sogenannter Hydriaphoren, nämlich von Mädchen, die eine Hydria auf dem Kopf tragen, vorkommen.61 Als materieller Ausdruck eines genuin weiblichen Rollenkonzeptes lassen sich die miniaturisierten Hydrien somit auch als Indiz für die mehr oder minder starke Beteiligung von Frauen an den entsprechenden Kulten lesen. 57 SESTIERI, 1955, S. 63 Abb. 23-24; NEUTSCH, 1956, Sp. 390-395; HÖLSCHER/KRAUSKOPF, 2005, S. 171, 172 Nr. 78. Zur Deutung des Hypogäums siehe KRON, 1971, S. 124-131, 144f.; RAUSCH, 2000. 58 ORLANDINI, 1966, S. 22; KRON, 1992, S. 629. 59 Die in Anm. 46 erwähnten Gefäßen aus Herakleia, die nach Aussage der Dedikationsinschriften von Männern geweiht wurden, stellen insofern einen Sonderfall dar, als es sich bei diesen Hydrien wohl um Kultgerät im engeren Sinne handelt. 60 Siehe Anm. 42. Vgl. auch KRON, 1992, S. 629f. 61 DIEHL, 1964, S. 189-193; MULLER, 1996, S. 486f.; HÖSCHER / KRAUSKOPF, 2005, S. 172 Nr. 82.

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5. Die angeführten Fallbeispiele haben gezeigt, dass miniaturisierte Gegenstände sowohl als kommunikative Zeichen, die für etwas stehen, als auch im Sinne einer indexikalischen Zeichenauffassung als Zeichen von etwas interpretiert werden können. Die beiden Lesarten sind teils gleichrangig, teils basiert die indexikalische Interpretation bereits auf der Kenntnis der für den entsprechenden Gegenstand relevanten semantischen Codes. Hier besteht im Übrigen eine auffällige Analogie zur ikonographisch-ikonologischen Methode, bei der die höchste, d. h. die ikonologische Deutungsebene ebenfalls auf der vorherigen Entschlüsselung der ikonographischen Regel beruht. Der verbreitete ‚ökonomistische‘ Deutungsansatz, der Miniaturobjekte generell lediglich als billige Substitute für die entsprechenden normalgroßen Gegenstände auffasst, lässt ihre kommunikative Funktion, die in erster Linie bei ihrer Verwendung als Weihgaben zum Ausdruck kommt, völlig außer Acht. Dadurch, dass von der ursprünglichen praktischen Funktionalität abstrahiert wird, bewirkt die starke Verkleinerung eines Objektes eine Konzentration auf die konnotativen Bedeutungsinhalte, die mit dem entsprechenden normalgroßen Gegenstand verbunden sind. Miniaturisierung ist mithin eine Strategie, den ohnehin schon beträchtlichen spezifischen Symbolgehalt eines Objektes noch weiter zu steigern. Miniaturobjekte stellen nicht nur wegen ihrer geringen Größe, sondern vor allem, weil sie die konnotativen Nebenbedeutungen ihrer großformatigen Vorbilder in besonderer Weise hervorheben und akzentuieren, äußerst wirkungsvolle Medien zur Propagierung und Legitimation ideologischer Inhalte dar.62 Legt man eine indexikalische Zeichenauffassung zugrunde, können miniaturisierte Objekte, insbesondere dann, wenn sie in großer Zahl auftreten, nicht nur die Verbreitung, sondern in gewissem Maße auch die Intensität der Artikulation ideologischer Konzepte anzeigen.

62 Zum Prozess der „materialization of ideology“ siehe DEMARREIS u. a., 1996, S. 15-19.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: nach BOARDMAN u. a., 2004, Taf. 77, 152. Abb. 2: Neg. D-DAI-ATH-72.3794 (G. Hellner) Abb. 3: Verf. Abb. 4: nach HUBER, 2010, Abb. S. 213.

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Der „schwarze Sklave“ und der „Prophet der Araber“ Khārijitische Herrschaftskonzepte als Spuren frühislamischer Ethnoreligiosität MICHAEL ROHSCHÜRMANN „Nicht immer hat ein Abdruck

die gleiche Form wie der Körper, der ihn gemacht hat und nicht immer entsteht er durch das Gewicht eines Körpers, manchmal reproduziert er nur den Eindruck, den ein Körper in unserem Geist hinterlassen hat. Dann ist er der Abdruck einer Idee. Die Idee ist ein Zeichen der Dinge und das Bild ist ein Zeichen der Idee. Also das Zeichen eines Zeichens. Aber aus dem Bild rekonstruiere ich, wenn nicht den Körper, so doch die Idee, die Andere von ihm hatten.“ Umberto Eco, Der Name der Rose

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Einleitung Die islamische Geschichte bietet mit den fitan1 (sg. fitna – Bezeichnung für die innerislamischen Machtkämpfe der Jahre 35/656 – 132/750) eine Phase, in der die häufigen Konflikte zwischen verschiedenen islamischen Denominationen2 eine Reihe von Theoremen hinterlassen haben, die, mit den Zeichenbegriffen der Semiotik gelesen, Auskunft über das vorliegende Selbst- und Fremdbild dieser „religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam“ 3 geben können. Als „formative Phase“4 des Islam haben die fitan und die in ihnen entwickelten Theoreme auch heute noch eine hohe Relevanz in der tagespolitischen Diskussion. Bei modernen extrem-islamistischen Gruppierungen handelt es sich größtenteils um sunnitisch-hanbalitische Bewegungen, die sich selbst gerne als talica (Avantgarde) des Sunnismus verstehen. Im Gegensatz zu dieser Selbsteinschätzung werden sie von traditionellen culāmā´ (Rechtsgelehrten) jedoch zumeist mit dem nomen odiosum „Khārijiten“ belegt, wobei die historische Gruppierung hier für Rebellen, Apostaten und jede denkbare Form von Unruhestiftern im Allgemeinen steht. 5 Das von den historischen Khārijiten vertretende Herrschaftskonzept, das traditionell mit dem Satz verbunden wird, ein jeder könne, den rechten Glauben vorausgesetzt, Imām/Kalif6 werden, „wa-law kāna 1 2

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Aufgrund des Drucksatzes wird eine vereinfachte Umschrift verwendet. Hier muss noch von Denominationen gesprochen werden, da der oft verwendete Terminus der islamischen „Konfessionen“ irreführend ist. Zumindest für die formative Phase der islamischen Geschichte fehlt den betreffenden Parteien die „confessio“. Die Frage der Herrschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch eine rein politische ist, wird erst im Zuge der fitan religiös aufgeladen und bildet – als Frage der Heilssicherung verstanden – den Kern des konfessionellen Unterschiedes zwischen Sunniten und Schiiten. WELLHAUSEN, 1901. WATT, MONTGOMERY, 1985, S. XV. Hierzu sei auf die Abhandlung hadihi ᶜaqīdna (Dies ist unser Bekenntnis) von Abū Muhammad al-Maqdisī hingewiesen (http://www.tawhed.ws/ r1?i=4786&x=jzoyrjz8, zuletzt abgerufen am 21.09.2010 um 10:13) in der er die modernen Jihādisten als Partei des dritten Weges zwischen den Bürgerkriegsparteien der fitan einordnet. Während der Titel Khalīfat rasūli ´llāhi (Stellvertreter des Gesandten Gottes/Pl. Khulafa´) von Abū Bakr, dem Nachfolger Muhammads gewählt

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abdan habašiyyan“7 (und sei er auch ein abessinischer [also schwarzer, M.R.] Sklave), ist in diesem Zusammenhang häufig als Beispiel der Radikalität dieser Bewegung angeführt worden. Auf der anderen Seite begründet dieses, im Vergleich zu anderen Konzepten islamischer Herrschaft, egalitäre Herrschaftsmodell auch die Sympathie, welche der Khārijiya in den letzten Jahren seitens sozialreformatorischer arabischer Autoren wieder entgegengebracht wird.8 Im Folgenden soll der zentrale Satz des khārijitischen Herrschaftsbegriffs mittels des semiotischen Zeichensystems auf Aussagen zu Fremd- und Selbstbild hin untersucht werden. Dem allgemeinen semiologischen Sprachgebrauch folgend soll Zeichen als Element eines Systems verstanden werden, das aus einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite besteht. Konventionelle Zeichen werden als bewusste Informationsübermittlung betrachtet, während indexikalische Zeichen Teil einer Wirklichkeit sind, der sie selbst angehören. Da sie nicht eine Information übermitteln sollen, kann erst durch das gezielte Befragen Erkenntnis über die Inhaltsebene des Zeichens gewonnen werden. 9 Bevor wir uns dem Zeichencharakter des Satzes zuwenden, soll die khārijitische Bewegung im Kontext der fitan und den darin entwickelten Herrschaftskonzepten verortet werden. Hierzu wird zunächst das semantische Feld des Begriffs fitan (Sg. fitna) umrissen und vom jihād und dessen populärer Übersetzung „Heiliger Krieg“ abgegrenzt werden. Edward William Lane umschreibt das semantische Feld der Wurzel f-t-n mit “give reply or excuse; burn; slaughter; punish; sow dissession or difference of opinion”10, und Wehr

wurde, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass seine Herrschaft nicht mehr direkt durch göttliche Offenbarungen angeleitet wird, bringt der Titel Imām (Führer, Leiter, Vorsteher von -m-m = führen, leiten) die Idee der Rechtleitung zum Ausdruck. In der formativen Phase fallen indes die Funktionen von Imāmat und Kalifat – zumindest für Schiiten und Khārijiten – noch zusammen. Nagel (NAGEL, 1994, S. 58) sieht den Ursprung der Idee des Imāmats bei Schiiten und Khārijiten in Sure 17:71 begründet und verweist zudem darauf, dass der Terminus Imām von den frühen Vertretern beider Richtungen zumeist im Sinne eines „Führers einer Kampfgemeinschaft“ verwendet worden sei. 7 LEVI DELLA VIDA, 1997, hier Band 4, S. 1077. 8 Vgl. TIMANI, 2007. 9 Vgl. KJØRUP, 2009, S. 14. 10 LANE, 1968, S. 2334-2336.

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notiert für das Substantiv fitna „Verlockung; Betörung; Aufruhr; Zwietracht; Bürgerkrieg“11. Den Begriff des Religions-, Konfessions- oder gar Heiligen Krieges (harbu d-dinī) sucht man im Arabischen vergebens, da der Krieg „harb“ immer negativ konnotiert ist und daher niemals das semantische Feld des Heiligen oder Religiösen teilen kann. Konflikte, die einen bellum iustum darstellen, sind immer als jihād fī sabīli llāhi (Eifern auf dem Wege Gottes) qualifiziert. Trotz der im Westen üblichen Übersetzung des Begriffs mit „Heiliger Krieg“ – unter anderem behandelt Josef van Ess12 jihād in der RGG unter dem Artikelstichwort „Heiliger Krieg, II, Islam“ – verweist Graf zu Recht darauf, dass es sich eigentlich um eine analoge Übertragung eines jüdischen Konzeptes handelt. „Die gelehrte Rede vom ‚Heiligen Krieg‘ des Alten Israel hat vielmehr auch dazu beigetragen, dem modernen gewalttätigen jihād der Muslime Legitimität zu verschaffen.“13 Der Begriff „Heiliger Krieg“ selbst wurde auch erst 1901 von Friedrich Schwally14 in seiner Arbeit „Der Heilige Krieg im alten Israel. Band 1. Semitische Kriegsaltertuemer“ geprägt. Der Terminus jihād stellt keine spezifische Kampfform, sondern nur die Qualität des Kampfes „auf dem Wege Gottes“ (also gerecht) dar und steht damit diametral zu der ungezügelten und ungerechten Gewalt der fitan.

Soziopolitischer Rahmen – die fitan Die ungeklärte Nachfolgeregelung nach dem Tod Muhammads (10/632) ließ die Dichotomien zwischen den arabischen Stämmen wieder hervorbrechen. Der Tod des Gesandten Gottes leitete die Transformation der medinensischen Föderation von einem tribalen Schutzbündnis (hilf) in ein islamisches Staatswesen ein. Bis zum Jahr 632/11 kann die medinensische Föderation noch gemäß der altarabischen Tradition als Patronagesystem angesehen werden, welches durch die „charismatische Herrschaft“15 des Propheten zusammengehalten wurde. 11 12 13 14 15

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WEHR, 1985, S. 942 b. VAN ESS, 2000, S. 1563. GRAF, 2008, S. 26. SCHWALLY, 1901. WEBER, 1972, S. 140ff.

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Die Wahl Abū Bakrs zum Kalifen lässt sich im Weberschen Sinne als „Veralltäglichung des Charismas“16 verstehen, wodurch erste Schritte unternommen wurden, die charismatische Herrschaft des Propheten in eine „traditionelle Herrschaft“17 zu überführen. Im Zuge der hurūb ar-ridda (Apostasiekriege 10/632 - 12/634) wurde ein Konzept der autoritativen Führung entworfen und militärisch durchgesetzt, in dem die Loyalität des Einzelnen nicht gegenüber einer Person, sondern gegenüber Gott, der durch den legitimen Herrscher vertreten wurde, bestand. Von denjenigen arabischen Stämmen, die sich nach dem Tod des Gesandten Gottes nicht mehr an Medina gebunden sahen, wiesen bei weitem nicht alle den Monotheismus zurück – bei einigen traten sogar neue Propheten auf18 –, sondern fühlten sich lediglich nicht mehr an ihre Abgabenpflicht gegenüber dem Nachfolger Muhammads gebunden. „Die arabischen Stämme glaubten nur dem Propheten gehuldigt zu haben; nach allgemeiner Anschauung band die Huldigung bloß an die Person, der sie geleistet war. Nach seinem Tode fielen sie wieder ab, weniger von Allah als von Medina.“19

Abū Bakr, der Stellvertreter des Gesandten Gottes, bestand jedoch darauf, dass ihm dieselbe Gefolgschaft entgegenzubringen sei wie dem Propheten selbst. „Bei Allah, selbst wenn einer nur ein Zicklein schuldig ist, muss er es hergeben, auch wenn er sich weigert.“20 Zugehörigkeit zum Islam war nun mehr als das Bekenntnis zur Einheit Gottes und der Prophetie Muhammads. Sie umfasste auch die Pflicht, dem legitimen Führer der umma (Gesamtgemeinde) zu folgen, was in der Folge die Wechselwirkungen von Heilssuche und Herrschaftslegitimation begründete: „to choose one’s leader was to choose one’s vehicle of salvation.“21 Mit dem Aufstand (35/656) gegen den dritten Kalifen cUthmān ibn c Affān, der in dessen Ermordung gipfelte, brach eine neue Cleavage 16 17 18 19 20 21

Ebd. Ebd. WATT, 1986, hier Band 1, S. 110b. WELLHAUSEN, 1902, S. 15. FAZL, 1982, S. 17; ähnlich bei BUKHĀRĪ, Buch 84, Nr. 59. CRONE, 2004, S. 23.

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zwischen Nord- und Südarabern auf. Letztere waren im Zuge der c umarschen Korankanonisierung, die im Islam vor allen Dingen eine mudaritische Angelegenheit sah, marginalisiert und von politischer und religiöser Deutungshoheit weitgehend ausgeschlossen worden. Das Kalifat cAlī ibn Abū Tālibs, des von den Aufständischen gewählten Prophetencousins und Schwiegersohnes des Propheten, war von Beginn an nicht unwidersprochen. Bereits während seines ersten Regierungsjahres hatte er einen Aufstand der Prophetengefährten azZubaīr und Talha niederzuschlagen, die zudem von cĀ´iša, der Lieblingsfrau Muhammads und Tochter des ersten Kalifen, unterstützt wurden. Mit der Kamelschlacht (35/656), in der sich erstmals zwei muslimische Heere gegenüberstanden, zerbrach die ideelle Einheit der umma, auch wenn cAlī siegreich blieb. Vor dem Hintergrund dieser Legitimationsprobleme muss auch die Apologetik seiner Anhänger (šīcat cAlī – die Partei cAlīs) verstanden werden, die seine Designation zum Nachfolger des Propheten 22 bereits auf die Abschiedswallfahrt Muhammads (10/632) verlegten und damit die drei vorhergehenden Kalifen für unrechtmäßig erklärten. Zur Untermauerung seines Anspruches wurde nicht nur auf cAlīs frühe Verdienste für den Islam verwiesen, sondern auch argumentiert, dass ihm, als nächstem männlichen Verwandten Muhammads, Qualitäten zu eigen seien, die ihn vor allen anderen Menschen auszeichneten. Dass cAlī zum Hoffnungsträger der von Khālid ibn al-Walīd unterworfenen Stämme werden konnte, lag vor allem an seiner klugen Heiratspolitik, durch die er, nach dem Tod der Prophetentocher Fātima, familiäre Bande mit vielen der neumuslimischen Stämme einging. 23 Zu cAlīs Hauptgegner wurde indes der Neffe des ermordeten Kalifen c Uthmān, der syrische Statthalter Mucāwiya und Begründer der späteren Ummayaden-Dynastie (41/661-132/750). Dass cAlī während der Schlacht von Siffīn (37/657) auf ein Schlichtungsangebot seines Gegners einging und den Streit durch ein Schiedsgericht lösen lassen wollte, führte zum Protest und zur Abspaltung eines Teils seiner Kämpfer. Aus den Protestanten, die cAlīs Reihen verließen 22 Bei der Rast am Teich von Khumm (16. 03. 632) soll der Prophet seinen Schwiegersohn mit den Worten „man kuntu maulāhu fa-calī maulāhu“ (Der dessen Herr ich bin, dessen Herr ist auch cAlī) zu seinem Nachfolger bestimmt haben. (Vgl. HOWARD, 1981, S. 123f.) 23 NAGEL, 1998, S. 33-36 sowie DERS., 1994, S. 103 und DERS., 2008, S. 868.

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(kharaja – hinausgehen), da sie der Auffassung waren, er stelle sich durch diese vorislamische Tradition gegen den Willen Gottes („lā hukma illā li-llāhi“ – Kein[e] Recht[mäßigkeit] außer durch Gott24), entwickelte sich die Bewegung der Khārijiten.25 In den die ganze Zeit des Umayyaden-Kalifats andauernden Konflikten standen sich also auf personaler Ebene die Familien der Banū Umaīya und der Banū Hāšim sowie die khārijitischen Renegaten gegenüber, während auf der politischen Ebene die Modelle des politischen Quietismus, der charismatischen Herrschaft und der anarchistischen Theokratie miteinander konkurrierten.

lā hukma illā li-’llāhi – Die Khawāriğ Über den Kern der Dissidenten, die unter dem Motto „lā hukma illā lillāhi26 cAlīs Heer verließen, ist in der Forschung ebensoviel spekuliert worden wie über die Gründe für ihren Bruch mit cAlī.27 Politisch lassen sich die Ereignisse von Siffīn (37/657) und deren Folge jedoch als Reflex auf die (empfundene) Aufkündigung des „charismatischen Herrschaftskonzepts“ durch den Kalifen verstehen.28 Im Nachgang von Adruh – wo das einberufene Schiedsgericht lediglich zu einer delphischen Entscheidung kam – gewannen die Dissidenten nicht nur weiteren Zulauf, sondern entwickelten auch eine eigenständige Ideologie einer konsequenten Theokratie, welche die Idee der „charismatischen Führung“ nicht aufgab, diese aber einzig im Muhammad geoffenbarten Wort Gottes suchte29, was besonders in der Verdammung des ijtihād (der eigenständigen Rechtsauslegung durch Rechtsgelehrte) durch die Untergruppe der Azāriqa-Khawārij deutlich wird. 24 Möglicher Koranbezug in den Koranversen 5:44; 6:57; 12:40 sowie in Sure 67. 25 HALM, 1988, S. 13 sowie SCARCIA AMORETTI, 1990, S. 108 und NAGEL, 1994, S. 42. 26 Möglicher Koranbezug in Suren 5:44; 6:57; 12:40 und 67. 27 Vgl.: LEVI DELLA VIDA, 1997, S. 1074-1077 sowie WELLHAUSEN, 1901; PAMPUS, 1980; TIMANI, 2007. 28 HALM, 1988, S. 13 sowie SCARCIA AMORETTI, 1990, S. 108 und NAGEL, 1994, S. 42. 29 NAGEL, 1998, S. 11.

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Die khārijitische Ideologie, sofern man von einer solchen aufgrund des heterodoxen Charakters der Bewegung überhaupt sprechen kann, führte zu einer starken Betonung der individuellen Heilsverantwortlichkeit, welche in der Folge radikalisierend wirkte und zur Ausbildung des takfīr (jmdn. für ungläubig erklären) als Mittel der sozialen Schließung gegenüber den anderen Muslimen führte, wobei auch vor dem islamischen Adel, wie das Beispiel cAlīs zeigt, nicht Halt gemacht wurde. Im Rekurs auf den hijra-Gedanken begannen sie, ihren Bruch mit cAlī im Sinne einer heilsgeschichtlichen Trennung vom Unglauben darzustellen. In diesem Sinne sieht Berger30 die Selbstbeschreibung al-muslimūn (diejenigen, die sich Gott unterwerfen) auch zuerst in einem khārijitischen Kontext auftauchen, während sich die Anhänger des Islam in der Regel einfach als mucminūn (Gläubige) bezeichnet hätten. Für cAlī muss diese dritte Bürgerkriegspartei so bedrohlich geworden oder erschienen sein, dass er seine Aufmerksamkeit von Mucāwiya abwandte, um zuerst die khārijitischen Abtrünnigen zu beseitigen. Mit der Schlacht von Nahrawān (9. Safar 38/17. Juli 658) gelang es ihm zwar, den Khawārij eine schwere Niederlage beizubringen, in deren Folge auch der kharijitische Wortführer Abd Allāh ibn Wahb al-Rāsibī fiel. Die Bewegung als solche konnte er jedoch nicht zerschlagen. Er selbst starb am 17. Ramadān 40/24. Januar 661 durch das Schwert des Kharijiten cAbd ar-Rahmān ibn Muljam al-Murādī, der als Bluträcher für seine Frau Qatami auftrat, deren Vater und Bruder bei Nahrawān gefallen waren. 31 In der Folge kann besonders Basra und sein Umland als Zentrum des Kharijismus angesehen werden, während sich der Proto-Schiismus besonders in Kūfa entwickelte.32 Während der gesamten Umayyadenzeit kam es immer wieder zu verschiedenen khurūj (Auszug, Aufstand), die im Sinne des hijra-Rekurses als Loslösung von der vertrauten Umgebung (kharaja min bzw. can – ausziehen, sich trennen von) zumeist mit der Konsequenz kriegerischer Aktionen (kharaja calā – ausziehen gegen) verbunden waren, wodurch die khurūj dann die Qualität eines jihād gewannen. In diesem Kontext verweist Crone 33 darauf, dass hier, 30 BERGER, 2010, S. 63. 31 WELLHAUSEN, 1901, S. 18. 32 Bezüglich einer Bewertung und Analyse der jeweiligen Schwerpunkte vgl. WATT, 1985, S. 37 und CRONE, 2004, S. 71. 33 CRONE, 2004, S. 104f.

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der zayditischen Ideologie34 vergleichbar, ein Führer die Aspekte von khurūj und dacwā (Werbung; Mission) vereinen musste – tat er das, war der einzelne Gläubige ihm jedoch Gefolgschaft (walāya) schuldig. Die militärischen khurūj waren meist verbunden mit einem Losungswort oder einem Thema, welches die Gewalt als rechtmäßige Bestrafung eines Verbrechers legitimierte35 und sie nur als Reaktion auf die Ungerechtigkeiten und Zwangsmaßnahmen der Herrschenden darstellte. Die Zwangsmaßnahmen wiederum waren nicht selten erst die Folge khārijitischer Provokation gewesen, sodass sich ein Kreislauf aus Provokation und Reaktion ergab. Dass bei diesen Aufständen nie mehr als 500 Kämpfer beteiligt waren und die Erhebungen nie in eine breit angelegte Rebellion überführt werden konnten, zeigt, dass es den Khawārij nicht gelang, breiten Rückhalt für ihre Ideologie in der Bevölkerung zu gewinnen. Nach an-Nahrawān gewann die Khārijiya einen „leidenden“ Zug. Häufig wird der Bewegung eine „romantische[n] Aura“36 zugeschrieben, die sich eindrucksvoll an der kharijitischen Martyriums- bzw. Jihādpoesie ablesen lässt. Durch die Realisierung eines Lehranspruches gehen diese kharijitischen Texte bereits über die Tradition der arabischen Totenklage (rithā) hinaus und machen den Märtyrer zu einem „Grenzzeichen“37 für die Überzeugungen seiner Gruppe. Crone verweist hier darauf, dass auch die spätere Ratschlagsliteratur (nasīha) oft die Form von Testamenten (wasiyya) annimmt. 38 Die Form des ermahnenden Testaments ist über die moderne Variante des Videotestaments ein fester Topos in der medialen Präsentation nahöstlicher Märtyrer geworden. Parallel zur Verehrung der Märtyrer steht das Element der (gerechten) Rache für ihr Leiden, welches zu einem erneuten khurūj führt. In diesem Sinne kann von einem iterativen Zusammenhang gesprochen werden. Während der khurūj/jihād das kommunalistische Element der khārijitischen Ideologie verdeutlicht, gibt es auch Forschungsmeinungen, die eine aktive Martyriumssuche und einen individuellen khurūj

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Zur zayditischen Ideologie sei hier auf HALM, 1988, S. 244ff. verwiesen. SCARCIA AMORETTI, 1990, S. 114. PAMPUS,1980, S. 25. ASSMANN, 2007, S. 149. CRONE, 2004, S. 149.

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für möglich halten39 und hier eine erste Verbindung von Martyrium und Paradiesanwartschaft sehen.40 Am erfolgreichsten waren diese Aufstände immer im größeren Kontext soziopolitischer Umwälzungen, während sie in Zeiten relativer Stabilität kaum Erfolge hatten. So nahm die kharijitische Rebellion besonders während der zweiten fitna an Umfang zu, und es gelang einzelnen Gruppen, weite Teile des Jemen, Hadramaut sowie die Oase at-Tā´if unter ihre Kontrolle zu bringen. Pampus sieht dementsprechend in der Khārijiya eine typische Bürgerkriegserscheinung, die mit dem Beginn der ersten fitna entsteht und mit der Konsolidierung der Herrschaft nach der zweiten fitna an Kontur verliert und sich schließlich weitgehend auflöst. 41 Letztendlich scheiterte die Khārijiya an ihren inneren Widersprüchen, nämlich dem Misstrauen gegenüber jeglicher Führung und der für Sekten konstituierenden engen Bindung an den Führer sowie dem Widerspruch zwischen individueller Heilsverantwortung und dem Versuch, eine charismatische Gemeinschaft zu konstruieren. 42 Nach diesem kurzen Abriss des historischen Hintergrundes möchte ich zu dem zitierten Satz zurückkehren: Jeder Gläubige hat ein Anrecht auf das Kalifat (d.h. die Stellvertreterschaft des Gesandten Gottes) „walaw kāna cabdan habašiyyan“ (und sei er auch ein abessinischer Sklave).

Herrschaftsvorstell ungen als Zeichen? Verstehen wir unseren Satz als konventionelles Zeichen und fragen entsprechend nach Aussage und Interessenlage, welche es transportiert, wird schnell der protreptische Charakter dieses Satzes deutlich. Dazu ist allerdings noch ein kurzer Exkurs zum Charakter der futūh (Öffnungen – die Expansionskriege der ersten beiden islamischen Jahrhunderte) notwendig. 39 40 41 42

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Vgl. PAMPUS, 1980, S. 66 und BONNER, 2006, S. 126. NAGEL, 1994, S. 50. PAMPUS, 1980, S. 95. TIMANI, 2007, S. 22 sowie PAMPUS, 1980, S. 98 und ORTHMANN, 2002, S. 198, 296 und 302.

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Im Gegensatz zur landläufigen Meinung stellten diese keine Missionskriege dar, sondern dienten lediglich dazu, den Einflussbereich des islamischen Reiches auszudehnen. Das Ziel war weniger, die islamische Religion zu verbreiten – eine Ausnahme bildeten hier die Stämme der arabischen Halbinsel –, sondern abgabenpflichtige Untertanen für das neue Staatswesen zu gewinnen. Entsprechend war es auch für NichtAraber kaum möglich, zum Islam zu konvertieren – es sei denn, sie waren mawālī (Klienten) und damit rechtlich Angehörige eines arabischen Stammes. Hier hat Wellhausen bereits 1902 richtig erkannt: „So weit ging die Gleichsetzung des Islams mit dem Arabismus, dass niemand Muslim werden konnte, ohne einem arabischen Geschlechte anzugehören oder sich anzuschliessen.“43

Ein egalitäres Herrschaftskonzept musste daher sowohl den nichtarabischen Neumuslimen wie auch den marginalisierten rabīᶜitischen (südarabischen) Muslimen44 einen Anreiz bieten, sich der kharijitischen Bewegung anzuschließen. In diesem Sinne versteht auch Wellhausen die Khārijiten als diejenige Gruppierung, welche die islamischen Tugenden am wörtlichsten nahm und kommt zu dem Schluss: „Die Chavarig sind nicht aus dem Arabismus entstanden, sondern aus dem Islam.“45 Verdeutlicht und verstärkt wird dabei die egalitäre Forderung des khārijitischen Herrschaftsideals durch das konzessive Element des Nebensatzes „wa-law kāna cabdan habašiyyan“ (und sei er auch ein äthiopischer Sklave). Das Bild des Abessiniers, der stellvertretend für alle über das Bāb al-Mandāb (Tor der Tränen) eingeführten schwarzafrikanischen Sklaven steht, ist bereits in vorislamischer Zeit ein bekannter rhetorischer Topos. So äußert beispielsweise der Prophetengefährte cImrān ibn alHusayn sein Missfallen über die Kämpfe zwischen den Muslimen während der ersten fitna, indem er feststellt, er sei lieber ein abessinischer

43 WELLHAUSEN, 1902, S. 15. 44 NAGEL, 1998, S. 33-36 sowie 2004, S. 103 und NAGEL, 2008, S. 868. Ebenso: BADRY, 2002, S. 24. 45 WELLHAUSEN, 1901, S. 13.

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Sklave und Ziegenhirt, als dass er einen Pfeil, gleich für welche Seite, abfeuerte.46 Auch die ´ahadīth (Sg. hadīth) kennen die Figur des schwarzen Sklaven, die vor allem dazu dient, die Ermahnung, dem Führer der Gemeinde unbedingten Gehorsam zu leisten, zu unterstreichen. Betrachtet man indes den Kontext des betreffenden Materials, wird deutlich, dass diese Traditionen47 den Zweck haben, exegetisches Material zur Sure 4:5948 zu liefern. Entsprechend beginnt das Kapitel mit dem Offenbarungsanlass der Sure, nämlich der Übertragung der Befehlsgewalt durch den Propheten an den Führer einer militärischen Expedition49, und geht dann zu den allgemeinen Gehorsamspflichten der Gläubigen gegenüber dem Herrscher über. Dass diese Gehorsamspflicht gegenüber dem Amt und nicht der Person des Herrschers besteht, wird verdeutlicht, indem herausgestellt wird, dass sie auch gelte, wenn der Herrscher ein „behinderter Sklave“50 oder gar ein „äthiopischer Sklave“51 bzw. „schwarzer Sklave“52 sei. Aus den vorstehenden Ausführungen wird indes deutlich, dass das Bild des „äthiopischen Sklaven“53 vor allem als Metapher für eine “ultimate implausibility” verstanden werden muss, wie Patricia Crone54 vorschlägt. Ziel war nicht eine Gleichrangigkeit zwischen Arabern und Nicht-Arabern – und erst recht nicht Äthiopiern, die zudem Christen waren – zu postulieren, sondern den Gläubigen am Extrembeispiel zu verdeutlichen, dass sie dem legitimen Herrscher Gehorsam schuldeten, 46 IBN ABĪ SHAYBA, 1979-83, Nr. 18964. 47 MUSLIM, Band 20, Kapitel 8. 48 „O Ihr, die Ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die unter euch Befehlsgewalt besitzen. [...]“. 49 MUSLIM, Buch 20, Nr. 4517. 50 MUSLIM, Buch 20, Nr. 4525 und 4526. 51 MUSLIM, Buch 20, Nr. 4526. 52 MUSLIM, Buch 20, Nr. 4529. 53 Hier sei angemerkt, dass cabd neben seiner Bedeutung „Knecht, Sklave“ auch die Kurzform des Namens cAbdallāh darstellen kann, von dem Annemarie Schimmel anmerkt, dass er in vorislamischer Zeit eine gängige Bezeichnung für Christen im Allgemeinen sein konnte (vgl. SCHIMMEL, 1993, S. 18, 71, 72, 75, 146, 169). Mit dieser Übersetzung würde der Faktor der „Unwahrscheinlichkeit“, den Crone anspricht, erheblich gesteigert. Die Forderung allerdings, dass ein Christ der Gläubigste unter den Muslimen sein könnte, scheint doch etwas zu abwegig. 54 CRONE, 1994, S. 61.

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auch wenn dieser nicht ihren Vorstellungen eines perfekten Führers entsprechen sollte. Die Figur des äthiopischen Sklaven bildete schlichtweg den größtmöglichen Kontrast zum Selbstverständnis eines freien arabischen Kriegers. 55 Dies berücksichtigend, soll unser Ausgangssatz im Folgenden als indexikalisches Zeichen verstanden und als Spur betrachtet werden, die Auskunft über Selbst- und Fremdbild der Kharijiya geben kann. Den Umstand vor Augen, dass die späteren Khārijiten bis zu den Ereignissen von Siffīn Parteigänger cAlīs waren, offenbart der Satz zunächst in seiner provokanten Opposition zum schiitischen Autoritätskult das Bedürfnis nach Dissozialisierung von der eigenen Ursprungsgemeinschaft, in der nicht nur eine Selbstrechtfertigung für den Bruch mit c Alī, sondern vielleicht sogar die Enttäuschung über den gefühlten Verrat an der Idee der charismatischen Herrschaft zum Ausdruck kommt. Mit ihrem provokanten Herrschaftskonzept konstruiert die khārijitische Bewegung darüber hinaus die Tradition einer egalitären Urgemeinde, wie sie von den Tābicūn (Muslimen der zweiten und dritten Generation) – vor allem von solchen, die nicht zur mekkanischen Führungsschicht gehörten – als Ausdruck eines idealisierten ummaModells in späteren ´ahadīth immer wieder beschrieben wurde. Im Rückgriff auf dieses utopische Bild der Urgemeinde als zentralem Fluchtpunkt rekonstruktiver Identitätssuche etablierte die Kharijiya ihr elitäres Selbstbild als charismatische Gemeinschaft, worauf auch die Selbstbeschreibung ihrer Gruppe als muhakkima (diejenigen, welche auf das Recht Gottes bestehen) hindeutet. 56 Diese Idee findet ihre Wurzeln nicht nur in vorislamischen casabiyya(Stammessolidarität)Konzepten, sondern lässt sich auch koranisch über Sure 5:51 herleiten: „Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden! Sie sind untereinander Freunde. Wenn einer von euch sich ihnen anschließt, gehört er zu ihnen. Gott leitet das Volk der Frevler nicht recht.“ 57

55 CRONE, 2004, S. 57. 56 LEVI DELLA VIDA, G., 1997, S. 1073b. 57 Die gleiche Aussage findet sich auch in den Suren 3:28 und 3:118.

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Die Khārijiten sahen indes nicht nur einen Befehl zur Trennung von den Ungläubigen, sondern einen aktivistischen Auftrag, gegen den Unglauben in den eigenen Reihen (und der islamischen Gemeinde insgesamt) vorzugehen und damit dem koranischen Gebot 58 al-amr bi ´lmacrūf wa ´n-nahī an al-munkar (Gutes zu gebieten und Schlechtes zu verwehren) zu folgen, in dem bereits Wellhausen den Aspekt der persönlichen Verantwortlichkeit jedes Gläubigen sieht. 59 Wahrhafter islamischer Glaube musste proaktiv sein. Rechtgläubigkeit in der khārijitische Auslegung wurde zum Substitut für das (aus Enttäuschung über cAlī) verworfene Konzept der charismatischen Führung. Die literale Schriftgläubigkeit selbst, durch die dem Koran die Funktion des Imām zukam, konstituierte die charismatische Gemeinschaft der „wirklichen“ Gläubigen. Das Charisma des Imāms wurde auf die Gemeinde übertragen, die sich selbst als charismatische Gemeinschaft konstituierte. Waren die Imāme, nach der schiitischen Lehre, dank ihrer Abstammung und göttlichen Erwähltheit gefeit, so mussten normale Menschen größere Mühen auf sich nehmen, um ihre Gemeinde sündlos zu halten. Einzige Anleitung dazu bot das im Koran niedergelegte Wort Gottes. Der Herrscher war nicht mehr der Heilsdistributor, sondern nur noch Erfüllungsgehilfe des göttlichen Willens. Dieser Aktivismus wird an der khārijitischen Praxis von isti´rād (Befragung, bzw. Begutachtung des Glaubens) und der Verketzerung mittels des takfīr (für ungläubig erklären) anschaulich. Während besonders im letzten Aspekt das Element sozialer Schließung und gleichzeitig der Individualisierung der Heilsverantwortlichkeit deutlich wird, findet sich in den Berichten über die istirād-Praxis khārijitischer Gruppen eine weitere Spur, die auf ein frühislamisches, ethnozentrisches Konzept von Religion verweist. Zahlreiche Quellen berichten davon, dass khārijitische Streifscharen Reisenden aufgelauert hätten, um sie nach den Glaubensinhalten zu befragen und in der Regel, sofern die Antworten den Befragenden nicht zusagten, sie zu töten. Dieser Praxis fielen sogar prominente Muslime und die Familien einiger Prophetengefährten zum Opfer. 60 Meinte der Begriff isti´rād zunächst nur eine neutrale Befragung nach den jeweili58 Vgl. Koran 3:104 und 3:114. 59 WELLHAUSEN, 1901, S. 13. 60 Vgl. WELLHAUSEN, 1902, S. 54.

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gen Glaubensinhalten, endete er für Muslime, die von Kharijiten befragt wurden, meist tödlich und wurde daher schnell zum terminus technicus des politisch-religiösen Mordes allgemein.61 Während also Nicht-Kharijiten kaum eine Chance hatten, dem Tod zu entgehen, wenn sie erst einmal der Befragung unterzogen wurden, berichten die Quellen gleichzeitig, dass Juden und Christen nur die Einheit Gottes, lā illāh illa ´llāha (Es gibt keine Gottheit außer Gott), zu bekunden und festzustellen hätten, dass Muhammad der Gesandte Gottes an bzw. für die Araber sei.62 Vor dem Hintergrund der vorhergehenden Ausführungen wird der äthiopische Sklave zum provokativen Kontrapunkt gegen das schiitische Konzept der dynastischen Herrschaft, mit dem diese, an vorislamische Traditionen anknüpfend, der Prophetenfamilie Eigenschaften zuschrieb, welche diese vor allen anderen Menschen auszeichnete. Entsprechend vertritt das schiitische Konzept die Auffassung, dass erst die Gefolgschaft gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher die Paradiesanwartschaft sicherte oder wie Crone schreibt: “To choose one’s leader was to choose one’s vehicle of Salvation”63. Gleichzeitig grenzte sich die Kharijiya damit auch gegen das umayyadische Herrschaftsverständnis ab, das genau wie die spätere sunnitische Position einen Kalifen zwingend aus dem Stamm Quraīš kommen sah.64 Dass sich spätere Gelehrte wie ibn Taīmīya so vehement dafür aussprachen, dass der Koran sich nicht explizit auf Araber (takhsīs alc arab) beziehe und nur von Gläubigen und Ungläubigen spreche, dass die Abstammung (nasab) kein Qualifikationsmerkmal des Imāms sei und sogar die arabische Sprache des Koran nur den Ausgangspunkt der Mission darstelle, widerspricht den zuvor getroffenen Feststellungen nicht, sondern belegt nur, dass Vorstellungen von einer Sonderstellung der Araber noch in der islamischen Spätklassik so prominent waren, dass gegen sie ganze Streitschriften verfasst werden mussten. Zudem gesteht ibn Taīmīya selbst ein, dass die mangelnde Ebenbürtigkeit nichtarabischer Ehepartner (kafā´a) unter Rechtsgelehrten nicht eindeu-

61 62 63 64

LINANT DE BELLEFONTS, 1997, hier Band 4, S. 269a. BADRY, 2002, S. 19. CRONE, 2004, S. 23. Vgl. MUSLIM, Band 20, Nr. 4476 bis 4478.

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tig abgelehnt werde, und bestätigt dem Stamm des Propheten als afdal ajnās (Bester der Rassen) ein Vorrecht auf das Kalifat.65 Dass die futūh lediglich die arabischen Stämme betreffend den Charakter eines Missionskrieges besaßen, wurde bereits festgestellt. Zusammen mit der oben beschriebenen Praxis des khārijitischen isti´rād erhärtet sich der Verdacht, dass zumindest eine ganze Reihe von Muslimen der ersten und zweiten Generation den Islam als eine arabische Angelegenheit und Muhammad als Propheten der Araber verstanden haben. Dass damit ein besonderes Erwähltheitsgefühl – schließlich war man der Empfänger der letzten und abschließenden Botschaft Gottes an die Menschen – verbunden war, darf zumindest vermutet werden. Eine breite Öffnung des Islam für Nichtaraber fand erst am Übergang vom achten zum neunten Jahrhundert statt. Was das Verhältnis von propagiertem egalitärem Ideal und politischer Wirklichkeit angeht, kann festgestellt werden, dass die Kharijiya weitgehend von den Mitgliedern der freien nomadischen und seminomadischen Stämme getragen blieb. Bis auf die Spätzeit66 spielten Nicht-Araber und erst recht Abessinier oder andere Schwarzafrikaner keine Rolle in ihren Aufständen. Hier muss Wellhausens Aussage: „Die Chavarig gingen damit voran, dass sie die Mavali gleichberechtigt in ihre Gemeinde und in ihr Heer aufnahmen“67 widersprochen werden. Wie sieht es nun mit den „modernen Khārijiten“68 aus? Aufgrund des angesprochenen Vorwurfes des Khārijismus, den konservative c ulāmā´ gegen die Vertreter extrem-islamistischer Gruppierungen erheben, und des Umstandes, dass sich das von diesen Gruppierungen propagierte umma-Ideal an der beschriebenen utopischen Konstruktion einer prophetischen Urgemeinde orientiert, soll zum Abschluss ein kurzer Blick auf einen zentralen Text des zeitgenössischen Jihādismus geworfen werden.

65 Vgl. KRAWIETZ, 2002, S. 254f. 66 Die Wahl eines Nicht-Arabers führt zu einer Spaltung der AzāriqaKharijiten, und ein Teil der Bewegung wählte sich einen neuen, arabischen Anführer (CRONE, 2004, S. 58). 67 WELLHAUSEN, 1902, S. 46. 68 Bspw.: KENNEY, 2006.

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Moderne Khāri jiten ? Ethnoreligiosität im transnationalen Jihādismus Am Anfang der zeitgenössischen jihādistischen Bewegung steht der afghanisch-sowjetische Krieg, der den verschiedensten islamistischen Gruppierungen erstmals die Gelegenheit bot, finanziert vom Westen und unterstützt von den Regierungen ihrer jeweiligen Heimatländer, die sie bis dahin immer bekämpft hatten, einen theologisch gesicherten, defensiven jihād gegen die „Supermacht des Weltatheismus“ 69 zu führen. Auch wenn die ausländischen Kämpfer in Afghanistan erstmals wirklich eine Art islamische umma erfahren konnten, blieb diese doch immer eine arabisch-islamische umma. Über die Frage der Aufstellung gemischt arabisch-afghanischer Verbände kam es sogar fast zu einem Zerwürfnis zwischen cAbdullāh cAzzām und dem bis dahin in seinem Schatten stehenden Usāma ibn Lādin, der diese Idee ablehnte. Auch Walter Posch70 verweist auf den arabischen Charakter alc Qā idas, wenn er hervorhebt, dass sich lediglich zwei Nicht-Araber und auch keine Palästinenser in den Reihen der Organisation fänden. Die Mitglieder al-Qācidas stammten durchweg aus besseren Verhältnissen, hätten säkulare Schulen besucht und verfügten meist über einen akademischen Abschluss.71 Sowohl das Ideal der islamischen Egalität, das bis heute konstituierendes Element des umma-Gedankens geblieben ist, wie auch das auf der Spur unseres Zitates rekonstruierte Selbstbild haben bis heute ihre Wirkmächtigkeit behalten. Auch in der Folge blieb ibn Lādins Organisation, zumindest bis 2001, weitgehend eine Angelegenheit des arabischen Bildungsbürgertums. In der „Erklärung des Heiligen Krieges gegen die Amerikaner, die das Land der beiden heiligen Stätten besetzen“ (1996) spricht er von den bereits aus der vorislamischen arabischen Dichtung bekannten Tugenden: „[...] dass diese jungen Leute den Tod genauso lieben, wie ihr das Leben liebt, dass sie mit Ehrgefühl auf die Welt gekommen sind, Stolz, 69 SCHEFFLER, 2002, S. 37. 70 POSCH, 2008, S. 159. 71 Ebd., S. 157.

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Michael Rohschürmann Tapferkeit, Großherzigkeit, Ehrlichkeit, Mut und Opferbereitschaft, vererbt vom Vater auf den Sohn, und ihre Ausdauer im Kampf wird sich in der Auseinandersetzung zeigen, denn diese Eigenschaften wurden schon aus vorislamischer Zeit von ihren Vorfahren vererbt, bis der Islam sie bei ihnen verankert hat.“ 72

Die Tugenden „Stolz, Tapferkeit, Großherzigkeit, Ehrlichkeit, Mut und Opferbereitschaft“ stellen hier für ihn keine genuin islamischen Tugenden dar, sondern sind ererbte Anlagen der Araber, welche bereits in vorislamischer Zeit bestanden und über die islamische Religion sozusagen kanonisiert worden seien.73 Auch für den populären sunnitischen Gelehrten Yūsuf al-Qaradāwī weist Wendelin Wenzel-Teuber darauf hin, das „Arabertum ohne Islam“74 sei für ihn gar nicht denkbar. Vergleichbar zur khārijitischen Bewegung hat darüber hinaus auch das Konzept der Heilssicherung eine Individualisierung erfahren. Während die älteren, zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstandenen islamistischen Bewegungen in der Tradition Hasan al-Bannās und Sayid Qutbs zumeist das Ziel verfolgten, mittels einer Speerspitze (talīca) von gläubigen Muslimen die Macht in dem jeweiligen, als ungläubig erkannten Staat zu übernehmen und die Bevölkerung durch eine Erziehungsdiktatur zum wahren Islam zu bekehren, folgt der moderne Jihādismus dem von cAzzām entworfenen Paradigma von Treue und Bruch (al-walā´ wa-´l-bara´), das sich auf die bereits zitierte Sure 5:51 bezieht. Hier ist die Transformation des „ungläubigen Systems“ (nizām jāhilī) in ein „islamisches System“ (nizām islāmī) das Ergebnis eines bottom-up-Prozesses, bei dem die Muslime dem Vorbild der talīca folgen und sich selbst von den ungläubigen Herrschern dissozialisieren. Auch hier findet sich wieder das bereits bei den Khārijiten festgestellte Konzept der individualisierten Heilssicherung und damit eine weitere Übereinstimmung der theoretischen Konzepte beider Gruppen.

72 Vgl. KEPEL, 2006, S. 70. 73 Bereits in al-Kawākibīs (1855-1902) fiktiver Beschreibung eines islamischen Weltkongresses in Mekka tritt der Vertreter des Najd als Ideal auf, so dass Reinhard Schulze feststellt: „Für ihn war das ‚reine‘ Arabertum, das die ‚freien‘ Stämme von Nağd verkörpern sollten, der Garant für einen ‚reinen‘ Islam.“ vgl. SCHULZE, 2003, S. 40-41. 74 WENZEL-TEUBER, 2010, S. 281.

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Fazit Die Anwendung eines indexikalischen Zeichenbegriffs ließ uns den Ausgangssatz als Spur verstehen, die über den offensichtlich protreptischen Charakter des khārijitischen Herrschaftsideals hinausreichte und die These einer dahinterliegenden Verknüpfung von Ethnizität und Religion zuließ. Diese These wurde durch eine entsprechende Befragung der Quellen weiter erhärtet. Bereits eine kursorische Betrachtung des ´ahadīth zeigte, dass ethnoreligiöse Vorstellungen in der formativen Phase des Islam nicht nur unter den Khārijiten verbreitet waren und zu einer Verknüpfung des vorislamischen Tugendkatalogs mit den Wertmaßstäben der neuen Religion führten. Bereits in der Einleitung wurde darauf verwiesen, dass der Vorwurf des Khārijismus einen immer wieder anzutreffenden Topos in der Rhetorik konservativer culāmā´ gegen extrem-islamistische Gruppierungen darstellt. Wie ein Blick auf das Selbstbild der Gruppe um Usāma ibn Lādin75 deutlich machte, findet sich auch hier, trotz des immer wieder propagierten Ideals einer egalitären islamischen umma, eine vergleichbare Verknüpfung von Ethnizität, Tugend und Gläubigkeit. Die Verwendung des indexikalischen Zeichenbegriffs hat sich als fruchtbarer Zugang ebenso zu frühislamischen wie zu modernen jihādistischen Quellen erwiesen. Besonders für letztere verspricht er insofern interessante neue Erkenntnisse, da diese bisher größtenteils nach dem konventionellen Zeichenbegriff gelesen wurden, der den Schwerpunkt auf die Aussageabsicht des jeweiligen Autors legt.

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75 Hier ist allerdings festzustellen, dass dieser Befund nicht ohne weiteres auf alle jihādistischen Gruppen übertragbar ist.

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Spuren dynastischer Repräsentation Indexikalische Zeichen d ynastischer Geltung im Herzogtu m Urbino SEBASTIAN BECKER

Die Überlieferungen frühneuzeitlicher Feste, Theateraufführungen und Fest-Spiele, wie sie vom Hof Ludwigs XIV. von Frankreich bekannt sind, stehen seit geraumer Zeit im Fokus der Kultur-, Literatur- und Geschichtswissenschaft.1 Insbesondere die oftmals ausgezeichnete Quellenlage auf Grund der zahlreich überlieferten, oftmals gedruckten Festbeschreibungen ermöglicht eine Untersuchung der frühneuzeitlichen Festkultur unter verschiedensten Gesichtspunkten. Dabei kommt der Textgattung Festbeschreibung eine besondere Bedeutung zu, da hier nur schwerlich zwischen Literatur (Panegyrik) und Historiografie (Chronik) zu unterscheiden ist.2 Feste dienten einerseits der Unterhaltung, andererseits aber auch der Darstellung fürstlicher Größe und Macht. Formen und Inhalte der Repräsentation nahmen somit Schlüsselpositionen bei der Planung und Durchführung eines jeden Festes ein, die schriftliche Fixierung der Aufführungen in all ihren Details „hatte die Aufgabe, die ephemeren Medieninszenierungen des höfischen Festes in das dauerhafte Medium eines text- und bildgestützten Papiergedächtnisses zu überführen“3 und sie somit zum Teil des kollektiven Gedächtnisses, der kollektiven Wahrnehmung weit über den Zeitpunkt 1 2 3

Jüngst wieder durch DICKHAUT, 2009. SOMMER-MATTHIS, 2009, S. 59. RAHN, 2006, S. 2.

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der Aufführung hinaus zu machen. Der Inhalt des Festes, nämlich der stetige Prozess des beständigen Ausgleichs zwischen Selbstdeutung und Erinnerung, wurde somit durch die Festbeschreibungen für die Zukunft konserviert. Den Texten kam also weit mehr als eine „spielerische“ oder „chronistische“ Funktion zu, sie waren auch „Arbeit am Mythos“, so dass durch sie „das Erlebte mit dem erzählten Zeremoniell“ abgeglichen und verbunden wurde. Der Akt der Repräsentation nahm eine Schlüsselstellung in der Ausgestaltung der frühneuzeitlichen Feste ein. Begriffsgeschichtlich umfasste Repräsentation ihrem ursprünglichen Begriffsgehalt nach die Bedeutung des lateinischen repraesentare bzw. repraesentatio, Modi der Vergegenwärtigung.4 Diese kann in Form von Vorstellung, Darstellung oder auch in Erscheinung treten erfolgen und ist dabei häufig mit dem zielgerichteten Einsatz von Zeichen verbunden. Akte der Repräsentation bieten somit auch für die Semiotik erhebliches Potential. In der Geschichts- und in der Kulturwissenschaft bedient sich die Forschung im Zusammenhang mit Repräsentation häufig Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Dort treten Ausdruck, Darstellung und Bedeutung in den Vordergrund, denn – folgt man Cassirer – nur durch Repräsentation im Bewusstsein erfolgt die Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt. Symbolische Formen tragen demnach dazu bei, sinnhafte Ordnungen und Zusammenfügungen zu erschaffen.5 In Anlehnung daran kam Repräsentation auch in der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtsschreibung eine grundlegende Bedeutung zu. Im Zusammenhang mit der Suche nach indexikalischen Zeichen ergibt sich jedoch das Problem der begrifflich eng gefassten Verbindung zwischen Repräsentation und Symbol.6 Es ist daher zunächst notwen4 5 6

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Zur Begriffsgeschichte von Repräsentation siehe PODLECH, 1984, S. 509 f. Immer noch aktuell HOFMANN, 1994. Dazu CARL, 2010, Sp. 62. Die Problematik entsteht daraus, dass Zeichen in der Semiotik nach Peirce wie folgt in drei Typen unterteilt werden: Symbol als ein Zeichen, das zu dem Bezeichneten in einer willkürlich geschaffenen Beziehung steht, Index als in Zeichen, das zu dem Bezeichneten in einer kausalen Beziehung steht sowie Ikon als ein Zeichen, das dem Bezeichneten ähnlich sieht. Vgl. dazu KJØRUP, 2001, S. 219. Grundlegend für diesen Beitrag ist entsprechend die Annahme, dass im Zusammenhang mit Repräsentation in erster Linie von Zeichen gesprochen werden muss, die ihrer Natur nach durchaus unterschiedlich gedeutet werden können.

Spuren dynastischer Repräsentation

dig, den Begriff Repräsentation aus dieser Umklammerung zu lösen und stattdessen den übergeordneten Begriff des Zeichens zu wählen. Diese Trennung soll es bei der Analyse des nachfolgend zu untersuchenden Quellenausschnitts ermöglichen, den Blick auf die mit dem Akt der Repräsentation verbundenen Zeichen zu lenken und die Frage zu stellen, zu welchen Ergebnissen die Untersuchung einer Festbeschreibung kommen kann, wenn sie einerseits auf die Bedeutung von Indizes, also Zeichen mit kausalem Zusammenhang, andererseits auf die Bedeutung von Symbolen, also Zeichen mit willkürlich gesetztem Zusammenhang, untersucht werden. Den Untersuchungsgegenstand bildet dabei die italienische (Klein-) Staatenwelt der Renaissance. Denn gerade die Herrscher der kleinen italienischen Staaten, deren Herrschaft im Übergang zur Neuzeit an die Stelle des mächtigen Republikanismus trat, nahmen die Kunst des Festes in besonderem Maße für sich in Anspruch und entwickelten eine regelrechte Fest-Kultur par excellence.7 Dabei gehört es zum Paradox der italienischen Staatenwelt, dass die herrschenden Dynastien einerseits geradezu monarchische Aspirationen entwickelten, sich jedoch gleichzeitig in feudaler Abhängigkeit gegenüber mächtigeren Herrschern wie Papst, Königen und Kaisern befanden. 8 Die italienischen Höfe etwa der Medici in Florenz oder der Farnese in Parma-Piacenza oder der Este in Ferrara waren in der Vergangenheit immer wieder im Blickpunkt der internationalen historisch arbeitenden Forschung. Insbesondere in der Renaissance-Forschung erfreute sich auch das Herzogtum Urbino und mit ihm die bis 1508 regierende Dynastie mit ihren bekanntesten Vertretern Federico und Guidobaldo da Montefeltro eines besonderen Interesses. Neben der architektonischen Einzigartigkeit des urbinatischen Herzogspalastes und seinem Ruf als kultureller Mittelpunkt Italiens im 16. Jahrhundert sorgte Baldassare Castiglione mit dem Libro del Cortigiano dafür, dass Urbino zusammen mit dem Ideal vom perfekten Hofmann bereits bei den Zeitgenossen in ganz Europa bekannt war. So wie mit dem kinderlosen Tod Guidobaldo da Montefeltros im Jahr 1508 die Linie der Montefeltre erlosch, nahm

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Zum Übergang der mittelalterlichen Festkultur hin zur Festkultur der Renaissance siehe STRONG, 1991, S. 78. Zu dieser Problematik am Beispiel des Herzogtums Ferrara siehe JARRARD, 2003, S. 4.

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auch das Forschungsinteresse am Herzogtum Urbino ab. Gleichwohl bestand selbiges bis zum Zeitpunkt seines Heimfalls an den Kirchenstaat 1631, jedoch unter der Herrschaft der Della Rovere, noch über ein Jahrhundert fort.9 Politisch auf Grund des territorialen Status als päpstliches Lehen in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, standen die Della Rovere, umgeben von den glänzenden Höfen und Aufsteigern der italienischen Staatenwelt – erinnert sei hier wieder an die Medici in Florenz, die Gonzaga in Mantua oder die Este in Ferrara – unter einem besonderen Geltungsdruck, der nicht zuletzt auf die Umstände des Aufstieges der Familie zurückzuführen gewesen sein dürfte. Wie so häufig im Italien der Frühen Neuzeit war es die Folge päpstlichen Nepotismus gewesen, der der bis dato unbedeutenden Familie aus dem in Norditalien liegenden Savona den Aufstieg zum Herzogsrang ermöglichte. Nachdem bereits Francesco Della Rovere von 1471 bis 1484 als Papst Sixtus IV. den Heiligen Stuhl besetzt hatte und so die Zukunft seiner Familie durch geschickte Politik in die richtigen Bahnen lenken konnte, gelangte innerhalb nur weniger Jahrzehnte mit Julius II. (Papst von 1503-1513) ein weiteres Familienmitglied auf den Heiligen Stuhl. Unter seinem Druck erklärte sich im Jahr 1506 der kinderlose Herzog von Urbino Guidobaldo da Montefeltro dazu bereit, seinen Neffen (und auch gleichzeitigen Papstnepoten) Francesco Maria Della Rovere, Prä-

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Deutschsprachig zu Urbino unter den Montefeltro liegt beispielsweise der Band von BERND ROECK, Die Nase Italiens: Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino, Berlin 2005, vor. Die Publikationen aus dem Feld der Kunstgeschichte dagegen sind zahlreich. Mit der Herrschaft der Della Rovere hat sich die deutschsprachige Geschichtswissenschaft bisher nicht systematisch befasst, auch im Rahmen der italienischen sowie internationalen Forschung fanden die Della Rovere als Herzöge von Urbino nur bedingt Aufmerksamkeit. Zu nennen sind in den vergangenen Jahren v.a. der Ausstellungskatalog sowie relativ aktuell der Tagungsband von CLERI, 2002, sowie der Gesamtüberblick mit Schwerpunkten auf der Betrachtung der Familienpäpste VERSTEGEN, 2007. Darüber hinaus gelten noch immer als grundlegend die beiden Standardwerke von UGOLINI, 1859, sowie von DENNISTOUN, 1851, (letzteres 2010 in italienischer Übersetzung als kritische Edition durch GIOGIO NONNI unter dem Titel Memorie dei duchi di Urbino (1440-1630) neu herausgegeben. In Arbeit befindet sich derzeit das Dissertationsprojekt des Autors, das die Ebenen und Möglichkeiten von Legitimationsstrategien des italienischen Kleinstaates untersucht und die erste deutschsprachige Monografie über das Herzogtum Urbino unter den Della Rovere darstellen wird.

Spuren dynastischer Repräsentation

fekt von Rom und Herr des benachbarten Senigallia, zu adoptieren und der Familie des Papstes den Aufstieg auf den urbinatischen Herzogsthron und somit zur Herrschaft über eines der bedeutendsten Territorien im Kirchenstaat zu ebnen.10 Einzig das Kernproblem des päpstlichen Nepotismus vermochte die neuen Herzöge in Gefahr zu bringen – er bot nur solange Schutz, wie der jeweilige Familienpapst auch tatsächlich lebte. Besonders deutlich wurde dies durch die temporäre Vertreibung des neuen Herzogs Francesco Maria Della Rovere durch Papst Leo X. de’Medici in den Jahren 1516-1519, der wiederum seinen eigenen Neffen Lorenzo II. de’Medici mit Urbino belehnte, oder durch den ähnlichen, langen Konflikt mit Paul III. Farnese. Ohne an dieser Stelle ins Detail einer über 100 Jahre währenden Herrschaft blicken zu können, soll deutlich werden, dass sich die Della Rovere im Wettstreit mit den Dynastien Italiens (und Europas) einem erheblichen Geltungs- und Sicherheitsdruck ausgesetzt gesehen haben müssen. Militärische und finanzielle Sicherheit, Glanz und Ruhm versprachen die Übernahme standesgemäßer Posten, etwa als Generalkapitän der Republik Venedig oder später des Kirchenstaates. Auch auf der Ebene der Mäzenaten für Kunst, Literatur und Musik agierten die Della Rovere durchaus erfolgreich. In den Fokus der folgenden Ausführungen soll ein kleiner Ausschnitt der herrschaftlichen Repräsentation, besonders der Darstellung der Dynastie, rücken. Dem Rahmen des vorliegenden Bandes entsprechend wird anhand der Feierlichkeiten eines dynastischen Ereignisses exemplarisch gezeigt werden, ob die Suche nach Indizes dabei helfen kann, Zeichen von dynastischen Geltungs- und Legitimationsstrategien zu identifizieren und als solche zu deuten. Grundlage bildet ein kurzer Ausschnitt einer Festbeschreibung, die wie bei Quellen dieser Gattung üblich von Zeichen geradezu durchsetzt ist. 1571 heiratete der Thronfolger Urbinos Francesco Maria II. Della Rovere die ferraresische Prinzessin Lucrezia d’Este. Die zugrundeliegende Quelle beschreibt die Dekorationen beim feierlichen Einzug der neuen Prinzessin in die Residenzstadt Pesaro und geht detailliert auf die einzelnen Elemente des

10 Zur Adoption und den Verhandlungen zwischen Giulio II. und Guidobaldo da Montefeltro siehe CLOUGH, 2002, S. 49.

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festlichen Trionfo sowie in Teilen auch deren Deutung ein. 11 Besonderes Augenmerk soll im Folgenden jedoch einzig auf diejenigen Dekorationen – besser: Zeichen – gerichtet werden, die den Darstellungen dynastischer Kontinuität und familiärer Traditionen der beteiligten Familien gewidmet waren. Von insgesamt fünf Triumphbögen, die entlang der glanzvollen Einzugsroute des Zuges standen, thematisierten zwei in besonderem Maße die beteiligten Dynastien. Diese Bögen hatten doppelte Fronten, so dass sie von beiden Seiten lesbar waren. Die dargestellten Elemente bildeten somit nicht nur symbolisch, sondern auch materiell eine Einheit. Sinn machte diese Bauweise vor allem bei dem Bogen, der der Prinzessin und dem Prinzen gemeinsam gewidmet war. Auf der einen Seite wurde die Prinzessin Lucrezia im Rahmen ihrer bedeutendsten Vorfahren dargestellt, so dass zunächst der Glanz der Familie Este in den Mittelpunkt rückte. Auf der Rückseite (bzw. zweiten Seite) des Bogens stand nunmehr der junge Prinz zum Rücken seiner Braut, ebenfalls eingerahmt von seinen bedeutendsten Ahnen.12 Quasi spiegelbildlich wurde so der Ruhm der vergleichsweise jungen Dynastie der Della Rovere mit demjenigen der sehr viel älteren Este aus Ferrara gleichund gegenübergestellt. In den Mittelpunkt rückt damit die Frage, mit welchen Mitteln – ja welchen ihrer Vorfahren, Taten oder Traditionen – die Della Rovere diesen dynastischen Glanz darzustellen vermochten und ob die zugrundeliegende Auswahlentscheidung als Zeichen zu deuten ist. Die Präsentation der genutzten Vorfahren – so die zugrundeliegende These auf der Suche nach indexikalischen Zeichen – gäbe dann Auskunft über die Verwendung familiärer Traditionslinien, die die rangmäßige Gleichwertigkeit mit der Familie der Braut darstellen konnten. Gleichwohl den Della Rovere auf Grund ihrer kurzen Herrschaftszeit nur ein beschränkter Pool an Vorfahren und Familiengeschichte zur Verfügung stand, könnten die ausgestellten Merkmale, Taten und Ämter als Zeichen von dynastischem Geltungsanspruch gewertet werden. 11 Die verwendete Quelle ist eine Transkription des in der Biblioteca Oliveriana in Pesaro unter der Signatur ms. 569 verwahrte Chronik, 1904 in Pesaro von NERINO BIANCHI unter dem Titel Solenne entrata di Lucrezia d’Este in Pesaro – nel 1571 herausgegeben. 12 BIANCHI, 1904, S. 18: „E quanto al suddetto arco era d’ordine Ionico di bellissima mostra in luogo amplo e ben assettato, dedicato alla Principessa et al Principe d’Vrbino insime.“

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Eine verhältnismäßig junge, unter Geltungs- und Legitimationsdruck stehende Familie würde folglich diejenigen Bestandteile ihrer Familiengeschichte in den Vordergrund treten lassen, die im eigenen Bewusstsein Herrschaft, Glanz und Ruhm der Dynastie am deutlichsten darzustellen vermochten. Nicht der bloße Akt der Selbstdarstellung im Fest der Renaissance tritt somit auf der Suche nach Indizes in den Vordergrund des Interesses, sondern Ursprung und Ziel der Zeichenauswahl. Die Hypothese würde in unserem Zusammenhang also lauten, dass der verwendete Festschmuck als Zeichen von Geltungsanspruch durch die Darstellung dynastischer Großtaten und der Bedeutung der Vorfahren gedeutet werden könnten. In den Vordergrund rückt somit der dem Prinzenpaar gewidmete Doppelbogen, da hier zum ersten Mal im Verlauf des Einzuges beide Dynastien nebeneinander dargestellt wurden. Gekrönt war der Bogen durch die beiden Statuen der Prinzessin Lucrezia – zu ihren Füßen das Motto „Nova lux oculis effulsit“ –, sowie an ihrem Rücken mit einer Statue des Prinzen Francesco Maria II., darunter das Motto „Tu decus omne tuis“.13 Die in Zugrichtung liegende Frontseite war der Familie Este gewidmet, die dahinterliegende der Familie Della Rovere, so dass eine Art „dynastisches Doppelpantheon“14 entstand. Die Braut betrat den Bogen also als Este, verließ ihn jedoch symbolisch als Mitglied der urbinatischen Dynastie. An der Seite der Statue Lucrezias waren Ludwig XII. von Frankreich und Ercole I. d’Este abgebildet, zur Linken Ferdinando d’Aragon und Alfonso I. d’Este. 15 Von besonderem Gewicht war offensichtlich die Verbindung der Este mit den beiden Königshäusern von Frankreich und Aragon/Spanien, die an prominenter,

13 Ebd., S. 18: „[…] Nella cui sommità in luogo molto eminente era posta la statue della Principessa, che stava a sedere, et havea sotto di sè tal motto. Nova lux ocullis effulsit. […] Nell altra facciata di questo medesimo arco dedicato al Principe d’Vrbino, v’era nella maggior sua altezza la sua statua, alle spalle di quella di detta Principessa con questo motto. Tu decus omne tuis.“ 14 ARBIZZONI, 2001, S. 411. 15 BIANCHI, 1904, S. 18: „A man destra sua stavano in due piedistalli, due statue, la più vicina era Luigi XI Re di Francia Suo avo, l’altra Ercole p.o Duca di Ferrara. A man sinistra Ferdinando Re di Napoli, l’altra Alfonso p.o Duca di Ferrara.“

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denn weithin sichtbarer Stelle positioniert waren. 16 In den Nischen darunter waren Lucrezias Vater Ercole II. und ihr Bruder Alfonso II., regierender Herzog von Ferrara, mit bronzefarbenen Statuen dargestellt. Ein Gemälde unterhalb des Giebels zeigte Matilde d’Este, die einem berittenen Heerführer – der überlieferten Inschrift nach Kaiser Heinrich II. – sein Wappenschild aus der Hand riss. Darunter prangte die Inschrift „Matilde Atestina, collata acie, Henricum II Imperatorem superat.“17 Die darunter angebrachte lateinische Inschrift brachte die Hoffnung zum Ausdruck, Lucrezia möge mit ihren glanzvollen Taten dem Vorbild ihrer Ahnin Matilde folgen und zum Glanz Urbinos das Ihrige beitragen.18 Im Rahmen der Deutung ist als auffälligster Bestandteil des Bogens der Este die Betonung der Kontinuität zu den beiden königlichen Dynastien Aragon und Valois zu nennen. Angesichts dieser Gegenüberstellung erscheint die Frage unvermeidlich, welche Argumente die Della Rovere dem zur Repräsentation des eigenen Glanzes gegenüberstellen konnten. Abgesehen von dem Glanz, den die Einheirat in eine nicht nur angesehene, sondern durch königliche Vorfahren geradezu erstklassige 16 Ludwig XII. war der Großvater mütterlicherseits (Lucrezias Mutter war Renata di Francia), ihr Urgroßvater Ercole I. d’Este war mit der Tochter Ferdinands I. von Aragon, Eleonora d’Aragon verheiratet. 17 BIANCHI, 1904, S. 18: „Ne i nicchi più a basso fra due colonne a man dritta era posta la statua del duca Ercole 2.o suo Padre, ed un pezzo d’artiglieria a canto: a man manca la statua del duca Alfonso 2.o suo fratello con una lancia in mano, e tutte le statue di questi erano di color di bronzo. Sotto la statua della Principessa in un gran quadro era dipinta l’historia della contessa Matilde, la qual in un fatto d’armi si portò si valorosamente che tolse una insegna di mano per forza ad un condutiere de cavalli con tal sottoscrittione. Matilde Atesti collate acie Henricum II Imperatorem superat.“ Anders als in der Quelle überliefert dürfte es sich jedoch nicht um Heinrich II., sondern um Heinrich III. oder IV. handeln. Offenbar liegt ein Zuordnungsfehler der Zeitgenossen vor, denn bei beschriebener Matilde handelte es sich um die Mathilde von Canossa, Ehefrau von Welf IV., die während des Investiturstreits Partei für Papst Gregor VII. ergriffen hatte. Angesichts des Rechtsstatus sowohl Urbinos als auch Ferraras als päpstliche Lehen dürfte es sich an dieser Stelle um ein deutliches Zeichen für die Treue gegenüber dem Papst in Vergangenheit und Zukunft gehandelt haben. 18 Ebd.: „Lucretiae Aest: Heroinae Heroibus genitae / Heroi coniunctae Heraesque (sic) ceniturae / Pisaur: quod felicissimo / Haec coniugo divinam prolem propagatura / Et beatiss.a tempora sit confirmatura“.

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Familie bot, konnte von dem direkten Vergleich für die Della Rovere auch die Gefahr ausgehen, dem nicht standzuhalten und sich somit selbst abzuwerten. Der den Dalle Rovere gewidmete Bogen musste folglich die ruhmreichsten Momente, die wichtigsten Vorfahren und Titel der Familie darstellen. Die für die Bögen der eigenen Familie ausgewählten Elemente gäben demnach Auskunft auf die Frage, welche Teile der Dynastiegeschichte dem Anspruch der Gleichwertigkeit dem Einvernehmen der Zeitgenossen nach gerecht werden konnten. Da die Möglichkeit der Anknüpfung an eine königliche Dynastie nicht zu Verfügung stand, gleichzeitig aber ein Ausgleich für das vorhandene Defizit gefunden werden musste, könnte sich die Auswahl der darzustellenden Traditionslinien und Personen als Zeichen von Repräsentationsbemühungen lesen lassen, würde dann gegenüber den bei vergleichbaren Festen oftmals gebräuchlichen Allegorien der guten Herrschaft tatsächlich Auskunft über eine Art legitimatorische Antwort auf die Darstellung der Este und die daraus resultierenden Probleme und Defizite der Dynastie geben. Aufschluss würde also der Bogen der Della Rovere geben. Symmetrisch zu der den Este gewidmeten Front war auch die den Della Rovere gewidmete mit vier besonders wichtigen Ahnen geschmückt: Federico und Guidantonio di Montefeltro – Exponenten der Vorgängerdynastie in Urbino – zur Linken, sowie Leonardo und Giovanni Della Rovere – die beiden ersten Territorialherren der eigenen Familie – zur Rechten. In den Nischen zwischen zwei Säulen standen, in symmetrischer Ausrichtung zu den d’Este, die Herzöge Francesco Maria (I.) Della Rovere, Großvater des Prinzen und der Herzog Guidobaldo II. Della Rovere.19 Anknüpfen möchte ich zunächst an die Darstellung der beiden Fürsten aus dem Hause Montefeltro, da ihnen erhebliche Bedeutung zukam. Schließlich war es der letzte Herzog aus dem Geschlecht der Monte-

19 Ebd., S. 19: „A man destra della statua di detto Prencipe [Francesco Maria II.] sopra due piedistalli, erano due statue. La più vicina era Federico p.o, l’altro Gudi.’ Ant.o ambidoi di casa Feltria. Dall’ altra banda stavano due alter statue, l’una di Leonardo e l’altra di Giovanni amendue Prefetti di Roma di Casa della Rovere. Più abbasso fra due colonne, nel nicchio a man destra era la statua del duca Guido Baldo e nell’ altra, a man sinistra, il Duca Francesco Maria.“

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feltre, Guidobaldo20, gewesen, der durch die Adoption seines Neffen Francesco Maria Della Rovere die Herrschaft der neuen Dynastie über Urbino ermöglicht hatte. Die ungebrochene Kontinuität, ja geradezu Einheit mit der Vorgängerdynastie rückte bei der Dekoration des Bogens also in den Vordergrund. Der Rekurs auf die Vorgängerdynastie ermöglichte offenbar auf bildlicher Ebene die Verlängerung der Ahnenreihe weit über das ansonsten darstellbare Alter der eigenen Dynastie hinaus. Das Unvermögen, den Bogen mit direkten Ahnen der Della Rovere zu schmücken, wäre folglich Zeichen für ein bestehendes Defizit, dessen Lösung einzig durch Verweis auf die Vorgängerdynastie möglich war. Das Ergebnis dieser Darstellung waren die Verräumlichung und Verzeitlichung der Della Rovere weit über den eigenen Herrschaftszeitraum hinaus. 21 Mit anderen Worten: Die eigene Herrschaftstradition erschien für die Gegenüberstellung mit dem deutlich weiter zurückreichenden Fürstengeschlecht der Este als nicht ausreichend. Auf eine genealogische Konstruktion, wie in der Frühen Neuzeit gerne zur Erhöhung des Glanzes der eigenen Familie verwendet, wurde verzichtet22, wohl nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass der erste einflussreiche Aufsteiger der Familie, Papst Sixtus IV., bekanntermaßen einer unbedeutenden savonesischen Familie entsprungen war. Stand die rechte Seite des besagten Triumphbogens also ganz im Zeichen der Herzöge aus dem Haus Montefeltro, bot die linke Front Raum für die Darstellung der glanzvollsten Vorfahren aus dem Hause der Della Rovere. Im Vergleich zu den Königsgeschlechtern Aragon und Valois oder den einen Herzogstitel tragenden Fürsten der Este oder Montefeltre gänzlich unprätentiös fanden sich dort die Statuen von Giovanni und Leonardo Della Rovere, die als erste Territorialherren aus der eigenen Familie den Grundstein für die Herrschaft im Gebiet der heutigen Marken gelegt hatten. Betont wurde bei der Darstellung der Statuen der von beiden (dank eines Aktes päpstlichen Nepotismus’ Sixtus’ IV.) geführte Titel des Präfekten von Rom. Spiegelbildlich zur 20 Bekannt v.a. durch Baldasarre Castigliones Buch vom Hofmann, Il Cortigiano. 21 Auch außerhalb der Fest-Kultur wurde die Verwandtschaft mit den Montefeltre wiederholt betont, besonders prominent in der Namensgebung der Prinzen (Guidobaldo II., Federigo Ubaldo). 22 Zur Funktion der Konstruktion von Genealogien in der Frühen Neuzeit REHBERG, 2004, S. 4-5 sowie S. 16.

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Darstellung Matilde d’Estes zu Füßen der Prinzessin schmückte ein Bild Francesco Marias I. die freie Stelle zu Füßen des urbinatischen Prinzen, das die Ernennung seines Großvaters zum General der Heiligen Liga von 1538 durch Papst Paul III. Farnese, Kaiser Karl V. und die Republik Venedig darstellte.23 Auch wenn der aus der Präfektur von Rom auf die Dynastie der Della Rovere wirkende Glanz letztlich nur schwer zu bewerten ist, so muss seine Wirkung in jedem Fall aber geringer zu gewichten sein, als diejenige, der man sich bei der feierlich-glanzvollen Darstellung der Este bedienen konnte. Es stellt sich also die Frage, ob die personelle Darstellung und Position der Della Rovere gegenüber den Este nicht geradezu als defizitär betrachtet werden muss. In diese Richtung ließe sich auch die Inschrift unter der oben beschriebenen Darstellung des Herzogs Francesco Marias bei der Ernennung zum General der Heiligen Liga deuten. Insbesondere angesichts des bereits angedeuteten Versuchs der Schaffung einer Kontinuitätslinie und daraus resultierender Legitimation durch den bruchlosen Anschluss an die Herrschaft der Montefeltre muss das darunter angebrachte goldene Spruchband als Zeichen dieser Bemühungen gedeutet werden: „Francisco Mariae Feltrio Principi Max: quod paternum assumptumque robur, institutam pietatem, ampiltudinem et maestatem erexerat, rebusque prest. Pisaur. Pop. Augusti eius nominis observantiss. conceptum sub ipsius praesidio permansurae praestentis felicitatis spem ostendit“24. Es fällt auf, dass an dieser besonders prominenten Position die Nennung des eigenen, sonst immer geführten, Familienamens ausblieb und stattdessen nun auch textlichvisuell Einheit und Kontinuität mit den Montefeltre (hier Feltrio) betont wurde. Offenbar konnte die Aufsteigerdynastie, die mit Sixtus IV. und Julius II. immerhin innerhalb weniger Jahrzehnte gleich zwei Päpste stellte, mit einer etablierten Familie wie den Este, deren Ahnenreihe

23 BIANCHI, 1904, S. 19: „Dall’ altra banda stavano due altre statue, l’una di Leonardo e l’altra di Giovanni amendue Prefetti di Roma di Casa della Rovere. Più abasso fra due colonne, nel nicchio a man destra era la statua del Duca Guido Baldo e nell’ altra, a man sinistra, il Duca Francesco Maria. Sotto la statua del Prencipe era un gran quadro figurato, quando Francesco Maria fu dissegnato cap.o Ge.rale della Crociata contro Turchi con questa iscrittione: Fran: Maria Pauli III Caroli Quinti et Reip: Venet: consensus in Turcos Imperator.“ 24 EbD., S. 19-20.

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ganz selbstverständlich an selbiger Stelle bis zu Mathilde von Canossa zurück verfolgbar war, nicht ausreichend Glanz verbreiten. Dieses deutlich auftretende Defizit an Kontinuität, das im Umkehrschluss zu einem Legitimitätsdefizit hätte wachsen können, sollte durch die dargestellte Einheit mit den Montefeltre ausgeglichen werden. War der Pool an besonders ranghohen Repräsentanten der eigenen Familie also scheinbar begrenzt, so bot die Darstellung des bereits erlangten dynastischen Glanzes – oftmals durch Schlachtenruhm – eine sicherere Möglichkeit, um den außergewöhnlichen Rang und Ruhm der Familienahnen bildlich darzustellen und diese als nützliche Zeichen zu verwenden. So waren im Inneren des Bogens ruhmreiche Schlachten der Della Rovere und Este gegenübergestellt. Während die Einnahme der Festung von Navarra durch Alfonso I. den Glanz der Este nähren sollte, stand dem gegenüber die Einnahme Pavias durch Francesco Maria Della Rovere im Krieg gegen Franz I. von Frankreich, darunter Bildunterschrift „Ticinum A Fran.co Maria Veneti exercitus impetu rore armis expugnatur“.25 Die parallele, gegenüberliegende Darstellung solchen Kriegsruhmes bot offensichtlich eine einfachere, weniger die Rang- und Altersunterschiede der Familien betonende Möglichkeit vergleichender und einheitlicher Darstellung. Dem regierenden Herzog Guidobaldo II. Della Rovere und seiner Frau Vittoria Farnese war ein eigener, direkt anschließender Doppelbogen gewidmet. Beiden war jeweils eine Allegorie zugeordnet: dem Herzog die Gerechtigkeit, der Herzogin die Frömmigkeit. In Bezug auf die Ausführungen zur dynastischen Repräsentation kommt im hier dargestellten Zusammenhang erneut dem unter der Reiterstatue des Herzogs angebrachten Schmucktext besondere Bedeutung zu, der die 1550 erfolgte Ernennung Guidobaldos zum Generalkapitän der Kirche durch Papst Julius III. hervorhob. 26 Ähnliche Wirkung sollte sicherlich 25 Ebd., S. 18: „Nell’ entrar dell’ arco a man destra, era dipinta la presa della Bastia, come appare dalle qui sotto scritte parole. Alphonsus p.s Bastiam a Navarro occupatam recuperate. All’ incontro a man sinistra era dipinta in un gran quadro la presa di Pavia, che fece il Duca Francesco Maria con queste parole […].“ 26 Ebd., S. 20: „Sopra la scrittura era una historia del Duca che piglia il Capitanato G.nale della chiesa di mano di un Principe, ch’ è figurato per Papa Giulio IIIo – Guido Vbaldo 2.o / Metaurensium Principi Magnificentiss.o fortiss.o magnanimo et optimo perpetuae pacis, et quei seculi restauratori Pisaur: quod eius impero, exemplo et auspiciis, privatae

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die kleine Darstellung des Schiffs der Argonauten entwickeln, eine Anspielung auf Guidobaldos II. Aufnahme in den Orden des Goldenen Vlieses durch König Philipp II. von Spanien (darunter das Motto „Aureus ad aureum“).27 Legt man auch bei den an diesem Bogen willkürlich als Beispiele herausgegriffenen Dekorationen den indexikalischen Zeichenbegriff als kausale Folge zugrunde, so könnten auch sie, wie in den Darstellungen des zuvor beschriebenen Bogens, auf die Nutzung der jeweils vorhandenen Mittel für die eigenen Geltungsbestrebungen gedeutet werden. Dieser Anspruch würde hier durch den militärischen Ruhm und Einfluss als Generalkapitän der Kirche ebenso wie durch die Darstellung der Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies durch den Spanischen König deutlich. Ähnlich wie in dem der Prinzessin und dem Prinzen gewidmeten Bogen war es also auch hier ein Amt, das sich für seinen Träger als derart repräsentativ erwies, dass es in der Darstellung eine prominente Position einnehmen sollte. Zusammenfassend ließe sich die Auswahl der verwendeten Zeichen und Darstellungen als Reaktion auf die Position der eigenen Dynastie zurückführen und kann im Vergleich mit dem den Este gewidmeten Triumphbogen als ein Hinweis auf die bestmögliche Verwendung der begrenzten Ressourcen einer fürstlichen Aufsteigerdynastie gedeutet werden. Liest man die vorgestellten Zeichen als Indizes, so treten folgende Punkte in den Vordergrund: 1. Der Anschluss an die Vorgängerdynastie der Montefeltre zeigt, dass die eigene Familientradition der Della Rovere nicht ausreichte, um die Familie gegenüber dem deutlich älteren Geschlecht der Este darzustellen. Folglich musste eine dynastische Kontinuität hergestellt werden, die eine Verräumlichung und Verzeitlichung der neuen Herrscher über ihre eigentliche Familientradition hinaus ermöglichte. 2. Im direkten Vergleich der beiden Bogenfronten wird deutlich, mit welchen Mitteln die Zeitgenossen auf den königlichen Glanz der Este reagieren konnten und mussten. Dass den königlichen Geschlechtern

pubblicaeque res opibus virtute, religion, splendoreque constructae, excultae et auctae fuerant erexere.“ 27 Ebd., S. 21: „Sotto l’ arco sta poi figurata la Nave Argonautica, alludendosi all‘ ordine del Tosone che porta S. Ecc.a col motto Aureus ad aureum.“

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der Valois und der d’Aragon lediglich die beiden ersten Familienmitglieder mit eigenem Territorialbesitz, Giovanni und Leonardo Della Rovere, gegenübergestellt werden konnten, verdeutlichte das legitimatorische Defizit der Herzöge von Urbino zusätzlich. Für die direkte Gegenüberstellung beider Familien, nämlich im Inneren des Bogens, wurden daher Schlachtenszenen gewählt, da hier nicht Rang und Person, sondern einzig der erlangte Ruhm im Vordergrund standen. Die Erklärung derselben Zeichen als Symbole würde die Frage nach ihrer Bedeutung hingegen darauf lenken, wofür die beschriebenen Festdekorationen standen. Davon ausgehend wäre der Schmuck der Triumphbögen nicht von demjenigen der gesamten Stadt zu trennen und zunächst als Ausdruck dynastischer Geltung per se zu deuten sein. Im Gegensatz zu der indexikalischen Lesart derselben Zeichen träte jedoch die Frage nach dem Grund der Auswahl spezifischer Topoi in den Hintergrund. Vordergründig ginge es dagegen um eine Kultur des Zeigens, der Verräumlichung der eigenen Herrschaft. Durch die Darstellung der Dynastie von ihren herrschaftlichen Anfängen an würde die bestehende politische Ordnung mit der Residenzstadt Pesaro visuell verbunden. Die Dynastie beherrscht geradezu das Bild, ohne dass dabei auf den Grund der Auswahl einzelner Personen oder die daraus resultierende Problematik eingegangen werden müsste. Desweiteren wäre die Dekoration in Form der feierlichen Darstellung der Herzogsfamilie eine Bestätigung der zugrundeliegenden Ordnung im Herzogtum. Hier wäre nun von einer sehr statischen Form der Repräsentation zu sprechen, da nur dasjenige dargestellt werden kann, was auch anerkannt ist oder aber anerkannt werden muss. Möglicher Widerstand gegen die Herrschaft der Della Rovere würde somit – symbolisch – durch die Performativität der dynastischen Repräsentation ausgeräumt werden. Dem Herzog böte sich also die Möglichkeit, durch das gleichzeitige Erscheinen auf bildlicher und realer Ebene geradezu absolute Präsenz in der Stadt zu zeigen, die dynastische Bühne also vollständig zu füllen. Solange die Bauten des Triumphzuges stehen, ist seine Präsenz zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten im Stadtbild gegeben, die Verbindung zwischen Herrscher und Untertanen wird somit zeit- und ortimmanent. Das Symbolhafte dieser Form der Repräsentation rückt nun folglich die Wirkung auf den Zeitgenossen, auf den Rezipienten des Festes, in den Vordergrund. Die Wahrnehmung der Zeichen durch die anwesen-

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den Individuen, über die aber heute nur spekuliert werden kann, tritt so in den Fokus. Als Symbol nehmen die vorgestellten Zeichen also eine statische Form der Machtrepräsentation und des Herrschaftsanspruchs ein, der Ursprung der Zeichenauswahl tritt dabei zunächst in den Hintergrund. Die Deutung derselben Zeichen als Indizes führt dagegen in eine andere Richtung: Mit der Konzentration auf Zeichen „von etwas“ wird der Zugang zum einzelnen Zeichen, weg von der Gesamtheit des verwendeten Pools, erleichtert. Im vorgestellten Beispiel eröffnet sich der Blick auf die Geltungsbedürfnisse sowie Defizite der Dynastie und kann somit dabei helfen, die Entscheidung über den Einsatz einzelner Zeichenelemente zu hinterfragen und nachzuvollziehen. Zugleich wird aber auch der enge Zusammenhang zwischen Symbol und Index deutlich. Letztlich zeigt sich, dass der Mehrwert an der Suche nach indexikalischen Zeichen in der Geschichtswissenschaft vor allem in der klaren Formulierung der Frage an die Zeichen selbst liegt. Methodisch führt die Suche nach Indizes zu weiteren Ebenen, auf denen schließlich auch nach der symbolhaften Ebene derselben Zeichen gefragt werden könnte. Die Grenze zwischen Index und Symbol ist somit fließend. Als fruchtbar erweist sich das Herangehen vor allem, weil es eine methodisch saubere Möglichkeit bietet, eine Quelle auch aus einer anderen Perspektive zu lesen und somit Nuancen in den Blick zu nehmen, die anders in den Hintergrund treten würden. Maßgeblich für die Suche nach einem bestimmen Zeichentypus bleiben jedoch der historische Kontext und die aus dem Forschungsinteresse resultierende Fragestellung. Letztlich bleiben es letztere Faktoren, die die Forschungsmethode bestimmen müssen, die Typologie von Zeichen erscheint dagegen sekundär.

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Hypothetische Rekonstruktion des Triumphbogens des Prinzen und der Prinzessin von Urbino: I: Front der Familie d’Este: A: Statue der Prinzessin Lucrezia d’Este a: Motto Nova lux oculis effulsit B. Ludwig XII. von Frankreich C. Ercole I. d’Este D. Ferdinando d’Aragon E. Alfonso I. d’Este F. Ercole II. d’Este G. Alfonso II. d’Este

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H. Darstellung Matilde d’Estes (Mathilde von Canossa) im Kampf gegen Heinrich III./IV. h: Schriftband II. Front der Familie Della Rovere A: Francesco Maria II. Della Rovere a: Motto Tu decus omne tuis B. Federico da Montefeltro C. Guidobaldo da Montefeltro D. Giovanni Della Rovere E. Leonardo Della Rovere F. Francesco Maria Della Rovere G. Guidobaldo II. Della Rovere H. Darstellung Francesco Maria Della Roveres als General der Hl. Liga h. Schriftband

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Auf den Spuren der Französischen Religionskriege Der Topos einer katholischen Verschw örung in reformierter Propaganda als auto referentieller Denkrahmen ALEXANDRA SCHÄFER

Semiotischer Rahmen und Verschw örungstopos in der Propaganda der Französischen Reli gionskri ege

„Vnd huben ihre F.G. also an nach einan=||der zuerzehlen / was für ein rathschlag zu Baiona || vorgenommen vnd beschlossen/was da für ein ver=||büntnus vnter etlichen den ho echsten Potentatē || der gantzen Christenheit gemacht/die reformirte || Religion in grund vnd boden außzurotten vnd || zuuertilgen/sampt allen denen / so sich darzu be=||kenneten“.1 1

CHASTELLIER, HONORAT DE, Des Printzen võ Con||de gesanten Herrn Honorat vonn || Chastellirs bericht/ des jtzigen in Franckreich abermals || entstandenẽ kriegs/ So er dem Durchleuchtigstẽ Hoch=||gebornen Fürsten

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Alexandra Schäfer

In diesem gedruckt erschienenen Bericht propagierte ein französischer, reformierter Gesandter am Kurpfälzer Hof, dass eine katholische Verschwörung zur Vernichtung der Reformierten fest beschlossen sei. Dieser Topos der Verschwörung des konfessionellen Gegners zur Ausrottung der eigenen Glaubensgemeinschaft war äußerst wirkmächtig. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie, in der Propaganda (hier v.a. Flugpublizistik) der Französischen Religionskriege fassbar, Selbst- und Fremdbild Einfluss auf die Bildung dieses Gemeinplatzes genommen haben.2 Als Untersuchungsraum wurde die Kurpfalz aufgrund der außerordentlichen, auch publizistischen, Beteiligung an den Französischen Religionskriegen gewählt. 3 Dabei dient als

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vnd Herrn/ Herrn Friderichen Pfaltz=||grauen bey Rhein/ des heiligen Roemischen Reichs Ertz=||truchsessen vñ Churfürtstẽ/ Hertzogẽ in Bayrn [et]c in per=||sonlicher gegẽwert der Koeniglichen würde in Franckreich || gesanten/ Herrn vonn Lansacs/ erstlich müntlich || gethan/ vnd hernacher jhren Churfürstli=||chen Gnaden in schrifftẽ/ auff gene=||digst erforderẽ, vbergeben/ den || 4. Decembris Anno || 1567.|| Ausz Franzoesischer sprach || trewlich verteutschet.||, Heidelberg: [Martin Agricola] 1568 (VD16 C 2076, Ex. BSB Res/4 Gall.g 24, auf: http://nbn-resolving.de/urn:nbn: de:bvb:12-bsb00024396-5, 20.06.2010), S. 43 (Seitenzählung folgt der des Digitalisats VD16 C 2076, Ex. BSB Res/4 Gall.g 24). Zu den Grundzügen der hier explizierten These, siehe: WOLGAST, 1998, S. 66, erneut: WOLGAST, 2007, S. 178 u. 183; mit weiteren Ausführungen und Beispielen, jedoch mit aufgrund des hier gewählten semiotischen Ansatzes anderen Gewichtungen: ZWIERLEIN, 2006. In Heidelberg wurden die offiziellen Schreiben (Edikte, Rechtfertigungen...) beider Seiten, die theologischen Debatten und die katholischen Gewalttaten und Übergriffe innerhalb der Religionskriege intensiv rezipiert und in Druck ausgegeben. Siehe z.B. zu Poissy: BÈZE, THÉODORE DE, Oration des Edlen vnd || Hochgelaerten Herren Theodori von Be||za/ Dieners des Wort Gottes/ das angefangen Gespraech in || Franckreich von Religions sachen belangend/|| Welche er ... || gehabt hat auff Dienstag || den neuendten Septembris/ Anno 1561. in einem || Frawencloster die Poissy genant.|| ... jetzo aber auß Fran=||tzoesischer sprach ins Teutsch || verdolmetschet.||, Heidelberg: Lucius, Ludwig aus der Wetterau, 1562 (VD16 ZV 1456; Ex. von 1561: VD16 B 2524). Zu den Massakern von Vassy und von Sens ANONYM, Kurtzer bericht der || Greülichen wuetereien || vñ niderlag/ so der Hertzog von Guise/ sampt || den seinẽ in der stat Vassy wider die frõmen || Christen begangen den ersten Martij/|| Anno M. D. Lxij.||, Heidelberg: Lucius, Ludwig aus der Wetterau, 1562 (VD16 K 2720) und ANONYM, HISTORIA.|| Wie iaemerlich vnd er=||baermlich die armen Christen der Reformier||ten Euangelischen Kirchen zů Sens/ auß || haimlichen practicken des Cardinals von || Guise/ Ertzbischoffen daselbst/ ṽmbracht/||

Auf den Spuren der Französischen Religionskriege

Grundannahme, dass der mehrschichtige Topos nicht nur das zugewiesene Fremdbild vom konfessionellen Gegner anzuzeigen vermag, sondern vor allem eine Selbstoffenbarung enthält. Dazu wird zunächst der Gemeinplatz der calvinistisch-reformierten4 Propaganda einer katholischen omnipräsenten Verschwörung zu ihrer Ausrottung anhand einiger Beispiele vorgeführt. Danach soll mit einem semiotischen Zeichenbegriff nach Søren Kjørup5 in zwei Schritten gearbeitet werden: der als Zeichen verstandene vorgestellte Verschwörungs-Topos wird auf Erkenntnismöglichkeiten, zum einen mit einem konventionell-kommunikativen sowie zum anderen mit einem indexikalischen Zeichenbegriff, befragt werden. Dabei sollen unterschiedliche Lesarten des Untersuchungsgegenstandes, welche sich aus dem verwandten Zeichenbegriff ergeben, herausgearbeitet werden. Unter Zeichen wird hier, wie es dem allgemeinen semiologischen Sprachgebrauch entspricht, ein bedeutungstragendes Element innerhalb eines Systems verstanden, das zwei Seiten hat: Ausdruck und Inhalt. 6 In einem kommunikativen semiotischen Verständnis steht das Zeichen für etwas (anderes), das innerhalb eines Systems (z.B. Sprache) mit einem auf das Wissen um den Begriff des Zeichens gerichteten Erkenntnisinteresse untersucht wird. Der indexikalische Zeichenbegriff versteht das Zeichen als Symptom von etwas (zu dem es selbst gehört). Dabei liegt das Erkenntnisinteresse auf der Wirklichkeit, der das Zeichen zugehört.7 Anders als konventionelle Zeichen, welche erzeugt werden, um menschliche Kommunikation zu vermitteln, existieren indexikalische Zeichen bereits mit ihren Spuren und Eigenschaften, welche als Indexe (‚Anzeiger‘) erforscht werden können. 8

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geschmaecht/ vnd verhergt wor=||den sind.||, Heidelberg: Lucius, Ludwig aus der Wetterau, 1562 (VD16 H 3964). Zur Entwicklung der Reformation(en) in der Kurpfalz und dem von unterschiedlichen reformierten Richtungen (v.a. calvinistisch und zwinglianisch) geprägten Charakter des kurpfälzisch-reformierten Bekenntnisses siehe: z.B. SCHAAB, 1993, S. 34-96; SCHEIBLE, 1997, S. 182-189; PRESS, 1970, v.a. S. 221-266. Vgl. KJØRUP, 2009. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 7-9. Vgl. ebd., S. 46.

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Der Topos ei ner kat holischen Verschw örung in der kurpf älzischen Propaganda In den Französischen Religionskriegen9 standen sich in den Konflikten zwischen 1562 und 1598 Hugenotten, Katholiken und teilweise die Politiques als dritte ‚Partei‘ gegenüber, welche von einer intensiven, meist propagandistischen Interessen dienenden Publikationstätigkeit begleitet wurden. Öffentlichkeitswirksam tauchte bereits in den Jahren vor Ausbruch der Französischen Religionskriege in reformierten Publikationen das Motiv einer übergreifenden katholischen Verschwörung mit Plänen zur Ausrottung der Reformierten auf.10 Mit dem regen Brief- und Gesandtenverkehr in den ersten Jahren der Religionskriege war die Position der französischen Reformierten um den Prinzen Ludwig I. von Condé prominent am Heidelberger Hof vertreten.11 1567 erschien in Heidelberg die oben bereits zitierte Druckschrift, die eine ausführliche Einschätzung des Gesandten des Prinzen von Condé, Heinrich von La Tour d’Auvergne (Enkel des Connétable Anne de Montmorency), zu der Situation in Frankreich unter dem Titel Des Printzen võ Con||de gesanten Herrn Honorat vonn || Chastellirs bericht12 enthielt. Mit Entschiedenheit formulierte La Tour den Gedanken einer Verschwörung zur Ausrottung der Reformierten: 9

Da dieser Aufsatz gerade für die Wirkmächtigkeit der Konfession (nicht aber als alleinigen Faktor) nicht nur als Propagandalinie, sondern auch als entscheidender handlungsleitender Denkrahmen argumentiert, erscheint die Bezeichnung ‚Religionskriege‘ (bzw. Konfessionskriege) – statt Bürgerkriege – für die Konflikte in Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als angemessen. 10 Seit der Publikation des Edikts von Ecouen (2. Juni 1559) wurde „über eine große internationale Koalition zur Vernichtung des Protestantismus“ spekuliert (WIRSCHING, 1986, S. 340). Entsprechende Ängste wurden auch angesichts der Gründung des sogenannten ‚Triumvirats‘ (April 1561) laut (vgl. SUTHERLAND, 1973, S. 45). 11 Vgl. MARTIN, 2008, S. 17-18; BABEL, 2005, S. 57; zur Bedeutung des konfessionell ausgerichteten Kommunikationsnetzwerks der Kurpfalz Ende des 16. Jahrhunderts als (außen-)politischer Faktor: WOLF, 2005, S. 209226. 12 Volltitel unter Anm. 1; zu Hintergründen der Schrift, siehe: KLUCKHOHN, 1868, S. 3/151-51/199, auf: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/ resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10619562-4, 20.06.2010, hier: S. 12/160-18/166. Der Schrift La Tours sind weitere Schriften beigebunden.

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Auf den Spuren der Französischen Religionskriege „Vnd das die || eusserste thorheit/ vnd ein anzeig ist eines verker=||ten sinns / sie begeren vnd nemen rath vonn den || hoechsten feinden der Koen. Ma. vnnd der Kron || Franckreich / Mit solchen haben sie ire geheimste || verstendtnussen/ machen schendliche vnnd sched=||liche Coniuration vnd bündtnus mit inen / auff || dass sie außtilgen vnd verderben den mehren vnd || besten theil der Ritterschaft inn gantz Franck=||reich/ (welches doch die schoenste bluem der Koe=||niglichen Kron/ vnd die groeste sterck ist des gan=||tzen Koenigreichs ) vnnd dann auch ein vnzeliche || menge der besten vnterthanen/vnd dienern/so ir || Koen. M. haben.“13

Im Verlauf seines Bericht nannte La Tour auch Namen von Verschwörern oder Ereignisse, welche er diesen großangelegten Ausrottungsplänen zuschlug. Von diesen fortlaufenden Anschuldigungen seien hier einige prominente Beispiele herausgegriffen: Laut La Tour versuchten der spanische König Philipp II. und der Papst, erst Pius IV., dann Pius V., in Zusammenarbeit mit dem Bischof von Rennes und weiteren katholischen Adligen bei Hof den offenen Konflikt der Konfessionsparteien zu befördern.14 Die eigentliche große Verschwörung katholischer Fürsten zu einem gegen die Reformierten gerichteten Ausrottungsbündnis sah La Tour allerdings in dem Treffen von Bayonne (15. Juni bis 2. Juli 1565),15 das 13 CHASTELLIER, 1568, S. 25. 14 Vgl. Ebd., S. 13-17, auch S. 21; La Tour nahm den jungen Karl IX. von direkter Kritik aus, vielmehr sei er listig verführt worden und kein Mitverschwörer. Daneben stellte La Tour jedoch die fehlende Unterstützung bei Hofe, auch durch die Königinmutter, sehr deutlich heraus (vgl. CHASTELLIER, 1568, z.B. S. 10-11 und S. 22, auch S. 32-33, S. 35, S. 3941, S. 47-48, S. 65 und S. 79). Erst im letzten Teil der Schrift, der nicht mehr La Tours Bericht selbst zuzurechnen ist, wurde Karl IX. als Verräter an den Reformierten benannt. Aus den Handlungen Karls IX. könne, ja müsse jeder schließen, „dass solcher krieg fürnem=||lich vnd einig vmb die außrottung vnser wahren || Christlichen Religion vnd bestetigung der Paep=||stlichen / die der Koenig vnd sonst kein an=||derer in seinem Koenigreich halten wil / || zuthun ist“ (CHASTELLIER, 1568, S. 90). 15 Vgl. Ebd., S. 41ff.; vom 15. Juni bis 2. Juli 1565 waren die Gemahlin des spanischen Königs Philipps II., Elisabeth von Valois, in Begleitung des Herzogs von Alba, und ihr Bruder, der französische König Karl IX., gemeinsam mit seiner Mutter Katharina von Medici, nach Bayonne zu einem Treffen angereist, bei dem die gemeinsamen Beziehungen verhandelt wur-

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er propagandawirksam mit dem Topos einer katholischen Verschwörung verband. Als Referenz für seinen Bericht führte La Tour den Fürsten von La-Roche-sur-Yon an, der als Teilnehmer der Reise nach Bayonne über vertrauenswürdiges Detailwissen verfügt habe, welches er angeblich auf dem Totenbett Admiral Coligny als Warnung über einen Diener zukommen ließ. Es sei „ein ver=||büntnus vnter etlichen den hoechsten Potentatē || der gantzen Christenheit gemacht/die reformirte || Religion in grund vnd boden außzurotten vnd || zuuertilgen“,16 wofür auch der Papst gewonnen wurde. 17 Es soll „der Koenig || zu Hispanien / als der vornemste beschützer || vnnd beschirmer der Roemischen Kirchen/das Oberhaupt sein dieser Conspiration“.18 Als Strippenzieher im Hintergrund wurde auch der Kardinal von Lothringen genannt, dessen „heimliche rathschlege vnd pra=||cticken mit etlichen frembden Potentaten“ den Vernichtungszug gegen die Reformierten beförderten, nicht nur in Frankreich, sondern auch bei „anderer Christli=||chen Euangelischen Potentaten vnnd Stendt“. 19 Mit diesen schrittweise auf die benachbarten Reiche ausgreifenden Unterdrükkungsmaßnahmen als Teil eines groß angelegten Ausrottungsplans ließ man die Kulisse einer katholischen omnipräsenten Gefahr entstehen.20

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den (vgl. NORDMAN, 1984, S. 90). Bei La Tour bleibt unklar, wer auf katholischer Seite federführend in Bayonne gewesen sein soll. Um seine postulierte Loyalität gegenüber dem König und seine Glaubwürdigkeit als reformierter Vertreter zusammenbringen zu können, lässt er Karl IX. als Opfer von Manipulationen einiger ungenannter Adligen bei Hof erscheinen und weist auch der Königinmutter keine aktive Rolle zu (vgl. Ebd., 1568, S. 46-47). Ebd., S. 43. Vgl. Ebd., S. 42-45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 59. Vgl. KLUCKHOHN, 1868, S. 6/154; ZWIERLEIN, 2006, S. 656-657; auch innerfranzösische Ereignisse wurden häufig (unabhängig von Bayonne) als Ergebnisse von heimlichen, verschwörerischen Praktiken der Katholiken dargestellt (z.B. ANONYM, Vrkund vnd anzaig || Des Hertzogen von || Orleans der K.W. in Franckreich Herr brů=||dern/ die Conspiration belangend der Hertzo||gen von Nemours vnd Guise/ so jnen haim=||licher weis auß Franckreich haben || woellen hinweg fueren.||, Heidelberg: Lucius, Ludwig aus der Wetterau, 1562 (VD16 U 241, Ex. BSB, Sign. Res/4 Gall.g. 279, Beibd.7, auf: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00025190-7, 20.06.2010)). Dabei trat häufig der paradoxe Charakter dieser ‚Berichte‘ zutage, die bis ins Kleinste gehende Details von den im Verborgenen ab-

Auf den Spuren der Französischen Religionskriege

Dabei diente die Situation in den Niederlanden als düstere Zukunftsprognose für die Reformierten, da dort die Unterdrückung – nach reformierter Interpretation – am weitesten fortgeschritten war. ‚Beweise‘ fand La Tour dafür in der gewaltsamen Beseitigung der dortigen reformierten Führung und der Errichtung einer absoluten katholischen Kontrolle der Konfessions- und Lebensverhältnisse durch den neu eingeführten Conseil des Troubles, den er als Implementierung der spanischen Inquisition in den Niederlanden interpretierte. Darin sah La Tour die erste Umsetzung der Beschlüsse von Bayonne und die nächste Stufe der Unterdrückung, welche die Reformierten in Frankreich erwartete.21 Diese müssten sich warnend vor Augen halten, dass sobald „die Religion aus dem Nider=||land vertriben würde/es vns darnach auch wür=||de geltē“.22 Auch für Frankreich bestünden bereits Pläne für die Einführung der Inquisition, war sich La Tour sicher.23 Mit gleicher Deutlichkeit hatte die kurz zuvor erschienene Flugschrift Drey Bapstumb/|| Das ist || Ein verklerung vilfeltiger || listiger vnd boeser Practicken/ antreffende || die Jnquisition vnd Obseruation der Blůtgirigen Placa=||ten vom Cardinale Granduella vnd seinem anhang erfunden/ auff das er || vber Keyser/ künig ... vñ alle weltliche per=||sonen herrschen moechte24 (1566) von Wilhelm Klebitz25 den

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laufenden Besprechungen zu kennen vorgaben. So auch bei La Tour zu der Verschwörung zur Beseitigung der reformierten Führer Admiral Gaspard II. von Coligny und François von Coligny-Andelot (vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 29-32). Für die ‚Bayonne-Verschwörung‘ dagegen hob sich La Tours Bericht glaubwürdig von umlaufenden Gerüchten ab, indem er die Provenienz seiner Information nachvollziehbar nachzeichnete. Vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 46, auch S. 67-69; Cornel Zwierlein mutmaßt, dass die Anspielungen auf die spanische Inquisition bei La Tour erst über den Drucker Michael Schirat, der 1567 in Heidelberg eine lateinische Fassung der Sanctae Inquisitionis Hispanicae Artes aliquot detectae von Raimundo González de Montes herausgebracht hatte und der französischreformierten Gemeinde in Heidelberg angehörte, ins Werk von La Tour gelangt sein könnten. Doch da die französische Originalfassung von dem Bericht von La Tour fehlt, ist dies nicht zu klären (vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 657). Ebd., S. 46; nach La Tour arbeiteten die Katholiken in Frankreich beim König darauf hin, dass er sich das spanische Vorgehen in den Niederlanden zum handlungsleitenden Beispiel nehme (vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 46). Vgl. Ebd., S. 78. KLEBITZ, WILHELM [Bearb.]: Drey Bapstumb/|| Das ist || Ein verklerung vilfeltiger || listiger vnd boeser Practicken/ antreffende || die Jnquisition

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Vorwurf einer katholischen Verschwörung zur Ausrottung der Reformierten erhoben. Hier wurden als katholische Verschwörer und vermeintliche Urheber von verschärften Verfolgungen in ganz Europa, vor allem aber den Niederlanden, Papst Pius IV., Kardinal Karl von Lothringen sowie Kardinal Antoine Perrenot von Granvelle ausgemacht.26 In ganz ähnlichem Duktus warnte die 1568 anonym erschienene Schrift Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht/ von der Ba ep=||stischen Conspiration vnd Buendtnuß/ auch || derselbigen jetzigen Kriegsexpedition in Franck=||rych [...] 27, dass eine „Conspiration || vñ bündtnuß so zwischen dem Bapst zu Rom/dem Koenig zu Hispanien/auch || Franckrych vnnd anderm ihrem anhang kurtz verruckter zeit zur vßrũtung vnd || vertilgung der wahren Christlichen Religion [...] zu Ba=||iona“ geschlossen worden sei. 28

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vnd Obseruation der Blůtgirigen Placa=||ten vom Cardinale Granduella vnd seinem anhang erfunden/ auff das er || vber Keyser/ künig ... vñ alle weltliche per=||sonen herrschen moechte ... || Wider welchen Tyrannischen fürnemen/|| die Herrn vom Adel vñ Stetten des Niderlands ... || opponiert haben.|| Auß Niderlendischer sprach newlich in vnser || Hochteutsch vertiert/ Durch || Wilhelmum Klepitium Brennopolitanum.||, Straßburg 1566 (VD16 D 2673, Ex. BSB, 4 H Ref. 769, Beibd. 1, auf: http://www.mdznbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10160862-6, 20.06.2010). Der zwinglianisch-reformierte Wilhelm Klebitz brachte durch den Abendmahlsstreit mit dem lutherisch-evangelischen Generalsuperintendenten Tilemann Heßhus die zwinglisch-calvinistische Reformation der Kurpfalz auf den Weg (vgl. SCHAAB, 1992, S. 38-39; KLUCKHOHN, 1879, S. 5152). Vgl. KLEBITZ, 1566, u.a. S. 3 (Seitenzählung folgt der des Digitalisats VD16 D 2673, Ex. BSB, 4 H Ref. 769, Beibd. 1). ANONYM, Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht/ von der Baep=||stischen Conspiration vnd Buendtnuß/ auch || derselbigen jetzigen Kriegsexpedition in Franck=||rych vnd Brabandt sampt de=||ren vrsachen.|| ... in Tũtsche sprach vertolmet=||schet/ vnd zum nüwen jar geschenckt/ etc.|| ... ||, s.l. : 1568. (VD16 K 2812, Ex. BSB, Sign. Res/4 Gall.g. 39, Beibd.13, auf: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00026415-7, 20.06.2010; weitere Auflagen: VD16 K 2813, ZV 19417, ZV 9309). Wie aus dem Titel hervorgeht, war die Schrift zum Verteilen an Söldner gedacht. Kurtzer warhaffter, 1568, S. 3 (Seitenzählung folgt der des Digitalisats VD16 K 2812, Ex. BSB, Sign. Res/4 Gall.g. 39, Beibd.13). Viele der bei La Tour genannten Aspekte finden sich auch in Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht wieder: von der Omnipräsenz der Gefahr über die Einbeziehung aktueller Ereignisse in einen (vermeintlichen) katholischen

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Die beiden argumentativen Stränge einer katholischen Verschwörung und einer Ausrottungspolitik hatten sich spätestens 1565 mit dem Treffen von Bayonne zum Topos einer katholischen Verschwörung zur Ausrottung der Reformierten verbunden und wurden zum immer wiederkehrenden Motiv der reformierten-kurpfälzischen Propaganda.29 Das Jahrzehnt nach 1564 war die intensivste Zeit französisch-kurpfälzischer Beziehungen, was sich in der ausgeprägten Propaganda für die ‚Religionsverwandten‘ spiegelt. Nach dem lutherischen Intermezzo unter Ludwig VI. lebte mit der erneuten Einführung des Calvinismus in der Pfalz ab Mitte der 1580er Jahre die – von einer umfangreichen Publikationstätigkeit begleitete – ‚besondere Beziehung‘ noch einmal auf.30 Die zahlreichen reformierten Warnungen vor katholischen Ausrottungsplänen schienen mit den Ereignissen der Bartholomäusnacht (23./24. August 1572 und folgende Tage in Paris; bis Oktober in den Provinzen) ihre Bestätigung zu erhalten. Auch hier wurde der Konnex des Verschwörungs-Topos mit dem Treffen in Bayonne aufgegriffen, denn als Teil der langfristigen Planung soll angeblich auch bereits die Gesamtplan bis zu der zeitlichen Abfolge der stufenweisen Unterdrückung, bei der das Reich an letzter Stelle kommen sollte. Auch hier wurde Karl IX. als zunächst von falschen Beratern ‚Irregeleiteter‘ dargestellt, vor allem durch den Kriegstreiber Kardinal von Lothringen, bevor der französische König als Mitverschworener im katholischen Konspirationsbündnis erkannt wurde. Neben den französischen Protagonisten wurden Philipp II., Papst Pius V. und der Herzog von Alba genannt (vgl. Kurtzer warhaffter, 1568, S. 4-5). 29 Vgl. WOLGAST, 2007, S. 178; bei Kluckhohn finden sich weitere Schriften, die den Mythos der ‚Bayonne-Verschwörung‘ nährten (KLUCKHOHN, 1868, S. 3/151-4/152, Anm. 1). 30 Vgl. MARTIN, 2008, S. 16; BABEL, 2005, S. 61-63; zu der kurpfälzischen Frankreichpolitik 1562-1576 (im Verbund mit den protestantischen Reichsfürsten), siehe: EDEL, 1997, S. 307-317; vgl. hierzu den intensiven Briefund Gesandtenverkehr zwischen hugenottischer Führung und Johann Casimir: BEZOLD, 1882-1903. Die kirchenpolitischen Umstrukturierungen des lutherischen Ludwig VI. versuchte Johann Casimir als Administrator zurückzunehmen und ließ seinen Neffen Friedrich IV. im kurpfälzischreformierten Sinn erziehen (vgl. SCHEIBLE, 1997, S. 187-189; KUHN, 1959, S. 85; SCHAAB, 1992, S. 51-60). Johann Casimirs Fürstentum PfalzLautern hatte in der Zwischenphase der Re-Lutherisierung als Zufluchtsort für die pfälzischen Reformierten Kontinuität geboten (vgl. PRESS, 1970, S. 320).

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Bartholomäusnacht beschlossen worden sein.31 In der Folge fand der Topos einer katholischen Generalverschwörung eine deutliche Zuspitzung, wie die Flugschrift Pasquillus/|| Das ist/ Erklerung des || Sendbrieffs/ so Sathan/ aus der || Hellen der Schwartze/ an Carolum/ den neund=||ten/ Koenig in Franckreich (1572)32 zeigt. Hierin ließ der anonyme Verfasser den Teufel sein Bündnis mit König Karl IX., dem Herzog von Anjou, der Königinmutter Katharina von Medici und dem Kardinal von Lothringen bestätigen, das noch um den Herzog von Alba in den Niederlanden, König Philipp II. in Spanien, Papst Gregor XIII. in Italien und den Herzog von Savoyen Emanuel Philibert erweitert wurde.33 Ein Bündnis von Papst, französischem und spanischem König mit dem Ziel der Ausrottung der Protestanten behauptete auch die Flugschrift Des Cardinals von || Lotthringen Ro emische prack||ticken34 von

31 Vgl. JOUANNA, 1998, S. 137; zur Rezeption von Bayonne im Reich: HANDSCHUHER, 2000, S. 55-59. Für die argumentative zeitgenössische Rückführung der Bartholomäusnacht auf Planungen in Bayonne siehe auch: KLUCKHOHN, 1868, S. 3/151-4/152, Anm. 1. 32 ANONYM, Pasquillus/|| Das ist/ Erklerung des || Sendbrieffs/ so Sathan/ aus der || Hellen der Schwartze/ an Carolum/ den neund=||ten/ Koenig in Franckreich/ darinnen jrer Maye=||stat voran sampt der Bapsts/ Duca de Alba/|| vnd deren gantzer Anhang/ auffs hoecheste verma||net werden/ in jrem angefangen Mord vnd || Blutduerstigen Anschlegen/ wider die || Christen Ritterlich fortzů=||fahren.|| s.l.: 1572 (VD16 ZV 12193, Ex. Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 6 in: 8 SAT I,5517). 33 Vgl. Pasquillus/||, 1572; vgl. auch: ZWIERLEIN, 2006, S. 731-732; ein Nachdruck von 1573 (Ex. JALB Emden, Philos. 8° 1289 (8)), wohl in Bern bei Benedikt Ulman/Vincenz im Hof gedruckt, zeigt auf dem Titel einen Holzschnitt mit der Hydra, die Papst-, Türken- und Engelskopf trägt. Damit wurde auf den ersten Blick die (vermeintlich) verschworene Gemeinschaft der katholischen Potentaten als Bündnis des Antichristen angezeigt (vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 731). 34 GOTTFRIED, CHRISTIAN [Bearb.], Des Cardinals von || Lotthringen Roemische prack||ticken/ von den Ketzern in || Deudschland aus zu=||rotten.|| Dem Frantzoesischen Legaten || in Polen mitgetheilet.|| Aus des Cardinals || Eigen Handschriefft auffge=||fasset ... || Aus einem gedrucktem || Lateinischen Exemplar || trewlich Ver=||deudschet.|| Durch || Christianum Gottfrieden.||, s.l. 1573 (VD16 ZV 2936, Ex. ULB Sachsen Anhalt, Halle Vg 1687 a, auf: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-107576, 20.06.2010). Hier wurde vom engeren Kreis der Reformierten auf den der protestantischen ‚Glaubensgenossen‘ erweitert. Situativ erscheinen lutheri-

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1573. Als schrittweise Umsetzung der ausgreifenden katholischen Unterdrückung wurden das Vorgehen Albas in den Niederlanden und die Bartholomäusnacht in Frankreich genannt, welche das Ziel habe, dass „die Ketzer allenthalben auß=||gerottet“ werden – auch im Reich.35 Die hier angeführten Beispiele haben gezeigt, wie in reformierter Flugpublizistik das Motiv einer übergreifenden katholischen Verschwörung zur Ausrottung der Reformierten Verwendung fand, um zeitgenössische Ereignisgeschichte als kausale Abfolge innerhalb eines konfessionell bestimmten Deutungsrahmens zu verorten.

Wirkmächtige Propaganda: Der Verschw örungs -Topos mit einem konventionellen Zei chenbegriff betrachtet Betrachtet man sich Zeugnisse der Zeit mit einer vom konventionellen Zeichenbegriff geprägten Semiotik, werden Quellen als intentional Gesetztes mit appellativer Funktion verstanden, die auf eine bestimmte Rezipientenwirkung hin ausgerichtet ist, d.h. das Frageinteresse liegt auf den Zuweisungen (Fremdbild) und Aussageabsichten (Selbstbild) des ‚Zeichensetzenden‘. Um den Aufbau einer katholischen Gefahrenkulisse vermitteln zu können, musste das Dargestellte – zeitgenössisch verfügbaren Weltdeutungshorizonten folgend – zumindest wahrscheinlich und glaubwürdig erscheinen. In diesem Sinne von Authentizitätserzeugung wurden nicht nur abstrakte Vorwürfe gegenüber dem Papsttum erhoben, sondern konkrete Nachrichten von tagesaktuellem Geschehen in die Propaganda eingebunden, was eine nachprüfbare Beweisfunktion hatte. 36 So schrieb Kurfürst Friedrich III. am 26. Januar 1566 an Herzog Christoph von Württemberg, dass er „aus täglicher erfarung“ heraus feststellen könne, dass die katholische Konspiration immer weiter anwachse.37 sche Fürsten als Mitbetroffene der Ausrottungsmaßnahmen oder als Dulder bzw. gar Helfer der Politik der ‚katholischen Verschworenen‘. 35 GOTTFRIED, 1573, S. 6-7, Zitat S. 7 (Seitenzählung folgt der des Digitalisats VD16 ZV 2936, Ex. ULB Sachsen Anhalt, Halle Vg 1687 a). 36 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, 663-664. 37 KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 1, S. 633.

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Auf den verfügbaren Nachrichtenhorizont zur Glaubwürdigkeitsnachprüfung spielte auch La Tour in seinem Bericht an: „Vnd haben solche leuth sich dermassen an dß || lügen gewenet / dass sie auch bey E. C. G. vnnd || anderen Fu ersten Teutscher Nation jhre lügen || vnd falsche aufflagen/ so freuendtlich vnd vnver=||schamt außzugiessen sich nit schemen / gleich als || wüsten E. C. G. gar nichts/ was in Franckreich || gehandelt würde/ vnd als ob Teutschlandt von Franckreich weit vber Meer jenseit der Moluckē || oder vmb Magellan her gelegen were.“38

Dank regelmäßiger und weitreichender „Zeytungsstreuung“ waren berichtende, ungedeutete oder aber zumindest plurale Nachrichten von Ereignissen zugängig, so dass die reformierten Propagandawerke durch ihren Rückgriff auf Zeitgeschichte ,realistisch‘ erscheinende Deutungen der (konfessions-)politischen Verhältnisse boten.39 In seinem Bericht setzte La Tour etwa stillschweigend Kenntnisse über die Ereignisse und Ereigniszusammenhänge zumindest in Frankreich voraus. 40 Auch das Herausstellen einer neutralen Berichtshaltung 41 sowie zuverlässiger Informationsquellen42 spielten hier eine wichtige Rolle, um den persuasiv-appellativen Zweck nicht zu verfehlen (Handlungsbereitschaft erzeugen, Zusammenhalt stärken, Identitätsstiftung ...). In Des Cardinals von || Lotthringen Roemische prack||ticken wurde zur Erzeugung von Authentizität zu dem stilistischen Kniff gegriffen, die Flugschrift als einen abgefangenen Brief des Kardinals von Lothringen an

38 CHASTELLIER, 1568, S. 79, ähnlich auch S. 80. 39 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 663-664. 40 Dies lässt sich gut an den ‚Leerstellen‘ in der Darstellung (vermeintlicher) katholischer Pläne, die Hugenottenführer Gaspard II. von Coligny und François von Coligny-Andelot zu ermorden, erkennen (vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 29-32). Angeblich bestanden Pläne von Seiten des Hauses GuiseLothringen, Coligny in Selbstjustiz zu bestrafen, nachdem im Königlichen Rat (13. Januar 1566) entschieden worden war, dass der Admiral nicht für den Mord an Franz von Guise (Attentat durch Poltrot: 18. Februar 1563, Tod: 24. Februar) zur Rechenschaft zu ziehen sei (BOUCHER, 1998, S. 957958). Auf diesen Ratschluss spielte La Tour ebenfalls en passant an (vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 61-62). 41 Z.B. CHASTELLIER, 1568, S. 8-9. 42 Z.B. Ebd., S. 45.

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die französischen Gesandten in Polen, welche die Wahl Heinrichs von Anjou zum polnischen König betreiben sollten, zu gestalten. 43 Daneben wurde auch versucht, dem Leser die zwingende Logik und Nachvollziehbarkeit der Urteile des Verfassers durch rhetorische ‚Kniffe‘ als seine eigenen Schlussfolgerungen darzulegen. 44 Eine Ausnahme stellt der Pasquillus dar, der sich weniger um einen seriös-glaubwürdigen Auftritt bemühte, sondern mit der originellen Idee spielte, der Teufel selbst wende sich direkt aus der Hölle an den Bündnispartner Karl IX., den er für seine gelungene Politik beglückwünsche. Dass in Bayonne (15. Juni-2. Juli 1565) katholische Potentaten zusammengekommen waren, war unzweifelhaft den Nachrichten wie Relationen und Zeytungen zu entnehmen. Auch auf Sachebene durchaus unstrittig ist, dass im Spätsommer 1566 spanische Truppen nach Flandern gezogen wurden und im Frühjahr 1567 Katharina von Medici die Schweizer Garden verstärken ließ und Aushebungen französischer Soldaten eingeleitet wurden. Ebensowenig konnte bestritten werden, dass in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 ein großes Massaker in Paris losgebrochen war, dem in den folgenden Tagen in Paris und dann noch Wochen später in den Provinzen mehrere tausend Hugenotten zum Opfer fielen.45 Während also die Bezugnahme auf konkrete Ereignisse das Berichtete nachvollziehbar und glaubwürdig machte, wurde die Zusammengehörigkeit der Ereignisse erst in der reformierten Propaganda erschaffen, d.h. aus Koinzidenzen wurde eine Kausalkette konstruiert.46 So wurde mit der Verknüpfung des Treffens von Bayonne mit dem Topos der katholischen Verschwörung – erstmals bei La Tour – eine überzeugende Drohkulisse erschaffen, in welcher koinzidentielle Ereignisse wiederum als Belege der Theorie eines katholischen Bündnisses in eine Kausalkette eingefügt wurden 47 – obgleich keinerlei Zeugnisse 43 44 45 46

Vgl. GOTTFRIED, 1573, S. 6. Vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 50. Vgl. JOUANNA, 1998, S. 137, S. 162-163 und S. 198-204. Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 663-664; EDEL, 1997, S. 295; ferner: KLUCKHOHN, 1868, S. 18/166. 47 So stellte La Tour die Situation in den Niederlanden, Frankreich und dem Reich als Stufen der Unterdrückung innerhalb der umfassenden katholischen Ausrottungspläne von Bayonne dar (vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 46,

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konkrete gegen die Reformierten gerichtete Beschlüsse in Bayonne belegen.48 Frankreich versuchte, das Misstrauen Philipps II. gegenüber der französischen Ausgleichspolitik zu zerstreuen, um seine Unterstützung den Ultrakatholischen (wie dem Herzog von Guise) zu entziehen. Von Seiten des Herzogs von Alba wurden konkrete Forderungen formuliert wie das Verbot des reformierten Kults, die Ausweisung der Pastoren, die Annahme der Dekrete des Konzils von Trient und die Verpflichtung auf das katholische Bekenntnis für alle königlichen Beamten. Allerdings ließ sich Katharina von Medici wohl auf nicht mehr als allgemeine Versprechungen ein.49 S. 59 und S. 67-68). Auch in der Schrift Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht (vgl. Kurtzer warhaffter, 1568, S. 4) war die konfessionelle Situation in Italien, Frankreich und die Niederlande als Warnung für das Reich beschrieben, das seine Zukunft in der Gegenwart der Nachbarländer ablesen könne. Die zahlreichen, stetig wiederholten Ermahnungen an ‚Religionsverwandte‘ (z.B. in Heidelberg gedruckt: ANONYM, Der || Euangelischen Kirchen || in Franckreich einhellige/ bestendige/|| vnnd in Gottes wort gegruendte Christliche || Confession vñ Glaubens bekantnus/ daruber souil || Martyrer greueliche Marter vnd auch den Todt in || grosser gedult erlitten ... || Allen guthertzigen vnd Gottliebenden Christen/|| sonderlich inn Teutschland ... || von newen in Truck || verfertiget ... ||, Heidelberg: Smesmann, Abraham, 1587 (VD16 C 4839)) operierten stets mit dem Denkmodell, dass sich in den Ländern lediglich unterschiedliche Stufen der gleichförmig ablaufenden katholischen Unterdrückung zeigten, welche in ein Raum-Zeit-Gefüge einzuordnen waren: die gegenwärtige Situation der Niederlande war nahe Zukunft für Frankreich und mittelfristige für das Reich. 48 Vgl. KLUCKHOHN, 1868, S. 5/153-6/154; EDEL, 1997, S. 294-295. 49 Vgl. SUTHERLAND, 1973, S. 38-45; NORDMAN, 1984, S. 90. Die im Umfeld von Bayonne diskutierten Heiratsprojekte Katharinas wurden als ‚Beweise‘ in den Generalverdacht einer gegen die Reformierten gerichteten katholischen Bündnispolitik integriert (z.B. der als Beilage zu einer handschriftlichen Zeitung aufgemachte Außzug Kurtzer articul [...] (mehr dazu weiter unten); vgl. NORDMAN, 1984, S. 90-91). Schon im Vorfeld von Bayonne gab Philipp seiner Sorge Ausdruck, wie die Protestanten in Frankreich, dem Reich, den Niederlanden und in England auf das Treffen reagieren würden (vgl. BRUNET, 2007, S. 279, v.a. Anm. 945; siehe auch: Schreiben von Philipp II. an Friedrich III., 1. Februar 1565, in: KLUCKHOHN, 18681872, Bd. 1: 1868, S. 547-548). Nach Bayonne verfassten Katharina von Medici und Karl IX. zahlreiche Beschwichtigungsschreiben an protestantische Fürsten im Reich über die umlaufenden Gerüchte und ließen ihre Gesandten die protestantischen Reichsfürsten beschwichtigen (vgl. KLUCKHOHN, 1868, S. 8/156; HANDSCHUHER, 2000, S. 56-58).

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Sämtliche Restriktionen wurden nach Bayonne in reformierten zeitgenössischen Publikationen als Schritte hin zur großangelegten Ausrottungsinitiative gedeutet.50 In diesem Sinne schrieb La Tour, dass Admiral Coligny, nachdem ihm von der Verschwörung von Bayonne berichtet worden war, beschlossen habe, mit einem grundsätzlichen Misstrauen jegliches katholische Handeln als potentielle Verschwörung zu betrachten.51 Von der Einführung des Conseil des troubles und der spanischen Truppenverstärkung in Flandern über den Einfluss des Kardinals von Lothringen bis hin zur Bartholomäusnacht wurden die Ereignisse in reformierten Flugschriften nicht als eigenständige Vorkommnisse gedeutet, sondern als Teil der préméditation52, was ein übergeordnetes gemeinsames katholisches Ziel festschrieb, das nach reformierter Interpretation offenbar persönliche oder dynastische Interessen als Handlungsmovens übertraf.53 In solch einen gemeinschaftlichen Handlungsplan katholischer Potentaten stellte auch der Pasquillus54 die Ereignisse der Bartholomäusnacht. Selbstverständlich gab es zahlreiche für Reformierte bedrohlich erscheinende Äußerungen katholischer Potentaten (und noch mehr Gerüchte darüber), ebenso wie eine katholisch ausgerichtete Bündnispolitik fassbar existierte und zudem das Lavieren der französischen Krone im Bemühen um eine überparteiliche Stellung das Misstrauen der Re50 Z.B. CHASTELLIER, 1568, S. 46; Kurtzer warhaffter, 1568, S. 4; vgl. dazu auch: EDEL, 1997, S. 294-295. 51 Vgl. CHASTELLIER, 1568, S. 45. Coligny beriet im Vorfeld des Treffens, im April 1565, bereits mit der Königin von Navarra über die Folgen von Bayonne für die Reformierten, und der englische Gesandte Smith meldete im Juli 1565 als ‚Tatsache‘ an Leicester und Cecil, dass in Bayonne eine Verschwörung von Papst, spanischem König und schottischer Königin zustande gekommen sei, der möglicherweise auch englische Katholiken angehörten (vgl. SUTHERLAND, 1973, S. 45). 52 Für die Bartholomäusnacht wurde nicht nur von Zeitgenossen die ‚préméditation‘ (vorsätzliche, langfristig geplante Tötung der Hugenotten) diskutiert, siehe u.a.: ESTÈBE, 1968, S. 179-188; PRESTWICH, 1985, S. 91-92. 53 Vgl. WOLGAST, 1996, S. 66. 54 Die Anspielung auf die (vermeintlich) Verschworenen als Hydra verstärkte die Intensität des Topos von dem übergreifenden katholischen Bündnis noch, das sich gegen die wahren Christen – nach reformiertem Selbstverständnis – wandte (vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 732). Siehe dazu auch: Anm. 33.

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formierten weiter steigerte, aber die große Gefahrenkulisse eines transnationalen Konspirationsbündnisses mit konkreten Handlungsplänen zur Ausrottung der Reformierten lässt sich nur in den reformierten Interpretationen der aktuellen Ereignisse nachweisen. 55 Weder ist die Einordnung der Bartholomäusnacht als französischer Beitrag im größeren Kontext einer Handlungsgemeinschaft mit Herzog von Alba in den Niederlanden, König Philipp II. in Spanien, Papst Gregor XIII. in Italien und dem Herzog von Savoyen Emanuel Philibert mit dem Ziel einer Ausrottung der Reformierten haltbar, noch die Beurteilung der Bartholomäusnacht als von langer Hand geplantes Ereignis unter Federführung der Krone mit der faktischen Machtlosigkeit Karls IX. während der Augusttage in Einklang zu bringen. 56 War Karl IX. zuvor in der Flugpublizistik ambivalent bewertet worden, vom ungewollt beteiligten ‚Opfer‘ falscher Berater bis zum Mitverschworenen, war er spätestens mit der Bartholomäusnacht zum eindeutigen Protagonisten der katholischen Verschwörung geworden.57 Allerdings erscheint es kaum denkbar, dass der französische König sich in einem Bündnis dem spanischen König untergeordnet hätte, wie La Tour das für die ‚Bayonne-Verschwörung‘ beschreibt, wo Karl IX. 55 Jouanna urteilte für die Phase zwischen Bayonne und Bartholomäusnacht: „[...] les réformés croient aussi voir se former contre eux une redoutable coalition catholique internationale visant à purger toute l’Europe de l’hérésie. Une telle coalition semble bien n’avoir existé que dans leur imagination; néanmoins, il faut reconnaître que de nombreux signes leur donnent matière à inquietude.“ (JOUANNA, 1998, S. 176). Siehe auch: MAHONEY, 2004, S. 140-141; EDEL, 1997, S. 286-291 und S. 294-295; PLATZHOFF, 1912, S. 21). Zum ‚gegenreformatorischen Internationalismus‘: SCHILLING, 1993, S. 607-608. 56 Vgl. ESTEBE, 1968, S. 189-195; CROUZET, 1994, S. 386-390. Tagelang verließ der König den Louvre nicht. Die zahlreichen Mandate zur Entwaffnung der Bevölkerung, die aufgefordert wurde, sich in ihre Häuser zurückzuziehen, konnten nicht durchgesetzt werden (u.a. Pilleries empeschées à Paris, Deffense de fere aulcun tort à ceulx de la nouvelle Religion, Pour fere corps de gardes, Commissaires depputez par le Roy en l’Hostel de la Ville, Reglement faict par le Roy pour la Severeté de la Ville de Paris, in: Registres des Délibérations du Bureau de la Ville de Paris, Bd 7: 1572-1576, hrsg. von BONNARDOT, FRANÇOIS (Histoire générale de Paris. Collection de Documents), Paris 1893, S. 12/9v-18/14v, Dok. 22, Dok. 30, Dok. 33, Dok. 34, Dok. 38 (24.-30. August 1572)). 57 Z.B. CHASTELLIER, 1568; Pasquillus/||, 1572; vgl. hierzu auch: BABEL, 2005, S. 62-63.

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sich gerade in Bayonne gegenüber dem mächtigen Nachbarn als ‚Partner auf Augenhöhe‘ zu präsentieren suchte. Ein solcher Bund hätte Philipp II. die Möglichkeit eröffnet – im Sinne des übergeordneten katholischen Interesses –, aktiv in die französische Politik einzugreifen.58 Ebenso erscheint ein Bündnis, das dem Papst Eingriffsmöglichkeiten innerhalb Frankreichs eingeräumt und damit die Selbständigkeit der gallikanischen Kirche gefährdet hätte, mit den Interessen der Krone unvereinbar.59 Zur Wahrung der eigenen Souveränität konnte der französische König gar kein Interesse an der ‚Bayonne-Verschwörung‘ haben, so wie sie von reformierter Seite formuliert wurde. Durch die medial suggerierte Omnipräsenz der katholischen Bedrohung – die zugleich eine Fortführung des Motivs der Übermacht der Agenten des Antichristen gegenüber der kleinen erwählten Gemeinschaft Rechtgläubiger darstellte –, welche sich erst schrittweise offenbarte und immer weiter ausgriff, konnten die Propagandaschriften zugleich als Kampfansage, Handlungsappell, eine Gruppendynamik erschaffende Maßnahme und Bestätigung der eigenen Überzeugung, das erwählte Volk Gottes zu sein, dienen. 60 Diese Funktionen waren sämtlich auf die eigene Seite gerichtet, so dass angenommen werden kann, dass diese Flugschriften zu einem wesentlichen Teil für die Reformierten selbst verfasst wurden und nur zweitrangig zur Stellungnahme gegenüber den Katholiken dienten. Auch die häufigen direkt an die ‚Glaubensgenossen‘ gewandten Warnungen legen einen solchen Schluss nahe.61 Wie wirkmächtig diese Propaganda auf reformierter Seite war, zeigt sich am Umgang mit der ‚Bayonne-Verschwörung‘. Der wie eine Bei58 Vgl. MAHONEY, 2004, S. 143; WOLGAST, 1996, S. 66; eine konfessionalisierte Außenpolitik war Frankreich nicht möglich, solange Spanien in einem katholischen Bündnis die Führungsrolle übernehmen würde (vgl. SCHILLING, 1993, S. 610). 59 Vgl. TALLON, 2000, v.a. S. 18; siehe z.B. die Protestschreiben von Karl IX. und Katharina an den Papst über die Androhung der Exkommunikation für Jeanne d`Albret, die Königin von Navarra, nicht aus besonderer Sympathie oder gar weil sie ihre Position unterstützten, sondern weil dies eine Verletzung ihrer königlichen Privilegien darstelle (vgl. MAHONEY, 2004, S. 129). 60 Vgl. WIRSCHING, 1986, S. 338. Auf die Bartholomäusnacht gewandt, siehe z.B.: JOUANNA, 2007, S. 232-236; CROUZET, 1994, S. 50 u. 158. 61 Vgl. CHASTELLIER, 1568, u.a. S. 43, S. 46 und S. 78; auch: Kurtzer warhaffter, 1568, S. 3.

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lage zu handschriftlichen Zeitungen aufgemachte Außzug Kurtzer articul von dem verborgnen verpündtnus zwischen dem Pabst, Kaiser, Khönig aus Hispanie, Khönig aus Frankhreich, dem Hertzogen von Saphoy vnnd andern jrn pündtnus verwandten zu welchem pündtnus man den krieg aus Frannckreych anziechen will aus Pfälzer Beständen – auf den jüngst Cornel Zwierlein aufmerksam gemacht hat – behauptete, dass eine streng katholische Neuordnung Europas in Bayonne bzw. in der Folge durch sukzessive inhaltliche Erweiterungen beschlossen worden sei, wobei der Kreis der katholischen Verschwörer sich noch deutlich erweitert habe. Angebliche konkrete Abmachungen waren in diesem Außzug eines katholischen Verschwörungsdokuments in 17 Artikeln formuliert. 62 Auf Initiative von Friedrich III. von der Pfalz sandten der Pfalzgraf gemeinsam mit Landgraf Wilhelm von Hessen und Christoph von Württemberg im Mai 1567 eine Abschrift an Kurfürst August von Sachsen.63 Die intensive Korrespondenz mit den (potentiellen) Verbündeten diente neben dem Informationsaustausch auch als ‚vertrauensbildende Maßnahme‘ und war zugleich Indikator der Beziehungen der protestantischen Reichsfürsten untereinander.64 62 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 660-663; vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 50-53. Vermutlich entstand die Schrift im Reich zwischen Dezember 1566 und Februar 1567, wie Anspielungen auf die politische Situation nahelegen (vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 660-663). 63 Vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 49-53; in gleicher Angelegenheit der Brief von Pfalz, Württemberg, Hessen und Baden an Sachsen, 17. Juli 1567, in: KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 67-72. Der Kardinal von Lothringen soll dem verstorbenen Kurfürsten Johann von der Leyen von Trier und dem Kardinal Otto Truchsess von Augsburg den Diskurs zugesandt haben, was recht sicher nicht stimmt (vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 51, Anm. 1 und S. 52-53). Der lutherischevangelische Herzog August äußerte klar seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Vorwürfe (vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 50, Anm. 1). Auch das Ehebündnis Johann Casimirs mit Elisabeth, der Tochter Augusts von Sachsen, vermochte Kursachsen nicht im Sinne der – ganz anders gelagerten Interessen folgenden – kurpfälzischen Politik zu mobilisieren, zumal die lutherisch-evangelische Elisabeth sich gegen die dezidiert-reformierten Ziele wandte und auf Johann Casimir im Sinne einer Ausgleichspolitik mit Ludwig VI. Einfluss zu nehmen suchte (vgl. KUHN, 1959, S. 13 und S. 47; PRESS, 1970, S. 269). 64 Vgl. WOLF, 2005, S. 209 und S. 220-221; KLEINPAUL, 1930, S. 46-48; siehe dazu auch: Brief Friedrichs III. vom 20. Mai 1567 an Christoph von Württemberg, in welchem der Kurfürst versicherte, „uns hinwider haben-

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Die Gerüchte um Bayonne erreichten solche Verbreitung, dass sich Kaiser Maximilian II. sogar auf dem gemeinsamen Kreistag zu Erfurt im September 1567 veranlasst sah, gegen die Verbreitung des Verschwörungsgerüchts zu sprechen.65 Versuchte der Kurpfälzer Friedrich III. im Verlauf der Jahre 1567 und 1568 kontinuierlich in seiner Korrespondenz auf Ebene der Fürsten die Position, ein katholisch-päpstliches Bündnis sei ‚real‘, durchzusetzen, wurde die fürstlich betriebene Propaganda zum Jahreswechsel auf ein anderes Publikum 1568/1569 ausgeweitet: Als Neujahrsgabe ließ Friedrich die bereits angesprochene Flugschrift Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht/ von der Ba ep=||stischen Conspiration vnd Buendtnuß [...], welche in ironischen Wendungen den protestantischen Söldnern eindringlich nahelegte, nicht gegen die ‚Glaubensgenossen‘ in Frankreich in den Krieg zu ziehen,66 kostenlos an potentielle Söldner verteilen und versandte die Flugschriften auch an andere Fürsten mit der Bitte um Verbreitung.67 Wie nahe die reformierte Propaganda und die offiziellen Äußerungen des Pfälzer Kurfürsten beieinanderlagen, offenbart auch ein Brief vom 10. Juni 1567 von Friedrich III. an Christoph von Württemberg, in welchem der Kurfürst die schrittweise Ausweitung der katholischpäpstlichen Austilgungspläne von den Niederlanden über Frankreich bis hin zur Ausrottung aller Anhänger der wahren christlichen Religion darlegte. In seinem Brief vom 1. September 1572 an Landgraf Wilhelm von Hessen stellte Friedrich III. die Bartholomäusnacht als Beweis des katholischen Bündnisses mit dem Ziel einer Ausrottung der Reformier-

der wolhergebrachter cor=respondänz nach in vertrauen vetterlichen zu verstendigen“ (KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 47). 65 Vgl. EDEL, 1997, S. 268; KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 52. 66 Vgl. Kurtzer warhaffter, 1568, S. 6-8; die aus dem Deutschen ins Französische übersetzte Schrift ANONYM, Crestienne || remonstran=||ce adressee || aux Allemans. || Traduite d` Allemand en || François.|| M. D. L. XVIII., s.l. 1568 (Digitalisat French Political Pamphlets Online, auf: http://contentdm. lib.byu.edu/cdm4/document.php?CISOROOT=/FrenchPolPa&CISOPTR= 13868&REC=14, 20.06.2010) wandte sich ebenfalls an deutsche Söldner, indem sie die Pflicht zur Solidarität von deutschen, französischen und niederländischen ‚Glaubensgenossen‘ anführte (Crestienne || remonstran=||ce, 1568, S. 3 (Seitenzählung folgt der des Digitalisats French Political Pamphlets Online)). 67 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 673.

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ten dar, benannte den Herzog von Alba, Papst Gregor XIII. sowie die Initiatoren der Bartholomäusnacht als ‚reale Verschwörer‘ im tagespolitischen Gefüge und entwarf die Kulisse einer omnipräsenten, auch auf das Reich ausgreifenden Gefahr.68 Aus den hier vorgeführten Beobachtungen lässt sich schließen, dass das Bild in der kurpfälzisch-reformierten Propaganda, das den katholischen Gegner als hinterlistig, heimlich und im Verborgenen agierend, übermächtig, grausam und mit dem Teufel im Bund stehend zeichnete, sich der Gemeinplätze vom konfessionellen Gegner bediente, der als diametral entgegenstehendes Antibild zu den eigenen Selbstzuschreibungen entworfen wurde.69 Dies lässt jedoch offen, warum gerade der Topos einer verschworenen Gemeinschaft, die sich zur Ausrottung der eigenen Glaubensgemeinschaft formiert hatte, für Reformierte so wirkmächtig war.

Autoref erentialität: D er Verschw örungs -Topos mit einem indexikal ischen Zeichenbegriff betracht et Von einem indexikalischen Zeichenbegriff ausgehend wird die Quelle danach befragt, welche – jenseits der intentional hineingelegten – Aus-

68 Vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 58-59 und Bd. 2, 2: 1872, S. 490; bereits in einem Brief vom 5. März 1560 behauptete Friedrich II. gegenüber Herzog Johann Friedrich von Sachsen-Weimar, dass die Ausrottung aller französischen Protestanten geplant sei (vgl. KLUCKHOHN, 18681872, Bd. 1: 1868, S. 123-128, v.a. S. 127). Auf Bayonne verwies Friedrich III. vor allem ab 1567 stetig in seiner Korrespondenz (vgl. KLUCKHOHN, 1868, S. 6/154). Wiederholt wandte sich Friedrich mit seinen Ermahnungen an die protestantischen Fürsten des Reiches wie auch den französischen König und die Königinmutter sowie an den Prinzen von Condé (vgl. KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 1: 1868, u.a. S. 190-192 (an Christoph von Württemberg, 28. Juli 1561), S. 279-280 (an Katharina von Medici, 11. April 1562), S. 280-281 (an Ludwig von Condé, 11. April 1562). Mehr zu der Frage, wie sich Nachrichtenhorizont und politische Entscheidungsfindung am Kurpfälzer Hof zueinander verhielten, bei: ZWIERLEIN, 2006; WOLF, 2005. 69 Z.B. CHASTELLIER, 1568, S. 25; Kurtzer warhaffter, 1568, S. 4; zur Bedeutung dieser Gemeinplätze in reformierter Propaganda der Zeit allgemein: SCHILLING, 1993, S. 605-607.

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sagen sie anbietet, wenn auch verborgener, d.h. erst sichtbar, wenn sie gezielt danach befragt wird. Hier ist vor allem interessant, der Spur zu folgen, auf welche Prägungen oder Beobachtungen sich das Verschwörungsmotiv als Topos reformierter Propaganda zurückführen lässt, d.h. wo (und warum dort) dieser Aussagekraft/Wirkmächtigkeit entfaltet. Eine übergreifende katholische Verschwörung zur Ausrottung der Reformierten lässt sich – wie bereits gezeigt – nicht aus den Quellen belegen (‚tote Spur‘), wohl aber die Wirkmächtigkeit des Topos innerhalb der reformierten Gemeinschaft. Wenn man für die Untersuchung des Verschwörungs-Topos also zunächst die reformierte Gemeinschaft selbst und ihr Selbstbild betrachtet, erhält man einige Antworten auf die Frage, wodurch für Reformierte der Vorwurf einer handlungsbereiten, verschworenen Gemeinschaft so viel Glaubwürdigkeit erhielt. In ihrem Selbstverständnis bildeten calvinistisch reformierte Gemeinschaften eine mit Christus unmittelbar verbundene, transnational70 vernetzte Solidargemeinschaft (koinonía71), d.h. eine religiös begründete Einheit jenseits von Territorial- und Herrschaftsgrenzen. Der angestrebte hohe Grad an gegenseitiger Durchdringung von kirchlicher und säkularer Sphäre brachte den nach außen gerichteten religiösen Anspruch reformierter Gemeinschaft an das weltliche Regime mit sich. Da der Ausdifferenzierung in politisch-gesellschaftlich-religiöse Sphären die Konstituierung der reformierten Gemeinschaft voranging, standen calvinistische Lehre und ‚Internationalismus‘ in einem engen Wechselverhältnis.72

70 Zwar stellt die Zuweisung ‚transnational‘ an die jenseits von territorialen und herrschaftlichen Grenzen bestehende reformierte Gemeinschaft für das 16. Jahrhundert einen Anachronismus dar, doch vermag der Begriff das Phänomen anschaulich zu erfassen. 71 Die koinonía (nach 1. Buch Korinther 10,16 die Kirchen- oder Kommuniongemeinschaft) meint hier das „europäische, calvinistische Netzwerk in seiner Selbst-Auffassung und Selbst-Beschreibung“ (ZWIERLEIN, 2006, S. 634). Ausführlicher zu dem Konzept: ZWIERLEIN, 2004, S. 191-223. 72 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 628-631 und S. 639; SCHILLING, 1993, S. 594602 und S. 606-607; auf Friedrich III. gewandt, siehe: WIRSCHING, 1986, S. 343. Ideologisch-konzeptionell umfasste die Gemeinschaft nur Reformierte, wurde aber politisch-pragmatisch um Bundesgenossen wie England erweitert (z.B. GOTTFRIED, 1573, S. 6), wobei sich die beschworene transnationale Gemeinschaft unter Einschluss von Nicht-Reformierten innerhalb des reformierten Referenzrahmens bewegte.

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In diesem Sinne schrieb La Tour über „vnsere Religionsuerwanten“73, die protestantischen „hochloeblichste Fuersten des heiligen Roemischen || Reichs“, sie zeigten mehr Mitleid als in Frankreich „vnsere nechste nachpauren/ || vnsere blutsuerwãdte freund einer Landts art/ || vñ einer sprachen“74. Durch die Vorstellung der sich in das diesseitige Leben erstreckenden Heilsgewissheit wurde die Möglichkeit und Pflicht zur Verwirklichung des überzeitlichen Reichs Christi auf Erden – nach bundestheologischer Auffassung – angenommen. In Konsequenz sollte der Gläubige zur Verwirklichung der Gemeinschaft mit Christus auf Erden sein Leben als bereits eingeschlagenen Weg zum Heil zielorientiert gestalten, d.h. dem Handlungsappell der calvinistisch-reformierten Lehre folgend aktiv am Kampf gegen die Widersacher des Reiches Christi mitwirken.75 Dabei war die eigene Entscheidungsfindung als Normerfüllung innerhalb des koinonía-Konzepts zu verstehen, so dass die Leitlinien und Zielorientierungen vorbestimmt waren.76 So schrieb auch La Tour in seinem Bericht im Sinne einer KopfGlieder-Metaphorik, „dass sich Gott der men=||schen / gleich als eines werckzeugs / gebrauchet“, um „die boese welt heimzusuchen“.77 Am Kurpfälzer Hof wurde die eigene Rolle als Bastion gegen die Katholiken als verschworene Feinde der koinonía wahrgenommen, wie die Ausdeutung des Treffens von Bayonne in dem Außzug Kurtzer articul nahelegt. In einem autoreferentiellen Denkrahmen bezogen sich die eigene Publizistik und das Handeln und vor allem öffentliche Sprechen kurpfälzischer Fürsten und Regierungsmitglieder wechselseitig aufeinander. Demgemäß waren Propaganda und – als Auswirkung der ,Autosuggestion‘ – politische Entscheidungen des Pfälzer Kurfürsten weitgehend deckungsgleich, wobei sie an den religiösen Ordnungskriterien von koinonía, Pflicht zur Umsetzung des Reiches Christi auf Erden und

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CHASTELLIER, 1568, S. 20, S. 30 und S. 58. Ebd., S. 39. Vgl. FABER, 2002, S. 240-242; vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 632-634. Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 635. CHASTELLIER, 1568, S. 73.

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der empfundenen und propagierten Bedrohungslage ausgerichtet waren.78 In diesem Verständnis der Gemeinschaft als kollektivem Akteur wurde auch die Bartholomäusnacht nicht nur als Gewalt gegen den Einzelnen verstanden, sondern als Angriff auf die gesamte koinonía, was diese in ihrer Rolle als Verteidiger des Reichs Christi herausforderte. Zugleich wurde die Bartholomäusnacht als sich manifestierender Kampf der kleinen Gemeinschaft Rechtgläubiger gegen eine Übermacht des Antichristen als gemeinschaftsstabilisierende Bestätigung der Erwählung ausgedeutet.79 Bei vielen reformierten, von der Vorstellung der transnationalen communio geprägten Fürsten im Reich zeigte sich eine religiöse Identifikation mit den Konfliktparteien in Frankreich. 80 Konfrontiert mit der andauernden Bedrohungslage der Reformierten in Frankreich ist die Radikalisierung der Position des Pfälzer Kurfürsten Friedrich III. von einer tendenziell quietistischen hin zu einer gewaltbereiten, aktionistischen Haltung nachzuvollziehen.81 Mit seinem regen Briefwechsel mit 78 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 689-690; WIRSCHING, 1986, S. 342-343 und S. 359; WOLGAST, 1996, S. 66-67. Welche Bedeutung Publizistik, Nachrichtenkorrespondenz und Informationsnetzwerken am Heidelberger Hof zugewiesen wurde, zeigt sich auch darin, dass von Kurpfälzer Räten bereits das Bestehen eines weitreichenden Korrespondenznetzes des Papstes im Reich als Bedrohung eingestuft wurde (vgl. WOLF, 2005, S. 224). 79 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 759-760; ferner: SCHILLING, 1993, S. 606-607. Vor allem nach der Bartholomäusnacht wurde der Aufruf zur Handlungspflicht der Reformierten gegenüber der fehlgeleiteten äußeren obrigkeitlichen Welt von einer intensiven theoretischen Debatte begleitet: der Monarchomachenliteratur (vgl. z.B. YARDENI, 1985, S. 320ff.). 80 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 611; HANDSCHUHER, 2000, S. 67. Allerdings nahm der Kurpfälzer Hof in einmaliger Weise an den Religionskriegen in Frankreich teil und interessierte und orientierte sich auch in besonderer Weise an den theologischen Debatten in Frankreich. Diese wurden in Heidelberg in großer Zahl in Übersetzung gedruckt, z.B. ANONYM, Ordnung.|| Der Euangelischen Kir=||chen in Franckreich/ so || gehalten wird/ im || Gemeinen Gebet/|| Reichung der Sacrament/|| Einsegnen der Ehe/|| Besuchung der Krancken.|| Vnd Christlichem Catechismo.|| ... ||, Heidelberg: Johannes Mayer, 1563 (VD16 A 707); CALVIN, JEAN, Catechismus.|| Der Euangelischen Kir=||chen in Franckreich/ ge=||stelt in Frag vnd || Antwort.|| ... ||, übers. von Ursinus, Zacharias, Heidelberg: Johannes Mayer, 1563 (VD16 ZV 2817). 81 Vgl. EDEL, 1997, S. 295-296; SCHAAB, 1992, S. 46. Auch im französischen Calvinismus ist die Entwicklung von der Verschwörung zu Amboise bis

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dem Prinzen von Condé, der Aufnahme französischer Flüchtlinge am Heidelberger Hof sowie dem Empfang und der Weiterleitung von reformierten Zeitungen aus Frankreich übernahm Friedrich III. sozusagen „die Rolle einer Propagandazentrale für Condé im Reich“. 82 Diese nach innen spirituell-religiös bestimmte Gemeinschaft war zugleich ein potentielles ‚Kampfbündnis‘ nach außen mit Expansionsauftrag. Zunächst als ein Defensiv- und Beistandsbündnis gefasst, wandte sich diese am Kurpfälzer Hof vertretene Interpretation von der koinonía de facto gegen alle außerhalb der Gemeinschaft Stehenden, so dass ein permanenter Verteidigungsfall gegen die als Hort des Satans bzw. Antichristen verstandene Außenwelt gegeben war.83 So konnten die aktuellen Konflikte in ein überzeitliches Modell des ewigen Kampfes der Erwählten gegen die Agenten des Bösen eingepasst werden, wie La Tour dies in seinem Bericht vorführte: „Dieser kunst haben sich fast allwegen die ge=||braucht/ welche zu außrottung der Religion/|| [...] sich vnderstanden [...] All dieselbe exempla/ art vnnd weiß zu procedieren/ dienen heutigen tags vnsern feinden gleich als ein spiegel vnd beyspiel“.84 Von der konkreten Situation der Bartholomäusnacht ausgehend enthielt auch der Pasquillus – in seinem spielerisch-ironisierenden Tonfall – eine Generalanklage gegen katholische Potentaten, deren quasi natürlicher Bundesgenosse der Teufel sei, „so wie Christus mit

zur Bartholomäusnacht, von einer eher bedachten Haltung, die ein Recht zum Widerstand einschließt, hin zu einer radikal-aktionistischen, welche die Pflicht zum Widerstand ausruft, zu bemerken (vgl. YARDENI, 1985, S. 319). 82 ZWIERLEIN, 2006, S. 652-653 (Zitat S. 653); vgl. WIRSCHING, 1986, S. 355; BABEL, 2005, S. 61. Zum nicht minder aktiven Wechsel von Briefen und Gesandten der Hugenotten mit Johann Casimir, siehe: BEZOLD, 1882-1903. Friedrich III. versandte an andere Fürsten Abschriften und Übersetzungen der auf dem Kolloquium von Poissy gehaltenen Reden sowie Nachrichten vom Massaker von Vassy und ließ sich selbst Zeitungen aus Frankreich von den Massakern von Vassy, Sens, Toulouse, Angiers, Blois, Tours und Poitiers zuschicken (vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 652-653). Allerdings war zumeist weniger der Inhalt dieser Fürstenkommunikation entscheidend, da dieser über Zeitungen bereits bekannt war, als vielmehr die Versicherung einer vertrauensvollen, freundschaftlichen Beziehung, welche als Bündnis ausbaubar war (vgl. WOLF, 2005, S. 221; ZWIERLEIN, 2006, S. 595-596). 83 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 638-639 und S. 643. 84 CHASTELLIER, 1568, S. 73-74. Ähnlich zum Mittel der Täuschung, Falschaussage, Nachrede und List: CHASTELLIER, 1568, S. 73.

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den Mitgliedern der koinonía unauflöslich verbunden ist.“85 Um gegen dieses als real bestehende ‚papistische‘ Konspiration angenommene katholische Ausrottungsbündnis zu bestehen, sollte die Gemeinschaft der Erwählten bzw. das reformierte französisch-kurpfälzische Bündnis zunächst um die potentiellen Partner England, Niederlande und die protestantischen Fürsten des Reiches erweitert werden. 86 Gut fassbar wird die Wirkmächtigkeit der koinonía als Leitlinie der Politik in folgendem Fall: Als Bernard Bôchetel, Bischof von Rennes, im Auftrag König Karls IX. im Herbst 1567 an den Heidelberger Hof reiste, um Truppenunterstützung einzuwerben, wurden ihm französische und deutsche Erklärungen überreicht, die wörtlich aus Verteidigungs- und Legitimationsschriften Condés genommen waren. Diese hatte Johann Casimir auch als handschriftliche Übersetzungen an andere Fürsten verschicken lassen und bei Martin Agricola in Druck gegeben, d.h. dem französischen König trat in der Publizistik wie im diplomatischen Verkehr eine geschlossene verschworene Gemeinschaft im Reich und Frankreich entgegen und mit dem Hilfszug Johann Casimirs 1567/1568 auch eine wehrhafte, aktionistische koinonía.87

85 ZWIERLEIN, 2006, S. 732. Auch die Schrift Kurtzer warhaffter vñ || Grundtlicher Bericht bezeichnete den Papst und seine Bundesgenossen als Feinde Gottes und damit Instrumente des Teufels (vgl. Kurtzer warhaffter, 1568, S. 4). 86 Vgl. BABEL, 2005, S. 63; vgl. BILDHEIM, 2001, S. 118. 1569 versuchte Christoph Ehem Friedrich III. für ein Bündnis mit England, Dänemark, Schweden, Schottland, den Hugenotten und den protestantischen Reichsfürsten zu gewinnen (vgl. WOLGAST, 1996, S. 70; EDEL, 1997, S. 312). Ab Februar 1577 warb der Gesandte Sir Philip Sidney im Namen von Elisabeth I. für eine protestantische Union auf dem Kontinent, für die sich Johann Casimir aktiv einsetzte. Jedoch war die Interessenlage unter den potentiellen Bündnispartnern (z.B. Johann Casimir und Navarra) disparat (vgl. KRÜGER, 1964, S. 31-37 u. 118; SCHAAB, 1992, S. 55; siehe auch: BEZOLD, 1882-1903, u.a. Bd. 1: 1882, S. 272: Brief Elisabeth I. an Johann Casimir zu protestantischem Defensivbündnis, 23. Juni 1577). Zu den disparaten Interessen der protestantischen Fürsten, vgl. EDEL, 1997, S. 295. 87 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 654-655; ferner: WIRSCHING, 1986, S. 355. Dass diese kurpfälzisch-französische Front nicht immer geschlossen war, ist schon an der gegenseitigen Abneigung von Johann Casimir und Navarra zu sehen und wird auch durch das konfliktuöse Verhältnis des militantkonfrontativen Condé und moderat-pragmatischen Navarra verdeutlicht (vgl. BILDHEIM, 2001, S. 123; BABEL, 2005, S. 63).

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Dass die Prägekraft des Verschworenheitsgedankens nicht nur für die hier vorrangig behandelten Fälle Bayonne und Bartholomäusnacht galt, zeigt der 1591 unter Federführung von Johann Casimir, Kurfürst Christian I. von Sachsen und Landgraf Wilhelm IV. von Hessen geschlossene Torgauer Bund, ein protestantisches ‚Defensivbündnis‘, das jedoch nach wenigen Monaten mit dem Tod der Initiatoren zerfiel.88 Wie hier für die Kurpfalz vorgeführt wurde, dominierte die Wahrnehmung der Zugehörigkeit von Reformierten zu einem handlungsbereiten Bündnis mit einem übergeordneten gemeinsamen Ziel deren Weltdeutungshorizont und die Handlungsleitlinien. In einem geschlossenen selbstbezüglichen System waren Propaganda und eigenes Sprechen und Handeln unmittelbar aufeinander bezogen, so dass die Einordnung auch anderer Akteure in dieses den Denkrahmen bestimmende Modell nur konsequent war.89 Damit ist die Vorstellung einer übergreifenden katholischen Verschwörung aus dem antithetischen reformierten Bild des katholischen Gegners/Gegenübers und der Projektion des prägenden Selbstbildes einer verschworenen Gemeinschaft auf den betrachteten ‚Anderen‘ zu verstehen. Zugleich diente die Argumentation der Rechtfertigung der eigenen Erwähltheit als Minderheitengemeinschaft gegen eine verfolgende, mordende und religiös verfehlte Mehrheit. Damit ist unter dem in zeitgenössischen reformierten Quellen verwandten Topos von der verschworenen Gemeinschaft auf der konventionellen Zeichenebene das offensichtlich Benannte zu verstehen, also die ‚katholische Konspirationsgemeinschaft‘ als Negativ der Selbstzuschreibung. Als Spur betrachtet führt der Topos mit dem indexikalischen Zeichenbegriff, wie er hier verwendet wurde, zu einem anderen ‚Benannten‘, nämlich der reformierten Gemeinschaft selbst als verschworener koinonía.

88 Vgl. BILDHEIM, 2001, S. 127; WOLGAST, 2007, S. 181. Zu der fortdauernden Präsenz des Verschwörungstopos, siehe auch: Korrespondenz Johann Casimirs, in: BEZOLD, 1882-1903, u.a. Bd. 1: 1882, S. 292-295: Instruktion König Heinrichs von Navarra für den an Johann Casimir abgefertigten Sr de Brigneux, 27./30. Januar 1578. 89 Vgl. WOLGAST, 1996, S. 66.

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Die Kurpfalz: Aut oreferentieller Denkrahmen und der Topos einer katholischen Verschw örung in reformierter Propaganda Die zweischrittige semiotische Untersuchung hat gezeigt, dass mit dem konventionellen Zeichenbegriff zunächst das offensichtlich ‚Bezeichnete‘ näher zu erfassen ist, während man mit dem indexikalischen Zeichenbegriff eine Spur zu einem anderen ‚Bezeichneten‘ erhält, das eine verborgene, weniger offensichtliche Sinnebene eröffnet. Dass der Mythos von einer katholischen Verschwörung zur Ausrottung der Protestanten aus einem Antibild, welches aus dem reformierten Selbstverständnis abgeleitet wurde, resultierte, wie aus der Betrachtung des Verschwörungs-Topos als konventionell gesetztes Zeichen abgeleitet wurde, ist kein Forschungsnovum. Doch ließ dies das Spezifische des historisch-konkreten Falls offen, warum gerade in der reformiertenkurpfälzischen Propaganda in Auseinandersetzung mit den Französischen Religionskriegen der Topos der Verschwörung des konfessionellen Gegners solche Wirkmächtigkeit erlangte. Ließ sich die Spur nicht weiter zu dem katholischen Gegenspieler verfolgen (auf Faktenebene war die Verschwörung nicht fassbar), so führte die Rückführung auf den ‚Auslegenden der Spur‘ auf einer tieferliegenden Verständnisebene zu mehr Klarheit über die Herkunft dieses dominanten Gemeinplatzes in der reformierten Propaganda der Französischen Religionskriege. Das Selbstverständnis als verschworene Gemeinschaft war als Weltdeutungshorizont und Handlungsleitlinien so prägend (‚autoreferentieller Denkrahmen‘), dass in diese Denkfigur das katholische Gegenüber antithetisch eingepasst wurde und so auf dieses das reformierte Selbstbild einer verschworenen Gemeinschaft projiziert wurde. Dass dieser Verschwörungs-Topos gerade in der Kurpfalz auftauchte und unter der reformierten Herrschaft bzw. Administration in der Kurpfalz dominant blieb, lässt sich einerseits aus dem ‚Herausentwickeln‘ der Kurpfalz aus dem Reich erklären. Mit dem offen bekannten und praktizierten reformierten Bekenntnis stellte sich Friedrich III. außerhalb des Augsburger Religionsfriedens und damit außerhalb des Reichsrechts, was ihn von den sich zum Reich bekennenden potentiel-

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len protestantischen Bündnispartnern zu entfremden drohte.90 Diese (drohende) Isolation ließ die Notwendigkeit, das internationale reformierte Bündnis im Sinne des transnationalen koinonía-Gedankens aufrechtzuerhalten, umso größer erscheinen, so dass „in der Perzeption der kurpfälzischen Entscheidungsträger aus der Wahlverwandtschaft zu den Hugenotten schließlich eine Schicksalsgemeinschaft wurde“.91 Andererseits trug das ‚internationale Argument‘, welches die Entwicklungen in der Kurpfalz mit derjenigen der Reformierten in Frankreich und den Niederlanden aufs engste verband, einen wirkungsvollen normativen Appellcharakter, welcher die protestantischen Reichsfürsten zur Anerkennung bzw. Tolerierung der kurpfälzischen Außenpolitik bewegte.92 Neben der Befriedigung des starken Schutzbedürfnisses durch die Einbindung in ein westeuropäisches, reformiertes Bündnissystem bot sich der Kurpfalz mit ihrer konfessionspolitischen Ausrichtung die Möglichkeit, den beschnittenen Einfluss im Reich durch internationales Agieren zu kompensieren und (auch reichsinterne) Anerkennung zu erlangen – wenn die Führungsrolle der Kurpfalz in der Frankreich- und Niederlandepolitik anerkannt würde. 93 Erfolgreich gelang es dem Pfälzer Kurfürsten beispielsweise in der Phase nach 1566, seiner Isolation im Reich gegenzusteuern94, wie sich in der Nachfolge von Bayonne

90 Vgl. KLUCKHOHN, 1879, S. 106; WOLGAST, 1996, S. 55 und S. 64; PRESS, 1970, S. 236-237. Zu dem Spannungsverhältnis von Kurpfalz, den anderen protestantischen Reichsständen und Kaiser Maximilian auf dem Augsburger Reichstag 1566, siehe: KLUCKHOHN, 1879, S. 186-260 und v.a. EDEL, 1997, S. 190-249. 91 EDEL, 1997, S. 296; vgl. WOLGAST, 1996, S. 64; SCHILLING, 1993, S. 607. 92 EDEL, 1997, S. 293, auch S. 295; vgl. auch: WOLGAST, 1996, S. 59 und S. 72; SCHILLING, 1993, S. 608-609. Die Kurpfalz fuhr eine doppelgleisige Politik, in der sie sich um eine Handlungseinheit der protestantischen Reichsfürsten gegenüber den niederländischen und französischen Reformierten bemühte und zugleich bereits aktiv den ‚Glaubensgenossen‘ Hilfe leistete (vgl. WOLGAST, 1996, S. 52; EDEL, 1997, S. 296). 93 Vgl. BILDHEIM, 2001, S. 99 und S. 134-135; EDEL, 1997, S. 296 und S. 306; ferner: WOLGAST, 1996, S. 64-73; zu der Rolle der Kurpfalz in einer (möglichen) gemeinsamen Außenpolitik der protestantischen Reichsfürsten, siehe: EDEL, 1997, S. 307-317. 94 Vgl. EDEL, 1997, S. 286-293 und S. 305-309; SCHAAB, 1992, S. 43-44; PRESS, 1970, S. 237-238; siehe zur Entwicklung des Verhältnisses mit Kursachsen: EDEL, 1997, S. 302-307.

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zeigte, als der Heidelberger Hof seine Rolle als ‚Propagandazentrale‘ so erfolgreich wahrnahm, dass Kaiser Maximilian II. sich genötigt sah, auf dem gemeinsamen Kreistag zu Erfurt im September 1567 zu den offenbar intensiv rezipierten Konspirationsvorwürfen Stellung zu beziehen. 95 Sicher war die konfessionelle Ausrichtung der Politik für die reformierten Kurpfälzer, v.a. Friedrich III., kein bloßes Taktieren, wie das Zusammenfallen von propagandistischen Äußerungen in Flugpublizistik und vertraulicher politischer Korrespondenz mit anderen protestantischen Fürsten sowie das außenpolitische Handeln zeigen.96 Die Konfession verlieh der kurpfälzischen Außen- und Bündnispolitik Profil und prägte ihr eine konfessionsbestimmte Eigengesetzlichkeit ein, welche als Denkrahmen und Handlungsleitlinien wiederum das kurpfälzische Handeln in gewisser Weise determinierten, indem sie innerhalb des in sich konsistenten Lex Dei-Konzepts Sprechen und Handeln auch in die Zukunft gewandt festlegten. 97 Für die politische Orientierung auf das benachbarte Ausland hin musste ein tragfähiges, überindividuelles Interesse, das eine Handlungsgemeinschaft erzeugen konnte, fassbar und dieses jenseits der Reichssemantik artikulierbar sein. Die unter Friedrich III. handlungsleitende Konfession, welche auch die alten Bindungen aufgebrochen hatte, bot sich als neues Zugehörigkeiten stiftendes Instrument an – die reformierte koinonía wurde zum Leitbild und Denkrahmen für Handlungen und Mediennutzung.98 95 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 662; KLUCKHOHN, 1868-1872, Bd. 2, 1: 1870, S. 52. Auch das gegen den Kaiser gerichtete Gerücht nach den Augustereignissen 1572, wohl von Kurpfälzer Kreisen gestreut, er sei an der Bartholomäusnacht beteiligt gewesen, erwies sich im Reich als propagandawirksam (vgl. EDEL, 1997, S. 290). 96 Vgl. WOLGAST, 1996, S. 64-67; ZWIERLEIN, 2006, S. 662-663. Friedrich III. setzte – auch hier vom Selbstbild auf den Anderen schließend – Gesinnung und Handeln der Parteien der Religionskriege gleich, so dass er das Taktieren Katharinas als Gesinnungswechsel, nicht als situativ angepassten politischen Pragmatismus einer Realpolitikerin verstand (vgl. WIRSCHING, 1986, S. 349). Auch der konfessionell legitimierte Aktionismus Johann Casimirs stand konträr zu dem realpolitischen Pragmatismus von Katharina, aber auch dem situativ angepassten Agieren Navarras (vgl. BILDHEIM, 2001, S. 123-124 und S. 127-128). 97 Vgl. ZWIERLEIN, 2006, S. 645; WOLGAST, 2007, S. 178; WOLGAST, 1996, S. 65-66. 98 Vgl. KUHN, 1959, S. 117; WOLGAST, 1996, S. 64-65. Wie stark dieser konfessionsbedingte ‚Sonderweg‘ auf die Ausbildung einer ‚kurpfälzischen

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Unter Johann Casimir entstand eine Diskrepanz in der Ausrichtung kurpfälzischer Außenpolitik, da der unter Friedrich III. festgesetzte Deutungsrahmen und die Legitimation des an der transnationalen Gemeinschaft ausgerichteten Handelns bestehen blieben, aber die Handlungsleitlinien aufgeweicht wurden, da sich das Eintreten für die koinonía mit dem offensiv vertretenen Ausbau der eigenen Machtposition verflochten.99 Damit wies der geschlossene, selbstbezügliche Denkrahmen, in welchem Propaganda und politisches Handeln weitgehend deckungsgleich waren, nicht mehr die gleiche Konsistenz auf, die er noch unter Friedrich III. hatte. Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, konnte mithilfe des mit mehreren Untersuchungsebenen (konventionell-kommunikativ und indexikalisch) angelegten semiotischen Ansatzes vorgeführt werden, wie neben der sichtbaren intendierten Fremd- und implizierten Selbstaussage in der reformierten Propaganda der Kurpfalz eine tieferliegende, verdeckte Selbstoffenbarungsebene – durch die Struktur des Untersuchungsrahmens – transparent und nachvollziehbar wird.

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Verträge als Zeichen Bündnisverträge europäischer Großmächte im 18. Jahrhundert CHARLOTTE BACKERRA

Vertragsabschlüsse werden von Zeichen begleitet – Pressekonferenzen zur Bekanntgabe erreichter oder erhoffter Verhandlungsergebnisse, die feierliche Unterzeichnung, Überreichung der Vertragsexemplare und der Händedruck der Unterzeichner zur deutlichen öffentlichen Bekräftigung ihrer neu eingegangenen Beziehung. Doch können auch Verträge selbst solche Zeichen sein? Dieser Frage soll im folgenden anhand von Beispielen aus der internationalen Politik des 18. Jahrhunderts nachgegangen werden. Grundlage für die Überlegungen ist dabei der semiotische Begriff von Zeichen, genauer indexikalischen Zeichen. Ein Index ist ein Zeichen, das zu dem Bezeichneten in kausaler Beziehung steht und daher auf einen bestimmten Sachverhalt hinweist. Es entsteht z. B. Rauch, weil ein Feuer entfacht worden ist. Allerdings ist dieser Zusammenhang erst dann zu verstehen, wenn man die richtigen Fragen zu seinem Verständnis stellt. Auf die Geschichte ausgelegt, lässt sich aus einem indexikalischen Zeichen eine klare Verbindung zwischen dem als Zeichen verstandenen Gegenstand oder Ereignis und den Hintergrundbedingungen herauslesen. Zeichen gelten jeweils als Spuren einer vergangenen Wirklichkeit, die es zu entdecken und rekonstruieren gilt.1 Nach Søren Kjørup ist „[das] Ziel der indexikalischen Semiotik [...] also, in der 1

Vgl. hierzu KJØRUP, 2008, S. 37-46.

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Wirklichkeit Spuren oder Züge zu finden, die uns etwas über Sachverhalte erzählen, die uns interessieren [...].“2 Spuren der Vergangenheit finden sich in historischem Material, in schriftlichen Quellen, Traditionen und Überresten. Die schriftliche Überlieferung nimmt dabei im Laufe der Jahrhunderte deutlich zu. Im 18. Jahrhundert gibt es in den meisten Gebieten Europas schon eine Archivkultur, die zu einer hohen Quellendichte für diese Zeit führt. Eine besonders im 18. Jahrhundert häufig auftretende Quellengattung in Europa sind Verträge, die zwischen zwei oder mehr Souveränen abgeschlossen wurden. Diese liegen oft nicht nur im Original, sondern auch in zeitgenössischen Drucken und Büchern vor. Untersuchungen zu Verträgen und Vertragspolitik waren für die Politikgeschichte schon immer ein wichtiges Thema und haben in der deutschen Frühneuzeitforschung durch Projekte wie die „Friedensverträge“ am Institut für Europäische Geschichte in den letzten Jahren wieder deutlich an Bedeutung gewonnen.3 Für das frühe 18. Jahrhundert ist die Häufigkeit der Verträge und Bündnisse erstaunlich und wohl selbst für die Zeitgenossen kaum überschaubar.4 Der häufige Wechsel der Bündnispartner in den 1720er- und 1730er Jahren legt nahe, die Vertragspolitik der großen Mächte Europas als eher kurzfristig und situationsgebunden, ja opportunistisch anzusehen. Doch interessieren hier nicht die Gründe der Handelnden, sondern im Mittelpunkt sollen die Verträge als Zeichen bestimmter Sachverhalte stehen. Zur besseren Verständlichkeit wird eine grundsätzliche Erläuterung der wichtigsten Verträge und Bündnisse des frühen 18. Jahrhunderts den weiteren Überlegungen vorangestellt. Danach werden in zwei Schritten Verträge als Zeichen von Beziehungen zwischen Souveränen und dann als Zeichen von Macht und Machtverhältnissen betrachtet.

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KJØRUP, 2008, S. 40. Institut für Europäische Geschichte Mainz, Europäische Friedensverträge der Vormoderne; vgl. die Internetseite des Projekts auf www.iegfriedensvertraege.de. Vgl. BL Add. Mss. 33006, f. 492-505, zeitgenössische Aufstellung der geschlossenen Verträge und Bündnisse bis zum Jahr 1734 für den britischen Staatsminister des Äußeren, Herzog von Newcastle.

Verträge als Zeichen

1. Bündnisverträge des frühen 18. Jahrhunderts Die Mächte, die in der europäischen Politik des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielten oder spielen wollten, waren noch nicht beschränkt auf die Pentarchie des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit agierten auf mehr oder weniger hoher Ebene der Kaiser bzw. das Reich, Frankreich, Großbritannien (in Personalunion mit Hannover seit 1714), Russland, die Generalstaaten, Spanien und Preußen.5 Als „große“ Mächte waren und fühlten sie sich verantwortlich für das Gleichgewicht in Europa. Wie Duchhardt feststellen konnte, spielte die Frage des Gleichgewichts der Mächte bei den Verantwortlichen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung politischer Leitlinien und damit auch den Bündnisschlüssen.6 In der Großen Allianz des Spanischen Erbfolgekrieges hatte das Reich mit seinen Bündnispartnern Großbritannien und den Generalstaaten ein Ausgreifen Frankreichs bzw. Ludwigs XIV. auf ganz Europa verhindern können. Doch nach dem Tod Ludwigs XIV. trat unter der Regentschaft Philipp d’Orléans Frankreich für einen Kurswechsel ein. Genauso war Georg I. als erster Vertreter der Personalunion Großbritanniens und Hannovers daran interessiert, den Frieden in Europa zu sichern. Aus diesen Gründen wurde nach längeren Verhandlungen 1718/19 die Quadrupelallianz zwischen dem Reich, Großbritannien, Frankreich sowie nominell den Niederlanden geschlossen, die sich im Krieg der Quadrupelallianz bis 1720 nun gegen die weiteren spanischen Ansprüche wehrte.7 Schon fünf Jahre später, 1725, hatten sich die Verhältnisse wieder grundlegend geändert; es standen sich zwei Bündnissysteme in Europa gegenüber: Der Kaiser, Spanien und Russland schlossen in Wien einen Bündnisvertrag, während in Herrenhausen die Allianz von Großbritannien, Frankreich und Preußen besiegelt wurde. Trotz oder vielleicht gerade wegen der auch publizistischen Konkurrenz der Bündnisse schlossen ein Jahr später das Reich und Preußen den Vertrag von Wusterhausen, der 1728 im Vertrag von Berlin bestätigt wurde. Die Kon5 6 7

DUCHHARDT, 1997, S. 7-10. Ebd., S. 17-18. Zu den grundsätzlichen politischen Entwicklungen in Europa im frühen 18. Jahrhundert vgl. DUCHHARDT, 1997, S. 259-311.

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kurrenz der Seemächte Großbritannien und Spanien entlud sich im Britisch-Spanischen Krieg von 1727 bis 1729, der trotz seiner Begrenztheit die europäischen Mächte beunruhigte. Der Abschluss des Vertrages von Sevilla 1729 zwischen Großbritannien, Spanien, Frankreich und den Niederlanden wurde vom Kaiser wohl sehr richtig als Versuch seiner Isolierung angesehen, denn auf Preußen oder Russland als Bündnispartner konnte er nur begrenzt zählen. Die Konkurrenz der britischen und französischen Politik sowie der Versuch, den Kaiser aus der Isolation zu holen, führten jedoch schon 1730 zu neuerlichen Verhandlungen und 1731 zum Abschluss des zweiten Wiener Vertrages zwischen dem Kaiser und Großbritannien. Später schlossen sich die Niederlande und Spanien an, so dass nun Frankreich isoliert war. Der Belastungsprobe des Polnischen Thronfolgekrieges, bestritten vor allem durch das Reich und Russland auf der einen Seite und Frankreich und Spanien auf der anderen, konnte das Bündnis jedoch nicht standhalten. Um so erstaunlicher ist es, dass sich im Österreichischen Erbfolgekrieg am Ende wieder dieselbe Koalition – seit dem Spanischen Erbfolgekrieg als „Altes System“ bekannt – gegen Frankreich und Preußen durchsetzte.

Koalitionen des frühen 18. Jahrhunderts8 1718/19

1725

1726/28

8

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Quadrupelallianz HRR + GB + F (+ NL) l E Krieg der Quadrupelallianz (1718-1720) 1. Vertrag von Wien Allianz von HRR + E (+ R) hausen GB + F + PR Vertrag von Wusterhausen/Berlin HRR + PR Britisch-Spanischer Krieg (1727-29) GB l E

Herren-

Erläuterung der Abkürzungen: HRR = Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation; F = Frankreich; GB = Großbritannien(-Hannover); NL = Niederlande; E = Spanien; PR = Preußen; R = Russland.

Verträge als Zeichen

1729 1731

1735/1737/38

1748

Vertrag von Sevilla GB + F + E + NL 2. Vertrag von Wien HRR + GB + NL (+ E) Polnischer Erbfolgekrieg (1733-1738) HRR + R l F + E (Präliminar-) Frieden von Wien HRR + F (+ R + Sachsen/Polen) Österreichischer Erbfolgekrieg (1740-1748) HRR + GB + NL l PR + E + F + Sachsen u.a. Friede von Aachen HRR + GB + NL + F u.a. (+ E + PR )

Die obigen Ausführungen belegen, dass Bündnisverträge des frühen 18. Jahrhunderts nicht grundsätzlich Zeugnis langfristiger Partnerschaften sind. Doch wie können Verträge, die explizit von „Koalitionen“, „Allianzen“ oder „Freundschaftsbündnissen“ reden, anders gedeutet werden? Im folgenden sollen dazu zwei Überlegungen ausgeführt werden.

2. Verträge als Zeichen von Beziehungen Beziehungen zwischen Souveränen lassen und ließen sich an verschiedenen Faktoren ablesen, etwa dem Austausch von diplomatischem Personal. Wenn hier Verträge als Zeichen von Beziehungen gesehen werden, ist dies vor allem ein forschungspraktischer Ansatz. Liegt ein Vertrag vor, muß es zwischen den Vertragspartnern Verbindungen geben. Jedem Vertrag gehen Verhandlungen voraus, jeder Vertragsschluss ist von Zeichen dieser Beziehung gekennzeichnet. Der Schwerpunkt der Forschung über die europäischen Beziehungen des 18. Jahrhunderts lag und liegt auf einigen wenigen, wohl zum Teil auch der Sicht des 19. Jahrhunderts geschuldeten Konstellationen. So beschäftigt sich die Literatur hauptsächlich mit dem Verhältnis von Großbritannien und Frankreich, Frankreich und dem Reich, dem Reich und Preußen oder Preußen und Großbritannien. Im Vergleich dazu ist die Literatur

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zum Verhältnis des Kaisers zu Großbritannien im frühen 18. Jahrhundert eher dünn gesät.9 Nun könnte man annehmen, dies liege an der unterschiedlichen Interessenlage der beiden Mächte. Großbritannien als Seemacht und das Reich bzw. Österreich als Landmacht hätten zu wenig gemeinsam, die Beziehungen seien für die europäische Entwicklung des 18. Jahrhunderts somit unerheblich und dies schlüge sich in der Forschung nieder.10 Doch immer wieder fanden, wie oben ausgeführt, Vertragsschlüsse auch zwischen dem Kaiser und Großbritannien statt. Der zweite Wiener Vertrag von 1731 ist demnach ein Zeugnis für diese Verbindung. Vor Abschluss des Vertrags wurden Verhandlungen geführt. Durch die vorhergehenden Bündnisse war das Verhältnis nicht ungetrübt, doch konnte nach langen Unterhandlungen eine Einigung erreicht werden.11 Die Bereiche, die der Vertrag abdeckt, umspannen die wichtigsten Problemfelder der europäischen Politik dieser Zeit: Krieg und Frieden, Handel und Finanzen, Dynastie sowie Religion. Notwendige Bedingung für eine solch umfassende Einigung über komplexe Themen sind intensive Verhandlungen und damit auch weitgehende und kontinuierliche Beziehungen. Grundsätzlich sollte der Vertrag „Grundlage für die Beilegung der Feindseligkeiten und die Ausräumung der Differenzen“ 12 zwischen dem Kaiser, dem König von Großbritannien und Irland und den Generalstaaten der Niederlande sein. Als Freundschafts- und Verteidigungsvertrag beinhaltete er ausgehandelte Lösungen für die umstrittenen Streitfragen.13 Die wichtigste Frage der habsburgischen Politik des frühen 18. Jahrhunderts war die der Nachfolge in den habsburgischen Erblanden. Nach dem Tod des männlichen Erben Kaiser Karls VI. 1716 war endgültig klar, dass seine älteste Tochter Maria Theresia sein Erbe antreten 9

10 11 12 13

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Neuere Untersuchungen zu den diplomatischen Beziehungen von JARNUTDERBOLAV, 1972, und MCKAY, 1971; zu den Beziehungen im allgemeinen BLACK, 1983, und BLACK, 1989. Die Dissertation der Autorin zu diesen Beziehungen ist in Arbeit. So implizit die Meinung von BLACK, 1983, S. 148-149. Noch immer grundlegend ist die Einführung in diese Verhandlungen von PRIBRAM, 1907, S. 464-491. Vgl. die Präambel bei PRIBRAM, 1907, S. 492; hier eine moderne Übertragung. Der lateinische Text ebd., S. 491-514.

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würde. Dies wurde bis 1723 mit der Pragmatischen Sanktion von den Landständen der Erblande anerkannt.14 Doch die Anerkennung der anderen europäischen Fürsten stand noch aus. Mit der Diskussion um die spanische Erbfolge um die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert und dem folgenden europaweiten Krieg war aber deutlich geworden, dass jedes Testament und jede dynastieinterne Einigung ohne die Unterstützung der anderen Fürsten von vornherein zum Scheitern verurteilt sein musste. So versuchte Karl VI. in immer neuen Ansätzen, seine Erbfolgeregelung auch bei den anderen europäischen Mächten zu festigen. Im Vertrag von 1731 erkannten die beiden anderen Mächte Großbritannien und die Niederlande nach langen Verhandlungen schließlich die Pragmatische Sanktion an. Im Gegenzug legte ein geheimer Zusatz fest, eine zukünftige Heirat Maria Theresias dürfe das Gleichgewicht nicht stören oder der Vertrag werde hinfällig. 15 Ein weiteres Beispiel für ein schwerwiegendes Problem dieser Beziehungen sind die Handelsfragen. Neben einem auszuhandelnden Handels- und Zollvertrag einigten sich die Vertragspartner auf eine Regelung betreffend den Ostindienhandel.16 Seit Anfang der 1720er Jahre hatte Kaiser Karl VI. versucht, die großen Gewinne des Handels mit Indien für seine Untertanen nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck unterstützte er 1722 die Gründung der Ostindischen Handelskompanie in Ostende in den Österreichischen Niederlanden. Schon seit Bekanntwerden der ersten Pläne arbeiteten jedoch die britische East India Company und die Vereinigte Ostindische Kompanie der Niederlande (Generalstaaten) zusammen, um dieses Vorhaben entweder zu verhindern oder, als dies nicht mehr möglich war, die Auflösung der habsburgischen Handelskompanie zu erreichen. In dieser prestigeträchtigen und finanziell und wirtschaftlich hoch wichtigen Frage wurde während der 1720er Jahre ständig versucht, eine Einigung zu erreichen. Mit dem Vertrag stimmte der Kaiser letztlich 1731 zu, die Kompanie endgültig aufzulösen und nur zwei Schiffe offiziell nach Indien segeln zu lassen.17 14 Für die Betrachtung der Pragmatischen Sanktion immer noch maßgeblich TURBA, 1911/12. 15 Vgl. den 1. und 2. streng geheimen Zusatzartikel der Vertrags bei PRIBRAM, 1907, S. 512-513. 16 Vgl. ebd., Art. 5, S. 497-498. 17 Zur habsburgischen Ostindienkompanie von Ostende SERRUYS, 2005; NAGEL, 2007, S. 136-138.

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Wie sich allerdings letztlich zeigen sollte, konnte der Vertrag die vorhandenen Probleme nicht alle zufriedenstellend lösen. Während die Kontroversen um den ostindischen Handel weiter anhielten, brauchte es bei Ausbruch des Polnischen Thronfolgekrieges weitere Verhandlungen, bis sich Großbritannien auf Seiten des Kaisers engagierte. 18 Die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion wurde allerdings im Österreichischen Erbfolgekrieg durch den entsprechenden Beistand in der Großen Allianz gewürdigt. 19 Ein Vertrag kann also auch Index sein für die Qualität von Beziehungen – über seine Inhalte oder über die Folgen des Vertragsschlusses.20

3. Verträge als Zeichen von Macht 3.1 Vertraglich festgehaltene Repräsentation von Machtansprüchen Verträge sind nicht nur Zeichen von Beziehungen, sie können auch als „Signale der Macht“ verstanden werden. 21 Bei den Gesprächen, die einem Vertragsschluss vorangehen, werden die Positionen der Vertragspartner gegenseitig ausgetestet und festgehalten. Im Vertragstext werden z. B. durch das Festhalten der Titulatur der Vertragspartner, die Reihenfolge im Text und zeremonielle Regelungen die Positionen der Partner deutlich herausgestellt. Es werden also Machtansprüche vertraglich festgehalten. Besonders deutlich werden solche „Signale der Macht“ durch Verträge gegeben, wenn in un18 Untersuchungen zum Polnischen Thronfolgekrieg liegen vor von SUTTOn, 1980, und von KÖSTER, 1986. 19 VOCELKA, 2001, S. 164-170. 20 Wenn es zu keinem Vertrag zwischen Mächten kommt, kann dies tatsächlich ein Zeichen für nichtexistente Beziehungen sein, wie zwischen Russland und Spanien im späteren 18. Jahrhundert. 21 Vgl. hierzu das Habilitationsprojekt von Regina Dauser, Universität Augsburg, „Signale der Macht. Zwischenstaatliche Verträge als Authentisierungsstrategien im europäischen Mächtesystem, 17. / 18. Jahrhundert“, http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/geschichte/ fruehneuzeit/forschung/index.html#SignaleDerMacht.

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Verträge als Zeichen

terschiedlichen Fassungen von Verträgen die Rangfolge der Vertragspartner unterschiedlich ist. So steht im Vertrag zur Defensivallianz zwischen Großbritannien und Russland, die am 11. Dezember 1742 in Moskau geschlossen wurde, bei der französischen Version die Zarin an erster Stelle. Bei der englischen Fassung hingegen erscheint als erstes „His Britannick Majesty“.22

3.2 Klärung der Machtverhältnisse Bei den oben angeführten wechselnden Koalitionen und Bündnisverträgen wird es nicht überraschen, dass die Lösung der drängenden Probleme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht Verträgen allein überlassen wurde. In verschiedenen Friedenskongressen wurde versucht, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und so das Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen. Wie sich herausstellen sollte, waren die Verhältnisse aber nicht durch einen neuen Friedenskongress nach dem Vorbild der Westfälischen Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück zu klären. Der Kongress von Soissons war von 1728 bis 1731 ein solcher Versuch, die drängendsten Fragen der Zeit, besonders zur Aushandlung eines neuen europäischen Gleichgewichtes, zu lösen. Letztlich wurde er ohne bleibenden Erfolg auf gesamteuropäischer Ebene beendet.23 Parallel zu den Kongressverhandlungen wurden Verträge ausgehandelt, Bündnisse geschlossen und immer wieder wechselnde Allianzen geschmiedet. Ging es aber um die konkrete Durchsetzung von Standpunkten, handelte man mit aggressiven Mitteln. Der Einmarsch der kaiserlichen Truppen in Parma und Piacenza im Januar 1731 sollte die Umsetzung der spanischen Pläne für Italien verhindern.24 So operierte etwa Friedrich II. von Preußen, als er nach dem Tod Kaiser Karls VI. in Schlesien einmarschierte, um die habsburgische Erbin Maria Theresia vor vollendete Tatsachen zu stellen, bevor er 22 Die französische (russische) Fassung z.B. bei PAULLIN, 1937, S. 64; die englische bei PARRY, 1969, S. 66. 23 SIMMS, 2007, S. 211-215. 24 Nach Abschluß des Zweiten Wiener Vertrages zogen sich die Truppen allerdings wieder zurück, im März 1732 trat Don Carlos seine Herrschaft in Parma und Piacenza an. DURCHHARDT, 1997, S. 281-282.

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Verhandlungen vorschlug.25 Die Macht des Faktischen und vor allem die Macht der Waffen sollten erreichen, dass ohne größere militärische Mittel eine Veränderung der militärischen – und politischen – Lage erschwert würde. Das Ziel der Verträge scheint also nicht die Lösung der anstehenden Probleme zu sein, sondern eine Klärung der Sachverhalte, ein Abstekken der Machtverhältnisse. Dies kann und wird von mehr oder weniger aggressiver Politik begleitet. Die wechselnden Koalitionen sind damit immer Anzeichen für das gerade austarierte Verhältnis der einzelnen Parteien zu einander.

3.3 Zeichen von Machtstrategie Doch nicht nur die Machtansprüche und -verhältnisse werden mit Verträgen verdeutlicht, auch Machtstrategien können sichtbar werden. So ist die Abwendung von bisherigen Bündnispartnern eine strategische Entscheidung, die von allen Seiten als solche interpretiert werden wird – ob es zunächst geplant ist oder nicht. Von der vertragsschließenden Seite ist eine weitere Koalitionsverbindung vielleicht nur als Ausweitung des Sicherheitsnetzes beabsichtigt. Wenn die Verhandlungen für einen solchen Vertrag aber vor den bisherigen Partnern geheim gehalten werden und diese den Eindruck gewinnen können, der Vertrag richte sich – im schlimmsten Fall – gegen die bisherige Allianz oder aber zeige nur Desinteresse an den vorherigen Verbündeten, kann die Situation schnell ins Gegenteil verkehren und zu Spannungen, im äußersten Fall sogar zum Krieg führen. Auch eine bewusste Abkehr vor bisherigen Partnern ist denkbar, die eindeutiger als mit dem Eingehen eines gegensätzlichen Bündnisses nicht gezeigt werden kann. Ein deutliches Beispiel hierfür ist wieder der Zweite Wiener Vertrag von 1731. Mit seiner Unterzeichnung am 16. April 1731 in Wien gingen lange Verhandlungen zu Ende, während deren Verlauf sowohl der Kaiser als auch Großbritannien meinten, die Wünsche Spaniens genügend berücksichtigt zu haben. Allerdings wurde Spanien nicht mit in die Aushandlung einbezogen, obwohl gerade die Inhalte in Bezug auf

25 VOCELKA, 2001, S. 165-166.

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Parma und Piacenza und die Frage der Besatzungstruppen in Norditalien Spanien besonders betrafen. Genauso wenig informierte man Frankreich, welches sich zu diesem Zeitpunkt als Friedens- und Ausgleichsmacht verstand und in Fragen der habsburgischen Thronfolge und italienischen Herrschaften eigene Interessen verfolgte. Auf britischer Seite herrschte vielmehr die Meinung vor, man habe den Verbündeten in Spanien und auch Frankreich mit diesem Vertrag alle Wünsche erfüllt.26 Frankreich sah allerdings – wie auch Spanien – in diesem Verhalten einen Verrat Großbritanniens am Vertrag von Sevilla. Auch eine Versicherung Großbritanniens, mit diesem Vertrag kein anderes Bündnis verletzen zu wollen, konnte nicht über die Tatsache der geheim geführten Gespräche zwischen dem Bündnispartner und dem eigenen Gegner – dem Kaiser – hinwegtäuschen. Frankreich nahm entweder britisches Desinteresse oder Hegemonialstreben als Grundlage dieses Verhaltens an. Die Spannung wurde so stark, dass sie bis zum Sommer 1731 in der Panik von 1731 fast zu einem Krieg geführt hätte. Erst im Juli 1731 ließen die Spannungen nach, die allerdings noch lange im Bewusstsein der Verantwortlichen sein sollten. 27

4. Fazit Die angeführten Überlegungen sollten gezeigt haben, in welcher Weise Verträge als Indices gelten können. Einerseits zeigen sie Beziehungen und deren Qualität auf, andererseits lassen sich Machtansprüche, Machtverhältnisse und Machtstrategien an ihnen festmachen. Aber nicht allein der Vertrag, sondern auch die Verhandlungen im Vorfeld 26 Der britische Außenminister Newcastle äußerte sich gegenüber dem britischen Botschafter in Wien in einem Brief vom 1. April 1731 folgendermaßen: „[...] The Empr. has certainly done handsomely [...] Spain must be pleased, for I think we have gott more for them, than they had any pretence to ask of us, and they must be the most extraordinary people, and keene the most deceived, if we are not now the best friends in the world, [...] it is the general opinion that both the card. [André Hercule Kardinal de Fleury, wichtigster französischer Minister 1726-1743], and the Garde de Sceaux [Germain Louis Chauvelin, französischer Kanzler 1727-1737] will in their hearts be glad of it, however they may pretend the contrary.“ Zitiert nach BLACK/REESE, 1986, S. 72. 27 Ausführlich zur Panik von 1731: BLACK/REESE, 1986.

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sind als indexikalisches Zeichen charakterisierbar. So könnte man zumindest für einen Teil der Überlegungen auch Verhandlungen oder Gespräche zwischen Mächten als Zeichen werten.

Literatur BLACK, JEREMY/REESE, ARMIN, Die Panik von 1731, in: Expansion und Gleichgewicht. Studien zum Mächtegleichgewicht im Ancien Régime, hg. von JOHANNES KUNISCH, Berlin 1986, S. 68-91. BLACK, JEREMY, Anglo-Austrian relations 1725-1740. A study in failure, in: British Journal for eighteenth century studies, 12, 1989, S. 29-40. DERS., When ‚Natural Allies‘ fall out. Anglo-Austrian relations, 17251740, in: MÖStA, 36, 1983, S. 120-149. DUCHHARDT, HEINZ, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997. http://www.ieg-friedensvertraege.de, 28.6.2011. http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/geschichte/ fruehneuzeit/forschung/index.html#SignaleDerMacht, 28.06.2011. JARNUT-DERBOLAV, ELKE, Die österreichische Gesandtschaft in London (1701-1711). Ein Beitrag zur Geschichte der Haager Allianz, Bonn 1972. KJØRUP, SØREN, Semiotik, Paderborn 2008. KÖSTER, MAREN, Russische Truppen für Prinz Eugen, Wien 1986. MCKAY, DEREK, Allies of convenience. Diplomatic relations between Great Britain and Austria 1714-1719, New York 1986. NAGEL, JÜRGEN G., Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007. PARRY, CLIVE (Hg.), The consolidated treaty series, Dobbs Ferry 1969. PAULLIN, CHARLES OSCAR (Hg.), European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies. Vol. IV: 17161815, Washington D.C. 1937. PRIBRAM, ALFRED FRANCIS (Hg.), Österreichische Staatsverträge. England, Bd. 1: 1526-1748, Innsbruck 1907.

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Verträge als Zeichen

SERRUYS, MICHAEL-W., Oostende en de Generale Indische Compagnie. De opbloei en neergang van een koloniale handelshaven (1713– 1740), in: Tijdschrift voor Zeegeschiedenis, 24, 1, 2005, S. 43–59. SIMMS, BRENDAN, Three Victories and a Defeat. The Rise and Fall of the British Empire. 1714-1783, New York 2007. SUTTON, JOHN L., The king’s Honor and the king’s Cardinal. The war of the Polish succession, Lexington 1980. TURBA, GUSTAV, Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion. 2 Bde. (Wiener Staatswissenschaftliche Studien 10/2, 11/1), Wien/Leipzig 1911/12. VOCELKA, KARL, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat 1699-1815 (Österreichische Geschichte), Wien 2001.

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„Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht …“ Zum Umgang mit dem Zeichencharakter von Kunst in der reeducation ANDREAS LINSENMANN

Als eine „Tochter der Freiheit“ hat Friedrich Schiller die Kunst im zweiten seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen emphatisch bezeichnet.1 Spätestens die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts indes haben dieses idealistische Postulat, das schon bei Schiller eine ausgeprägt visionäre, programmatische Stoßrichtung beinhaltete, mit dem Befund konterkariert, dass künstlerische Hervorbringungen auch in den Dienst freiheits- und menschenverachtender Systeme gestellt werden können. So hat etwa das nationalsozialistische Regime 1

Angeregt durch Kants Kritik der Urteilskraft (1790) wie auch aufgrund seiner Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution entwirft Schiller in seinen auf das Jahr 1793 zurückgehenden Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit großer humanistischer Verve eine Ästhetik, die welthistorischem Geschehen durch utopisches Denken beizukommen versucht. Das Konzept ist das einer ästhetischen Lösung, „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert“ (2. Brief). Im Rahmen eines Bildungsideals, das den Menschen über Geschmack und Schönheit zu Sittlichkeit (21. Brief), bzw. „zur Wahrheit und zur Pflicht“ (23. Brief) und damit letztlich auch zu Urteilskraft und Moralität erziehen soll, beschreibt Schiller eine kulturoptimistische Wirkungsästhetik, in der er den Künsten eine enorme erzieherische Funktion zumisst. SCHILLER, 2005, S. 11, 82, 92.

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Kunst dezidiert als Bedeutungsträger für Anschauungen, Wertorientierungen und Verhaltensmuster verstanden. Kunst wurde daher, wie Hildegard Brenner bereits 1963 präzise feststellte, trotz aller Widersprüchlichkeit und Inkohärenz nationalsozialistischer Kunst- und Kulturpolitik umfassend als Mittel der „Einflussnahme und soziale[n] Kontrolle mittels gelenkter Wirklichkeitsdeutung“ genutzt. 2 Kunst und Kultur waren folglich nach der Niederringung Hitlerdeutschlands auch Gegenstand der Besatzungspolitik der Alliierten. Diese zielte nicht nur darauf, den Nationalsozialismus durch die Entnazifizierung justizförmig zu beseitigen. Unter dem Schlagwort reeducation sollten in einem breit angelegten politisch-kulturellen Aufklärungsprogramm vielmehr auch die Köpfe der Deutschen von der nationalsozialistischen Ideologie befreit und eine demokratische Gesinnung vermittelt werden.3 Vor allem die französische Siegermacht setzte in ihren oftmals mit dem Begriff „Entpreußung“ 4 charakterisierten Umerziehungs-Anstrengungen vielfach im künstlerischen und kulturellen Bereich an, um die ideologischen, mentalen und habituellen Wurzeln des Nationalsozialismus zu beseitigen und Anhaltspunkte für ein auf Toleranz, Offenheit und Demokratie ausgerichtetes Welt- und Menschenbild zu geben.5 Doch in welchem Maße können Kunstwerke überhaupt politischen Orientierungen und Werthaltungen – beispielsweise national-sozialistischen oder demokratisch-pluralistischen – zugeordnet werden? Inwieweit kann also in Anlehnung an Charles Sanders Peirce in der Begrifflichkeit der Semiotik von einem indexikalischen Verweischarakter von Kunstwerken ausgegangen werden?6 Wie sachhaltig kann eine entsprechende Kriterienbildung sein? Und wie groß sind bei der Bewer2 3

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Hierzu ausführlich: BRENNER, 1963, S. 273f. Aus der umfangreichen Literatur zur amerikanischen und zur alliierten Umerziehungspolitik sei lediglich hingewiesen auf die systematisch vertiefenden Studien von BUNGENSTAB, 1970 und FÜSSL, 1994. HÜSER, 1996, S. 422f. Jérôme Vaillant hat denn auch davon gesprochen, dass Frankreich die Denazifizierung vor allem als „kulturelles Problem“ verstanden habe. VAILLANT, 1981, S. 7f. Aus der breiten Literatur hierzu zusammenfassend: DEFRANCE, 1994 und ZAUNER, 1994. Zu den Spezialstudien zu einzelnen Bereichen siehe exemplarisch: SCHIEDER, 2003 sowie THAISY, 2006 und LINSENMANN, 2010. Zur Terminologie siehe überblicksartig KJØRUP, 2009, S 7f.

„Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht…“

tung Ermessensspielräume? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach. Dazu soll zunächst ein auf den ersten Blick irritierendes Beispiel dargestellt werden, das es zu kontextualisieren und historisch herzuleiten gilt, um davon ausgehend schließlich allgemeine Überlegungen zum Umgang mit dem, semiotisch gesprochen, Zeichencharakter von Kunst in der reeducation – und darüber hinaus – zu entwickeln.

Irritation und Erklärungsansätze Das Beispiel entstammt dem in Mainz herausgegebenen Musikjournal Melos, einem wichtigen Sprachrohr einer progressiven Ästhetik, dessen Erscheinen die Nationalsozialisten unterbunden hatten. In der MärzAusgabe von 1947 wird, bezugnehmend auf einen Artikel in der vorangegangenen Nummer, unter der Überschrift „Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht …“ aus der Zuschrift eines Lesers aus Freiburg zitiert: „… was schließlich den Südwestfunk betrifft, den ich regelmäßig höre, […] so gebe ich Ihnen zwar recht, dass seine musikalischen Programme planvoll und abwechslungsreich aufgebaut sind. Doch ist es nicht wahr, dass dort kein Wagner gespielt wird. Ich selber habe kürzlich Ouvertüre und Bacchanal aus „Tannhäuser“ gehört…“.7 Diese Bemerkung muss auf den ersten Blick erstaunen. Werke Richard Wagners im Programm des jungen Südwestfunks (SWF), das scheint nicht im Einklang damit zu stehen, dass dieser Sender 1946 von der französischen Besatzungsmacht installiert worden war. Sie betrieb den SWF bis 1949 als Einrichtung der Militärregierung und nutzte ihn als zentrale Informationsplattform sowie als Instrument ihrer Umerziehungspolitik.8 Zensur war dabei ebenso ein probates Mittel wie die Einspeisung eigener Inhalte. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund erklären, dass der SWF Werke just desjenigen Komponisten ausstrahlte, der in der nationalsozialistischen Kulturpolitik eine so herausgehobene Rolle eingenommen hatte? Hatte etwa die Zensur versagt? Das wiederum schien schwer vorstellbar. Die Franzosen, die proportional zur Bevölkerung in ihrer Besatzungszone die größte Zahl an 7 8

„Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht …“, in: Melos. Zeitschrift für neuen Musik, Heft 5 /14. Jahr, März 1947, S. 148. Dazu umfassend: FRIEDRICH, 1991 sowie HEYEN, 1986, S. 11-23.

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Besatzungstruppen auf deutschem Boden unterhielten, setzten beträchtliche Ressourcen für die kulturelle Überwachung und die allgemeine Informationskontrolle ein.9 Die diversen Kontrollinstanzen entschieden über jede Publikation und jede öffentliche Veranstaltung in der französischen Zone. Mit der Kontrolle des Rundfunk-Programms war die Section Radio der Direction d’Information (DI) befasst10 – wobei der SWF bis Anfang des Jahres 1950 und damit im Vergleich mit der Praxis in den anderen Rundfunkanstalten der westlichen Besatzungszonen mit am längsten formal der Zensur unterstand. 11 Sogar wenn innerhalb eines Weihnachts-Potpourris 1946 im Eifer einer Live-Sendung ein Stück mit dem Titel Klein-Hänschen spielt mit seinen Soldaten angesagt und gespielt wurde, hatte dies Konsequenzen: Der Pianist wurde für die Einbindung des als Ausdruck eines spezifischen deutschen Militarismus verstandenen Stücks in das Programm umgehend entlassen.12 Das französische Zensurverdikt galt über den SWF hinaus jeder Art künstlerischer Darbietung, in der nach Einschätzung der Besatzungsbehörden die Gefahr bestand, dass nationalsozialistisches sowie „militaristisches“, „imperialistisches“ oder „pangermanistisches“ Gedankengut zum Ausdruck kommen konnte.13 Diese Formulierung war dehnbar und 9

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Grundlage hierfür war das später mehrfach durch Erlasse ergänzte und präzisierte Gesetz Nr. 191 der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF), das in einer ersten Version am 24.11.1944 erlassen worden war. Es trat automatisch überall dort in Kraft, wo alliierte Truppen deutsches Gebiet besetzten und regelte die Kontrolle über Druckschriften, Rundfunk, Nachrichtendienst, Film, Theater und Musik. Zugleich untersagte es die Tätigkeit des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. DI-Leiter Jean Arnaud formulierte den Anspruch seiner Behörde im Januar 1947 dahingehend, einen langfristig angelegten geistigen Einfluss auszuüben, „die Viren der Goebbelsschen Propaganda abzutöten und die deutschen Massen für das demokratische und humanistische Ideal zu erziehen“. Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche (AOFAA), AAA 630/1, No. 5493/DGAA/INF, Rapport sur l’oeuvre de démilitarisation, dénacification et de démocratisation entreprise par la Direction de l’Information, Baden-Baden, 8.1.1947, S. 1. FRIEDRICH, 1991, S. 171. Schreiben von G. Schmitz an Oberst Péronnet (Baden-Baden) vom 2. Januar 1947 (Hist. Archiv des SWR/SWF Baden-Baden, Bestand Friedrich, Ordner III). AOFAA, AC 486/7a, No. 5853/DGAAEDU/BA/BSM/NG, Exposé des motifs, Baden-Baden, 25.6.1947, S. 1.

„Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht…“

wurde durchaus nicht eng ausgelegt. So wurde der Volkschor Freiburg im Mai 1947 sanktioniert, nachdem er in einem Konzert in alemannischer Mundart die „badisch Haimet“ besungen hatte. 14 Das Stück, das Anstoß erregte, war bei der Vorzensur nicht beanstandet worden. Es missfiel aber einem französischen Offizier, der das Konzert besuchte. Der bieder-schwärmerische Text dürfte bei allem Lokalpatriotismus im Sinne der genannten Kriterien kaum anstößig gewesen sein. Als problematisch erwiesen sich vielmehr Komponist 15 und Textdichter16. Beide hatten der NS-Ideologie nahegestanden. Dem Volkschor Freiburg wurde für die Dauer von drei Monaten jedwede Betätigung verboten, sogar das Proben. Insgesamt verfuhren die Franzosen bei Einsatz ihrer Zensurinstrumente wenig zimperlich. Nach „einigen schlechten Erfahrungen“, wie es der Leiter der Abteilung für die Beaux Arts, die Schönen Künste, Michel François, gegenüber seinem Vorgesetzten im Februar 1947 formulierte, verbot man beispielsweise in der französischen Besatzungszone kurzerhand sämtliche Kabarettveranstaltungen.17 Noch im Mai 1948 waren in Südwürttemberg-Hohenzollern Gesangvereine gezwungen, für jede einzelne Chorprobe eine Genehmigung der Militärregierung einzuholen. Dem Unmut über solch restriktive Vorgehensweisen gab ein Beobachter mit der Formulierung Ausdruck: „Im Kreise

14 Stadtarchiv Freiburg i.Br., C5-1876, 28.5.47, Konzert des Volkschores Freiburg vom 11., 12. und 13. Mai 1947. 15 Franz Philipp (1890-1972) war ein aus Freiburg stammender, im In- und Ausland angesehener, bedeutender katholischer Kirchenmusiker und Komponist. Im Dritten Reich hatte er sich durch NS-Feiermusiken offensichtlich dem Regime angedient – beispielsweise durch seine Volkskantate op. 32, die Deutsche Volkshymne zum Lob der Arbeit op. 33, das Orchesterwerk Heldische Feier op. 35 sowie die Kantate Ewiges Volk op. 45. KAUFMANN, 1998, FERDINAND, 1994, P RÜMM, 2002. 16 Paul Körber (1876-1943) hatte sich als Autor von Mundart-Theaterstücken profiliert, die sich vom NS-Regime instrumentalisieren ließen. So verfasste er zu den Küssaburg-Festspielen 1935 das Stück Salpeterer, das in heroischem Gestus den Kampf von Bauern aus der Grafschaft Hohenstein mit der vorderösterreichischen Staatsgewalt um alte Freiheitsrechte schildert und sich für eine propagandistische Auswertung durch das NS-Regime im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie geradezu anbot. IHME, 1988, S. 484. 17 Vgl. AOFAA, AC 67/1, [keine Nr.] DGAA/EDU/BA, Objet: Principes d’action culturelle, Baden-Baden, Février 1947, S. 3.

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Reutlingen seufzt man sehr.“18 Und ausgerechnet bei Wagner sollte dieses Kontrollnetz versagt haben? Wagner musste aus französischer Perspektive doch als äußerst problematisch gelten, und das insbesondere aus zwei Gründen: einer Politisierung von Musik und vor allem der Musik Wagners im Kontext des übersteigerten Nationalismus im späten 19. Jahrhundert sowie der massiven Indienstnahme Wagners im „Dritten Reich“.

Historische Codierungen Der erste Grund stand in engem Zusammenhang mit der als schmachvoll empfundenen Niederlage Frankreichs gegen Deutschland 1871. Ausgehend von dieser für die französische Nation geradezu traumatischen Erfahrung wurde Wagner, der sich nationalpolitisch unmissverständlich positioniert hatte, als exponierter Repräsentant einer in ihrem starken Einfluss nun vielfach als negativ gebrandmarkten deutschen Musikkultur verstanden und als „Preußenmusiker“ mit einer Art nationalem Bann belegt. Dabei war die neuartige Musik Wagners gerade in Frankreich zwar auf schroffe Ablehnung aber auch auf geradezu kultische Verehrung gestoßen.19 Zwischen Dezember 1870 und November 1873 kam nicht einmal ein Ausschnitt geschweige denn ein ganzes Werk Wagners in Paris zur Aufführung. Nach 1873 wurden Werke Wagners ausschließlich konzertant und in Ausschnitten gegeben. Dabei kam es indes immer wieder zu Störungen, Konzerte mussten abgesagt werden. Die erste Inszenierung eines Wagnerschen Musikdramas fand in der französischen Hauptstadt erst wieder 1887 statt.20 Als 1891 Wagners Lohengrin an der Opéra im Palais Garnier zur Aufführung stand – die Geschichte um den Sohn des Gralskönigs Parzival, der auf einem Schwan der Herzogin von Brabant als Beschützer 18 Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 80-T1, Betr.: Meldepflicht der Gesangvereine zur gelegentlichen Besprechung mit Herrn Cdt. Dollfus, Tbg. [Tübingen], 24.5.1948. 19 Dort verfügte der Wagnerismus mit der Revue Wagnérienne gar über ein eigenes publizistisches Organ. Zur Wagner-Rezeption siehe beispielhaft: FAUSER, 1999, KOPPEN, 1973, ECKART-BÄCKER, 1965. 20 SCHWARTZ, 1999, S. 10.

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gesandt wird, die ihn im Gegenzug niemals nach seinem Namen fragen darf und ihn verlassen muss, als sie sein Verbot bricht – wurde dies zum Anlass eines der größten Skandale der Musikgeschichte. Durfte dieses Werk mit seinem Thema aus den germanischen Legenden, in dem Heinrich I. als Urahn der deutschen Nation zelebriert wird, 20 Jahre nach der demütigenden Niederlage im Allerheiligsten des Pariser Musiklebens aufgeführt werden? War das eine rein künstlerische Angelegenheit oder nicht doch ganz entscheiden eine politische? Diese Frage, die so genannte „Lohengrin-Frage“, wurde erhitzt diskutiert. Die Berliner Zeitung Neueste Mittheilungen berichtete ihren Lesern darüber nicht ohne süffisanten Unterton am 15. September 1891, einen Tag vor der Premiere: „Paris hat eine neue ‚Frage‘, die die Bevölkerung in lebhafteste Aufregung versetzt. Die große Oper will den Wagner’schen Lohengrin aufführen, die Aufführung ist schon mehrmals aufgeschoben worden und soll nun am Mittwoch stattfinden. Die sog. Patrioten, zu denen sich alle gewerbsmäßigen oder fanatischen Deutschenhetzer gesellen, haben sich verschworen, um jeden Preis und mit allen Mitteln die Aufführung der deutschen Oper „Lohengrin“ zu verhindern oder, wenn das nicht gelingen sollte, an jedem AufführungsAbend einen solchen Straßenskandal hervorzurufen, dass die Regierung gezwungen werde, im Interesse der öffentlichen Ruhe die weiteren Aufführungen zu untersagen.“ Ziel der „Ruhestörer“ sei es, die Regierung zu zwingen „zu kapituliren und die weiteren Aufführungen der Oper zu verbieten“. Welch „läppische Dinge dabei vorkommen“, zeige „das Abreißen des Theaterzettels von den Anschlagsäulen, die Herausgabe besonderer Flugblätter“; die France verlange gar „ein Plebiscit“21. Nichtsdestotrotz: Die Premiere fand statt – wenn auch unter großen Tumulten. Mehrere Hundert Personen wurden festgenommen. 22 Allerdings war auch die Begeisterung groß: Lohengrin wurde in den folgenden drei Monaten noch 36 und bis zur Jahrhundertwende 200 Mal gegeben, weitere Werke folgten, der Bann um Wagner war in Frankreich gebrochen – während des Ersten Weltkrieges griff er allerdings erneut und wurde sogar noch strikter umgesetzt.

21 X. Jahrgang, Nr. 71, vgl. http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ ansicht/issue/11614109/1095/3/ [zuletzt geprüft am 7. August 2011]. 22 SCHWARTZ, 1999, S. 10.

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Der zweite potenzielle Grund für ein Zensur-Verdikt der Franzosen 1945 lag jedoch insbesondere in der Instrumentalisierung des WagnerWerkes während der NS-Herrschaft. Anknüpfend an eine lange Tradition konservativer bis reaktionärer Wagner-Rezeption stand im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Musiklebens ein regelrechter WagnerKult.23 Gründe hatte dies zum einen im persönlichen Wagner-Enthusiasmus Hitlers.24 Dieser hatte in „Mein Kampf“ Aufführungen von Wagner-Opern zu Ereignissen stilisiert, die schon früh sein Sendungsbewusstsein gestärkt, ja hervorgerufen hätten.25 Zum andern deckte sich der germanische Mythos, den Wagner in theatralischen Pomp und Kultcharakter gekleidet hatte, in hohem Maße mit der nationalsozialistischen Doktrin vom Supremat des Nordischen – allem voran natürlich der Ring des Nibelungen, der in eine vorzeitliche Traumwelt germanischer Götter und Helden entführt, oder die Meistersinger von Nürnberg, die das vermeintliche deutsche Mittelalter feiern. Irrationalität und emotionale Suggestionskraft nicht nur des Wagnerschen Klangidioms, sondern auch der Themen schienen ideal mit der NS-Ideologie zu korrelieren, in letzter Konsequenz vielleicht sogar die Todesverklärung etwa in der Götterdämmerung. Insofern war es bezeichnend und geradezu folgerichtig, dass Kompositionen Wagners in Rundfunk, Film und bei der Inszenierung von Partei-Anlässen systematisch eingesetzt wurden,26 dass man etwa die Meistersinger von Nürnberg zum Symbol des „heroischen Kampfes“ um die Zukunft Deutschlands stilisierte und die Parteitage der NSDAP alljährlich mit einer Aufführung dieser Oper eröffnete.27 Wagner ließ sich also geradezu als Inbegriff ideologisch motivierter nationalsozialistischer Kulturpolitik verstehen, als Musterbeispiel für deutschen Kulturdünkel, für Chauvinismus und rassistisch begründetes Überlegenheitsdenken – zumal sich Wagner selbst scharf antisemitisch geäußert hatte, wenngleich entsprechend zeitgenössischer Diskurse des

23 24 25 26 27

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GLASER, 2005, S. 203. Hierzu zentral: SPOTTS, 2002 sowie KÖHLER, 1997. HITLER, 1934, S. 167f. Vgl. REICHEL, 1992, S. 350f. MICHAUD, 2006, S. 54.

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19. Jahrhunderts.28 Die Besatzungsmächte jedenfalls verstanden es in dieser Weise und trugen dieser Einschätzung im Rahmen ihrer reeducation-Politik Rechnung. So reagierten etwa die Amerikaner auf den Wagner-Kult der Nationalsozialisten damit, dass sie während der Besatzungsjahre Aufführungen von Wagner-Werken oftmals unterbanden. 29 Die Bayreuther Festspiele etwa konnten erst 1951 wieder stattfinden. Vor diesem Hintergrund schien Wagner im SWF-Programm allenfalls als befremdliches singuläres Phänomen verstehbar. Doch es blieb nicht bei dieser ersten Irritation. Denn eine um die andere Aufführung von Werken Wagners lassen sich nachweisen. In Mainz beispielsweise waren es Programme mit Wagner-Stücken, mit denen man 1946 inmitten von Trümmern das Konzertleben wieder zu beleben versuchte, 1947 markierte die – konzertant gegebene – Oper Tristan und Isolde gar den Höhepunkt der Gutenberg-Festwoche.30

Zeichencharakt er und Deutungsoffenheit Wie sind diese Befunde nun zu interpretieren? Zweifellos lassen sich diverse Überlegungen anstellen – von einer nicht vollständig greifenden Zensur bis hin zu schlichter, den Wünschen vieler deutscher Konzertbe31 sucher und Radiohörer entgegenkommender Pragmatik seitens der Besatzungsbehörden. Auch der eingangs zitierte Melos-Leser hat den Sachverhalt offenbar nicht als selbstverständlich angesehen und seiner Beobachtung daher eine Erklärung nachgeschoben: „So stur werden die Leute an dem Sender wohl nicht sein, dass sie einen unserer größten

28 Vgl. Wagners antisemitische Schrift „Das Judenthum in der Musik“ (1850/1869). Zu Wagners Antisemitismus siehe z.B.: FISCHER, 2000, HEIN, 1996, KATZ, 1985, KREIS, 1995, SCHOLZ, 1993. 29 Dies jedoch, wie Toby Thaker betont, „not because the Americans thought it was Nazi music, but because the Nazis had liked it so much”. THAKER, 2007, S. 45. 30 WALZ, 2004, S. 181. 31 So bekundete ein enthusiastisches Wagner-Auditorium nach einer Aufführung der Walküre im Frühjahr 1947 in München seine Begeisterung mit 30minütigen Applaus. THAKER, 2007, S. 46.

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Tonmeister einfach nicht spielen, bloß weil früher so viel politischer 32 Lärm um ihn geschlagen wurde“. Hier soll jedoch eine andere mögliche Perspektive angesprochen werden. Wenn die Musik Wagners als Vehikel der propagandistischen Kunst- und Kulturpolitik des NS- Regimes gedeutet wird, so lässt sich dies im semiotischen Sinne als ein zeichenhaftes Verweisverhältnis verstehen. Wagners Werk stünde damit für Kulturdünkel, Chauvinismus, eine deutsche Überlegenheitsdoktrin, vielleicht gar für bestimmte rasseideologische Vorstellungswelten Hitlers. Wenn nun einerseits dieses zeichenhafte Verweisen zunächst als überdeutlich einzuschätzen ist und andererseits die Vorbehalte gegen diese Musik sich offenbar so rasch abschliffen, dass Wagner-Werke nur wenige Monate und Jahre nach Kriegsende zunehmend wieder gespielt werden konnten, stellt sich die Frage, wie die politisch entscheidende Assoziationskette – die Gleichsetzung von Wagner und der Musik der Nationalsozialisten – derart rasch an Relevanz verlieren konnte. Eine dauerhafte Argumentationslinie von Wagner zum Nationalsozialismus, die zu einem effektiven Verbot der Aufführung seiner Werke geführt hätte, hat es in den Besatzungsjahren jedenfalls ganz offensichtlich nicht gegeben. In Israel verhielt und verhält sich dies anders. Daniel Barenboim hat es 2001 erstmals seit der Shoa gewagt, ein diesbezügliches Tabu zu brechen und ein Werk Richard Wagners in einem öffentlichen Konzert zu spielen – begleitet von Schmähungen und heftigen Tumulten, aber auch von Ovationen. 33 Lässt sich das als Versuch verstehen, ein zeichenhaftes Verweisen von Wagner zum Nationalsozialismus aufzubrechen und andere Bedeutungszuschreibungen oder Assoziationsketten grundzulegen? Dieses Erklärungsmodell scheint eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Allerdings drängt sich dann die Frage auf, inwiefern Kunstwerke überhaupt für etwas stehen können? Ist ihr Zeichencharakter rein dis32 „Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht …“ (wie Anm. 7), S. 148. 33 Zubin Mehta war 1981 mit einem ähnliches Ansinnen noch gescheitert: Ein Holocaust-Überlebender hatte die Bühne gestürmt und ihn durch das Herzeigen von Narben aus seiner KZ-Gefangenschaft dazu gezwungen, die geplante konzertante Aufführung von Teilen aus Tristan und Isolde abzubrechen. http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/israel/ 1333350/Barenboim-shatters-Israel-taboo-on-Wagner.html [zuletzt geprüft am 7.8.2011].

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kursiv bestimmt? Hängen Symbolisierungen und Bedeutungsaufladungen tatsächlich weitgehend von Aushandlungsprozessen und Kontexten ab? Bei offen ideologischen – zumal textgebundenen – Werken, bei NS-Liedern, Huldigungs-Kantaten oder angebliche nordische Herrenmenschen überhöhenden Skulpturen Arno Brekers wird man das Interpretationsfeld nicht derart offen finden. Aber mit Beethoven haben Weimar und Westdeutschland ebenso renommiert wie das „Dritte Reich“ und die DDR. Beethoven war Teil deutscher kulturpropagandistischer Charme-Offensiven im besetzten Frankreich34 und Teil französischer Umerziehungspolitik im besetzten Nachkriegsdeutschland.35 Wagner wurde offenbar einerseits als Politikum gesehen und andererseits wiederum nicht. Man kann also die These formulieren, dass bei der zeichenhaften Inbezugsetzung von Kunst und politischen Werthaltungen in der reeducation – und darüber hinaus – vieles reine Setzung war. Das, um mit Peirce zu sprechen, indexikalische Verweisverhältnis, gewissermaßen die „Zeigefingerfunktion“, die Kunst in Bezug auf politische Inhalte mitunter zugewiesen wurde und wird, erscheint in vielen Fällen nicht als inhärent und per se dauerhaft. Der Zeichencharakter von Kunst wäre demnach in hohem Maße offen für historischen Wandel und in letzter Konsequenz häufig frei definierbar. Historische Bedeutungsaufladungen können gewissermaßen wie Sedimentschichten absinken. Eine zeichenhafte Zuordnung kann sich mit wachsendem Abstand abschleifen, kann verblassen – etwa der einst eminent politische Symbolgehalt des Namens „Verdi“, der während des italienischen Risorgimentos als Akronym für „Vittorio Emmanuele Re d’Italia“ eine Sympathiebezeugung für das Haus Savoyen darstellte, dem die Krone eines geeinten Italien zugedacht war. „Verdi“ war damals ein kaum verklausuliertes Bekenntnis zum nationalstaatlichen Zusammenschluss der Apenninenhalbinsel. Eine solche historische Codierung kann jedoch, wenn sie nicht narrativ permanent reaffirmiert wird, aus dem Blick geraten. Sie rangiert ab einem gewissen Punkt allenfalls noch als nebenrangige Konnotation oder abseitiges Expertenwissen.

34 SCHWARTZ, 1998, S. 55–78. 35 LINSENMANN, 2010, insbes. S. 156.

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Ein geschichtlicher Gehalt kann auch weitgehend überlagert werden – wie etwa bei der deutschen Nationalhymne zu ersehen. Diese war trotz wesentlich älterer und freiheitlicher Traditionsbezüge 1945 zweifelsohne auf das Engste mit der nationalsozialistischen Terror- und Eroberungspolitik verbunden – und ihr Absingen beispielsweise in der französischen Besatzungszone strikt verboten. 36 Allerdings gelang durch die Eingrenzung auf die dritte Strophe der zugrundeliegenden Dichtung August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens 1952 sowie nochmals 1991 langfristig eine weitgehende Aufhebung der Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus. Wird sie nicht explizit thematisiert, werden viele Zeitgenossen mit der deutschen Nationalhymne jedenfalls keine sozusagen „nationalsozialistische Kontamination“ mehr verbinden. Anhand dieser Beispiele ließe sich die These der Variabilität der Codierung von Kunstwerken durchaus stützen, wobei in den genannten Fällen der Wandel von Bedeutungszuschreibungen eng mit zunehmender zeitlicher Distanz verbunden wäre. Umcodierungen können jedoch auch bewusst und zielgerichtet betrieben werden. So ließe sich die Entscheidung französischer Kulturoffiziere, die Aufführung von Wagner-Werken nach 1945 nicht zu unterbinden, auch als Versuch einer bewussten Entkoppelung der Musik Richard Wagners von der NSIdeologie verstehen. Man könnte argumentieren, dass zuvor ja das NSRegime durch seine aggressive Aneignung das Werk Wagners erst als explizit „nationalsozialistisch“ codiert habe – und zwar ungemein effektiv und folgenreich. Besonders augenfällig wird der Versuch einer Revision von Zuschreibungsmustern denn auch gerade angesichts jüngster Entwicklungen beim Umgang mit dem Werk Wagners: Das Israel Chamber Orchestra hat am 26. Juli 2011 das Siegfried-Idyll zur Aufführung gebracht – in einem vielfach symbolbehafteten Konzert, das u.a. in Anwesenheit der Wagner-Urenkelin Katharina Wagner in Bayreuth stattfand und zu dessen Beginn gar die Hatikva, die israelische Nationalhymne, erklang. Dies lässt sich dezidiert als Versuch des Aufbrechens historischer Codierungen verstehen, bei der der Antisemit und Vorzeige-Künstler der NS-Kulturpolitik Wagner vom Musiker Wagner getrennt und seine Musik damit entideologisiert werden soll. Diese 36 Ebd., S. 133.

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habe „nichts antisemitisches an sich“, betont etwa der Vorsitzende der 2010 gegründeten Wagner-Gesellschaft in Israel, Jonathan Livny.37 Die nach wie vor heftigen Anfeindungen, die das Projekt flankierten, machen jedoch auch deutlich, wie tief zeichenhafte Zuschreibungen in einem Diskursumfeld verwurzelt sein können – etwa in Israel, wo Wagner geradezu zu einem Symbol für den Holocaust, ja zu einem „Symbol für das Böse“38 geworden ist – und wie konfliktbehaftet Aushandlungsprozesse ausfallen können, die etablierten Lesarten konkurrierende Interpretationen entgegensetzen.

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37 Gespräch mit Deutschlandradio Kultur: http://www.dradio.de/dkultur/ sendungen/fazit/1513945/ [zuletzt geprüft am 7. August 2011]. 38 So Erella Talmi vom Management des Israel Chamber Orchestra in einem Artikel im Berliner Tagesspiegel: http://www.zeit.de/kultur/2011-07/israelchamber-orchestra-bayreuth [zuletzt geprüft am 7. August 2011].

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A UTO RINNEN

UND

A UTO REN

Backerra, Charlotte, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Mainz und Glasgow, derzeit Doktorandin und Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Becker, Sebastian, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Romanischen Philologie und Betriebswirtschaftslehre in Mainz und Siena, derzeit Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Frings, Andreas, Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavistik und des Öffentlichen Rechts in Mainz und Kazan, Promotion in Mainz, derzeit Akademischer Rat am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Kjørup, Søren, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Kopenhagen und an der FU Berlin, seit 1974 Professur für Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften in Roskilde, zahlreiche Einladungen an norwegische Universitäten (Trondheim, Oslo, Bergen), in die USA (Harvard) und nach Frankreich (Maison des Sciences de l’Homme, Paris). Lehmann, Marco, Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Neueren Geschichte in Münster, derzeit Lehrbeauftragter am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 277

Vergangenheiten auf der Spur

Linsenmann, Andreas, Studium der Gesangspädagogik, Neueren und Neuesten Geschichte sowie der Musikwissenschaft in Karlsruhe und Basel, Promotion in Mainz, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Pilz, Oliver, Studium der Klassischen Archäologie, Alten Geschichte und der Mittelalterlichen Geschichte in Jena und Siena, Promotion in Jena, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Archäologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Visiting Scholar an der Ohio State University. Rohschürmann, Michael, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und des Öffentlichen Rechts sowie der Islamkunde und der Islamischen Philologie in Mainz, derzeit Doktorand und Lehrbeauftragter des Seminars für Orientkunde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Rüther, Kerstin, Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Münster, derzeit Lehrkraft für besondere Aufgaben am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Schäfer, Alexandra, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Kunstgeschichte und Komparatistik in Mainz und Glasgow, derzeit Doktorandin am Historischen Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Geschichte Mainz. Weber, Sascha, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Katholischen Theologie in Mainz, derzeit Doktorand und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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