Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien 316148620X, 9783161486203, 9783161586569

Eines der beherrschenden Phänomene der Städte im römischen Kaiserreich des 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. waren freie Ver

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German Pages 210 [213] Year 2006

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Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien
 316148620X, 9783161486203, 9783161586569

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
THOMAS SCHMELLER: Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert
A.J. BOUDEWIJN SIRKS: Die Vereine in der kaiserlichen Gesetzgebung
VERA HIRSCHMANN: Macht durch Integration? Aspekte einer gesellschaftlichen Wechselwirkung zwischen Verein und Stadt am Beispiel der Mysten und Techniten des Dionysos von Smyrna
DOMINIQUE BRABANT: Persönliche Gotteserfahrung und religiöse Gruppe – die Therapeutai des Asklepios in Pergamon
STEFAN SOMMER: Religion und Vereinigungsunruhen in der Kaiserzeit
DIRK SCHINKEL: „Und sie wußten nicht, warum sie zusammengekommen waren“ – Gruppen und Gruppeninteressen in der Demetriosepisode (Apg 19,23–40)
JOHN M.G. BARCLAY: Money and Meetings: Group Formation among Diaspora Jews and Early Christians
DIETRICH-ALEX KOCH/DIRK SCHINKEL: Die Frage nach den Vereinen in der Geistes- und Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des zeitgenössischen Vereinswesens und der „Wende“ in der protestantischen Theologie nach 1918
RICHARD S. ASCOUGH: Voluntary Associations and the Formation of Pauline Christian Communities: Overcoming the Objections
Mitarbeiterverzeichnis
Register

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Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor:

CHRISTOPH MARKSCHIES

Beirat/Advisory Board (Berlin) • GIOVANNI CASADIO (Salerno) (Berkeley) • JOHANNES H A H N (Münster) JÖRG R Ü P K E (Erfurt)

H U B E R T CANCIK SUSANNA E L M

(Berlin)

25

Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien Herausgegeben von

Andreas Gutsfeld und Dietrich-Alex Koch

Mohr Siebeck

geboren 1957; Studium der Geschichte, Latinistik und Sozialwissenschaften in Münster, Heidelberg und Bordeaux; Professor für Alte Geschichte an der Université Blaise-Pascal, Clermont-Ferrand. ANDREAS GUTSFELD,

geboren 1 9 4 2 ; 1 9 7 5 Promotion zum Dr. theol.; fessor für Neues Testament in Münster. D I E T R I C H - A L E X KOCH,

1983

Hablitation; Pro-

978-3-16-158656-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

ISBN 3-16-148620-X ISBN-13 978-3-16-148620-3 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Vorwort Am 15. und 16. Juni 2001 fand in Münster/W. ein Kolloquium zum Thema „COLLEGIA - Z Y N A m r A I - EKKAH2IAI / Vereine - Synagogen - Gemeinden" statt. Der Untertitel „Probleme und Schwerpunkte von Gruppenbildungen im Osten des römischen Kaiserreiches" zeigt bereits die Fragestellung, unter der das vielschichtige Thema behandelt wurde. Diese Perspektive ergab sich aus dem organisatorischen Gesamtzusammenhang, in dem das Kolloquium stattfand: Träger des Kolloquiums war der Sonderforschungsbereich 493 „Funktionen von Religion in antiken Gesellschaften des Vorderen Orients". Innerhalb des SFB 493 war im Rahmen der Projektgruppe „Religiöse Integration und Abgrenzung" eine Teilprojektgruppe zum Thema „Griechisch-römische Vereinigungen und christliche Gemeinden: Probleme gesellschaftlicher Integration und Abgrenzung vom 1. bis 3. Jahrhundert n.Chr." eingerichtet worden, die von den beiden Unterzeichnern geleitet wurde. Die Beiträge des Kolloquiums stammen zum einen von Mitarbeitern der Teilprojektgruppe (Dominique Brabant, Vera Hirschmann, Dirk Schinkel und Stefan Sommer), die hier Teile ihrer Forschungsarbeit im Rahmen des SFB einbringen konnten. Außerdem war es gelungen, eine Reihe namhafter auswärtiger Gelehrter zu gewinnen. Dies waren, in der Reihefolge des Kolloquiums, Prof. Dr. Thomas Schmeller / Dresden; Prof. Dr. A.J. Boudewijn Sirks / Frankfurt a.M.; Prof. Dr. John M.G. Barclay / Glasgow, UK; Dr. Richard S. Ascough / Kingston, Ontario, CDN. Ihnen sei an dieser Stelle nochmals für ihre Mitwirkung gedankt. Die Bearbeitung der Manuskripte auf dem Weg zur Drucklegung lag in den Händen von Eva Baumkamp, Miriam Helmert, Dorothea Rohde, Dirk Schinkel und PD Dr. Thomas Witulski. Ihnen allen sei für ihre Mühe herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Christoph Markschies für die Aufnahme in die Reihe „Studien zu Antike und Christentum" und dem Mohr Siebeck Verlag für die Drucklegung und die verlegerische Betreuung.

Clermont-Ferrand und Münster, im Oktober 2005

Andreas Gutsfeld Dietrich-Alex Koch

Inhaltsverzeichnis

T H O M A S SCHMELLER

Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert

1

A . J . B O U D E W I J N SLRKS

Die Vereine in der kaiserlichen Gesetzgebung

21

VERA HIRSCHMANN

Macht durch Integration? Aspekte einer gesellschaftlichen Wechselwirkung zwischen Verein und Stadt am Beispiel der Mysten und Techniten des Dionysos von Smyrna

41

DOMINIQUE BRABANT

Persönliche Gotteserfahrung und religiöse Gruppe - die Therapeutai des Asklepios in Pergamon

61

STEFAN SOMMER

Religion und Vereinigungsunruhen in der Kaiserzeit

77

DIRK SCHINKEL

„Und sie wußten nicht, warum sie zusammengekommen waren" Gruppen und Gruppeninteressen in der Demetriosepisode (Apg 19,23-40)

95

JOHN M . G . BARCLAY

Money and Meetings: Group Formation among Diaspora Jews and Early Christians

113

DIETRICH-ALEX K O C H / D I R K SCHINKEL

Die Frage nach den Vereinen in der Geistes- und Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des zeitgenössischen Vereinswesens und der „Wende" in der protestantischen Theologie nach 1918. 129

VIII

Inhaltsverzeichnis

RICHARD S. ASCOUGH

Voluntary Associations and the Formation of Pauline Christian Communities: Overcoming the Objections

149

Mitarbeiterverzeichnis

185

Register

187

Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert von THOMAS SCHMELLER

Das Anliegen dieses Beitrags erschöpft sich nicht in einer rein forschungsgeschichtlichen Darstellung. Das im 19. Jahrhundert unter Exegeten neu aufgekommene Interesse an antiken Vereinen soll nicht nur skizziert, sondern auch auf seine Entstehungsbedingungen hin befragt werden. Wie hängt dieses Forschungsinteresse mit anderen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Interessen zusammen? Welche gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen ermöglichen und fördern es? Das Hauptproblem einer solchen Untersuchung ist natürlich die Frage der Kompetenz. Als Neutestamentier fühle ich mich noch einigermaßen kompetent für die Forschungsgeschichte meines Faches, aber schnell überfordert, wenn es um deren Einbettung in größere Zusammenhänge geht. Eine sehr willkommene Hilfe ist deshalb das 1999 erschienene Buch von Ralph Hochschild: „Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung" 1 . Hochschild geht es zwar nicht speziell um Vereine, aber auch sie spielen eine Rolle. Ich halte dieses Buch für eine ausgesprochen geglückte Arbeit 2 , weil sie großen Wert auf „wissenschaftssoziologische Aspekte" legt. Es wird jeweils gefragt, „inwiefern sozialgeschichtliche Fakten und soziale Faktoren die Entstehung, Entwicklung und Rezeption der Forschungsrichtung und ihrer Hypothesen beinflußt haben, seien sie im engen Sinn auf die soziale Welt der Wissenschaftler oder auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse bezogen." 3 Hochschild versucht also gerade die überaus schwierige zeitgeschichtliche Verortung exegetischer Entwicklungen. Ohne dieses Buch hätte ich mich kaum an das vorgegebene Thema gewagt. Zunächst und vor allem widme ich mich dem 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich kann hier natürlich nur andeuten, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Ergebnissen Vereine in exegetische Un1 2 3

N T O A 42, Freiburg/Schweiz 1999. Vgl. meine Rezension von Hochschilds Buch B Z 45, 2001, 1 2 4 - 1 2 6 . R. HOCHSCHILD, Exegese (wie Anm. 1), 7.

2

Thomas

Schmeller

tersuchungen einbezogen worden sind. Eigentlich geht es mir - wie gesagt - darum, herauszufinden, wie es zu diesem neuen Forschungsgebiet kam. Dazu greife ich vor allem auf Äußerungen von Fachvertretern zurück, die programmatischen Charakter haben. Solche finden sich besonders in Vorworten, Ein- und Überleitungen, auch in Kritiken und Entgegnungen. Daneben ist - natürlich mit großer Vorsicht - auch nach Motiven zu fragen, die nicht explizit genannt werden oder die den Verfassern nicht (immer) bewußt waren.

I. Die exegetische Vereinsforschung Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert Die beiden großen Theologen, mit denen sich die Vereinsforschung im genannten Zeitraum verbindet, sind Edwin Hatch und C.F.Georg Heinrici. Beide heben Analogien zwischen Organisationsformen der Vereine und der ur- und frühchristlichen Gemeinden hervor, die kurz skizziert werden sollen. Hatch ging es bekanntlich darum, die Entstehung des christlichen Episkopen-Amts zu erklären. Nach einem Überblick über die Bedeutung und Verbreitung insbesondere der religiösen Vereine in den ersten Jahrhunderten zieht er die Parallele zu den Gemeinden: „Als die christlichen Lehren, hauptsächlich in den größeren Städten des römischen Reiches, zuerst verkündigt wurden, war d e m n a c h der g e n o s s e n s c h a f t l i c h e Z u s a m m e n schluß d e r j e n i g e n , welche die Lehren annahmen, keine vereinzelte und sonderliche Erscheinung mehr. Nicht alle Gläubigen aber traten sofort der G e n o s s e n s c h a f t bei. Viele standen für sich, und die B e w e g g r ü n d e für solche Stellung waren z a h l r e i c h e . " 4

Hatch spricht im selben Kontext von einer „Vereinigung der Gläubigen zu Genossenschaften" 5 . Die Besonderheit der Gemeinden gegenüber Vereinen sieht er im Umgang mit der damals neu entstandenen „Klasse der Armen" und der (im Abendland) ebenfalls neuen „Tugend der werkthätigen Barmherzigkeit" 6 : „Andere G e n o s s e n s c h a f t e n übten auch Barmherzigkeit, aber in ihnen war sie ein Accidens; in den christlichen Vereinen war sie das eigentliche W e s e n . Sie gab der religiö-

4 E. HATCH, Die G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g der christlichen Kirchen im Alterthum. Acht Vorlesungen, übers, v. A. Harnack, Gießen 1883, 20. 5 Ebd. 6 Beide Zitate: E. HATCH, G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g (wie Anm. 4), 26.

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen

im 19. und 20. Jahrhundert

3

sen E r w e c k u n g , welche fast immer eine Periode des socialen N o t h s t a n d e s begleitet, die b e s o n d e r e Richtung auf brüderliche Hülfeleistung." 7 W e i l in d e n G e m e i n d e n diese gegenseitige H i l f e l e i s t u n g w e s e n t l i c h t r a t e n h i e r d i e „ V e r w a l t u n g s - u n d F i n a n z b e a m t e n " 8 g a n z in d e n grund.

Diese

ETCIERXOTIOI;.

hatten

Die

nun

aber

hervorgehobene

denselben Stellung

Titel der

wie

in

enLox.OTTOI

der

war,

VorderUmwelt:

in

den

Ge-

m e i n d e n w u r z e l t n a c h H a t c h d e s h a l b in d e r A r m e n p f l e g e . H e i n r i c i h a t d i e bis d a h i n ü b l i c h e A u f f a s s u n g in F r a g e gestellt, alle urchristlichen G e m e i n d e n seien nach dem Vorbild der Synagoge

organisiert

g e w e s e n . F ü r eine heidenchristliche G e m e i n d e w i e die K o r i n t h s sei ganz

unwahrscheinlich.

herliegenden

In

mehreren

Beiträgen

Parallelen zu religiösen Vereinen

hat

er die

s.E.

der heidnischen

viel

dies nä-

Umwelt

h e r v o r g e h o b e n 9 . Ich zitiere a u s z u g s w e i s e die Stelle, an der Heinrici solche Parallelen am prägnantesten

zusammenstellt:

„ W i e Paulus das Verhältniss der Brüder zu einander an der Einheit von Leib und Gliedern veranschaulicht, so nennen sich die G e n o s s e n s c h a f t e n corpus, corporati; der B r u d e r n a m e ist hier und dort gebräuchlich ... Giebt es in Korinth noch kein festes Amt, sondern nur freiwillige Leistungen der Begabten und Begüterten, ... darf man aus II 818.19. I 163 auf die B e d e u t u n g des W ä h l e n s von B e a u f t r a g t e n und V e r t r a u e n s m ä n n e r n schliessen, so entspricht dies gleichfalls den Satzungen und Bräuchen der antiken G e n o s senschaften ... W i e in ihnen j e d e s Glied der G e m e i n s c h a f t gleiches Recht und gleiche Freiheit ... beanspruchte, so setzt dies Paulus bei der korinthischen G e m e i n d e voraus. ... Die sociale Folge dieser W e r t h u n g der Persönlichkeit war die grundsätzliche E b e n b ü r tigkeit der Sklaven und der Frauen im V e r b ä n d e .... Die S c h w e r p u n k t e des G e m e i n d e l e bens lagen in den Mahlzeiten ... Das SEETCVOV x u p i a x o v (I 1120) nach seiner christl. Bestimmtheit erhält den Charakter aus den Heilsthatsachen; abgesehen davon entspricht die im H e r r e n m a h l e g i p f e l n d e Feier den Festmahlen der Cultvereine auch darin, dass M ä n n e r und Frauen g e m e i n s a m theilnehmen durften. B e t r e f f s der gottesdienstlichen Versammlungen gilt gleichfalls diese Analogie. W e n n sie auf Darbieten der Mittel z u m A u f bau einer gegründeten Einsicht in die christl. W a h r h e i t und die Herrlichkeit des neuen L e b e n s sich richteten, so haben sie ihr Gegenstück in d e m geistigen Austausch der Philos o p h e n g e n o s s e n s c h a f t e n . Trat das ekstatische Element, wie bei der Glossolalie, in den V o r d e r g r u n d , so konnte sich der Nichteingeweihte, d e m der Zutritt o f f e n stand (ISLMTY]? I 1416), in die Mitte eines orgiastischen Cultvereins versetzt glauben. Auf die gleichen Analogien weisen ferner die H a u s g e m e i n d e n (sxxX7]criai x a x ' o i x o v ) , in denen das

7

E. HATCH, G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g (wie Anm. 4), 28. Ebd. 9 Vgl. C . F . G . HEINRICI, Die Christengemeinden Korinths und die religiösen G e n o s senschaften der Griechen, Z W T h 19, 1876, 4 6 5 - 5 2 6 ; DERS., Zur Geschichte der A n f ä n ge paulinischer G e m e i n d e n , Z W T h 20, 1877, 8 9 - 1 3 0 ; DERS., Das erste Sendschreiben des Apostels Paulus an die Korinthier. Erklärung der Korinthierbriefe in zwei B ä n d e n . Bd. I, Berlin 1880, bes. 2 0 - 2 9 ; DERS., Z u m genossenschaftlichen C h a r a k t e r der paulinischen Christengemeinden, T h S t K r 54, 1881 (=1971), 5 0 5 - 5 2 4 ; DERS., Der erste Brief an die Korinther, K E K 5 8 , Göttingen 3 1896, bes. 4 - 9 . 8

4

Thomas

Schmeller

religiös-patriarchalische Element in eben dem Masse vorwaltete wie in den Vollversammlungen des Verbandes das republicanische, - ebenso die Ausübung der Gastfreundschaft auch gegen die Gesammtgemeinde (Rom 16,23), die Behandlung der Geldangegenheiten unter Einschärfung der Pflicht gegenseitiger Unterstützung auch für local getrennte Glaubensverbände, das ... Patronatsverhältniss der Phöbe zur Gemeinde von Kenchreai, endlich die Ausübung der Disciplinargewalt in der Gemeinde." 1 0

Heinrici verweist ferner auf sprachliche Übereinstimmungen in Ausdrückein) und Formeln, welche sowohl in den Briefen des Paulus als auch in den Decreten der Genossenschaften für entsprechende Leistungen, Bestrebungen und Urtheile gebraucht w e r d e n " " . Sehr viel geringer ausgeprägt war das Interesse an Vereinen bei Adolf Harnack. Er übersetzte zwar das oben genannte Werk von Hatch und rechnete selbst das Vereinswesen zu den Voraussetzungen für die universale Ausbreitung des Christentums 1 2 und für die Entwicklung der Kirchenverfassung 1 3 , schränkte aber ein: „Doch ist ... die Bedeutung des Vereinswesens m.E. überschätzt worden." 1 4 Zu nennen sind ferner Adolf Deißmann 1 5 , Ernst v. Dobschütz 1 6 , Hans Lietzmann 1 7 , Edgar Loening 1 8 , Friedrich Lücke 19 , Karl J. Neumann 2 0 , Ernst Troeltsch 2 1 , Johannes Weiß 2 2 und andere. Die aufgezählten Autoren beschäftigen sich mit Vereinen unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten, weisen diesem Forschungsgegenstand aber jeweils so geringe Bedeutung zu, daß ich auf eine eigene Vorstellung ihrer Thesen und Argumente verzichte. Sie werden im folgenden

10

C.F.G. HEINRICI, 1 Kor (wie Anm. 9), 5 - 7 (Hervorhebungen im Original). C.F.G. HEINRICI, 1 Kor (wie Anm. 9), 7 (Hervorhebungen im Original). 12 Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Wiesbaden o.J. (=Leipzig 4 1924), 26. 13 Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten, Leipzig 1910, 32. 14 Mission (wie Anm. 12), 26; s. auch o. Anm. 3. 15 Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 4 1923, bes. 333. 16 Die urchristlichen Gemeinden. Sittengeschichtliche Bilder, Leipzig 1902, bes. 50f. 17 Zur altchristlichen Verfassungsgeschichte, ZWTh 55, 1914, 9 7 - 1 5 3 , bes. 1 0 1 106.111-113. 18 Die Gemeindeverfassung des Urchristentums. Eine kirchenrechtliche Untersuchung, Aalen 1966 (=Halle 1888), bes. 9 - 1 5 . 19 Die freien Vereine. Ein nothwendiges Capitel in der theologischen Moral. Erster, historischer und litterarischer Artikel, VTK 1, 1845, 1 - 2 5 . 20 Der römische Staat und die allgemeine Kirche bis auf Diocletian I, Leipzig 1890, bes. 46f. 21 Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften 1, Aalen 3 1977 (=Tübingen 1922), bes. 18-20. 22 Der erste Korintherbrief, KEK 5 9 , Göttingen 1977 (= zweiter Neudruck der Auflage von 1910). 11

Zum exegetischen

Interesse

an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert

5

dort berücksichtigt, wo es um die Fragen des Erkenntnisinteresses und der Motive geht.

IL Forschung im Kontext Es ist nicht mein Anliegen, die (meist negative) Aufnahme im einzelnen nachzuweisen, die die Beiträge von Hatch und Heinrici gefunden haben. Ich beschränke mich darauf, einige Tendenzen der Forschungsgeschichte hervorzuheben, wobei ich, wie gesagt, auch die oben nur aufgelisteten Autoren einbeziehe. Die Auswahl der Tendenzen, die im folgenden eine Rolle spielen, ist durch die Frage bestimmt, wo sich denn mögliche Bezüge zum wissenschaftlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit finden. Ich hebe also solche Deutungsmerkmale hervor, die kontextuell plausibel erscheinen. Diese Merkmale sollen damit nicht reduktionistisch und deterministisch allein durch kontextuelle Einflüsse erklärt werden. II. 1 Ich beginne mit dem exegetischen Kontext. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der protestantischen Exegese die konsequent historisch-kritische Erforschung des Neuen Testaments zum Durchbruch gekommen 2 3 . Hatch beruft sich ausdrücklich auf diese neue Methode und sieht in ihr die Chance, die alte Streitfrage nach der Entstehung der Kirchenverfassung einer Klärung näherzubringen: „Ich würde mich ... nicht für berechtigt halten, eine Sache aufzunehmen, die in sich selbst so verwickelt ist, und die in früherer Zeit Königreiche getheilt, ganze Dynastien entthront und Theologen zu Märtyrern gemacht hat, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, daß die Zeit gekommen ist, in welcher sich die Zahl der streitigen Punkte durch die Entdeckung neuer Thatsachen und durch die Anwendung einer sichereren Methode der Forschung vermindert hat. Wir haben in unserer Zeit die Ausbildung einer historischen Methode erlebt, welche die Controversen mindestens einschränkt, wenn sie sie auch nicht aufhebt." 2 4

23

Vgl. W.G. KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg i.Br. 2 1970, 215: „Die kritische Fortführung der von D.F. Strauß und F.C. Baur eingeleiteten radikalen geschichtlichen Betrachtung des Neuen Testaments in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte (...) zwar die extremen kritischen Resultate dieser beiden Forscher mannigfach abgeschwächt, aber drei ihrer Grundsätze hatten sich doch sehr weitgehend durchgesetzt: das Neue Testament muß streng geschichtlich erklärt werden; jede urchristliche Schrift muß durch Einordnung in den geschichtlichen Ablauf verständlich gemacht werden; die entscheidende Triebkraft des geschichtlichen Ablaufs im Urchristentum aber ist die Auseinandersetzung zwischen der dem Judentum verbundenen Lehre der Urapostel und dem durch Paulus bestimmten Heidenchristentum." 24

E. HATCH, Gesellschaftsverfassung (wie Anm. 4), lf.

6

Thomas

Schmeller

Wegen seines Votums für die historische Kritik lehnt Hatch ein Vorgehen ab, bei dem der frühen Kirche von vornherein ein unvergleichbarer Sonderstatus ober- oder außerhalb zeitgenössischer Gruppenbildungen zugesprochen wird. Vielmehr sind „die Thatsachen der kirchlichen Organisation einer bestimmten Zeit in ihrer Beziehung zu allen übrigen sicher zu ermittelnden Thatsachen derselben Zeit zu betrachten." 2 5 Das heißt eben auch, daß nichtchristliche Gruppen wie z.B. Vereine in den Blick genommen werden müssen, um zu klären, „wie weit die sich so ähnlichen Erscheinungen das Product der nämlichen Ursachen gewesen sind." 2 6 Derselbe historisch vergleichende und differenzierende Blick, der bei Hatch zu erkennen ist, hat auch die Untersuchungen Heinricis mitveranlaßt. Heinrici kritisiert ausdrücklich die pauschalisierende Art, wie frühere Exegeten mit den verschiedenen ntl. Aussagen zur Gemeindeverfassung umgingen: Alle wurden gleichermaßen auf die Synagoge zurückgeführt. Inzwischen habe aber „das Postulat Anerkennung erlangt ..., bei Erforschung des Urchristenthums nicht mit der Synthese verwandter Aussagen zu beginnen, um aus ihnen wohl oder übel ein Mosaikbild zu construiren, sondern eine jede vor allem andern nach ihrer eigenthümlichen Bedeutung zu erfassen." 2 7 Wenn jede Gemeinde für sich genommen wird, eröffnen sich natürlich ganz neue Möglichkeiten des Vergleichs. Neben der historischen Methode war es die „Entdeckung neuer Thatsachen", die Hatch zu seinem Beitrag veranlaßt oder wenigstens ermutigt hat. Damit ist auf die Welle epigraphischer Veröffentlichungen um 1870 angespielt, die die damaligen Kenntnisse der nichtchristlichen Vereinigungen deutlich erweitert hat. II.2 Vom exegetischen komme ich zum theologischen und kirchlichen Kontext. Sowohl bei den Exegeten, die einen Vergleich zwischen Gemeinden und Vereinen befürworten, wie bei jenen, die ihn ablehnen, spielen ganz offensichtlich theologische Überzeugungen und kirchliche Prägungen eine Rolle. Hatch wie Heinrici waren sich bewußt, welche weitreichenden Implikationen ihre Neuansätze hatten. Sie wußten, daß empörter Widerspruch zu erwarten war, der dann auch nicht ausblieb. Sehr deutlich positioniert sich Hatch: „Ich k o m m e nun auf die viel schwierigere Frage, wie j e n e (sc. die bischöfliche, Th.Sch.) O b e r g e w a l t entstanden ist. Mit d e m größten Mißtrauen aber nehme ich dieselbe auf, weil hier eine H y p o t h e s e lange Zeit hindurch allgemein verbreitet gewesen ist, welche direct nicht widerlegt werden kann, und welche den Ursprung j e n e r quasimonarchischen Obergewalt auf eine Einsetzung zurückführt, sei es nun des Herrn 25 26 27

E. HATCH, G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g (wie Anm. 4), 13. E. HATCH, G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g (wie Anm. 4), 13f. C.F.G. HEINRICI, C h r i s t e n g e m e i n d e n (wie Anm. 9), 465f.

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen

im 19. und 20. Jahrhundert

7

selbst, sei es seiner Apostel, die nach seinen ausdrücklichen A n o r d n u n g e n gehandelt hätten. Allein trotz der ehrwürdigen Namen, durch welche in vielen Jahrhunderten und in vielen Kirchen diese H y p o t h e s e vertreten worden ist, und trotz der Nachtheile, unter welchen ein Jeder leidet, welcher den kurzen und b e q u e m e n W e g , den sie ihm zu bieten scheint, verläßt und sich eine Straße durch ein dichtes G e s t r ü p p verwickelter T h a t s a c h e n bahnt, ist es doch, wenigstens für Einige von uns, unmöglich, den G l a u b e n gelten zu lassen, daß der Episcopat eine Ausnahme in d e m G a n g e der göttlichen Weltregierung bildet. W i r können uns nicht der Forderung entziehen, weiterzugehen und zu untersuchen, welche Ursachen wirksam gewesen sind, um die Entstehung der Obergewalt zureichend zu erklären, ohne unsere Z u f l u c h t zu der A n n a h m e einer speciellen und außergewöhnlichen , E i n s e t z u n g ' zu n e h m e n . " 2 8

Der Vergleich mit den Vereinen, die sich fast durchweg einen Vorsitzenden gegeben haben, veranlaßt Hatch, in den Gemeinden eine analoge Entwicklung anzunehmen. Damit wird die kirchliche Verfassung auf geschichtliche Ursachen zurückgeführt und eine unmittelbar göttliche Einsetzung abgelehnt. Die traditionelle dogmatische Sichtweise, die Hatch als eine Blickverengung kritisierte, war allerdings durchaus noch virulent. Im selben Jahr, als Hatch seine Bampton-Vorlesungen in Oxford hielt, veröffentlichte Carl Holsten ein Buch zur „äußere(n) Entwicklungsgeschichte des paulinischen Evangeliums", das eine scharfe Kritik an Heinricis Thesen enthielt 29 . Hier wird in der Tat großer Wert darauf gelegt, daß die Gemeinden des Paulus sich anders entwickelt haben als nichtchristliche Gemeinschaften, nämlich gerade nicht in Auseinandersetzung mit geschichtlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen, sondern auf der Grundlage einer transzendenten Bestimmung. Ich nehme aus einem größeren Abschnitt einige relevante Äußerungen zur korinthischen Gemeinde und zu 1 Kor heraus: „Eine g o t t e s g e m e i n d e ... ist die gemeinde der gläubigen, weil Gott, eine transcendente macht, durch seine XX^CTL? (sie!) vermittelst des apostéis sie gegründet ... Die gemeinde Gottes ist damit eine aus der sichtbar sinnlichen, sündigen weit h e r a u s g e h o b e n e , in dieser weit und doch außerhalb dieser weit (5,13) b e s t e h e n d e heilige g e n o s s e n s c h a f t von brüdern. Für die gemeinde Gottes ist daher der wille Gottes die macht über ihre leb e n s f o r m e n (12,28. 7 , 1 5 - 1 7 . 2 0 - 2 4 ) ... Und wie an den willen Gottes, so ist die gemeinde an die transcendenten bestimmungen des Herrn g e b u n d e n ... W i e aber Gott und wie der Herr im wesen und willen nur Einer und ein Einiger ist: so sollen in allen g e m e i n d e n dieselben l e b e n s f o r m e n bestehen. D e n n die gemeinden Gottes sind Eine g e m e i n d e . Keine einzelne hat das autonome recht, ihre lebensformen sich zu b e s t i m m e n ... So ist die gemeinde Gottes in ihren L e b e n s f o r m e n durch göttlichen willen, durch eine transcenden-

28

E. HATCH, G e s e l l s c h a f t s v e r f a s s u n g (wie Anm. 4), 79f. C. HOLSTEN, Das Evangelium des Paulus I: Die äußere E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e des paulinischen Evangeliums. 1. Abteilung: Der Brief an die G e m e i n d e n Galatiens und der erste Brief an die G e m e i n d e in Korinth, Berlin 1880. 29

8

Thomas

Schmeller

te u n d i d e e l l e m a c h t b e s t i m m t . D i e in d e r W i r k l i c h k e i t b e s t i m m e n d e m a c h t a b e r ist d e r a p o s t e l ... D i e g e m e i n d e G o t t e s ist ... ein O r g a n i s m u s d e s g e i s t e s G o t t e s . N u r als t r ä g e r d e s g o t t e s g e i s t e s k o m m t d a h e r i n n e r h a l b d e r g e m e i n d e G o t t e s j e d e s g l i e d in b e t r a c h t u n d d e m z u f o l g e s i n d in d e r g e m e i n d e a l l e n a t ü r l i c h e n u n t e r s c h i e d e a u f g e h o b e n z w i s c h e n j u d e n u n d h e i d e n , s k l a v e n u n d f r e i e n ( 1 2 , 1 3 ) , a r m e n u n d r e i c h e n ( 1 1 , 2 2 ) ... In d i e s e r schlechthinnigen Gottes

gleichstellung

untereinander

und

und gleichberechtigung

zueinander

liegt

es

der mitglieder der

principiell

begründet,

dass

gemeinde der

Ko-

r i n t h i s c h e n g e m e i n d e j e d e f e s t e g l i e d e r u n g f e h l t ... S o h a b e n w i r d e n n t a t s ä c h l i c h in K o r i n t h e i n e e i g e n t ü m l i c h e g e s t a l t u n g d e r g e m e i n d e . In i h r e n a l l g e m e i n e n l e b e n s f o r m e n ist d i e g e m e i n d e s c h l e c h t h i n an e i n e n w i l l e n a u ß e r ihr g e b u n d e n , g e b u n d e n an d e n w i l l e n Gottes, das gebot des Herrn, die b e s t i m m u n g des geistes. U n d keine g e m e i n d e hat d a s r e c h t e i g e n e l e b e n s f o r m e n zu w o l l e n , zu s c h a f f e n . " 3 0

Aus heutiger Perspektive stellen Holstens Ausführungen eine interessante Mischung aus paulinischen und unpaulinischen Gedanken dar. Die Bindung der Gemeinde an den Geist, ihre Existenz außerhalb und in der Welt, die grundsätzliche Gleichstellung der Gemeindemitglieder gehören sicher zur paulinischen Ekklesiologie. Ohne Grundlage bei Paulus ist dagegen die Behauptung, alle Gemeinden müßten in ein- und derselben Weise organisiert sein. Die unbestreitbar vorhandene, von Paulus wohl akzeptierte, jedenfalls nicht kritisierte Vielfalt in seinen Gemeinden wird völlig unterschlagen. Und übersehen wird auch, daß Paulus neben seinen theologischen auch recht konkrete Aussagen zur Gemeindewirklichkeit bietet, die erkennen lassen, wie sich das Wirken des Geistes vollzieht: durch die Wahrnehmung sehr verschiedener Befähigungen zum Nutzen der Gemeinde. Der Apostel ist nicht die einzige „in der Wirklichkeit bestimmende macht", sondern es gibt eine Fülle amtsähnlicher Funktionen, die auf bestimmte Personenkreise konzentriert, aber nicht beschränkt sind. Auch wenn Hatch in der oben zitierten Kritik wohl nicht Holsten im Blick hatte, trifft sie auf diesen doch weitgehend zu. Hier wird mit dogmatisch verengtem Blick nur das wahrgenommen, was zu passen scheint. In der Tat: ein kurzer und bequemer Weg, der ohne langwierige Umwege über sozialgeschichtliche Pfade das theologische, schon im voraus bekannte Ziel erreicht. So kann Holsten folgendes Fazit formulieren: „Was von vorne herein zu erwarten war, dass Paulus die lebensformen einer kultusgenossenschaft der dämonen (I Kor 10,20) nicht werde benutzt haben für die lebensordnungen einer gemeinde Gottes, das bestätigt das wirkliche leben der korinthischen gemeinde." 3 1 Ähnliche Abkürzungen nehmen auch andere Theologen. So stellte Lücke in seiner Abhandlung „Die freien Vereine" die erstaunliche These auf, weder in Griechenland noch in Rom habe es wirklich freie Vereine gege-

30

C . HOLSTEN, E v a n g e l i u m ( w i e A n m . 2 9 ) , 2 3 8 - 2 4 2 .

31

C . HOLSTEN, E v a n g e l i u m ( w i e A n m . 2 9 ) , 2 4 3 .

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen

im 19. und 20. Jahrhundert

9

ben 3 2 ; in der ganzen Antike begegne nur ein freier Verein, der „Urverein der christlichen Gemeinde" 3 3 . Loening, der die Entstehung des Episkopats nicht aus systematisch-theologischer, sondern aus kirchenrechtlicher Perspektive behandeln will 34 , bietet zwar eine differenzierte, abwägende Auseinandersetzung u.a. mit den Thesen Heinricis 35 , kommt dann aber zu dem Schluß: „ M i t d e m u n s zu G e b o t e s t e h e n d e n M a t e r i a l e k a n n d e r B e w e i s n i c h t g e l i e f e r t w e r d e n , d a s s die christlichen G e m e i n d e n ihre V e r f a s s u n g nach den F o r m e n der antiken K u l t v e r e i n e o d e r C o l l e g i e n g e b i l d e t h a b e n . Es konnte

dies auch

gar nicht

B e d ü r f n i s s e und Z w e c k e , die für die C h r i s t e n g e m e i n d e n

der Fall sein,

die wichtigsten

weil die

und

allein

werthvollen waren, trotz äusserer Aehnlichkeit ihrem W e s e n nach ganz a n d e r e waren, als die der heidnischen Cultvereine oder Collegien."36

Dahinter steht die Auffassung, daß es den christlichen Gemeinden im Unterschied zu den Vereinen um eine „Umbildung des ganzen sittlichen Menschen" gegangen sei und die Gemeinden deshalb eine andere Struktur brauchten, nämlich eine „Verfassung, welche die Einzelnen einer ununterbrochenen Aufsicht unterwarf und den Gemeindeorganen eine ausgedehnte Disciplinargewalt verlieh" 3 7 . Hier kommt offenbar eine bestimmte, auf anderem Weg gewonnene Sicht der frühchristlichen Ethik im sozialgeschichtlichen Vergleich mit Vereinen zum Tragen. Die ideologische Tendenz, die gerade demonstriert wurde, beschränkte sich aber nicht auf die Gegner des neuen Ansatzes. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem heidnisch-dämonischen Verein und der christlichen Gemeinde Gottes, den Holsten in dem angeführten Zitat andeutet, hat auch Exegeten beeindruckt, die einem Vergleich sonst nicht abgeneigt waren. Insbesondere Heinrici wurde nicht müde zu betonen, daß sich die paulinischen Gemeinden „nicht nach dem Vorbilde, aber in den Formen der religiösen Genossenschaften" entwickelt hätten 3 8 . Diese Formen waren die „zweckentsprechendsten" für die urchristliche Mission, aber „nur die Form war die gleiche, der Gehalt, das innere Band ist durchaus eigenartig" 39 . „Sie (sc. die religiösen Vereine, Th.Sch.) boten ... den neu erstehenden Christengemeinden die natürlichen und erprobten Analogien für eine wirksame und lebensfähige Organisation ... Dass ... übereinstimmende Formen der Verfassung trotz des Gegensatzes und ohne Beein32

S o F. LÜCKE, V e r e i n e ( w i e A n m . 19), 5 f .

33

F. LÜCKE, V e r e i n e ( w i e A n m . 19), 8.

34

G e m e i n d e v e r f a s s u n g ( w i e A n m . 18), 2.

35

G e m e i n d e v e r f a s s u n g ( w i e A n m . 18), 9 f .

36

G e m e i n d e v e r f a s s u n g ( w i e A n m . 18), 12 ( H e r v o r h e b u n g e n v o n m i r ) .

37

B e i d e Z i t a t e : DERS., G e m e i n d e v e r f a s s u n g ( w i e A n m . 18), 14.

38

Sendschreiben (wie A n m . 9), 21.

39

B e i d e Z i t a t e : DERS., S e n d s c h r e i b e n ( w i e A n m . 9 ) , 2 2 .

Thomas Schmeller

10

trächtigung der Glaubensüberzeugungen in verschiedenartigen Verbänden nutzbar gemacht werden können, sollte nicht in Frage gestellt werden - si duo faciunt idem, non est idem\"40 Und in expliziter Auseinandersetzung mit der Kritik Holstens formuliert Heinrici, daß die Analogien zwischen Gemeinden und Vereinen „nicht auf die Nachahmung eines ethnischen Vorbildes, sondern auf eigentümlich christliche Prinzipien zurückzuführen sei" 41 ; „die neue Idee ... beseelt... das Altgewohnte und Gebräuchliche mit neuer Kraft und neuem Gehalt." 4 2 Diese Ausführungen sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Einerseits werden die Nachahmung eines Vorbilds und die Übernahme bereits realisierter Formen strikt ausgeschlossen 43 . Andererseits kann es sich aber auch nicht um eine selbständige Neuentwicklung der analogen Formen durch die Gemeinden handeln 4 4 , denn sie werden eben als bereits erprobte, altgewohnte Formen von den Vereinen „angeboten". Wie Heinrici sich diesen Anschluß ohne Übernahme vorstellt, bleibt offen 4 5 . An einer Stelle läßt er aber durchblicken, wie es zu der eigenartigen Spannung gekommen sein könnte: „Dass ... durch die Annahme dieser erprobten Formen freier Association der originale Gehalt christlicher Lehre nicht irgend wie mit specifisch heidnischem Wesen versetzt wird, ist selbstverständlich." 4 6 Mir scheint Heinricis wiederholte Ablehnung von Nachahmung und Übernahme eigentlich nur darin ihren Sinn zu haben, jeden Gedanken an einen - über die Organisation vermittelten - heidnischen Einfluß auf die Gemeinden fernzuhalten. Darin war er sich mit seinem Kritiker Holsten einig.

40 41

DERS., 1 K o r ( w i e A n m . 9), 5. DERS., C h a r a k t e r ( w i e A n m . 9), 5 0 8 ( H e r v o r h e b u n g i m O r i g i n a l ) .

42

DERS., C h a r a k t e r ( w i e A n m . 9 ) , 5 0 9 . V i e l w e n i g e r strikt ist h i e r J. WEISS, 1 K o r ( w i e A n m . 2 2 ) , X X I V : E r m a c h t d a r a u f a u f m e r k s a m , „daß doch gewiß viele G e m e i n d e m i t g l i e d e r früher solchen Vereinen angehört h a t t e n , z . T . a u c h n o c h a n g e h ö r t e n , w e n i g s t e n s s o l c h e n m e h r b ü r g e r l i c h e n C h a r a k ters - l a g es nicht in d e r N a t u r d e r D i n g e , d a ß sie in m a n c h e m e i n z e l n e n T u n , in m a n c h e m B r a u c h , in m a n c h e r p r a k t i s c h e n A n o r d n u n g e i n f a c h h a n d e l t e n , w i e es in j e n e n Sitte w a r , n a t ü r l i c h m e h r u n b e w u ß t , aus d e r N o t w e n d i g k e i t d e r S a c h e h e r a u s ? " 43

44 D i e s e S i c h t v e r t r a t K . J . NEUMANN, Staat ( w i e A n m . 2 0 ) , 4 6 f : „ A u c h d i e c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e n sind G r i e c h e n u n d R ö m e r n als s o l c h e T h i a s o i e r s c h i e n e n ... E s b e d ü r f t e g e r a d e z u d e r E r k l ä r u n g , w e n n g r i e c h i s c h e C h r i s t e n in i h r e n n e u e n V e r b i n d u n g e n k e i n e r e l i g i ö s e n G e n o s s e n s c h a f t e n , k e i n e T h i a s o i s o l l t e n g e s e h e n h a b e n ... D i e i n n e r e O r g a n i s a t i o n d e r h e i d e n c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e n ist i n d e s s e n nicht e t w a d u r c h Ü b e r t r a g u n g d e r t h i a s i s c h e n V e r f a s s u n g , w i e d i e s e l b e u n s a u s d e n I n s c h r i f t e n b e k a n n t ist, zu e r k l ä r e n ; d i e c h r i s t l i c h e G e m e i n d e o r d n u n g ist v i e l m e h r a l l m ä h l i c h e n t s t a n d e n und l a n g s a m a u s d e n Bedürfnissen des Lebens herausgewachsen." 45

D i e s e U n s t i m m i g k e i t b e m e r k t e a u c h s c h o n E. LOENING, G e m e i n d e v e r f a s s u n g ( w i e A n m . 18), 9f. 46

C . F . G . HEINRICI, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 9), 9 0 .

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen

im 19. und 20. Jahrhundert

11

II.3 Diese Abgrenzung hat allerdings noch einen konfessionellen Aspekt, der über das beschriebene systematisch-theologische oder kirchliche Interesse hinausgeht und auf den bereits John S. Kloppenborg zu Recht hingewiesen hat 47 . Die Alternative zu einer Ableitung der Gemeindeformen von den heidnischen Vereinen war das Judentum. Wie oben angedeutet, war es im 19. Jahrhundert nach weithin einhelliger Meinung die Synagoge, aus der sich die Kirchenverfassung entwickelte. Diese Bevorzugung der als einfach und rein gewerteten jüdischen Herkunft diente oft nur oder vor allem dazu, das Urchristentum vor einer frühen Kontaktaufnahme mit dem als verderblich angesehenen Heidentum zu schützen. Für protestantische Autoren - und praktisch nur solche beschäftigten sich damals kritisch mit dem Thema - bedeutete der griechisch-römische Einfluß oft den Beginn des Frühkatholizismus. Zumindest bei den paulinischen Gemeinden wollte man davon noch nichts wissen. Dieses konfessionelle Interesse läßt sich bei Heinrici gut erkennen. Seine „Geschichte der Anfänge paulinischer Gemeinden" 4 8 endet in einem „Epimetron", das die Entwicklung des Christentums in den nachneutestamentlichen Jahrhunderten schildert, wo es allmählich zu einer Massenreligion wird. Heinrici spricht von einer „degenerirenden Entwicklung"; jetzt mache sich „der Einfluss gewisser verhängnissvoller Vorbilder auf die mächtige Christenschaft geltend, nämlich der Einfluss der als Genossenschaften organisierten orientalischen Kulte." 4 9 Dieser Einfluß bedeutet für ihn eine Entfernung von den biblischen Anfängen: „ P r i n i c i p i e l l j e d e N e i g u n g z u r R e l i g i o n s m i s c h u n g , in d e r d i e s u p e r s t i t i ö s e R e l i g i o s i tät d e s s i n k e n d e n R ö m e r r e i c h s g i p f e l t e , a b l e h n e n d u n d in B e t r e f f d e r L e h r e , e h e d i e O m n i p o t e n z d e s r ö m i s c h e n B i s c h o f s a u f g e r i c h t e t w a r , p r i n i c i p i e l l d e n Z u s a m m e n h a n g mit d e m Quell und der N o r m aller christlichen Erkenntniss, der heiligen Schrift, aufrecht e r h a l t e n d , k o n n t e es (sc. d a s C h r i s t e n t u m , T h . S c h . ) s i c h d o c h i m m e r w e n i g e r d e m E i n flüsse der glänzenden und verführerischen Anstalten für Seelenfängerei und Geistesverg e w a l t i g u n g , w i e sie u n t e r d e m S c h u t z d e r p h r y g i s c h e n M u t t e r o d e r d e r ä g y p t i s c h e n Isis b l ü h t e n , b e t r e f f s d e r Sitte und d e s K u l t u s e n t z i e h e n . (...) N u r d u r c h E r k e n n t n i s d i e s e s V e r h ä l t n i s s e s w i r d d e r U e b e r g a n g d e r d e m ü t h i g e n A n f ä n g e d e s C h r i s t e n t u m s in d e n P r a c h t - B a u d e s r ö m i s c h e n K a t h o l i c i s m u s v e r s t ä n d l i c h , e b e n s o w i e d u r c h sie d i e B e r e c h t i g u n g u n d N o t h w e n d i g k e i t d e r u n a b l ä s s i g neu e r s t e h e n d e n r e f o r m a t o r i s c h e n B e w e g u n gen erhellt."50 47 V g l . J . S . KLOPPENBORG, E d w i n H a t c h , C h u r c h e s a n d Collegia, in: B . H . MCLEAN ( H g . ) , O r i g i n s a n d M e t h o d . T o w a r d s a N e w U n d e r s t a n d i n g of J u d a i s m a n d C h r i s t i a n i t y ( J S N T . S S 8 6 ) , S h e f f i e l d 1 9 9 3 , 2 1 2 - 2 3 8 , h i e r 2 2 4 - 2 2 8 (mit B e l e g e n ! ) . V g l . d a z u a u c h W . O . MCCREADY, Ekklesia a n d V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s , in: J . S . KLOPPENBORG/S.G. WILSON ( H g g . ) , V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s in t h e G r a e c o - R o m a n W o r l d , L o n d o n 1 9 9 6 , 5 9 73, hier 62. 48

V g l . o. A n m . 9.

49

B e i d e Z i t a t e : DERS., G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 9 ) , 120. DERS., G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 9 ) , 120f.

50

12

Thomas

Schmeller

Die eine Seite wird hier sehr deutlich: Ein echter Einfluß der Vereine schon im 1. Jahrhundert wäre mit der ursprünglichen Reinheit und Einfachheit des Christentums unvereinbar und würde reformatorische Grundannahmen in Frage stellen. Die andere Seite, die Bevorzugung der jüdischen Wurzeln, ist dagegen bei Heinrici nicht anzutreffen. Ihm geht es j a gerade darum zu zeigen, daß die Universalisierung des Christentums durch Paulus und der große Zustrom von Heidenchristen den Anschluß an die Synagoge beendeten. Eine judenchristliche Gemeinde des Jakobusbriefs „konnte sich ihrem Wesen entsprechend in den alten Formen bewegen und ausbreiten" 5 1 , nicht so dagegen eine heidenchristliche Paulusgemeinde: „Das Wort vom Kreuz ist ein neues Princip, der Glaube an die erlösende Kraft des Kreuzestodes öffnet einen neuen Heilsweg, der Gläubige ist eine neue Creatur. Wenn dem so ist, dann hiesse es die Reinheit des Princips gefährden, wenn Paulus durch Uebertragung der Synagogalverfassung auf die Korinthische Gemeinde dem überwundenen Judenthum eine Auctorität in der Christengemeinde zuerkannt hätte." 5 2

Weil also die Synagoge keinen Einfluß mehr, die Vereine noch keinen Einfluß ausüben konnten, bleibt für Heinrici nur die oben beschriebene, spannungsvolle Annahme einer bis ins Detail gehenden Analogie zu Vereinsstrukturen ohne wirkliche Abhängigkeit. Beide Voraussetzungen sind aus heutiger Sicht allerdings problematisch: Die Annahme einer reinen, von der heidnischen Umwelt unbeeinflußten Ursprungsepoche, die später durch solchen Einfluß zum Frühkatholizismus degenerierte, ist ebensoschwer haltbar wie die Auffassung, für Paulus sei das Judentum „überwunden" gewesen. II.4 Große Bedeutung für die exegetische Vereinsforschung hatte auch der soziale und sozialwissenschaftliche Kontext des 19. Jahrhunderts. Sowohl Lücke wie Hatch heben jeweils am Anfang ihrer Abhandlungen die große Verbreitung und Bedeutung von Vereinen zu ihrer Zeit hervor 5 3 . Hatch stellt explizit eine Analogie her: „Unter den vielen Parallelen, welche zwischen den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung und unserer Zeit gezogen werden können, giebt es wahrscheinlich keine schlagendere als die gemeinsame Tendenz zu Bildungen von Genossenschaften. Damals wie jetzt gab es Genossenschaften für unzählige Zwecke in beinahe allen Theilen des Reiches." 5 4 Das ist mehr als ein bloßer Aufhänger. 51

C.F.G. HEINRICI, Christengemeinde (wie Anm. 9), 472. DERS., Christengemeinde (wie Anm. 9), 471 (Hervorhebungen im Original). 53 Vgl. F. LÜCKE, Vereine (wie Anm. 19), 1; E. HATCH, Gesellschaftsverfassung (wie Anm. 4), 17. 54 Ebd. Eine allgemeinere Entsprechung sah etwas später E. LOHMEYER, Soziale Fragen im Urchristentum, Libelli 283, Darmstadt 1973 (=Leipzig 1921), 5 - 7 : Die Gegen52

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert

13

Die ungeheure Entwicklung des Vereinswesens 5 5 war für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht nur eine erfreuliche Nebensache, sondern hatte - zumindest anfangs 5 6 - stark emanzipatori sehen Charakter 57 . Insofern war der Vereinsbegriff positiv besetzt, insbesondere in den mittleren Schichten der Städte, aus denen sich in der Regel auch die an den Universitäten tätigen Theologen rekrutierten 5 8 . Neben dem Aufschwung des Vereinswesens ist auch der der Sozialwissenschaften zu nennen. Daß Exegeten davon Notiz nahmen, zeigt die Entwicklung der sozialgeschichtlichen Exegese allgemein. Ein schönes Beispiel ist W. Edward Chadwick, der sich 1906 durch die aufstrebende Soziologie dazu veranlaßt fühlte, die urchristliche Soziallehre zu rekonstruieren, die s.E. mindestens ebenso hilfreiche Antworten wie die Soziologie für die sozialen Fragen der Gegenwart bereithält: „I believe the social teaching of the New Testament when read in the light of the most scientifically pursued research into the problems of society will prove to be at least equally true to experience, and equally capable of solving the problems of society." 5 9

wart wie die Epoche des NT seien Perioden des Übergangs, in denen eine alte Welt versunken und eine neue noch nicht entstanden sei; dies zeige sich insbesondere in der Dringlichkeit der sozialen Frage. 55 T. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 4 1987, 267, nennt das 19. Jahrhundert „das Jahrhundert der Vereine". 56 Vgl. W. HARDTWIG, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: O. DANN (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, HZ.B N F 9, München 1984, 11-50, hier 49: Nach 1848/49 verlor der Vereinsbegriff allmählich die „Aura unbedingter Fortschrittserwartung". 57 Vgl. K. TENFELDE, Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850-1873), in: O. DANN, Vereinswesen (wie Anm. 56), 5 5 114, hier 81: Hauptgrund für die Zunahme der Vereine ab 1850 war der „Rückzug des Staats aus seinen ursprünglichen wirtschafts- und gesellschaftsordnenden Funktionen" und damit die „Um- und Aufwertung des Untertanen zum Staatsbürger". Vgl. auch G. THEISSEN, Introduction: Sociological Research into the New Testament. Some Ideas Offered by the Sociology of Knowledge for a New Exegetical Approach, in: DERS. (Hg.), Social Reality and the Early Christians. Theology, Ethics, and the World of the New Testament, Minneapolis 1992, 1 - 2 9 , hier 4f, der den kritischen Geist, der sich auch in den Vereinen ausdrückte, mit der Entstehung der sozialgeschichtlichen Exegese in Verbindung bringt. 58 Vgl. K. TENFELDE, Entfaltung (wie Anm. 57), 73: Der „Schwerpunkt der Vereinsbewegung (lag, Th.Sch.) bis nach der Reichsgründung in den stadtbürgerlichen Mittelschichten" (Hervorhebungen im Original). Von der Wissenschaft wurde auf die Vereinsform „in der Tradition der Akademiebewegung zur Verbreitung ,nützlicher' Kenntnisse" zurückgegriffen (ebd.). Zum Hintergrund Lückes vgl. R. HOCHSCHILD, Exegese (wie Anm. 1), 5 9 - 6 1 . 59 W.E. CHADWICK, The Social Teaching of St. Paul, Cambridge 1906, 92. Zu diesem apologetischen Interesse vgl. auch G. THEISSEN, Introduction (wie Anm. 57), 6.

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Schmeller

Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts und dann bis zum 1. Weltkrieg war gerade das zeitgenössische Vereinswesen Gegenstand vieler sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Noch 1910 wurde von Max Weber die Bedeutung der soziologischen Vereinsforschung betont; nach dem 1. Weltkrieg wurde diese Linie aber nicht fortgesetzt 6 0 . Es ist anzunehmen, daß das exegetische Interesse an antiken Vereinen auch dadurch beeinflußt wurde. II.5 Schließlich komme ich zum kulturellen Kontext in einem sehr weiten Sinn. Wenn ich die hier relevanten Beobachtungen auf einen Nenner bringen soll, dann geht es um eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft, Philosophie und Theologie Deutschlands verbreitete und positiv gewertete „Volkstümlichkeit". Volksnähe wurde gleichbedeutend mit Lebensnähe. Hier drückt sich, beeinflußt durch die Industrialisierung, ein Verlust an unmittelbarer Lebenserfahrung aus. Hochschild macht in diesem Zusammenhang auf zwei Erscheinungen aufmerksam. Das ist zum einen die sogen. Lebensphilosophie (Dilthey, Bergson), in der „Leben" ein „Begriff gegen das Herkömmliche, gegen Kultur und Konvention" wurde und „Authentizität, Unmittelbarkeit und Erfahrung" 6 1 beinhaltete. Zum anderen nennt Hochschild die Jugendbewegung. Seine diesbezügliche Analyse halte ich für einen Höhepunkt des Buchs, deshalb lasse ich ihn hier etwas ausführlicher zu Wort kommen: „Die Entstehung der J u g e n d b e w e g u n g wie die E n t d e c k u n g des P h ä n o m e n s , J u g e n d ' überhaupt gehört zu den Folgen der Industrialisierung. Stärker als bei den anderen Jugendlichen ihrer Zeit verzögerte sich bei den bürgerlichen Jugendlichen der Ubertritt von der Schule in den Arbeitsprozess - und damit die Möglichkeit, Verhalten und Haltungen zu erproben, , L e b e n ' zu erfahren ... Gegen diesen Verlust setzt die J u g e n d b e w e g u n g wie im übrigen auch die zeitgenössische Pädagogik das unmittelbare Erleben als Basis des Lernens: Erleben von Natur als Ausbruch aus der objektivierten Alltagswelt, neues Interesse an , V o l k s - R e l i g i o n ' , die Revitalisierung romantischer Erlebens- und Verhaltensmuster und mit ihr das Interesse an Volkskultur ... Zweifellos wurde durch diese Entwicklung die Plausibilität einer wissenschaftlichen R ü c k f r a g e nach Volkskultur gesteigert und konnte eine religiöse G e m e i n s c h a f t Legitimität gewinnen, deren konstituierende U r k u n den der Volkskultur e n t s t a m m t e n . " 6 2

Nicht erst in der Formgeschichte mit ihrer Einschätzung der ntl. Texte als volkstümliche Kleinliteratur wurde diese Entwicklung für die Exegese relevant. Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert war es vor allem Deißmann, der 60 Vgl. O. DANN, Die A n f ä n g e politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: U. ENGELHARDT/V. SELLIN/H. STUKE (Hgg.), Soziale B e w e g u n g und V e r f a s s u n g . Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Industrielle Welt S o n d e r b a n d , Stuttgart 1976, 1 9 7 - 2 3 2 , hier 197.229f. 61 Beide Zitate: R. HOCHSCHILD, E x e g e s e (wie Anm. 1), 113. 62 DERS., Exegese (wie Anm. 1), 114.

Zum exegetischen

Interesse

an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert

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sich deshalb für Inschriften und Papyri als Quellen begeisterte, weil sich ihm hier ein Blick in die Alltagsgeschichte der kleinen Leute eröffnete. In seinem berühmten Buch „Licht vom Osten" versuchte er, das Neue Testament in diese Alltagsgeschichte einzubinden. Gegen Ende des Buchs stellt er die Frage, warum die frühe Kirche so großen missionarischen Erfolg hatte. Den Hauptfaktor sieht er in der „Volkstümlichkeit des Urchristentums" 6 3 : „Alle großen Bewegungen in der Geschichte unseres Geschlechts sind durch die Stimmungen des Volksgemütes bedingt, nicht durch den Intellekt: die Überlegenheit des Christuskultes über alle anderen Kulte ... erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß er sich von Anfang an tief einwurzeln konnte in das Gemüt der Vielen." 6 4 Nicht nur der Kult war nach Deißmann den Kleinen zugänglich, sondern auch die christliche Ethik. Er verweist auf das in nichtchristlichen Kreisen verbreitete „Gefühl der Solidarität, das damals, wie die Inschriften gelehrt haben, einem warmen Blutstrom vergleichbar durch die unteren Schichten kreiste und zur Bildung zahlreicher Genossenschaften der Kleinen geführt hatte. Die christlichen Versammlungen, dem antiken Menschen zweifellos Christusgenossenschaften, in denen die durch ihre Liebesgaben über Meer und Land wirksame Brüderlichkeit Gestalt annahm, sind doch wohl, auch vom allgemein kulturhistorischen Standpunkte aus betrachtet, die kraftvollsten und innerlich reichsten Organisationen der ganzen Kaiserzeit." 6 5 Obwohl Deißmann m.W. keinen eigenen Beitrag zur Erforschung der antiken Vereine und ihrer Analogien im Urchristentum leistete, formuliert er hier doch ein Interesse, das andere auf diesem Gebiet tätige Exegeten geteilt haben dürften.

III. Die gegenwärtige

Forschungslage

Ich überspringe in diesem letzten Teil einiges, das sich allgemein auf die sozialgeschichtliche Exegese bezieht: Ihren Rückgang zwischen 1920 und 1930, ihren langen Ausfall bis etwa 1970 und ihre Wiederentdeckung und Weiterführung in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Diese Entwicklungen sind inzwischen ausreichend bekannt 6 6 und haben nicht direkt mit den Vereinen zu tun. Ich biete im folgenden auch keinen Überblick zu den Forschungen vor allem des letzten Jahrzehnts, in denen Ver63

A . DEISSMANN, L i c h t ( w i e A n m . 15), 3 2 9 .

64

DERS., L i c h t ( w i e A n m . 15), 3 3 2 .

65

DERS., Licht (wie Anm. 15), 333 (Hervorhebung im Original).

66

V g l . d a z u R . HOCHSCHILD, E x e g e s e ( w i e A n m . 1), 2 0 7 - 2 3 2 ; T . SCHMELLER, B r e -

chungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989, 20f.

16

Thomas

Schmeller

eine wieder zu einem wichtigen Thema wurden 6 7 . Natürlich könnte man auch hier versuchen, programmatische Äußerungen in einen Zusammenhang mit kontextuellen Plausibilitäten zu bringen, wie ich das für das 19. Jahrhundert getan habe. Der fehlende Abstand wirkt sich aber sehr hinderlich aus. Der Blick auf die eigene Zeit ist auch in dieser Frage schwierig. Sinnvoller scheint mir, die Faktoren, die wir für das 19. Jahrhundert erkennen konnten, zunächst zusammenzufassen und sie dann daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit sie heute noch wirksam sein könnten. Das exegetische Interesse an Vereinen hatte am Ende des 19. Jahrhunderts, wie wir gesehen haben, mit der Durchsetzung der historisch-kritischen Methode und dem Zugang zu neuen Quellen zu tun. Die so ermöglichte und betriebene Einordnung des Urchristentums in sein geschichtliches Umfeld wurde allerdings (auch bei ihren Verfechtern) durch theologisch bedingte Blickverengungen behindert. Eine besondere Rolle spielte dabei die konfessionelle Festlegung auf ein „reines" Urchristentum und auf eine Degeneration zum Frühkatholizismus durch heidnischen Einfluß. Die Ausbreitung und emanzipatorische Prägung der zeitgenössischen Vereine verliehen der exegetischen Erforschung antiker Vereine ebenso Plausibilität wie der Aufschwung der Sozialwissenschaften, besonders der modernen Vereinsforschung. Die kulturell bedingte Betonung von Volkstümlichkeit und Lebensnähe legte es nahe, die Lebensnähe des Urchristentums auch in seinen Analogien zu Vereinen zu beschreiben. Die Situation der Exegese heute, die ich natürlich nur sehr subjektiv andeuten kann, sieht ganz anders aus. Die meisten fördernden wie behindernden Faktoren haben nicht mehr dieselbe Bedeutung. Die historische Kritik ist nach wie vor lebendig, hat aber viel von ihrer Faszination verloren. Sie ist nicht mehr die Methode, der die Zukunft gehört, sondern sie befindet sich eher in einem Rückzugsgefecht. Andere, weniger historisch als literarisch ausgerichtete Methoden konkurrieren mit ihr. Allerdings gibt es mittlerweile auch eine etablierte sozialgeschichtliche Auslegungsrichtung. Das Spektrum ist also vielfältiger geworden. Kaum ein Neutestamentler überblickt noch das ganze Feld. Vereinsforschung interessiert von vornherein nur einen kleinen Teil der Fachvertreter. Vorbehalte, die auf dogmatischen Überzeugungen oder kirchlichen Prägungen beruhen, sind zumindest nicht mehr so offensichtlich. Nicht nur in der Exegese, sondern in der Theologie insgesamt hat ein Differenzierungs67

V g l . v o r a l l e m J . S . KLOPPENBORG/S.G. WILSON, A s s o c i a t i o n s ( w i e A n m . 4 7 ) ; R . S .

ASCOUGH, W h a t A r e T h e y S a y i n g A b o u t t h e F o r m a t i o n of P a u l i n e C h u r c h e s ? , wah/N.J. Soziologie

1 9 9 8 , 7 1 - 9 4 ; M . KLINGHARDT, G e m e i n s c h a f t s m a h l u n d und

Liturgie

frühchristlicher Mahlfeiern, T A N Z

Mah-

Mahlgemeinschaft.

13, T ü b i n g e n

SCHMELLER, H i e r a r c h i e u n d E g a l i t ä t . E i n e s o z i a l g e s c h i c h t l i c h e U n t e r s u c h u n g s c h e r G e m e i n d e n u n d g r i e c h i s c h - r ö m i s c h e r V e r e i n e , S B S 162, S t u t t g a r t 1 9 9 5 .

1996;

T.

paulini-

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert

17

und Spezialisierungsprozeß stattgefunden, der dogmatische Bedenken schon deshalb verringert, weil die Exegeten - ich schließe mich hier durchaus mit ein - in der Regel kaum mehr etwas von der Systematik wissen. Die Bindung universitärer Exegeten an die Kirche ist in Deutschland zwar durch Staatskirchenverträge gegeben, hat aber auch hier viel von ihrer früheren Selbstverständlichkeit verloren, von der internationalen Situation ganz zu schweigen. Eine Kritik wie die von Holsten ist sicher auch heute noch möglich, wäre allerdings wohl eine Sondermeinung, die nach dem bewährten Prinzip anything goes geduldet, damit aber gerade um ihren Geltungsanspruch gebracht würde. Aufs Ganze gesehen würde kaum jemand bestreiten, daß die Entwicklung der Kirchenverfassung grundsätzlich nach den allgemeinen Prinzipien der Geschichtswissenschaft erklärt werden muß und kann. Auch der Einfluß konfessioneller Vorbehalte ist zurückgegangen. Daß bereits die paulinischen Gemeinden in Auseinandersetzung mit ihrer heidnischen Umwelt standen und Ansätze „frühkatholischer" Prägungen aufwiesen, würden wenige protestantische Exegeten heute leugnen. Katholische Exegeten, die sich mittlerweile in die Debatte eingemischt haben, sehen nicht mehr in einer Zentralkirche mit päpstlichem Primat die von Anfang an gültige Kirchenform. Ob Vereine heute in Deutschland weniger verbreitet sind als damals, kann ich nicht sagen. Ich würde es bezweifeln. Sie haben aber sicher nicht mehr dieselbe politische und gesamtgesellschaftliche Relevanz. Der Vereinsbegriff ist für heutige Exegeten von dieser Seite her nicht mehr so positiv konnotiert. Er hat für sie dennoch große Bedeutung, weil wissenschaftliche Vereinigungen wie SNTS oder SBL das exegetische Geschäft stärker prägen als früher. Ob man nun deren Tagungen und Geschäftssitzungen als positiv empfindet oder nicht - das Bewußtsein, mit Kolleginnen und Kollegen im Rahmen verschiedener Organisationen verbunden zu sein, ist heute auf nationaler Ebene mindestens genauso, auf internationaler Ebene sicher viel stärker ausgeprägt als damals. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung und die Möglichkeiten, sie als Exeget wahrzunehmen, haben sich verstärkt und üben einen größeren Einfluß aus. Die Sozialwissenschaften sind etabliert und stellen den Exegeten eine Fülle von Modellen bereit. Dagegen ist das kulturelle Motiv, das sich in der Betonung der Volkstümlichkeit äußerte, heute kaum mehr wahrnehmbar. Natur- und Volksnähe sind nur noch für kleine Kreise prägende Ideale. Das exegetische Interesse an antiken Vereinen speist sich also nur zum Teil noch aus den ursprünglichen Quellen. Andere Quellen müssen dazugekommen sein, aber welche? Abschließend biete ich drei Vermutungen zu dieser Frage, die ich letztlich nicht beantworten kann.

18

Thomas

Schmeller

Meine erste Vermutung hängt mit dem oben festgestellten Differenzierungsprozeß innerhalb von Theologie und Exegese zusammen, den sicher auch andere Wissenschaften durchlaufen. Die Vielzahl und Vielfalt der zu erklärenden Phänomene und der methodischen Zugänge nimmt rasant zu. Der differenzierende, auf Einzelheiten gerichtete Blick ist das normale, Synthesen sind verdächtig. So wird im Urchristentum nicht mehr nur zwischen juden- und heidenchristlichen Gemeinden innerhalb und außerhalb Palästinas unterschieden, sondern noch innerhalb der hellenistischen Paulusgemeinden werden immer mehr lokale Unterschiede und Besonderheiten erkannt. Es gibt eine klare Tendenz, jede Gemeinde für sich und in ihrem lokalen Kontext zu sehen 68 . Diesem Blick kommt der Vergleich mit Vereinen entgegen, denn hier ist die Vielfalt ganz offensichtlich. Die regionale Beschränktheit der Vereine führt bei allen gemeinsamen Strukturen doch dazu, daß man jeden Verein für sich nehmen muß. Daß bei den Gemeinden die Situation durch das überregionale Zusammengehörigkeitsgefühl doch etwas anders ist, wird m.E. nicht immer ausreichend gewürdigt 69 . Zweitens möchte ich vermuten, daß die Verbreitung oder jedenfalls eine bestimmte Ausprägung der Vereinsforschung auch mit dem in der letzten Zeit gestiegenen Rechtfertigungsdruck gerade der Geisteswissenschaften zusammenhängt. Der Theologie wird, ebenso wie allen anderen Fächern, die sich (unter anderem) mit der Antike beschäftigen, das universitäre Existenzrecht heute oft und heftig bestritten oder beschränkt. Wissenschaftlern, die ständig gezwungen sind, die gesellschaftliche Relevanz der Theologie nachzuweisen, erscheinen Untersuchungen der Relevanz des Urchristentums plausibel. Die Frage nach der Legitimation des Forschungsgebiets wird dabei in dieses Gebiet hineingetragen: Welche soziale Funktion hatten eigentlich die urchristlichen Gemeinden innerhalb ihrer Städte? Konkret gefragt: Stützte oder gefährdete die gemeindeinterne Inte68 Vgl. R.S. ASCOUGH, T h e Thessalonian Christian Community as a Professional Voluntary Association, J B L 119, 2000, 3 1 1 - 3 2 8 , hier 311: „ A m o n g scholars of the N T there is a growing awareness of the importance of studies of early Christianity that take seriously local peculiarities. Exegetes recognize that N T texts must be read in the light of the social Situation to which each was addressed if they are to be properly understood." 69 Vgl. R.S. ASCOUGH, Translocal Relationships A m o n g Voluntary Associations and Early Christianity, J E C S 5, 1997, 2 2 3 - 2 4 1 : Nach Ascough ist der allgemein a n g e n o m mene Unterschied zwischen Vereinen und G e m e i n d e n , daß erstere lokal beschränkt, letztere Teil eines ortsübergreifenden Netzwerks waren, nicht zu halten; Vereine und G e meinden seien einander auch im lokalen bzw. „translokalen" Charakter sehr ähnlich. Die A r g u m e n t e für Ascoughs T h e s e sind m.E. nicht ü b e r z e u g e n d (vgl. T. SCHMELLER, N e u testamentliches G r u p p e n e t h o s , in: J. BEUTLER (Hg.), Der neue M e n s c h in Christus. Hellenistische A n t h r o p o l o g i e und Ethik im Neuen Testament, Q D 190, Freiburg i.Br. 2001, 1 2 0 - 1 3 4 , hier 1 3 0 - 1 3 3 ) .

Zum exegetischen

Interesse

an antiken

Vereinen

im 19. und 20. Jahrhundert

19

gration die Integration in die Stadt? Da solche Untersuchungen an chronischem Quellenmangel leiden, liegt es nahe, Vereine mit heranzuziehen und nach ihrer Integrationskapazität zu fragen 7 0 . Diese beiden Vermutungen werden allerdings durch eine dritte relativiert, die auf einer ganz einfachen Überlegung beruht. Unsere Situation hat sich ja in einem Punkt gegenüber den Pionieren der Vereinsforschung grundlegend geändert: Die Pionierszeit ist eben vorbei. Wie die sozialgeschichtliche Exegese in ihrer zweiten Phase ab 1970 nicht mehr alles neu zu erfinden brauchte, sondern auf Vorbilder zurückgreifen konnte, so auch speziell die Vereinsforschung. Das Forschungsgebiet war bereits etabliert. Das Wiederaufleben des Interesses erklärt sich z.T. einfach dadurch, daß die Vereinsforschung in das wissenschaftliche Gedächtnis eingegangen war. Was einmal zum Element dieses Gedächtnisses geworden ist, wird nicht mehr so leicht völlig vergessen, auch wenn es zeitweise in den Hintergrund rückt. Das heißt nicht, daß die Vereinsforschung nun unabhängig von anderen Interessen ist. Es schraubt die Bedeutung dieser anderen Interessen aber etwas zurück.

70 In d i e s e R i c h t u n g g e h e n die (nur z.T. c h r i s t l i c h e G e m e i n d e n e i n b e z i e h e n d e n ) F o r s c h u n g e n b z w . Ü b e r l e g u n g e n v o n A. GUTSFELD, D a s V e r e i n i g u n g s w e s e n u n d d i e S t ä d t e in d e r r ö m i s c h e n K a i s e r z e i t , in: H . KAELBLE/J. SCHRIEWER ( H g g . ) , G e s e l l s c h a f t e n im V e r g l e i c h . F o r s c h u n g e n aus S o z i a l - u n d G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n , K o m p a r a t i s t i s c h e B i b l i o t h e k 9, F r a n k f u r t a . M . 1998, 1 3 - 3 3 , bes. 17; P . A . HARLAND, H o n o u r i n g the E m p e r o r o r A s s a i l i n g the B e a s t : P a r t i c i p a t i o n in C i v i c L i f e a m o n g A s s o c i a t i o n s ( J e w i s h , C h r i s t i a n a n d O t h e r ) in A s i a M i n o r and the A p o c a l y p s e of J o h n , J S N T 77, 2 0 0 0 , 9 9 121; S. WALKER-RAMISCH, G r a e c o - R o m a n V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s a n d the D a m a s c u s D o c u m e n t : A S o c i o l o g i c a l A n a l y s i s , in: J . S . KLOPPENBORG/S.G. WILSON, A s s o c i a t i o n s ( w i e A n m . 4 7 ) , 1 2 8 - 1 4 5 , hier 135f.; S . G . WILSON, V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s : An O v e r view, in: J . S . KLOPPENBORG/S.G. WILSON, A s s o c i a t i o n s ( w i e A n m . 4 7 ) , 1 - 1 5 , hier 13f.

Die Vereine in der kaiserlichen Gesetzgebung1 von A . J . BOUDEWIJN SIRKS

1. Gesetzgebung über Vereine (collegia) 2 hat es in Rom schon sehr früh gegeben. Das Zwölftafelgesetz von etwa 450 v. Chr. enthielt eine Bestimmung, in der es sodales, Vereinsgenossen, gestattet war, ihrem Verein eine Satzung zu geben, die aber nicht gegen ein öffentliches Gesetz verstoßen durfte (Gai. 3 1. XII Tab. dig. 47, 22, 4). Später in der Republik spielten Vereine eine politische Rolle, bis im Jahre 56 v. Chr. in einem Senatsbeschluß die politischen Vereine verboten wurden 3 ; entscheidendes Kriterium für das Verbot war also, und wir sehen das später wieder, Aufruhr. Diese Zeit und das frühe Prinzipat lasse ich beiseite, denn in „Voluntary Associations in the Graeco-Roman World" hat Wendy Cotter einen Überblick über die bis um das Jahr 200 n.Chr. erlassenen Regeln und Anordnungen gegeben (ohne daß damit ältere Arbeiten überflüssig werden) 4 , und 1

I c h b e s c h r ä n k e m i c h auf d a s , w a s h e u t e u n t e r V e r e i n e n v e r s t a n d e n w i r d : P e r s o n e n v e r b ä n d e , d i e auf p r i v a t e r I n i t i a t i v e g e b i l d e t sind u n d a u f g e l ö s t w e r d e n k ö n n e n . D a m i t e n t f a l l e n : M u n i z i p i e n , S t a a t , ö f f e n t l i c h e P e r s o n e n v e r b ä n d e w i e d i e collegia von Priestern ( z . B . pontífices, fratres Arvales), M a g i s t r a t e n ( z . B . duumviri), öffentlichen Hilfskräften w i e d e n lictores u n d decuriales, r e l i g i ö s e G e s e l l s c h a f t e n w i e d i e collegia vicanorum, die e i n e R o l l e bei d e n C o m p i t a l i a s p i e l t e n , u n d p r i v a t r e c h t l i c h e G e s e l l s c h a f t e n mit g e w e r b l i chem Zweck (societates). 2

Collegium bedeutet Personengruppe oder Verein. So formten die Priester einer G o t t h e i t ein collegium, ebenso die Konsuln (auch wenn es nur zwei gab), Prätoren und e i n i g e a n d e r e ö f f e n t l i c h e F u n k t i o n ä r e : P a p . l r e s p . d i g . 5 0 , 2, 6, 5; P o m p . l . s . e n c h i r . d i g . 1, 2, 2, 6 ; P a u l . 14 q u a e s t . d i g . 2 6 , 7, 4 5 p r . ; C J 12, 6 0 , 2 p r . ( 3 9 5 , W ) . 3

O. ROBINSON, T h e C r i m i n a l L a w of A n c i e n t R o m e , L o n d o n 1995, 8 0 . S i e h e w e i t e r : J. LINDERSKI, C i c e r o s R e d e p r o C a e l i o u n d d i e A m b i t u s u n d V e r e i n s g e s e t z g e b u n g d e r a u s g e h e n d e n R e p u b l i k , H e r m e s 89, 1961, 1 0 6 - 1 1 9 ; DERS., S u e t o n s B e r i c h t ü b e r d i e V e r e i n s g e s e t z g e b u n g u n t e r C a e s a r u n d A u g u s t u s , Z R G 7 9 , 1 9 6 2 , 3 2 2 - 3 2 8 ; DERS., D e r S e n a t u n d d i e V e r e i n e , in: G e s e l l s c h a f t u n d R e c h t i m g r i e c h i s c h - r ö m i s c h e n A l t e r t u m I, B e r l i n ( D D R ) 1968, 9 4 - 1 3 2 ; U . FELLMETH, D i e r ö m i s c h e V e r e i n e u n d d i e P o l i t i k - U n t e r s u c h u n g e n z u r s o z i a l e n S c h i c h t u n g u n d z u m p o l i t i s c h e n B e w u ß t s e i n in d e n V e r e i n e n d e r s t ä d t i s c h e n V o l k s m a s s e n in R o m und I t a l i e n , S t u t t g a r t 1 9 8 7 . 4 W . COTTER, T h e C o l l e g i a a n d R o m a n L a w : S t a t e R e s t r i c t i o n s o n V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s 6 4 B C E - 2 0 0 C E , in: V o l u n t a r y A s s o c i a t i o n s in the G r a e c o - R o m a n W o r l d , e d . b y J . S . KLOPPENBORG/ S.F. WILSON, L o n d o n 1996, 7 4 - 9 3 . N o c h i m m e r s e h r n ü t z l i c h ist z . B . E. KORNEMANN, Art. collegium, R E IV, 1901, 3 8 0 - 4 8 0 o d e r A. BERGER, E n c y c l o -

22

A.J. Boudewijn

Sirks

gehe über zu den Digesten. Diese entstammen, wie bekannt, den Jahren 530-533 n.Chr. und sind eine manchmal bearbeitete Auslese von Schriften römischer Juristen aus der Zeit ab Augustus bis unter Diokletian. 2. In den Digesten begegnet uns das Wort collegium mehrmals, doch in dig. 47, 22 De collegiis et corporibus fällt es besonders ins Auge. Hier wird in vier Fragmenten, von Marcianus (Mitte des 3. Jhs. - dig. 47, 22, 1 und 3), Ulpian (Anfang des 3. Jhs. - dig. 47, 22, 2) und Gaius (Mitte des 2. Jhs. - dig. 47, 22, 3), eine kurze Beschreibung der Rechtslage bestimmter collegia gegeben. Es handelt sich um collegia, die wir als Vereine bestimmen würden. Der Titel steht im 47. Buch der Digesten, das vom Strafrecht handelt. Tatsächlich wird nur dieser Aspekt beleuchtet, und nur implizit wird uns hier ein Bild der privatrechtlichen Lage gewährt. Ausgangspunkt war, wie sich aus dem ersten Fragment (des Marcianus) ergibt, daß nicht-religiöse collegia und sodalicia nicht gestattet waren. Ebenso durften in den Heereslagern die Soldaten keine collegia bilden 5 . Das stimmt überein mit der Haltung der spätrepublikanischen Obrigkeit gegenüber Vereinen. Von dieser Regel gab es aber zwei Ausnahmen. 3. Tenuiores war es gestattet, einmal pro Monat zusammenzukommen und eine monatliche Abgabe zu entrichten, d.h. dem collegium abzugeben, wenn sie dies nur nicht als Vorwand für einen unerlaubten Verein verwendeten 6 . Wozu die Abgabe entrichtet wurde, wird hier nicht gesagt, aber aus p e d i c D i c t i o n a r y of R o m a n L a w , P h i l a d e l p h i a 1 9 5 4 , A r t . collegium,

der einen Überblick

der wichtigsten Literatur bis 1953 bietet (von Cotter, die sich wohl [zu] sehr auf J.-P. WALTZING, E t ü d e h i s t o r i q u e s u r les c o r p o r a t i o n s p r o f e s s i o n n e l l e s c h e z l e s

Romains,

V o l . 1 B r u x e l l e s 1 8 9 5 ; V o l . II B r u x e l l e s 1 8 9 6 ; V o l . III a n d I V L o u v a i n 1 9 0 0 , u n d F . M . DE ROBERTIS, S t o r i a d e l l e c o r p o r a z i o n i e d e l r e g i m e a s s o c i a t i v o nel m o n d o r o m a n o , I II, B a r i 1 9 7 2 , s t ü t z t , l e i d e r n i c h t e r w ä h n t ) . D i e j u r i s t i s c h e n A s p e k t e w e r d e n t h e m a t i s i e r t in M . KÄSER, D a s r ö m i s c h e P r i v a t r e c h t , I. A b s c h n i t t . D a s a l t r ö m i s c h e , d a s v o r k l a s s i s c h e u n d d a s k l a s s i s c h e R e c h t , M ü n c h e n 1 9 7 1 , 3 0 7 - 3 0 9 m i t L i t e r a t u r ; DERS., D a s r ö m i s c h e P r i v a t r e c h t , II. A b s c h n i t t . D i e n a c h k l a s s i s c h e n E n t w i c k l u n g e n , M ü n c h e n 1 9 7 5 ,

153-156

(wobei die A u f f a s s u n g e n über „ B e r u f s v e r b ä n d e " und „ Z w a n g s s t a a t " mit Z u r ü c k h a l t u n g g e l e s e n w e r d e n s o l l t e n ) mit w i c h t i g e n L i t e r a t u r n a c h t r ä g e n z u m 1. T e i l . N i c h t v o n d e n j u r i s t i s c h e n A s p e k t e n h a n d e l n d , t r o t z d e m s e h r l e s e n s w e r t : O . M . VAN NLJF, T h e C i v i c W o r l d of P r o f e s s i o n a l A s s o c i a t i o n s in t h e R o m a n E a s t , A m s t e r d a m 1 9 9 6 . In d i e s e m A u f s a t z m ö c h t e ich v o r a l l e m e i n e n Ü b e r b l i c k a n h a n d d e r Q u e l l e n s e l b s t g e b e n . 5

D i g . 4 7 , 2 2 , l p r . : Mandatis

patiantur

esse

collegia

principalibus

sodalicia

neve

praecipitur

milites

collegia

praesidibus in castris

provinciarum, habeant.

ne

Über diese

V e r e i n e : F . M . AUSBÜTTEL, Z u r r e c h t l i c h e n L a g e d e r r ö m i s c h e n M i l i t ä r v e r e i n e , H e r m e s 113, 1 9 8 5 , 5 0 0 - 5 5 0 . 6

D i g . 4 7 , 2 2 , l p r . : sed permittitur

rnen semel non tantum rescripsit.

in mense in urbe,

coeant,

tenuioribus

ne sub praetextu

sed et in Italia

stipem

huiusmodi

et in provinciis

locum

menstruam illicitum habere

conferre,

collegium divus

dum

coeat.

quoque

taquod

severus

Die Vereine

in der kaiserlichen

Gesetzgebung

23

einem Senatsbeschluß, verfaßt zwischen Augustus und Hadrian, wird das klar: Quibus coire convenire collegiumque habere liceat. Qui stipem menstruam conferre volent in funera, in it collegium coeant, neque sub specie eius collegi nisi semel in mense coeant conferendi causa, unde defuncti sepeliantur.1 Es sind Bestattungsvereine (Sterbekassen), welchen die Mitglieder jeden Monat eine Abgabe zur Errichtung einer Bestattungskasse leisteten. Inschriftlich sind solche collegia, die eine monatliche Abgabe kannten, bezeugt 8 . Es liegt auf der Hand anzunehmen, daß es sich bei den Verstorbenen um verstorbene Mitglieder handelte, und tatsächlich folgt dies aus der erhaltenen Satzung eines solchen Vereins, des collegium Lanuvinum (zwischen 133 und 135 n.Chr.). Hier zahlte jedes Mitglied neben einem Eintrittsbeitrag (100 Sesterzen und eine Amphore guter Wein) pro Monat 5 As. Wer während sechs aufeinanderfolgender Monate nichts beigetragen hatte und starb, erhielt nicht seine ratio funeris, sein Bestattungsgeld von 300 Sesterzen, aus der Kasse (arca). Neben weiteren gleichartigen Bestimmungen war auch festgelegt, daß es an bestimmten Tagen Mahlzeiten (cenae) gab, von den magistri des Kollegs abwechselnd gespendet. Auch Sklaven konnten Mitglied sein 9 . Aus der Verbindung von dig. 47, 22, lpr und dem collegium Lanuvinum folgt 10 , daß es die nicht Wohlhabenden oder die Besitzlosen waren, die solche Bestattungsvereine gründeten. Die Beträge in Lanuvium indizieren dies auch. Und noch etwas wird dadurch deutlich: Reiche benötigten das, was man heute als Sterbegeldversicherung bezeichnen würde, nicht. Denn seinem Wesen nach bildet ein solcher Verein eine ,mutualité' oder Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit. Die Idee war den Römern nicht unbekannt. Ähnliches, aber dann in der juristischen Form einer societas oder Gesellschaft nach bürgerlichem Recht, tat der ältere Cato. Er verlieh Geld, bildete aber mit den Darlehensnehmern, als es ihrer 50 gab (und damit wahrscheinlich auch ebenso viele Schiffe, die mit von dem Darlehen gekauften Waren beladen waren), und zusätzlich mit seinem Freigelassenen Quintio eine societas. Der Verlust einer Ladung wurde so von allen 51 Gesellschaftern getragen, die eigentlich eher als Partizipanten zu bezeichnen s i n d " .

7 E r h a l t e n in der I n s c h r i f t d e s collegium Lanuvium: F o n t e s Iuris R o m a n i A n t e j u s t i n i ani ( F I R A ) III, ed. V. ARANGIO-RUIZ, F l o r e n t i a e 1972, no. 35, Z. 1 1 - 1 4 . 8 Leicht e i n z u s e h e n in F I R A III, nos. 35, 36, 38. 9 F I R A III, no. 35, Z. 2 1 - 2 2 ; 24; II, Z. 1 1 - 1 4 ; S k l a v e n : II Z. 3 - 4 . 10 D i e s e V e r b i n d u n g sei w e g e n des nicht allzu g r o ß e n Z e i t a b s t a n d e s e r l a u b t . ' ' Plut. Cat. M a i . X X I 6. C a t o selbst, der im Falle e i n e s mutuum t h e o r e t i s c h d a s Darlehen z u r ü c k f o r d e r n k ö n n t e ( a b e r d a n n a b w a r t e n m ü ß t e , ob der D a r l e h e n s n e h m e r nicht in K o n k u r s ginge), im w a h r s c h e i n l i c h e r e n Falle e i n e s foenus nauticum a b e r nicht, w e n n n ä m l i c h die L a d u n g d u r c h S c h i f f b r u c h verloren ginge, hat sich auch zugleich d i e R ü c k -

24

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Im Fall der Sterbegeldversicherung zahlen alle Mitglieder in eine Kasse ein. Wenn jemand stirbt, wird seine Bestattung, die exsequiae, aus dieser Kasse bezahlt 1 2 . Dies wird eine Beerdigung oder Einäscherung mit den erforderlichen Opfern (die porca praecidanea beim Grab) beinhaltet haben und vielleicht noch einen Stein oder eine abgebrochene Amphore für das Grab 13 . Falls bei einem Sklaven der Herr dessen Körper nicht zur Bestattung freigab, wurde in Lanuvium eine symbolische Bestattung (funus imaginarium) abgehalten 1 4 . Zwar gehörte das Geld in der Kasse allen gemeinsam und wurde bei Auflösung eines collegium vermutlich zu gleichen Teilen an die Mitglieder ausgezahlt (siehe dig. 47, 22, 3), die Kosten der Bestattung aber werden sich nicht am Maß des vom Verstorbenen entrichteten Geldes orientiert haben. Bei einem plötzlichen Ableben eines gerade eingetretenen Mitglieds würde der Fonds seinen Zweck sonst nicht erfüllen. Aus der Satzung des collegium Lanuvinum folgt im selben Sinne, daß bei längerer Abwesenheit das collegium nicht die Bestattung besorgte 1 5 . Auf das Jahr 153 datiert ist die inschriftlich bezeugte Satzung eines anderen collegium, des collegium Aesculapi et Hygiae, das ebenfalls die Bestattung der Mitglieder besorgte. Hier konnte ein Mitglied seinen Platz im Verein einem Sohn, Bruder oder Freigelassenen hinterlassen (legare), damit dieser nur die Hälfte des Eintrittsgeldes zahlen mußte 1 6 . Weil solche collegia keine Rechtspersönlichkeit besaßen, war es auf diese Weise möglich, seinen Anteil in der gemeinsamen Kasse zu vermachen. Daß dies auf die Hälfte der Einlage beschränkt war, läßt sich mit dem Versicherungsaspekt gut vereinbaren. Zu einem Teil diente die Einlage dazu, die Bestattungen zu bezahlen. Zu einem anderen Teil diente sie dazu, gemeinsame Mahlzeiten abzuhalten. Ob dies rein zum Zwecke der Geselligkeit oder aus Anlaß von Totenkultfeiern wie den Parentalia, Rosalia oder Violaria oder gar aus beiden Gründen geschah, bleibt ungewiß. Diese Mahlzeiten wurden auch oft aus den anfallenden Zinsen gezahlt. Eine etwas andere finanzielle Struktur hatte d i s f a m i l i a Silvani von ca. 60 n.Chr. Hier sollte jedes Mitglied erst beim Ableben eines Mitglieds 8

Zahlung seiner Darlehen gegen eine kleine Prämie und daneben einen höheren Zinssatz als beim mutuum gesichert. 12 J.-M. FLAMBARD, Éléments pour une approche financière de la mort dans les classes populaires du haut-empire. Analyse du budget de quelques collèges funéraires de Rome et d'Italie, in: La mort, les morts et l'au-delà dans le monde romain. Actes du colloque de Caen ( 2 0 - 2 2 novembre 1985), hrsg. von F. HINARD, Caen 1987, 2 0 9 - 2 4 4 . 13 Siehe z.B. J. PRIEUR, La mort dans l'antiquité romaine, s.l. 1986, 2 1 - 3 6 . 14 FIRA no. 35, II Z. 3 - 5 . 15 FIRA no. 35, Z. 2 1 - 2 3 . 16 FIRA III, no. 36, Z. 6 - 7 .

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Sesterzen beitragen 17 . Derartige Vereine konnten natürlich auch aufgelöst werden. Die Mitglieder bekamen dann ihre Einlage zurück 1 8 . 4. Ein zweiter Grund zur Errichtung eines collegium war die religio19. Zwar könnte man auch die Beerdigung eine religiöse Pflicht nennen, aber weil Marcianus diesen Grund in demselben Fragment neben dem ersten erwähnt, muß er damit etwas anderes gemeint haben. Auch hier gilt, daß man unter diesem Vorwand kein collegium illicitum bilden durfte, d.h. keine aufrührerischen Aktivitäten betreiben durfte. Denn auch dann ist der Verein nach dem Senatsbeschluß, kaiserlichen Konstitutionen und kaiserlichen Instruktionen an Provinzstatthalter verboten (siehe hiernach). Was aber unter religionis causa verstanden werden muß, sagt keiner der vier Juristen, es lassen sich jedoch Beispiele hierfür ersinnen: Der Mithraskult erforderte, daß seine Anhänger sich regelmäßig in einem Mithraeum (ein Raum, der einer Grotte ähnelte) versammelten, um dort die erwünschten Rituale zu vollziehen 2 0 . Ebenso kannte der Isiskult kultische Versammlungen, die sogar täglich abgehalten werden mußten 2 1 . Mithraskult und Isiskult sind zwei im 2. und 3. Jh. n.Chr. im Römischen Reich weit verbreitete Religionen. Daneben gibt es natürlich das Judentum, bei dem jeder Sabbat eine Versammlung von mindestens 10 Männern erfordert. An Christen kann vielleicht im 1. und 2. Jh. gedacht werden, aber sicherlich nicht am Ende des 3. Jh., zu einer Zeit, in der das Christentum als staatsgefährliche Religion betrachtet wird. Weiter kommen die collegia vicanorum in Frage, die an erster Stelle bei den Compitalia eine religiöse Rolle erfüllten, aber auch politisch bedeutsam hätten sein können 2 2 . Allen war es gestattet, so Gaius, so oft zusammenzukommen, wie es die Satzung vorschrieb. Weiter wird von Gaius ein Gesetz von Solon zitiert, in dem von gemeinsamen Essen (hiera orgia) die Rede ist 23 . Dies war sicherlich oft 17

FIRA III, no. 37, Z. 10. FIRA III, no. 41 aus 167 n.Chr. 19 Dig. 47, 22, 1 , 1 : Sed religionis causa coire non prohibentur, dum tarnen per hoc non fiat contra senatus consultum, quo illicita collegia arcentur. 20 Siehe z.B. J. FERGUSON, The Religions of the Roman Empire, L o n d o n 1970, S. 1 1 1 - 1 1 2 ; M. BEARD/J. NORTH/S. PRICE, Religions of Rome, Vol. 1, C a m b r i d g e 1998, S. 285. 21 Siehe Apul., Met. XI 2 0 , 3 - 4 . 22 Siehe hierüber W. JONGMAN, The Economy and Society of Pompeii, Amsterdam 1988, 2 9 2 - 3 1 0 , aus dem es ersichtlich ist, daß ihre primäre Beschäftigung religiöser Natur war. Weiter: J.-M. FLAMBARD, Collegia Compitalicia: p h é n o m è n e associatif, cadres territoriaux et cadres civiques dans le monde romain à l ' é p o q u e républicaine, Ktèma 6, 1981, 1 4 3 - 1 6 6 . 23 Dig. 47, 22, 4 Gai. 4 ad 1. xii tab. Sodales sunt, qui eiusdem collegii sunt: quam graeci hetaireian vocant. His autem potestatem facit lex pactionem quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant. Sed haec lex videtur ex lege solonis 18

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ein Teil heidnischer Praxis und bedeutete wieder ein Zusammentreffen. Von einer Kasse ist in den Texten bei diesen Fällen zwar nicht die Rede, die Existenz einer solchen, z.B. zur Finanzierung der gemeinsamen Mahlzeiten oder Opfer, ist aber nicht ausgeschlossen. Weiter wird in einem Digestentext ein collegium templi erwähnt: dig. 32, 38, 6. Hier wird dem Erben ein Vermächtnis auferlegt, das dieser dann wieder als Vermächtnis einem collegium templi zukommen lassen muß, das aber inzwischen aufgelöst worden ist 24 . Ein solches collegium finden wir bei Livius für das Jahr 495 v. Chr. für die Tempel von Merkur (Liv. II 7); es trug Sorge für den Unterhalt des Tempels. Die Auflösung, von der hier gesprochen wird, braucht natürlich nicht eine Auflösung wegen Aufwiegelei zu sein. Der Tempel könnte z.B. abgebrannt sein. Auch könnten die collegia iuvenum eine religiöse Funktion gehabt haben 2 5 . 5. Der Senatsbeschluß erlaubte bei den Bestattungsvereinen ein monatliches Treffen der Mitglieder, um die Beiträge zu sammeln ( c o n f e r e n d i causa). Das Treffen brachte eine Gefahr mit sich, die der Senatsbeschluß von 56 v. Chr. deutlich zum Ausdruck brachte: Die Mitglieder könnten ein collegium illicitum bilden. Dasselbe galt für die collegia religionis causa, doch hier wäre eine solche Beschränkung fehl am Platz gewesen, denn oft, translata esse. Nam illuc ita est: sàv 8è S^p-oç Ï) cppoixpopeç Y) lepûv ópyicov rj vaÜToa ÏJ aûoGixoi VJ ÓFJIÓ-racpoi. 7]' tkaawxai YJ ETIL Asiav OL^OJJLEVOL YJ EIÇ ¿[XTiopiav, ¿¡TI àv Touxtóv Sia&wvxoa rcpôç àXX^Àouç, xüpiov eZvou, èotv [xVj tx7tayopeÜCTi] Sïjfxôaia ypàp.fjiaTa. 24

Dig. 32, 38, 6 Scaev. 19 dig.: Fidei commissit eius, cui duo milia legavit, in haec verba: „A te, Petroni, peto, uti ea duo milia solidorum reddas collegio cuiusdam templi". Quaesitum est, cum id collegium postea dissolutum sit, utrum legatum ad Petronium pertineat an vero apud heredem remanere debeat. Respondit Petronium iure petere, utique si per eum non stetit parere defuncti voluntati. 25 Lit. hierüber: F. JACQUES, Humbles et notables. La place des humiliores dans les collèges de jeunes et leur rôle dans la révolte africaine de 238, Ant.Afr. 15, 1980, 2 1 7 230; M. JACZYNKOWSKA, Le caratteristiche delle associazioni della gioventù romana (collegia iuvenum), AIV 134, 1975-1976, 359-381; DIES., L'organisation intérieure des collegia iuvenum au temps du haut empire romain, in: Gesellschaft und Recht im griechisch-römischen Altertum, II, Berlin (DDR) 1969, 95-119; DIES., Les organisations des iuvenes et l'aristocratie municipale au temps de l'empire romain, in: Gesellschaft und Recht im griechisch-römischen Altertum II, Berlin 1969, 265-274; DIES., Les organisations des iuvenes et l'aristocratie municipale au temps de l'empire romain, in: Recherches sur les structures sociales dans l'antiquité classique, Paris 1970, 265-274; DIES., Les associations de la jeunesse romaine sous le haut-empire, Wroclaw 1978; DIES., Le culte de la déesse Iuventas et les associations de la jeunesse, in: Actes Vile Congr. internat. d'épigraphie, Paris 1979, 384-385; D. LADAGE, Collegia iuvenum. Ausbildung einer municipalen Elite? Chiron 9, 1979, 319-346; M. KLEIJWEGT, Ancient Youth: the Ambiguity of Youth and the Absence of Adolescence in Graeco-Roman Society, Amsterdam 1991.

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wie gesagt, forderten Religionsgemeinschaften tägliche oder wöchentliche Treffen. Was wir unter illicitum verstehen sollen, wird weder im Senatsbeschluß noch bei den Juristen gesagt. Theoretisch könnte die alleinige Tatsache, daß das collegium nicht den Genehmigungserfordernissen entsprach, bereits ein ausreichender Grund sein, um es zum collegium illicitum zu erklären. Aus dig. 47, 22, 2 folgt aber implizit, daß bei illicitum an aufrührerische Vereine gedacht wurde 26 . Sonst wäre es nämlich unverständlich, warum bei collegia illicita die lex Julia de vi angewendet wurde 27 . Die Tatbestandsbeschreibung indiziert eine aufständische Gesinnung. Die Handhabung des Verbots, das in Instruktionen an die Provinzstatthalter aufgenommen war, erfolgte aufgrund der coercitio-Gewalt, die den Gouverneuren gewährt wurde. Die Höchststrafe war nach der lex Julia de vi publica die Todesstrafe (vgl. dig. 48, 6, 5, 2). Die Strafanzeige hatte in Rom bei dem Stadtpräfekten zu erfolgen (dig. 1, 12, 1, 14), in Italien und den Provinzen, wo das Gesetz ab Septimius Severus auch galt, vermutlich bei dem Prätorianerpräfekten bzw. den Provinzstatthaltern. Insoweit verfolgte jedenfalls der Senatsbeschluß, der die Zulassung regelte, die Idee dieses Beschlusses. Dabei könnte es sich auch schon um den Senatsbeschluß von 56 v. Chr. oder vielleicht auch um einen späteren handeln 2 8 . 6. Weiter finden wir in den Digesten Bestimmungen, die die innere, privatrechtliche Struktur dieser Vereine erhellen. Die lex collegii Aesculapi et Hygiae aus 153 n.Chr. erwähnt eine Zuwendung, hier eine Schenkung (donum), an das collegium29. Ich erwähnte oben einen Fideikommiß an ein collegium: der Vermächtnisnehmer war gebeten, dem collegium 2000 solidi zu geben. Nach dig. 34, 5, 20 wurde zwischen 160-169 n.Chr. ein Senatsbeschluß erlassen, durch den es erlaubt wurde, zugelassenen Vereinen (collegia licita) ein legatum, Vermächtnis, zu hinterlassen. Bei unerlaubten Vereinen (collegia illicita) wurde das Vermächtnis so angesehen, als wäre es an alle Mitglieder gegangen (was bedeutet, daß dem Verein „Rechtspersönlichkeit" oder ein Sondervermögen in dieser Hinsicht abgesprochen wurde) 3 0 . Angeblich war eine Schenkung schon früher möglich

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Dig. 47, 22, 2 Ulp. 6 de off. procons.: Quisquis illicitum collegium usurpaverit, ea poena tenetur, qua tenentur, qui hominibus armatis loca publica vel tempia occupasse iudicati sunt. 27 Gemeint ist die lex Julia de vi publica; s. O. ROBINSON, Criminal Law (wie Anm. 3), 7 9 - 8 0 . Die lex Julia kann ältere Gesetze wie die lex Plautia de vi ersetzt haben. 28 Siehe FIRA III, no. 35, S. 100 Fn. 8 für die Meinung, dieser Senatsbeschluß sei unter Claudius angenommen worden. 29 FIRA III, no. 36, Z. Iff. 30 Dig. 34, 5, 20 Paul. 12 ad Plaut.: Cum senatus temporibus divi Marci permiserit collegiis legare, nulla dubitatio est, quod, si corpori cui licet coire legatum sit,

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als ein Vermächtnis, was auch das Fideikommiß in dig. 32, 38, 6 erklärt, denn dieser Fall könnte vor dem oben erwähnten Senatsbeschluß datieren. Es könnte sich aber immerhin noch um ein gemeinsames Vermögen gehandelt haben. Mit dem Senatsbeschluß gewannen die erlaubten Vereine aber ein gewisses Maß an universitas (siehe Gai. 3 ed. prov. dig. 3, 4), was in moderner Rechtsterminologie Rechtspersönlichkeit impliziert 3 1 . Das unterstellt zugleich, daß das Vermächtnis ein Sondervermögen bildete, sonst wäre die abweichende Bestimmung im Falle eines collegium illicitum überflüssig. Andere Texte, die ein Sondervermögen implizieren, sind dig. 29, 2, 25, 1 mit einem Sklaven des collegium, der als Erbe eingesetzt und freigelassen wird 32 : Hier ist der Sklave Eigentum des collegium als Gesamtheit. Das collegium als Gesamtheit kann die Erbschaft mittels seines Sklaven antreten. Auch hat das collegium das Recht, einen Sklaven des collegium freizulassen, was impliziert, daß man Sklaven in quiritischem Eigentum haben kann 3 3 . Diese Befugnis wurde den erlaubten Vereinen von Marcus Aurelius zwischen 160-169 n.Chr. verliehen (dig. 40, 3, l) 3 4 ; damit gewannen diese collegia auch das Recht, beim Ableben ihrer Freigelassenen den Patronatserbteil einzufordern (dig. 40, 3, 2) 35 . Hätte es sich um die Befugnis, als Gesamteigentümer einen Sklaven freizulassen, gehandelt, wäre die Erlaubnis nicht notwendig gewesen. Das collegium wurde also als juristisch selbständig neben den Mitgliedern betrachtet. Zuletzt wurde dann am Anfang des 3. Jh. klar gestellt, daß collegia als Erben eingesetzt werden konnten 3 6 . Damit kam den lokalen Kongregationen der debeatur: cui autem non licet si legetur, non valebit, nisi singulis legetur: hi enim non quasi collegium, sed quasi certi homines admittentur ad legatum. 31 F.M. DE ROBERTIS, La capacità giuridica dei collegi romani e la sua progressiva contrazione, in: Sodalitas 3 (FS Guarino), Napoli 1984, 1259-1267, ist dagegen der Ansicht, daß die Rechtsfähigkeit der collegia nur allmählich beschränkt wurde. Wenn dies der Fall wäre, sollte bedacht werden, daß es sich in der Republik dann vermutlich um eine ganz unausdifferenzierte Rechtspersönlichkeit gehandelt hätte, um eine weit weniger ausdifferenziertere, als sie es im Prinzipat war, und zwar in dem Sinne, daß es sich dann nicht um eine (,starke') Rechtspersönlichkeit im heutigen Sinne gehandelt hätte. Die Quellen bestätigen diese Ansicht nicht. 32

Dig. 29, 2, 25, 1 Ulp. 8 ad Sab.: Servus municipum vel collegii vel decuriae heres institutus manumissus vel alienatus adibii hereditatem. 33 Hiermit ist gemeint: in Volleigentum nach römischem Recht, das nur römischen Bürgern und denen, die commercium besaßen, zustand. Dadurch war es dem collegium möglich - mittels des Vorstandes - , einen Sklaven durch mancipatio in Eigentum zu empfangen oder zu übertragen. 34 Dig. 40, 3, 1 Ulp. 5 ad Sab.: Divus Marcus omnibus collegiis, quibus coeundi ius est, manumittendi potestatem dedit. 35 Dig. 40, 3, 2 Ulp. 14 ad Sab.: Quare hi quoque legitimam hereditatem liberti vindicabunt. 36 Dig. 36, 1, 6, 4 Ulp. 4 fideic.: Item si municipes hereditatem suspectam dicant heredes instituti, dicendum erit cogi eos adgnoscere hereditatem et restituere: idemque

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Juden, Mithrasanhänger, Isisverehrer und anderen Gruppen die Fähigkeit zu, Eigentum zu haben. Es ist daher auch nicht sonderbar, daß in den Texten fortwährend von collegia vel corpora die Rede ist. Vel corpora könnte als Ergebnis dieser Entwicklung von den Kompilatoren eingefügt worden sein 37 . Diese Befugnisse implizierten auch, daß für erlaubte Vereine ein Prozeßvertreter (actor, syndicus) bestellt werden konnte, um diese Befugnisse auszuüben. In der lex collegii Aesculapi et Hygiae sind ein quinquennalis und zwei curatores, d.h. ein Aufbau mit Funktionären, wie in Munizipien, erwähnt 3 8 ; diese sind dann als Vertreter aufgetreten. Dadurch fallen diese collegia dann wohl unter die Ausführung des Gaius in dig. 3, 4, 1, 1 zu den universitates, worauf aber unter Nr. 7 noch näher eingegangen wird 39 . Die Vereine konnten Beschlüsse fassen, aber ein repräsentierendes Organ wie die curia (Rat) bei Städten kennen wir nicht 40 . Es soll dann die Versammlung gewesen sein, die Beschlüsse faßte. Ein Mehrheitsbeschluß band alle 41 . Einige collegia kannten einen numerus, d.h. eine fixierte Zahl Mitglieder (wie es uns auch bei Stadträten begegnet). Vermutlich war es immer möglich, supernumerarii (meine Bezeichnung, basierend auf der Verwaltungspraxis späterer Zeit) aufzunehmen, die dann bei einer Vakanz automatisch gewählt waren 4 2 .

erit et in collegio dicendum. Es gibt keinen Grund, den Text als interpoliert zu betrachten, denn er stimmt mit den übrigen Bestimmungen überein. 37 Callistratus schreibt 40 Jahre nach Gaius (dig. 3, 4, 1) über die cognitio des Provinzstatthalters und z.B. 1 cogn. dig. 50, 6, 6, 12, von collegia vel corpora quibus ius coeundi lege permissum est. Vel corpora könnte hier wohl eine Interpolation sein, weil erst mit dem ius coeundi das collegium als corpus betrachtet werden konnte (siehe Gaius 3 ed. prov. dig. 3, 4, lpr.). 38 Auch in Marcian. 2 iud. pub. dig. 47, 22, 3, 2 ist die Rede von curatores, quaestores und patroni, Schutzherren, was städtischen Strukturen entspricht. Vgl. das Album von Canusium; H.L. ROYDEN, The Magistrates of the Roman Professional Collegia in Italy from the First to the Third Century A.D., Pisa 1988. Weiter begegnen in zahllosen Inschriften verschiedene Funktionäre. 39 Dig. 3, 4, 1, 1 Gai. 3 ad ed. Provinc.: Quibus autem permissum est corpus habere collegii societatis sive cuiusque alterius eorum nomine, proprium est ad exemplum rei publicae habere res communes, arcam communem et actorem sive syndicum, per quem tamquam in re publica, quod communiter agi fierique oporteat, agatur fiat. 40 In Städten faßte die curia die Beschlüsse für die ganze Stadt. Ein Mehrheitsbeschluß des Rates galt als Beschluß aller. 41 Siehe z.B. CTh 14, 3, 8. 42 Z.B. FV 233: nur diejenigen innerhalb des numerus dürften die Vorteile genießen, was impliziert, daß es mehr Mitglieder gab. Vgl. auch das Album von Canusium, wo die praetextati vermutlich schon vorgewählte Kandidaten sind, aber noch zu jung sind, um Mitglied zu sein.

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7. In den Digesten werden noch andere collegia genannt. Während wir die collegia von zwei oder mehreren Priestern (dig. 1, 2, 2, 6) oder das collegium, das eine Gruppe im Stadtrat bildete (dig. 50, 2, 6, 5), unbesprochen lassen können, erfordern die restlichen Vereine, an erster Stelle bei Gaius in dig. 3, 4, 1, p r . - l zu finden, eine genauere Untersuchung. Den collegia licita war es erlaubt, zusammen zu kommen (dig. 34, 5, 20: corpus, cui licet coire\ dig. 40, 3, 1: quibus coeundi ius est, dig. 47, 22, 1, 2: coire non prohibentur). In dig. 50, 6, 6, 12 ist auch die Rede von collegia, quibus ius coeundi permissum est. Angeblich handelt es sich auch hier um collegia licita, die wir schon besprochen haben, denn es geht durchaus um tenuiores, die ein Handwerk ausüben. Dagegen spricht Gaius von societates und collegia, denn corpus habere wird durch Senatsbeschlüsse und kaiserliche Konstitutionen gestattet. Aus dem, was er als Inhalt des corpus habere beschreibt, folgt, daß damit eine Rechtspersönlichkeit auf der Ebene von Städten gemeint war. Ad exemplum rei publicae haben sie Gemeineigentum, eine gemeinsame Kasse und einen Prozeßvertreter. Mit Gemeineigentum ist gemeint, daß nur alle zusammen über das Eigentum verfügen können. Diese Beschreibung von Gaius enthält nicht das ausdrückliche Recht, zusammenkommen zu dürfen (ius coeundi), obgleich es sehr wahrscheinlich ist, daß diese collegia, wie die Städte, Versammlungen abhalten konnten. Denn wie sonst konnte ein Beschluß gefaßt werden? Können wir nun sagen, daß dieses corpus habere der Rechtspersönlichkeit bei den collegia licita gleich war? Man kann kaum mehr sagen, als daß das Resultat der Vergünstigungen von Marcus Aurelius an die collegia eine Rechtspersönlichkeit war, die dem corpus habere ähnlich oder gleich war. Denn die Beispiele, die Gaius nennt, entsprechen gar nicht oder unmittelbar den Beispielen in dig. 47, 22. Gaius erwähnt erstens societates publicanorum, Steuergesellschaften, weiter Berg- und Salinengesellschaften, die aufgrund ihres Vertrags mit dem populus Romanus eine Sonderstellung einnahmen. Zweitens nennt er collegia in Rom (wie die der pistores, Müller/Bäcker, und andere), dann collegia naviculariorum, Reedergesellschaften, in den Provinzen, während in dig. 47, 22 eher von andersartigen collegia in den Provinzen die Rede ist. Die collegia pistorum, naviculariorum und die anderen, die bei der Einfuhr und Verarbeitung von Getreide und anderen Lebensmitteln für die Verteilungen tätig waren, lasse ich hier beiseite 43 . In meinem Buch „Food for R o m e " habe ich die Ansicht vertreten, daß wir deswegen zwei Arten von collegia unterscheiden sollten. Die einen bestehen oft oder immer aus Kapitalanlegern, die anderen aus Personen von niederem Stand, die einen Beruf oder ein Handwerk ausüben und die

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Siehe A.J.B. SIRKS, Food for Rome, Amsterdam 1991, iiber diese

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oft auch unvermögend sind 44 . Bei den ersteren ist deswegen das corpus habere um so wichtiger, denn ohne dieses hafteten die Kapitalanleger nicht nur in Höhe ihrer Anlage, sondern auch mit ihrem weiteren persönlichen Kapital. Bei den letzteren war dieser Aspekt eher sekundär. Eine persönliche Haftung hätte den Gläubigern übrigens vermutlich wenig geholfen. 8. Bei den zuletzt genannten collegia gab es noch eine Besonderheit 4 5 . Einige collegia hatten als Aufnahmekriterium, daß die Mitglieder einen bestimmten Beruf ausüben sollten, z.B. Zimmermann oder Baumeister (,scilicet eis collegiis vel corporibus, in quibus artificii sui causa unusquisque adsumitur, ut fabrorum corpus est). Solche Vereine konnten zum Selbstzweck gegründet werden, z.B. zur Geselligkeit 4 6 , aber auch zu allgemeinen Zwecken: ut necessariam operam publicis utilitatibus exhiberent - daß sie die notwendige Hilfe zum öffentlichen Nutzen leisteten. Den Mitgliedern solcher Vereine wurde dann von den Kaisern ein Vorrecht zuerkannt: eine immunitas, Freistellung, von öffentlichen Pflichtleistungen, aber nur solange sie finanziell nicht imstande waren, diese Leistungen zu bringen. Ebenso waren sie von der auferlegten Vormundschaft (tutela publica) über Kinder von Personen außerhalb ihres Vereins befreit. Daß die Verwaltung sich solcher Vereine bediente, ist insofern nicht sonderbar, als es schon collegia von Funktionären gab (die decuriae apparitorum, aus scribae, viatores und lictores bestehend) 4 7 . Die Grundlage dafür aber ist selbstverständlich eine andere. Diese Bestimmung erlaubt uns die Feststellung, daß wir bei Vereinen von Berufsgenossen nicht an Vereine von ausschließlich armen Leuten denken sollten. Sicherlich gab es arme Leute, aber die Vereine umfaßten neben diesen zweifellos auch wohlhabende Mitglieder 4 8 . Doch nicht nur das: arm ist hier normsetzend gemeint: nicht reich genug, um zwangsmäßig für die Erfüllung finanziell risikoreicher öffentlicher Aufgaben herangezogen zu werden. Dafür brauchte man große finanzielle Mittel, wer also in den Quellen tenuior heißt, war wahrscheinlich noch nicht arm. Vermut-

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Siehe B. SIRKS, Food (wie Anm. 43), 404-405. Das Nachfolgende basiert auf dig. 27, 1,17, 2 - 3 und dig. 50, 6, 6, 12. 46 Siehe O.M. VAN NlJF, Civic World (wie Anm. 4). 47 Siehe B. ELIACHEVITCH, La personnalité juridique, Paris 1942, 2 4 1 - 2 4 2 zu decuriae apparitorum. Über die scribae: E. BADIAN, The scribae of the Roman Republic, Klio 71, 1989, 5 8 2 - 6 0 3 ; J. POUCET, La corporazione degli scribi, Labeo 38, 1992, 7 7 78; A. ROMANO, Il 'collegium scribarum'. Aspetti sociale e giuridici della produzione letteraria tra III e II secola A.C. Napoli 1990. 48 O.M. VAN NIJF, Civic World (wie Anm. 4), 2 1 - 2 2 . 45

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lieh hat die (Neben-)Bedeutung von „(gesellschaftlich) niedrig" hier mehr Gewicht 4 9 . 9. So sah die Rechtslage um 200 n.Chr. aus. Wir kennen sie aus einer Auswahl von Rechtsquellen aus dem frühen 6. Jh. Zwei Fragen stellen sich sogleich: War die Lage zu diesem zweiten Zeitpunkt mit der um 200 n.Chr. identisch? Und wie verhielt es sich mit der Rechtslage in der Zwischenzeit? 10. Für das erste Problem kann man den Codex Justinianus heranziehen. Aber hierin wird nur einmal zweifelsfrei von collegia in dem genannten Sinne gesprochen. CJ 6, 24, 8 aus dem Jahre 290 besagt, daß ein collegium nicht erbfähig ist, wenn dies nicht ausdrücklich als Vorrecht zuerkannt wurde 5 0 . Das scheint sich schwer vereinbaren zu lassen mit dem, was wir über die zwei Arten von collegia wissen. Könnte es sein, daß Diokletian die Erbfähigkeit den collegia quibus ius coeundi est generell abgesprochen hat? Das könnte dann für die justinianische Zeit einen kurzfristigen Widerspruch ergeben haben, denn die Digesten erlangten im Jahre 533 Gesetzeskraft, und der Codex Justinianus, der rein geltendes Recht enthielt, wurde im Jahre 534 publiziert. Er hätte dann das gerade eingeführte Recht wieder abgeschafft! Aber ob die Digesten eine solche Wirkung hatten, ist zweifelhaft und m.E. eher nicht anzunehmen 5 1 . Deswegen müßte das Reskript mit den bevorrechteten Vereinen diejenigen meinen, die das ius coeundi hatten und deswegen bevorrechtet waren. Was die collegia religionis causa angeht, hat sich hier die Lage natürlich inhaltlich geändert. Den Juden war es immerhin gestattet zusammenzukommen, den Samaritern aber nicht (CJ 1, 5, 17, von Justinian vor 531 erlassen) 52 . In CJ 1 , 5 finden wir eine Reihe von Konstitutionen, die allen bestimmten Häretikern den conventus oder das conventiculum verbieten, was einem Verbot des Zusammenkommens entspricht. Auch werden ihnen 49 K.E. GEORGES, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover u. Leipzig 1913, s.v. tenuior. b) bildl: schwach, gering, b) v. Geburt, Stand = gering, niedrig - niederen Standes, nieder. Plur. subst. tenuiores Leute niederen Standes (Ggs. prineipes). 50 CJ 6, 24, 8 Diocl. et Maxim, aa. Hadriano. Collegium, si nullo speciali privilegio subnixum sit, hereditatem capere non posse dubium non est. pp. x k. lun. ipsis iiii et iii aa. conss. [a. 290]. 51 Denn sie erhielten zwar Gesetzeskraft, doch bleibt ihre genaue Form fraglich. Etwa als maßgebende Ausgabe des ius vetus, was bedeutet, daß sie vom späteren kaiserlichen Recht, wie im Codex Justinianus enthalten, verdrängt werden konnten, kraft des lex posterior derogat legi priori-Prinzips. Siehe hiernach. 52 Siehe allgemein: K.L. NOETHLICHS, Das Judentum und der römische Staat. Minderheitenpolitik im antiken Rom, Darmstadt 1996.

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gelegentlich convivia (gemeinsame feierliche Mahlzeiten) untersagt (CJ 1, 5, 3; 1, 5pr.; 6, 2; 8, 3; 12pr.; 14; 17, 4; 18, 3; 20, 1 und 5). Damit hätte man z.B. den Mithrasanhängern den Kultus sehr behindert. Es handelt sich aber vor allem um die Manichäer, weiter um Donatisten, Arianer, Macedoniani, Pneumatomachi, Apollinariani, Novatiani sive Sabbatiani, Eunomiani, Tetraditae sive Tesseracaedecatitae, Valentiniani usw. Diese sind übrigens oft noch härter getroffen, nämlich durch Beschränkung ihrer Testierfähigkeit. Damit konnten sie ihren Familien nicht mehr ihr Vermögen hinterlassen, was wiederum zu deren gesellschaftlicher Benachteiligung führte. Es ist klar, daß sie collegia illicita bildeten. Es mag verwundern, daß auch noch Justinian den Heiden gestattete, zusammenzukommen und gemeinsame Mahlzeiten zu haben (CJ 1, 11, 4). Ob es noch Bestattungsvereine gegeben hat, ist nicht klar. Van Nijf hat bezüglich der Inschriften darauf hingewiesen, daß vor dem Hintergrund des ,epigraphical habit' ein Mangel an Inschriften noch nicht zwangsläufig bedeutet, daß es einen Mangel an Vereinen gab 53 . Hier war die Materie wesentlich schon am Ende des 2. Jh. geregelt: Neue Regelungen waren nicht notwendig. Andererseits können die justinianischen Kompilatoren Texte in der Kodifikation aufgenommen haben, die für das 6. Jh. wenig bedeuteten. So würde man aus den Digesten und dem Codex den Eindruck gewinnen, daß es unter Justinian noch ein blühendes Ratswesen in den Städten gab. In Wirklichkeit wurden im Osten die Städte vom Bischof und den drei oder vier größten Grundbesitzern verwaltet, wie sich aus anderen Texten in der Kompilation ergibt und von den Papyri jedenfalls bestätigt wird. Dazu kommt noch etwas anderes: Es gab jetzt die collegiati, die zwangsmäßig bestimmte Aufgaben öffentlichen Nutzens erfüllten. Darunter fiel auch das Bestattungswesen. Im Codex Justinianus ist nämlich von collegiati die Rede und damit implizit von collegia, die sich auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit dem Zustand von 200-250 n.Chr. verbinden lassen. Diese Texte sind aus dem Codex Theodosianus geschöpft oder datieren von nach 439. In CJ 1, 2, 4 von 409 werden der Kirche von Konstantinopel 950 decani aus den corporati zugewiesen (in CJ 4, 63, 5 sind es 563 collegiati). Sie werden durch Immunität vor der Auferlegung anderer öffentlicher Aufgaben geschützt. Ferner werden in CJ 11, 18, lpr von 439 (= CJ 1, 2, 9pr) die decani seu collegiati, die sich durch Übernahme einer öffentlichen Verpflichtung anderen Verpflichtungen öffentlicher Natur (munera) entzogen haben, zugleich aber nicht die erste Verpflichtung (munus) erfüllt haben, zum Ersatz derjenigen, die das (andere) munus erfüllt haben, einge-

53

O . M . VAN NIJF, C i v i c W o r l d ( w i e A n m . 4 ) ,

25-28.

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setzt 54 . Mit decani sind Leichenbestatter gemeint, sicher keine begehrte oder angesehene Aufgabe. Es wurde vorgeschlagen, collegiati die Bedeutung Feuerwehrleute zuzuschreiben, aber obgleich ich mir eine solche Bedeutung vorstellen könnte (der Gedanke gründet auf einem Brief von Plinius; weiter ordnet CTh 14, 8, 1 von 315 an, die collegia der fabri und centonarii mit dendrofori zu erweitern, womit diese letzten dann wahrscheinlich zu collegiati wurden, siehe CTh 14, 8, 2), ist sie nicht zwingend 5 5 ; es kommt hinzu, daß das „seu" an dieser Stelle zwei verschiedene Bedeutungen besitzt. Man kann sich wohl denken, daß es an Enthusiasmus zu einer solchen Aufgabe mangelte. Auch ist vorstellbar, daß es in dieser Stadt an Bestattungsvereinen mangelte. Collegiatus bedeutet an sich nämlich nichts anderes als jemand, der Mitglied eines collegium ist. Er kann Feuerlöscher sein, aber auch etwas anderes (siehe hiernach). Mit collegiatus ist corporatus identisch, wie wir gesehen haben. Aufgabe dieser collegiati war anscheinend, als argentarius oder nummularius zu fungieren, d.h. als Groß- oder Kleingeldwechsler. Aber es muß mehrere Beschäftigungen gegeben haben, denn in CJ 1, 28, 4 (von 391) ist die Rede von omnia corporatorum genera in der Stadt Konstantinopel. Die corporati in Alexandria hatten bis 391 die Aufgabe, den Fluß zu reinigen (CJ 1, 28, 4). Bei den corporati in Rom ist im Codex Justinianus nicht klar, was sie taten, aber dies konnte vielerlei sein, denn im Jahre 391 werden sie von unspezifizierten neuen Aufgaben freigestellt (CJ 11, 15, 1). Jedenfalls bedeutet es, daß es sich um freie Menschen handelt, die grundsätzlich zu mune54 CJ 11, 18, 1, pr Theodos. et Valentin. AA. Cyro PU. Qui sub praetextu decanorum seu collegiatorum, cum id munus non impleant, aliis se muneribus conantur subtrahere, eorum fraudibus credidimus obviandum, ne quis sub specie muneris, quod minus exsequitur, alterius muneris oneribus relevetur, ne argentariorum vel nummulariorum munera declinentur ab his, qui dici tantum collegiati vel decani festinant. 1. Ideoque si quis eorum sub nudae appellationis velamine collegiatum se seu decanum appellat, sciat pro se alium subrogandum, qui praedicto muneri sufficiens approbatur, subrogatione videlicet memoratorum vel eorum qui moriuntur primatum eius qui subrogatur admisso iudicio. 2. Quod autem supra numerum, qui encautis brevibus continetur, nemo se quolibet patrocinio vel cuiuslibet adsumpta potentia debeat excusare, hoc nostrae est serenitatis censere, tuae sublimitatis tuique officii cautius observare. 3. Hoc inter omnes aequa lance servari praecipimus, nullo divinae domus patrocinio, nullo sacrosanctarum ecclesiarum reverentia, nullo qualibet vel cuiuslibet se potentia excusante. 4. Sed ne tantum circa munera relevanda supplicibus consuluisse noscamur, illud etiam dicendum observandumque esse censemus, ut chartae venditio, quae de provinciis ad corporatos supplicum per innovationem translata est, primae constitutionis terminis concludatur, hoc est, quod initio dispositionis constitutum est, id in posterum nulla addita novatione servetur. d.x K.April. Theodosio xvii et Festo conss. [a. 439]. 55 Plinius (Plin. Ep. X 33) könnte sich mit collegiati beschäftigt haben in einer Stadt (Nicomedia in Bithynien), wo es nur eine Aufgabe für diese gab: als Feuerwehrleute. Was die dendrofori und centonarii taten, ist unbekannt: sie könnten als Feuerwehr gedient haben, aber andere Aufgaben sind auch denkbar.

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ra verpflichtet werden konnten. Auch in anderen Städten gab es corporati (CJ 1 1 , 2 , 6). Vermutlich handelt es sich um im Kleingewerbe Tätige oder um Handwerker, aber sicherlich nicht um alle Personen dieser Art in einer Stadt. Denn in CJ 11, 18, 1 werden Leute gerade collegiati, um anderen munera zu entgehen! Wären z.B. alle Handwerker gemeint gewesen, wäre der Unterschied sinnlos gewesen. Auch CTh 6, 30, 16 erwähnt privati (d.h. Unbelastete) neben denen, die zum Dienst in den corpora (einschl. dem Stadtrat) verpflichtet sind. Doch attraktiv war die Arbeit als collegiatus/corporatus vermutlich nicht, denn in CJ 1, 24, 4 aus dem Jahre 444 wird als Beispiel für das Asyl bei einer Statue des Kaisers die Flucht aus einem collegium genannt. Wiederum ist klar, daß es sich hier nicht um jene collegia nach dig. 47, 22 handeln kann, denn diese corpora oder collegia, deren Mitglieder Zwangspflichten erfüllen müssen, waren ipso iure genehmigt und trafen sicherlich höchstens einmal pro Monat oder religionis causa zusammen. Andererseits gibt es keine direkte Verbindung mit collegia aus dem 2. Jh., denn bei ihnen gab es noch keine Zwangsgemeinschaft. In sozialer Hinsicht könnte aber eine Verbindung bestehen, weil diese Vereine auch aus Personen aus den niederen Ständen bestanden, sich anscheinend aus Personen desselben Berufes zusammensetzten und zugleich ein gewisses Vermögen jedenfalls bei einigen Mitgliedern vorhanden sein mußte. 11. Für die Zeit zwischen der Mitte des 3. Jh. und der justinianischen Kompilation verfügen wir über eine Sammlung von kaiserlichen Konstitutionen aus der Zeit 311-437, die im Codex Theodosianus enthalten sind. Hier begegnen wir collegia, collegiati und corporati. Diese werden manchmal zusammen mit den curiales oder municipes genannt (so in CTh 15, 1 , 4 1 ; 13, 5, 34). Die collegiati/corporati - die Identität deutet darauf hin, daß das collegium als corpus betrachtet wurde, was auf die Anwendung des in dig. 3, 4 p r - l bezeugten Prinzips hindeuten könnte, nämlich, daß es ihnen gestattet war, ein corpus habere - haben wie die curiales Pflichten öffentlicher Natur zu erfüllen (CTh 15, 1, 41; 7, 21, 3: obsequium propriae urbis\ wenn sie der Stadt entfliehen, entziehen sie ihr nicht nur ihren Dienst [ministerium], sondern auch ihre splendor). Ihre Lage wird mit condicio beschrieben, was an sich noch nicht Schlechtes bedeuten dürfte, denn auch decuriones haben eine condicio. Und gleich den curiales werden collegiati aus schützenden Militärfunktionen zurückgerufen, so in CTh 6, 30, 16 aus dem Jahre 399, einer Zeit, in der viele angeblich ihren Verpflichtungen entflohen. Sie werden zurückgerufen und bleiben in ihren Matrikeln registriert 56 . Es gab also Matrikel, die genau 56 CTh 6, 30, 16 Idem AA. Messalae praefecto praetorio. Salutari definitione censuimus DXL et VI de officio comitis sacrarum largitionum, trecentos privatarum, qui

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registrierten, wer dem corpus angehörte, und diese Matrikel wurden von adiutores, höheren Beamten, kontrolliert. Collegiati konnten (ein wenig) vermögend sein, denn in CTh 15, 1, 41 wurden öffentliche Gebäude, die nicht von jemandem in seine Steuererklärung aufgenommen sind, zur Unterhaltung sowohl den curiales als auch den collegiati zugewiesen, suarum non immemores fortunarum. Hatte man hier die individuellen Mitglieder im Auge oder das collegium an sich? Auch in CTh 13, 5, 34 wird auf Vermögen angespielt: fortunae propriae. Aber entweder standen die collegiati den curiales in Reichtum oder in Stand nach oder, was vermutlich richtig ist, in beidem, denn in CTh 12, 1, 146 wurde dem curialis fünf Pfund Gold als Bußgeld angedroht, dem collegiatus nur ein Pfund, (d.h. arm waren die collegiati nicht, sonst wäre das Bußgeld bedeutungslos). So auch in CTh 6, 37, 1 aus dem Jahre 364: Römische Ritter wurden aus denjenigen gewählt, die frei geborene einheimische Römer oder Nicht-Römer waren, aber nicht bei den corporati eingeteilt sein durften. Weiter folgt aus CTh 14, 7, 1, daß eine Ehe zwischen collegiatus/corporatus und einer ingenua ein coniugium aequale war; insoweit standen sie sich besser als die coloni originarii, deren Ehe mit nichtcoloni als inaequale betrachtet wurde und dazu führte, daß die Kinder dem Stand ihrer Mutter folgten (weswegen hier das senatus consultum Claudianum angewendet wurde, um eine Absenkung des Standes der coloni originarii zu verhindern). Also waren die collegiati eine städtische Sondergruppe wie die curiales, Stadträte, sie gehörten aber zur plebs. In CTh 1, 10, 4 werden in Konstantinopel mercatores, Händler, unter die corporati gerechnet. Müssen wir annehmen, daß es sich bei den corporati um Berufsvereine handelte? Oder wird hier corpus wie sonst oft nur in der unpräzisen Bedeutung von „Gruppe" angewendet? Man sollte sich übrigens hüten anzunehmen, daß es sich in jener Zeit um (Zwangs-)Berufsvereine handelt 5 7 .

tarnen nullis sunt corporibus obligati; reliquos suis officiis et ordinibus esse reddendos singulis tarnen ita matriculis retinendos, ut patriae provincia pariter conscribatur, iudicibus admonendis de numero statuto, ut ceteri ad sua officia retrahantur nec posthac sub specie militiae intra provinciam possit delitiscere qui sibi nec indultum commeatum nec publicam necessitatem docuerit esse mandatam. Curialem suum municipes vindicent, collegiatum proprium corpus adstringat, nec iudicem suum apparitor quondam desertor evadat. Sibi quisque, iure tamen, obnoxium exsequatur, adiutoribus quoque, qui matriculas tractant, supplicium deportationis cum amissione facultatum subeuntibus, si quemquam ultra numerum praestitutum siverint militare. Dat. xi kal. ian. Mediolano Theodora v. c. cons. [a. 399]. 57 Vgl. W. CERAN, Stagnation or Fluctuation in Early Byzantine Society, Byzantinoslavica 31, 1970, 192-203; er betont, basierend auf Schriften von Chrysostomos, daß man frei seinen Beruf wählte, durchaus von Gewinnsucht getrieben.

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Auch wurden den collegiati bestimmte Vergünstigungen verliehen, z.B. das Recht, nicht in einem militärischen Verfahren verklagt zu werden: CTh 1 , 6 , 11 richtet sich neben den Senatoren an die hauptstädtischen corporati. Aus CTh 11, 2, 24 ergibt sich, daß die corporati von Karthago den textrini, d.h. den Webern in den kaiserlichen Webereien, Waren gegen zu hohe Preise lieferten: dies deutet auf ein Anlieferungsmonopol hin. War dies als Vergünstigung verliehen worden 5 8 ? Welche Pflichten die corporati zu erfüllen hatten, ist nicht klar. In CTh 11, 10, 1 wird die prosecutio animalium, d.h. die Begleitung von Tieren, vermutlich von Tieren, die beim cursus publicus, dem Staatspostdienst, verwendet wurden, erwähnt. In CTh 16, 2, 42 müssen die corporati von Alexandrien Arme (vermutlich aus ihren Reihen) bereitstellen, damit diese als parabalani, Krankenpfleger, arbeiteten. Sie erfüllen functiones, onera: beides Bezeichnungen für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen 5 9 . Auch hier sind sie den curiales klar unterlegen, aber es gab auch innerhalb der collegiati Abstufungen im Reichtum. Daneben gibt es noch die Corpora der gynaeciarii, murileguli, monetarii usw., die ich beiseite lasse, weil diese sich hier eher um die Absicherung bestimmter Dienste kümmerten, die als wichtig für den Staat oder den Kaiser erachtet wurden und wobei es sich sicherlich nicht um freiwillige Privatvereine handeln kann. Die corporati treffen wir außerdem noch im Codex Justinianus, wenn auch in weniger Konstitutionen als im Codex Theodosianus. Ich erwähnte die decani von Konstantinopel, die dort den collegiati gleichgesetzt werden. Sie genießen Freistellung von anderen munera, denn gewisse Personen umgehen mit dieser Mitgliedschaft ihre eigenen munera, wie die von Groß- und Kleingeldwechslern, ohne aber das andere munus zu erfüllen. Die parabalani von Alexandrien finden wir auch. Was läßt sich daraus folgern? Sind sie dieselben, die in dig. 17, 1, 27, 2 - 3 oder dig. 50, 6, 6, 12 erwähnt werden? Sind es Berufsgenossen, aufgenommen in collegia mit corpus, die wir mit diesen identifizieren dürfen? Nichts spricht dagegen, daß die corporati eine öffentliche Aufgabe haben, denn davon wird auch in dig. 50, 6, 6, 12 gesprochen; sowohl aus CTh 14, 7, 1 mit der Regelung, wie die Belastung hiermit auf Kinder übergeht, - denn die Digestentexte handeln nur von der Aufnahme neuer Mitglieder - als auch aus CJ 11, 18, 1 folgt, daß die falschen Mitglieder sich aufnehmen ließen, also freien Zugang hatten. Auch gab es in beiden Fällen arme und reiche Mitglieder. 58 Vgl. O.M. VAN NlJF, Civic World (wie Anm. 4), 11-18 zur Frage, ob und inwieweit die Vereine mit den mittelalterlichen Zünften verglichen werden dürfen. 59 CTh 12, 19, 1 (400, W): cultus urbium, officio sua; CTh 14, 27, 2 (436, Alex.): repurgandi fluminis onus (also Baggerarbeiten); Nov. Mai. 7, 3 (458, W): operae patriae.

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Selbst wenn man nicht annehmen möchte, Jh. die Fortsetzung der collegia des 2. Jh. zen errichtet worden waren, darf vermutet len auf die corporati des 6. Jh. anwendbar

daß die collegiati des 4. und 5. sind, die zum öffentlichen Nutwerden, daß diese Digestenstelwaren.

12. Wie steht es mit der christlichen Kirche? Wir können unterstellen, daß sie im 6. Jh. unter dig. 47, 22 als collegium cui coeundi licet begriffen wird. Das aber wäre nur eine unzulängliche Beschreibung der Stellung der Kirche. Wir müssen in Betracht ziehen, daß Justinian den 2. Titel des ersten Buches seines Codex der Kirche widmete. Die Kirche war erstens ausgesprochen licitum, zweitens durften die Gläubigen mehr als einmal pro Monat zusammenkommen: am besten sogar jeden Tag. Dasselbe galt für koinobitische Kloster. Für die häretischen Bewegungen und Sekten hatte dig. 47, 22 zweifellos noch Bedeutung, denn darauf gründete die Befugnis der Magistrate, solche Vereine aufzulösen. Was die Erbfähigkeit anbelangt, gestattete schon Konstantin der Große im Jahre 321, daß jeder seine Güter dem concilium hinterließ (CJ 1 , 2 , 1). Damit ist die lokale Kirche als Gemeinschaft (unter einem Bischof stehend) gemeint. Insoweit eine solche Kirche nicht schon als collegium licitum das Privileg der Erbeinsetzung genießen konnte (siehe oben, Nr. 6), stand dieses jetzt außer Zweifel. Im Jahre 530 bestimmt Justinian, daß, wenn jemand in seinem Testament Christus ganz oder zum Teil als Erben eingesetzt hat, es so verstanden werden muß, daß er seine örtliche Kirche als Erben eingesetzt hat (CJ 1, 2, 25pr). Es war also nicht die Frage, ob man der Kirche etwas hinterlassen konnte (das war klar) 60 , sondern nur, welcher Kirche etwas hinterlassen wurde. Ich gehe nicht darauf ein, inwieweit wir annehmen dürfen, daß es sich bei den Gütern der Kirche um die Fortsetzung der alten Idee des Eigentums der Tempel handelte, so daß man sagen könnte, das Kircheneigentum gehöre (eigentlich) Gott (und nicht der Gemeinde als Kollektiv), werde aber von der Kirche verwaltet (d.h., vom örtlichen Bischof), wie bei den Tempeln heidnischer Götter 61 . 60

Siehe A. BERGER, Encyclopédie Dictionary (wie Anm. 4), Art. ecclesia. Siehe R. DELMAIRE, Largesses sacrées et res privata, Rome 1989, 6 4 1 - 6 4 4 , mit Literatur: die Tempel erwarben Güter aus Schenkungen von Gläubigen, und diese Reichtümer konnten von den Kaisern eingenommen werden und z.B. der christlichen Kirche oder Freunden des Kaisers verschenkt werden. Hieraus folgt, daß jedenfalls in späterer Zeit die Ansicht vertreten wurde, daß die Tempelgüter dem Kaiser gehörten. Das war nicht der Fall: Siehe den Überblick bei A. BERGER, Encyclopédie Dictionary (wie Anm. 4), Art. dii: Vermächtnisse an Götter waren erlaubt, die Tempel waren die Begünstigten. Diese Ansicht sehen wir aber nicht in Bezug auf Güter der christlichen Kirche. Es ist bedeutungsvoll, daß wir bei M. KÄSER, Das römische Privatrecht (wie Anm. 4), I und II, München 1971 und 1975, nichts über die Fähigkeit der Tempel, Güter zu haben, vernehmen. 61

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Die Kirche konnte sogar als Erbe eingesetzt werden. Man kann die Frage stellen, inwieweit sie als Rechtspersönlichkeit betrachtet wurde, so wie man dasselbe für die heidnischen Tempel tun konnte. Aus dieser separaten Behandlung ergibt sich, daß die Stellung der Kirche nach 314 eine ganz andere war als die von Vereinen wie den collegia. Vielleicht fanden die Bestimmungen in dig. 47, 22 einst Anwendung auf sie; nach 314 war das dann nicht mehr der Fall, und bei der Zusammenstellung der Digesten werden die Kompilatoren daran vermutlich auch nicht mehr gedacht haben. Die Regelungen bezüglich der Kirche standen dann schon in dem ersten Codex Justinianus (von 529). Was die Häretiker angeht, so könnte man ihre ,Kirchen' als collegia illicita betrachten, womit dann die Bestimmungen in dig. 47, 22 auf sie anwendbar waren, aber ebenso gut kann es schon im ersten CJ (von 529) Sonderbestimmungen für sie gegeben haben, wie wir in dem späteren CJ von 534, in CJ 1, 1, 1 , 5 und 1, 9, finden. 13. Wenn wir die Bestimmungen in der justinianischen Kompilation über collegia betrachten, sehen wir, daß in den Digesten durch die A u f n a h m e von Fragmenten aus dem 2. und 3. Jh. die Rechtslage aus jener Zeit wiedergegeben ist. Es ist die Frage, ob diese Lage auch der im Jahre 533 entsprach. Zwar hatten die Kompilatoren Befugnis, Texte abzuändern und den Bedürfnissen ihrer Zeit anzupassen, doch haben sie das immer getan? Was genau ist der Status der Digesten in der gesamten Kompilation? Diese ist an erster Stelle für den Unterricht gefertigt, hatte aber auch Gesetzesgeltung und wurde daher auch den Gerichten übersandt. Vorsichtshalber müssen wir davon ausgehen, daß sie ohnehin als maßgebende Edition des ius vetus galten, aber deswegen noch nicht auch als lex posterior vor dem Codex Justinianus von 529 Vorrang hatten. 62 Eher ist es so, daß die Bestimmungen dieses Codex als lex posterior galten. Aber damit hatte das ius vetus immerhin noch Gültigkeit, soweit es nicht abgeschafft war. Die Texte konnten dann also durchaus Anwendung finden (es sei denn, daß die Digesten nur im Unterricht Anwendung fanden). Das gilt sicherlich für die Bestimmungen bezüglich collegia licita und illicita. Daneben gibt es den Codex Justinianus mit relativ wenig Bestimmungen, und dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die diesbezüglichen Bestimmungen im Codex Theodosianus in Betracht zieht. Verglichen damit kann man sagen, daß der Begriff corporatus im Codex Justinianus selbstverständlich ist und auch die Zugehörigkeit zu diesen corpora. Die Behörden erlegen zur Wiederbesetzung frei gewordener Plätze Personen die Mitgliedschaft als 62 Ich möchte betonen, daß dies meine Hypothese ist. Es gibt Rechtshistoriker, die die Digesten als lex posterior aus dem Jahre 533 ansehen, also imstande, Bestimmungen bis zu j e n e m Zeitpunkt außer Kraft zu setzen, und andere, die die Frage der Wirkung offen lassen.

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öffentliche Leistungspflicht (munus) auf. Die corporati erfüllen bestimmte Aufgaben, die als nützlich und notwendig für die Stadt erachtet werden, und nicht oder nicht leicht von anderen freiwillig erfüllt wurden. Weiter steht es immer noch frei, einen Verein zu gründen, doch soll dieser keinen aufrührerischen Zweck haben und als Bestattungsverein oder religiöser Verein fungieren. Im letzteren Fall soll der Verein in dieser Zeit natürlich keine ketzerischen Ideen vertreten. Zuletzt: Überall, wo es eine Bischofskirche gibt, gibt es auch ein collegium von Christen, auch concilium genannt, das nicht den Beschränkungen, die anderen Vereinen auferlegt sind, unterliegt und als juristische Person funktioniert.

Macht durch Integration? A s p e k t e einer g e s e l l s c h a f t l i c h e n W e c h s e l w i r k u n g z w i s c h e n V e r e i n u n d Stadt a m Beispiel der M y s t e n u n d T e c h n i t e n des D i o n y s o s von S m y r n a

von VERA HIRSCHMANN

Einleitung Die Untersuchung des Vereinslebens des antiken Smyrna war Teil eines umfassend angelegten Projektes zur Erforschung des antiken Vereinswesens in Kleinasien 1 . Das Ziel war es, neue Erkenntnisse über die gesellschaftliche Rolle bzw. Leistung von Vereinen zu erlangen. Für diese Studie stehen religiös motivierte Gruppen im Vordergrund. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Funktion eines solchen Vereins sowie den Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die seine Interaktion innerhalb des ihn umgebenden sozialen und religiösen Gefüges aufwirft. Deshalb ist als Einstieg in das Thema eine Stadt als kleinste Betrachtungseinheit gewählt, um ein in sich funktionierendes gesellschaftliches System vorliegen zu haben. Die antike Stadt Smyrna eignet sich für solch eine Studie besonders gut, weil in einer überschaubaren Anzahl erhaltener Inschriften relativ viele Hinweise auf Vereine hindeuten. Untersucht wurden vor allem diejenigen Inschriften, welche die klassischen Bezeichnungen des Vereinszusammenschlusses aufweisen. Neben den zentralen gesellschaftlichen Gremien wie Gerusia 2 oder Neoi 3 , also denjenigen Gruppen, die sich um das Gymnasium organisieren und soziale Aufgaben im Inneren wahrnehmen 4 ,

1

Funktionen

v o n R e l i g i o n in a n t i k e n G e s e l l s c h a f t e n d e s V o r d e r e n O r i e n t s

(SFB

4 9 3 ) , M ü n s t e r 1999, P r o j e k t g r u p p e D , „ I n t e g r a t i o n u n d A b g r e n z u n g " , T e i l g r u p p e D 3, Griechisch-römische Vereinigungen und christliche Gemeinden. 2

G . PETZL, D i e I n s c h r i f t e n v o n S m y r n a , Bd. I, B o n n 1 9 8 2 , z . B . N r . 2 0 6 , 2 1 0 , 2 1 1 ,

213, 2 1 4 - 2 1 6 , 534. Im f o l g e n d e n IK S m y r n a a b g e k ü r z t . D i e im T e x t a b g e d r u c k t e n Inschriften sowie deren Übersetzungen folgen Petzl. 3

S o b e i s p i e l s w e i s e I K S m y r n a I, N r . 198, 2 0 6 , 2 0 8 , 2 0 9 , 2 1 5 , 2 6 3 - 2 6 4 , 2 9 9 , 5 4 1 ,

551. 4

Kaiser Hadrian fordert die Gerusie von Ephesos auf, die Kosten für die Gesandt-

42

Vera

Hirschmann

existieren Hinweise auf Lebensgemeinschaften (CTUfißiwaeii;), deren nähere Umstände nicht zu eruieren sind 5 . Manche Vereinigungen werden durch den gemeinsamen Dienst an einem Gott bestimmt, so wie die in Smyrna belegten Hymnoden des „Gottes Hadrian" (CTUVU^VOSÓ? 9 E O G ' ASpiavoü) 6 , die am öffentlichen Kult des Kaisers mitbeteiligt sind 7 . Andere lassen offen, ob tatsächlich ein Verein gemeint ist; so nennt sich eine Gruppe beispielsweise cpiXoi xoö BaaiXéox; AUCN.[JUX)£OU8. Die für eine Einstiegsüberlegung griffigsten Zeugnisse stammen aus der Gruppe derjenigen Inschriften, in denen das Wort aúvoSog auf einen Verein hinweist 9 . In Smyrna bezeichnen sich mit ganz geringen Ausnahmen 1 0 vor allem zwei Vereinskreise als crúvoSoc; die der Demeter und K o r e " einerseits, der Verein der Mysten und Techniten des Dionysos andererseits. Auf letzteren soll hier besonders eingegangen werden. Smyrna erlebt im 2. Jahrhundert seine wirtschaftliche und kulturelle Blüte 12 . Berühmte Persönlichkeiten wie der Rhetor Polemon oder Aelius Aristides fühlen sich der Stadt, die sich rühmt, die Geburtstätte Homers zu sein, verbunden 1 3 . Smyrna ist in der Kaiserzeit wie die anderen Metropolen Asiens auch ein Teil der politisch-religiösen Festkultur, die nicht nur den Wetteifer der Städte untereinander forciert, sondern durch die Bemühungen um den Kaiserkult immer wieder das Verhältnis zur Machtzentrale Rom reflektiert. Das 2. Jahrhundert ist zudem die Periode, in der die griechischrömischen Kulte im gesamten Reich blühen und die ersten Auseinandersetzungen mit dem Christentum beginnen. Parallel erstarkt das Vereinswesen im kleinasiatischen Raum. Diese äußerst interessante Kombination bildet den Hintergrund, vor dem die erhaltenen Spuren des dionysischen Vereins von Smyrna uns hinsichtlich Schaft e i n e s Bürgers zu übernehmen. S i e h e G. ZIETHEN, G e s a n d t e vor Kaiser und Staat, Studien z u m r ö m i s c h e n G e s a n d t s c h a f t s w e s e n z w i s c h e n 3 0 v. Chr. und 117 n. Chr., St. Katharinen 1 9 9 4 , S. 140, vgl. IK E p h e s o s V , 2 9 , Nr. 1 4 8 6 . 5

IK Smyrna I, Nr. 2 1 8 , 3 3 0 , 3 3 1 . S i e h e auch F. POLAND, G e s c h i c h t e d e s griechi-

s c h e n V e r e i n s w e s e n s , L e i p z i g 1 9 6 7 , unver. Nachdr. v o n L e i p z i g 1 9 0 9 , 5 0 und 5 1 . 6

G. PETZL, D i e Inschriften v o n Smyrna, II, 1, B o n n 1987, Nr. 5 9 5 .

7

F. POLAND, G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n ( w i e A n m . 5), 4 7 .

8

IK Smyrna II, 1, Nr. 5 7 7 , 3.

9

F. POLAND, G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n ( w i e A n m . 5), 1 5 8 - 1 6 3 .

10

IK Smyrna I, Nr. 2 0 8 und 2 0 9 , CTUVOSO? TCÖV vecov, siehe dazu die B e m e r k u n g v o n

F. POLAND, G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n ( w i e A n m . 5), 163. ' 1 Für D e m e t e r b e i s p i e l s w e i s e IK Smyrna II, 1, Nr. 6 5 3 , 6 5 4 . 12

T . R . S . BROUGHTON, R o m a n A s i a Minor, in: A n E c o n o m i c S u r v e y o f A n c i e n t

R o m e , ed. by T. FRANK, Bd. 4, B a l t i m o r e 1 9 3 8 , 7 5 0 - 7 5 2 . 13

J. CADOUX verfaßte 1938 die letzte u m f a s s e n d e S t a d t g e s c h i c h t e Smyrnas; J. CA-

DOUX, A n c i e n t Smyrna, O x f o r d 1 9 3 8 . Leider existiert s e i t d e m keine aktuelle Untersuchung, die Smyrna unter B e r ü c k s i c h t u n g neuer Inschriften b z w . Grabungen darstellt.

Macht durch

Integration?

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seines Zusammenwirkens mit der Stadt und des weiteren mit den ersten Christen Aufschlüsse ermöglichen sollen.

Der smyrnäische Verein des Dionysos und seine Anbindung an die Tradition Die offizielle Titulatur der reichsweit verbreiteten Dionysos-Techniten war oL TCEPT TÓV ALÓVUCTOV XE^VIXAI oder xoivov TMV nepi TÖV AIÓVUCTOV TE^VITWV14. In Smyrna (für uns nur kaiserzeitlich nachvollziehbar) nennen sie sich lepa aúvoSot; T¿OV rcepl TÓV Bpeaéa Aióvuaov TE^VEITWV x a l (JLUCTTCOV15. Die Verbindung von Mysten und Techniten scheint ein smyrnäisches Charakteristikum zu sein 16 . Beide Namensteile erscheinen auf den Inschriften nicht formelhaft zusammen, sondern sie existieren gleichberechtigt nebeneinander. Die Ursprünge der dionysischen Techniten reichen bis in hellenistische Zeit zurück. Schon in ihrer Anfangszeit (ca. ab Alexander d. Gr.) und vor allem durch die Begünstigung unter den Diadochen bestand eine starke Bindung an den Herrscher 17 . Sie genießen wichtige Privilegien in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht wie die Befreiung vom Kriegsdienst, Steuerfreiheit und Asylie 18 . In seinem Aufbau orientiert sich der Verein an der Struktur der Stadt; die verschiedenen Ämter stellten einen cursus honorum mit dem Priester des Dionysos an der Spitze dar. Franz Poland weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Verehrung des Gottes, der als Erfinder des Schauspiels gilt, nicht nur vordergründig war, sondern tatsächlich religiösen Charakter besaß 19 . Ihr Wirkungsgebiet sind kultische Feste, die sie nicht nur durch ihr Mitwirken, sondern auch finanziell unterstützen, wie beispielsweise eine Inschrift aus Eleusis (zwischen 80-70 v. Chr.) zeigt 20 . Im 2. Jahrhundert, 14 F. POLAND, G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n ( w i e A n m . 5), 129. In d e r K a i s e r z e i t w e i c h t die u r s p r ü n g l i c h e T i t u l a t u r x o i v o v d e m B e g r i f f cnivoSoi;. P o l a n d ist a n g e s i c h t s d e r s m y r n ä i s c h e n T e r m i n o l o g i e u n s i c h e r o b der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t v o n T e c h n i t e n u n d M y s t e n . V g l . d a z u G . Petzl zur N a m e n s g e b u n g d e r s m y r n ä i s c h e n T e c h n i t e n , G . PETZL, U r k u n d e n d e r s m y r n ä i s c h e n T e c h n i t e n , Z P E 14, 1974, 7 7 - 8 7 , h i e r 86. 15 Z u r V i e l f ä l t i g k e i t d e r T i t u l a t u r siehe P. FRISCH, Z u d e n K a i s e r b r i e f e n an d i e ö k u m e n i s c h e S y n o d e d e r D i o n y s i s c h e n K ü n s t l e r , Z P E 52, 1983, 2 1 5 - 2 1 8 , hier 2 1 5 , A n m . 1. 16 F. POLAND, G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n (wie A n m . 5), 147. 17 F. POLAND, Art. T e c h n i t a i , R E V A 2, 1934, 2 4 7 4 - 2 5 5 8 , b e s . 2 4 9 7 , vgl. DERS., G r i e c h i s c h e s V e r e i n s w e s e n ( w i e A n m . 5), 140. 18 Z u den P r i v i l e g i e n s i e h e P. FRISCH, K a i s e r b r i e f e ( w i e A n m . 15), 2 1 5 - 2 1 8 . 19 F. POLAND, T e c h n i t a i ( w i e A n m . 17), 2 4 8 9 . 20 A. PICKARD-CAMBRIDGE, T h e D r a m a t i c F e s t i v a l s of A t h e n s , O x f o r d 1968, R e v i s e d E d i t i o n , 2 9 6 , vgl. a u c h 2 8 I f f . u n d A p p e n d i x , Nr. 12.

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Vera

Hirschmann

also der Zeit, aus der auch für Smyrna die meisten Zeugnisse über die Aktivitäten dieses Vereins stammen, vervielfachen sich die Spuren der Techniten insgesamt 2 1 . Der zweite Namensbestandteil - ¡jujaxai - weist auf Eingeweihte im Kult des Dionysos hin. Die Verehrung dieses Gottes blickt in Smyrna auf eine anerkannte Tradition zurück. Unter der Epiklese Breseus 2 2 nimmt er in der Stadt (wie auch Demeter) 2 3 die Rolle einer Schutzgottheit wahr, deren Tempel vor den Stadtmauern steht (rcpo 7toXew