Variationen des Mitfühlens: Empathie in Musik, Literatur, Film und Sprache 3515122834, 9783515122832

Empathie ist in den vergangenen Jahren zu einem der zentralen Begriffe in Gesellschaft und Wissenschaft geworden. Steht

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Variationen des Mitfühlens: Empathie in Musik, Literatur, Film und Sprache
 3515122834, 9783515122832

Table of contents :
Schmetkamp / Zorn (Hrsg.)
Variationen des Mitfühlens:
Empathie in Musik, Literatur, Film und Sprache
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie
Filmische Empathie
Von der ‚Mit-Empfindung‘ zu den Spiegelneuronen:
Zum Konzept der Empathie aus musikhistorischer Sicht
Musik, Emotion und Empathie
Prosodie und Empathie
Mehrfache Empathie
Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung
Podiumsdiskussion
Autorinnenbiographien

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Susanne Schmetkamp / Magdalena Zorn (Hrsg.)

Variationen des Mitfühlens Empathie in Musik, Literatur, Film und Sprache

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Schriftenreihe der Jungen Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz Nr. 2

Susanne Schmetkamp / Magdalena Zorn (Hrsg.)

Variationen des Mitfühlens: Empathie in Musik, Literatur, Film und Sprache

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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR MAINZ FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-515-12283-2 (Print) ISBN: 978-3-515-12286-3 (E-Book)

© 2018 by Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Alle Rechte einschließlich des Rechts zur Vervielfältigung, zur Einspeisung in elektronische Systeme sowie der Übersetzung vorbehalten. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne ausdrückliche Genehmigung der Akademie und des Verlages unzulässig und strafbar. Umschlag: Silvi Keßler, Mainz Druck: Druckerei & Verlag Steinmeier GmbH & Co. KG, Deiningen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany



Inhalt

Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn Zum Begriff der „Empathie“: Philosophische, ästhetische und sprachwissenschaftliche Perspektiven ............................................. 5 Íngrid Vendrell Ferran Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie ...................................................................... 15 Susanne Schmetkamp Filmische Empathie ......................................................................................................... 29 Magdalena Zorn Von der ‚Mit-Empfindung‘ zu den Spiegelneuronen: Zum Konzept der Empathie aus musikhistorischer Sicht ....................................... 41 Anja Berninger Musik, Emotion und Empathie .................................................................................... 53 Yuki Asano Prosodie und Empathie .................................................................................................. 65 Ursula Krechel Mehrfache Empathie ....................................................................................................... 75 Podiumsdiskussion Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung ............................................. 81 Autorinnenbiographien .................................................................................................. 97

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Zum Begriff der ‚Empathie‘: Philosophische, ästhetische und sprachwissenschaftliche Perspektiven Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

Der Begriff der Empathie steht seit knapp drei Jahrzehnten im Fokus philosophischer, neurowissenschaftlicher, psychologischer sowie literatur-, film- und in jüngster Zeit auch musikwissenschaftlicher Forschung, wobei das Interesse vor allem seit Entdeckung der „Spiegelneuronen“1 zu Beginn der 1990er Jahren immens zugenommen hat: Empathie gilt seitdem als Schlüsselfähigkeit zum Verstehen mentaler Vorgänge oder zum Mitfühlen mit anderen Lebewesen. Dabei ist die Spiegelneuronentheorie längst nicht die einzige Theorie, noch wird sie unkontrovers akzeptiert. Im Gegenteil wird die Debatte nicht zuletzt auch durch eine scharfe Diskussion um die richtige Theoriebeschreibung empathischer Vorgänge, Kriterien und Konsequenzen bestimmt. Auch in den Medien ist in den vergangenen Jahren ein regelrechter Hype um das Thema entstanden. Vor allem im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa gab und gibt es wiederholt Berichte darüber, was Empathie ist, wozu sie nützlich oder in welcher Hinsicht sie schädlich ist. Das Alltagsverständnis, die populären Meinungen und die wissenschaftlichen Theorien sind so heterogen, dass es schwerfällt, einen einheitlichen Begriff zu finden. Dies gilt auch für die Ästhetik, in der Empathie seit ihren Anfängen diskutiert wird, nämlich seit der Einführung des Begriffs der ‚Einfühlung‘– wie Empathie anfangs im Deutschen genannt wurde – um die Wende zum 20. Jahrhundert.2 Damals von Friedrich Theodor Vischer, Robert Vischer und Theodor Lipps als weiter Begriff für unsere generelle Bereitschaft und Fähigkeit der ‚Resonanz‘ mit allen möglichen Objekten und Personen 1 Di Pellegrino, Giuseppe/Fadiga, Luciano/Fogassi, Leonardo/Gallese, Vittorio/Rizzolatti, Giacomo (1992). „Understanding Motor Events: a Neurophysiological Study“. Experimental Brain Research 91.1: S. 176–180. 2 Curtis, Robin/Koch, Gertrud (2009) (Hrsg). Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

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Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

in unserem Umfeld verstanden, sorgte das Konzept der Einfühlung vor allem in der philosophischen Phänomenologie für eine rege Auseinandersetzung. Dabei verschob sich der Fokus von der ästhetischen Sphäre auf die Frage nach dem Erfassen und Verstehen des Fremdpsychischen überhaupt, während die Ästhetik dann etwas in den Hintergrund gerückt ist.3 Heute aber werden die zentralen Diskussionen nicht zuletzt in den Literatur- und Filmwissenschaften geführt, in denen Empathie als eine Kernkompetenz gilt, zum einen, um einem Narrativ überhaupt zu folgen, zum anderen, um sich in fiktionale Charaktere hineinzuversetzen.4 Minimal lässt sich Empathie definieren als die Fähigkeit, mentale Prozesse wie etwa Gefühle, Wünsche oder Überzeugungen anderer Personen und daraus folgende Gründe für ihr Handeln nachzuempfinden. Sie kann dazu verhelfen, andere besser zu verstehen und wird darum von vielen als epistemisch wertvoll angesehen.5 Abgesehen von jenem Minimalkonsens beschreiben die verschiedenen Ansätze den Prozess und das Ergebnis empathischer Vorgänge ganz unterschiedlich. Dabei besteht der prominenteste Ansatz in der bereits erwähnten Spiegelneuronentheorie, wonach wir auf neuronaler Ebene das nachahmen, was wir bei anderen beobachten, indem bei uns die gleichen Neuronen aktiviert werden, wie wenn wir selbst diese Handlung ausführen. Zwei andere Theorien, die die Debatte prägen, gehören einer allgemeinen Theorie des Geistes oder ‚Theory of Mind‘ an, nämlich die Theory Theory (TT) und die Simulationstheorie (ST). Nach der TT können wir anderen Lebewesen mithilfe eines begrifflichen und psychologischen Repertoires über die mentalen Vorgänge unseres Geistes, das wir uns in der Kindheit aneignen, bestimmte Zustände zuschreiben. So wissen wir etwa, dass Emotionen mit einer Überzeugung einhergehen, z. Bsp., dass etwas als bedrohlich wahrgenommen und entsprechend eingestuft wird. Diese Überzeugung kann uns Gründe liefern, zu handeln, zum Beispiel dem bedrohlichen Objekt auszuweichen. Die 3 Currie, Gregory (2011). „Empathy for objects“. In: Coplan, Amy/Goldie, Peter (Hrsg.). Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press, S. 82–95. 4 Neill, Alex (1996/2017). „Empathie und (filmische) Fiktion“. In: Malte Hagener u. Íngrid Vendrell Ferran (Hrsg.). Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie, Bielefeld: Transcript-Verlag, S. 31–57. 5 Für einen Überblick verschiedener Formen und Definitionen von Empathie vgl. Batson, Daniel (2009). „These Things Called Empathy. Eight Related but Distinct Phenomena“. In: Decety, John/Ickes, W. (Hrsg.) The Social Neuroscience of Empathy, Cambridge/Mass.: MIT Press, S. 3–15.

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Zum Begriff der ‚Empathie‘

TT geht davon aus, dass wir eine alltagspsychologische Theorie davon haben, wie andere in bestimmten Situationen reagieren.6 Ein Gegenmodell war lange Zeit die Simulationstheorie (ST), wonach wir unseren eigenen Geist als Modell verwenden, um zu verstehen, was in anderen vorgeht; dabei simulieren oder imaginieren wir, so lautet die These, in der Situation der anderen Person zu sein und die gleichen Überzeugungen zu haben. Auf dieser Grundlage werden bei uns Emotionen evoziert, welche wir dann auf die andere Person projizieren. Grundsätzlich gehen TT und ST davon aus, dass uns der Geist – die mentalen Zustände – der anderen nicht zugänglich ist, was phänomenologische Kritiker*innen dieser Theorien als ‚Okklusionismus‘ krisitieren.7 Als einer der frühesten Simulationstheoretiker gilt Adam Smith, auch wenn dieser den Vorgang erstens so noch nicht genannt hat und zweitens nicht den Begriff der Empathie, sondern den der ‚Sympathie‘ oder des ‚Mitgefühls‘ („sympathy“) verwendete, zu großen Teilen aber das Phänomen, das wir heute mit dem Begriff der Empathie bezeichnen, beschrieben und analysiert hat. Die Phänomenolog*innen gehen dagegen davon aus, dass wir weder eine Theorie über den Geist anderer Personen noch Imaginationen brauchen. Vielmehr könnten wir direkt im Gesichts- und Körperausdruck ablesen, in welchem Erfahrungszustand die andere Person ist, weshalb hier von einer Theorie der direkten Wahrnehmung gesprochen wird; einige betonen dabei zusätzlich, dass die Interaktion mit anderen für die Empathie essentiell sei, denn vor allem im zweitpersonalen Interagieren, bei dem sich Personen wechselseitig als ein ‚Du‘ anerkennen, käme es zu einem Verstehen.8 Und schließlich heben andere die Bedeutung narrativer Eingebundenheiten anderer Personen hervor. Die These hier lautet, dass wir andere immer in Geschichten verstrickt wahrnehmen und verstehen.9 Einige Vertreter*innen dieser Narrativitätsthese sind Direkte-WahrnehmungTheoretiker*innen, während andere aus simulationstheoretischer Perspektive argumentieren. Alle Vertreter*innen dieser verschiedenen Ansätze sind sich nicht 6 Nichols, Shaun/Stich, Stephan (2003). Mindreading, Oxford: Oxford University Press, 2003. 7 Breyer, Thiemo (2015). Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015. 8 Zahavi, Dan (2015). „You, Me, and We: The Sharing of Emotional Experience“. Journal of Consciousness Studies. 22.1 (1/2), S. 84–101. 9 Breithaupt, Fritz (2009). Kulturen der Empathie. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Hutto, Daniel D. (2007). „The Narrative Practice Hypothesis: Origins and Applications of Folk Psychology“. Philosophy: Royal Institute of Philosophy Supplement 82: 60.

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Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

nur darin uneinig, wie der Prozess der Empathie zu beschreiben ist; sie sind auch geteilter Ansicht in der Frage, ob eine Gefühlsteilung für Empathie notwendig ist und, falls ja, wie deckungsgleich die Gefühle sein können bzw. sollten. Diese Debatten werden, wie erwähnt, auch und vor allem im Bereich der Ästhetik geführt, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen nach den Formen, Gehalten und Funktionen ästhetischer Erfahrung von fiktionalen Geschichten in Literatur und Film oder aber auch von Musik, Tanz oder Architektur. Das Phänomen in diesem Kontext, der auch den Rahmen des vorliegenden Buches hergibt, zu untersuchen, ist unter anderem deshalb spannend, da Empathie allein schon historisch betrachtet aus der Ästhetik kommt: ‚Einfühlung‘ war, wie bereits angegeben, nicht nur auf das Zwischenmenschliche bezogen, sondern auch auf unsere Fähigkeit, uns ästhetisch auf Formen und Farben von Objekten einlassen zu können und deren Gestalt ästhetisch nachzuvollziehen. ‚Ästhetisch‘ stand dabei nicht nur für das ‚Schöne‘, sondern im Sinne Alexander Gottlieb Baumgartens für eine mit besonderer Erkenntnis zusammenhängende Wahrnehmung.10 Die Ästhetik, insbesondere wenn man sie als eine Theorie der ästhetischen Wahrnehmung, Rezeption und Erfahrung versteht – die in den vergangenen Jahren ebenfalls wieder an Aufmerksamkeit gewonnen hat11 –, ist dabei auch deshalb von Interesse, weil sich die Frage stellt, wie wir das, was uns Kunstwerke, Musik, Film etc. emotional vermitteln – und Emotionen sind bei fast jeder Kunst in der einen oder anderen Weise von Bedeutung –, eigentlich erfassen und verarbeiten: Müssen wir den repräsentierten und ausgedrückten Emotionen folgen, sie duplizieren, um diese zu verstehen? Oder reicht ein kognitiver Nachvollzug? Welche Bedeutung nimmt „emotional engagement“, wie der Standardausdruck im Englischen lautet, überhaupt in der ästhetischen Erfahrung an? Wie ist vor diesem Hintergrund das Konzept der Empathie zu verstehen? Welche Rolle spielt eine affektive Ansteckung von den Kunst immanenten Stimmungen und Atmosphären? Hat der empathische Nachvollzug einen besonderen, zum Beispiel epistemischen Wert? Und in was fühlen wir uns eigentlich ein? Bei narrativer Literatur und Film sind das zum einen sicherlich die fiktionalen Charaktere. Doch ist gerade beim Film die bildliche und die durch andere filmische Mittel bediente Ausdruckskraft 10 Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007). Ästhetik. Hamburg: Felix Meiner Verlag. 11 Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin (2013). Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin: Suhrkamp; Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.) (2016) Dimensionen ästhetischer Erfahrung. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp.

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Zum Begriff der ‚Empathie‘

nicht zu vernachlässigen, ebenso wie bei der Literatur die Rolle der Sprache für die Wahrnehmung der Geschichten und der Figuren berücksichtigt werden müssen. Und was eigentlich ist das Objekt der Empathie im Feld der Musik, wenn es, wie im Fall der rein instrumentalen, keinen Text und keine Personen gibt? Welche Rolle spielen hier Ansteckung und affektive Resonanz? Wo lässt sich in diesem Cluster die Oper einordnen? Solche Fragen veranlassen zur interdisziplinären, insbesondere musikwissenschaftlichen Reflexion; sie sind virulent für die in jüngster Zeit vermehrt aufkommende Forschung zum Stellenwert der Empathie in Prozessen der Musikrezeption und zu den Mechanismen der durch Musik vermittelten interkulturellen Verständigung.12 Wie verhält es sich außerdem mit der Empathie im Hinblick auf den Klang und Rhythmus der Sprache, zum Beispiel beim alltäglichen Sprechen? Solchen und anderen Themen nehmen sich die nun folgenden Beiträge aus verschiedenen Blickwinkeln – interdisziplinär und methodisch unterschiedlich – an. Unter dem Titel „Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie“ diskutiert die Philosophin Íngrid Vendrell Ferran die Möglichkeit der Empathie mit literarischen Figuren. Anhand einer phänomenologischen Analyse des Romans Das Geisterhaus von Isabel Allende spielt Vendrell Ferran durch, was es heißt, die Innenperspektive fiktionaler Charaktere einzunehmen und sich mit Hilfe der eigenen Imagination vorzustellen, wie es ist, in einer bestimmten Gefühlskonstellation zu sein. Dabei spielen laut Vendrell Ferran die Erfahrungen Rezipierender eine Rolle, denn aus der eigenen Erfahrung kennen viele mehr oder weniger ähnliche Situationen oder Emotionen wie der Roman sie schildert: das einschneidende Erlebnis des Verlustes einer Person oder das Vertrauen in eigene Bauchgefühle. Von diesen Erfahrungen ausgehend vollzögen Leser*innen die Situation der fiktionalen Figuren nach. Vendrell Ferrans Beitrag eignet sich sehr gut als Einstieg in den Band, weil die Autorin eine Abgrenzung der empathischen Perspektiveneinnahme von anderen Phänomenen, die der Empathie ähnlich sind, vornimmt. Dabei ist zum einen die Unterscheidung zwischen einer ich- und einer 12 Vgl. dazu unter anderem Egermann, Hauke/McAdams, Stephen (2013). „Empathy and Emotional Contagion as a Link between Recognized and Felt Emotions in Music Listening.“ Music Perception 31.2: S. 139–156. Clarke, Eric/DeNora, Tia/Vuoskoski, Jonna (2015). „Music, Empathy, and Cultural Understanding.“ Physics of Life Reviews 15: S. 61– 88. Peters, Deniz (2015). „Musical Empathy, Emotional Co-Constitution, and the ‚Musical Other’“. Empirical Musicology Review 10.1: S. 2–15.

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Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

du-zentrierten Perspektiveneinnahme wichtig; diese komplexen Vorgänge sind von ganz anderer Art und führen zu anderen Ergebnissen als eine automatische, unreflektierte Gefühlsansteckung, welche oft mit Empathie verwechselt wird. Dies geschieht etwa, wenn wir uns von der Neugierde, der Traurigkeit oder der Schwermut einer anderen Person mitreißen lassen, ohne dass wir selbst Gründe für diese affektiven Zustände hätten. Und schließlich differenziert die Autorin Empathie und Sympathie, wobei letzteres ein Mitgefühl oder Mitleid mit anderen ist, zum Beispiel, wenn wir andere dafür bedauern, dass sie Schmerzen haben. Entscheidend ist, dass uns dabei das Wohl der anderen Person am Herzen liegt und wir dieses befördern wollen, während dies bei der Empathie nicht von Belang ist.13 Im Anschluss untersucht Susanne Schmetkamp in ihrem Beitrag „Filmische Empathie“ die Besonderheiten der filmästhetischen Erfahrung und die Rolle und Formen der Empathie in der Filmrezeption. Dabei unterstreicht sie die immersive Kraft des Filmischen und die Bedeutung des Expressiven neben dem Narrativen. Wie bei Vendrell Ferran stehen Perspektiven und Perspektivenwechsel im Zentrum ihrer Untersuchung. Film, so eine These der Autorin, nimmt mit seinen Kameraeinstellungen, seiner Montage und den Erzählperspektiven immer schon einen ständigen Perspektivwechsel vor, den wir als Zuschauer*innen auf formaler Ebene mitmachen, um dem Film visuell, auditiv und kognitiv zu folgen. Darüber hinaus präsentiert uns fiktionaler, narrativer Film in Geschichten eingebettete Charaktere, deren Sichtweisen auf die Welt, und lädt uns ein, diese einzunehmen. Über eine solch komplexe, auf verschiedene Perspektivenweisen antwortende filmische Empathie, erführen wir auf eine verdichtete und intensive Weise, was es heißt, andere Perspektiven oder Sichtweisen auf die Welt zu haben. Damit übe uns Film einerseits formal in den Perspektivwechsel ein, den wir dann andererseits auch im empathischen Nachvollzug der Figurenperspektiven praktizierten. Schmetkamp argumentiert, dass sich für die Filmerfahrung ein Konzept von Empathie eignet, welches auf drei Merkmale, nämlich den verkörperten Ausdruck, das sinnkonstituierende Erzählen und die emotional-kognitive Perspektivenvielfalt von Film zugeschnitten ist. Dabei greift sie auf die Theorie der direkten Wahrnehmung zurück, bindet diese aber zusätzlich an eine Theorie imaginativer Verge13 Einige sprechen konzeptuell etwas unsauber von einem „empathic concern“, meinen damit aber das, was in der Philosophie üblicherweise unter „sympathy“ verstanden wird. Vgl. Batson. „These Things Called Empathy“; Darwall Stephen (1998). „Empathy, Sympathy, and Care“. Philosophical Studies 89, S. 261–282.

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Zum Begriff der ‚Empathie‘

genwärtigung, denn anders als in realen Begegnungen ist die filmische Rezeption keine wechselseitige Interaktion, sondern auf unsere Vorstellungskraft angewiesen. Im Zentrum der Ausführungen von Magdalena Zorn steht nicht der methodische Zugriff der systematischen Musikwissenschaft, mit empirischen Herangehensweisen Fragen der Musikwahrnehmung zu erörtern, sondern der Versuch einer musikhistorischen Verortung des Begriffsfeldes der Empathie. Dabei fasst sie den Überbegriff ‚Empathie‘, da er in der Musikgeschichte expressis verbis lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, als konzeptuellen Anachronismus und verweist stattdessen auf dessen begriffliches Umfeld ‚Mitempfindung‘, ‚Einfühlung‘ und ‚Resonanz‘. Davon ausgehend beleuchtet sie eine musikhistorische Entwicklung, die bei Carl Philipp Emanuel Bachs Idee der ‚Mit-Empfindung‘ der Zuhörer*innen mit den Interpret*innen beginnt und sich bis zum Konzept der ‚Spiegelneuronen‘ erstreckt, das im aktuellen neurowissenschaftlichen Empathie-Diskurs rund um die Musik tatsächlich eine Rolle spielt. Eine Pointe ihrer Darstellung liegt im Aufzeigen des Stellenwerts, den visuelle Stimuli in der musikhistorischen Diskussion rund um die Konzepte der Einfühlung einnehmen. Aus musikphilosophischem Blickwinkel widmet sich anschließend Anja Berninger dem Verhältnis von Musik, Emotionen und Empathie. Ihr Beitrag diskutiert die Angemessenheit des Empathiebegriffs, wenn es um Reaktionen von Hörer*innen auf Musik geht. Ihr Klärungsversuch setzt bei einem im Zusammenhang mit Musik bedeutend häufiger verwendeten Konzept an, dem der emotionalen ‚Ansteckung‘. Im Rahmen ihres Artikels zeigt sie einerseits auf, in welcher Weise der ästhetische Zugang zu Musik mithilfe des Ansteckungsbegriffes veranschaulicht werden kann. Andererseits erörtert sie auf der Basis grundlegender emotionstheoretischer Überlegungen, wie sich beim Musikhören daneben auch eine Form der Emotionsübernahme ereignen kann, die stark von mentalen Parametern wie der Geschwindigkeit und der thematischen Variabilität des Denkens gesteuert wird. Die Linguistin Yuki Asano wiederum beschäftigt sich in ihrem Aufsatz anhand von exemplarischen Studien mit der Frage, inwiefern Prosodie, d.h. die „Musik“ der Sprache auf der suprasegmentalen (d.h. der laut-, silben-, morphemübergreifenden) Ebene, die psycholinguistische Funktion übernimmt, die Emotionen und die Empathie von Sprecher*innen zu indizieren. Den Ausdruck von Empathie macht sie an folgenden prosodisch-phonetischen Tendenzen fest: abnehmende Lautstärke, tiefes Tonhöhenregister, fallende und flach auslaufende Kontur, Silbendehnung, Knarrstimme durch Glottalisierung, Legato-Rhythmus, geringe Sprechspannung bzw. 11

Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

weiche Artikulation. Neben diesen prosodisch-phonetischen Parametern einer Äußerung zeigt sie, dass die Dauer der Pause zwischen einer Äußerung und einer Antwort den emotionalen Status von Sprecher*innen beeinflussen und folglich auch die kommunikative Interpretation von Pausendauern Gegenstand einer empathischen Interaktion sein kann. Die letzten beiden Beiträge unseres Aufsatzbandes widmen sich dem Thema, den „Variationen des Mitfühlens“, noch aus einer ganz anderen, nicht primär wissenschaftlichen, sondern vor allem künstlerischen Perspektive. So gewährt uns die Schriftstellerin Ursula Krechel Einblicke in ihren neuesten Roman mit dem Titel Geisterbahn und zeigt sowohl mit einem einleitenden, theoretischen als auch mit einem literarischen Teil verschiedene Formen ästhetischer Erzeugung und Thematisierung von Empathie auf. Als eine erste Form der Empathie begreift Krechel ihre Empathie als Autorin mit der literarischen Figur Aurelia Torgau, der als Vorbild eine historische Person aus dem kommunistischen Widerstand zugrunde liegt. Dieser aus der Autorinnenperspektive eingenommenen Empathie mit Aurelia stellt die Schriftstellerin allerdings zugleich einen „‚unempathischen‘ Sprachstil“ gegenüber. Zum zweiten inszeniert die Autorin auf der Handlungsebene die Begegnung ihrer literarischen Figur mit gequälten Gänsen, die seitens Aurelias Empathie erfordern würde, wozu sie sich aber angesichts ihrer prekären Existenz im Zuchthaus kaum als fähig erweist. Eine dritte Form der Empathie entsteht nach Ansicht Krechels in dem von ihr beim Schreiben angeleiteten, jedoch nur individuell erlebbaren empathischen Empfinden der Leser*innen, die sich die Frage stellen müssen, ob und in wen sie sich überhaupt einfühlen wollen. Die Mitschrift einer Podiumsdiskussion, die im Oktober 2017 in Mainz stattfand, gibt ferner die Ansichten zum Verhältnis von Empathie, Literatur und Musik aus der Perspektive der Autor*innen Inger-Maria Mahlke und Peter Stamm sowie des Komponisten Anno Schreier wieder. Dabei stehen Thesen zur Funktion der Empathie für Schreibende wie Lesende im Zentrum, außerdem die Techniken der literarischen und musikalischen Empathieerzeugung, das Verhältnis von Musik, Sprache, Klang und Rhythmus, die Bedeutung von Lesungen und Vorführungen und schließlich die ethischen Implikationen von Empathie durch Literatur und Musik.

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Zum Begriff der ‚Empathie‘

Dank Das Buch resultiert aus einem interdisziplinären Workshop, der unter dem Titel „Empathie und Ästhetik“ als erste Veranstaltung der 2016 gegründeten Jungen Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz am 9. und 10. Oktober 2017 in den Räumlichkeiten der Akademie stattfand. So gilt der besondere Dank der Herausgeberinnen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz, die den wissenschaftlichen Austausch im Rahmen dieses Workshops finanziell und strukturell ermöglicht hat, insbesondere dem Präsidenten Prof. Dr. Reiner Anderl, dem Generalsekretär Prof. Dr. Claudius Geisler und der Verantwortlichen für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Aglaia Bianchi. Für die Finanzierung der Publikation sei zudem der Walter und Sibylle Kalkhof-RoseStiftung herzlich gedankt.

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Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie Íngrid Vendrell Ferran

In Isabel Allendes Roman Das Geisterhaus werden verschiedene menschlich relevante Erfahrungen dargestellt. Eine von diesen Erfahrungen betrifft „Clara, die Hellseherin“, eine der Protagonistinnen. Als Clara klein ist, stirbt ihre Schwester Rosa an einer Vergiftung. Dieser Tod wird von Clara als Schock erlebt. Nicht nur muss sie mit dem traurigen Gefühl des Verlustes klar kommen, sondern auch damit, dass sie den Tod ihrer Schwester aufgrund ihrer außergewöhnlichen hellseherischen Fähigkeiten vorhergesehen hatte, ohne dabei das tragische Geschehen verhindern zu können. In der Nacht nach dem Tod führt der Arzt der Familie auf dem Küchentisch eine Autopsie an Rosa durch. Clara beobachtet das Ganze heimlich aus dem Garten durch das Küchenfenster. Als Folge dieser tragischen Umstände verfällt sie in völliges Schweigen. Erst neun Jahre später, als sie in einer ihrer Visionen sieht, dass sie den ehemaligen Verlobten ihrer Schwester Esteban Trueba heiraten wird, durchbricht sie das Schweigen, um ihrer Familie die Hochzeit zu verkünden. Diese konkrete Erfahrung, die für Claras Leben so prägend ist, werde ich nun heranziehen, um das eigentliche Thema dieses Aufsatzes einzuführen: die Möglichkeit der Empathie für literarische Figuren. Ich kann nachempfinden, was Clara empfindet, als sie ihre Schwester verliert, und warum sie in Schweigen verfällt. Sehr gut kann ich verstehen, warum sie sich schuldig fühlt, den Tod ihrer Schwester nicht verhindert zu haben, oder dass sie bereut, ihren Intuitionen kein Vertrauen geschenkt zu haben. Ich kann mir auch gut vorstellen, wie die Beobachtung der Eröffnung von Rosas Leiche auf dem Küchentisch alles noch verschlimmert und sie in einen Schockzustand versetzt. All dies kann ich nacherleben, weil dank Allendes Schilderungen meine Vorstellungskraft angeregt wird und ich die Situation aus Claras Innenperspektive betrachten kann. Und auch wenn ich selbst bei der Lektüre des Textes nicht all diese konkreten Gefühle empfinde, weiß ich aus meiner Erfahrung, was es bedeutet, eine geliebte Person zu verlieren, Schuldgefühle zu 15

Íngrid Vendrell Ferran

haben, weil ich etwas nicht verhindert habe, was ich eigentlich verhindern könnte, und Reue zu empfinden, etwas getan oder nicht getan zu haben. Auch wenn ich nicht hellsehen kann, weiß ich, wie es ist, kein Vertrauen zu den eigenen Bauchgefühlen zu haben. Ich weiß auch, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Neugierde jemanden dazu führt, von etwas Kenntnis zu erhalten, das nicht zu wissen besser gewesen wäre. Ich kann mir gut vorstellen, „wie es wäre“, in so einer Situation zu sein, auch wenn ich selbst nie in diesen konkreten Gefühlskonstellationen war. Diese Vorstellungen sind möglich, weil ich aus meiner eigenen Erfahrung ähnliche Situationen kenne und ausgehend von denen die Situation der anderen Person nachvollziehe. Dieses Beispiel ist illustrativ für ein sehr verbreitetes Phänomen, das unsere Lektüren fiktiver Geschichten oft begleitet: die Anteilnahme am Leben literarischer Figuren. Nicht selten behaupten wir in solchen Fällen, das wir Empathie für die Figur empfunden haben. Wie dieser Mechanismus der Anteilnahme an dem Leben der Figuren genau funktioniert, ist trotz der Bekanntheit des Phänomens alles andere als klar. Zum einen muss geklärt werden, ob alles, was wir auf den ersten Blick als Empathie bezeichnen, auch ein genuiner Fall von Empathie ist. Zum anderen ist es nötig, die genaue Dynamik der empathischen Anteilnahme an literarischen Figuren zu erläutern. Der Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil unterscheide ich das Phänomen der Empathie von ähnlichen Phänomenen. Im zweiten Teil werde ich auf die Bedingungen für Empathie eingehen. In diesem Teil geht es mir darum zu zeigen, dass wir es trotz einiger Unterschiede zwischen Empathie für Mitmenschen und Empathie für Figuren mit demselben Phänomen zu tun haben.

1. Vergegenwärtigung, Perspektivenübernahme, Gefühlsansteckung und Sympathie Ich beginne mit einer Abgrenzung der Empathie von anderen Phänomenen, die ihr ähnlich sind. Eine sehr basale Leistung der Vorstellungskraft, ausgehend von der alle anderen Formen von Vergegenwärtigung möglich sind, besteht darin, sich etwas Geschildertes vorzustellen. Ich muss das, was beschrieben wird ebenso wie das, was nicht geschildert, aber implizit mitgeteilt wird, mit Hilfe meiner Vorstellungskraft ergänzen, um dem Roman folgen zu können. Diese Form des Vorstellens bzw. Imaginierens bzw. Vergegenwärtigens ist „azentral“ – um es mit einem 16

Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie

Terminus Richard Wollheims auszudrücken –, d.h. man stellt sich Situationen und Szenen vor, ohne einen bestimmten Standpunkt einzunehmen.1 Diese Form der Vergegenwärtigung des Narrativs muss vorhanden sein, damit ich mich dann perspektivisch in die Situation und Situationen, die Gefühlslagen und Gedanken der Figuren usw. hineinversetzen kann. Ohne dass ich mir die Erfahrungen bzw. Situationen vorstelle, ist keine Perspektivenübernahme denkbar. Die Bedeutung dieser Vergegenwärtigungen, wie sie im Zusammenspiel zwischen Leser*innen, Autor*innen sowie dem Text entstehen und welches Erkenntnispotenzial sie haben, ist etwas, worüber Gottfried Gabriel ausführlich geschrieben hat. Die Literatur – so drückt er es aus – „führt uns“ solche Situationen „vor Augen“, macht uns mit ihnen in der Vorstellungen bekannt, ohne dass sie gegenwärtig wären.2 Sobald diese sehr basale Form von Vergegenwärtigung der geschilderten Situation erst einmal stattgefunden hat, sind weitere Formen der Vergegenwärtigung möglich. Hier seien zunächst zwei Formen der Perspektivenübernahme zu betrachten. Beide sind Formen des „zentralen Imaginierens“ im Sinne Wollheims.3 Wir können versuchen, die Perspektive eines anderen zu übernehmen, oder die Welt durch die Brille anderer zu sehen.4 Im ersten Fall würden wir die Welt betrachten, als wären wir in der Situation des anderen. Hier findet eine ich-zentrierte Perspektivenübernahme statt. Im zweiten Fall würden wir uns nicht nur in die Situation des anderen hineinversetzen, sondern auch in seine Person. Wir haben es hier mit einer du-zentrierten Perspektivenübernahme zu tun. Wir stellen uns nicht vor, wie es für uns wäre, in der Situation zu sein, sondern wie es für den anderen ist (oder sein könnte). Wir müssen (soweit wie möglich) seine Biographie, seine Vorlieben, seine Hoffnungen, seine mentale Struktur, seine Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln kennen, damit wir die Fremdperspektive übernehmen 1 Wollheim, Richard (1984). The Thread of Life, Cambridge, Mass.: Cambridge University Press, S. 74. 2 Gabriel, Gottfried (2011). „Vergegenwärtigungen in Literatur, Kunst und Philosophie“. In: Gethmann, Carl Friedrich (Hrsg.). XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie, 15.–19. September 2008 an der Universität Duisburg–Essen, Hamburg, S. 726–745, sowie ders. (2014). „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur“. In: Demmerling, Christoph/Vendrell Ferran, Íngrid (Hrsg.). Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, Berlin, S. 163–180. 3 Wollheim. The Thread of Life, S. 74. 4 Vgl. Coplan, Amy (2011). „Understanding Empathy: Its Features and Effects“. In: Coplan, Amy/Goldie, Peter (Hrsg.). Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press, S. 9.

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Íngrid Vendrell Ferran

können. Hinsichtlich dieser zentralen Formen des Imaginierens hat Wollheim beobachtet, dass man, wenn man sich das Denken, Fühlen und Erleben des anderen vorstellen kann, dazu neigt, in dieselben mentalen Zustände zu geraten. Sind die „ich-“ und „du“-zentrierten Perspektivenübernahmen Empathie? Die „ich-“ und „du“-zentrierten Perspektivenübernahmen sind zwar Formen der Anteilnahme an fremden Psychen, aber sie sind nicht Empathie im engeren Sinne, denn für Empathie ist mehr nötig als eine bloße Perspektivenübernahme. Empathie an sich ist eine Form des Erfahrens einer fremden Psyche. Als solche kann sie eine Perspektivenübernahme implizieren, aber sie geht über die Perspektivenübernahme hinaus, indem sie uns eine Erfahrung des mentalen Zustandes eines anderen vermittelt. Ein weiteres Phänomen, das mit Empathie nicht zu verwechseln ist, betrifft die Fälle, bei denen wir uns von den Gefühlen des anderen anstecken lassen. Dies geschieht etwa, wenn wir uns von der Neugierde, der Traurigkeit oder der Schwermut einer anderen Person mitreißen lassen, ohne dass wir selbst Gründe für diese affektiven Zustände hätten. Bei diesen Fällen handelt es sich um Gefühlsübertragung oder Gefühlsansteckung. Bei extremen Fällen von Gefühlsansteckung fühlen wir uns mit dem anderen sogar eins, d.h., wir haben unsere eigene Subjektivität aufgegeben.5 Weder die Gefühlsansteckung noch das Sicheinsfühlen sind Empathie: denn für echte Empathie ist es nötig, dass zwischen Subjekt und Objekt der Empathie ein Daseinsunterschied bewahrt wird. Wenn ich für eine andere Person Empathie empfinde, ist mir bewusst, dass ich Zugang zu dem Leben eines anderen habe. In den besprochenen Fällen dagegen werde ich von dem anderen angesteckt, aber dieser andere wird mir nicht als eine fremde Alterität präsentiert. Im Zusammenhang mit der Empathie wird auch oft über Sympathie gesprochen. Auch wenn man in den heutigen Debatte versucht, beide Phänomene scharf zu trennen, sind die Grenzen zwischen beiden Konzepten nicht immer so konturiert gewesen, wie man sich dies wünschen würde. Der Terminus Empathie ist relativ neu (Ende des 19. Jahrhunderts) und viele Autor*innen der Vergangenheit, die von Sympathie sprechen, bezeichnen damit das Phänomen, das wir heute als Empathie kennen (dies gilt etwa für Adam Smith). Wie bekannt, wurde der Terminus „Einfühlung“ Anfang des 20. Jahrhunderts von Titchener als „empathy“ ins Englische übersetzt; erst in jüngerer Zeit kam der Terminus aus dem englischen 5 Scheler widmet in seinem Buch Wesen und Formen der Sympathie der Charakterisierung der Einsfühlung einen größeren Abschnitt. Scheler, Max (1973). Wesen und Formen der Sympathie. In: ders., G.W. VII, Bern: Francke.

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Vergegenwärtigung von Erfahrungen, Perspektivenübernahme und Empathie

Sprachraum als „Empathie“ nach Deutschland zurück. Auch wenn Einfühlung und Empathie eigentlich dieselbe Bedeutung haben sollten, wird „Empathie“ öfter in ästhetischen Kontexten verwendet. Außerdem sorgen die Geschichten hinter beiden Konzepten auch für feine Unterschiede in ihrem Gebrauch. In diesem Text werde ich einem Vorschlag von Suzanne Keen folgen, um zwischen den beiden Termini Empathie und Sympathie zu unterscheiden. Die Autorin bringt die Differenzen wie folgt auf den Punkt: In der Einfühlung fühle ich Deinen Schmerz, während ich Dich in Sympathie für den Schmerz bemitleide.6 Im Anschluss an diese Definition möchte ich drei Bedingungen von Sympathie näher erläutern: Für Sympathie ist es zunächst nötig, dass wir in der Lage sind, die Perspektive des Anderen (als seine Perspektive, also als „du-zentrierte Perspektive“) zu übernehmen. Zweitens setzt Sympathie auch voraus, dass ich eine eigene Meinung dazu habe (etwa in Form von Überzeugungen usw.), was für den Anderen gut wäre. Schließlich muss ich mir auch Sorgen um den Anderen machen. Der Andere und wie es ihm geht, ist daher etwas, was mir am Herzen liegt. Dieses Verständnis der Sympathie macht die Unterschiede zur Empathie deutlicher: denn die drei Bedingungen für Sympathie können vorhanden sein, ohne dass ich über Empathie als ein Nachempfinden des Zustands des Anderen sprechen kann. Zwar ist die erste Bedingung – die Perspektivenübernahme – auch für Empathie notwendig (wie ich im nächsten Abschnitt im Detail erläutern werde), nicht jedoch, dass wir Meinungen darüber haben, was der Figur gut täte oder dass ich mich um sie kümmere. Wenn dies geschieht, ist die Rede von Sympathie, nicht aber von Empathie. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Empathie und Sympathie für eine Figur gleichzeitig vorhanden sein können, jedoch sind beide Phänomene auf begrifflicher Ebene zu trennen. Kehren wir nun zurück zu dem Beispiel aus Das Geisterhaus und versuchen wir nun, ausgehend von diesem Narrativ die verschiedenen Interaktionsformen mit den Figuren voneinander zu unterscheiden. Wir führen uns die verschiedenen Situationen vor Augen, die Clara betreffen und die oben beschrieben wurden. Damit wird uns eine Realität vergegenwärtigt, ohne dass – wie Gabriel immer wieder betont – dabei diese Realität eine Form von Gegenwart wäre. Ich werde in meiner Vorstellung mit der Situation bekannt. Diese erste Leistung der Vorstellungskraft verlangt, dass ich mich einerseits an die Beschreibungen des Romans halte (etwa, 6 Keen, Susanne (2008). Empathy and the Novel, Oxford/New York: Oxford University Press, S. 5.

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indem ich mir vorstelle, dass es Nacht ist, dass Rosa, die grün gefärbte Haare hatte, tot auf einem Küchentisch liegt usw.). Andererseits aber verlangt sie auch, dass ich die Lücken in der Beschreibung selbst fülle: entweder, weil ein gewisses Hintergrundwissen vorausgesetzt wird (etwa, dass die Gesetze der Gravitation auch in Das Geisterhaus nicht aufgehoben wurden) oder weil mir als Leser*in ein gewisses Kreativitätsfenster offen steht (ich darf mir etwa vorstellen, dass es in dem Garten, von dem aus Clara alles beobachtet, gewisse Bäume und Blumen gibt). Mit der fiktiven Welt des Romans werde ich somit „vertraut“, wenn dies auch nur eine Vertrautheit im Rahmen der Imagination ist. Sobald ich mir die Szenen, die Situationen sowie die komplexen Gefühlskonstellationen von Claras Welt vergegenwärtigt habe, sind verschiedene Formen der Perspektivenübernahme möglich. Ich kann mich in die Perspektive von Clara hineinversetzen – etwa, als sie durch das Küchenfenster die Autopsie betrachtet –, indem ich mir vorstelle, wie es für mich wäre, in einer solchen Situation zu sein. In diesem Fall nehme ich die Situation aus einem internen Blickwinkel wahr, aber ich bleibe auf mich zentriert. Ich denke daran, wie es für mich wäre, eine Schwester namens Rosa gehabt zu haben, die wunderschön gewesen wäre, grüne Haare gehabt hätte und an einer Vergiftung gestorben wäre. Dabei kann ich die Aufmerksamkeit auf mich selbst richten und mich selbst im Rahmen dieser fiktiven Situation beobachten, wie ich mich dann in einer solchen Situation fühlen und wie ich reagieren würde, welche Auswirkungen es auf mich hätte usw. Nun kann ich mir aber auch vorstellen (und dieses ist die zweite Form der Perspektivenübernahme), wie es für Clara ist, das Gefühl des Unglücks, der Trauer, des Schicksalsschlags, der Schuld usw. zu haben. Damit gewinne ich einen neuen Blick auf die interne Situation Claras. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn meine Familie – die in diesem Fall wie Claras Familie aussähe – in Südamerika lebte, wenn mein Vater in der Politik aktiv wäre und viele Feinde hätte, die ihm vergiftete Delikatessen schickten usw. Ich stelle mir vor, ein Mädchen zu sein, das gerade seine ältere Schwester verloren hat. Ich gebe ein Stück meines realen Ichs auf, damit ich Claras Ich annehmen und aus ihrem Blickwinkel auf die Situation blicken kann. Ein interessanter Aspekt dieser weiteren Form der Perspektiven-​ ​übernahme ist es, dass ich hier nicht nur mich selbst in der Situation betrachten kann, sondern dass ich eine Art imaginativen Zugang zu dem Leben des anderen habe. Diese Form der Perspektivenübernahme ist nicht Empathie – so werde ich weiter unten argumentieren –, aber sie ist eine Voraussetzung dafür, dass man von Empathie sprechen kann. 20

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Ich kann mich beim Lesen auch von Gefühlen und Stimmungen anstecken lassen. Diese können Clara betreffen oder das Narrativ. Claras Gedrücktheit und Schwermut können mich anstecken, und jedes Mal, wenn ich das Buch zur Seite lege, fühle ich mich vielleicht etwas niedergeschlagen. Ich kann mich im Laufe des Romans auch von bestimmten Atmosphären beeinflusst fühlen. Dies aber ist nicht Empathie, denn hier fehlt die Erfahrung des anderen als Anderer. Ohne Zweifel ist Clara auch Objekt meiner Sympathie, weil ich ihre Perspektive intern verstehe, mit ihr den Wunsch teile, wieder glücklich zu sein, und weil es mir für sie leid tut, dass sie in Schweigen verfallen ist. In Clara kann ich mich auch einfühlen, wenn ich nicht nur ihre Perspektive übernehme, sondern auch einen internen Einblick in ihre mentalen Zustände gewinne und sie (in einem hier noch zu spezifizierenden Sinne) „teile“. Dies geschieht, wenn sie heimlich durch das Fenster die Autopsie beobachtet. Hierbei kann ich mir nicht nur ihre Gefühle vorstellen, sondern ich kann ihre Trauer, ihre Neugierde, ihren Schmerz, ihre Schuldgefühle, ihre Verzweiflung, ihr Schockiertsein usw. nachvollziehen. Auch wenn diese Gefühle mich vielleicht nicht in der Tiefe ergreifen, die für Claras Gefühlskonstellation in diesem Moment charakteristisch ist, kann ich sehr wohl ihre Gefühlswelt nachempfinden. Mir ist die Schwere ihrer Situation verständlich, und ich kann ihre Reaktionen verstehen. Nach dieser Besprechung verschiedener Phänomene, die Empathie ähneln, jedoch nicht Empathie sind, komme ich zu einer ersten Begriffsbestimmung genuiner Empathie: In der Empathie wird uns eine Fremderfahrung als Erfahrung eines Anderen gegeben. Diese Begrifsbestimmung möchte ich nun in vier Bedingungen zerlegen und sie für den konkreten Fall der Empathie für Figuren problematisieren.

2. Empathie für Mitmenschen und Empathie für Figuren Im obigen Abschnitt wurde ex negativo der Bereich der empathischen Phänomene von Nachbarphänomenen abgegrenzt. In diesem Abschnitt soll eine positive Bestimmung stattfinden, indem ich auf die konkreten Bedingungen für Empathie eingehe. Mein Ziel ist es, eine Erklärung für die Mechanismen der Empathie zu finden, die sowohl für unsere Mitmenschen als auch für Figuren gültig ist. Auch wenn oft über eine ästhetische Empathie gesprochen wird, funktioniert diese Em-

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pathie – so hier meine These – nicht anders als die Empathie für unsere Mitmenschen. Ausgangspunkt für mein Modell wird Edith Steins Definition der Empathie als „Akt[,] der originär ist als gegenwärtiges Erlebnis, aber nicht-originär seinem Gehalt nach“ sein.7 Als Subjekt der Empathie erleben wir etwas, das eigentlich zum Erleben einer anderen Person gehört. Das Faszinierende dabei ist es, dass damit die Möglichkeit eröffnet wird, Aspekte des Lebens eines Anderen zu erfassen. Darüber hinaus bietet Stein ein Modell an, demzufolge Empathie ein Prozess ist, der verschiedene Phasen durchläuft und verschiedene Mechanismen einbezieht, d.h. Empathie basiert nicht nur auf der direkten Wahrnehmung des Anderen, sondern auch auf unseren imaginativen Fähigkeiten, uns die Situation des Anderen zu vergegenwärtigen. Im Folgenden möchte ich ausgehend von dieser Erstdefinition die Bedingungen für Empathie herausarbeiten. Dabei versuche ich das Stein-Modell mithilfe von heutigen Debatten und Fragestellungen weiterzuentwickeln.8 a) Wie wird uns die Erfahrung des Anderen gegeben? Wenn von Empathie die Rede ist, wird uns nicht nur die theoretische Sicht der Welt des Anderen gegeben, sondern eine Erfahrung. Wie diese Erfahrung uns gegeben ist, ist allerdings eine heiß diskutierte Frage, auf die es noch keine Antwort gibt. Die drei Modelle, die die heutige Debatte stark dominiert haben, scheinen alle in Sackgassen zu enden. Das erste Modell ist die Theorie-Theorie. Diese Theorie behauptet, dass wir, wenn wir an den Erfahrungen anderer teilhaben, eine Theorie des Geistes besitzen, die uns dann hilft, Schlussfolgerungen abzuleiten. Wir beobachten ein bestimmtes Verhalten und schließen dann auf einen bestimmten mentalen Zustand, weil wir eine Theorie über die Verbindung zwischen beiden haben. Das Hauptproblem dieser Theorie ist, dass es Lebewesen gibt, die keine Theorie haben und dennoch mit Empathie zu reagieren scheinen (etwa Tiere). Außerdem entspricht es nicht den Tatsachen, dass, wenn wir Empathie für andere Menschen zeigen, eine Theorie für sie haben müssen.9 7 Stein, Edith (1917). Zum Problem der Einfühlung. Halle: Buchdruckerei des Waisenhauses, S. 9. 8 Vgl. Vendrell Ferran, Íngrid (2018). Die Vielfalt der Erkenntnis. Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur. Münster: Mentis, Kap. 7. 9 Carruthers, Peter/Smith, Peter K. (1996). Theories of Theories of Mind. Cambridge: Cambridge University Press.

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Zweitens gibt es die Simulations-Theorie, der zufolge wir uns die Situation des Anderen vorstellen, uns in ihn hineinversetzen und einen ähnlichen Zustand in uns selbst hervorrufen (d.h. simulieren), ohne dabei eine Theorie zu haben.10 Ein Merkmal vieler simulationistischen Theorien besteht darin, dass sie ich-zentriert bleiben. Wir müssen zunächst die mentalen Zustände des Anderen simulieren, bevor wir für den Anderen Empathie zeigen. Diese Theorie behauptet zudem, dass die simulierten Zustände ohne Auswirkungen auf unsere Psyche erlebt werden. Das heißt, Gefühle, Wünsche, Willensakte werden erlebt, aber ohne die Überzeugungen, Gedanken usw., die für sie üblich sind. Man spricht in diesem Rahmen von „Quasi-Gefühlen“, „Quasi-Wünschen“, „Quasi-Überzeugungen“ usw.11 Diese These einer Quasi-Realität unserer mentalen Zustände ist problematisch, denn die simulierten mentalen Zustände können mit Realität und Gewicht erlebt werden. Sie können uns auch zum Handeln veranlassen und uns psychisch beeinflussen. Daher finde ich das simulationistische Modell falsch. Die dritte Option erklärt die Gegebenheit der fremden Erfahrungen über das Modell der direkten Wahrnehmung.12 Dieser Theorie zufolge wird der Andere in der Wahrnehmung schon als ein Anderer, und nicht als lebloser Körper erlebt. Wenn ich den Anderen sehe, kann ich bereits einen direkten Zugang zu seiner Gefühlswelt haben. Diese Theorie entspricht der Erfahrung des Ausdrucks: Ich sehe das Lächeln und ich sehe die Freude des Anderen in dem Lächeln. Allerdings: Wie sind Fälle von Empathie ohne direkte Wahrnehmung zu erklären? Dies betrifft Menschen, die weit entfernt von uns sind, aber auch und besonders literarische Figuren, die wir nicht direkt wahrnehmen können. Im Falle der Empathie für Figuren müssen wir uns das mentale Leben der Figur vorstellen, damit wir für sie Empathie empfinden können. Die Empathie für literarische Figuren kann nur mithilfe eines Modells erklärt werden, das der Imagination eine zentrale Rolle zuweist und die Empathie für Figuren und für reale Menschen nicht als getrennte Mechanismen auffasst. Mein Modell ähnelt dem Simulationsmodell in der Tatsache, dass der Vorstellungskraft

10 Diese Ansicht wird u. a. von folgenden Autoren vertreten: Currie, Gregory/Ravenscroft, Ian (2002). Recreative Minds. Oxford: Oxford University Press und Feagin, Susan (1996). Reading with Feeling. The Aesthetics of Appreciation. Cornell: Cornell University Press. 11 Currie/Ravenscroft. Recreative Minds, S. 11. 12 Zahavi, Dan (2011). „Empathy and Direct Social Perception.“ Review of Philosophy and Psychology 2/3: S. 541–558.

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eine zentrale Rolle zuerkannt wird.13 Der vitale Horizont eines anderen Menschen ist zu reich, um sich einfach in einer Theorie oder einer Wahrnehmung zu erschöpfen. Der Andere wird mir niemals vollkommen als Ganzheit gegeben. Ich muss in der Lage sein, die Unbestimmtheiten, die Lücken usw. mithilfe meiner Vorstellungskraft zu füllen, damit mir seine Erfahrung dann als sinnvoll erscheint. Fehlt uns die Phantasie, erscheint uns dann der Andere als unverständlich, als verrückt oder ist uns einfach zu fremd. Im Unterschied zu den simulationistischen Modellen schließe ich allerdings erstens andere Formen der Gegebenheit der Erfahrung nicht aus: Auch direkte Wahrnehmung und Theorisieren können uns manchmal die Erfahrungen eines Anderen zugänglich machen. Die Empathie für andere Menschen kann manchmal in einer unmittelbaren Art und Weise auftreten, so dass die bloße Wahrnehmung eines Gesichtsausdrucks dafür reicht. In solchen Fällen muss ich nicht viel imaginieren. Andere Fälle dagegen verlangen, dass ich mir Gedanken mache, dass ich theorisiere und dass ich mir Mühe mache, damit mir die Gründe hinter dem Verhalten des Anderen zugänglich werden. Diese verschiedenen Formen der Gegebenheit der Erfahrungen des Anderen vermitteln uns ein viel komplexeres Bild der Empathie. Empathie scheint eine vielschichtige Fähigkeit zu sein, so dass, um sie zu erklären, verschiedene Mechanismen der Gegebenheit der Fremderfahrung in Betracht gezogen werden müssen. Einige Fälle von Empathie würden dann auf einer Wahrnehmung basieren, während andere Überzeugungen benötigen und andere auf einer Vorstellung basieren würden. Es gibt daher eine Vielfalt von kognitiven Grundlagen der Empathie. Genauso wie nämlich einige unserer Gefühle auf Wahrnehmungen fußen (etwa meine Angst vor einem Hund), andere auf Vorstellungen (etwa die Imagination eines Hundes) und andere auf komplexen Formen von Überzeugungen und Annahmen (etwa, dass der Hund tollwütig ist oder tollwütig sein könnte), 13 Mein Modell schließt an folgende Beiträge an: Dullstein, Monika (2013). „Direct Perception and Simulation: Stein’s Account of Empathy.“ Review of Philosophy and Psychology 4 (2): S. 333–350; Magrì, Elisa (2015). „Subjectivity and Empathy. A Steinian Approach.“ In: Mariani, Emanuele (Hrsg.). Discipline  filosofiche:  Figures, Functions  and Critique  of Subjectivity beginning from Husserlian Phenomenology  XXV, 2. S, 129–148; und Schmetkamp, Susanne (2017). „Perspektive und empathische Resonanz: Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen.“ In: Hagener, Malte/Vendrell Ferran, Íngrid (Hrsg.). Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie. Bielefeld: Transcript, S. 133–166.

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kann auch das Phänomen Empathie auf verschiedenen Grundlagen basieren. Ausgehend von diesen Grundlagen könnte man unterschiedliche Typen von Empathie unterscheiden. Einige von ihnen würden wir mit Tieren teilen (etwa jene, die auf einer Wahrnehmung fußen), während andere sehr komplexere Formen des Denkens implizieren würden. Diese komplexeren Formen sind wichtig, um verwickelte Lebenssituationen unserer Mitmenschen (und von literarischen Figuren) zu verstehen. Zweitens: Im Gegensatz zum simulationistischen Modell, bei dem ich simuliere, dass ich etwas Ähnliches empfinde, kann uns in meinem Modell eine Erfahrung des Anderen gegeben werden, ohne dass es dafür nötig ist, dass in mir ein ähnlicher Zustand simuliert wird (siehe unten). b) Welche Erfahrung wird uns in der Empathie gegeben? Die vorherigen Ausführungen bringen uns zu der Frage, welche Erfahrungen uns eigentlich in der Empathie gegeben werden. In der heutigen Debatte werden drei verschiedene Formen von Empathie beschrieben, abhängig davon, welches ihr Objekt ist: kognitive Empathie, die sich auf kognitive Phänomene wie Gedanken, Überzeugungen oder Wahrnehmungen richtet; konative Empathie, die sich auf konative Phänomene wie Wünsche oder Willensakte richtet; und die affektive Empathie, die sich auf affektive Phänomene wie Lust und Schmerz, Emotionen und Stimmungen richtet. Oft wird dann der Vorschlag gemacht, den Begriff der Empathie bloß für den Fall der affektiven Empathie zu reservieren, weil wir in der Umgangssprache dann von Empathie sprechen, wenn Gefühle involviert sind.14 Ich finde diese Option ratsam, denn sonst wäre jede Form von Perspektivenübernahme eine Form von Empathie. Meinem Vorschlag zufolge aber wird das Affektive nicht auf einzelne mentale Zustände reduziert. Es ist eigentlich eine Vereinfachung der Realität, wenn wir sagen, dass wir uns in ein einzelnes Erlebnis des Anderen eingefühlt haben. In der Empathie sind uns niemals vereinzelte mentale Zustände gegeben. Was uns gegeben wird, ist ein Aspekt oder Moment des Erfahrungshorizonts des Anderen. Uns wird gegeben, wie die andere Person sich in einem bestimmten Moment und einer Situation auf die Welt richtet. Der Weltbezug des Anderen, der primär affektiv ist, ist das, was uns auch in der Beobachtung gegeben wird. Daher ist die Rede von mentalen Zuständen immer eine Vereinfachung der empathischen Situation. Viel 14 Coplan. „Understanding Empathy“, S. 3–18.

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geeigneter wäre der Begriff der Erfahrung, und dabei sollte betont werden, dass diese Erfahrungen immer als Form von Weltbezug zu verstehen sind.15 c) Wie ähnlich muss der mentale Zustand des Anderen meinem eigenen sein? Von der Besprechung der ersten Frage kamen wir zur Frage nach dem Ähnlichkeitsgrad zwischen dem mentalen Zustand des Anderen und meinem in der Empathie. Auch über diese Frage streiten sich die Theoretiker*innen in der heutigen Philosophie. Eine Extremposition behauptet, dass beide gleich oder identisch sein müssen. Ein solcher Isomorphismus geht m.E. von einer Illusion aus, denn nicht alle Fälle von Empathie setzen voraus, dass wir dasselbe empfinden. Dies mag in einigen Fällen der Fall sein, aber nicht immer. Wenn ich für das Leid eines Freundes Empathie empfinde, muss ich selbst nicht dasselbe Leid spüren. Gabriel scheint mir dies auf den Punkt zu bringen, wenn er sagt, dass ich, um die Depression eines anderen zu verstehen, selbst nicht depressiv sein muss.16 Eine zweite Option erlaubt es, dass sie komplett verschieden sind. Wenn dies so ist: Was ist dann der Unterschied zwischen bloßer Perspektivenübernahme und Empathie? Mir scheint, dass sich diese Frage von dieser Position aus nicht beantworten lässt. Es ist daher angemessen, zu behaupten, dass die empathische Anteilnahme voraussetzt, dass meine Erfahrung mit der Erfahrung des Anderen im Einklang steht. Wenn der Andere depressiv ist, muss ich selbst nicht depressiv sein, um Empathie zu fühlen. Wenn ich dabei allerdings glücklich wäre, würde ich mir auch über meine Empathie Gedanken machen und mich mit Recht fragen, ob dies noch Empathie ist. Beide Erfahrungen müssen demselben Gefühlstypus angehören, nicht aber unbedingt in einer Analogierelation stehen.17 Hierbei ist an Gradationen zu denken. Gefühle sind keine festen Entitäten. Es gibt einen Rahmen oder ein Fenster, innerhalb dem wir sagen, zwei Gefühle seien dann vom Typus her, was seine Qualitäten 15 Phänomenologisch lässt sich der Weltzugang eines Menschen am besten mithilfe des Begriffs der „fungierenden Intentionalität“ als sinnbildende Funktion des Bewusstseins erläutern, die athematisch, latent und spontan ist und sich in verschiedene „Akt-Intentionalitäten“ konkretisieren lässt. Vgl. Fink, Eugen (1966). Studien zur Phänomenologie 1930–1939. Den Haag: Nijhoff, S. 219. Vgl. für eine Darstellung der Idee der fungierenden Intentionalität: Bech Duró, Josep Maria (2015). „La intencionalitat operant (fungierende Intentionalität).“ Anuari de la Societat Catalana de Filosofia XXVI: S. 117–131. 16 Gabriel. „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur“, S. 163–180. 17 Vgl. Feagin. Reading with Feeling, S. 95 u. 99–100.

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angeht, nah beieinander, andere aber nicht. Trauer und Sorge sind etwa in ihrer Qualität ähnlich, beide fühlen sich unlustvoll an, beide neigen dazu, sich in Langzeitprozesse zu verwandeln, die uns niederdrücken. d) Wie viel von uns müssen wir aufgeben, um Empathie zu empfinden? Aus der Abgrenzung zur Gefühlsansteckung weiter oben wurde klar, dass eines der Kriterien für Empathie ist, dass der Daseinsunterschied zwischen dem Anderen und mir nicht aufgehoben wird. Der Andere und sein Erfahrungshorizont müssen mir als ihm zugehörig präsentiert werden, d.h. als Erfahrungen eines Anderen. Nun war mein Anliegen, ein explikatives Modell von Empathie zu präsentieren, das nicht nur Empathie für Mitmenschen, sondern auch für Figuren erklären könnte. Mit Blick auf literarische Figuren wird oft behauptet, dass sie nichts empfinden und dass sie nichts denken oder fühlen, weil sie einfach Fiktionen sind. Es wird in Frage gestellt, dass sie ein ‚Anderer‘ sind. Diese Vorwürfe bringen uns zu der Frage, ob es überhaupt berechtigt ist, von Empathie für Figuren zu sprechen. Auf diese Frage möchte ich mit Ja antworten, denn wenn das obige Modell der Empathie richtig ist, dann haben wir es mit demselben Mechanismus zu tun, ganz gleich, ob es sich um Mitmenschen oder um Figuren handelt. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Empathie für Figuren gewisse Nuancen zeigt, die sich bei Empathie für Mitmenschen nicht ergeben. Dabei denke ich an die Tatsache, dass bei literarischen Figuren eine direkte Wahrnehmung ausgeschlossen ist, so dass sich die Empathie auf anderen Grundlagen ergibt. Die fremde Erfahrung wird uns notwendigerweise durch indirekte Mechanismen gegeben (Vorstellungen, Gedanken, Annahmen usw.). Darüber hinaus werden auch Rhythmus, Stil, Sprache, Klang usw. bei Erzählungen anders gewichtet als im realen Leben. Sie werden von der/ dem Autor*in herausgestellt, um bestimmte Erfahrungen in uns zu evozieren. Diese Nuancen ergeben sich aus dem ontologischen Unterschied zwischen Mitmenschen und Figuren, nicht aber aus der Tatsache, dass der Mechanismus der Empathie in beiden Fällen grundverschieden wäre. Zum Schluss komme ich zu dem Beispiel von Clara in Das Geisterhaus zurück, die heimlich die Obduktion ihrer Schwester beobachtet. Kann diese Erfahrung mithilfe des hier vorgeschlagenen Mechanismus der Empathie erklärt werden? Die Erfahrung Claras ist mir nicht direkt zugänglich. Ich muss mir alles mithilfe der verschriftlichten Sätze des Buchs, die beseelt von einem bestimmten Klang und Rhythmus sind, vorstellen. Ich muss mir dann vorstellen, wie es für Clara ist, in 27

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dieser Situation zu sein. Dabei kann ich diese du-zentrierte Perspektivenübernahme von Clara mit meiner ich-zentrierten Perspektivenübernahme der Situation vergleichen und von einer zu der anderen übergehen. Ich kann dann etwa ihre Gefühle und Handlungen mit den hypothetischen Gefühlen und Handlungen, die ich in der Situation gehabt hätte, in Kontrast bringen. Empathie tritt dann auf, wenn mir nicht nur eine theoretische Perspektive von Clara gegeben wird, sondern mir zudem ein Moment ihres Erfahrungshorizonts vermittelt wird. Das heißt: Mir wird zugänglich, wie sie in dieser Situation in der Welt orientiert war. Dabei werden mir ihre Schockiertheit, Verzweiflung, Traurigkeit usw. gegeben, allerdings nicht als isolierte mentale Zustände, sondern als ihre damaligen Modi des Weltbezuges, die mir dann verständlich machen, warum sie danach für Jahre dem Schweigen verfiel. Dabei muss ich stark auf Imaginationsleistungen rekurrieren, damit die geschilderte Situation rekonstruiert wird, mir ihre Perspektiven zugänglich gemacht werden und die Erkenntnislücken über Claras Erfahrungshorizont (in dem Roman wird ja nicht alles erzählt) ausgefüllt werden. Allerdings muss ich auch theorisieren, damit ich sie verstehen kann. Ich habe verschiedene Annahmen dazu, warum sie hellsehen kann und warum sie nicht sagte, warum sie sich die Autopsie anschaute usw. Diese verschiedenen Überlegungen muss ich in Betracht ziehen, um sie zu verstehen. Solche Theorien helfen mir, ihre Situation besser zu verstehen. Dies erzeugt den Eindruck einer Wahrnehmung der Gefühle des Anderen im virtuellen Raum des literarischen Werks. Ich kann nachvollziehen, wie sich die Trauer anfühlt, und obwohl ich dabei selbst nicht traurig bin, ist mein inneres Empfinden in Resonanz mit dem, was Clara fühlt. Wie ich mich fühle, wenn ich über ihr Schicksal lese, ist nicht dasselbe wie das, was sie fühlt. Dennoch ist mein inneres Empfinden vom selben Typus wie dem ihren. Kurzum: In der literarischen Empathie habe ich genauso wie in der Empathie für unsere Mitmenschen einen Zugang zum Leben des Anderen, ohne dabei meine eigene Identität im Anderen aufzulösen oder den Anderen in einen Teil von mir selbst zu verwandeln.

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Filmische Empathie Susanne Schmetkamp

Unsere Erfahrung mit Film zeichnet sich durch eine hohe immersive und affektive Involvierung aus: „Keine andere Kunstform produziert so intensive und vielfältige Gefühlsreaktionen wie das Kino.“1 Allerdings sind wir nicht bloß passive passionierte Konsument*innen, sondern imaginieren und reflektieren während und nach der Filmerfahrung. Wie haben wir in Anbetracht dieser und anderer filmästhetischer Charakteristika, die sich zwischen Affektion und Kognition bewegen, die empathische Involvierung von Zuschauer*innen zu fassen? Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass sich für die Filmerfahrung ein Konzept von Empathie eignet, welches auf drei Merkmale zugeschnitten ist, nämlich den verkörperten Ausdruck, das sinnkonstituierende Erzählen und die emotional-kognitive Perspektivenvielfalt von Film. Eine Polyperspektivität des Films und ein empathischer Perspektivenwechsel sind dabei zentral: Film nimmt mit seinen Kameraeinstellungen, seiner Montage und den Erzählperspektiven immer schon einen ständigen Perspektivwechsel vor, den wir als Zuschauer*innen mitmachen, um dem Film visuell, auditiv und kognitiv zu folgen. Damit übt uns Film allein formal in den Perspektivwechsel ein, den wir dann auch im empathischen Nachvollzug der Figurenperspektiven inhaltlich praktizieren. Meine These lautet, dass wir über filmische Empathie auf eine verdichtete und intensive Weise erfahren können, was es heißt, andere Perspektiven und damit Sichtweisen auf die Welt zu haben. Im Folgenden werde ich kurz auf einige Merkmale der Filmrezeption (1), dann auf Charakteristika des (fiktionalen, narrativen) Films eingehen (2)2 und schließ1 Tröhler, Margrit/Hediger, Vincenz (2005). „Ohne Gefühl ist das Auge der Vernunft blind. Eine Einleitung.“ In: Brütsch, M./Hediger, V./Keitz, U. v./Schneider, A./Tröhler, M. (Hrsg.). Kinogefühle. Emotionalität und Film. Marburg: Schüren, S. 7–20. 2 Nicht alle Filme sind narrativ. Ich konzentriere mich in dieser Untersuchung aber auf den narrativen, fiktionalen Spielfilm.

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lich das Konzept einer filmischen Empathie näher erläutern (3). Der Schluss fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen (4).

1. Fühlen, Denken, Imaginieren Die starke attentionale, affektive und leibliche Involvierung der Zuschauer*innen wird häufig als „immersiv“ bezeichnet.3 Das mit dieser Immersion verbundene ‚Eintauchen‘ in die Filmwelt steht damit nur scheinbar in einem Spannungsverhältnis mit einer traditionellerweise angenommenen ästhetischen Distanz. Denn die Ontologie von Film als „screened“, wie der Philosoph Stanley Cavell hervorhebt, impliziert nicht nur die Projektion auf eine Leinwand, sondern auch, dass wir als Zuschauer*innen „abgeschirmt“ sind von dem filmischen Geschehen.4 Eine vollständige Immersion findet, ontologisch betrachtet, also nicht statt. Vielmehr meinen wir mit „Immersion“ wohl eher, dass wir von dem, was gezeigt und erzählt wird und vor allem wie es gezeigt wird, gedanklich und emotional derart vereinnahmt werden, dass der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufgelöst zu werden droht. Phänomenologisch gesehen hängt der Grad des immersiven Eintauchens und eine damit verbundene Distanzreduktion mit dem Filmgenre, dem Einsatz technischer Mittel, dem individuellen Filmerleben und dem Kontext zusammen; so schafft zum Beispiel das Kinodispositiv mit seinem verdunkelten Raum eine besonders immersive Atmosphäre. Immersion ist aber nicht per se mit dem Verlust der ästhetischen Distanz verbunden. Dass Film immersiv ist, liegt an seinen Spezifika wie dem des bewegten Bildes5 auf der großen Leinwand, der durch die Zentralperspektive hergestellten perzeptiven Illusion der Dreidimensionalität des Bildes6 und an seinen Tonsystemen, die 3 Vgl. zur fiktionalen Immersion auch Voss, Christiane (2008). „Fiktionale Immersion.“ Montage/av, 17/2/2008, S. 69–86. 4 Vgl. Carroll, Noel (2005). „Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes“. In: Dietmar Liebsch (Hrsg.). Philosophie des Films. Grundlagentexte. Paderborn: Mentis, S. 155–175. Sowie Brinckmann, Christine Noll (1999). „Somatische Empathie bei Hitchcock. Eine Skizze“. In: Heinz B. Heller, Karl Prümm (Hrsg.). Der Körper im Bild: Schauspielen – Darstellen – Erscheinen. Marburg: Schüren Verlag, S. 111–120. 5 De facto sind die „bewegten Bilder“ 18 bis 24 Einzelbilder, deren rasche Aneinanderreihung den Anschein von fließender Bewegung geben. 6 Bazin, Andre (2009). Was ist Film? Hrsg. v. Robert Fischer, mit einem Vorwort von Tom Tykwer und einer Einleitung von François Truffaut. Berlin: Alexander Verlag, S. 34–35.

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Filmische Empathie

uns als Zuschauer*innen im Kinosaal oder auch im ‚Heimkino‘ buchstäblich einhüllen. Dabei kann es zu kinästhetischen und synästhetischen Effekten kommen wie motorischer Imitation und haptischen Empfindungsverknüpfungen durch Licht, Farbe, Ton des Films.7 Die Großaufnahme einer dampfenden Kaffeetasse ist für uns oft mit dem lebhaften Eindruck verbunden, wie Kaffee riecht, schmeckt oder wie eine heiße Kaffeetasse sich anfühlt.8 Film evoziert dadurch oft starke Stimmungen, Atmosphären und Emotionen.9 Dies trifft auf Main Stream Filme (wie etwa Hollywood Action Filme) ebenso zu wie auf die des Arthouse Kinos oder auch experimentelle Filme.10 Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass fiktionale Charaktere im Filmnarrativ Gefühle11 repräsentieren und ausdrücken; diese sind mit der emotionalen Involvierung der 7 Vgl. etwa Marks, Laura U. (2003). Touch. Sensous Theory and Multisensory Media. Minneapolis: University of Minnesota Press. Christine Brinckmann fasst diese Phänomene bereits unter „Empathie“, die sie dann als „somatisch“ kennzeichnet. Ein „Jucken in den Fingerspitzen“, wie sie schreibt, würde ich indes noch nicht als Empathie bezeichnen, eher als ein Reiz-Reaktions-Schema, dem das aktive Sich-Hinwenden der Empathie fehlt. Vgl. Brinckmann. Somatische Empathie, S. 112. 8 Einschlägig für die These der körperlichen Empfindungen (haptische und olfaktorische Eindrücke) ist: Sobchak, Vivian (2004). Carnal Thoughts: Embodiment and Moving Image. Berkeley: University of California Press. 9 Die Rolle der affektiven Involvierung ist seit den 1980er Jahren in den Fokus filmwissenschaftlicher Arbeiten gerückt, einige sprechen von einem „affective turn“ in der Filmtheorie: Carroll, Noel (1985). „The Power of Movies“. Daedalus 114/4, S. 79–103; Sinnerbrink, Robert (2016). Cinematic Ethics: Exploring Ethical Experience through Film. New York: Routledge; „Ohne Gefühl ist das Auge der Vernunft blind: Eine Einleitung“. In: Matthias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz, Alexandra Schneider, Margrit Tröhler (Hrsg.): Kinogefühle: Emotionalität und Film, Marburg: Schüren, 2005, S. 7–22. 10 Carroll, Noël (1998). „The Essence of Cinema?“ Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition, Vol. 89, No. 2/3, The American Philosophical Association Pacific Division Meeting 1997, S. 323–330. 11 Die Ausdrücke „Emotionen“ und „Gefühle“ verwende ich synomym. Sie umfassen die komplexen mentalen Empfindungen, wie etwa Angst, Neugierde, Eifersucht, Liebe. Sie werden als mental, geistig oder kognitiv bezeichnet, da ihr Zentrum nicht an einem lokalen Ort am Körper liegt, sondern im Geist (anders als der Zahnschmerz, dessen Empfindungszentrum der schmerzende Zahn ist). Vgl. zu Emotionen und Stimmungen im Film Schmetkamp, Susanne (2017a). „Gaining perspectives on our lives: Moods and aesthetic experience“. Philosophia 45(4), S. 1681–1695; Schmetkamp, Susanne (2017b). „Perspektive und empathische Resonanz Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen“. In: Malte Hagener u. Íngrid Vendrell Ferran (Hrsg.). Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie, Bielefeld: Transcript-Verlag, S. 133–166.

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Rezipient*innen konstitutiv verknüpft: Denn die meisten Gefühle, die wir beim Filmschauen empfinden, beziehen sich auf das Erleben der fiktiven Figuren. Nun ist Film aber nicht nur ‚Gefühlskino‘. Wir sind nicht nur immersiv und affektiv involviert, sondern bewahren eine gewisse Distanz schon deshalb als wir „selbst im Falle intensiver Absorption eindeutig nicht glauben, ist, dass das Filmgeschehen in einem herkömmlichen Sinne real ist“.12 Wir wissen, dass es Fiktion ist. Und wir denken nach während der Filmrezeption, wir reflektieren, wir erinnern uns an eigene Erfahrungen oder wir greifen künftige vorweg. Unser Denken wird nicht ausgeschaltet, wenn wir einen Film rezipieren.13 Zu den kognitiven Prozessen, die während des Filmerlebnisses ablaufen, gehören Interpretationen des Dargestellten, Reflexionen über die sozialen und moralischen Implikationen der Figuren, ihrer Handlungen und des Films im Ganzen, intertextuelle Bezugnahmen zu anderen Werken und Kulturprodukten, vielleicht Bezüge zu Theorien und so weiter. Wie stark wir kognitiv „arbeiten“, hängt von dem Grad der Immersion ab.14 Auch unsere Vorstellungskraft als Vergegenwärtigungsfähigkeit des aktual nicht Präsenten ist für unser Filmerleben relevant.15 Das, was jenseits des Bildes geschieht, ebenso wie das, was nicht erzählt, sondern elliptisch ausgelassen wird, müssen wir imaginativ ergänzen. So geht etwa das geschlossene Kamerabild weiter: das filmische Bild mit seinen „Anschnitten“ enthält eine Reihe von Anschlüssen, die den Raum des Bildes in ein darüber hinausgehendes Feld hinein verlängern, das wir aber imaginativ ergänzen müssen.16 Anhand der Parallelmontage lässt sich 12 Voss. „Fiktionale Immersion”, S. 70. 13 Vor allem die kognitivistische Filmtheorie hat die denkerischen Leistungen hervorgehoben: Vgl. exemplarisch Bordwell, David (1985). Narration in Fiction Film. London; Methuen/ Madison: University of Wisconsin Press; Smith, Murray (1995). Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema. New York: Oxford University Press. 14 Vgl. Brinckmann. Somatische Empathie, S. 115. 15 Aktual nicht präsent ist das, was wir auf der Leinwand sehen, immer qua seiner Ontologie der Anwesenheit und zugleich Abwesenheit: wir sehen etwas, aber das ist vergangen, nämlich am Filmset einst aufgenommen; und dennoch erscheint es uns gegenwärtig. Die Imagination ist unter anderem die grundlegende Fähigkeit, diese ontologische und epistemische Synthese zu leisten. Vgl. Cavell, Stanley (1979). The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition, Cambridge, MA: Harvard University Press. 16 Es geschieht natürlich nicht wirklich etwas jenseits des Bildausschnitts, zumindest nichts, was die Geschichte betrifft. Technisch betrachtet stehen jenseits des Bildes der Kameramann, die Tonverantwortlichen, die Regisseurin, Schauspieler*innen, die nicht im Bild sind, und viele andere, die am Filmset arbeiten. Zur Ontologie des filmischen Bildes gehört aber, dass es ein Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang ist und dass wir automa-

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das erläutern: Die Kamera wechselt zwischen zwei oder mehr Handlungssträngen, die im filmischen Narrativ in der Regel auf der gleichen Zeitebene stattfinden. Unsere Vorstellungskraft ist ein synthetisierendes Erkenntnisvermögen, das solche Parallelen zusammenbringt. Als bildhafte und sinnliche Vorstellung vergegenwärtigt die Imagination das, was im Bild gerade nicht zu sehen ist.17 Wenn nun aber das filmische Erleben charakterisiert ist durch Fühlen, Denken und Imaginieren, wie ist dann unser empathisches Engagement zu beschreiben? Für diesen Vorgang scheint mir das Zusammenspiel aus Ausdruck, Narrativ und Perspektive entscheidend zu sein, die den rezeptionsästhetischen Vorgängen des Fühlens, Denkens und Imaginierens auf einer Werkebene entsprechen. Das Filmerleben ist eine komplexe Erfahrung dieser Zusammenhänge. Ich argumentiere im Folgenden für eine hybride Empathiekonzeption aus direkter Wahrnehmung und imaginativem Perspektivenwechsel, die mir nicht nur, aber gerade für die Filmerfahrung plausibel erscheint.

2. Ausdruck, Narrativ und Perspektive Neuere phänomenologische Theorien zur Empathie verstehen diese als direkte Wahrnehmung des Ausdrucks in der zwischenleiblichen Interaktion mit anderen.18 Demnach nähmen wir im Ausdruck und im Verhalten anderer unmittelbar deren Erfahrung wahr und wüssten, wie sie sich fühlten. Dass ein solcher Ansatz, obwohl in vielerlei Hinsicht plausibel und attraktiv, weder die vielen Missverständnisse, die reale Interaktionen begleiten, erklären kann, noch ohne Weiteres auf unseren Umgang mit Narrationen und Fiktionen anwendbar ist, macht sie mindestens erweiterungsbedürftig. Wie oben angegeben, ist die Filmerfahrung aus verschiedenen Gründen auf imaginative Leistungen angewiesen: tisch imaginieren, wie außerhalb des Bildes die fiktive Welt weitergeht. Zu dieser Ontologie des Films vgl. Bazin. Was ist Film?; Cavell. The World Viewed. 17 Dieses über unsere Filmerfahrung eingeübte und übliche Ergänzungsverfahren ermöglicht es auch, dass es zu einer Überraschung kommt, wenn die Erwartung einmal nicht eingelöst wird, wenn zum Beispiel das parallele und auch lineare Erzählen durchbrochen wird, wie es stilprägend bei Pulp Fiction (USA 1994) eingesetzt wurde. 18 Zahavi, Dan (2014). Self and Other. Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame. Oxford: Oxford University Press; Gallagher, Shaun (2017). “Empathy and theories of direct perception”. In: Heidi Maibom (Hrsg.). The Routledge Handbook of Philosophy of Empathy, New York: Routledge, S. 158–168.

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eine direkte zwischenleibliche Begegnung mit den Filmfiguren fehlt; zusätzlich ist das, was wir sehen, nur gespielt, und wir wissen das auch. Und schließlich kann es nicht zu einer wirklichen reziproken Interaktion zwischen Rezipientin und Filmfigur kommen. Ich glaube, dass diese Theorie dennoch partiell auf den Film anwendbar ist, gerade weil Film ein stark immersives und expressives Medium ist: Wir sehen und hören von Schauspielern verkörperte Charaktere auf der Leinwand, die (inter)agieren; wir werden über die Kamera durch die Filmwelt geführt, teilweise – mit Hilfe des Point-of-View-Shot – aus der subjektiven Perspektive, teilweise sprechen uns die Figuren direkt an. Prominent hat Béla  Balázs schon 1924 auf die Rolle des Gesichtsausdrucks, des Minenspiels und die Großaufnahme beim Film hingewiesen: „Denn in der Großaufnahme wird jedes Fältchen des Gesichts zum entscheidenden Charakterzug“.19 In ihm lassen sich die „Zusammenhänge mit dem Drama“ erkennen, ja „das Gesicht wird ,das Ganze‘, in dem das Drama enthalten ist.“20 Dies ist ein wichtiges Argument dafür, wie eng das Expressive und das Narrative zusammenhängen und wie sich die erzählerischen Perspektiven der Figuren auch in ihrem Gesicht bzw. in der Großaufnahme oder anderen expressiven Quellen widerspiegeln.21 Zum Ausdruck des Films gehören ferner die Musik, der Sound, die Farben oder das Licht. Ein Film Noir zum Beispiel evoziert eine ganz andere Atmosphäre als ein farbiger Action-Streifen, ein Film mit sparsamen Musikeinsätzen transportiert eine andere Stimmung als ein Film mit gewaltigen, lauten Kompositionen. Das, was wir sehen, hören und erzählt bekommen, steht immer in einem Zusammenhang mit dem, wie es ausgedrückt wird, entweder durch die Schauspieler*innen oder durch die technischen Mittel des Films. Ein zweites zentrales Element des Films und der Filmerfahrung ist die erzählte Handlung und sind die Zusammenhänge des Erlebens der Figuren: das Narrativ, das mit dem Expressiven und dem Emotionalen des Films verknüpft ist. 19 Balázs, Béla (2001). Der sichtbare Mensch. Oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48–49. 20 Ebd. S. 49. 21 Neben Gesicht und Körper ist die Stimme ein zentrales Ausdrucksmittel im Film, ein „Vehikel der Emotion, insofern sich Gefühlslagen und Stimmungen höchst differenziert über Tonfall, Klang und Modulation der Stimme zum Ausdruck bringen lassen.“ Vgl. Hediger, Vincenz (2005). „Tiere ohne Gefühle. Jaws und die audiovisuelle Konstruktion der Gefühlswelt von Tieren“. In: M. Brütsch (Hrsg). Kinogefühle. Emotionalität und Film. Marburg: Schüren, S. 313–330.

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Ein Narrativ ist, grob erklärt, wenn zwei oder mehr Ereignisse in Raum und Zeit zu einem kohärenten Sinnzusammenhang in Wort, Schrift oder Gedanken verbunden werden. Peter Goldie schreibt dazu: A narrative is a representation of events which is shaped, organized, and coloured, presenting those events, and the people involved in them, from a certain perspective or perspectives, and thereby giving narrative structure – coherence, meaningfulness, and evaluative and emotional import – to what is narrated.22

Ein Narrativ ist also keine bloße Aneinanderreihung, sondern repräsentiert Ereignisse strukturiert und organisiert sie und ist eingefärbt durch eine spezifische Perspektive.23 Die Untersuchung der Emotionen im und durch Film sowie des Nachvollzugs von Emotionen fiktionaler Charaktere eignen sich nun gerade deshalb so gut im Rahmen einer narrativistischen Herangehensweise, weil auch die meisten Emotionen keine bloßen Schnappschüsse eines Moments sind, sondern sich über einen Zeitraum prozesshaft entfalten.24 Vertreter*innen einer narrativen Emotionstheorie gehen sogar davon aus, dass sich Emotionen wie ein Narrativ erzählen und interpretieren lassen.25 Demnach fügen sich die Komponenten von Emotionen über eine zeitlich-dramaturgische Struktur zu einer Sinneinheit zusammen, das heißt zu einem narrativen Verlauf mit Anfang, Höhepunkt und Ende.26 Gerade in seiner Essenz als Bewegtbild begegnet Film der Prozesshaftigkeit von Emotionen und umgekehrt: Emotionen ähneln der zeitlichen Entfaltung von Film. Wenn wir einen Film schauen, nehmen wir nicht nur die Ausdrücke wahr, 22 Goldie, Peter (2012). The Mess Inside. Narrative, Emption, & the Mind. Oxford: Oxford University Press, S. 8. 23 In der Philosophie gibt es zudem die Theorie der narrativen Identität, wonach wir unser Leben oder uns selbst als Personen als ein zusammenhängendes Narrativ erzählen können. Demnach wäre ein Narrativ der sinnstiftende Rahmen, innerhalb dessen wir unser Selbst besser verstehen oder – strenger gefasst – unser Selbst überhaupt erst konstituieren (vgl. Goldie. The Mess Inside). 24 Plantinga, Carl (2009). Moving Viewers. American Film and the Spectator’s Experience. Berkeley: University of California Press, S. 79. 25 Gallagher, Shaun (2012). „Empathy, Simulation, and Narration“. Science in Context 25, S. 355–381; Krebs, Angelika (2015). Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe. Berlin: Suhrkamp; Voss, Christiane (2004). Narrative Emotionen: Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin/New York: De Gruyter. 26 Goldie. The Mess Inside, S. 57 ff.; Plantinga. Moving Viewers, S. 80.

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sondern wir folgen dem Prozess und der pluralen Struktur der verschiedenen Mikro- und Makro-Narrative, wie sie sich um die Figuren herum entfalten oder wie sie sich in den dargestellten Emotionen zeigen. Narrative sind aber auch, wie oben mit Goldie angegeben, aus einer bestimmten Perspektive heraus erzählt. Wenn wir also die Geschichte einer fiktiven Figur und ihre Gefühle verstehen wollen, müssen wir auch die Perspektive nachvollziehen. „Perspektive“ ist ein technischer und ein metaphorischer Begriff: Die Kamera thematisiert immer eine Perspektive, sei es die einer bestimmten Figur oder eines impliziten Erzählers bzw. Beobachters oder als Blick von nirgendwo, als Negation einer subjektgebundenen Perspektive. Auch der Ton kann uns eine Perspektive eröffnen, die nicht dem Bild entsprechen muss. Wenn wir einen Film schauen, werden wir anhand der Mittel gelenkt, Perspektiven einzunehmen und zu klären. Im metaphorischen Sinne meinen wir mit Perspektive unsere Weltanschauung und unser In-der-Welt-Sein, eine bestimmte Haltung oder Einstellung zur Welt im Ganzen oder zu einzelnen Erlebnissen in bestimmten Kontexten. Unser Standpunkt ist durch unsere Eingebundenheit, durch unseren Charakter, unsere Erfahrungen, Werte, Überzeugungen, Emotionen bestimmt und beeinflusst umgekehrt unsere emotionale, evaluative und kognitive Weltwahrnehmung.

3. Empathie als Ausdrucksverstehen und vergegenwärtigender Perspektivwechsel Als Beispiel für die Konzeptualisierung filmischer Empathie möchte ich auf den Film Paterson (USA 2016) des Filmemachers Jim Jarmusch eingehen: Im Zentrum der fiktiven Geschichte steht ein Busfahrer (Adam Driver), der so heißt, wie der Ort, in dem er lebt: Paterson. Der Film erzählt, wie er Tag um Tag routiniert seine Fahrten unternimmt, in den Pausen Gedichte schreibt, abends nach Hause zu seiner Freundin kommt, mit dem Hund spazieren geht, ein Bier in seinem Stammlokal trinkt und schließlich wieder nach Hause geht. Der Film ist ruhig erzählt mit langen Einstellungen und sich wiederholenden Motiven. Die Filmbilder greifen damit das auf und drücken aus, was die Geschichte erzählt: die glückliche Monotonie des dichtenden Busfahrers und wie er die Welt wahrnimmt. Abweichung von der Routine und Aufregung, so erfahren wir im Laufe des Films, sind für ihn nichts. Patersons Erfahrungsperspektive wird uns über die Ausdrucksmit-

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tel und das Narrativ vermittelt. Wir würden eine andere Erfahrungsperspektive vermittelt bekommen, wenn die Geschichte als Action-Film erzählt würde. Nun steht diese Geschichte aber nicht für sich, sondern ist als Film von Jim Jarmusch eingebettet in eine Reihe von Filmen des Autorenfilmers: wer seine Filme kennt, erkennt den roten Faden in seinen Werken und die Rückkehr zu seinen Anfängen. Langeweile, Monotonie, Unaufgeregtheit prägen seine Handschrift, die ebenso intertextuell in den neuen Film eingeht wie soziokulturelle Narrative amerikanischer Literatur, Dichtung, Filmgeschichte und typische Bilder des amerikanischen Vorstadtlebens. Neben den Mikroperspektiven des Narrativs des Films und seiner Figuren vermittelt uns der Film auch solche Metaperspektiven eines impliziten und/oder expliziten Autors, des Filmemachers, seines Werkes oder der Filme anderer Regisseur*innen. Wie oben angegeben, ist der Ausdruck im Film ein zentrales Element für die erzählten Gefühle und deren Rezeption. Gerade die Technik des Close-Up, der Großaufnahme, scheint dafür zu sprechen, dass wir die Gefühle der fiktiven Figuren unmittelbar vom Gesicht ablesen können, so wie es die Theorie der direkten Wahrnehmung annimmt. Fiktionaler narrativer Film erzählt aber, wie dargestellt, auch eine Geschichte, die sich über den Zeitraum der Filmdauer entwickelt; er gibt Perspektiven wieder, lenkt Zuschauer*innen präfokussierend anhand seiner Mittel auf diese Perspektiven. Zur Ausdruckswahrnehmung, unterstützt durch die bildästhetischen und technischen Mittel des Films, gehört daher in der empathischen Filmerfahrung die imaginative Vergegenwärtigung der Perspektiven, unterstützt durch das Narrativ.27 Wenn wir den Ausdruck von Paterson sehen, als er entdeckt, dass der Hund sein Buch mit seinen gesammelten, handschriftlich festgehaltenen Gedichten zerfetzt hat, wird uns sein Zustand unmittelbar gewahr. Dabei geht seine situationale Emotion aber nicht in diesem Augenblick allein auf, sondern ist nur im Kontext des gesamten Ausdrucks des Films, seines Narrativs und unter Berücksichtigung der individuellen Perspektive der Figur zu verstehen: wie er die Welt wahrnimmt, sie bewertet, sich in ihr bewegt. Seine Gedichte waren sein Zufluchtsort, sein Ruhepol und sein Ort der ihm eigentümlichen, bescheidenen Kreativität. Das heißt, um zu verstehen, wie sich die Situation für ihn in 27 Eine historische Konzeption, die meiner Position am nächsten kommt, ist die der Phänomenologin Edith Stein. Eine ähnliche Position vertritt Vendrell Ferran. Vgl. Stein, Edith, 2008 (zuerst 1917). Zum Problem der Einfühlung, eingeführt und bearbeitet von Maria A. Sondermann, OCD, Edith Stein Gesamtausgabe, Band 5, Freiburg/Basel/Wien; Vendrell Ferran, Ingrid (2018). Die Vielfalt der Erkenntnis. Münster: Mentis.

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dem Augenblick anfühlt, greifen wir auch auf das zurück, was uns der Film zuvor vermittelt hat und möglicherweise auch auf das, was wir auf der Metaebene über Filme von Jim Jarmusch explizit oder implizit, auf einer kognitiven, imaginativen, somatischen und reflexiven Ebene wissen. Dieses Zurückgreifen bedarf der Aktivität der Zuschauer*innen, indem sie das, was sich nicht in dem Bild direkt zeigt, vervollständigen. Wir müssen imaginativ ergänzen, um einen Sinnzusammenhang herzustellen. Dabei können wir verschiedene Wege des Perspektivwechsels einschlagen: Wir können uns selbst in die Situation der fiktionalen Figur projizieren, was in der Empathiediskussion als „Imagine-Self“ oder „In-his-shoes-imagining“ bezeichnet wird.28 Wir stellen uns dann vor, wie wir in der Situation der fiktionalen Figur fühlen und denken würden. Dabei kann diese Transposition mehr oder weniger gelingen, je nachdem wie ähnlich und vertraut uns die Situation des anderen ist.29 Die Perspektive bleibt hierbei aber egozentrisch, denn wir stellen uns ja uns selbst in der Situation vor. Eine anspruchsvollere und allozentrische oder „du-zentrierte“ Transposition ist demgegenüber im „Imagine-Other“ impliziert, bei dem wir uns vergegenwärtigen, wie es wäre, der andere zu sein mit all seinen Erfahrungen, Vorlieben, Wünschen, Überzeugungen.30 Dies ist ein aufwändiger Prozess, der einiges voraussetzt, wie etwa ein hinreichendes Maß an Informationen über die Figuren, ihren Wünschen, Gefühlen, Überzeugungen, die narrativ und expressiv vermittelt werden. Er gelingt nie vollständig, da wir die Erste-Person-Perspektive eines Anderen ontologisch betrachtet nicht einnehmen können. Dies ist ein Grund, warum 28 Vgl. zu dieser Unterscheidung Batson, Daniel C./Early, Shannon/Salvarani, Giovanni (1997). „Perspective Taking: Imagining How Another Feels Versus Imaging How You Would Feel“. Personality and Social Psychology Bulletin 23 (7), S. 751–758. 29 Auf die Bedingung der Ähnlichkeit und Nähe für den Perspektivwechsel hat bereits David Hume hingewiesen, vgl. Hume, David (1738/1978). Ein Traktat über die menschliche Natur. Band II: Über die Affekte. Übersetzt, mit Anmerkungen und Register versehen von Theodor Lipps, Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 103–104. 30 Vgl. Goldie, Peter (2011). „Anti-empathy”. In: Coplan, Amy/Goldie, Peter (Hrsg.). Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press, S. 302–317. Nicht so analytisch genau, aber phänomenologisch durchaus mitbedacht ist diese Unterscheidung bereits bei Adam Smith zu finden, der schreibt, dass wir uns Kraft unserer Imagination vorstellen, „dass wir selbst die gleichen Martern erlitten” wie ein anderer oder dass wir „gleichsam in seinen Körper eintreten” und gewissermaßen „eine Person mit ihm werden”, vgl. Smith, Adam (1759/2010). Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 6.

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die Theorie der direkten Wahrnehmung von einem zweitpersonalen Vergegenwärtigen spricht, das allerdings auf die reale zwischenleibliche Interaktion angewiesen wäre.31 Davon abgesehen, braucht man beim „Imagine-Other“ eine Vielzahl an Informationen über die andere Figur, die uns nie alles mitteilen können: Demnach haben wir ein epistemisches Problem, dass wir nie alles von dem Anderen wahrnehmen und wissen können, weil vieles auch unterbewusst abläuft und/oder auf Erfahrungen, die lange zurückliegen, basiert. Zu Beginn eines Films ist der Prozess des „Imagine-Other“ daher tatsächlich wohl noch nicht möglich oder zumindest unvollkommen, so dass hier andere Formen wie das Theoretisieren oder der Nachvollzug durch „Imagine-Self“-Projektion wahrscheinlicher sind. Durch die expressiven und narrativen Mittel des Films und durch unsere Imaginationskraft kann es jedoch gelingen, dass wir der individuellen Erfahrungsperspektive der fiktionalen Figur, ihren charakterlichen Dispositionen, Überzeugzungen, Wünschen, Emotionen im Laufe des Films näherkommen und so uns vorstellen können, wie es ist, der Andere zu sein. Dafür sind neben der Vermittlung der Psyche der fiktionalen Figuren über Ausdruck und Narrativ verschiedene Mittel der Zuschauerlenkung und der affektiven und evaluativen Präfokussierung relevant: Anhand der narrativen Konstruktion, der Kameraeinstellungen, der Erzählperspektive, des Genres, der Montage, der Musik etc. wird unsere Weise, wie wir die Perspektive des Anderen einnehmen, gesteuert, werden die Objekte unserer Empathie bestimmt und wird Perspektivwechsel erleichtert.

4. Konklusion In der Rezeption von Ausdruck, Narrativ und Perspektive werden wir leiblich, kognitiv, imaginativ und affektiv involviert: Film hat durch seine spatiotemporale Struktur und seinen Einsatz von Sound, Musik, Bewegtbild und Montage eine starke expressive und immersive Kraft, vergleichbar mit Musik und Architektur. Auf der anderen Seite hat narrativer Film mit seinen Erzählperspektiven und den fiktionalen Figuren viel mit Literatur gemein, Film adressiert uns ähnlich auf kognitiver und imaginativer Ebene.

31 Vgl. Breyer Thiemo (2015). Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt am Main: Klostermann.

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Film zeigt uns zudem auf paradigmatische Weise, dass und wie wir Perspektiven einnehmen können: Der Film nimmt mit seinen Kameraeinstellungen und seiner Montage einen ständigen Perspektivwechsel vor, den wir als Zuschauer*innen auf formaler Ebene schon immer mitmachen, um dem Film visuell, auditiv und kognitiv zu folgen. Damit übt uns Film in den Perspektivwechsel ein, den wir dann auch im Nachvollzug der Figurenperspektiven vollziehen. Die Empathie mit fiktionalen Werken ist gegenüber der realen durch die verschiedenen Möglichkeiten der Vorperspektivierungen verdichteter, fokussierter (aber auch manipulierter). In den alltäglichen realen Begegnung haben wir oft keine solchen Vorperspektivierungen (außer, wir bekommen etwas erzählt), oft sind uns auch nicht die Hintergründe und Kontexte klar.32 In der Realität sind wir freier in unserem Empathisieren, das Ganze kann sich damit für uns aber auch diffuser und schwieriger gestalten.33 Der Film kann unsere Empathiepraktiken in der realen zwischenmenschlichen Begegnung nicht ersetzen, sie aber durch Verdichtung, Konzentration und Lenkung bereichern oder herausfordern.

32 Man erinnere sich an den Film Being John Malkovich (USA 1999), wo dies das Thema des Films ist. 33 Wiederum hat bereits Adam Smith auf vollkommenere und unvollkommenere Formen des Empathisierens bzw. Sympathisierens hingewiesen, wenn er schreibt, dass wir gegen den Zornigen eine ad hoc-Antipathie verspüren, solange wir nicht mehr über die Ursache und den Kontext seines Zorns wissen. Vgl. Smith. Theorie der ethischen Gefühle, S. 9–10.

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1. Empathie als Ereignis vs. Empathie als Konzept Wenn sich eine Musikhistorikerin Gedanken zum Begriff der Empathie macht, hat sie es in zweierlei Hinsicht mit methodischen Hürden zu tun, die von vornherein dafür sorgen, dass an die Stelle von konkreten Befunden wissenschaftliche Reflexionen über den Untersuchungsgegenstand treten. Zum einen spielen der Terminus ‚Empathie‘, der erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, und mit ihm die Vorstellung einer ganz bestimmten Form der intersubjektiven Kommunikation in der Musikgeschichte aufs Ganze gesehen expressis verbis keine große Rolle. Zum anderen handelt es sich bei der Empathie als der grundlegenden „Fähigkeit, anderer Personen Gefühle nachzuempfinden“1, um ein Phänomen, das in den letzten Jahrzehnten vielfach durch empirische Forschung nahe am Menschen untersucht wurde, und die daraus gewonnenen Erkenntnisse lassen sich aus ideengeschichtlicher Perspektive nicht ohne weiteres auf die Subjekte der Geschichte übertragen. Vergangenheit lässt sich eben empirisch nicht greifen. Hinter dem im Jahr 1909 erstmals in der Beschreibung von kinästhetischem Erleben verschriftlichten „Kunstwort“2 Empathie, das seit den 1960er Jahren zunächst in den Geistes- und Sozial-, später dann in den Neurowissenschaften eine zunehmend zentrale Rolle spielte, verbergen sich, so der Tenor der interdisziplinären Forschung, grundlegende Mechanismen der zwischenmenschlichen und interkulturellen Kommunikation, die in der experimentellen Auseinandersetzung 1 Leiberg, Susanne/Singer, Tania (2013). „Empathie.“ In: Schröger, Erich/Koelsch, Stefan (Hrsg.). Affektive und kognitive Neurowissenschaft. Göttingen (u.a.): Hogrefe, S. 119–154, hier S. 119. 2 Fontius, Martin (2001). „Einfühlung/Empathie/Identifikation“. In: Barck, Karlheinz/ Fontius, Martin u.a. (Hrsg.). Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2: Dekadent–Grotesk. Stuttgart (u.a.): Metzler, S. 121–142, hier S. 121.

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mit dem Subjekt in seiner emotionalen und kognitiven Ausrichtung in Zukunft noch weiter durchleuchtet werden sollen. In dieser Forschungslandschaft ist seit jüngster Zeit auch die systematische Musikwissenschaft vertreten, die nach den Prozessen der Musikwahrnehmung und den Mechanismen der durch Musik vermittelten interkulturellen Verständigung fragt.3 Während diese am sinnlich erlebenden, d.h. beobachtenden und fühlenden „musikalischen“ Menschen (seien es praktizierende Musiker*innen oder Zuhörer*innen) der Jetzt-Zeit die These überprüft, dass Musik als Medium der Identitätsbildung nicht nur eine Brücke zwischen Individuen, sondern auch zwischen unterschiedlichen auf der Welt beherbergten „Gefühlskulturen“4 zu schlagen vermag, muss die historische Musikforschung, die zum Menschen von damals nur mehr vermittelt, über das Medium der Schrift und die musikalische Notation, Zugang erhält, ihren Zugriff auf die Idee einer künstlerisch initiierten Empathie erst noch definieren. Die in systematisch-musikwissenschaftlichen Annäherungen vorherrschende Frage, unter welchen Bedingungen und auf welche Art und Weise sich empathische Prozesse zwischen Komponist*innen, ausübenden Musiker*innen und Zuhörer*innen ereignen, würde in den historischen Kunstwissenschaften zu kaum haltbaren Annahmen über die Lebenswirklichkeit der Vergangenheit führen. Das Ereignis der Empathie kann daher nicht der Ankerpunkt einer musikhistorischen Untersuchung sein, sehr wohl jedoch die historischen Vorläufer ihres Konzepts. Die Fragen in der musikhistorischen Annäherung an die Idee der Empathie könnten lauten: Wann wurde die Idee einer empathischen musikalischen Kommunikation angelegt? Inwiefern steuerte das Ideal der Empathie in der Geschichte das Verhalten von Komponist*innen, ausübenden Musiker*innen und Hörer*innen? Auch mit dieser konkreteren Frage nach dem normativen Konzept von quasiempathischen Musiker*innen oder Hörer*innen der Vergangenheit bleibt jedoch das grundlegende Problem bestehen, dass wir es im Fall der Empathie mit einem verhältnismäßig jungen Neologismus zu tun haben, der zum Teil neue Vorstel3 Vgl. dazu unter anderem Egermann, Hauke/McAdams, Stephen (2013). „Empathy and Emotional Contagion as a Link between Recognized and Felt Emotions in Music Listening.“ Music Perception 31.2: S. 139–156. Clarke, Eric/DeNora, Tia/Vuoskoski, Jonna (2015). „Music, Empathy, and Cultural Understanding.“ Physics of Life Reviews 15: S. 61– 88. Peters, Deniz (2015). „Musical Empathy, Emotional Co-Constitution, and the ‚Musical Other‘“. Empirical Musicology Review 10.1: S. 2–15. 4 Vgl. dazu den Aufsatz von Erlmann, Veit (2017). „‚Gefühlskulturen‘ – Identität und Empathie“. Positionen. Texte zur aktuellen Musik 111: S. 9–12.

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lungsbilder mit sich brachte, für die sich in der Musikgeschichte der Moderne wenig Evidenzen finden lassen. Ein hilfreicher missing link in der konzeptuellen Annäherung an den Begriff stellt daher das deutschsprachige Äquivalent, die vom deutschen Psychologen Theodor Lipps kurz nach 1900 als „Grundbegriff der heutigen Ästhetik“5 bezeichnete ‚Einfühlung‘ dar. In den historischen Konstellationen zwischen Musiker*innen und Hörer*innen mindestens ebenso prägend waren allerdings die zwei folgenden Begriffe, die Überschneidungen mit ‚Einfühlung‘ und ‚Empathie‘ aufweisen: es handelt sich um ‚Mitempfindung‘ und ‚Resonanz‘. Im Unterschied zu ‚Sympathie‘ und ‚Mitgefühl‘, die ein „Fühlen für“6 Andere zum Inhalt haben, implizieren ‚Mitempfindung‘ und ‚Resonanz‘ nach leitender Auffassung der Neurowissenschaften das „Teilen einer Emotion (Mitfühlen)“7 zwischen dem Ich und dem Anderen, und in dieser (kognitiv oder affektiv) geteilten Emotion liegt zugleich eine anerkannte Minimaldefinition von Empathie. Um Empathie zu erleben, müsste demnach also eine gewisse Gleichartigkeit der Emotionen des Ichs und des Anderen existieren.

2. Das musikalische Subjekt der Empathie Die Verstrickung in terminologische Probleme ist damit jedoch immer noch nicht gelöst. Lassen sich die musikhistorischen Leerstellen des Empathie-Begriffs über den Umweg von terminologischen Hilfskonstruktionen kompensieren, so bleibt nichtsdestoweniger die Frage offen, welches Subjekt in und durch Musik für die historischen Hörer*innen überhaupt greifbar gewesen sein soll. Wer oder was soll das Zielobjekt musikalisch-empathischer Hör-Reaktionen gewesen sein? Komponist*innen, die Gefühle musikalisch verklausulierten, oder ausübende Musiker*innen, die diese Gefühle in der Aufführungssituation konkretisierten? Oder waren es, einer Annahme der gegenwärtigen Empathieforschung entsprechend, etwa virtuelle musikalische Personen, die für die Hörer*innen als „surrogate for an empathic friend“8 fungierten? Oder ereignete sich empathische 5 Vgl. Lipps, Theodor (1906). „Einfühlung und ästhetischer Genuß.“ In: Utitz, Emil (Hrsg.). Aesthetik. Berlin: Pan 1923, S. 152–167, hier S. 152. 6 Leiberg/Singer. „Empathie“, S. 121. 7 Ebd. 8 Clarke/DeNora/Vuoskoski. „Music, Empathy, and Cultural Understanding“. Zit. nach: https://www.music.ox.ac.uk/assets/Cultural-Value-Music-Empathy-Final-Report.pdf, S. 10.

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Interaktion bei der Musikausübung und -wahrnehmung vermittels resonierender Prozesse? Empathie wäre in diesem Fall das Produkt einer Synchronisation von Schwingungen des erlebenden Ichs mit den Stimmungen der Musik – nichts anderes indiziert der Begriff der Resonanz – und erzeugte unterhalb der Reflexionsschwelle ein diffuses Gemeinschaftsgefühl. Dieses Konstrukt entspräche dann der vom Vater der Einfühlungstheorie Friedrich Theodor Vischer geforderten „Eintragung der Menschenseele in Unpersönliches“9, und damit in Natur als solches, der die Musik als Zahl der Schwingungen in der Zeit nach Ansicht antiker Philosophen ohnehin substantiell angehört. In einem Aufsatz jüngeren Datums spricht der Musikwissenschaftler Constantijn Koopman der Musik aufgrund ihres immersiven, d.h. die Hörer*innen einhüllenden Charakters allerdings grundsätzlich den Status einer Einfühlungskunst ab. Mit implizitem Verweis auf Helmuth Plessners Bemerkungen zum Hören in der Anthropologie der Sinne (1970), wonach sich der Ton im Unterschied zum visuellen Gegenstand nie in Distanz zeige, nie als Objekt im eigentlichen Sinne präsentiere, sondern vielmehr immer „ohne Abstand“10 in die Rezipient*innen eindringe, vertritt Koopman die Auffassung, dass Töne gar „nicht vor-gestellt“11 werden können. Töne würden vom hörenden Subjekt nicht als Andere erkannt, womit letztlich eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen einer empathischen Kommunikation fehle, denn dafür müsste die ontologische Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen bewusst sein: „[…] man wird ihrer inne. Die Musik tönt in uns, nicht etwa vor uns oder auf uns zu.“12 Koopmans Ansicht, dass Musik objektlos sei, korrespondiert seine Vorstellung, dass sie nur aus dem hörenden Subjekt heraus existiere. Interessant ist hier, dass der Ästhetiker Nicolai Hartmann mit derselben Ausgangsthese um die Mitte des 20. Jahrhunderts noch zu einem gänzlich anderen Schluss gelangt, nämlich dass Musik gerade aufgrund ihrer distanzlosen Zudringlichkeit zum Körper der Hörer*innen die Rolle 9 Vischer, Friedrich Theodor (1887). „Das Symbol.“ In: Ders. Kritische Gänge, Bd. 4, hrsg. von Robert Vischer. München: Meyer & Jessen 1922, S. 420–456, hier S. 434. 10 Plessner, Helmuth (1970). „Zur Anthropologie der Sinne“. In: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 317–393, hier S. 344. 11 Koopman, Constantijn (2001). „Identifikation, Einfühlung, Mitvollzug. Zur Theorie der musikalischen Erfahrung.“ In: Riethmüller, Albrecht (Hrsg.). Archiv für Musikwissenschaft 58.4: S. 317–336, hier S. 328. 12 Ebd.

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einer Einfühlungskunst par excellence einnimmt.13 Koopman schlägt demgegenüber begriffliche Alternativen zur ‚musikalischen Einfühlung‘ vor, und zwar die Metapher des Resonierens, und, wie schon der Einfühlungstheoretiker Hermann Siebeck in Bezug auf die Musik, die Vorstellung einer existentiellen ‚Stimmung‘, die dafür Sorge trage, „daß [nicht] wir uns in den Gegenstand, sondern […] daß wir den Gegenstand sozusagen in uns hineinfühlen“14. Aus einer gewissen Ratlosigkeit darüber, wie das Subjekt der Musik und die empathische Annäherung an eine auf physikalisch determinierten und physiologisch eindringlichen Klangstrukturen aufbauende Kunst zu fassen sei, hat die Ästhetik seit Mitte des 20. Jahrhunderts also unterschiedliche Erklärungsmodelle aufgebracht. Die Bandbreite reicht dabei von Hartmanns Verständnis von Einfühlung als „Fühlung mit der Form“15 bis hin zu den begrifflichen Surrogaten ‚Resonanz‘ und ‚Stimmung‘.

3. ‚Rührung‘ und ‚Mitempfindung‘ in der musikalischen Empfindsamkeit Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich die Idee musikalischer Einfühlung allmählich profilierte, gewann mit der ‚Rührung‘ ein weiterer Begriff im Vorhof der Empathie an Stellenwert. Unter all jenen Theoretikern, die sich damals mit dem Potential der ästhetischen Rührung beschäftigen, trat besonders ein Komponist und Musiker mit seiner Idee einer „geteilten“ Emotion im Prozess der Kunstproduktion, -ausübung und -wahrnehmung ins Rampenlicht. Es handelte sich um Carl Philipp Emanuel Bach, der im ersten Band seines musikpädagogischen Lehrwerks Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753) das Konzept der ‚Mit-Empfindung‘ ausformulierte. Carl Philipp Emanuel Bach übermittelte der Nachwelt darin einen Einblick in die historische Aufführungspraxis auf Tasteninstrumenten sowie grundsätzlich in Stil- und Interpretationsfragen des 18. Jahrhun13 „Die Musik ist die einzige Kunst, die so in den Menschen eindringt, ihn direkt zuinnerst erfaßt und zum Mitschwingen bringt. Hier ist ein Begriff wie ‚Einfühlung‘ unentbehrlich: der musikalisch Hörende ‚lebt‘ eben wirklich ‚fühlend‘ mit der Musik.“ Hartmann, Nicolai (1953). Ästhetik. Berlin: de Gruyter 1966, S. 255. 14 Siebeck, Hermann (1905). „Über musikalische Einfühlung“. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 127: S. 5–18, hier S. 6. Vgl. Koopman. „Identifikation, Einfühlung, Mitvollzug. Zur Theorie musikalischer Erfahrung“, S. 325 und 331. 15 Hartmann. Ästhetik, S. 255.

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derts. Bach gilt als einer der Hauptvertreter der musikalischen Empfindsamkeit, die sich wesentlich dadurch auszeichnete, dass das „Sich-Selbst-Ausdrücken“16 in den Mittelpunkt der Musikproduktion gelangte: Das erstarkte Interesse an subjektiven Gefühlen und Trieben, an spezifisch seelischen Kräften, war sowohl auf das einzelne Individuum als auch auf zwischenmenschliche Kontakte gerichtet. Neben ein selbstbezügliches – prinzipiell auch ohne Adressaten auskommendes – geradezu selbstzweckhaftes Ausdrucksbedürfnis trat ein ebenso ernsthafter Wunsch nach einem Sich-Mitteilen, nach einem Verstanden-Werden. […] Zwischen solcherart frei fühlenden, spontanempfindenden und ungehemmt sich ausdrückenden Individuen ergeben sich notwendigerweise kommunikative Bande. Der expressive Drang aus dem eigenen Inneren konnte nicht einfach ziellos ins Unendliche fließen […], er musste vielmehr ein konkretes Gegenüber finden, das vermittelst seelischer Kräfte wiederum seelisch zu bewegen war. Der Selbstausdruck des Ich und die Übertragung seiner Ausdruckswerte auf ein Du – gleichsam ‚von Herz zu Herzen‘ – sind somit als zwei ineinander vermittelte Prozesse zu begreifen […].17

Inmitten dieses kulturgeschichtlichen Milieus, in dem der Musikwissenschaftler Detlef Giese die musikalische Empfindsamkeit verortet, erhielt die Kategorie des ‚Ausdrucks‘ auch in den wichtigen Instrumentalschulen der Zeit – nicht nur in derjenigen von Bach, sondern ebenso in den musikpraktischen Anweisungen von Johann Joachim Quantz und Leopold Mozart – einen hohen Stellenwert. Das Ausdrucks-Gebot wurde an die ausübenden Musiker*innen herangetragen, die mit ihrem ‚Vortrag‘ für die kommunikative Vermittlung musikalischer Affekte an die Hörer*innen sorgen sollten. Das ausdrucksvolle, zusätzlich noch mit affektuösen Gebärden unterstützte Singen oder Spielen der Interpret*innen sollte bei den Hörer*innen ein vollkommenes „Sich-Hinein-Versetzen“18 in die Stimmung der Musik ermöglichen.

16 Vgl. dazu Eggebrecht, Hans Heinrich (1955). „Das Ausdrucks-Prinzip im musikalischen Sturm und Drang.“ In: Ders. Musikalisches Denken: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Musik. Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1999, S. 69–111. 17 Giese, Detlef (2009). „‚Aus der Seele muss man spielen‘: Vortragskonzepte im Zeitalter der Empfindsamkeit.“ In: Bockmaier, Claus (Hrsg.). Beiträge zur Interpretationsästhetik und Hermeneutik-Diskussion. Laaber: Laaber (Schriften zur musikalischen Hermeneutik, Bd. 10), S. 181–194, hier S. 182. 18 Vgl. ebd., S. 191.

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Bachs auffallender Fokussierung auf das Erspüren und Vermitteln von musikalischem Ausdruck stand der moderate Umgang mit der ‚Einfühlung‘ eines der führenden Dichter seiner Zeit gegenüber, wodurch sich ein differenziertes Bild der zeitgeschichtlichen Umstände ergibt. In seiner Berliner Zeit verkehrte Bach in literarischen Zirkeln, in denen auch Lessing prominent vertreten war. Lessing jonglierte zwar ebenfalls mit dem Begriff der Einfühlung, allerdings war für ihn das emotionale Sich-Versenken der Rezipient*innen nicht von der Darstellung auf der Bühne abhängig: „Dergleichen zweyte Affekten aber, die bey Erblickung solcher Affekten an andern, in mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekten“, so Lessing. „Denn diesen Affekt empfinden nicht die spielenden Personen, und wir empfinden ihn nicht blos, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ursprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns“19. Im Unterschied zu Lessing schrieb Bach den ausführenden Künstler*innen in der Vermittlung von Emotionen eine wesentliche Funktion zu. Der erste der zwei Bände seines Versuchs gliedert sich in drei Hauptteile, die vom Fingersatz, den „Manieren“ (Verzierungen) und „Vom Vortrage“ handeln. In diesem dritten Abschnitt, der die Kunst des „schönen“ Vortrages zum Inhalt hat, formuliert Bach die Forderung an die Interpret*innen, nicht mit maschinistischem Spiel zu brillieren, sondern „der empfindlichen Seele eines Zuhörers“20 etwas mitzugeben. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, „dass zu dem rührenden Spielen gute Köpfe erfordert werden, die sich gewissen vernünftigen Regeln zu unterwerfen [haben] und darnach ihre Stücke vorzutragen fähig“21 sein sollen. Das Ziel einer Interpretation war aber nicht in erster Linie die rationalisierte Darstellung von kompositorischen Gedanken, sondern ganz eindeutig das Teilen von musikalischen Emotionen. So ging es Bach darum, dass die ausübenden Musiker*innen durch ihre eigene Rührung auch bei den Zuhörer*innen ein Gefühl der „Mit-Empfindung“ anregen:

19 Lessing, Gotthold Ephraim (1840). „An Moses Mendelssohn (Leipzig, 2. Februar 1757)“. In: Ders. Sämtliche Schriften, Bd. 12: Lessings Briefe, hrsg. von Karl Lachmann. Berlin: Voß’sche Buchhandlung, S. 70–73, hier S. 72. 20 Bach, Carl Philipp Emanuel (1753). Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen. Kritisch revidierter Neudruck nach der unveränderten, jedoch verbesserten zweiten Auflage des Originals. Leipzig: C. F. Kahnt 1925, S. 81. 21 Ebd., S. 82.

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Indem ein Musickus nicht anders rühren kann, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschieht ebenfalls bey heftigen, lustigen, und andern Arten von Gedanken [...] Diese Schuldigkeit beobachtet er überhaupt bey Stücken, welche ausdrückend gesetzt sind, sie mögen von ihm selbst oder von jemanden anders herrühren; im letzern Falle muß er dieselbe Leidenschaften bey sich empfinden, welche der Urheber des fremden Stücks bey dessen Verfertigung hatte [...] Daß alles dieses ohne die geringsten Gebehrden abgehen könne, wird derjenige blos läugnen, welcher durch seine Unempfindlichkeit genöthigt ist, wie ein geschnitztes Bild vor dem Instrumente zu sitzen. So unanständig und schädlich heßliche Gebährden sind: so nützlich sind die guten, indem sie unsern Absichten bey den Zuhörern zu Hülfe kommen.22

Aus dem Zitat geht hervor, dass Bach förmlich an eine Kette der Rührung dachte, die vom Komponisten über die Interpret*innen bis hin zu den Zuhörer*innen verläuft. Die Musiker*innen sollten die Emotionen der Komponisten bei der Verfertigung des Stücks erkennen und im Moment der Aufführung an die Hörer*innen weitergeben. Bach formulierte damit ästhetische Richtlinien, die auf einem SichHinein-Versetzen in die emotionalen Zustände des jeweils Anderen beruhen – bei den Musiker*innen in die Gefühlswelt der Komponisten und bei den Hörer*innen in jene der Interpret*innen. Auf diese Weise kam er dem Ideal eines empathischen musikalischen Verstehensprozesses, der sich auf Emotionen gründet, wohl erstmals in der Musikgeschichte sehr nahe. 4. Das Schwergewicht der visuellen Stimuli Überraschenderweise wirft Bachs Aufforderung der Interpret*innen zum naturalistischen Nachempfinden musikalisch konkretisierter Emotionen in begrenztem Ausmaß sogar ein Licht auf die Schauspieltheorie des 20. Jahrhunderts voraus. Insbesondere bei dem die Lehre Stanislawskis radikalisierenden method acting greifen die Schauspieler*innen für die darstellerische Konkretion ihrer Rolle auf eigene Empfindungen zurück.23 Ein Anflug von naturalistischer Schauspieltheorie 22 Ebd., S. 85. 23 Strasberg, Lee (1987). A Dream of Passion: The Development of the Method. Boston (u.a.): Little, Brown & Co.

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zeigt sich bei Bach im Verweis auf die Gebärden der ausführenden Musiker*innen. Damit den Hörer*innen noch besser begreiflich werde, welches Gefühl im jeweiligen Moment des musikalischen Vortrags gerade in Rede stehe, sollten die Interpret*innen nach der im obigen Zitat dargelegten Ansicht Bachs zusätzlich auch als visuelle Performer*innen in Erscheinung treten und zur Musik passende Gebärden ausagieren. Mit dem Hinweis auf den hohen Stellenwert, den das visuelle Element der Aufführung für die Rührung der Hörer*innen einnimmt, attestierte Bach der Musik selbst zugleich nur ein beschränktes Potential für eine Einfühlung. Offenbar vertrat schon Bach die Auffassung des Musikwissenschaftlers Koopman, dass Musik an sich aufgrund der gegenständlichen Unverfügbarkeit ihrer Empfindungen im Bewusstsein der Hörer*innen nur schwerlich ein Tor zur Einfühlung aufstoßen könne. Für Koopman bieten die visuellen Handlungen von Interpret*innen den Hörer*innen deshalb die Möglichkeit, sich in „die Bewegungen des Mitmenschen einzuleben“24 und auf diese Weise „eine Hilfe bei der Erschließung der Musik: Indem er [der Hörer] sich in das Verhalten des Musikers hineinlebt, wird ihm die Realisierung des inneren musikalischen Prozesses erleichtert.“25 Gerade mit Blick auf die aktuelle Debatte in der neurowissenschaftlichen Empathieforschung, die wesentlich von der Entdeckung oder vielmehr der konzeptuellen Erfindung der Spiegelneuronen im Jahr 1992 befeuert wurde,26 erscheint Bachs Annahme von einem sensumotorischen Konnex zwischen visuell beobachtbarer und körperlich ausagierter Emotion als äußert brisant. Der neurowissenschaftliche Entwurf von Empathie sieht vor, dass Spiegelneuronen bzw. ähnliche neuronale Netzwerke im prämotorischen Kortex sowohl dann aktiv werden, wenn eine Handlung selbst ausgeführt, als auch dann, wenn diese Handlung bei anderen beobachtet wird. Dieser, ursprünglich am Affen und mittlerweile auch an der Gefühlswahrnehmung des Menschen, vor allem an der Empfindung und Beobachtung von Schmerz, experimentell erprobte Befund27 weist ideengeschichtlich auf Carl Philipp Emanuel Bachs Gründungsmanifest von musikalischer Empathie 24 Koopman. „Identifikation, Einfühlung, Mitvollzug. Zur Theorie musikalischer Erfahrung“, S. 334. 25 Ebd. 26 Vgl. Di Pellegrino, Giuseppe/Fadiga, Luciano/Fogassi, Leonardo/Gallese, Vittorio/Rizzolatti, Giacomo (1992). „Understanding Motor Events: a Neurophysiological Study.“ Experimental Brain Research 91.1: S. 176–180. 27 Vgl. Leiberg/Singer. „Empathie“, S. 124–127.

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zurück, das nicht nur der körperlichen Ausdruckskraft und dem emotionalen Mitschwingen, sondern auch der Rolle der visuellen Wahrnehmung besondere Relevanz verleiht.

5. Kulturkritischer Ausblick Die Doppelbedeutung des Begriffs der Empathie im Sprachgebrauch seit den 1970er Jahren, nämlich als Projektion des Ichs in ein Du (1) und dessen vorübergehende Identifikation mit dem Anderen (2),28 ist im Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen schon ausgebildet. Allerdings kultivierte Bach dabei das Ideal einer monodirektionalen Kommunikation von Emotionen, die von Komponisten zu Musiker*innen zu Hörer*innen verlaufe, und nicht umgekehrt. Mit dem Konstrukt einer Angleichung der Gefühlsbewegungen der Hörer*innen an diejenigen der Interpret*innen agierte Bach nicht im historisch voraussetzungslosen Raum, sondern aktualisierte vielmehr eines der zentralen Mytheme der Musikgeschichte seit der Antike, wonach jedes musikalische Erleben auf der Gesetzmäßigkeit der Resonanz (lat. resonare, widerhallen), d.h. auf der analogistischen Abhängigkeit des Ich-Erlebnisses von den Zuständen des Anderen beruht. In der antiken und mittelalterlichen Musiktheorie waren es überzeitliche motorische Prinzipien, etwa die Bewegung der Gestirne, die sich auf ethische und körperliche Verhaltensweisen der Menschen ausgewirkt haben sollen.29 Eine solche Aktualisierung dieser Gedankenfigur von einer strukturell unmittelbar auf die musica mundana (das ewige Gesetz der Sphärenmusik) bezogenen musica humana (die Harmonie des Menschen) und musica instrumentalis (die klingende Musik) liegt auch manch neurowissenschaftlichem Empathie-Diskurs der jüngeren Zeit implizit zugrunde. So steht etwa die Annahme, dass wir bei der Musikwahrnehmung aufgrund unserer Spiegelneuronen Bewegungsinformationen (motion) mit unseren E-motionen synchronisieren,30 so plausibel sie auch scheint, unverkennbar 28 Vgl. Fontius. „Einfühlung/Empathie/Identifikation“, S. 126. 29 Vgl. dazu Platon (1855). „Politeia.“ In: Platon’s Werke. Zehn Bücher vom Staate, übersetzt von Wilhelm Siegmund Teuffel und Wilhelm Wiegand. Stuttgart: Metzler, 616B ff. sowie 398B ff. 30 Vgl. etwa Molnar-Szakacs, Istvan/Overy, K. (2006). „Music and Mirror Neurons: From Motion to ‚E’motion.“ Social Cognitive & Affective Neuroscience 1: S. 235–241.

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im Gefolge der „uralten“ Theorie von einer Analogie des phänomenal Verschiedenen: zwischen dem humanen, affektiven Ich und dem naturhaft Anderen. Diese Beobachtung einer Vereinheitlichung des Unterschiedenen unter dem umbrella term der ‚Empathie‘ müsste letztlich unweigerlich zu einer kulturkritischen Bewertung der normativen Postulate gegenwärtiger Musikpsychologie und Neuromusikologie führen, die ihrerseits selbst Bestandteil von Musikgeschichte sind. Die jüngere, im Geist medizinisch-biologischer Theorien sich profilierende systematische Musikwissenschaft greift mit der Rationalisierung der Gefühlswelt des musikalischen Menschen ein ideologisches Potential auf, das die theoretischen Überlegungen zur Musikwahrnehmung schon seit Ende des 19. Jahrhunderts prägte. Zentral war damals die intersubjektive Rhythmisierung von Gefühlen. Die Sehnsucht nach kollektiver ‚Resonanz‘ durch Musik war das Kernmoment des Wagnerismus, der in Deutschland mit der Lebensreformbewegung und in Frankreich im Umkreis des renouveau catholique zu Versuchen führte, mittels ‚geteilter‘ musikalischer Emotion kollektive Überwältigungserlebnisse in Gang zu bringen. Jaques-Dalcroze etwa erhob das um den Schlüsselbegriff der Resonanz zentrierte Experiment der sozialen Rhythmisierung, das unmittelbar aus Wagners Gesamtkunstwerk-Idee hervorgegangen war, im Rahmen der Hellerauer Schulfeste in den Jahren 1912 und 1913 gar zum kunstreligiösen Prinzip. Um den gesellschaftlichen „Verlust des Sakralen“31 zu kompensieren, wurde Gemeinschaft bei diesen musikalischen Anlässen ideologisch höchst problematisch als emotionales Gesamtkunstwerk inszeniert.32 Karlheinz Stockhausen als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg schloss an diese Bestrebungen an und deklarierte die Schwingungen seiner Musik sowohl zum Abbild des Kosmos als auch zum emotionalen Vor-Bild allen menschlichen Empfindens. Seine in Textpartituren vorliegenden Kompositionen „Intuitiver Musik“ basieren auf der Einfühlung der Interpret*innen in zeitlos-kosmische Prinzipien, die es den Hörer*innen näherzubringen gilt und die auf die musikalisch konkretisierten Ge-

31 Baxmann, Inge (2000). Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München: Fink, S. 185. 32 Vgl. dazu Zorn, Magdalena (2016). Stockhausen unterwegs zu Wagner: Eine Studie zu den musikalisch-theologischen Ideen in Karlheinz Stockhausens Opernzyklus LICHT (19772003). Hofheim: Wolke, S. 167–169.

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setze intuitiv-hörend antworten soll.33 Was sich wie ein ironisch gemeintes Konzept des Komponisten anhört, war ernst gemeint. Es kann hier nur angedeutet bleiben, dass die den Terminus ‚Empathie‘ flankierenden Begriffe ‚Mit-Empfindung‘, ‚Intuition‘, ‚Stimmung‘, ‚Resonanz‘, wenn sie auch alles andere als deckungsgleich sind, mit Blick auf die Musikgeschichte seit dem 18. Jahrhundert im Handumdrehen einen bedenklichen Rest an Mythos offenbaren. Dieser Mythos sorgte dafür, Alterität, das ‚Noch-Nicht-Verstandene‘ zu tilgen und stattdessen tendenziell Identität des Verschiedenen zu suggerieren. Bei Bachs ‚Mit-Empfindung‘ wie im Fall der genannten begrifflichen Varianten geht es stets darum, das Gleiche oder zumindest Ähnliche in und durch Musik zu erleben. In einer dezidiert musikhistorischen Annäherung an den Komplex der Empathie ließen sich in Zukunft ausgehend von Bachs streitbarem Konzept der ‚Mit-Empfindung‘ vermehrt die problematischen normativen Setzungen der terminologischen Verästelungen des im Aufsatz skizzierten Begriffsfeldes zur Sprache bringen.

33 Vgl. dazu Zingsheim, Martin (2015). Karlheinz Stockhausens Intuitive Musik. Wien: Verlag Der Apfel (Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit, Bd. 21).

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Musik, Emotion und Empathie Anja Berninger

1. Einleitung Der Begriff ‚Empathie‘ wird in der aktuellen philosophischen Debatte meist verwendet, um ein sehr eingegrenztes Phänomen zu beschreiben. Es geht hier um Fälle, in denen wir die Perspektive eines anderen imaginativ übernehmen und auf diesem Wege auch seine Emotionen mitempfinden. Dabei bleibt jedoch eine klare Trennung zwischen uns und dieser anderen Person erhalten. So mag ich zwar die Trauer eines anderen durch Empathie imaginativ mitempfinden, ich bin aber deshalb nicht selbst traurig, noch fühle ich mich als eins mit dem anderen.1 In ähnlicher Weise wird auch über unsere emotionalen Reaktionen auf Literatur und Film gesprochen. Der Empathiebegriff findet also auch in ästhetischen Debatten Anwendung. Fraglich ist allerdings in diesem Kontext, ob wir auch unsere Reaktionen als Hörer*innen von Musik mit Hilfe dieses Empathiebegriffs beschreiben können. Absolute Musik scheint nicht mit (imaginären) Personen und Situationen aufzuwarten, die einen solchen Einfühlungsprozess ermöglichen würden. Sehr viel häufiger ist dementsprechend in diesem Zusammenhang nicht von ‚Empathie‘, sondern von einem verwandten Phänomen die Rede, nämlich der emotionalen Ansteckung (emotional contagion). Auf zwischenmenschliche Beziehung bezogen wird mit diesem Ausdruck die Übertragung eines emotionalen Zustands von einer Person auf eine andere bezeichnet. Im Gegensatz zur Empathie wird hier jedoch die so erworbene Emotion als die eigene empfunden. Ich spüre also beispielsweise nicht imaginativ die Trauer eines anderen, sondern ich selbst bin traurig. Dieser Prozess wird auch deshalb als ‚Ansteckung‘ bezeichnet, weil er ohne das bewusste Zutun des Subjekts automatisch abläuft. So wird vielfach

1 Vgl. Copland, Amy (2004). „Empathic Engagement with Narrative Fictions.“ The Journal of Aesthetics and Art Criticism 62.2: S. 143–144.

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angenommen, dass die Emotionsübernahme hier durch automatisches Nachahmungsverhalten der Mimik und Gestik hervorgerufen wird.2 Alltagssprachlich fassen wir sowohl Empathie im oben beschriebenen Sinne wie auch das Phänomen der emotionalen Ansteckung als eine Form von Mitfühlen oder der empathischen Reaktion auf. Diese Sprechweise wird auch in der wissenschaftlichen Betrachtung von Empathie aufgegriffen. So wird vielfach davon ausgegangen, dass es sich bei emotionaler Ansteckung um eine basale Form von Empathie handelt, die beispielsweise auch kleine Kinder empfinden können. Emotionale Ansteckung liegt also entwicklungspsychologisch vor der Fähigkeit zur Empfindung von Empathie, stellt aber zugleich auch einen wichtigen Schritt hin zu deren Ausbildung dar.3 Im Rahmen des Artikels möchte ich mich mit dem Phänomen der emotionalen Ansteckung und seiner Rolle für unseren ästhetischen Zugang zu Musik beschäftigen. Wie ich aufzeigen möchte, können mit Hilfe des Ansteckungsbegriffs, wie er hier geschildert wurde, einige relevante Phänomene abgebildet werden. Dennoch sollten wir nicht davon ausgehen, dass eine Emotionsübernahme beim Hören von Musik immer so verlaufen muss. Vielmehr gibt es gute Gründe, davon auszugehen, dass es neben der automatischen emotionalen Ansteckung noch eine weitere Form der Emotionsübernahme gibt, die aber dennoch nicht als Empathie im Sinne der obigen Definition zu verstehen ist. Ziel des Artikels ist es, eine philosophisch adäquate Beschreibung dieser Form von Emotionsübernahme zu entwickeln.

2 Vgl. ebd., S. 144–145. Überlegungen zur Bedeutung emotionaler Ansteckungen für das Hören von Musik finden sich u.a. bei Robinson und Davies. Vgl. Robinson, Jenefer (2005). Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music, and Art. Oxford: Oxford University Press; Davies, Stephen (2011). „Infectuous Music: Music-Listener Emotional Contagion.“ In: Copland, Amy/Goldie, Peter (Hrsg.). Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives. Oxford: Oxford University Press, S. 134–148. 3 Vgl. Hoffman, Martin L. (2000). Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice. Cambridge: Cambridge University Press, S. 64. Für eine kritische Betrachtung dieser Position vgl. Maibom, Heidi (2009). „Feeling for Others: Empathy, Sympathy, and Morality.” Inquiry 52.5: S. 483–492.

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Musik, Emotion und Empathie

2. Musik, emotionale Ansteckung und kognitive Aktivität Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass insbesondere absolute Musik nur dann eine Emotion in einem Subjekt hervorrufen kann, wenn dieses in besonderem Maß aktiv involviert ist. Im Gegensatz zu Literatur oder Malerei haben wir es nicht mit einer Gattung zu tun, die den Rezipient*innen explizit Situationsdarstellungen, Charakterbeschreibungen oder Ähnliches an die Hand gibt. Vielmehr, so könnte man vermuten, muss jede emotionale Reaktion das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Musik selbst (in all ihrer Abstraktion) sein. Man könnte deshalb annehmen, dass wir als Hörer*innen kognitiv besonders ‚hart arbeiten‘ müssen, damit es zu einer emotionalen Reaktion kommt. Die philosophischen Analysen zu diesem Thema kommen hier allerdings zu einem anderen Schluss. Tatsächlich legt nämlich eine genauere Analyse der Phänomene nahe, dass der Schein in diesem Fall trügt. Musik kann uns auch dann emotional beeinflussen, wenn wir sie gar nicht bewusst wahrnehmen. So wirkt sich Musik, die wir nur im Hintergrund laufen lassen, vielfach auf unsere Stimmung aus (auch wenn diese emotionale Reaktion mitunter eher schwach ausfällt). Das zeigt sich auch (aber nicht ausschließlich) in Fällen, in denen Musik genau für diesen Zweck konzipiert ist, man denke etwa an Hintergrundmusik, wie sie in Kaufhäusern oder Restaurants gespielt wird. Damit stellt sich die Frage, wie diese Formen von Emotionsevokation genauer zu analysieren sind. In diesem Zusammenhang hat Jenefer Robinson auf die entscheidende Rolle hingewiesen, die Veränderungen bestimmter körperlicher Parameter zukommt. Zentral für diese Art der Emotionsevokation ist aus ihrer Sicht, dass Musik bestimmte körperliche Parameter (wie etwa Herzschlag und Atmung) direkt beeinflussen kann. Da aber schon kleine Veränderungen dieser Parameter auch einen Effekt auf unsere Emotionen haben können, scheint es plausibel, dass Musik auf diese Art und Weise auch unseren emotionalen Zustand beeinflusst.4

4 Vgl. Robinson. Deeper than Reason, S. 391–400. Auf die entscheidende Rolle körperlicher Veränderungen weist in diesem Zusammenhang auch Stephen Davies hin, der allerdings im Gegensatz zu Robinson zwischen aktiveren und weniger aktiven Formen der Emotionsübernahme unterscheiden möchte. Vgl. Davies. „Infectuous Music“, S. 134–148. Als Beispiel für die von Robinson erwähnten physiologischen Veränderungen sei hier zudem auf folgende Studie verwiesen: Nyklíček, Ivan/Thayer, Julian F./Van Doornen, Lorenz J. P. (1997). „Cardiorespiratory Differentiation of Musically-Induced Emotions.“ Journal of Psy-

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Offenkundig handelt es sich aber dabei um einen Fall von ‚emotionaler Ansteckung‘. Die Musik wirkt ohne jegliches Zutun des Subjekts auf dieses ein und ruft eine Emotion in ihm hervor. Robinson vergleicht diese Wirkung von Musik auch mit der eines Medikaments oder einer Droge. Auf die Musik Bezug nehmen muss das Subjekt zunächst nicht, damit diese Art von Emotionsübernahme erfolgen kann. Erst nach der Änderung der entsprechenden körperlichen Parameter kann eine Rückbindung an die Musik erfolgen, nämlich dann, wenn das Subjekt diese als die Ursache seiner emotionalen Reaktion interpretiert.5 Das emotionale Verhältnis zur Musik, das hier vorliegt, ist prima facie sehr oberflächlich: Musik induziert Emotionen in uns, ganz unabhängig davon, ob wir ihr nun Beachtung schenken oder nicht. Darin unterscheidet sich dieser Fall von anderen Reaktionen, die wir als genuin ästhetisch ansehen. So scheint zumindest die Annahme plausibel, dass eine ästhetische Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk irgendeine Art von aktiver, kognitiver Involvierung des Subjekts verlangt.6 Dabei sollte allerdings ein weitgefasster Begriff von ‚kognitiv‘ zugrunde gelegt werden, der nicht nur das Fällen von ästhetischen Urteilen umfasst, sondern vielmehr auch basalere kognitive Fähigkeiten wie beispielsweise den aktiven Einsatz unserer perzeptuellen Vermögen beinhaltet.7 Wenn diese Annahme stimmt, würden folglich Fälle von rein automatisch ablaufender emotionaler Übernahme nicht in den Bereich der ‚ästhetischen Involvierung‘ fallen. Tatsächlich gibt es Fälle, für die dieser Ausschluss plausibel erscheint. Wenn ich zum Beispiel durch einen Popsong in eine positive Stimmung versetzt werde, chophysiology 11.4: S. 304–321. Eine umfassende Übersicht über die empirische Literatur findet sich ebenfalls bei Robinson. Deeper than Reason, S. 395–400. 5 Robinson vertritt die Ansicht, dass die Änderungen der körperlichen Parameter für sich betrachtet noch keine Emotion darstellen. Es handelt sich hierbei ihrer Ansicht nach lediglich um Stimmungen. Allerdings werden diese von den Hörer*innen häufig als auf der Musik basierende Emotion interpretiert (vgl. Robinson. Deeper than Reason, S. 400–405). Ich verwende hingegen hier (wie auch im Folgenden) die Ausdrücke ‚Stimmungen‘ und ‚Emotionen‘ synonym. Ich halte den Unterschied zwischen den beiden für weniger klar, als innerhalb philosophischer Debatten vielfach angenommen wird. Vgl. dazu auch DeLancey, Craig (2006). „Basic Moods.“ Philosophical Psychology 19.4: S. 527–538. 6 Vgl. dazu King, Alex. „The Virtue of Subtelty and the Vice of a Heavy Hand.“ British Journal of Aesthetics 57.2: S. 119–137. 7 Zur Verteidigung dieses weiten Aktivitätsbegriffs und seiner Relevanz für ästhetische Erfahrung vgl. Berleant, Arnold (1994). „Beyond Disinterestedness.“ British Journal of Aesthetics 34.3: S. 242–254.

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Musik, Emotion und Empathie

ohne dass ich überhaupt registriere, dass dieser im Hintergrund läuft, dann wäre es tatsächlich abstrus, hier von einer ästhetischen Involvierung zu sprechen. Ästhetische Involvierung scheint zumindest eine minimale Aktivität des Subjekts zu verlangen, die bei einer solchen rein passiven Übernahme nicht gegeben ist. Andere Situationen sind aber weit weniger eindeutig. Wenn ich beispielsweise in einem Konzert durch ein Musikstück in eine traurige Stimmung versetzt werde, dann kann diese emotionale Reaktion durchaus Teil oder Ergebnis meiner ästhetischen Involvierung sein, obwohl ich auch in diesem Fall die Emotion einfach übernehme. Gerade bei Musikstücken, die eine gewisse Komplexität aufweisen, scheint allein schon in einer solchen Übernahme eine Leistung des Subjekts zu liegen. Das zeigt an, dass es möglicherweise neben der schlichten Form von Ansteckung, die Robinson hervorhebt, auch komplexere Formen der Emotionsübernahme gibt. Diese verlangen durchaus auch ein gewisses Engagement der Hörenden, obwohl es nach wie vor nur um eine Übernahme der in der Musik zum Ausdruck kommenden Emotion (und nicht etwa um eine emotionale Reaktion auf die Komplexität der Musik o.Ä.) geht.8 Kendall Walton hat auf einen weiteren Aspekt unseres Verhältnisses zu Musik hingewiesen, der hier von Relevanz ist. So erklärt er: „I feel intimate with music – more intimate, even, than I feel with the world of painting. The world of painting […] is out there, something I observe from an external perspective. But it is though I am inside the music, or it is inside me“9. Hier scheint es so, als seien die Hörer*innen nicht einfach ein passives Objekt, auf das Musik von außen einwirkt, sondern vielmehr, als würde sie in einer Art symbiotischem Verhältnis zu der Musik stehen. Musik ist also nichts, was wir primär von außen betrachten. Auch dieser Aspekt wäre in einer Theorie der Emotionsübernahme zu berücksichtigen.10 Die bislang angestellten Überlegungen sind kein schlagendes Argument dagegen, mitfühlende Reaktionen auf Musik so zu verstehen, wie Robinson es tut. 8 Den Gedanken, dass es hier einen Unterschied zwischen subtilen und weniger subtilen Formen von Kunst geben könnte, übernehme ich ebenfalls von King: Vgl. King. „The Virtue of Subtelty and the Vice of a Heavy Hand“, S. 119–137. 9 Walton, Kendall (1994). „Listening with Imagination: Is Music Representational?“ Journal of Aesthetics and Art Criticism 52.1: S. 54. Walton weist zuvor auch bereits darauf hin, dass es kontra-intuitiv wäre, anzunehmen, dass wir Musik in irgendeiner Weise passiver gegenüberstehen als anderen Kunstgattungen. 10 Man könnte dementsprechend auch feststellen, dass die für unsere empathischen Reaktionen so typische, bereits zu Beginn erwähnte Trennung zwischen dem Selbst und dem Anderen (als Objekt der Einfühlung) im Bereich der Musik ohnehin so nicht vorliegt.

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Tatsächlich ist es durchaus plausibel, dass es solche basalen Formen von Ansteckung gibt, wie sie sie beschreibt. Dennoch weisen die hier aufgezeigten Probleme darauf hin, dass wir kritisch hinterfragen sollten, ob dies die einzige Form von Emotionsübernahme ist.11 Zentral muss hierbei der Gedanke sein, dass es neben der ‚bloßen Ansteckung‘, wie ich sie hier skizziert habe, auch andere, kognitiv anspruchsvollere Formen der Emotionsevokation durch Musik gibt. Typisch für diese anderen Formen der Evokation sollte sein, dass die Hörer*in eine aktive Rolle spielt, also nicht bloß ein Objekt ist, auf das eingewirkt wird. Die Aufgabe besteht folglich darin, zu überlegen, wie wir als Hörer*innen beim Zustandekommen einer Emotion involviert sein können und welche Konzeption von musikalischer Emotionsevokation sich daraus ergibt. Eine weitere Anforderung resultiert aus Waltons Intimitätsbehauptung. So lässt sich hier schon ablesen, dass die zu beschreibende Form der aktiven Involvierung nicht die Einnahme einer distanziert-analytischen Haltung zur Musik bedeuten kann. Vielmehr muss es sich um eine Art von Aktivität handeln, die mit dem symbiotischen Verhältnis, in dem wir zur Musik stehen, kompatibel ist. Wenn wir von einer aktiven Involvierung der Hörer*innen ausgehen, dann stellt sich natürlich die Frage, worin genau ihre Aktivität besteht. Auf den ersten Blick scheint es plausibel, anzunehmen, dass eine solche Aktivität dann vorliegt, wenn die Hörer*innen sich ihrer Imaginationskraft bedienen. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst einen Ansatz betrachten, der genau diese Form von Aktivität ins Zentrum der Betrachtung rückt, nämlich die sogenannte Persona-Theorie. Dabei wird es mir darum gehen zu zeigen, dass diese Position nicht die gesuchte Ergänzung zur bislang betrachteten Theorie sein kann.

3. Emotion, Imagination, Empathie – Die Persona-Theorie Die Persona-Theorie soll eigentlich eine etwas andere Frage beantworten, als diejenige, die ich in diesem Artikel im Blick habe. Es geht nicht primär darum, wie Musik in uns Emotionen evozieren kann. Vielmehr steht hier die Frage im Vor11 Wichtig ist, dass es mir hier ausschließlich um mitfühlende Reaktionen geht. Dass es darüber hinaus noch andere emotionale Reaktionen auf Musik geben kann (wie zum Beispiel Überraschung bei einer nicht erwarteten musikalischen Wendung), gestehen ohnehin die meisten Theoretiker*innen zu.

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dergrund, warum wir Musik als etwas erfahren, das eine bestimmte Emotion ausdrückt. Was erlaubt uns beispielsweise zu sagen, dass es sich bei „Jingle Bells“ um ein fröhliches Lied handelt? Was erlaubt uns, unmittelbar zu erkennen, dass ein Musikstück Trauer oder Freude ausdrückt? Diese Fragen sind deshalb philosophisch von Interesse, weil wir gemeinhin davon ausgehen, dass nur Lebewesen Emotionen haben. Warum sprechen wir also davon, dass ein unbelebtes, körperloses Objekt wie ein Musikstück Emotionen ausdrücken kann? Der Kerngedanke der Persona-Theorie lautet, dass dies eben deshalb möglich ist, weil wir uns hier eine Person vorstellen, die die entsprechenden Emotionen erlebt.12 Obwohl es hier also im Kern um ein etwas anders gelagertes Problem geht, lässt sich die Persona-Theorie trotzdem in leicht erweiterter Form verwenden, um auf die Frage nach Formen der Emotionsübernahme durch die Hörer*in zu antworten. Das Subjekt, das wir uns vorstellen, drückt seine Emotion durch eine bestimmte Gestik, Mimik etc. aus, die sich auch im Verlauf der Musik widerspiegelt. Die Hörer*in imitiert ihrerseits diese Gestik, Mimik etc. und übernimmt dadurch die in der Musik ausgedrückte Emotion.13 Die so beschriebene Form der Emotionsübernahme unterscheidet sich dahingehend von der bereits betrachteten reinen Ansteckung, als dass hier nun davon ausgegangen wird, dass die Hörer*innen

12 Verschiedene Varianten der Theorie finden sich u.a. in: Levinson, Jerrold (2006). „Musical Expressiveness and Hearability as Expression.“ In: Kieran, Matthew (Hrsg.). Contemporary Debate in Aesthetics and the Philosophy of Art. Oxford: Blackwell, S. 192–204; Cochrane, Tom (2010). „A Simulation Theory of Musical Expressivity.“ Australasian Journal of Philosophy 88.2: S. 191–207; Cochrane, Tom (2010). „Using the Persona to Express Complex Emotions in Music.“ Music Analysis 29.1-3: S. 264–275; Robinson. Deeper than Reason, S. 322–332. Einen Ansatz, der zwar auch die Bedeutung von Imagination betont, dabei aber auf den Bezug zu einer konkreten Person verzichtet, vertritt Noordhof, vgl. Noordhof, Paul (2008). „Expressive Perception as Projective Imagining.“ Mind and Language 23.3: S. 329–358. 13 Wie bereits erwähnt, beschäftigen sich die meisten Vertreter*innen der Persona-Theorien nicht direkt mit der Emotionsübernahme selbst. Was ich hier beschreibe, stellt also eine Erweiterung der Theorien dar, die nicht unbedingt im Sinne der Autor*innen sein muss. Ähnliche Überlegungen finden sich allerdings in jüngerer Zeit bei Cochrane. Vgl. Cochrane. „A Simulation Theory of Musical Expressivity“, S. 191–207. Dieser kombiniert die PersonaTheorie musikalischen Ausdrucks mit der Simulationstheorie von Empathie.

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ihre Imaginationskraft einsetzen müssen. Man könnte vermuten, dass dies wiederum eine Form von aktiver kognitiver Involvierung darstellt.14 Auch wenn diese Position auf den ersten Blick eine interessante Erweiterung zur reinen Ansteckungstheorie darstellt, so treten bei genauerer Betrachtung doch einige Schwierigkeiten auf. Das erste Problem ist, dass schlicht nicht klar ist, als wie aktiv wir das Subjekt hier verstehen sollten. Der Persona-Theorie ist vielfach vorgeworfen worden, sie sei letztendlich zu anspruchsvoll, um die tatsächlich gegebene kognitive Involvierung von Hörer*innen abzubilden. Darauf reagieren manchen Theoretiker mit dem Hinweis, dass es sich bei der fraglichen Imagination um einen automatisierten Prozess handele, der im Hintergrund (auf subpersonaler Ebene) ablaufe.15 Sollten wir aber in diesem Fall bereits von einem kognitiven Engagement der Hörer*innen sprechen? Und wie genau sollen wir dieses beschreiben? Es scheint, dass diese Form der erweiterten Persona-Theorie keine direkte Antwort auf diese Fragen liefert.16 Alternativ könnte man annehmen, dass es sich bei der Imagination eben nicht um einen solchen automatisierten Prozess handelt, sondern vielmehr um etwas, was das Subjekt aktiv und mit Absicht tut. Die Imagination einer Person käme hier also einer mentalen Handlung gleich.17 Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass manche Hörer*innen Musik genau auf diese Weise rezipieren. Es wäre aber 14 Die Beschreibung der Imagination als ‚aktiv‘ bzw. als ‚Aktivität‘ findet sich beispielsweise bei Dorsch. Vgl. Dorsch, Fabian (2005). „Imagination and the Will.“ Philpapers, https:// philpapers.org/archive/DORIAT-3.pdf (11.3.2018). Dagegen argumentiert Galen Strawson dafür, Imagination als weitgehend passiv aufzufassen. Vgl. Strawson, Galen (2003). „Mental Ballistics and the Involuntariness of Spontaneity.“ Proceedings of the Aristotelian Society 103.3: S. 227–256. 15 Vgl. Cochrane. „A Simulation Theory of Musical Expressivity“, S. 203–204; Levinson. „Musical Expressiveness As Hearability-as-Expression“, S. 193. 16 Wie Paul Noordhof betont, wird in diesem Zusammenhang weiterhin die Ansicht vertreten, dass man der imaginierten Person kaum Eigenschaften zuschreiben muss (außer eben die Eigenschaft, eine Emotion zu haben und diese auszudrücken). So spricht auch Levinson von einer „minimal sort of person“. Levinson, „Musical Expressiveness As Hearability-as-Expression“, S. 194. Wie Noordhof nun zu Recht betont, wird aber damit die Grundidee der Persona-Theorie immer mehr verwässert: „As the persona becomes thinner, it is reasonable to question the utility of the idea. Has the persona become so thin as to remain a possible expressing thing? If not, then we have no explanation of how the expressive properties could be present.“ Noordhof, „Expressive Perception as Projective Imagining“, S. 334. 17 Auch diese Option diskutiert Cochrane. Vgl. Cochrane. „A Simulation Theory of Musical Expressivity“, S. 191–207.

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sicherlich falsch anzunehmen, dass die Mehrzahl der Rezipient*innen genauso verfährt. Die kognitiven Anforderungen und der Grad der Aktivität, die hier beschrieben werden, sind schlicht zu hoch. Insgesamt löst also die hier vorgestellte Form der Persona-Theorie das Ausgangsproblem nicht. Entweder sie versteht die Imagination des Subjektes als weitgehend automatisierten Prozess. Dann haben wir es aber wieder mit einer sehr schwachen Involvierung des Subjekts zu tun, die zudem nur sehr vage beschrieben wird. Das löst die aufgezeigten Schwierigkeiten nicht, denn uns wird damit beispielsweise nicht ermöglicht, die Emotionsübernahme von Konzertbesucher*innen als Leistung auszuweisen. Wenn wir hingegen davon ausgehen, dass wir es hier mit einer mentalen Handlung (bzw. einem absichtlichen Imaginieren) zu tun haben, dann scheint das Subjekt in einem nicht mehr plausibel anmutenden Ausmaß kognitiv involviert zu sein. Im nächsten Abschnitt des Textes werde ich dieser Analyse entsprechend einen Mittelweg zwischen diesen zwei Involvierungsformen skizzieren.

4. Emotionen, Aufmerksamkeit und mentale Parameter Der Schlüssel zu einem besseren Verständnis unserer emotionalen Reaktionen auf Musik liegt meiner Ansicht nach darin, uns als kognitiv stärker involviert zu verstehen, ohne deshalb schon auf so komplexe Vermögen wie die gezielt gelenkte Imaginationskraft zurückzugreifen. Um zu sehen, wie wir hier vorgehen können, bedarf es zunächst eines kleinen Exkurses in die Emotionstheorie: In den letzten Jahren hat es hier eine interessante Entwicklung gegeben. Lag bis vor kurzem das Hauptaugenmerk vieler Theoretiker auf dem Zusammenhang zwischen Emotionen und körperlichen Reaktionen, so ist in den letzten Jahren den mit Emotionen verbundenen kognitiven Veränderungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden. Unter anderem hat eine Reihe von empirischen Studien gezeigt, dass Emotionen wie Trauer, Furcht, Wut und Freude mit Veränderungen in zentralen kognitiven Parametern wie Denkgeschwindigkeit und Variabilität des kognitiven Gehalts (also das, woran wir denken) einhergehen.18 18 Wegweisend sind hier insbesondere die Studien von Pronin, Jacobs und Wegner: Vgl. Pronin, Emily/Jacobs, Elana (2008). „Thought Speed, Mood and the Experience of Mental Motion.“ Perspectives on Psychological Science 3.6: S. 461–485; Pronin, Emily/Wegner, Daniel M. (2006). „Manic Thinking. Independent Effects of Thought Speed and Thought Content on Mood.“ Psychological Science 17.9: S. 807–813. Eine umfassendere Übersicht

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Allerdings wird innerhalb der Philosophie oftmals angenommen, dass es sich bei diesen Veränderungen lediglich um Effekte von Emotionen handelt (also etwas, das durch die Emotion hervorgerufen wird, aber nicht selbst Teil der Emotion ist).19 Jedoch zeigen jüngere Experimente, dass sich Emotionen auch allein durch gezielte Veränderungen in diesen kognitiven Parametern evozieren lassen. Das wiederum legt nahe, dass es sich hierbei nicht um einen bloßen Effekt handeln kann. Vielmehr sprechen diese empirischen Ergebnisse dafür, die kognitiven Veränderungen als Teil der Emotion selbst aufzufassen.20 Man mag einwenden, dass solche kognitiven Veränderungen phänomenal irrelevant sind, also keinerlei Bedeutung für die Frage haben, wie wir eine fragliche Emotion erleben. Diese Annahme halte ich für falsch. Tatsächlich besitzen auch kognitive Parameter wie etwa die Geschwindigkeit des Denkens eine ihnen eigene phänomenale Qualität. Auffällig ist, dass auch diese vielfach als typisch für bestimmte emotionale Zustände angesehen wird. So sprechen wir etwa bei Angst davon, dass die eigenen Gedanken rasen oder auch, dass man sich gedanklich ständig im Kreis dreht. Auch alltagssprachlich zeigt sich dementsprechend eine enge Verbindung zwischen Emotion und kognitiven Parametern. Experimentell werden Veränderungen in diesen Parametern gemeinhin hervorgerufen, indem man die Versuchsteilnehmer*innen bestimmte Aufgaben bearbeiten lässt. So ließen Pronin und Jacobs die Versuchspersonen an einem Bildschirm Texte in verschiedenen Tempi (zum Beispiel sehr viel langsamer oder schneller als normale Geschwindigkeit) lesen, um dadurch Veränderungen in der Denkgeschwindigkeit herbeizuführen. Betrachten wir nun, was sich daraus für den Zusammenhang von Musik und Emotionen ableiten lässt. Zunächst fällt auf, dass die erwähnten kognitiven Parameter eine große Ähnlichkeit zu musikalischen Parametern aufweisen. So verlaufen Musikstücke beispielsweise in einer bestimmten Geschwindigkeit und weisen zudem unterschiedliche Grade an thematischer Variabilität auf (sie können beider relevanten empirischen Literatur findet sich in Berninger, Anja (2016). „Thinking Sadly. In Favour of an Adverbial Theory of Emotions.“ Philosophical Psychology 29.6: S. 799– 812. Im Rahmen dieses Artikels entwickle ich auf der Grundlage dieser Überlegungen eine „adverbiale Emotionstheorie“. Vgl. dazu auch Berninger, Anja (2017). Gefühle und Gedanken. Entwurf einer adverbialen Emotionstheorie, Münster: Mentis. 19 Vgl. Prinz, Jesse (2004). Gut Reactions. A Perceptual Theory of Emotions. Oxford: Oxford University Press, S. 244. 20 Vgl. Berninger. „Thinking Sadly“, S. 799–812.

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spielsweise monoton oder sehr variabel sein etc.).21 Das legt nahe, dass nicht nur das Lesen von Texten, sondern auch das Hören von Musik entsprechende Veränderungen in den kognitiven Parametern hervorrufen können. Es ist also plausibel, dass wir in Fällen, in denen wir ein Musikstück gedanklich aktiv verfolgen, zugleich auch bestimmte kognitive Parameter (wie eben Denkgeschwindigkeit und thematische Variabilität) an die Musik anpassen und damit zugleich eine Emotion induzieren. Wichtig ist, dass wir hier die Veränderung der mentalen Parameter in gewisser Weise aktiv herbeiführen. Sie kommen nur dadurch zustande, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die Musik gerichtet halten. Allein die Tatsache, dass ein Musikstück im Hintergrund läuft, ohne dass wir diesem Beachtung schenken, scheint keine solchen Veränderungen hervorrufen zu können. Wir haben es also in diesem Fall zwar nicht mit Empathie, aber auch nicht mit bloßer Ansteckung zu tun. Unsere emotionale Reaktion hängt vielmehr davon ab, dass wir die Musik aufmerksam verfolgen. Das heißt auch, dass wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die Musik und ihren Verlauf zurücklenken und darauf achten müssen, dass unsere Gedanken nicht abschweifen. Nur, wenn wir gedanklich bei der Musik bleiben, kann von einer Prägung des eigenen Denkverlaufs (bzw. der erwähnten kognitiven Parameter) durch die Musik ausgegangen werden. Manchmal mag das fast automatisch passieren, in anderen Fällen ist dies aber mit erheblicher Anstrengung verbunden.22 Wir sind somit aber auch nicht nur Spielball äußerer Kräfte, die auf uns einwirken, sondern nehmen vielmehr eine aktive Rolle als Zuhörer*innen ein.23 Unsere empathische emotionale Reaktion hängt davon ab, dass wir sowohl eine zeitliche Synchronität wie auch eine inhaltliche 21 Die Geschwindigkeit ist für Musik als Zeitkunst von besonderer Bedeutung. Zwar lässt sich natürlich auch die Lesegeschwindigkeit bei einem Roman o.ä. durch bestimmte Kunstgriffe der Autor*innen steuern, allerdings können sich die Leser*innen hier verhältnismäßig leicht entziehen, indem sie einfach das ursprüngliche Lesetempo beibehalten. 22 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch wieder der bereits erwähnte Aufsatz von Alex King. King setzt sich insbesondere mit dem ästhetischen Wert von Subtilität (subtelty) auseinander. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieser Wert unter anderem in der epistemischen Herausforderung liegt, die mit subtilen Mitteln arbeitende Kunstwerke an uns stellen. In diesen Fällen wird nach King sowohl unsere Aufmerksamkeit als auch der aktive Einsatz unserer sensorischen Fähigkeiten gefordert. Vgl. King. „The Virtue of Subtelty and the Vice of a Heavy Hand“, S. 119–137. 23 Zur Verbindung von Aktivität und Aufmerksamkeit vgl. beispielsweise Strawson. „Mental Ballistics or the Involuntariness of Spontaneity“, S. 227–256.

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Gleichheit zwischen der Musik und dem Verlauf unserer Gedanken (bzw. unserem Gedankenstrom) herstellen. Und dies erklärt zugleich auch, warum wir uns Musik so symbiotisch verbunden fühlen, wie Walton es in der zitierten Textpassage beschreibt. Wir sind eins mit der Musik gerade aufgrund dieser weitgehenden Übereinstimmung zwischen unserem Denkverlauf (Denktempo, Variation, Inhalt) und dem musikalischen Verlauf.24 Dem hier geschilderten Ansatz zufolge ist Musik also besonders geeignet, in uns Emotionen zu induzieren, weil sie bestimmte emotionstypische Parameter aufweist, die unser Denken in emotionalen Situationen prägen. Allein durch das aufmerksame Verfolgen der Musik finden diese musikalischen Parameter eine direkte Entsprechung in unserem Denken. Die so skizzierte Position stellt den gesuchten Mittelweg dar zwischen einer rein körperlichen Ansteckung durch die Musik (die keinerlei Involvierung des Subjekts verlangt) und dem komplexen Einsatz der Imaginationsfähigkeiten (wie sie in manchen Varianten der PersonaTheorie gefordert ist). Damit zeigt sich zugleich auch, dass die Emotionsübernahme der Hörer*innen durchaus eine kognitive Leistung darstellen kann. Es handelt sich hierbei aber um eine Form von Auseinandersetzung, die keinerlei Fachwissen erfordert, sondern vielmehr die Symbiose zwischen Hörer*in und Musik betont.25

24 Hier ergibt sich eine Ähnlichkeit zwischen meiner Position und Überlegungen Roger Scrutons. So versteht dieser das Tanzen als eine Art gestisch-partizipatives Mitgehen mit den Bewegungen der Musik. Auch er betont hier die besondere Rolle, die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang spielt. Vgl. Scruton, Roger (1997). The Aesthetics of Music. Oxford: Clarendon Press, S. 354–357. Der wesentliche Unterschied zu Scrutons Position liegt darin, dass es mir im Gegensatz zu ihm eben nicht um körperliche, sondern vielmehr um mentale Parameter geht. 25 Dieser Text basiert auf Überlegungen, die ich im Rahmen von Workshops an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie an der Universität Stuttgart vorstellen durfte. Bei beiden Veranstaltungen habe ich wertvolle Rückmeldungen erhalten, für die ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Überaus hilfreiche und ausführliche Kommentare haben auch die Herausgeberinnen dieses Bandes beigesteuert. Den Gedanken, die von mir entwickelte adverbiale Emotionstheorie auch auf den Bereich der Musikphilosophie anzuwenden, verdanke ich Andreas Luckner.

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Prosodie und Empathie Yuki Asano

In zwischenmenschlichen Interaktionen werden nicht nur Äußerungen, sondern auch die Intention der Äußerungen und die Emotionen der Sprecher*innen ausgetauscht. Gefühle werden nicht nur mit Wörtern, sondern auch mit Prosodie oder der sogenannten Musik einer Sprache kommuniziert, mit der melodische und rhythmische Eigenschaften einer Sprache bezeichnet werden.1 Dabei handelt es sich nicht um einzelne Laute oder Phoneme (distinktive Lautkategorien wie z.B. /b/ vs. /v/ im Deutschen) auf der segmentalen Ebene, sondern um Phänomene auf der suprasegmentalen Ebene, wie zum Beispiel um Variationen in Lautstärke, Wort- und Satzakzent, um den auf Wortsilben ruhenden lexikalischen Ton, um Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus (der durch eine Kombination der Silbendauern realisiert ist), Intonation (größere Einheiten als ein Silbenumfang) und um die Vokalqualität bzw. den Ton der Stimme sowie die Pausen beim Sprechen. Empathie wird mit Hilfe der Prosodie, aber auch mit Wörtern, mit Gesichtsausdruck und Gestik vermittelt.2 Die Gesamtheit dieser Informationen öffnet das Fenster zu den Intentionen der Sprecher*innen.3 Ein Beispiel mit unterschiedlichen Intonationsverläufen soll die genannte Funktion der Prosodie veranschaulichen. Nehmen wir an, jemand macht in Re1 Ladefoged, Peter/Ferrari Disner, Sandra (2012). Vowels and Consonants. Berlin: WileyBlackwell. 2 Kehrein, Roland (2002). Prosodie und Emotionen. Tübingen: Max Niemeyer. Kranich, Wieland (2003). Phonetische Untersuchungen zur Prosodie emotionaler Sprechausdrucksweise. Frankfurt am Main: Peter Lang. Paeschke, Astrid (2003). Prosodische Analyse emotionaler Sprechweise. Berlin: Logos Verlag. Tischer, Bernd (1993). Die vokale Kommunikation von Gefühlen. Weinheim: Beltz. Wendt, Beate (2007): Analysen emotionaler Prosodie. Frankfurt am Main: Peter Lang. 3 Kupetz, Maxi (2014). „‚Mitfühlend sprechen‘: Zur Rolle der Prosodie in Empathiedarstellungen.“ In: Barth-Weingarten, Dagmar/Reed, Beatrice (Hrsg.). Prosodie und Phonetik in der Interaktion. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. Dr. Martin Hartung, S. 87–114.

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Yuki Asano

aktion auf ein Ereignis folgende Aussage. In Antwort auf ein Geschehen sagt er: „I have never seen anything like that (Ich habe noch nie so etwas gesehen).“

Abb.1: Tonhöhenbewegungen der deutschen Äußerung „I have never seen anything like that“ in zwei unterschiedlichen Intonationsverläufen.

Abbildung 1 zeigt zwei verschiedene Intonationsrealisierungen. Das rechte Beispiel zeigt eine positive emotionale Aussage, während das linke eine negative oder ironische Emotion darstellt. Je nachdem, wie die Intonation dieses Satzes realisiert wird, vermitteln Sprecher*innen unterschiedliche emotionale Informationen. In der alltäglichen Kommunikation sind sowohl Sprecher*in als auch Zuhörer*in durch prosodische Informationen sensibilisiert, um simultan zu Äußerungen Hypothesen über den emotionalen Zustand der Sprecher*innen zu erstellen,4 auch ohne dass sich die Handelnden stets dessen bewusst sind. Die Zuhörer*innen werden auf die Prosodie aufmerksam, wenn sie auf Verarbeitungsprobleme stoßen, zum Beispiel, wenn sie fremde oder unbekannte regionale Akzente oder zu einem Kontext nicht passende prosodische Realisierungen hören. In diesem Aufsatz werden phonetische und prosodische Merkmale dargestellt, die zur Interpretation einer Handlung als Ausdruck von Empathie bzw. Mitgefühl beitragen sollten.5 Vorauszuschicken ist, dass den Ausführungen eine interaktionale affektive Auffassung von Empathie zu Grunde liegt: Empathie wird nicht als kognitiver Zustand (Verstehen mentaler Zustände, wie zum Beispiel im Sinne der Theory of Mind oder im Sinne kognitiver Empathie) konzeptualisiert, sondern

4 Rigoulot, Simon/Pell, Marc D. (2012). „Seeing Emotion with Your Ears: Emotional Prosody Implicitly Guides Visual Attention to Faces.“ In: PLoS ONE 7.1: e30740. 5 In diesem Beitrag werden die zwei Begriffe „Empathie“ und „Einfühlsamkeit“ synonym verwendet.

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Prosodie und Empathie

als affektiver Ausdruck von Verständnis für die emotionale Situation einer betroffenen Person,6 im Sinne von affektiver Empathie.7

1. Prosodisch-phonetische Merkmale zum Ausdruck von Empathie Der Zusammenhang zwischen Prosodie und dem Ausdruck von Emotionen ist seit Langem anerkannt und wurde bereits in zahlreichen emotionspsychologischen und sprechwissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben.8 Methodisch beruhen diese Studien auf den Ergebnissen eines Hörexperimentes, auf detaillierten akustischen Analysen prosodisch-phonetischer Parameter von experimentell aufgenommenen Äußerungen. Konversationsanalytische bzw. interaktionallinguistische Studien, die auf Aufnahmen natürlicher Gespräche oder Korpusdaten basieren, haben ebenfalls die Rolle der Prosodie für verschiedene Typen von Affektausdruck gezeigt.9 Speziell für den Ausdruck von Empathie gibt es bereits 6 Couper-Kuhlen, Elizabeth (2012). „Exploring affiliation in the reception of conversational complaint stories.“ In: Peräkylä, Anssi/Sorjonen, Marja-Leena (Hrsg.): Emotion in Interaction. Oxford: OUP, S. 113–146. Hepburn, Alexa/Potter, Jonathan (2007). „Crying receipts: Time, empathy, and institutional practice.“ Research on Language and Social Interaction 40.1: S. 89–116. Kupetz. „‚Mitfühlend sprechen‘“. 7 Decety, Jean/Jackson, Philip L. (2004). „The functional architecture of human empathy.“ Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews. 3: S. 71–100. Dziobek, Isabel/Rogers, Kimberley/Fleck, Sfefan/Bahnemann, Markus/Heekeren, Hauke R./Wolf, Oliver T./ Convit, Antonio (2008). „Dissociation of cognitive and emotional empathy in adults with Asperger syndrome using the Multifaceted Empathy Test (MET).“ Journal of Autism and Developmental Disorders 38: S. 464–473. 8 Banse, Rainer/Scherer, Klaus R. (1996). „Acoustic profiles in vocal emotion expression.“ Journal of Personality and Social Psychology 70. 3: S. 614–636. Kehrein. Prosodie und Emotionen. Kranich. Phonetische Untersuchungen zur Prosodie emotionaler Sprechausdrucksweise. Kupetz. „‚Mitfühlend sprechen‘. Paeschke. Prosodische Analyse emotionaler Sprechweise. Tischer. Die vokale Kommunikation von Gefühlen. Wendt. Analysen emotionaler Prosodie. 9 Couper-Kuhlen, Elizabeth (2009). „A sequential approach to affect: The case of ‚disappointment‘.“ In: Haakana, Markku/Laakso, Minna/Lindström, Jan (Hrsg.). Talk in Interaction: Comparative dimensions. Helsinki: Finnish Literature Society, S. 94–123. Ford, Cecilia E./Fox, Barbara A. (2010). „Multiple practices for constructing laughables.“ In: Barth-Weingarten, Dagmar/Reber, Elisabeth/Selting, Margret (Hrsg.). Prosody in Interaction. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, S. 339–368. Kohtz, Linda/Niebuhr, Oliver (2017). „How long is too long? How pause features after requests affect the perceived willingness of affirmative answers.“ Proceedings of Interspeech 2017, Stockholm: International

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einige interaktionsorientierte Untersuchungen,10 die sich auf deutsch-, englisch-, und finnisch-sprachige Daten beziehen. Diese Studien halten die folgenden prosodisch-phonetischen Parameter sprachübergreifend fest, die die Interpretation einer Äußerung als empathisch, hier im Sinne von „einfühlsam“, nahelegen. Diese sind:  geringere bzw. abnehmende Lautstärke (Diminuendo),  tiefes Tonhöhenregister,  flach auslaufende Kontur,  rhythmische Integration (Legato-Rhythmus, in dem aufeinander folgende Töne einer Stimme ohne Unterbrechung bzw. gebunden erklingen sollen),  Behauchung (durch die ein Laut, meistens ein Plosiv, von einem hörbaren Hauchgeräusch begleitet wird, wie z.B. kalt [khalth]),  Knarrstimme bzw. Glottalisierung (d.h. eine Form der Artikulation, bei der ein Laut unter gleichzeitiger Verengung oder gleichzeitigem Verschluss der Stimmritze gebildet wird),  geringe Sprechspannung bzw. weiche Artikulation,  Silbendehnung und  Lippenrundung.

Speech Coommunication Association, S. 3792–3795. Local, John/Walker, Gareth (2008). „Stance and affect in conversation: On the interplay of sequential and phonetic resources.“ Text & Talk 28.6: S. 723–747. Roberts, Felicia/Francis, Alexander L. (2013). „Identifying a temporal threshold of tolerance for silent gaps after requests.“ Journal of the Acoustical Society of America 133.6: S. 471–477. Selting, Margret (1994). „Emphatic speech style – with special focus on the prosodic signalling of heightened emotive involvement in conversation.“ Journal of Pragmatics 22.3: S. 375–408. Selting, Margret (2010). „Affectivity in conversational storytelling: An analysis of displays of anger or indignation in complaint stories.“ Pragmatics 20.2: S. 229–277. 10 Couper-Kuhlen. „Exploring affiliation in the reception of conversational complaint stories.“ Hepburn, Alexa/Potter, Jonathan (2007). „Crying receipts: Time, empathy, and institutional practice.“ Research on Language and Social Interaction 40.1: S. 89–116. Kupetz. „‚Mitfühlend sprechen‘“. Reber, Elisabeth (2009). „Zur Affektivität in englischen Alltagsgesprächen.“ In: Buss, Mareike et al. (Hrsg.). Theatralität des sprachlichen Handelns. Eine Metaphorik zwischen Linguistik und Kulturwissenschaften. München: Fink, S. 193–215. Reber, Elisabeth (2012). Affectivity in Interaction: Sound objects in English. Amsterdam: John Benjamins. Weiste, Elina/Anssi Peräkylä (2014). „Prosody and empathic communication in psychotherapy interaction.“ Psychotherapy Research 24.6: S. 687–701.

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Diese prosodisch-phonetischen Parameter dienen dazu, dass eine Äußerung gedämpfter klingt,11 wobei diese Parameter im Deutschen ebenfalls in anderen interaktionellen Sprachstilen, wie zum Beispiel in motherese (die Sprechart, in der eine Mutter mit einem Kind spricht) zu finden sind.12 Diese Parameter müssen nicht alle gleichzeitig eingesetzt werden. Es handelt sich jedoch immer um ein Merkmalsbündel aus mehreren dieser Ressourcen, das im Zusammenspiel mit anderen verbalen und kinetischen Ressourcen und auf Grund seiner sequentiellen Position als einfühlsam interpretierbar ist.13 Das folgende Analysebeispiel14 stellt einige Parameter des prosodisch-phonetischen Merkmalsbündels zum Ausdruck von Empathie dar. In Abbildung 2 bringt Birte (Bir) in den Segmenten 28, 30, 31 und 32 gegenüber Heike (Hei) ihre affektive Haltung – Empathie – hinsichtlich einer vergangenen Situation durch das Zusammenspiel lexiko-semantischer, prosodischer und kinetischer Informationen zum Ausdruck. Das Segment 28 dient der Einleitung der Gedankenwiedergabe. In Segment 30, 31 und 32 stellt Birte die affektive Haltung selbst mit einer expliziten Wortauswahl („Oh Gott“, „arme Heike“, „… so mit dir gefühlt“, siehe Erklärung dazu unten) als Empathie im Sinne von Mitgefühl dar. Im Segment 30 legt die lexiko-semantische Auswahl „Oh Gott“ die emotive Haltung von Empathie nahe, wobei angemerkt werden sollte, dass diese Auswahl nicht unbedingt spezifisch für eine bestimmte Affektart ist (zum Beispiel für den Ausdruck von Überraschung). In diesem Kontext expliziert die weitere Wortauswahl von [arme + Nomen] mit fallender Intonation den Ausdruck von Empathie.15 Kinetisch hält Birte am Ende der Äußerung die Hand horizontal vor Kinn und Mund. Außerdem schaut Birte Heike an. Prosodisch-phonetisch sind leicht abnehmende Lautstärke, abnehmende Tonhöhe und am Ende eine tief fallende, flach auslaufende Kontur festzustellen, deren Höreindruck durch die Messung der Grundfrequenz bestätigt wird (vgl. Abb. 3). Der fallende Tonhöhensprung in der Grundfrequenzmessung ist von der starken Glottalisierung der dritten und der 11 Couper-Kuhlen. „A sequential approach to affect.“ Couper-Kuhlen, Elizabeth (2012). „On affectivity and preference in responses to rejection.“ Text & Talk 32. Heft 4: S. 453–475. Kupetz. „‚Mitfühlend sprechen‘“. 12 Bose, Ines (2003). Dóch da sin ja’ nur mûster: Kindlicher Sprechausdruck im sozialen Rollenspiel. Frankfurt am Main: Peter Lang. 13 Kupetz. „‚Mitfühlend sprechen‘“. 14 Ebd. 15 Reber. „Zur Affektivität in englischen Alltagsgesprächen.“ Reber. Affectivity in Interaction.

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Abb. 2: Auszug aus dem auditorischen und visuellen Korpus „Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch“ im Rahmen des Projektes „Emotive involvement in conversational storytelling“ im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin.

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Prosodie und Empathie

Abb. 3: Spektrogramm (0-5000 Hz) und Grundfrequenz (50-250 Hz) von LoE_VG_01_ Kater_Segment 30.

letzten Silbe verursacht, die den Höreindruck einer tiefen finalen Tonhöhenbewegung ausmacht. Diese prosodisch-phonetische Form in Zeile 30 steht im starken Kontrast zu Zeile 28, die prosodisch schneller in mittlerem Tonhöhenregister und mit gleichbleibender Tonhöhenbewegung realisiert ist. Die Äußerungen in Segment 31 und 32 beschreiben eine vergangene emotionale Haltung, im Sinne einer Thematisierung von Erfahrung und Emotionen.16 Die lexiko-semantische Auswahl (… so mit dir gefühlt) stellt explizit die affektive Haltung von Einfühlen dar. Prosodisch-phonetisch sind flach auslaufende Kontur und Glottalisierung auf das Wort „dir“ zu erkennen, die wie in Segment 30 als Mitgefühl interpretierbar sind (vgl. Abb. 4). Zusätzlich sind hierzu Silbendehnung und weiche Artikulation bzw. geringe Sprechspannung zu beobachten. In Abbildung 4 sind in der untersten Zeile Zeitintervalle zwischen den Vokalanfängen der betonten Silben dargestellt. In einer akzentzählenden Sprache wie dem Deutschen ist definitionsgemäß die Zeit zwischen zwei betonten Silben gleich lang.17 In Abbildung 4 beträgt die Abweichung der Längen der Intervalle etwa 20 Prozent. Diese Abweichung ist noch 16 Fiehler, Reinhard (1990). Kommunikation und Emotion. Berlin: de Gruyter. 17 Lloyd James, Arthur (1940). Speech Signals in Telephony. London: Pitman & Sons.

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Abb. 4: Spektrogramm (0-5000 Hz) und Grundfrequenz (50-250 Hz) von LoE_VG_01_ Kater_Segment 31-32.

als ein Toleranzbereich für eine perzeptuelle Isochronie verstanden,18 so dass die Silbendehnung in Segment 31–32 lediglich affektorientiert wirkt, ohne mit der isochronischen Regel der deutschen Sprache, wonach die Zeit zwischen zwei betonten Silben gleich lang sein sollte, konkurrieren zu müssen. Im Zusammenspiel mit dem flachen und auslaufenden Tonhöhenverlauf sorgt das Segment 31 für den Höreindruck der Äußerung als einfühlsam (vgl. die Parameter des motherese12). Rhythmisch klingt die Äußerung durch die geringen Tonhöhenbewegungen und die geringe Lautstärkeveränderung auf den akzentuierten Silben weich und fließend, sodass es sich hier um einen Legato-Rhythmus handelt.19

2. Zeit zwischen Äußerungen als Ausdruck von Empathie Interessanterweise zeigen einige Studien, dass nicht nur die Prosodie einer Äußerung, sondern auch Pausen zwischen einem geäußerten Satz und einer Antwort den 18 Auer, Peter/Couper-Kuhlen, Elizabeth (1994). „Rhythmus und Tempo konversationeller Alltagssprache.“ Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 96: S. 78–106. 19 Stock, Eberhard (1996). Deutsche Intonation. Berlin: Langenscheidt.

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Prosodie und Empathie

wahrgenommenen emotionalen Status von Sprecher*innen beeinflussen. In Vorstudien20 wurde der Effekt der Pausendauer auf die wahrgenommene Bereitschaft der Befragten untersucht, der Anfrage in deutscher und englischer Sprache nachzukommen. Die Studie zeigte, dass Zuhörer*innen sehr empfindlich auf Pausendauer reagieren, was zeigt, dass die wahrgenommene Bereitschaft mit zunehmender Pausendauer abnimmt, insbesondere oberhalb einer „Toleranzschwelle“ von 600 Millisekunden. Wenn die Pause zu lang ist, dann signalisiert es den Anfragenden, dass ihre Gesprächspartner*innen weniger bereit sind, der Anfrage nachzukommen, selbst wenn die Antwort, die sie geben, bejahend ist. Zusätzlich wurde gezeigt, dass die Dauer einer Pause nicht das einzige Merkmal ist, damit eine nachfolgende bejahende Antwort mehr oder weniger willig klingt, sondern die pauseninterne Atmung erwies sich als ein weiteres wichtiges Kriterium.21 Verglichen mit der stillen Referenzbedingung können Gesprächspartner*innen mehr Zeit benötigen, um eine bejahende Antwort zu geben, und klingen immer noch gleich willig, wenn sie die Pause durch hörbares Einatmen überbrücken (d.h. füllen). Das Gegenteil gilt ebenso: Wenn die Anfragenden die Pause durch hörbares Ausatmen füllen, haben die Gesprächspartner*innen weniger Zeit, eine Antwort zu geben, wenn diese Antwort den gleichen Grad an Bereitschaft vermitteln soll wie in der stillen Referenzbedingung. Abgesehen davon, dass die Zuhörer*innen offensichtlich zwischen Einatmungs- und Ausatmungsgeräuschen (von verschiedenen Sprecher*innen) unterscheiden können, legen die vorliegenden Befunde zur Atmung nahe, dass Zuhörer*innen die Inhalation der Gesprächspartner*innen als Teil der folgenden bejahenden Antwort bewertet haben. Ein weiterer Faktor, der untersucht wurde,20 war die Sprechgeschwindigkeit. Wenn Anfrage und Antwort mit einer höheren Sprechgeschwindigkeit erzeugt werden, dann muss auch die Pause zwischen den zwei Äußerungen kürzer sein, um die Antwort der Gesprächspartner*innen gleich willig klingen zu lassen. Dies bedeutet, dass die kommunikative Interpretation von Pausendauern eher relativ als absolut ist. Für die wahrgenommene Bereitschaft zählt wohl nicht die Pausendauer selbst, sondern das Verhältnis zwischen dieser Dauer und der Dauer anderer lokaler Kontextelemente wie Wörter oder Silben. Basierend auf diesen Studien ist zu vermuten, dass die Empathie auch durch die Pausendauer ausgedrückt werden kann, die, neben den vorhersehbaren prosodischen 20 Kohtz/Niebuhr. „How long is too long?“ Roberts/Francis. „Identifying a temporal threshold of tolerance for silent gaps after requests.“ 21 Kohtz/Niebuhr. „How long is too long?“

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Yuki Asano

Faktoren wie Intonation und Sprachqualität, auch von der Sprechgeschwindigkeit der Sprecher*innen und von der Ein- und Ausatmung abhängt.

3. Zusammenfassung In diesem Aufsatz wurde mit Beispielen von bisherigen Studien dargestellt, dass Empathie bzw. Einfühlsamkeit im Zusammenspiel mit expliziten lexiko-semantischen und kinetischen Ressourcen durch die folgenden prosodisch-phonetischen Parameter ausgedrückt wird: abnehmende Lautstärke, tiefes Tonhöhenregister, fallende und flach auslaufende Kontur, Silbendehnung, Knarrstimme durch Glottalisierung, Legato-Rhythmus, geringe Sprechspannung bzw. weiche Artikulation. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass nicht nur die prosodisch-phonetischen Parameter einer Äußerung an sich, sondern auch die Zeit zwischen Äußerungen für den Ausdruck von Emotion bzw. Empathie relevant ist. Diese Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Prosodie und Empathie können schließlich auch der rhetorischen Ausbildung von Redner*innen, Politiker*innen oder Schauspieler*innen und der besseren Einbettung von Emotionen durch ein Spracherkennungssystem dienen.

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Mehrfache Empathie Ursula Krechel

Ich stelle zwei Abschnitte aus einem noch unveröffentlichten Roman mit dem Titel Geisterbahn vor. Ich habe sie ausgewählt, weil sich an ihnen verschiedene Formen der ästhetischen Erzeugung von Empathie aufzeigen lassen. Der literarischen Figur Aurelia Torgau liegt eine reale Person aus dem kommunistischen Widerstand zugrunde. Sie hat, während ich mich mit Widerstandsformen in meiner Heimatstadt befasste, mein Interesse, ja, meine unmittelbare Empathie geweckt. Auffällig bei dieser Forschung war für mich, dass kein Widerstand aus dem bürgerlichen Lager nachzuweisen war. Aurelia Torgau war Verkäuferin in einer Eisenwarenhandlung. Im weiteren Verlauf des Romans ist zu erfahren, dass sie nach Auschwitz deportiert wird und als Funktionshäftling im Krankenrevier schwer geschädigt überlebt. Gegen das Überfließen der Empathie, den unstrukturierten Reflex „Opfer des Nationalsozialismus“, habe ich eine doppelte Barriere in einem nüchternen ‚unempathischen‘ Sprachstil geschaffen: das Urteil zur Zuchthausstrafe – als Dokument, quasi in direkter Rede – und in der indirekten Rede das Scheidungsurteil mit der entsprechenden Begründung. Zum zweiten: Aurelias Arbeit im Zuchthaus, das Rupfen der Gänse, schafft eine Opfer-Konkurrenz zwischen der Frau in Einzelhaft, die kaum etwas von ihren Mithäftlingen erfährt (erfahren soll), und dem kollektiven Schmerz der tierischen Kreaturen. Die Zuchthausstrafe besteht im verordneten Quälen, der Wiederholung des Vorgangs und in der gnadenlosen Ausbeutung der Häftlinge, die ein hochrangiges wirtschaftliches Gut produzieren. Aurelia findet sich in Situationen wieder, die eigentlich ihre Empathie mit den Tieren erfordern, zu der sie in ihrer eigenen Lage aber kaum fähig zu sein vermag. Die dritte Form der Empathie besteht in dem vom Text geleiteten, aber doch höchst individuellen Prozess der empathischen Empfindung beim Lesen. Der Text zwingt zu einem doppelten Blick, zweifacher Aufmerksamkeit: auf die Person und auf die Tiere. Als Leser*innen sind wir aufgefordert, Stellung zu beziehen und zu

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entscheiden, mit wem wir wie wann mitfühlen oder in wessen Lage wir uns überhaupt hineinversetzen wollen. Eine vierte Möglichkeit der Empathie deute ich nur an. Die mögliche, vom heutigen Leserstandpunkt erwartete Empathie der Figur mit ihren Opfern – in einem kühlen, beiseite gesprochenen Satz. Im weiteren Verlauf des Romans möchte Aurelia unbedingt als Zeugin im Auschwitz-Prozess (1963) aussagen. Aber der Prozess braucht keine Zeug*innen des Leidens, sondern Zeug*innen konkreter Tatsachen, die konkreten Angeklagten zuzuordnen sind. Aurelia wird dabei nicht gebraucht. Sie wiederum begreift dies als erneute Zurücksetzung, Nichtbeachtung. Und damit als Verwehren eines empathischen Perspektivwechsels. Wäre es auch möglich, über eine Figurenkonstellation zu schreiben, die die Leser*innen-Empathie nicht weckt? Kurze Antwort: ja. Allerdings müsste sie meine kognitive Anteilnahme, mein Verstehenwollen, meine Schreibintelligenz wecken. In diesem Fall also Empathie nicht im Sinne des Mit-Leidens, Mit-Schwingens, sondern Dabei-Seins: einen mikroskopischen, analytischen Blick, der im vorgestellten ersten Textteil aufscheint. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat hat der Fünfte Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm (Westf.) in der Sitzung vom 21. Dezember 1936 für Recht erkannt: Die Angeklagten sind der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens schuldig. Es werden daher verurteilt: Bermes zu 15 Jahren Zuchthaus, Faldey zu 10 Jahren Zuchthaus, Eberhard zu 8 Jahren Zuchthaus, Wilhelm und Fritz Torgau zu je 7 Jahren Zuchthaus, Jansen und Monzel zu je 6 Jahren Zuchthaus, Feiler zu 5 Jahren Zuchthaus, Ehefrau Reichert zu 4 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus, Sauer, Fassbender, Merk und Wolffs zu je 4 Jahren Zuchthaus. Und so ging die Liste weiter und weiter. Einigen Angeklagten wurden die bürgerlichen Ehrenrechte für zehn Jahre aberkannt, andere standen weiter unter Polizeiaufsicht. Die beschlagnahmten Waffen und Rundfunkgeräte sind einzuziehen. Die beschlagnahmten staatsfeindlichen Druckschriften und die zur Herstellung bestimmten Platten sind einzuziehen. Die Kosten des Verfahrens fallen den Angeklagten zur Last. […] Die verurteilte Ehefrau Reichert ist einmal Aurelia Torgau gewesen. Reichert: ein ungeliebter Name, den Aurelia wie eine Fessel empfindet. Ihr Mann reicht die Scheidungsklage ein: die häusliche Gemeinschaft sei schon seit über drei Jahren aufgehoben. Obwohl sie in ihrem inneren Kern überhaupt nicht zueinander passten, hätten sie aus einer äußeren Neigung heraus die Ehe geschlossen. In der Folge sei schon nach kurzer Zeit eine völlige Entfremdung zwischen den Ehegatten eingetreten. In der Urteilsbegründung ist ein Tremolo zu spüren:

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Mehrfache Empathie

Die Entfremdung hat sich im Laufe der Zeit naturgemäß noch dadurch vergrößert, dass die Beklagte wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt werden musste, während der Kläger seiner heutigen Gesinnung nach sich zum Nationalsozialismus bekennt und der SA angehört. Der Richter schreibt von tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten – das ist noch vorsichtig formuliert – und fällt das Urteil über eine Ehe, die nach seiner Auffassung unheilbar zerrüttet ist. Der Ehemann ist die Frau los, die ihm lästig und längst gefährlich geworden ist. Aurelia wird den Ehenamen nicht mehr los. Schon mit dem Namen Reichert zu unterschreiben, lässt die Hand steif werden. Aurelia Reichert geb. Torgau. […] Das Zuchthaus hieß Ziegenhain, es war ein ehemaliger Kornspeicher in einem aufgelassenen Schloss. Durch die dicken Bruchsteinmauern hatte man in regelmäßigen Abständen kleine Fenster hinaus in eine milde Landschaft gebrochen. Die Zuchthäuslerinnen mussten sich auf einen Schemel stellen und recken, wenn sie nach draußen durch die Gitter sehen wollten. Satte grüne Wiesen, Wäldchen und Hügel, dazwischen Dörfer mit dem geometrischen Muster der Fachwerkständer, holpernde Erntewagen auf dem Pflaster, ein selbstbewusster Kirchturm, darüber ein Wölkchenhimmel gespannt. Immer war es feucht hinter den dicken Mauern, und nur für ein paar Minuten am Fenster zu stehen, war Atemholen und ein wärmendes Glück. Sonntags trugen die Frauen in Ziegenhain ausladende Trachten: manchmal ein ganzes Dutzend Röcke, die unter dem dunklen obersten Rock hervorblitzten, als hätten sie unter ihren Röcken viel mehr zu verbergen als andere Frauen. Ein Häubchen, nicht viel höher als eine umgestülpte Kaffeetasse, saß über der Stirn auf einem Haarknoten. Die Frauen im Zuchthaus starrten nach draußen, und die ehrbaren Frauen draußen sahen die weit aufgerissenen Gesichter hinter den Gitterstäben. Auf der Straße schnatterten Gänse, die ein Mädchen nach Hause trieb. Es gab viele Gänse im Ort. Eine Landschaft, als wären die Brüder Grimm darin lebendig geblieben. Es war einmal, aber es war nicht wahr. Ein Vermerk der Gestapo auf der Strafakte weist darauf hin: Aurelia muss eine Einzelzelle zugewiesen bekommen und darf nur bei der Arbeit mit anderen Häftlingen in Kontakt kommen. Der Kommunismus ist ein gefährliches Virus, das sich leicht überträgt. Die Kommunistin muss nur husten. Sind denn die Richter so furchtsam? Sind die Zuchthäuslerinnen so leicht zu beeinflussen? Die Vereinzelte sitzt in ihrer Zelle, die Wände schreien, ein kalter Mund ist der Kübel, und sie bleibt ganz ruhig. Das Zuschlagen der Zellentür ist eine Betäubung. In der Nacht spürt ein heller Lichtkegel Aurelias Gesicht auf. Und immer wieder muss sie sich vorsagen: Es ist nicht nur mein Gesicht, es ist das Gesicht von vielen. Ihre Backe ist geschwollen, ein Zahn hat sich gelockert, ein anderer ist ihr herausgeschlagen worden. Die Feuchtigkeit kriecht in die Glieder. Am Morgen führt die Schließerin sie in eine Scheune, in der es so stinkt, dass sie zurückweicht. Auf Bänken sitzen ihre Mitgefangenen, und dann wird die Arbeit hineingetrieben, lauter Federvieh im aufgeschreckten, watschelnden Gän-

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semarsch. Die Gänse schnattern nicht, sie brüllen. Es sind Angstschreie, Todesschreie, Aurelia hört es sofort. Schau, wie die anderen es machen, ruft die Schließerin der neuen Gefangenen zu. Mit hartem Griff hebt sie eine Gans am Hals hoch, drückt Aurelias Knie auseinander und setzt die Gans zwischen ihnen ab, ohne dass Aurelia sich‘s versehen kann. Die Gans kreischt, alle Gänse in der Scheune kreischen grell. Knie zusammen, so hältst du das Viech fest, eine gespreizte Hand unter den Flügeln, und die andere Hand rupft, rupft. Feder nach Feder, alle schön in den Korb, und zwar so schnell, dass die Gans sich nicht wehren kann. Zuerst die großen Federn vom Schwanz und den Flügeln in einen Korb, dann weiter vor zu den feinen Federn, den zarten Daunen, immer näher an die Haut, federleicht, das sind die kostbaren Bettfedern. Sie stecken fest in der Hautschicht, so fest, als wolle die Gans sie keinesfalls loslassen. Ein zweiter Korb steht neben jeder Gefangenen. Er ist ungleich wichtiger als der erste. In ihm werden die Daunen gesammelt. Und bloß nicht niesen und husten, sonst fliegt alles durch die Scheune. Eine der Aufpasserinnen in der Scheune heißt Frau Holle, sie wird gefürchtet, und das Weiß wirbelt um sie. In einem Berg von Federn thront sie. Bei jedem ausgerupften Federchen zuckt die Kreatur wie unter einem Stromstoß. Ganze Fetzen Haut gehen ab, und die Wunde blutet. Manche der Tiere versuchen sich loszureißen, andere senken den Kopf, so tief sie können, als könnten sie so der Qual entgehen. Duldungsstarre. Schwarz und wässrig ist die Spur des Kots, der aus den Gänsen rinnt. Wenn die Frauen nicht aufpassen, rinnt er ihre Beine entlang. Eine Gefangene, die das Pensum nicht schafft oder die Gans nicht so festhält, dass kein Kot die Federn verdreckt, wird bestraft. Rasch muss der Korb gefüllt werden. Die Erfahrenen haben noch eine Gans zwischen ihren Knien, erst ist der Hals nackt, rupfen, rupfen, wieder Schreie, helle, angstvolle Schreie, Verzweiflungsschreie, aber der geübte Blick schweift schon und sucht nach dem nächsten Opfer. Es ist so laut, dass es nicht möglich ist, sich der Nachbarin nur mit einem Satz verständlich zu machen. Ein Kopfnicken, ein Augenverdrehen, verbissene Lippen, die das eigene Schreien verbieten. Manche sehen weg. Obwohl die Häftlinge sich vorsehen, stieben Daunen auf wie Schneeflocken. Der feine Flaum durchdringt alles, Federchen setzen sich in den Nasenschleimhäuten fest, jucken in den Ohrmuscheln und im Nacken. Die Wunden der Tiere werden mit einfachem Zwirn zusammengeflickt. Warum die Frauen hier sind, ob es normale Zuchthäuslerinnen sind, wenn es die überhaupt gibt – es dauert lange, bis Aurelia das herausfindet. Da sitzt die Politische, wittert und schaut, ob sie eine Frau sieht, die so wirkt, als könne sie auch ein politischer Häftling sein, aber sie tut es nur verstohlen, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, und die Gans würde ihr entwischen. Häftlinge, die nicht zum Rupfen eingeteilt sind, breiten Säcke aus und schieben passgenau zugeschnittene Bretter auf die Körbe und verschließen sie. Abends werden die Federn abgeholt. Immer neue Gänse werden in die Scheune getrieben oder doch die, die schon gerupft worden sind, wieder und wieder. Viermal im Jahr werden die Tiere so ge-

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Mehrfache Empathie

quält. Je häufiger gerupft wird, umso feiner die Daunen, umso größer der Gewinn beim Verkauf. Aurelia wird abends in ihre Einzelzelle gebracht. Sie hatte sich eine Arbeit wie das Tütenkleben vorgestellt, vom Säckeflicken hatte sie auch schon flüstern gehört. Arbeiten, Arbeiten, das Zuchthaus ist ein Arbeitshaus. Jeden Tag von neuem die nackten Gänse zu sehen, ist schrecklich. Sobald die Hand sie loslässt, hauen sie ab. Das Flattern gelingt nicht mehr, sie finden die Balance nicht, schreien, auf ihre eigene Weise verstehen sie die Beraubung, spüren die ungewohnte Kälte, sie watscheln zu einem Strohballen, als suchten sie dort Schutz vor den rupfenden Händen oder als schämten sie sich ihrer hässlichen Gänsehaut. Manchen sind die Beine gebrochen worden, sie schieben sich auf dem Bauch über den Fußboden, torkeln, bleiben vor Erschöpfung und Schmerz liegen. Es kommt den Frauen so vor, als hätten die Tiere die Erinnerung an den Schmerz gespeichert. Nur die faltigen, bleichen Leiber anzusehen, schneidet durchs Herz, aber da hat die Zuchthäuslerin schon das nächste Tier zwischen ihre Knie gepresst. Später das Einfangen der frierenden, kläglichen Gänse, die Fußfesseln der Gänse, das Aufhängen der Tiere an den Beinen, das Strömen des Blutes in den Kopf, die Verbesserung des Geschmacks durch das Kopfüberhängen, das Schlachten der Gänse, die Festtagsbraten. Das Hungern der Häftlinge, die sie gerupft haben. Im nächsten Jahr müssen die Frauen Matten flechten. Andere sind dazu eingeteilt, Peitschenschnüre zu drehen, auf welche Rücken werden sie knallen?, dann heißt es: Knöpfe an die Planen für die Wehrmacht nähen. Das harte Material sperrt sich, die Nähnadeln sind viel zu dick, die kalten Finger zu ungeschickt. Dann schafft man die ganzen Ballen des Stoffs für die Planen nach Ziegenhain, die Arbeit ist elend schwer und kaum zu bewältigen. Nun heißt es: Zuschneiden und nähen, zunächst mit der Hand. Als sich erweist, dass dieses Vorgehen vollkommen unproduktiv ist, werden Nähmaschinen in den Arbeitssaal gebracht. Sieben Planen am Tag: das ist das Soll. Aurelia schafft meistens nur fünf Planen. Die Essensrationen werden gekürzt. Ohnehin sind Hülsenfrüchte und Mehl knapp, frisches Gemüse gibt es gar nicht mehr. Karge Ernährung und ein auf zwölf Stunden verlängerter Arbeitstag. Die Häftlinge sind geschwächt, anfällig für alle möglichen Krankheiten, und nachts träumt Aurelia von einer heißen, dickflüssigen Linsensuppe mit fetten Würsten. Auszug aus einem Fragebogen der französischen Zeitschrift mémoires en jeu an verschiedene internationale Autoren, das entsprechende Heft erschien im April 2018. Welche Bedeutung hat man als Autor/in mit seinen Fiktionen und Erzählungen im Vergleich zu Historikern bzw. Zeitzeugen? Schreiben Sie unter Verwendung von Archiven, Werken von Historikern, Berichten von Zeitzeugen, oder schreiben Sie gegen diese? Was sind Ihre wichtigsten Referenzen? Wie ist es möglich,

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literarische Einzigartigkeit zu behaupten, wenn Themen behandelt werden, die z.B. eine bestimmte Gruppe fokussieren und die schon eine historische Erzählung oder auch literarische Werke hervorgebracht haben, oder Themen, die schon zu Klischees geworden sind (z.B. „Erinnerungspflicht“, „Nie wieder …“)?

Die Literatur hat einen entscheidenden Vorteil im Vergleich zur Arbeit von Historiker*innen. Sie kann Empathie wecken. Sie ist befreit vom Zwang zur Objektivierung. Sie kann und muss das Material nach den ihr eigenen Kriterien ordnen und einen unverwechselbaren Ton finden. Vielfach benutze ich Texte von Historiker*innen, um einen bestimmen Forschungsstand kennenzulernen, lese sie aber häufig wegen ihrer trockenen Darstellungsweise nur quer. Dagegen bin ich begierig auf Fußnoten, die auf Originalquellen hinweisen. Meine Arbeit hat es mit sich gebracht, dass ich inzwischen mit Historikern, einer Juristin, mit Psychotherapeuten befreundet bin und mir in Detailfragen bei ihnen Rat hole. Die Nähe zu bestimmten Fachdisziplinen und gleichzeitig die Abstoßung von ihnen besteht darin, dass ich über Gegenstände schreibe, die tendenziell zu ihrem Fachgebiet gehören, viele Wissenschaftler*innen aber durch Rücksichten auf Hierarchien, Wissenschaftsmoden oder schlicht Verdrängung gehindert werden, ähnliche Projekte mit den ihnen eigenen Mitteln anzugehen. Von Zeitzeug*innen erfahre ich leider häufig eine traurige Rivalität, als könne Literatur durch ihre größere Verbreitung ihnen etwas von ihrem Lebensthema wegnehmen.

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Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung Podiumsdiskussion

Mit der Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke, dem Schriftsteller Peter Stamm und dem Komponisten Anno Schreier Moderation: Susanne Schmetkamp und Magdalena Zorn

Die deutsche Autorin Inger-Maria Mahlke (Silberfischchen, Wie ihr wollt) nahm 2012 am Ingeborg-Bachmann-Preis teil und erhielt 2014 den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. 2017 war sie Magdeburger Stadtschreiberin. Frau Mahlke erhielt für ihren Roman Archipel den Deutschen Buchpreis 2018. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie | Mainz. Der Schweizer Romanschriftsteller und Theaterautor Peter Stamm studierte nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie in Zürich. Bisher sind sieben Romane und vier Erzählbände von ihm erschienen. Für den Roman Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt erhielt er 2018 den Schweizer Buchpreis. Seine Bücher wurden in 37 Sprachen übersetzt. Jüngst wurde er zum „Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur“ an der Universität Bern ernannt und erhielt den renommierten Solothurner Literaturpreis. Peter Stamm lebt in Winterthur. Der deutsche Komponist Anno Schreier (Die Stadt der Blinden, Hamlet) studierte in Düsseldorf, London und München und lehrt an der Hochschule für Musik Karlsruhe. 2017 erhielt er den Deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie „Komposition Musiktheater“. Er ist Mitglied der Jungen Akademie | Mainz. 81

Inger-Maria Mahlke, Peter Stamm und Anno Schreier

Bei dem folgenden Text handelt es sich um leicht überarbeitete Ausschnitte aus der Podiumsdiskussion; dieser gingen Lesungen aus den Werken der Autor*innen (Inger-Maria Mahlke las aus ihrem Roman Wie Ihr wollt, Peter Stamm las die Erzählung „Der Kuss“ aus dem Erzählband In fremden Gärten) und die Präsentation eines Ausschnitts aus der Oper Hamlet von Anno Schreier voraus.1 Susanne Schmetkamp: Empathie hat in den letzten Jahren sehr an Interesse in der Forschung gewonnen. Vor allem in den Literatur- und Filmwissenschaften wird die Frage gestellt, wie wir mit literarischen, fiktionalen Figuren empathisieren und was das eigentlich heißt. Empathie wird gemeinhin als Nachvollzug verstanden, sich in mentale Zustände anderer hineinzuversetzen und diese zu verstehen, und das scheint ein ganz wichtiger Aspekt zu sein, wenn wir Literatur lesen oder wenn wir Filme schauen –, aber vielleicht auch, wenn wir Musik hören oder wenn wir Bildende Kunst sehen. Das sind die Fragen, die uns hier beschäftigen. Ich würde gern eine Startfrage an alle drei stellen: Angesichts eurer Beiträge oder auch angesichts anderer Werke von euch – Was heißt denn Empathie für euch? Ich würde dabei auch gerne wissen, ob ihr grundsätzlich meint, dass Empathie wichtig für die Rezeption ist? Anno Schreier: Ich beschäftige mich eigentlich hauptsächlich mit einem Problem, das mich plagt, nämlich: Wie kann man Musik schreiben, die Leute erreicht – in welcher Weise auch immer – und mit der man etwas mitteilen kann. Wir sind in einer Zeit, in der es sozusagen keine allgemeinen musikalischen Mittel mehr gibt wie etwa im späten 18. Jahrhundert, in dem es eine ganz einfache Sammlung von musikalischen Regeln gab, wie man Musik komponiert. Diese Regeln konnte man anwenden, ohne die Musik an sich jedes Mal wieder neu zu erfinden. Und heute sind wir als zeitgenössische „klassische“ Komponisten in der Situation, dass wir eigentlich mit jedem Stück immer von null anfangen müssen. Wir können auf keine Grundlagen zurückgreifen, die ja auch eine Art von Verständigung garantieren könnten. Wie kann man jetzt Musik machen, die sich aus sich heraus mitteilt, quasi ohne dass es irgendwelche Voraussetzungen gibt. Das sind letzten 1 Die Transkription und der Abdruck der Podiumsdiskussion erfolgten unter Mithilfe von Saskia Krahl, Katharina Wolf und Aglaia Bianchi von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz und mit Genehmigung der beteiligten Künstler*innen.

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Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung - Podiumsdiskussion

Endes wirkungsästhetische Überlegungen, die ich anstelle und bei denen ich mich irgendwie in den potenziellen Hörer hineinversetzen muss. Aber das ist ja jemand, der in dem Moment, in dem ich das Stück schreibe, noch gar nicht da ist. Und gleichzeitig muss ich mich natürlich auch in die Musiker hineinversetzen, die das Stück, das ich schreibe, dann spielen sollen und damit auch etwas damit anfangen können müssen. Die Oper ist ja auch noch ein Spezialfall, weil wir es da nicht nur mit Musik zu tun haben, sondern auch noch mit Text; es gibt Personen, die in dem Stück eine Rolle spielen. Und irgendwie muss zumindest ich mich in diese Situationen, die in einer Opernszene dargestellt werden, hineinfühlen können. Aber ob das jetzt wirklich etwas mit Empathie im engeren Sinne zu tun hat, darüber bin ich mir jetzt gar nicht so klar. Inger-Maria Mahlke: Grundsätzlich ist Empathie natürlich unglaublich wichtig. Alles, was mehr als zwei Menschen sind, bleibt nur unblutig und friedlich aufgrund von Empathie. Ich finde, grundsätzlich ist Empathie eine wichtige Sache. Aber ich lege eigentlich keinen Wert darauf, dass der Leser meinen Figuren empathisch folgt. Ich möchte nicht, dass Empathie – also sich in etwas hineinversetzen können und es irgendwie auf der eigenen emotionalen Klaviatur nachvollziehen können – sozusagen das Bindeglied zwischen Leser und meinen Texten ist. Ich möchte, dass meine Figuren eine wie von außen gesehene Einheit sind; ein klar abgegrenzter Raum, der der andere ist. Ich finde, bei Empathie oder dem Hineinversetzen gibt es immer die Gefahr, das Eigene in etwas Anderes hineinzulegen. Das finde ich auch übergriffig. Das ist der erste Punkt. Und der zweite Punkt ist, dass das natürlich das Eigene befördert. Ein rein empathischer Zugang zu allem würde auch bedeuten, dass der Zugang immer auf einer Verknüpfung zwischen mir und dem Anderen beruht. Und ich finde, es ist auch wichtig, das Andere als Anderes und als eine abgegrenzte, nicht nachzuvollziehende Einheit stehen zu lassen. Darum sind meine Figuren meist nicht sehr zugänglich, oder man wäre nicht unbedingt gerne mit Ihnen befreundet. Peter Stamm: Naja, aber schon, indem du dich in sie hineinversetzt, lebst du sie ja. Inger-Maria Mahlke: Ja richtig, aber das ist sozusagen das Verhältnis ‚Ich‘ zu meinen Figuren. Mein Punkt bezog sich auf das Verhältnis des Lesers zu meinen Figuren. Das sind für mich komplett verschiedene Vorgänge. 83

Inger-Maria Mahlke, Peter Stamm und Anno Schreier

Peter Stamm: Und doch habe ich den Eindruck, weil Lesen und Schreiben doch gar nicht so verschieden sind – das ist eigentlich derselbe Prozess einfach anders herum –, dass die Haltung des Autors zu seinen Figuren dann doch auch die Haltung der Leser zu den Figuren prägt. Inger-Maria Mahlke: Das glaube ich nicht. Ich habe meine Figuren sehr lieb und ich kenne unglaublich viele Leute, die unglaublich wütend werden auf meine Figuren und sie wirklich nicht mögen. Es wurde mir auch oft gesagt: „Ich habe dein Buch gelesen und es hat mir gefallen, aber die Figuren sind echte Arschlöcher.“ Peter Stamm: Verstehe, das passiert mir auch dauernd. Inger-Maria Mahlke: Ja, und das finde ich auch in Ordnung so. Ich liebe sie aber. Ich finde sie ganz wunderbar, so wie sie sind und sie sind ein bisschen wie meine Kinder. Peter Stamm: Empathie ist mir schon wichtig; für mich war Schreiben immer eine Art, Dinge herauszukriegen. Ich habe nie geschrieben, um mich zu unterhalten oder andere Leute zu unterhalten, sondern ich habe immer Fragen gehabt. Ich fand die Welt immer sehr kompliziert und unverständlich und habe das Schreiben eigentlich als mein Verständnisinstrument gewählt. Ich habe Psychologie studiert, dabei habe ich nicht viel gelernt und ich dachte, wenn ich irgendwie etwas verstehen kann, dann, indem ich über Dinge schreibe. Darum ist es wirklich der Versuch etwas herauszukriegen: Was ist mit diesen Leuten los? Ich kenne sie nicht, wenn ich anfange zu schreiben und lerne sie durch das Schreiben kennen. Inger-Maria Mahlke: Ja, wobei du davon ausgehst, dass die Verhältnisse identisch sind sozusagen. Ich lerne meine Figuren auch durch das Schreiben kennen. Ich will nur nicht, dass der Leser sie auf die gleiche Art und Weise kennen lernt. Susanne Schmetkamp: Also, dann haben wir auf der einen Seite die Figurenentwicklung und auf der anderen Seite die Figurenrezeption. Wenn ihr jetzt über die Figurenentwicklung sprecht, als wären die Figuren irgendwie da und ihr lernt sie noch kennen, klingt das für einen Leser, der selbst nicht schreibt, erst einmal etwas kurios oder etwas seltsam. Wie entwickelt man denn solche Figuren, in die man sich hineinversetzt oder die man besser verstehen möchte? 84

Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung - Podiumsdiskussion

Inger-Maria Mahlke: Das ist wie bei einem Bildhauer: Man hat den viereckigen Block, der Bildhauer weiß, die Statue ist da drinnen. Man muss eben nur alles andere entfernen. Und in gewisser Art und Weise sind für mich auch die Figuren schon irgendwie da, man muss sie nur eingrenzen, man muss nur anfangen, sie zu definieren. Meistens sind es ganz kleine Momente, in denen ich dann auf einmal weiß: Das ist eine Figur! Und die entwickelt sich dann im Schreibprozess immer weiter. Peter Stamm: Ich habe das mal irgendwann gelernt – man sagt ja, in den Genen ist alles angelegt. Aber es ist ja nicht so, dass jede Zelle in meinen Genen angelegt ist, sondern es sind Grundprinzipien in den Genen angelegt und nach denen wächst dann mein Körper. Aber natürlich in einer Umwelt, und je nachdem, wie diese Umwelt beschaffen ist, wird er ein bisschen anders wachsen. Aber es ist eben alles in den Genen vorhanden: Das Herz und die Lungen, wie viele Zehen ich habe und wie viele Finger. Und so ist es vielleicht auch beim Schreiben: Diese Figuren wachsen nach bestimmten Grundsätzen. Keine Grundsätze, die man aufschreiben könnte, aber es gibt eine Logik, warum sie so werden. Und ich glaube, das ist dann beim Schreiben eher ein Spüren: Was würde diese Figur tun? Was würde sie nicht tun? Inger-Maria Mahlke: So instinktiv … Peter Stamm: Instinktiv, genau! Ich frage das in den Schulen die Schüler: Könntet ihr euch vorstellen, dass euer Mathelehrer Fallschirmspringen gehen würde? Und obwohl sie ihn nie gefragt haben, wissen sie alle sofort eine Antwort darauf. Die einen können sagen: „Nein, der würde das nie tun!“ Und die anderen sagen: „Doch, sofort – das traue ich dem zu!“ Auch von Menschen, die wir kennen, haben wir Bilder, die weitergehen als das, was wir von ihnen gesehen haben. Und so ungefähr ist das beim Schreiben auch. Man hat am Anfang nur einen Namen, vielleicht ein Gesicht, einen Beruf, ein Alter. Inger-Maria Mahlke: Manchmal als erstes eine Bewegung … Magdalena Zorn: Ich hätte eine Nachfrage dazu, die allerdings wegführt von der Eigenlogik der Figuren. Peter, wenn man deine Romane liest, hat man den Eindruck, du hast die Dinge, die du beschrieben hast, auch selbst teilweise, an85

Inger-Maria Mahlke, Peter Stamm und Anno Schreier

satzweise erlebt. Gibt es einen Konnex zwischen deiner Literatur und Schlüsselreizen im eigenen Leben, so wie zum Beispiel deine Zeit in New York, die dann im Roman Agnes wieder auftaucht. In Weit über das Land sind es die Wanderwege durch die Schweiz, bei denen man den Eindruck hat, du hast selbst begangen, was du da beschreibst. Also, kann man nur über das schreiben, was man selber kennt? Das wäre ja auch eine Frage nach der Empathie. Peter Stamm: Man kann alles! Ich würde nie sagen, alle müssen so schreiben wie ich. Ich könnte nicht über eine Welt schreiben, die mir nicht irgendwie bekannt ist. Ich muss diese Welt nicht unbedingt sehr gut kennen. Aber das Material ist für mich einfach besser. Sagen wir, angelebtes Material ist für mich brauchbarer als angelesenes Material. Und das ist dann ein Fundus, der schon irgendwie auch aus meinem Leben, aber auch aus Recherchen kommt. Man kann sich ja auch Sachen anrecherchieren. Im Grunde genommen könnte niemand, der nicht gelebt hat, schreiben. Ich glaube, wir zehren alle von unseren Erfahrungen. Selbst wenn man einen historischen Roman schreibt, kommt der auch nicht aus dem Nichts. Inger-Maria Mahlke: Klar! Natürlich legt man trotzdem seine Erfahrungen dort hinein, selbstverständlich. Also, von 1571 habe ich keine Ahnung – das kann ich mir nur anlesen. Aber das ist ja letzten Endes nur eine Folie, auf der etwas passiert. Und das, was passiert, hat natürlich nur mit meinen Erfahrungen zu tun oder man buchstabiert sich und seine Erfahrungen letzten Endes selber immer rauf und runter in unterschiedlichen Gewändern sozusagen. […] Niemand kann sich wirklich vorstellen, wie sich „Leben 1571“ angefühlt hat: Also mit 14 Geschwistern groß zu werden und die Hälfte davon verstirbt, bis man zehn ist, und weiter auf dem Weg verstirbt noch einmal ein Dreiviertel der Leute, die man kennt, und mit 30 ist man dann selber tot – ich glaube, das ist etwas, das wir uns nicht vorstellen können. Da kann ich mich auch nicht hineinversetzen, wie das zum Beispiel eine Normalität bekommen kann. Magdalena Zorn: Wir bleiben bei der Zeit, in die man sich hineinversetzt, und bei der historischen Figur, die fiktionalisiert wird: Wir gehen einmal zum Hamlet und Anno Schreier über. Zwischen Shakespeares Hamlet und deinem Hamlet, Anno, gibt es sicher Unterschiede. Ich denke bei Hamlet zunächst an „Sein oder 86

Möglichkeiten und Grenzen der Empathieerzeugung - Podiumsdiskussion

Nichtsein“, den berühmten Monolog, der etwas allgemein Menschliches impliziert. Wird da die Empathie seitens der Rezipierenden geradezu herausgefordert? Anno Schreier: Ich glaube, in meinem bzw. unserem Stück sind es auch eher relativ unsympathische Figuren, aber die können ja auch Empathie herausfordern. Empathie muss ja nicht heißen, dass man sich mit jemandem positiv identifiziert. Auch das Negative, also das Unsympathische und das Abstoßende, kann zu so etwas führen, denke ich. Aber in der Oper – da fängt das Vermittlungsproblem schon an. Ihr (Schreier wendet sich an Mahlke und Stamm) könnt ja beide wunderbar darüber reden, wie Ihr Eure Personen erfindet und so weiter, weil das einen realistischen bzw. irgendeinen konkreten anschaulichen Hintergrund hat. Wenn du (Peter Stamm) z.B. beschreibst, wie du eine Figur entwickelst – das funktioniert bei der Musik nicht so gut. Da muss man natürlich auch differenzieren. Derjenige, der das Libretto für Hamlet geschrieben hat, der könnte das vielleicht besser beantworten. Ich denke auch, dass Oper sowieso keine Kunstform ist, die zur Identifikation mit den Figuren einlädt, weil das solche übertriebenen Zuspitzungen – von Archetypen letzten Endes – sind. Das Einzige, worüber man vielleicht einer Figur näherkommt, ist dann vielleicht doch die Musik selbst; indem sich über die Musik, über die Art und Weise, wie solche Figuren dann musikalisch gestaltet sind, die Figuren sozusagen mitteilen. Aber wie das genau vonstattengeht? Da müsste man jetzt überlegen, wie sich der Text zur Musik verhält und so weiter. Jetzt selbst zu analysieren, wie sich das in meiner Oper tatsächlich ausprägt, ist schwierig. Eigentlich kann ich nur etwas darüber sagen, wie ich das handwerklich gemacht habe. Ich denke mir eigentlich immer, dass die Musik unterschiedliche Aggregatzustände annimmt. Das konnte man vielleicht bei dem Beispiel, das wir vorhin gehört haben, erkennen. […] Es gibt z.B. einen aufgewühlten Gestus und dann gibt es einen quasi starken Gestus – vor allem am Anfang, den wir vorhin gehört haben –, und das wechselt sich gegenseitig ab und durchdringt sich auch gegenseitig. Das sind eigentlich Zustände, die die vom Orchester gespielte Musik annimmt und die Personen bewegen sich innerhalb dieser Zustände. Wie eine Art Wasserbecken, in das man etwas hineinfallen lässt und dann sieht, wie es sich darin verhält. So mache ich das eigentlich. Ich überlege mir also erst einmal für eine szenische Situation einen musikalischen Gestus und dann werden die Figuren dort sozusagen hineingelegt und verhalten sich dann einerseits zu dem musikalischen 87

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Umfeld und natürlich zu den anderen Figuren. Das Verhalten ergibt sich also eigentlich immer aus einer Situation. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich mir eine Figur überlege, z.B. Hamlet, und diese vom Anfang bis zum Ende des Stücks auf eine bestimmte Art zu gestalten, sondern das kommt immer auf die Situation an und ergibt sich aus den Konstellationen heraus. Magdalena Zorn: Du hast gerade davon gesprochen, dass die Figuren sich zueinander bzw. gegeneinander verhalten. Es gibt ja unterschiedliche Ebenen der Empathie: Die der Rezeption, also wie reagiert der Rezipient/die Rezipientin; es gibt die Empathie des Autors/der Autorin, die hast du (Anno Schreier) angesprochen; es gibt die Empathie der Figuren auf der fiktionalen, auf der intradiegetischen Ebene. Wie empathisch, Inger-Maria, sind deine Figuren untereinander? Inger-Maria Mahlke: Hängt von der Figur ab. Es gibt auch durchaus empathische Figuren in meinen anderen Büchern. Peter Stamm: Auch bei mir ist es ganz verschieden. Ich höre oft, dass meine Figuren kalt seien, aber das hat, glaube ich, eher damit zu tun, was ich von ihnen zeige. Ich zeige eben nicht alles – ich zeige eigentlich nur das Äußere. Diese Geschichte war jetzt ein bisschen speziell, aber meistens ist meine Idee, dass auch der Leser die Figuren lebendiger wahrnimmt, wenn er sie beschrieben bekommt wie einen Menschen, den er auf der Straße trifft. Da sieht er ja auch nicht in den Kopf hinein. Ich würde nicht mal sagen: „Sie war traurig“ oder „Sie weinte“, sondern ich sage vielleicht sogar nur: „Tränen laufen ihr über die Wangen“. Und dann muss der Leser selbst denken: „Okay, Tränen – das heißt, sie weint; das heißt, sie ist vielleicht traurig oder es ist ihr etwas ins Auge gekommen.“ Und so versuche ich einen Außenblick zu haben und trotzdem für den Leser ein Gefühl zu erzeugen, dass die Figur in seinem Kopf sehr lebendig ist. Das funktioniert, aber natürlich, so wie Inger-Maria gesagt hat, mit dem Risiko, dass diese Figur eben von jedem anders gesehen wird. Weil ich sage ja nicht, die ist so und so, sondern jeder nimmt sie wahr auf seine Art oder auf ihre Art – wie eben Menschen auch. Die einen mag man, die anderen mag man nicht. Aber eigentlich ist das eher ein Zeichen für Lebendigkeit, dass sie unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn ich einfach sage: „So und so sind sie“, und jeder muss das akzeptieren, dann sehen sie alle gleich.

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Anno Schreier: Ich würde sagen, in der Oper ist es ja nun so, dass die Figuren sich unterhalten, indem sie singen. Das macht man ja normalerweise nicht. Und das ist eigentlich die Frage: Warum singen die überhaupt? Weil sie sich in einem ständig hysterisch überdrehten Zustand befinden. Das ist für mich die Begründung für die Frage, warum jemand in der Oper singt. Das heißt, mich interessieren auch nur dann solche Stoffe und solche Geschichten, wo das dann auch der Fall ist. Das, was wir da gerade gesehen haben, diese Streitszene zwischen Hamlet und seiner Mutter, das ist ja eine Szene, wo sich das Verhältnis der Personen zueinander ständig ändert. Mit eigentlich jedem Satz, den jemand sagt, ist das wieder ein anderes Verhältnis. Also, Gertrud, die Mutter, behandelt Hamlet zum Teil wie einen Liebhaber und zum Teil wie ihren Sohn, so, als wäre er ein kleines Kind; und zum Teil aber auch wie jemanden, mit dem sie schon sehr lange zusammen ist, mit dem sie aber nicht mehr so viel anfangen kann. Das heißt, das changiert ständig. Und es hat die ganze Zeit einen sehr aufgeheizten Unterton; wie gesagt, eine Überdrehtheit oder eine emotionale Extremsituation, in der die Figuren sich ständig befinden. Das ist für mich fast so eine Art Voraussetzung, weil das eben für mich letzten Endes die Begründung ist, warum in der Oper gesungen wird. Susanne Schmetkamp: Ich greife mal die Rolle des Konfliktes auf: Es gibt nämlich in der Empathie-Debatte eine Theorie von Fritz Breithaupt, die besagt: Eigentlich sei ein Narrativ, so wie wir es in der Literatur oder in der Musik geliefert bekommen, aber auch, wenn andere uns begegnen und uns etwas erzählen, eine Voraussetzung dafür, damit Empathie in Gang gesetzt wird. Aber ein anderes, ganz wichtiges Moment sei der Konflikt. Breithaupt, der diese Theorie vertritt, sagt: Eigentlich reagieren wir dann empathisch oder sind aufgefordert, zu reagieren, und das impliziert auch diese Aktivität, die du (Peter Stamm) angesprochen hast, wenn wir einen Konflikt sehen und uns gewissermaßen entscheiden müssen und Partei ergreifen sollen […] Wir sind als Leser aufgefordert, immer wieder auch die Perspektiven zu wechseln, uns zu entscheiden, wem wir eigentlich Empathie entgegenbringen und wem nicht. […] Da würde ich auch noch mal bei dir (Peter Stamm) nachfragen, ob das nicht noch mal ein Unterschied sein könnte zur Realität, in der wir, wenn wir Menschen begegnen, zwar auch sehen, dass Tränen über die Wangen laufen und nicht mehr darüber wissen, aber bei einer Erzählung oder einem Roman lesen wir ja doch eine ganze Weile, müssen irgendwie Partei ergreifen, Perspektiven wechseln, erfahren etwas über Alois (Name einer Figur in Stamms „Der Kuss“), über 89

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Inga, etwas über Mary Grey (Name einer Figur in Mahlkes Wie ihr wollt) und so weiter und da erfahren wir doch wesentlich mehr, als oftmals im alltäglichen Leben. Und im alltäglichen Leben sind wir vielleicht auch nicht dauernd aufgefordert, Partei zu ergreifen. Peter Stamm: Ja, es ist ja auch eher Schreibtechnik. Ich meinte jetzt nicht, dass die Geschichten realistisch sind. Es ist vielleicht eher, sagen wir, wie bei einem Hopper-Bild. Da kann man auch sagen, dass das relativ gegenständlich gemalt ist, aber natürlich ist das hoch ästhetisch aufgeladen. Das stellt nicht einfach dar, was er gesehen hat, als er aus dem Fenster geschaut hat. Es kann auch passieren beim Schreiben, dass einem z.B. eine Figur entgleitet, dass man plötzlich merkt, ich empfinde keine Empathie mehr für sie, oder anders gesagt, ich interessiere mich nicht mehr für die Figur. Das ist der Tod der Geschichte, weil wenn ich mich nicht mehr in eine Figur einfühlen mag, dann will ich auch nicht mehr über sie schreiben. Also ich brauche schon dieses Interesse, nicht unbedingt Sympathie, aber dieses „mich mit dem abgeben wollen“, um überhaupt etwas Vernünftiges hinzukriegen. Susanne Schmetkamp: Oder ist das dann auch der Moment, wo man kein Verständnis mehr hat, gibt es das auch im Schreibprozess? Dass man plötzlich merkt, die Figur hat sich in einer Weise entwickelt, das war mir eigentlich gar nicht so klar und jetzt habe ich kein Verständnis mehr für sie? Inger-Maria, du hast eben gesagt, du hast deine Figuren eigentlich schon immer lieb, oder gibt es da auch Momente dieser Art, der Tod der Figur aufgrund von fehlendem Verständnis oder Empathie? Inger-Maria Mahlke: Ich hatte das bisher ehrlich gesagt noch nicht. Ich hatte bisher noch keine Figur, die ich entwickelt habe und dass sie nicht in einen Roman eingegangen ist. Von daher kann ich das schwer beantworten, also ich bin noch nie an diesen Punkt gekommen. Peter Stamm: Also, das Nicht-mehr-Verstehen wäre ja vermutlich gerade ein interessanter Moment. Weil eigentlich wartet man ja, glaube ich, beim Schreiben auf diese Momente, wo die Figuren etwas tun, sodass man sagt: „Oh.“

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Inger-Maria Mahlke: Klar, wenn sie dann die absolute Autarkie bekommen, sozusagen … Peter Stamm: Ich hatte mal eine Figur, die hat mit einer Frau geschlafen und ihr Geld dafür gegeben und ich habe gedacht: „Oh mein Gott, bist du wahnsinnig?!“ Das hat ihn nicht sympathisch gemacht, aber es hat ihn interessant gemacht. Weil, dann frage ich mich natürlich: „Warum macht er das?“ […] Publikumsfrage 1: Als Sie (Peter Stamm) Ihre Geschichte vorgelesen haben, habe ich das Gefühl gehabt, dass Sie, wie Sie vorhin auch erwähnt haben, äußere Dinge von den Figuren erwähnen oder schreiben oder lesen. Und meine Frage an Sie wäre, ob Sie von dem Leser erwarten, dass er die, wenn ich so sagen darf, psychologische Interpretation selbst vornimmt? Also, Ihre Beschreibung kam mir sehr äußerlich vor. Und das ist vielleicht genau das gewesen, was Sie gesagt haben vorhin, als Sie sagten: Sie möchten es dem Leser überlassen die Schlussfolgerung zu ziehen; warum laufen ihm oder ihr Tränen über die Wangen zum Beispiel. Also das ganze Psychologische, die Zusammenhänge, die Gedanken. Die Figuren zu empfinden, das würden Sie dem Leser bewusst überlassen?! Deswegen haben Sie bewusst vermutlich so geschrieben? Peter Stamm: Ja! Ja, weil ich glaube, dass man mit künstlerischen Mitteln Dinge ausdrücken kann, die viel komplexer sind als mit psychologischen. Darum würde ich gar nicht das Wort „psychologisch“ hier verwenden, sondern, dass Sie einfach diese Figur verstehen wie Sie sie eben verstehen. Ich meine, eine blöde aufgeklebte Tätowierung sagt so viel über einen Menschen aus, aber etwas, was man eben nicht in Worte fassen kann. Das hat mich immer in der Psychologie gestört, dass man dann irgendwie einen Menschen vor sich hat, mit dem man zwei Stunden redet und dann wird der reduziert auf eine Diagnose und kriegt ein Medikament. Und dann geht es nur noch um die Frage, ob man ihm 20 Milligramm oder 40 Milligramm davon verabreicht. Da sind zehn Leute, die vollkommen verschieden sind und alle haben dasselbe Medikament mit derselben Dosierung und man denkt: „Das kann es doch irgendwie nicht sein!“ Ich weiß schon, dass man natürlich Menschen helfen muss und dass das zum Teil auch hilft, aber im Grunde genommen hat mich das immer als ein furchtbar plumpes Mittel abgeschreckt. Da ist die Psychoanalyse natürlich schon viel subtiler. 91

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Susanne Schmetkamp: Ich greif das noch einmal auf, weil Magdalena Zorn auch am Anfang davon gesprochen hat, dass du (Peter Stamm) sehr metaphernarm schreibst. Das ist etwas, das man in jeder Rezension über deine Bücher liest. […] Ich finde deine Erzählungen und Romane evozieren aber dennoch ganz starke Imaginationen, starke Bilder. Ich würde gerne wissen: Was hast du denn gegen Metaphern? Peter Stamm: Ich habe nicht prinzipiell etwas gegen Metaphern. Also erst einmal finde ich, sind Metaphern wie Salz: man muss sie sorgfältig und nicht zu oft verwenden. Und sie lenkt natürlich immer die Aufmerksamkeit auf den Text, auf die Sprache, und das will ich nicht. Ich wollte nie Texte schreiben, die als Texte wirken, sondern ich wollte eben praktisch mit einem Text eine Wirkung erzielen im Kopf des Lesers, die über den Text hinausgeht. Das ist Geschmackssache. Ich mag auch Literatur, die anders arbeitet, aber mich persönlich hat es nie interessiert, einfach zu sagen: „Schau mal, was für tolle Metaphern ich mache! Wie viele Worte ich kenne! Wie komplex ich die Sätze bauen kann!“ Vielleicht auch, weil ich es einfach nicht kann. Publikumsfrage 2: Das ist eigentlich keine Frage, sondern etwas Grundsätzliches, das sich an Sie alle drei richtet. Ich möchte gerne mit Ihnen als Komponist (Anno Schreier) anfangen: […] Die Musik erreicht den Menschen auf einer anderen Ebene als das Wort. Wenn ich so eine Oper im Radio höre und sie nicht sehe und auch nicht die Worte dazu habe, würde ich sie, glaube ich, wahrscheinlich abschalten, weil es mir zu anstrengend ist, aber diese Gesamtheit an Eindruck, das Räumliche, das Akustische, das Optische, all das und die Worte, all das trägt dazu bei, […] dass es mich erreicht. […] Musik trägt! Ja, Musik ist sehr aufgeladen. Anno Schreier: Das freut mich sehr, dass Sie das so sehen. […] Man neigt heute dazu, das Visuelle etwas überzubewerten. Viele Leute konzentrieren sich zunächst auf das, was sie sehen, weil man sich daran irgendwie besser orientieren kann. Und die Musik wird dann manchmal nur als so eine Art Hintergrund wahrgenommen. […] Ich habe das schon oft erlebt, dass dann Leute sagen: „Ja, die Inszenierung war so toll und das Bühnenbild war so toll und so, und die Musik, naja, da habe ich jetzt nicht so drauf geachtet irgendwie.“ […]

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Publikumsfrage 3: Also, wenn ich Ihr (Inger-Maria Mahlke) Buch lese, dann würde ich es mir laut vorlesen, weil gerade heute Nachmittag hatten wir diskutiert, wie man solche Emotionen auch transportiert, also wie sie auch von einer Person oder aus einem Buch zum Leser kommen. Sie hatten das extrem gut gezeigt, wie sie gelesen haben, sie haben das körperlich mitgeliefert irgendwie. Also, der Rhythmus der Sprache, den ich sicher so lesen und empfinden würde, wenn ich selber lesen würde. Aber es war schön, das so zu erleben. Also, ich wollte einfach sagen: Was materiell im Text vorhanden ist, ist auch noch einmal ein Vehikel für etwas ganz Anderes. Vielleicht etwas, was einfach die Empathie dann verstärkt?! […] Publikumsfrage 4: Ich habe eine Frage zu diesem Kommentar, nämlich zur Prosodie, also zur Musik der Sprache; also, wie man etwas sagt. Zum Bespiel: „Die Vorlesung war sehr interessant.“ Und je nachdem, wie man das sagt, liefert man andere Informationen. Und an Anno Schreier habe ich eine Frage: Wie interagieren Musik und Sprache? Und dann die zweite Frage an die beiden Autoren: Wie drücken Sie diese prosodischen Aspekte im Text ganz bewusst aus? Lassen Sie da manche Stellen sozusagen ganz bewusst frei? Damit der Leser in beliebiger prosodischer Art bestimmte Äußerungen vorlesen kann? Anno Schreier: Zum Verhältnis von Text und Musik: Es ist ja so, dass das Libretto in so einem Fall zuerst geschrieben wird und dann vertone ich das; ich orientiere mich schon sehr am Sprechrhythmus. Es ist letzten Endes ein handwerkliches Problem: wie schreibt man für Sänger so, dass man den Text dann noch versteht; man muss aufpassen, dass das Orchester dann nicht zu viel gleichzeitig noch macht, weil man die Sänger dann nicht mehr hört und so. Und es gibt immer wieder diese Ausbrüche daraus; also, wo es dann in etwas Arioses, also in Melodiebögen ausbricht, die dann mit dem Sprechrhythmus nichts mehr zu tun haben, sondern die dann nur einer musikalischen Logik folgen, oder einer musikalischen Entwicklung. Das ist natürlich eine bestimmte Art, den Text zu vertonen, die kennt man seit Ende des 19. Jahrhunderts, da hat sich der Parlando-Stil entwickelt. So nennt man die Textvertonung, bei der die Musik relativ nah am Sprechtext ist,. Also bei Richard Strauss zum Beispiel sieht man das ganz oft. Und daran orientiere ich mich so ein bisschen.

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Inger-Maria Mahlke: Also ich habe das bei diesem Text (Wie ihr wollt) versucht zu machen und der Text hat zwei Ebenen. Ich weiß nicht, ob man das gemerkt hat: Die Figur (Mary Grey) ist kleinwüchsig. Das ist für mich ein Bild für Feminismus sozusagen, es geht dabei um Gendertheorien. Und sie hat diese Tagebuchseiten, die ich vorgelesen habe, und die sind sehr wütend. Es sind sehr kurze Worte, extrem kurze Sätze und sehr viele, sehr harte Konsonanten am Anfang. Da habe ich wirklich drauf geachtet, viele ‚k‘s, viele ‚t’s…. Und dann gibt es einen zweiten Teil, und das ist sozusagen der, in dem sie versucht, Raum zu gewinnen, also ihren Körper zu vergrößern, und das ist sozusagen eine Form der bewussten Entäußerung. Da sind diese Listen, da ist Materialsammlung für einen Bericht, den sie dann nie schreibt. Und da sind sozusagen die Sätze sehr viel länger und ich habe immer versucht, dann Worte mit viel ‚a‘ zu nehmen, die sozusagen viele solche Bewegungen machen (beschreibt mit ihrer Hand eine Welle). […] Peter Stamm: Meistens sind das, wie vermutlich in allen Künsten, intuitive Entscheidungen: Wo bin ich kurz, wo bin ich lang? Ich habe zum Beispiel einen Hang zu hässlichen Wörtern: „Blattglanzspray“ oder „ein Beutel Mischsalat“ oder so schreckliche Worte, die aber an gewissen Stellen dem Text guttun. […] Es kann nicht immer alles nur schön sein im Text. Und das – klar! –, das ist ein ganz starkes Mittel. Und natürlich ist das Vorlesen wichtig. Weil Sprache ja erst einmal etwas Gesprochenes ist. Eigentlich ist es ja künstlich, dass wir das Zeug aufschreiben. Eigentlich müssten wir es immer nur vorlesen und alle müssten sich selbst auch immer alles laut vorlesen, man müsste Texte immer nur hören. Und darum ist es auch richtig und wichtig, dass Autoren versuchen, ihre Texte anständig zu lesen. Susanne Schmetkamp: Als Schlussfrage an alle möchte ich zur ethischen Seite der Empathie kommen. Eine These, die immer wieder diskutiert wird, lautet, dass wir Empathie auch lernen und kultivieren können durch Literatur und Kunstformen wie auch durch Musik, durch Oper usw. Und das greift den Gedanken vom Anfang auf, als ich gefragt habe: Welche Rolle spielt Empathie für euch? Ist Literatur und Kunst auch ein Übungsplatz? Oder würdet ihr sagen: Nein, das geht mir zu weit, das möchte ich eigentlich nicht für meine Literatur in Anschlag bringen?

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Inger-Maria Mahlke: Nein, ich finde das hat eine gewisse Gefahr. Und zwar: Klar kann sich der Leser dann empathisch fühlen, wenn er mit der Figur sozusagen mitfühlt, aber das darf keine Empathie im echten Leben ersetzen! Also ich finde, da ist so eine Gefahr, dass das dann so eine Art Ventil wird. „Ich bin ja empathisch, ich fühle ja mit den Figuren mit.“ Allerdings ist der Vorgang, mit einer Figur mitzufühlen, natürlich eine vollkommen sichere, harmlose – im wahrsten Sinne des Wortes – Sache. Empathie im richtigen Leben ist viel anstrengender, viel herausfordernder, viel verletzender. Das ist ein ganz anderer Vorgang meiner Meinung nach. Wir Autor*innen emulieren den nur. Und darum kann man, glaube ich, in der Kunst nicht Empathie für das richtige Leben lernen, weil sie im Leben eine ganz andere Herausforderung darstellt. Anno Schreier: Bei Kunstrezeption geht es darum, dass man mit dem Fremden umgeht. Man trifft auf etwas, das man noch nicht kennt, und man muss damit irgendwie umgehen. Man kann das natürlich ablehnen, das ist auch eine Art des Umgangs damit, aber es geht zunächst einmal hauptsächlich darum, dass man mit Dingen konfrontiert wird, die man noch nicht kennt und zu denen man sich irgendwie verhalten muss und dann antworten muss darauf. Kunstwerke produzieren dauernd eine Art künstliche Krise, in die man den Zuschauer dann mit hineinwirft, durch diese Konfrontation mit dem Fremden, das er noch nicht kennt. Und da kann man jetzt natürlich unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus ziehen […]; vielleicht geht es schon darum, dass man daraus was lernen kann. Also: Wie verhält man sich gegenüber Dingen, die einem zunächst einmal fremd sind? Peter Stamm: Es sind zum Teil auch Extremsituationen; wir haben alle vermutlich viel mehr Morde im Film erlebt als im realen Leben. Viel mehr zerbrochene Liebesgeschichten, viel mehr… –, ich weiß nicht was. Ich glaube, wenn es sich um gute Kunst handelt, gute Filme, gute Bücher, gute Musik, dann ist da auch eine Komplexität, die uns die Augen öffnen kann. Inger-Maria Mahlke: Ich würde auch keinen Lernprozess verweigern. Ich bin gegen diese Katharsis-Modelle, also, dass Kunst uns in irgendeiner Form heilt, besser macht oder irgendetwas dieser Art. Also wir denken jetzt bitte an alle klavierspielenden KZ-Leiter sozusagen. Die haben aus der Musik auch keine Empathie gelernt. Ich halte es für ein bisschen gefährlich, dass man reales Empathie-Lernen durch das harmlose Empathie-Empfinden in der Kunst ersetzt. 95

Autorinnenbiographien Dr. Yuki Asano ist Lehrstuhlassistentin an der Universität Tübingen am Institut für Psycholinguistik im Englischen Seminar, wo sie sich zum Thema „Mental representations and processing of pitch across languages, across varieties, in speech and nonspeech“ habilitiert. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen daneben: Psycholinguistik, Phonetik und Phonologie im Zweit-spracherwerb, experimentelle Methodik in Linguistik, statistische Datenanalyse in Linguistik und Testtheorie. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: „Discriminating nonnative segmental length contrasts under increased task demands.“ Language and Speech (2017), S. 1–21 und „‚Excuse meeee!!‘: (Mis)coordination of lexical and paralinguistic prosody in L2 hyperarticulation.“ Speech Communication (2018), 99, S. 183–200. Dr. Anja Berninger ist Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Philosophie des Geistes, der Epistemologie sowie der Kultur- und Sozialphilosophie. Anja Berninger studierte Philosophie, Musikwissenschaft und Psychologie in Bonn, Nanjing und Berlin. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Unternehmensberaterin für die Boston Consulting Group in Berlin. Sie promovierte im Jahr 2015 an der Universität Stuttgart mit einer Arbeit im Bereich der Emotionstheorie. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit dem Phänomen des kollektiven Erinnerns. Zu ihren jüngeren wissenschaftlichen Veröffentlichungen gehört die Monographie Gefühle und Gedanken. Entwurf einer adverbialen Emotionstheorie (mentis 2017). Dr. Ursula Krechel ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Sie veröffentlicht Gedichtbände, Romane, Essays, Theaterstücke und Hörspiele. 1989/90 Poetikvorlesungen an der Universität Wien, 1992/93 Poetikprofessur an der Universität Essen, Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin und am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Sie war writer-in-residence an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva, Israel und an der Washington University St. Louis, USA. Für ihren Roman Shanghai fern von wo wurde sie 2009 mit dem 97

Autorinnenbiographien

Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet; 2012 erhielt sie für ihren Roman Landgericht den Deutschen Buchpreis. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Akademie der Künste Berlin und Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Dr. Susanne Schmetkamp ist Philosophin und zurzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg an der Universität Konstanz mit einem Projekt zu „Antipathie“. Zuvor war sie Oberassistentin an der Universität Basel und Vertretungsprofessorin an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Ästhetik, Filmphilosophie, Ethik, Empathie und Philosophie der Aufmerksamkeit. Sie arbeitet an einer Habilitation mit dem Titel „Perspektivwechsel. Emotionale Eingebundenheit und Empathie in der filmästhetischen Erfahrung“. Neben ihrer akademischen Karriere hat sie viele Jahre als Kulturjournalistin gearbeitet, unter anderem für Die Zeit, die dpa und Medienkorrespondenz. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: Respekt und Anerkennung (mentis 2012) und „Gaining perspectives on our lives: Moods and aesthetic experience“. Philosophia (2017), 45(4), S. 1681–1695. Íngrid Vendrell Ferran (geb. 1976) ist Philosophin und derzeit Nomis-Fellow an der Universität Basel (Eikones). Zuvor war sie Gastprofessorin an der FU Berlin und Akademische Rätin in Jena und Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Phänomenologie, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie und Ästhetik. Unter ihren Veröffentlichungen befinden sich folgende zwei Monographien: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie (Akademie Verlag 2008) und Die Vielfalt der Erkenntnis. Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur (mentis 2018). Sie ist Mitherausgeberin folgender Sammelbände: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge [mit Christoph Demmerling] (de Gruyter 2014), Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie [mit Malte Hagener] (Transcript 2017) und On Beauty [mit Wolfgang Huemer] (Philosophia, in Vorbereitung). Dr. Magdalena Zorn ist Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Musikwissenschaft der LMU München, wo sie sich „Zur Ideengeschichte des Musikhörens“ habilitiert. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen daneben: das Musiktheater, mit dem sie im Rahmen ihrer mehrjährigen Tätigkeit als Dramaturgin, zunächst als Freie Mitarbeiterin an der Bayerischen Staatsoper München und dann in leitender Funktion am Theater St. Gallen/Schweiz, auch praktisch in 98

Autorinnenbiographien

Berührung kam; ferner Fragestellungen der Musikästhetik und Musikphilosophie sowie die Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Seit 2018 leitet sie das DFG-Projekt „Die Licht-Räume der deutschen Nachkriegsavantgarde: Karlheinz Stockhausen und die Künstlergruppe ZERO“. Unter ihren Veröffentlichungen befinden sich folgende zwei Monographien: Die „MISSA“ (1984–87) von Dieter Schnebel. Das Experiment einer Versöhnung (Wolke 2012) und Stockhausen unterwegs zu Wagner (Wolke 2016).

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Empathie ist in den vergangenen Jahren zu einem der zentralen Begriffe in Gesellschaft und Wissenschaft geworden. Steht er für die einen für das Vermögen von Personen oder gar einer ganzen Gesellschaft, fremden Perspektiven, Erfahrungen und Gefühlen sensibel und nachfühlend zu begegnen, ist Empathie für die anderen ein leerer Begriff oder ein fehlgeleitetes Prinzip. In diesem Band wird „Empathie“ kritisch, historisch und semantisch aus ästhetischen Blickwinkeln betrachtet: Untersucht werden die Funktion und der Wert der Empathie in unserem Umgang mit Musik, Literatur, Film und Sprache. Braucht es Empathie, um sich in Klänge, Melodien, Performer einzufühlen? Gehen wir empathisch mit fiktionalen Charakteren mit? Wie reagieren wir empathisch gegenüber Sprache und ihren Rhythmen?

Fra nz S tein er V erla g

Was genau heißt in all diesen ästhetischen Kontexten eigentlich Empathie? Der Band enthält eine differenzierte Zusammenstellung aus aktuellen wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven zum Thema. Susanne Schmetkamp ist promovierte Philosophin und forscht an den Universitäten Basel und Konstanz über Filmästhetik, Empathie, Perspektivität und Aufmerksamkeit. Magdalena Zorn ist promovierte Musikwissenschaftlerin und habilitiert sich in München zur Ideengeschichte des Musikhörens. Beide sind Mitglieder der Jungen Akademie | Mainz, die 2016 als Format zur Nachwuchsförderung von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur ins Leben gerufen wurde. Die Junge Akademie unterstützt den wissenschaftlichen Nachwuchs bei der Weiterverfolgung seiner akademischen Laufbahn und bietet ihm dabei die Möglichkeit, sein Netzwerk im Zeichen der Interdisziplinarität zu erweitern.

www.st einer-verl ag.de

ISBN 978-3-515-12283-2

ISSN 2627-079X