Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim [Reprint 2012 ed.] 9783110910315, 9783484321229

In Ludwig Achim von Arnim (1781-1831), the deeply unsettling experiences of crisis in the period of revolution and war a

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Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim [Reprint 2012 ed.]
 9783110910315, 9783484321229

Table of contents :
I. Einleitung
1. Gesellschaftsstruktur und Semantik
2. Zum Aufbau
3. Ästhetische Utopien
II. Zwischen Kunst und Krieg: Arnims Lebenswelt im Spiegel von Briefen und Aufsätzen
1. Phänomenologie und Ideologie: Zwischen Beschreibung und Bedeutung des Krieges
2. Kunst und Krieg als effektive und legitime Mittel der Politik
III. Von Volksliedern
1. Der Niedergang der Zeit: Ursachen und Folgen der Französischen Revolution
2. Textfortschreibung im Wunderhorn und im Wintergarten
3. Die Utopie des Ästhetischen: Volkslieder als Medikation – Der Wintergarten als Anschlußprojekt zum Wunderhorn
4. Die bedingte individuelle Verfügbarkeit von Geschichte: »Consiliis hominum pax non reparatur in orbe«
IV. Parallelen des Wintergartens zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
1. Volk, Geselligkeit und ästhetische Erziehung in den Unterhaltungen
2. Die Unterhaltungen als struktureller Prätext des Wintergartens
V. Der Wintergarten: Gemeinschaft und Individualität
1. Die Rahmenhandlung im Wintergarten
2. »Historisch-romanto-völkero-liederischen Sachen«: Das ›Volk‹ als Zielutopie
3. Die Kommunizierbarkeit von Individualität
4. Utopische Manifestationen – Vom abgeschotteten Provisorium zur ästhetischen Antizipation
5. Die utopisch-anachronistische Konzeption des Wintergartens
6. Die Utopie des Ästhetischen im Wintergarten
VI. Das Anton-Fragment
1. Der neue Fokus auf die Individualitätsthematik im Kontext des Entwicklungsromans
2. Anton-Fragment im Kontext der Forschung
3. Abenteuergeschichte und Individuationsprozeß: Entwicklungselemente im Ur-Kronenwächter-Text
4. Der Nachtrag: Skizzen zum Inhalt der ›Bildungs‹-Utopie
5. Die Bildungsthematik als Anweisung auf die Zukunft: Die Interferenz zwischen Roman-Fragment und Nachtrag
6. Zyklische Aspekte des Geschichtsbildes im Anton-Fragment
VII. Die Kronenwächter
2. Das erste Buch der Kronenwächter
3. Das zweite Buch: Die invertierte Utopie
4. Die invertierte Zeitutopie
5. Die ästhetische Utopie und die Utopie des Ästhetischen
6. Der Krieg im Bedeutungsnetz der Texte und der Wandel der ästhetisch vermittelten Utopien und der Utopien des Ästhetischen: Vom Kriegsappell zum Krieg als Symbol innerhalb der Handlung
7. Seltsames Begegnen und Wiedersehen und der Tolle Invalide im Kontext der Kronenwächter
VIII. Die Kronenwächter und Die Einquartierung im Pfarrhaus
1. Die gescheiterte Familienzusammenführung als asymptotische Annäherung an eine implizite utopische Konstruktion in der Druckfassung der Einquartierung
2. Die Einquartierung im Pfarrhaus im Kontext ihrer Vorstufen: Inhaltliche Verschiebungen
IX. Über die Potentialität der Kriegszeit: Die Welt im Sprung
X. Literaturverzeichnis
1. Verwendete Abkürzungen
2. Primärliteratur
3. Forschungsliteratur

Citation preview

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 122

Claudia Nitschke

Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Meinem Mann Göran und meinen Eltern Monika und Jürgen

Domagalski

D21 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-32122-9

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http .//www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: Laupp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

Einleitung

1

ι. Gesellschaftsstruktur und Semantik

15

2. Zum Aufbau

27

3. Ästhetische Utopien 3.1. Utopie als Gattungszitat 3.2. Ästhetische Utopien und Utopien des Ästhetischen . . . 3.3. Historizität des utopischen Denkens: Zeitgenössische Wandlungsprozesse der Utopie - Die Zeitutopie als zeitgenössische semantische Strategie

29 29 32

36

Zwischen Kunst und Krieg: Arnims Lebenswelt im Spiegel von Briefen und Aufsätzen

40

ι. Phänomenologie und Ideologie: Zwischen Beschreibung und Bedeutung des Krieges 41 1.1. Krieg als »moralische Anstalt«: Eine Utopie des Krieges? 47 1.2. Der Krieg als gemeinschaftsbildende Kraft 53

III.

2. Kunst und Krieg als effektive und legitime Mittel der Politik 2.1. Utopien des Ästhetischen im Kontext des Wintergartens 2.2. Patriotische Verpflichtung und Bewährung: Die Konzepte Dichter/Held im situativen Abgleich . . .

60

Von Volksliedern

64

55 55

ι. Der Niedergang der Zeit: Ursachen und Folgen der Französischen Revolution 2. Textfortschreibung im Wunderhorn

64 und im Wintergarten

...

71

3. Die Utopie des Ästhetischen: Volkslieder als Medikation Der Wintergarten als Anschlußprojekt zum Wunderhorn . . .

74

4. Die bedingte individuelle Verfügbarkeit von Geschichte: »Consiliis hominum pax non reparatur in orbe«

79

V

IV. Parallelen des Wintergartens zu den Unterhaltungen Ausgewanderten

V.

deutscher 84

ι. Volk, Geselligkeit und ästhetische Erziehung in den Unterhaltungen

84

2. Die Unterhaltungen

97

als struktureller Prätext des Wintergartens

Der Wintergarten: Gemeinschaft und Individualität

102

ι. Die Rahmenhandlung im Wintergarten

106

i . »Historisch-romanto-völkero-liederischen Sachen«: Das >Volk< als Zielutopie 2.1. Das >Volk< in Von Volksliedern 2.2. Das >Volk< als Zielutopie: Preußen oder Deutschland? . 2.3. Der Wintergarten als internationale Novellensammlung zur Hebung des >deutschen< Volkstums 2.4. Die anachronistisch konzipierte Erreichbarkeit von Gemeinschaft in Von Volksliedern 3. Die Kommunizierbarkeit von Individualität 3.1. Individualität und Liebe: Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium 3.1.1. Die Liebesgeschichte des Kanzlers Schlick und der schönen Sienerin: Eurial und Lukrezia 3.1.2. Albert und Concordia 3.1.3. Altdeutsche Landsleute: Arbogast von Andelon und Elisa von Portugal, Albrecht von Werdenberg und Amisa von Ponazari 3.1.4. Mistris Lee 3.1.5. »Der Durchbruch der Weisheit« 3.2. Die zeitutopische Dimension der Liebe in der Rahmenerzählung: Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und/oder als Ausgleichsmedium im Zeichen einer symbolisch zeitutopischen Konstruktion

109 109 120 122 128 138 138 145 156

168 174 182

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4. Utopische Manifestationen - Vom abgeschütteten Provisorium zur ästhetischen Antizipation 4.1. Die ästhetische Antizipation in der Päpstin Johanna ...

198 205

5. Die utopisch-anachronistische Konzeption des Wintergartens

209

6. Die Utopie des Ästhetischen im Wintergarten 6.ι. Die Ambiguität der Utopie des Ästhetischen 6.2. Wahre vs. betrügerische Kunst

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VI

6.3·

Die additiv-komplementäre Präsentation von Kunst und Krieg: Die Figuren in der Rahmenhandlung und den Erzähleinlagen 6.3.1.Arie l 6.3.2. Nelson und Meduse VI.

226 226 232

Das Anton-Fragment

236

ι. Der neue Fokus auf die Individualitätsthematik im Kontext des Entwicklungsromans i . i . Die Individualutopie: Bildung als zeitutopischer Ausgleichsprozeß mit der Gesellschaft

238

2. Anton-Fragment im Kontext der Forschung

247

236

3. Abenteuergeschichte und Individuationsprozeß: Entwicklungselemente im Ur-Kronen wächter-Text 3.1. Anna, Susanna und die zärtliche Gestalt: Ausgangsund Zielkonstellation 3.2. Anton und die Kunst 3.3. Antons Bildungsweg zwischen Schicksal und Intrigen, individueller Freiheit und charakterlicher Determination

251 255 266

270

4. Der Nachtrag: Skizzen zum Inhalt der >BildungsDeutschland< exportiert wurden: Die unterschiedlichen Kriege (Koalitions-, Eroberungs- und >BefreiungsKrieg< transportierte Beurteilung der Kriegszeit und die zu untersuchende Auswirkung eben dieser realen Kriegszeit auf den Text fließen im Titel zusammen und bezeichnen auf diese Weise zugleich die konstitutive Fragerichtung der Arbeit. Wenn dabei der Krieg als Moment einer textinternen Auslegung des Zeitgeschehens ernstgenommen werden soll, kann sich die literaturwissenschaftliche Interpretation nicht auf eine beobachtende Bestandsaufnahme auf der Handlungsebene beschränken. Die Frage, wie der literarische Text auf die interpretatorische Herausforderung des gewaltsamen Umbruchs und des Neugestaltungsanspruchs in der Revolutions- und Kriegszeit antwortet, 3 muß deshalb - mithilfe eines adäquaten methodi3

Während

ohne

gravierende

gesellschaftlich-strukturelle Veränderungen

der

sozial generierte Habitus der Akteure - verstanden als System »strukturierte)/] Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip v o n Praxisformen und Repräsentationen« (Pierre Bourdieu: E n t w u r f einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, S. 1 6 5 ) - eine routinierte und »erfahrungsentlastende« (Martin Seel) O r i entierung in der gesellschaftlichen Welt ermöglicht, bedeutet die Konfrontation mit Revolution und Krieg für den sozialen R a u m und die in ihm situierten A k teure in der Regel einen gewaltsamen Einschnitt, der die bisherige »geregelte Improvisation« (Bourdieu) des habituellen Einstellungssystems fragwürdig und eine Neudisposition notwendig macht. Jede Veränderung des sozialen Dispositionssystems basiert insofern auf Erfahrungen, die mit den bisher bewährten Deutungsmustern

brechen

und

den

Akteuren

erneuerte

Wahrnehmungs-,

D e n k - und Handlungsschemata an die H a n d geben. Martin Seel betont bei diesem V o r g a n g der Erfahrung - im Gegensatz zu der nichterfahrenden G e w ä r tigkeit, d. h. der »geregelten Improvisation« nach Bourdieu - »zum einen seine

2

sehen Instrumentariums 4 - über die umfassende deskriptive Erfassung der Kriegs- und Krisenthematik hinausgehen. Dieser »textstrategische«! F o kus erweist sich im besonderen mit Blick auf die Texte Ludwig Achim von Arnims als lohnend, 6 insofern sich Arnim 7 - als politisch-gesellschaftlich engagierter Zeitzeuge 8 - bis weit in die Restaurationszeit an der

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6

7

8

besondere Zeitlichkeit - das Merkmal diskontinuierlicher Prozessualität [...] zum andern ein mehrseitiges (kognitives, volitives und emotives) Sicheinstellenmüssen auf den problematischen Gegenstand von Erfahrung. [...] Eine Erfahrung, die gemacht werden will im Unterschied zu den Kenntnisnahmen, die uns in geübter Folge leise oder laut begleiten, setzt ein mit dem Erlebnis der Fraglichkeit einer bis dahin fraglosen Orientierung in beliebigen Situationen; sie vollzieht sich insgesamt als ein Prozeß des Findens einer Antwort auf den Verlust der Fraglosigkeit«. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a.M. 1997, S. 82. Vgl. dazu das folgende Kapitel. Vgl. zu diesem Begriff Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots, Trier 1989, S. 34. Um die Umwälzungen zwischen Koalitionskriegen und Restaurationszeit in ihren Konsequenzen auf die textliche und ästhetische Bearbeitung (bzw. Ausblendung) beobachten zu können, wird in diesem Zusammenhang keine breite Annäherung über eine repräsentative Auswahl von (über Alter, Geschlecht, Stellung, Herkunft etc. sozial unterschiedlich und/oder ähnlich situierbaren) Autoren an zeitliche Wertungsprozesse versucht, sondern die individuelle formale und inhaltliche Gestaltungsweise eines Autors fokussiert, um durch die größtmögliche >Stabilität< der Prämissen einen Blick für Nuancen und Wandlungen zu gewinnen. Er eignet sich insofern besonders für die Frage nach der Auswirkung des Krieges auf die Literatur, als für den 1781 Geborenen die Auseinandersetzung mit der Revolution nur mittelbar, nämlich in geographischer und zeitlicher Distanz stattfindet. Er begegnet also hinsichtlich der Revolution bereits einer spezifischen kulturellen Praxis, in der sich die zeitgenössische Erfahrung sedimentiert hat und spezifische Topoi und Vorstellungen auf dem Wege einer »symbolischen Vergesellschaftung« (Georg Bollenbeck) sind. Vgl. zu dem Phänomen einer bereits gedeuteten gesellschaftlichen Wirklichkeit: Peter L. Berger, Thomas Luckman: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, ^Frankfurt a.M. 1980. Dagegen erlebt er die verschiedenen Kriege der Epoche zeitlich und zum Teil auch lokal unmittelbar (d. h. zwar sozial geleitet, aber noch nicht gesellschaftlich interpretiert): Das zeitliche Fenster, durch dessen Rahmen er beobachtet, ist zugleich sein Deutungsrahmen; in welchem Ausmaß die Revolution für die Kriegsdeutung bzw. der Krieg für die Revolutionsdeutung relevant wird, bedarf dabei der interpretatorischen Klärung. Obwohl eine umfassende deskriptive Erfassung der Kriegs- und Krisenthematik nicht primäres Ziel dieser Arbeit darstellt, muß sie als Einstieg in die Interpretation geleistet werden: Trotz der anerkannten Bedeutung des Krieges für das Schaffen Arnims gibt es in der gesamten Arnim-Forschung nur wenige Arbeiten - besonders sind hier Albert Portmann-Tinguely und Wulf Segebrecht zu nennen - , die sich ausschließlich mit der Wirkung des Krieges auf bzw. seiner Beurteilung in Arnims Schriften beschäftigen, wobei die in ihrer Begren-

3

literarischen Verarbeitung der zeitgenössischen Ereignisse beteiligt, so daß neben einer synchronen Analyse auch eine diachrone Perspektive auf die (zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen) Texte möglich wird. Diese Interpretation ist nur vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Wandels der Textstruktur zu leisten, auf die man anhand der zum Teil peripheren textlichen Kriegsthematik nicht zugreifen kann.

zung auf Briefzeugnisse und journalistische Arbeiten zusammenfassende Untersuchung von Albert Portmann-Tinguely nur einen kleinen, leicht zugänglichen und interpretatorisch unaufwendigen Teil des Arnimschen Werkes abdeckt: Α. P.-T.: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und »Freiheitssängern«: Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner, Freiburg, Schweiz 1989. Mit seinem deskriptiv-analysierenden Zugriff auf Arnims politische Texte korrespondieren die Arbeiten von Jürgen Knaack und Helene M. Kastinger Riley (J. K.: Achim von Arnim - Nicht nur ein Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Mit ungedruckten Texten und einem Verzeichnis sämtlicher Briefe, Darmstadt 1976; Ders.: Achim von Arnim. Eine politische Biographie. In: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation mit unbekannten Dokumenten. Hrsg. von Roswitha Burwick, Bernd Fischer, Bern, Frankfurt a.M. New York, Paris 1990, S.9-24; H . M . K . R . : Die Feder als Schwert. Ludwig Achim von Arnims politische Aufsätze. In: Etudes Germaniques 37 (1982), S. 444-456), die bei dem Versuch einer exakten Standortbestimmung von Arnims politischem Denken natürlich nicht umhinkommen, seine philosophische bzw. lebensweltlich-private Beschäftigung mit dem Krieg zu reflektieren, dieses Unterfangen aber genau wie Portmann-Tinguely substantiell auf der Basis der journalistischen Texte und des Briefkorpus unternehmen: Bernd Fischers Analyse politischer Wertung bei Arnim erfolgt zwar in Konzentration auf poetische Texte (B. F.: Literatur und Politik. Die Novellensammlung von 1812 und das Landhausleben von Achim von Arnim, Frankfurt a.M. 1983), beschäftigt sich allerdings nicht mit dem Krieg; Wulf Segebrechts auf das Phänomen Krieg zugespitzte Fragestellung und ihre konzise Erschließung in Arnims Wintergarten (W. S.: Die Thematik des Krieges in Achim von Arnims Wintergarten. In: Aurora 45 (1985), 8 . 3 1 0 - 3 1 6 ) dagegen greift nur einen kleinen Ausschnitt heraus. Dabei gelingt ihm insofern eine überzeugende Analyse des Phänomens, als er die Binnenerzählungen als Exempel eines zeitbedingten poetischen und geselligen Erneuerungsprogramms begreift und interpretiert. Peripher streifen auch andere Untersuchungen den Gegenstandsbereich des Krieges, jedoch eher mit einem Blick auf die geschichtsphilosophischen Dimensionen oder unter einer methodisch-interpretatorischen Prämisse, die den Krieg hauptsächlich als romaninternes Phänomen betrachtet bzw. die zeitbedingten Umstände sinnstiftend textlichen Aspekten zuordnet. Besonders Heinz Günter Hemstedt: Symbolik der Geschichte bei Ludwig Achim von Arnim, Göttingen 1956. Hans Vilmar Geppert: Achim von Arnims Romanfragment Die Kronenwächter, Tübingen 1979. Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der Kronenwächter, Tübingen 1990. Ernst-Ludwig Offermanns: Der universale romantische Gegenwartsroman Achim von Arnims. Die Gräfin Dolores. Zur Struktur und 4

Dagegen bilden die utopischen Konstruktionen einen integralen Bestandteil der zu behandelnden Texte und liefern zugleich ein komplexeres Bild der Krise; in ihnen wird Arnims Zeitperspektive greifbar, 9 insofern

9

ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Köln 1959. Margarete Elchlepp: Achim von Arnims Geschichtsschreibung Die Kronenwächter. Ein Beitrag zur Gattungsproblematik des historischen Romans, Berlin 1966. Bekannt - vor allem dank Körners Korrespondenz mit Franz Kafka - ist auch der thematisch relevante Aufsatz von Josef Körner; vgl. dazu Heinz Härtl: Zu Kafkas Briefen an Josef Körner über Arnim. Mit Körners Artikel Achim v. Arnim und der Krieg als Anhang. In: Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Klaas-Hinrich Ehlers u. a, Frankfurt a.M., Berlin, Bern u. a. 2000, S. 321-346. Zu dieser engen Korrelation von geschichtlicher Situation und utopischer Konstruktion vgl. Karl Mannheim: Mit Ideologie und Utopie versucht Mannheim auf wissenssoziologischer Basis, eine Form des Utopischen zu konstruieren, die eine Rückbindung an die sie hervorbringende Zeit unumgänglich machte, indem er von einem utopischen Bewußtsein ausgeht, »das sich mit dem es umgebenden >Sein< nicht in Deckung befindet« (Karl Mannheim: Utopie und Ideologie, Frankfurt a.M. 1965, S. 169) und unter dieser utopischen wirklichkeitstranszendenten Orientierung eine Haltung versteht, die »in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt.« Ebd. In dieser realitätsüberschreitenden Komponente, deren einziger Beleg die faktische Umsetzung des Anvisierten darstellt, sieht Mannheim den Unterschied zur Ideologie, die ihrerseits zwar auch seinstranszendent ist, aber de facto niemals zur Verwirklichung des in ihr vorgestellten Gehaltes gelangen wird: »Jede historische Seinsstufe war stets umwoben von Vorstellungen, die dieses Sein transzendierten, sie wirkten aber nicht als Utopien, vielmehr als zu dieser Seinsstufe gehörende Ideologien, solange sie in das zu ihr gehörende Weltbild >organisch< (d. h. ohne umwälzende Wirksamkeit) eingebaut waren.« Ebd. Utopien unterscheiden sich von Ideologien insofern, als es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit in die Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren. Mannheim schließt eine prinzipielle Unrealisierbarkeit aus seiner Definition aus, da Utopien immer nur von der jeweiligen Seinsordnung aus betrachtet unrealisierbar scheinen: Utopien sind zwar Gegenbilder zur jeweiligen Realität, dieser aber (eben auch in der zeitgenössischen Einschätzung ihres Realisierungspotentials) durchgehend verpflichtet, wobei Mannheim unter allem »absolut Utopischen« alltagssprachlich abwertend das Unrealisierbare faßt: »Wir wollen im folgenden, sooft wir schlechtweg von Utopie reden, stets die bloß relative, d.h. nur die von einer bestimmten bereits da seienden Stufe her als unverwirklichbar erscheinende Utopie meinen.« Ebd., S. 173. Nach Mannheim haben aber sogar realitätsferne Utopien die kritische Funktion, eine Verabsolutierung des gegenwärtigen Zustandes hypothetisch zu verhindern, während die Ideologien affirmativ den status quo zu bewahren versuchen. Um die geschichtliche Gebundenheit der verschiedenen utopischen Bewußtseinszustände zu plausibilisieren, zeichnet Mannheim den neuzeitlichen Gestaltwandel des utopischen Bewußtseins nach, dessen für verschiedene historische Situationen signifikante Entwicklungsstufen er vom orgiastischen Chiliasmus der Wiedertäufer, über die liberal-humanitäre Idee, die konservative Idee, die sozialistisch-kommunistische Utopie bis hin zum amerikanischen Bewußtsein 5

sie in ihrer Gegenbildlichkeit den defizitären Faktoren der Gegenwart positiv entsprechen (d. h. sie ex negativo benennen und in ästhetischen Visionen aufheben) und auf diese Weise als gesellschafts-historische Analyse funktionieren. Sie weisen somit eine entscheidende heuristische Qualität auf und stehen deshalb in ihrem Wandel im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Prozessierung von Erfahrung findet dabei in einer möglichen Veränderung von jenen Geschichts- bzw. Gesellschafts->Bildern< ihren Niederschlag; dieser potentiellen Dynamik ist in den Texten (vom Wintergarten über das Anton-Fragment bis hin zu den Kronenwächtern) nachzugehen. Inhalt und Form der utopischen Konstruktionen müssen dabei gleichermaßen berücksichtigt werden, da eine mögliche Deutungsverschiebung nicht zwangsläufig in einer inhaltlichen Modifikation ablesbar wird: Deshalb gilt es zunächst,10 verschiedene Utopiemodelle aus der weitgefächerten Utopieforschung zu extrahieren, mit deren Hilfe die jeweiligen Neuerungen beobachtbar werden. Im Inhalt der ästhetisch vermittelten Utopien spiegelt sich die Realität als Konstruktion; diese poetische Realitäts-Konstruktion soll hier in ihrer Semantik expliziert und - in ihrer komplexen individuellen Problemlösungsstrategie - wiederum an den zeitgenössischen historisch-strukturellen Prozeß angeschlossen werden. 11 Um die spezifische anachronistische Struktur von Arnims Texten angemessen verorten und interpretieren zu können, erweisen sich speziell für diese Untersuchung Niklas Luhmanns gesellschaftshistorische Analysen - gerade in ihrem Fokus auf die sogenannte »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck) um 1800 inhaltlich als am tragfähigsten: Damit kann Luhmanns systemtheoretischer Ausgangs-

nachzuvollziehen versucht. O h n e nun speziell auf die verschiedenen B e w u ß t seinsformen und ihre Problematik oder gar auf die höchst diffizile Unterscheidung v o n Utopie und Ideologie anhand eines nur retrospektiv anwendbaren Erfolgskriteriums einzugehen, verdeutlicht der knappe Rekurs auf Mannheim, wie stark U t o p i e n - gerade in ihrer selbstattestierten, überhistorisch anmutenden Idealität - auf historisch bedingte Bewußtseinsstufen zurückzuführen sind. 10

Vgl. dazu das Kapitel: Ästhetische Utopien.

11

D e r Anschluß an diese historisch-semantischen Überlegungen Luhmanns bedeutet keineswegs, daß Literaturwissenschaft hier unter systemtheoretischen Prämissen gehandhabt werden soll oder gar muß: Die Frage nach der C o d i e r barkeit v o n Literatur scheint eines der weniger erfolgsträchtigen Unterfangen der Systemtheorie. V g l . dagegen u. a. den Vorschlag von Gerhard Plumpe, N i e l s Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, K o n t r o versen, Perspektiven. Hrsg. v o n Siegfried J . Schmidt, Opladen 1 9 9 3 , S. 9-43.

6

punkt 1 2 natürlich nicht ausgeklammert werden; da er - trotz >supertheoretischen< Anspruchs - vor allem auf spezifische Problemvorgaben aus der Soziologie antwortet, scheint es hier jedoch sinnvoll, den Rekurs auf Luhmann auf seine semantischen Überlegungen zur Jahrhundertwende zu begrenzen. 13 Während Michel Foucault die Umwälzungsphänomene der Sattelzeit als diskontinuierlichen U m b r u c h der jeweiligen epochalen wissenschaftlichen bzw. philosophischen Ordnungschemata zu erfassen versucht (ohne dabei logische Verknüpfungen herzustellen), setzt Luhmann auf die V o r stellung von einer evolutiven Umstellung 1 4 und ermöglicht so eine strukturelle Erklärung -

ebenfalls abseits eines

empathisch-historistischen

Verstehensanspruchs. O b w o h l Stephen Holmes angesichts seines abstrahierenden und selektierenden historischen Zugriffes das »Unbehagen von Ideen- und Kulturhistorikern« 1 ' konstatiert, handelt es sich bei L u h manns historisierenden Überlegungen um eine fruchtbare Mischung aus einer tragfähigen soziologischen Theorie und ihrer

12

13

14

15

heuristisch-prak-

Zu den spezifischen Problemen der Systemtheorie vgl. Widerstände der Systemtheorie. Hrsg. von Albrecht Koschorke, Cornelia Vismann, Berlin 1999. Wie angemerkt, liegt die Systemtheorie der inhaltlichen Applikation Luhmanns trotzdem zugrunde: Der Differenzierungsformwechsel ist nur systemtheoretisch begründbar; verzichtbar erscheint allerdings die Repetition der komplexen theoretischen Grundlagen, die an dem thematischen Fokus auf eine literarisch aufgearbeitete historische Problematik vorbeigeht. Insofern bleibt hier nur Luhmanns sperrige Terminologie zur Systemumstellung um 1800 erhalten, die hier nicht reformuliert wird, da sie sprachlich auf einen komplexeren, hier nicht reproduzierbaren Hintergrund verweist. Während die Evolution bei Luhmann als ein zentraler Bestandteil der Systemtheorie erscheint, fungiert sie bei Foucault als begriffliche Kontrastfolie, vor der er sich mit seiner dezidierten Kritik evolutionstheoretischen Denkens im Sinne einer traditionellen Ideengeschichte einer Archäologie des Wissens zuwendet: Eine Evolutionstheorie, die alle historischen Veränderungen auf ein kontinuierliches Prinzip zurückführt, bleibt in seinen Überlegungen den Prämissen der zu verwerfenden Subjektphilosophie verpflichtet; die dabei jedoch kritisch fokussierten Begrifflichkeiten wie teleologische Entwicklung, Genese, Kontinuität und Prinzip werden aber bei Luhmann keineswegs toleriert oder gar in seine Systemtheorie integriert: Luhmann teilt vielmehr »Foucaults Kritik älterer evolutionstheoretischer Prämissen [...], aber innerhalb der Theorie sozialer Systeme wird diese Kritik mit evolutionstechnischen Mitteln (!) formuliert. Luhmann skizziert eine Theorie der soziokulturellen Entwicklung, in der [...] sämtliche kontinuitätstheoretischen und teleologischen Annahmen getilgt sind.« Georg Kneer: Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung. Zum Zusammenhang von Sozialtheorie und Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und Niklas Luhmann, Opladen 1996, S. 365. Stephen Holmes: Poesie der Indifferenz. In: Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Dirk Baecker, Jürgen Markowitz u. a., Frankfurt a.M. 1987, S. 15-45, hier S. 16.

7

tischen Applikation, die eben nicht deduktiv erfolgt, sondern auf auffälligen Phänomenen der Sattelzeit basiert: Die zentrale These vom Differenzierungsformwechsel erweist sich gerade mit Blick auf die vier Bände von Gesellschaftsstruktur

und Semantik,

aber auch auf Liebe

als Passion als

6

Modellfall, als »Kabinettstück« ' einer historischen Soziologie, als die sie im Rahmen dieser Arbeit relevant wird. Luhmann konstatiert für das Ende des 18. Jahrhunderts einen unumkehrbaren Übergang zu einer primär funktionalen Differenzierung der Gesellschaft 1 7 und verweist auf den Umstand, daß diese Umstellung nur ein einziges Mal (in der von Europa ausgehenden Gesellschaft) realisiert wurde:' 8 Sie läuft im späten Mittelalter an und erreicht erst gegen Ende 16 17

18

Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg 1999, S. 46. »Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet die Gesellschaft darauf, den Teilsystemen ein gemeinsames Differenzschema zu oktroyieren. Während im Falle der Stratifikation jedes Teilsystem sich selbst durch eine Rangdifferenz zu anderen bestimmen mußte und nur so zu einer eigenen Identität gelangen konnte, bestimmt im Falle funktionaler Differenzierung jedes Funktionssystem die eigene Identität selbst«. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Bde. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1998, S. 745. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Stellung des Konzepts von funktionalen Teilsystemen vgl. Renate Mayntz: Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung. In: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Hrsg. von R . M . u.a., Frankfurt, N e w York 1988, S. 1 1 - 4 4 . In der modernen Gesellschaft erfolgt die primäre Teilsystembildung korrespondierend mit spezifischen Bezugsproblemen des Gesellschaftssystems, so daß sich autonome Subsysteme herauskristallisieren, die auf die Bearbeitung jeweils einer gesellschaftlichen Funktion zugeschnitten sind; Teilsysteme erhalten also einen »Funktionsprimat«, »der aber gesamtgesellschaftlich nicht institutionalisiert und nicht durchgesetzt werden kann«. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 28. Die römische Ziffer bezeichnet in den nachfolgenden Angaben den Band, die arabische Zahl die Seitenangabe. Gesamtgesellschaftlich bleibt das Rangverhältnis der Funktionen ungeregelt: »Funktionale Differenzierung besagt, daß der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte System (also nicht: dessen Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt.« Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 74jf. In dieser Exponierung des »Ungeregelten« mag man eine - hier jedoch nicht wirksam werdende - Schwäche im Erklärungspotential von Luhmanns Theorie ausmachen: Tatsächlich wird auf diese Weise zwar eine Dominanz eines funktionalen Systems, wie sie mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse besonders hinsichtlich des Wirtschaftssystems zu unterstellen wäre, zugelassen, aber nicht erklärt - es bliebe die Frage, von welchem Standpunkt eine solche Etikettierung auch zulässig wäre. Die Beziehungen zwischen den Systemen bieten eine potentielle Angriffsfläche des Theoriegebäudes: Auch wenn sich nicht zwingend ein logischer Widerspruch ergibt, so kann die Theorie für das Phänomen einer alles infiltrierenden Wirtschaft, d.h. eines Systems, das zu den

8

des 18. Jahrhunderts einen irreversiblen Status. Für diesen Wandel selbst gibt es keine zwangsläufig

greifende Erklärung (der Zufall bleibt so gese-

hen auch hier »Motivationsrest« im Sinne Reinhart Kosellecks); es handelt sich dabei um einen »extrem unwahrscheinlichefn] V o r g a n g « , d e r aber wiederum von sich abhängige und irreversible Strukturentwicklungen auslöst." Diese unumkehrbare Systemumstellung geht mit einem Komplexitätsanstieg 21 des Gesellschaftssystems und der Kontingenz »seiner Operationen [...einher], deren Veränderung mit Änderungen der Semantik beantwortet wird.« ( 1 , 1 5 ) Die Semantik bildet auf diese Weise die strukturellen

19 20

21

meisten funktionalen Systemen in einem wie auch immer gearteten Kopplungsverhältnis steht, nur quantitative (im Sinne relevanter System-Umweltbeziehungen), aber keine qualitative Verortung (die ja Hierarchie bedeuten würde) bereitstellen: »»Ungeregelt* heißt übrigens durchaus, daß es möglich, ja wahrscheinlich ist, daß nicht alle Funktionen gleich wichtig genommen werden müssen, und daß es durchaus Tendenzen geben mag, einzelne Funktionskreise, etwa die der Wirtschaft, für besonders wichtig zu halten.« (1,28) Vgl. auch Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 77of. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 707. Vgl. dazu Luhmanns Kapitel Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. In: Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 707-743. »Ein System ist komplex, wenn es nicht mehr jedes seiner Elemente mit jedem anderen verknüpfen kann; wenn es also in der Relationierbarkeit seiner Elemente selektiv verfahren muß. Ein System ist differenziert, wenn es in sich selbst Teilsysteme bildet, das heißt in sich selbst Systembildung wiederholt, also in sich selbst nochmals Differenzen zwischen System und (jetzt: interner) Umwelt schafft.« (1,21) Uber die interne Differenzierung multipliziert sich das System insofern, als es sich selbst als Differenz von Teilsystem und interner Umwelt in einer externen Umwelt wiederholt: »In diesem Sinne ist Systemdifferenzierung Promoter von Komplexität und Anstoß für den Aufbau emergenter Ordnungen.« (1,21) Gegen die Tendenz der älteren Soziologie versteht er den Zusammenhang von Komplexität und Systemdifferenzierung also nicht länger als einen unilinearen Steigerungszusammenhang, sondern erkennt in der Form der Differenzierung eines Gesellschaftssystems die Bedingung für den jeweiligen Komplexitätsgrad. Damit erfolgen Veränderungen im Komplexitätsniveau des Gesellschaftssystems epigenetisch, ohne daß Steigerungen der Komplexität als eine sinnvolle Zielvorstellung gesellschaftlichen Handelns oder als ein normales, kontinuierlich eintreffendes Resultat gesellschaftlicher Evolution aufzufassen sind (Vgl. dazu auch Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2 Frankfurt a.M. 1988, S. 260: »Wie jede Bildung sozialer Systeme erfolgt auch systeminterne autokatalytisch, das heißt: selbstselektiv. Sie setzt keine >Aktivität< des Gesamtsystems, auch keine Handlungsfähigkeit des Gesamtsystems voraus, geschweige denn einen Gesamtplan.«): »Dank dieser Vermittlung durch Komplexität ist die Veränderung von Gesellschaftsstruktur und Semantik nicht auf Zielvorstellungen angewiesen. Die Gesellschaft entwickelt sich nicht in Richtung auf antezipierte Zustände, die man zu erreichen sucht, wenngleich in ihr aufgrund der Erfahrung und Entwicklung Zukunftsbilder auftauchen und Einfluß gewinnen mögen.« (1,2i(.)

9

Veränderungen der Gesellschaft ab und fungiert insofern als Umschlagsplatz von Antworten (responses) auf die Herausforderung der neuen historischen Situation: Sie wird zur Schlüsselstelle zwischen individueller Erfahrung, individueller Verarbeitung und einem partiellen Anschluß an sich etablierende, gesellschaftliche Deutungsmuster.

Luhmann

macht

deutlich, daß ein neues Differenzierungsprinzip bestimmte Umformungen alter Begriffe auslöst, sie sozusagen umplausibilisiert, damit sie zur neuen Ordnung passen. Es geht auch nicht nur um einen theoretisch bestimmbaren semantischen Abstützbedarf der neuen Ordnung: Sie muß sich selbst für gut halten oder vielleicht auch sich im Wege der Selbstkritik realisieren können. Das alles unterstellt, folgt aus dem angenommenen Zusammenhang von Differenzierungsform und Komplexität die sehr viel weitergehende These einer Gesamttransformation des semantischen Apparats der Kultur. (1,3 if.) D a in der zunehmend komplexen modernen Gesellschaft eine gesamtgesellschaftliche Regulierung des Verhältnisses der Funktionssysteme zueinander fehlt, weist kein Teilsystem in seiner Umweltbeziehung eine Struktur oder Symbolik auf, die das Ganze repräsentiert. Mit diesen Verschiebungen ändert sich die Stellung vom Menschen (als psychischem System 22 oder - im sozialen Kontext - als Person 23 ) in der Gesellschaft; am Rand der Gesellschaft »wird der Mensch nicht mehr als unteilbares Ganzes angesehen, sondern als Individuum vorgestellt, das einerseits als psychisches System und andererseits als Selbstbeschreibungsfolie fungiert, während die Person als Adressat einer system- und situationsspezifischen Kommunikation

figuriert.« 24

Segmentäre

und

auch

stratifikatorische

Differenzierung sind darauf angewiesen, Personen je einem

22

23

24

der Teilsys-

Unter einem psychischen System wird ein beobachteter Zusammenhang aktualisierter und potentialisierter Gedanken verstanden; Letztelemente sind dabei die Gedanken. Bei einem psychischen System handelt es sich um ein autopoietisches System. Mit dem Begriff der Person werden in der Theorie sozialer Systeme »individuell attribuierte Einschränkungen von Verhaltensmöglichkeiten« (Niklas Luhmann: Die Form >PersonMenschLiebe< - auf die spezifisch neuzeitliche Problematik des Subjekts in seiner Selbstbezüglichkeit zurück. Auch Michel Foucault weist in: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurta.M. 1991, mit seinem Episteme-Konzept einen Wandlungsprozeß nach. Sein Hinweis auf die neuzeitlichen Wissensformen, die für die (Human-) Wissenschaften das geschichtliche Apriori des Seinsverständnisses festlegen, korrespondiert mit Luhmanns These vom Differenzierungsformwechsel und verweist auf die komplexe Semantik in dieser Zeit. Revolutionen setzen in diesem Sinne eine »fundamentale Verunsicherung« des »Regelvertrauens«, »die Erosion der alten Ordnung mit der Folge einer Delegitimierung des traditionellen Institutionengefüges, insbesondere des Herrschaftssystems, voraus.« Hans-Ulrich Wehler:j Nationalismus. Geschichte Formen - Folgen, München 2001, S. 17. 12

Mit dem spezifischen Formwechsel (von der Zeitutopie zur invertierten Zeitutopie) der utopischen Konstruktion wird bei Arnim dagegen nicht primär

eine (konstruktivistische) Realität thematisiert - obwohl auch die

zeitutopische Struktur auf ein semantisches Konzept verweist 29 - , sondern der Modus der Umsetzbarkeit. Erst der analytische Blick auf die semantischen Fokusverschiebungen in den utopischen Konstruktionen der Texte erlaubt - in einem zweiten Schritt - einen Rückschluß auf A r nims Deutung und Verortung der Kriege bzw. der gesamten Kriegsphase. Ob und wie eine solche Interpretation der preußisch(-deutsch)en U m bruchszeit zwischen der preußischen Niederlage von 1806 und der Restaurationszeit in die literarischen Texte eingeht, soll schwerpunktmäßig anhand der Nachschrift Arnims zu Des Knaben 1806), des Wintergartens wächtern, wächtern

Wunderhorn

(erschienen

(erschienen 1809), der Vorstufe zu den

Kronen-

d.h. dem Anton-Fragment, den 1 8 1 7 erschienenen

Kronen-

und schließlich der 1818 verfaßten Erzählung Die

rung im Pfarrhaus

Einquartie-

(im Kontext ihrer Vorstufen) untersucht werden: 30 Es

ist augenfällig, daß sich zwischen der appellativen Inszenierung des Wintergartens

und dem resignativ präsentierten Schicksal Bertholds in den

Kronenwächtern

eine grundlegende Infragestellung des alten Realisie-

rungsimpetus vollzogen hat. Insofern ergibt sich zwischen den expliziten,

29

30

Vgl. dazu das Kapitel: Historizität des utopischen Denkens: Zeitgenössische Wandlungsprozesse der Utopie - Die Zeitutopie als zeitgenössische semantische Strategie. Es mag verwundern, daß bestimmte Texte (so ζ. B. Glinde, Halle und Jerusalem, Vertreibung der Spanier aus Wesel etc.) fehlen, in denen der Krieg eine herausragende Rolle spielt: Die Dramen werden im folgenden kaum berücksichtigt, obwohl sie (wenn sie thematisch relevant sind) die hier vorgetragenen Positionen mittragen. Der Fokus auf die genannten Texte versucht - abseits von dramatisch vorgegebenen Verlaufsformen - eine formale utopische Struktur nachzuweisen, die in den hier behandelten Texten am deutlichsten zu Tage tritt; eine beschränkende Auswahl ist aus Platzgründen unausweichlich, ohne die argumentative Zugehörigkeit einiger Texte zum hier behandelten Thema zu ignorieren: Auch mit der Gräfin Dolores (erschienen 1810) etwa liegt eine ausgesetzte Utopie vor, die im Text (im Präsens) antizipiert, aber (durch den Tod Dolores') unterbrochen wird; der appellative Charakter des Textes wird in der Schlußpassage unübersehbar: »Alle Liebe, die der Graf mit diesem Ringe der Verstorbenen geschenkt hatte, wandte er nun zu dem ewigen göttlichen Vorbilde aller Leidenden, den dieser Ring in dem Kreis der Apostel darstellte, auch fühlte er sich durch den Anblick desselben wieder erfrischt, das Leben zu ertragen und es in allen seinen übrigen Wirkungskreisen zu vollenden, erfühlte sich gestärkt, bei dem Rufe seines bedrängten Vaterlandes, sich von dem Grabe seiner Dolores loszureißen, den Deutschen mit Rat und Tat, in Treue und Wahrheit bis an sein Lebensende za dienen; ihm folgten seine Söhne mit jugendlicher Kraft.« (GD 675, Hervorhebung von C. N.)

13

impliziten und ex negativo erschließbaren utopischen Konstruktionen seiner früheren Texte ein inhaltlicher und struktureller Zusammenhang, der schließlich in der endgültigen Fassung des ersten Teils der

Kronenwächter

aufgebrochen und neu organisiert wird. Die offensichtlich veränderte Qualität der utopischen Konstruktionen in den Kronenwächtem

muß als

Verschiebung registriert und im Zusammenhang mit seinem Vorläufer, dem Anton-Fragment, und dem Wintergarten untersucht werden. Um die Strukturveränderungen in den hier zugrundeliegenden Texten beobachten zu können, werden also drei Aspekte betrachtet. Zum einen die Zielperspektive als Inhalt, die man in den hier ausgewählten Texten nur verstehen kann, wenn man auch den Entwicklungsgroman als utopische Antwort auf die Probleme der Zeit versteht.31 Dabei funktioniert das Anton-Fragment als Ubergang zwischen dem Wintergarten und den Kronenwächtern,

da in ihm die Bildungsthematik noch an einen exponierten

Volksbegriff geknüpft bleibt, der in den Kronenwächtern

schließlich aus

dem Text gekürzt wird. Der Inhalt bleibt nichtsdestoweniger in seinem Problemfokus stabil, indem er verschiedene kompensatorische Strategien für den (im Sinne der primär funktionalen Differenzierungsform) aus der Gesellschaft exkludierten Menschen entwirft. Zum zweiten muß die Form als Präsentation bzw. Inversion des zeitutopischen Schemas und zum dritten die in entscheidender Weise mittransportierten Überlegungen zur Realisierbarkeit der utopischen Konstruktionen analysiert werden. Dabei sind die Konzepte von »Machbarkeit* (Reinhart Koselleck) an bestimmte Vorstellungen von Geschichte32 geknüpft, in deren Rahmen das Maß an menschlicher Gestaltungsmöglichkeit bestimmt wird:33 Erst unter der Verknüpfung des utopischen Inhalts, seiner Form (der ästhetischen Präsentation und ihrer Negation) und dem Rekurs auf die mit den Utopien vermittelte Vorstellung von Machbarkeit läßt sich vom Wintergarten hin zu den Kronenwächtern

eine

spezifische textliche Deutung des Krieges und der Kriegszeit erkennen. Mithilfe der Kriegs- bzw. Kampfsymbolik (und den korrelativen strukturellen Verschiebungen der Texte) kann man sich wiederum schließlich neben der inhaltlichen Anamnese, dem Befund und den propagierten Therapeutika für die defizitäre Gegenwart - einen differenzierten Zugang 31

33

Vgl. dazu das Kapitel: Die Individualutopie: Bildung als zeitutopischer Ausgleichsprozeß mit der Gesellschaft. Vgl. dazu das Kapitel: Dichtung und Geschichte: Das Streben nach >Beseelung< der Geschichte. Vgl. dazu das Kapitel: Ästhetische Utopien und Utopien des Ästhetischen. 14

zu Arnims allgemeiner ästhetischer Verortung der Wendezeit zwischen Koalitionskriegen und Restaurationszeit verschaffen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind - neben den journalistischen Arbeiten, dem Briefkorpus und vor allem dem Aufsatz Von dern - auch die Unterhaltungen

deutscher Ausgewanderten,

Unterschieden und ihrer formalen Gemeinsamkeit mit dem ten - indem er das entscheidende Gebot der Unterhaltungen,

Volkslie-

die in ihren Wintergarnämlich das

»Interesse des Tages« auszuklammern, explizit reproduziert - einen aufschlußreichen Prätext zu Arnims Novellensammlung darstellen. Dabei werden die Unterhaltungen

im Kontext dieser Arbeit auf zwei Aspekte

hin verdichtet: Z u m einen verhilft der Blick auf die Unterhaltungen

zur

Abgrenzung zwischen Goethes und Arnims Verortung des Volkes; zum anderen kann Goethes Textanlage die spezifische zeitutopische Struktur des Wintergartens verdeutlichen und zugleich das utopische Potential der Zeit offenlegen, in der ein Ubersprung denkbar wird. D e r Bruch der alten semantischen Zugriffe ermöglicht die Vorstellung von etwas gänzlich Neuem, das (seiner Neuheit entsprechend) nicht konkret benannt werden kann, aber als ästhetische Antizipation am Erwartungshorizont auftaucht. In ähnlicher Weise wie in Goethes Unterhaltungen Arnims Wintergarten

erscheint auch in

und im Anton-Fragment die zerspringende Welt

um 1800 in diesem Sinne zugleich als eine Welt im Ubersprung.

ι.

Gesellschaftsstruktur und Semantik

Bei der Frage, wie konkrete oder vermittelte zeitgeschichtliche Erfahrungen in Arnims literarischer Produktion zu Sinndeutungskonzepten verarbeitet werden, richtet sich das Augenmerk zunächst auf den Aspekt der in den Bereich der literarischen Fiktion transzendierten - erfahrenen Wirklichkeit. O b w o h l intensive theoretische Annäherungen an den Zusammenhang zwischen Geschichte und Literatur zu beobachten sind etwa in der textualisierenden Vereinnahmung der Geschichte unter poststrukturalistischen Voraussetzungen ( N e w Historicism), in der schleichenden Nivellierung von Literaturtheorie und Geschichtsschreibung, die ihre Forschungsgegenstände jeweils auf die gemeinsame erzählerische Wurzel zurückführt (Hayden White), oder im Versuch, narrative und rhetorische Muster in der Geschichtsschreibung nachzuweisen (Reinhart Koselleck) - bleibt seine Erkundung insbesondere in Hinblick auf die konkreten pragmatischen Konsequenzen ein Desiderat. 34

34

»Ein Kunstwerk in seiner Zeit zu sehen, eine bestimmte Schreibweise mit ihrem

Ii

Wenn die semantischen Verarbeitungsprozesse von Zeiterfahrung hier anhand einer spezifischen individuellen Entwicklung auf der Grundlage des Arnimschen Textkorpus untersucht werden sollen, ergibt sich zunächst ein Rekurs auf die zunehmend in Frage gestellten Vorstellungen von Texteinheit, W e r k und Autor. 3 5 Ihre konstruktive Tendenz soll hier benannt, die Begriffe aber zugleich in ihrer heuristischen Funktionalität weiter verwendet werden: T r o t z Kritik und Historisierung des Terminus >Autor< scheint seine Brauchbarkeit für einen problembewußten literaturwissenschaftlichen Zugriff ebenso evident und ökonomisch, wie sich seine Infragestellung für kulturwissenschaftliche Zugänge als fruchtbar erweisen mag.' 6 Der A u t o r soll dabei nicht primär als psychologische Größe verstanden werden, sondern als pragmatische Konstruktion, die den realen A u t o r (in seinen individuell biographischen Daten) an die von ihm verfaßten Texte und vor allem auch an das sprachliche und gedankliche System der Zeit anbindet. Ein solches Autor-Konstrukt erweist sich als hilfreich, wenn der literarische Text kontextualisiert werden soll, ohne mit einem psychologisierten Erfahrungs- oder Erlebnisbegriff den A u t o r in seiner lebensweltlichen Ganzheit in den Blick zu nehmen, als die er eine black

box

bleibt. O b w o h l diese psychologische Dimension fraglos

vorhanden ist, 37 scheint sie heuristisch problematisch und nur bedingt

3S

i6

37

historischen Ort auf eine Weise zu vermitteln, die nicht banal anmutet, ist inzwischen auch bei uns das methodisch heikelste Problem jeder Interpretation.« Moritz Baßler in der Einleitung zu N e w Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hrsg. von M. B., Frankfurt a.M. 1995, S. 9. Vgl. William K. L. Wimsatt, Monroe C . Beardsley: The intentional fallacy. In: Critical Theory since Plato. Hrsg. von Hazard Adams, 2 Fort Worth u.a. 1992. Roland Barthes: La mort de l'auteur. In: R. Β.: Oeuvres complètes. Bd. 1, Paris 1994. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, F r a n k f u r t a.M. 1997, S. 3 5ff. Zum Autor als diskursiver Funktion: Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 8 - 3 1 , hier S. 20. Der hier unterstellte Modellcharakter der verschiedenen (pluralen, zum Teil komplementären und nicht konkurrierenden) Textzugriffe, der sowohl einen archimedischen Punkt der Beobachtung als auch einen totalen Explikationsanspruch ausschließt, rechtfertigt in einer pragmatischen Herangehensweise eine flexible Anwendung verschiedener theoretischer Vorgaben, die auf unterschiedliche Aspekte rekurrieren und damit verschiedene Perspektiven auf den jeweiligen Text bzw. das Textkorpus öffnen. Eine vorläufige, da zum Teil unpräzise Zusammenfassung der Kritik zum Autor in Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martinez, Simone Winko: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martinez, Simone Winko, Tübingen 1999. Hier wird auch auf die verschiedenen interpretatorischen Funktionen der unterschiedlichen Autorkonzepte hingewiesen. Arnim erkrankt Mitte April 18 ré - vor der Fertigstellung der Kronenwächter 16

brauchbar, insofern sie im Prozeß der ästhetischen Vertextung versprachlicht (also kommuniziert und dabei objektiviert), in der komplexen Textdynamik entpersonalisiert, situationsabstrakt und damit für neue Kontexte zugänglich gemacht wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Autor als (Mit-)Inventor, Modifikator, Distributor und Arrangeur von gepflegter

Semantik,38

aus deren individuell adaptierter Präsentation

der Text besteht. In diesem Sinne ist der Text selbst zugleich immer auch ein historisches Moment, das als symbolisierende Praxis in einem symbolischen Kulturzusammenhang steht und erst im Zusammenspiel mit seinen Kontexten erschlossen werden kann. Die (historische) Kultur »als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen« ist Kontext bzw. Rahmen, in dem »gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltenweisen, Institutionen oder Prozesse [...] verständlich - nämlich dicht - beschreibbar sind«.39 Jede positivistische Beobachtung kultureller Phänomene mit formalen Methoden greift zu kurz. Clifford Geertz' Rehabilitation der Interpretation für die Ethnologie gilt in einem verstärkten Maße für den komplexen literarischen Text im Kontext einer »Kultur«: Eine Analyse der semantischen Positionen im Text ist dabei an seine Eigengesetzlichkeit gebunden, auf die sich jede Verortung der beobachtbaren textlichen Positionen beziehen muß. Obwohl also der Text hier auch als Schnittpunkt von Diskursen begriffen wird, die immer über das eigentliche Textkorpus hinausreichen und in einem übergeordneten Diskurshorizont zu lokalisieren sind, bleibt hier im Sinne einer disziplinären (literaturwissenschaftlichen) Vorentscheidung das hermeneutische Prinzip gewahrt, das den Text in seiner problematisch gewordenen Einheit, in seinem individuell präsentierten und gestalteten ästhetischen Mehrwert weiterhin ernstnimmt. Der Text »als Knoten in einem Netz« 40 soll in diesem Sinne sowohl in seinen spezifischen Verknüpfungen als auch in seiner Vernetzung, d. h. den Verbindungen nach außen, untersucht werden. Dabei sollen Inhalt der

38

39

40

lebensgefährlich; diese Todesnähe schlägt sich fraglos auch in seiner Weltsicht nieder. Trotzdem kann im folgenden historisch argumentiert werden, weil sich die ersten resignativen Äußerungen bereits vor dieser existentiellen Erfahrung finden lassen. D.h. nach Luhmann von textförmig kondensierten und konfirmierten, begrifflich abstrahierten, als bewahrenswert ausgezeichneten Beobachtungen. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987, S. 21. »Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz.« Foucault, Archäologie des Wissens, S. 36.

17

semantischen Positionen sowie auch ihre Form (als verschieden präsentiertes und gewichtetes Ensemble semantischer Positionen) untersucht werden, um mögliche Entwicklungen und ihre textinternen Begründungen einzufangen. 4 ' Eine geschichtswissenschaftlich inspirierte Lektüre, die bei einem literarischen Text vereinfachend von einem reidentifizierbaren Einfluß bzw. einer konkret benennbaren Aufnahme von Wirklichkeitspartikeln ausgeht, muß vor diesem Hintergrund als obsolet und inadäquat erscheinen. Der fiktive 41 literarische Text stellt keinen hyposta41

42

Jürgen Link widmet sich - angelehnt an Foucault - in diesem Sinne der spezifischen Dialektik von Spezialdiskursen und Interdiskursivität und formuliert als Arbeitshypothese die Behauptung, daß fundamentale Diskursgesetze bewirken, »daß literarische Texte nicht bloß oberflächlich-thematisch, sondern tiefenstrukturell mit solchen interdiskursiven Dispositiven korrelierbar erscheinen.« Diese Vorstellung Links von einer elementar-literarischen Anschauungsform des Kollektivsymbols und ihrer kollektiven Verankerung, die sich aus ihrer sozialhistorischen Relevanz ergibt, erweist sich - auch wenn die praktische Durchführung nicht immer überzeugt - für die produktive Kontextanalyse als nützliche These. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Harro Müller, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307, hier S. 286. Paul Ricoeur trennt in Zeit und Erzählung seinen präzisen Begriff der Fiktion sorgfältig von der »phantasiebestimmten Konfiguration« (Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. Zeit und historische Erzählung. Bd. i, München 1988, S. 339), die seiner Meinung nach auch in der Historiographie vorwaltet. Er bezieht sich dabei auf den aristotelischen Begriff der >MimesisSattelzeit< als einem Differenzierungsformwechsel sollen die Texte Arnims in ihrer poetisch umgesetzten Semantik als kreative Verarbeitung der zeitlichen Veränderungen, als Reaktion auf einen irreversiblen Umstellungsprozeß gelesen und auf diese Weise in Korrelation mit ihren gesellschaftshistorischen Wurzeln als produktive Selbstbeschreibung einer Wendezeit gedeutet und expliziert werden. Bei den hier entscheidenden semantischen Neuerungen, die sich in den Texten spiegeln, handelt es sich um ein integratives Nationkonzept (als >Volk< im Wunderhom-Aufsatz

und im Wintergarten),

romantische Liebeskonzeption (Wintergarten)

eine über die

kommunizierte, bildungs-

fähige Individualität (Anton-Fragment; Die Kronenwächter)

und um eine

neue semantische Organisation der Zeit57 (die sich im Wintergarten, Anton-Fragment und in den Kronenwächtern

im

insbesondere in einer -

wiederum durch die >Liebe< symbolisch oder individuell vermittelten spezifischen Entwicklung bzw. Entwicklungsfähigkeit manifestiert). Um diese semantischen Figurationen, auf deren Basis die Verschiebungen in Arnims utopischen Konstruktionen greifbar werden, verorten zu können, bedarf es - angesichts der komplexen textlichen Sinnaneignungsform eines hermeneutischen Verfahrens, das den sensibilisierten Blick auf zeitgenössische semantische Strukturen mit dem auf die entscheidende historische Dimension des Textes verbindet.

2, Zum Aufbau Mit der Frage nach dem Einfluß von Geschichte auf den Text zielt diese Arbeit auf das Verhältnis zwischen Text und Kontext, wobei der Kontext hier nicht primär als Komplex von Texten gefaßt wird, sondern - in An-

57

Vgl. dazu das folgende.

lehnung an Luhmann - als ein spezifisches, über die gepflegte (d. h. textliche) Semantik zugängliches frame-set.

Zeitgenössische Intertextualität

wird als Interferenz zwischen den einzelnen textlichen Weltbeschreibungen zwar als wesentliche Prämisse der Textkonstitution vorausgesetzt, soll aber hier in ihrer komplexen Dichte nicht beschrieben werden, da es eben nicht um die Zuordnung einzelner Positionen zum kulturellen Umfeld geht, sondern - zum vorliegenden Forschungsstand komplementär um die Zuordnung eines individuellen Zugriffs auf Bedingungen, die vom historisch spezifizierten Strukturkontext vorgegeben werden. Auf diese Weise soll eine literarische Erfahrungskoordination Arnims sichtbar gemacht werden, die sich auf die gesellschaftsstrukturellen Prämissen als ein für alle gültiges synchrones Bedingungsgefüge bezieht. Im Zentrum steht der einzelne Text, für dessen Interpretation die Ergebnisse der historisch-soziologischen Analysen fruchtbar gemacht werden sollen; dabei erfordert die Sichtbarmachung dieser semantischen Zeitbezüge in den individuellen Adaptionen des Wintergarten

einen rela-

tiv hohen (allerdings nicht unökonomischen) interpretatorischen Aufwand; dieser ist darüber hinaus nur durch einen quasi-biographischen Vorlauf zu leisten, der die semantischen Prämissen sowie ihre Adaption in Arnims Briefen und theoretisch-journalistischen Texten klärt, bevor (über Goethes Unterhaltungen)

der Weg in den Text beschritten wird.

Die spezifische lebensweltliche Ausgangslage präfiguriert eine Problematik, die auch in den Texten entscheidend wird; Arnims Schwanken zwischen einem Primat der Kunst oder der Politik (bzw. ihrer legitimen Fortsetzung als Krieg), seine Betroffenheit vom Zeitgeschehen, seine politischen Reflexionen und der dezidierte Anspruch auf eine ästhetisch angemessene und zeitgemäß engagierte Literatur bilden die Ausgangsposition für den Wintergarten

und tragen zu dessen politisch-historischen

Profil bei, das es zu rekonstruieren gilt. Insofern beginnt die Analyse nicht mit dem Wintergarten,

sondern mit einer knappen Auswertung des

Briefkorpus und verschiedenen Reflexionen zu Kunst, Krieg, Politik und Geschichte sowie einer längeren Analyse des Wunderhorn-Aufsatzes Volksliedern.

Von

Erst wenn diese Prämissen geklärt sind, können textimma-

nente Strukturen im Licht spezifischer semantischer Formationen gedeutet werden. An diese Voraussetzungen knüpft sich dann auch die Untersuchung des Anton-Fragments und der Kronenwächter,

denen - neben

der bereits angedeuteten Struktur der utopischen Konstruktionen - in unterschiedlicher Weise ebenfalls die für Arnim signifikante Gratwanderung zwischen Kunst und lebensweltlichem Wirkungsanspruch zugrundeliegt. Die in den Texten verhandelte Wirkungsmächtigkeit von Kunst 28

basiert

auf

einer

grundsätzlichen

Vorstellung

von

einer

(poetisch

und/oder politisch) gestaltbaren Welt; die Frage nach der >MachbarkeitUtopie< als illegitime Usurpation begreift und in der Auflösung der Grenzen wiederum ein kollektiv für alle Aspekte und Ebenen virulentes begriffliches Defizit erkennt. Die daraus resultierenden Versuche der Eingrenzung machen sicherlich im Zusammenhang einer Gattungsdiskussion Sinn, die sich auf eine empirisch überschaubare Textmenge beziehen kann, für die der Begriff >Utopie< als Gattungszuordnung zum utopischen Roman wiederum die Vorteile einer distinkten Bezeichnung ermöglichen würde; eine solche neu konstituierte bzw. rekonstituierte Begrifflichkeit würde dann zwar der einzelnen historischen Erscheinung gerecht werden, gleichzeitig aber wäre die Möglichkeit ausgeschlossen, die Entwicklung einer Denkfigur oder strukturelle Prozesse zu registrieren: Innerhalb einer solchen Problemstellung kann der Begriff des Utopischen nämlich auch abseits der Gattungstradition wichtige Dimensionen eröffnen, auf die sich in der Folge diese Arbeit beziehen wird: Utopie ist also nicht nur Literaturgaitwrcg. Burghart Schmidt: Utopie ist keine Literaturgattung. In: Literatur ist Utopie. Hrsg. von Gert Ueding, Frankfurt a.M. 1978, S. 17-46. Vgl. dazu das Kapitel: Die Individualutopie: Bildung als zeitutopischer Ausgleichsprozeß mit der Gesellschaft. Peter Kuon: Gattung als Zitat. Das Paradigma der literarischen Utopie. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hrsg. von Christian Wagenknecht, Würzburg 1986, S. 309-325. Raymond Ruyer faßt als konstitutive Wesenszüge der Utopie Symmetrie, Uniformität, Glauben an die Erziehung, Feindschaft gegenüber der Natur, Dirigismus, Kollektivismus, Verkehrte Welt, Autarkie und Isolation, Asketismus, kollektives Glücksstreben, Humanismus, Proselytismus und prophetische Ansprüche zusammen. In: L'utopie et les utopistes, Paris 1950.

31

- können mithilfe des Gattungszitats auch andersartige utopischliterarische Konzeptionen auf den utopischen Roman zurückgeführt werden.66 Im Sinne eines »Gattungszitates« kommt dem utopischen Roman als entfernt verwandte Vorlage auch in Hinblick auf Arnims Texte ein heuristischer Wert zu, da der Wintergarten auf der Basis einer mentalen bzw. individuellen Neubesinnung eine Überholung des defizitären Gemeinschaftsgefüges anvisiert, die sich antizipatorisch innerhalb einer von der Welt abgeschütteten Wintergesellschaft vollzieht. Gerade in der räumlichen Isolierung und der dort erfolgreich praktizierten gesellschaftlichen Regeneration nach eigenen Regeln findet sich in diesem Sinne ein expliziter Rekurs auf den raumutopischen Roman als Gattungszitat, den es als intertextuell motiviertes >Utopieganz andere« denken.«68 In Abgrenzung zu Ernst Bloch - für den der Vor66

67 68

Kuon gelingt es, mit seinem Konzept vom Gattungszitat anhand von Goethes Lehrjahren und Rousseaus Nouvelle Héloise zu zeigen, daß hier »erst die pädagogische Disziplinierung des Subjekts die Voraussetzung für den sozialutopischen Entwurf« (Kuon, Gattungszitat, S. 320) schaffe: Das weist auf die zeitbedingten Wandlungen des Utopiekonzeptes im Zeichen eines veränderten Weltund Menschenbildes hin. Die propagierte Skepsis, mit der in der Nouvelle Héloise am Ideal wirklicher, nicht hypothetischer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft festgehalten wird, und die nur locker verknüpfende Ironie, die im Wilhelm Meister genau diese Aspekte der aufklärerischen Perfektibilitätsvorstellung notdürftig verklammert, deuten bereits »eine Entwicklung an, die im 19. Jahrhundert auf der einen Seite zur gesellschaftsfernen Ästhetik des Bildungsromans, auf der anderen Seite zur subjektfeindlichen Programmatik der Fortschrittsutopie führen wird.« Kuon, Gattungszitat, S. 321. Bohrer, Lauf des Freitag, S. 41I. Bohrer, Lauf des Freitag, S. 45.

32

Schein-Charakter der Kunst immer noch einen Fahrplan offenlegt, der in den zeitbedingten ideologischen Strukturen wurzelnd die kommende Wirklichkeit antizipiert 6 ' -

konstatiert Bohrer: »Utopisches realisierte

sich bisher immer wieder nur als Kunst«. 70 Obwohl sich Bohrer mit der Entwicklung utopischer Konstruktionen in Texten des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigt, sind zwei Aspekte seiner »Arbeit an der Utopie« 7 1 auch für Arnims Texte relevant. Erstens wird an seinem spezifischen Umgang mit dem Terminus >Utopie< offensichtlich, daß ein zu eng gefaßter, vorrangig an Gattungsschemata orientierter Utopiebegriff nicht ausreicht, um sämtliche Facetten und historische Veränderungen des Utopischen in der Literatur erkennbar zu machen; 72 zweitens schlägt Bohrer (zwar nicht als erster, aber doch sehr nachdrücklich) in diesem Kontext den Begriff der Utopie des Ästheti69

70 71

72

Auf Ernst Bloch, obwohl er den Stellenwert des Kunstwerks in Prinzip Hoffnung bemerkenswert hoch veranschlagt und die Funktion der Kunst im Emanzipationsprozeß der Menschheit und der Natur zu bestimmen versucht, kann trotz der zentralen Vorstellung von einer Utopie des Ästhetischen - nur bedingt eingegangen werden, da andere Utopie-Konzepte sich im Kontext dieser Arbeit als produktiver erweisen. Seine große Wirkungsmächtigkeit ist einleuchtend, wenn man bedenkt, wie vielseitig anwendbar sein Utopie-Begriff auf ästhetische Phänomene ist. Gegen diese mögliche Partialisierung seines Ansatzes vermerkt Stockinger einschränkend: »Man kann mit Blochs Begriffen nicht arbeiten, ohne seine geschichtsphilosophische Konzeption zu übernehmen.« Ludwig Stockinger: Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der deutschen Literaturwissenschaft. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 120-142, hier, S. 134. Bohrer, Lauf des Freitag, S. 25. Das isolierte Subjekt in einem solchen Moment des plötzlichen Erschreckens bildet auch die Grundlage für die Konzeption seiner Utopie des Augenblicks als ästhetischer Kategorie, welche die Utopie auf den utopischen Augenblick reduziert und sie somit als eine subjektiv-ephemere Glückserfahrung sämtlicher unmittelbarer Gesellschaftsbezüge und den damit verbundenen Fragen der Ethik, Ökonomie und Gerechtigkeit entkleidet. Diese Radikalisierung des Terminus, die mit seiner politischen Entschärfung korreliert, ist im Rahmen dieser Arbeit allerdings nur bedingt hilfreich, da Bohrer einen chronologisch späteren Prozeß zu erfassen versucht, in dessen Verlauf seit dem späten 19. Jahrhundert eine pessimistische Utopie bzw. Anti-Utopie »an die Stelle der optimistischen Konstruktionen der klassischen Utopie und der Fortsetzungen im sozialistischen und technologischen Utopismus des frühen 19. Jahrhunderts« trat. KarlHeinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1998, S. 18 j. Stockinger verweist kritisch auf den Umstand, daß Bohrer die Utopie des Augenblicks nicht nur als einen Strang in der Gattungsgeschichte, der zu anderen Formen der Utopie im 20. Jahrhundert parallelisiert werden muß, sondern als die moderne Variante der Utopie schlechthin reklamiere. Stockinger, Utopiediskussion, S. 132. 33

sehen v o r , in deutlicher A b g r e n z u n g z u r ästhetisch vermittelten U t o p i e : 7 3 » W e n n klassische U t o p i e n den ästhetisch-utopischen E f f e k t auslösen, dann hängt das also nicht einfach v o n ihrer eindeutigen utopischen Inhaltlichkeit ab - eine bloß additive B e s t a n d s a u f n a h m e utopischer Inhalte e t w a w ä r e nicht u t o p i s c h - , s o n d e r n mit ihrer >Als-ObIch< in der Ekstase des >Augenblicks< [...] im Falle von Proust, Joyce und Musil sowohl Elemente einer Utopie des Ästhetischen als auch solche einer ästhetischen Utopie.« Bohrer, Plötzlichkeit, S. 187. Wenn H . J . Krysmanski im Anschluß an Richard Gerber die Utopie als instrumentelles Handlungsmodell in einem wissenschaftlichen Sinne begreift, das sich auf diese Weise hart von der Autonomie des Kunstwerkes absetzt (Beide in: Der utopische Roman. Hrsg. von Rudolf Villgradter u.a., Darmstadt 1973), so wird deutlich, daß Bohrer mit seiner Öffnung des Utopie-Begriffes wieder gegen das altbekannte Textkorpus des utopischen Romans anläuft, der als >Staatsroman< von anderen Romanformen abgegrenzt scheint »durch das Kriterium des Argumen-

35

zwangsläufig auf gängige Handlungsstereotype abzielt; was sich die Texte an Appellfunktion und -fähigkeit selbst zuweisen, bleibt einer detaillierten Analyse überlassen. Wenn die ästhetisch vermittelte Utopie über ihre Gegenbilder Gesellschaftsanalyse betreibt, stellt die Utopie des Ästhetischen eine textintern propagierte oder implizierte Wirksamkeit von Literatur zur Disposition und verhandelt damit zugleich die Stellung der Literatur in der Gesellschaft.

3.3.

Historizität des utopischen Denkens: Zeitgenössische Wandlungsprozesse der Utopie - Die Zeitutopie als zeitgenössische semantische Strategie

Im hier relevanten Untersuchungszeitraum um 1800 ist utopisches Denken der allgemeinen Umbruchsituation entsprechend in einem Wandel begriffen, den Reinhart Koselleck als Einbruch der Zukunft in die Utopie interpretiert hat, »die Einverwandlung der Utopie in die Geschichtsphilosophie, die es im strengen Wortsinn erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt, - kurz: die Verzeitlichung der Utopie.« 79 LouisSébastien Merciers L'an deux mille quatre cent quarante80 avanciert für Koselleck zur Zukunftsutopie, die sich auf >Zeit< als einer geschichtsbildenden Kraft gründet.81 Anders als bei der räumlichen Gegenwelt (die

79

80

81

tarions- und Theorieanteils, indem die Protagonisten der Darstellung zu Sprachrohrinstrumenten abstrakter Ideen werden und Deskriptionen von Zuständen Handlungen ersetzen.« Schmidt, Utopie ist keine Literaturgattung, S. 20. Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1. Die Wahl des Textes ist problematisch: L'an 2440 mit seiner binären Organisation von Gegenwart und Zukunft weist offensichtlich strukturelle Ähnlichkeiten zur Raumutopie auf und ist auf diese Weise als Exemplum für den zu berücksichtigenden Wandel der Zeit eher umstritten. Vgl. dazu Theodor Verweyen; Gunther Witting: Utopie bei Grimmelshausen und Goethe. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 43 (1993), S. 399-416, hier S. 403 und Klaus P. Hansen: Utopische und retrospektive Mentalität. Überlegungen zu einer verkannten Tradition. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte $3 (1983), S. 569-592. Klaus P. Hansen gründet seine Ablehnung von Kosellecks Verzeitlichungsmodell auf den Unterschied zwischen utopischen und idyllisch-nostalgischen Literaturformen, denen jeweils - in Korrespondenz zu ihren divergierenden Vorstellungen von Geschichte - unterschiedliche Mentalitäten zugeordnet sind: »Das progressistische Geschichtsdenken resultiert in einer zukunftsorientierten Alternative, das degressistische in einer Vergangenheitssehnsucht [...]. Von der utopischen [d.h. progressiven] Mentalität sollte daher [...] die retrospektive Mentalität geschieden werden, die bei degressiver Geschichtsvorstellung ihr Pa-

36

zwar auch als Zukunftsvision gelesen werden kann, aber dabei immer auf einen räumlichen Erfahrungsraum, 82 nicht auf einen nur durch den Autor verbürgten, zeitlichen Erwartungshorizont zurückgreift) ist für die Zukunftsutopie der Fortschrittsgedanke eines unendlichen Geschichtsprozesses konstitutiv: »Die schlichte Antithese einer räumlichen Gegenwelt,

radies im Schoß des Gewesenen findet.« Hansen, Utopische und retrospektive Mentalität, S. 573; »im Gegensatz zum utopischen Planungseifer vertraut die retrospektive Mentalität auf rezeptive Tugenden wie Muße, Gewährenlassen des Individuums und insgesamt die Hinnahme dessen, was sich von selbst einstellt. Glaubt die Utopie an autonom gestaltete Geschichte, so glaubt die Retrospektive an Natur, an den menschlichen Rohstoff sozusagen, in welchem die Teilnahme an der Weltenharmonie programmiert ist, so daß sich jede nachträgliche Bemühung um eine Sozialordnung erübrigt.« Hansen, Utopische und retrospektive Mentalität, S. 587. Hansen bezweifelt Kosellecks Verzeitlichungsthese und versteht den Unterschied zwischen Raum- und Zeitutopie als formal, zumal die Idee des Fortschritts ohnehin nicht als Produkt moderner Mentalität zu verstehen ist, sondern eindeutig auf einen antiken Ursprung zurückzuführen ist. Abgesehen davon, daß Hansens dezidierte Rückführung der utopischen oder retrospektiven Vorstellungen auf verschiedene Vorstellungen über den Verlauf von Geschichte nicht per se überzeugt - wie noch anhand des Wintergartens zu zeigen sein wird - , scheint auch seine Argumentation, so sehr sie zur Unterscheidung von rückwärts- und vorwärtsgewandten Veränderungspostulaten einer mit der Gegenwart unzufriedenen Zeit beitragen mag, eine Differenzierung auf einer vollkommen anderen Ebene als Kosellecks Vorstellung von der Zeitutopie zu intendieren und damit an deren Kern vorbeizugehen: Tatsächlich meint Zeitutopie - auch wenn sie in den Fortschrittsutopien des 19. Jahrhunderts noch prägnantere Kontur gewinnen mag als in Kosellecks Beispiel L'an 2440- den in das utopische Denken einbezogenen geschichtlichen Wandel, das unberechenbare Plus als Charakteristikum der Geschichte, das sich im Laufe der Zeit ergibt und - in der utopischen Konstruktion - zu einer besseren Welt führen soll; die Veränderung orientiert sich nicht an einer - vielleicht im Sinne der Gegenwart noch zu optimierenden - Vergangenheit, sondern wendet sich dezidiert dem wünschbaren Wandel in der Zeit zu (wobei sie dazu tendiert, Gegenwartsmerkmale zu verstärken). Hans-Georg Soeffner vermerkt dazu: »Der >Entdeckung< des geometrisch-physikalischen Raumes in der Neuzeit entspricht der Entdeckung der physikalischen Zeit für das Experiment und den Geschichtsablauf. Auf die nur zögernde Entwicklung von der mythischzyklischen Zeit zu einer >linearen< Geschichtsdeutung in der Aufklärung wurde oben schon hingewiesen [...]. Wenn auch J A U S S [...] gezeigt hat, daß diese >lineare< Geschichtsdeutung noch Elemente der zyklischen enthält, so ist doch die für die utopischen Romane entscheidende Neuerung die Projektion eines Korrektivs in die Zukunft, während bis dahin die Idealbilder in der Retrospektive gesucht wurden.« H.-G. S.: Der geplante Mythos. Untersuchungen zur Struktur und Wirkungsbedingungen der Utopie, Hamburg 1974, S. (>-j{. 82

Der Gebrauch von Erfahrungsraum ist hier nicht pleonastisch gemeint; der Terminus wird neben Erwartungshorizont als eine grundlegende historische Kategorie gedacht. Vgl. Reinhart Koselleck: >Erfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< - zwei historische Kategorien. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 'Frankfurt a.M. 1995, S. 349-375. 37

bisher mit dem Schiff zu erreichen, muß also zeitlich vermittelt werden [...]: die fingierte Perfektion der ehedem räumlichen Gegenwelt wird verzeitlicht.« 83 Bis ins 18. Jahrhundert hinein verkörperte die PerfectioLehre ein grundsätzlich statisch und räumlich gedachtes, hierarchisches Zuordnungsmodell, das sich im Laufe der neuzeitlichen Geschichte zur »perfectibilité« (Rousseau) verzeitlichte: »Mit der Perfektibilität, mit der Vervollkommnungsfähigkeit wird das Ziel vollends verzeitlicht, ohne Endpunkt in den handelnden Menschen selbst hineingeholt. Die Zielsetzung wird iterativ.« 84 Die spezifische Verzeitlichung der Utopie, die Koselleck

beobachtet,

steht

im

Kontext

eines

größeren

Verzeitli-

chungsprozesses, der verstärkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lokalisiert werden kann. Luhmann deutet diese semantisch greifbare Form der Verzeitlichung als spezifische Verarbeitung jener irreversiblen Umstellung von einer primär stratifikatorisch zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft, insofern »jeder Komplexitätsschub in Gesellschaftssystemen, das heißt jede Änderung der Differenzierungsform, die ihr entsprechenden Temporalstrukturen erzeugt« (1,295): W e n n es zutrifft, daß ein Wechsel der Differenzierungsform ein Gesellschaftssystem und mit ihm auch seine U m w e l t komplexer macht und wenn die z u nehmende Komplexität zunehmend auch eine stärkere Verlagerung ins N a c h einander wechselnder Relationierungen erfordert, ist zu erwarten, daß solche Veränderungen in den Erfahrungen des gesellschaftlichen Lebens und in der sie fixierenden Semantik registriert werden. [ . . . ] A l s Basis für die verstärkte Inanspruchnahme v o n Zeit für ein geordnetes Wechseln von Relationierungen muß

zunächst die Gegenwart

selbst verzeitlicht

werden,

nämlich reduziert auf einen

Umschaltpunkt, in dem Z u k u n f t zur Vergangenheit wird. N u r eine derart punktualisierte G e g e n w a r t gibt die Zeithorizonte Vergangenheit und Z u k u n f t für einen Wechsel der je aktualisierten Relevanzen frei. [ . . . ] U n d erst eine so punktualisierte Gegenwart w i r d konsequent zeitlich verstanden, nämlich von dem her, was Vergangenheit und Z u k u n f t f ü r den Umschaltvorgang bedeuten.

(I, z6of.) Nach Koselleck gewinnt die Zeit im geschichtlichen Denken eine eigene Qualität, ohne länger nur formaler Bezugsrahmen zu sein, in dem sich alle Geschichten abspielen: »Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber.« 8 '

83

Koselleck, Verzeitlichung, S. 4.

84

Koselleck, Verzeitlichung, S. 5.

8

'

Reinhart Koselleck: >Neuzeitutopischen< Ende geführt, bzw. dessen Ende imaginiert oder textstrategisch impliziert. Zeitutopische Strukturen gründen sich auf die (mögliche oder beobachtbare) Prozeßhaftigkeit bzw. Umgestaltbarkeit der fiktiven Gegenwart bzw. auf gesellschaftliche oder individuelle Entwicklungsdimensionen; die Öffnung eines solchen Textes, d. h. die Aussetzung seines Endes in der fiktiven Realität, funktioniert als appellative (Zeit-)Utopie, deren ästhetisch imaginiertes bzw. antizipiertes Ende es in der Wirklichkeit umzusetzen gilt.

39

II.

Zwischen Kunst und Krieg: Arnims Lebenswelt im Spiegel von Briefen und Aufsätzen

Um die Veränderung utopischer Konzepte im Kontext des Krieges anhand der ausgewählten Texte beobachten zu können, ist es notwendig, Arnims verschiedene Blickwinkel auf das Phänomen Krieg in seinen Briefen, journalistischen und essayistischen Arbeiten zu erfassen, auf deren Basis dann auch die gesellschaftspolitischen und wirkungsästhetischen Positionen in den poetischen Texten kenntlich gemacht werden können: Erst dieses Textkorpus, in dem sich ein offen formulierter sozialgestalterischer Anspruch mit einer expliziten politischen Analyse verbindet, bildet die Brücke zu seinen ästhetischen Utopien und erlaubt es, sie dezidiert an die von ihm beschriebene, kontemporäre Lebenswelt und die in ihr diagnostizierten Probleme zurückzubinden. Die verschiedenen Kriege in der Folge der Französischen Revolution sind dabei nicht nur die zeitgenössische Kulisse, vor der sich Arnims utopische Konstruktionen ex negativo entfalten; der Krieg gehört vielmehr - gerade im Wintergarten

- selbst zu den zentralen pragmatischen

Vorbedingungen, die historisch-situativ unabdingbar für die Umsetzung der utopischen Vorstellungen scheinen. Da Arnims Texte das Phänomen des Kampfes und des Krieges zudem einerseits in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen (Révolutions-, Verteidigungs-, Eroberungsund Freiheitskriege) und unter gegensätzlichen (funktionalen bzw. phänomenologischen) Deutungsprämissen erfassen, andererseits aber auch an eine biographische Disposition anschließen, die im Kontext von Krise und Krieg zwischen einer persönlichen Heldenkonzeption und verschiedenen Formen einer Utopie des Ästhetischen irisiert, lassen sie keine eindeutige axiologische Verortung seiner Kriegsvorstellung zu. Das persönliche Schwanken zwischen »Feder und Schwert« ist im Umfeld des Wintergartens

an die grundsätzliche Frage nach der Vorran-

gigkeit von Krieg oder Kunst bzw. nach ihrer möglichen Komplementarität gekoppelt. Der Krieg wird - eben auch als ein Selbstbestätigungs- und Betätigungsfeld von hohem allgemeinem Nutzen - als Alternative oder als Ergänzung zu den edukativ-ästhetisch fundierten Lebensplänen immer wieder thematisiert und in einigen Reflexionen als verdichteter Hand40

lungsanspruch in einer existentiellen Entscheidungssituation

zwischen

aktivem Leben und künstlerischem Schaffen stilisiert. Die Utopie des Ästhetischen ist im Kontext eines >poetischen< Weltentwurfs zu verorten und steht sowohl in ihren biographischen als auch in ihren ästhetischen Koordinaten im Abgleich mit den historischen Entwicklungen und dem korrelativ (zum Entstehungszeitpunkt des Wintergartens nur kriegerisch) zu gewährleistenden Umbruch.

ι. Phänomenologie und Ideologie: Zwischen Beschreibung und Bedeutung des Krieges Arnims bis z u m Zeitpunkt der Entstehung des Wintergartens schriftlich festgehaltene Impressionen bzw. Reflexionen von und über die zeitgenössischen Kriege zeugen zwar von persönlicher Betroffenheit, stehen aber zugleich im Horizont allgemeinerer Deutungsansätze. Zunächst argumentiert Arnim unter den Vorzeichen einer innerweltlichen Gerechtigkeit, wenn er in einem Brief an Clemens Brentano vom 16. August 1806 den Krieg als Bewährungsprobe interpretiert: N i c h t daß ich den Krieg überhaupt für unser Land fürchte, es muß sich zeigen, ob es Kraft zu leben hat, sonst fort ausgewischt, fort mit uns, nur jezt in diesem blinden Zutrauen unsrer Regierung auf Bonapartes wiederholte Versicherungen, die Armeen zerstreut, ich brachte eine schreckliche N a c h t zu (Schultz,

L416). In einem ähnlich gefaßten Brief an Bettine Brentano v o m selben Tag konterkariert er die preußische Situation und die mögliche Niederlage mit einem autosuggestiven Optimismus: Wahrscheinlich sind wir von Frankreich aufgeopfert, es soll aber bei allen guten Geistern ein willig Opferthier finden, die Armee ist voll Freude, unser Sand wirbelt vor Luft, daß er getränkt wird, die Erndte ist reif, schneide sie, wer die Sichel führen kann. Was soll bestehen, was nicht die Kraft dazu hat! Fort mit uns, wenn wir nicht würdig dieser stolzen Erde, sonst wollen wir uns aber anklammern

und einbeißen

an dieses leibliche

Eigenthum,

der Teufel

will sich

nicht mehr brauchen lassen mit seinen Kräften, so muß er fallen! Ich spreche in so gutem Zutrauen, ich kann nicht dafür, aber bewahren Sie es wie meine liebste H o f f n u n g im sichern Herzen, es kann auch w o h l alles schlecht und mittelmäßig werden, im Frieden ist kein Heil mehr, im Kriege Verzweiflung. (Steig 11,37, Hervorhebung von C . N.).

In diesen Beschwörungsformeln überwiegen die Hoffnung, »daß der gute Mut und Sinn der unsern im Momente hoher Tätigkeit über die Altersschwäche unsrer Kriegseinrichtung und Kunst siegen könnte, sie in dem 41

Momente verjüngen könnte« (Arnim VI, 191), und eine angespannte Passivität, mit der sich Arnim - trotz ungünstiger Vorzeichen - vertrauensvoll dem bevorstehenden Geschichtsverlauf zu fügen bereit ist; die preußische Niederlage von Jena und Auerstedt am 9. Oktober 1806 1 bedeutet insofern einen problematischen Vorzeichenwechsel: »Das Härteste muste sich auf einen Monat häufen; die Ueberzeugung, daß ich [von Auguste Schwinck] nicht geliebt wurde, der Untergang meines Landes, die Schrecknisse des Krieges woran ich keinen Antheil mehr nahm [...]. Endlich die Sieger unter uns zu sehen« (21. August 1807, Schultz, 11,454). Arnim, der verbunden mit dem zuvor demonstrierten Optimismus immer wieder Zweifel an der Kriegsfähigkeit Preußens bekundet hat (resigniert schreibt er an Bettine: »Was hilft es, ein Unglück vorausgesehen zu haben!« 2. Dezember 1806, Steig II, 51), analysiert das Fiasko in dem Brief an seine Tante vom 18. November 1806: Sie erinnern Sich vielleicht meiner ruhigen Ueberzeugung, die ich in Strelitz oft streitend vorgelegt, daß ohne eine innere höhere Staatsentwicklung kein glücklicher Krieg möglich sei. D e n n so wunderlich es scheint, so kommt es doch nur davon her, daß unsre Soldaten schlechte G e w e h r e haben, nicht schießen können, hungern müssen, dagegen Bagage und unfähige Fürsten zu A n f ü h r e r n ertragen (Steig 1 , 2 0 9 ) . 2

Obwohl die politisch rekonstruierbaren Fehler und Versäumnisse für Arnim also schon vor Oktober 1806 offenliegen, beschreibt er die Schlacht bei Preußisch-Eylau am 7. und 8. Februar 1807 als Gottesgericht: »Ich habe mich abgelöscht und gestählt an Schlachtfeldern. Eylau [...], wo Gott der Herr gerichtet, ist nur fünf Meilen von hier, Todte, Blessirte bezeichneten den Weg, über zwölf Tausend liegen in den Lazarethen.« (Steig II, 53) Der Krieg erscheint nicht mehr als menschlich-politisch regulierbare Katastrophe, sondern als Walten Gottes, 3 das als transzendente Macht die Vorstellung von einer geschichtsimmanenten Gerechtigkeit (komprimiert in Schillers Diktum von der Weltgeschichte als Weltgericht)4 überschreitet. 1

Vgl. T h o m a s N i p p e r d e y : Deutsche Geschichte.

1 8 0 0 - 1 8 6 6 : Bürgerwelt und

starker Staat. 5. durchgesehene Auflage, M ü n c h e n 1 9 9 1 , S. 1 5 . 2

In diesem Sinne gelangte er schon zuvor mit Blick auf die siegreiche französische A r m e e zu folgendem Resultat: »In der französischen A r m e e glaubt jeder, daß das Schicksal der Schlacht von seiner Brigade, also von ihm abgehangen und so muß es lächerlich seyn, w e n n es gut gehen soll, einen Soldaten zur M a schine zu machen ist lächerlich«. A n seinen Onkel, 30. D e z e m b e r 1802, zitiert nach Helene M . Kastinger Riley: A c h i m von A r n i m in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, H a m b u r g 1979, S. 62.

3

Vgl. dazu Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg, S. 15 9ff.

4

V g l . dazu Christian L . H a r t - N i b b r i g : » D i e Weltgeschichte ist das Weltgericht«. Z u r Aktualität v o n Schillers ästhetischer Geschichtsdeutung. In: Jahrbuch der

42

D i e N i e d e r l a g e w i r d als K r i s i s eines l a n g e n K r a n k h e i t s v e r l a u f e s v e r s t a n d e n , die i m Z e i c h e n d e r n o t w e n d i g e n G e n e s u n g e i n E n g a g e m e n t f ü r die preußische E r n e u e r u n g u n d Befreiung5 forciert: Es mußte ein Krieg sein, um es zu bewähren, mit w e m G o t t sei; die U b e r z e u gung kommt nur aus einem Kampfe auf Leben und Tod. W o ist Gott? D a w o sich auch das Ekelhafteste, Gemeinste zu einem G r o ß e n vereinigt, von dessen Glänze durchstrahlt und geheiligt wird. W o ist der Teufel? W o auch das Beste im Einzelnen durch allgemeine Verkehrtheit vernichtet, wenigstens untätig erhalten wird. In der Vernunft ist Gott, Unvernunft ist der Teufel. (Arnim VI,i89f.) D a b e i verweist die »allgemeine V e r k e h r t h e i t « auf den ex negativo göttlich verbürgten fundamentalen Gestaltungs- und Neuorientierungsbedarf und indiziert gleichzeitig die M ö g l i c h k e i t u n d u n u m g ä n g l i c h e N o t w e n d i g k e i t e i n e r Staats- u n d G e s e l l s c h a f t s e n t w i c k l u n g . D i e s e E i n s i c h t

manifestiert

s i c h in d e r a n v i s i e r t e n u n d e n e r g i s c h b e t r i e b e n e n

>Generalüberholung
Staatskörper< als »heiligen« Selbstzweck verstehen muß. Dabei gilt es, die Einheit des >StaatskörpersVolkheit< und ihre wahren Bedürfnisse einhergeht: Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volk ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent, die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr; dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemeine ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt. (HA, Bd. 12, S. 385; vgl. auch Bd. 8, S.470)

16

17

Auf die Vielgestaltigkeit des Volkes im Egmont verweist Gonthier-Louis Fink: Bild und Bedeutung des Volkes in Goethes Egmont. In: Das Subjekt in der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Hrsg. von Friedrich A. Kittler, Würzburg 1990, S. 223-442, hier S. 225ff. Klärchen erhält dabei eine exponierte Sonderstellung: »Abgesehen von Klärchen entspricht jedoch das in Egmont dargestellte Volk schon nicht mehr J . J . Rousseaus und Herders mythischem Bild unverdorbener Einfachheit; dazu war es zu sehr verbürgerlicht.« Ebd., S. 230. Auch später ist bei Goethe ein vitales Interesse am Volk vorhanden; allerdings richtet es sich vor allem auf die Volkspoesie als Mittel zur Volksbildung, wie sich besonders angesichts der von Niethammer 1808 angeregten und von Goethe sehr ernsthaft aufgenommenen Idee von einem - letztlich nicht zustandegekommenen - Volksbuch zeigt: »Unter Volk - heißt es - verstehen wir gewöhnlich eine ungebildete Menge, ganze Nationen, insofern sie auf den ersten Stufen der Cultur stehen, oder Theile cultivierter Nationen, die unteren Volks-Classen, Kinder. Für einen solche Menge müßte das Buch geeignet sein.« (Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 42.2, Weimar 1907, S. 414, Hervorhebung von C. N.)

9*

Die bildungsaristokratische Position, die dem Volk eine Fähigkeit zum konstruktiven Handeln und Denken (zugunsten einer »Volkheit«) abund letztlich nur wenigen »Verständigen« zuspricht, wird im Vergleich mit Arnims Position, in der dem >Volk< (als Volk und >Volkheit< zugleich) die Möglichkeit zuerkannt wird, zu einer organischen Handlungsinstanz zu verschmelzen, noch einmal zu thematisieren sein. 18 D a der kollektive Erneuerungsbedarf in der Rahmenhandlung an einen individuellen (Bildungs)-Prozeß gekoppelt wird, ist die individuelle Bildung - vor allem auch in den Erzähleinlagen - ein zentrales Thema der Unterhaltungen

und muß als Reaktion auf den grundsätzlichen U m w ä l -

zungsprozeß verstanden werden, der über die politisch-gesellschaftlichen oder ästhetischen Fragestellungen hinaus das Problem einer sich verändernden Selbstwahrnehmung des Menschen aufgab. 19 Indem sich die 18

19

Natürlich kennt und praktiziert auch Arnim diese entscheidende Differenzierung zwischen der realexistierenden Masse und dem Volk als Medium der Volkstätigkeit. Die spezifische Situation des Individuums, wie sie in den einzelnen Erzähleinlagen auf unterschiedliche Weise thematisiert wird, bleibt über die Rahmensituation an die Gegenwart und an die in Revolution und Krieg präsente Umbruchssituation gekoppelt: Peter Bürger sieht die Verunsicherung des Subjekts inmitten von widersprüchlichen Begründungskonstellationen in einer veränderten Wirklichkeitserfahrung begründet, deren Ausgangspunkt er in der Französischen Revolution festschreibt: Trotz von der Forschung festgestellter historischer Kontinuitäten »wird man [...] den Bruch, den die Revolution für das Selbstverständnis der Menschen bedeutete, kaum überschätzen können.« Peter Bürger: Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger, Frankfurt a.M. 1988, S. 145. Im Sinne Luhmanns vollzieht sich die Französische Revolution allerdings im Kontext weitreichender Umwälzungsprozesse, worin sie (zusammen mit den sich anschließenden Kriegen) fraglos die signifikanteste politisch disponierte und politisch wirkungsmächtige Reaktion auf einen längerfristigen Strukturwandel darstellt; insofern ist selbst das historische Großereignis, das weithin hörbar eine neue Epoche einläutete, nur ein (geschichtlich eigendynamisch weiterwirkendes) - vorrangiges - >Symptom< für den Durchbruch des neuen primär funktional differenzierten Gesellschaftstypus. Die Forderungen nach fraternité, égalité, liberté formulieren die Notwendigkeiten der neuen Gesellschaftsform gerade im Kontext einer vorgängigen Strukturverschiebung in der Gesellschaft, die nun im Zuge der Funktionalisierung jedem Gesellschaftsmitglied einen freien Zugang zu jedem Funktionsbereich gewähren muß: »Wenn [...] das Verhältnis der Gesellschaft zu Individuen von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität umgestellt wird, so gilt für die Systemdifferenzierung des Gesellschaftssystems das genau entgegengesetzte Prinzip, und der Zusammenhang ist leicht einzusehen. Ältere Gesellschaften müssen, weil sie Individualität durch Inklusion erst begründen, gesellschaftsinterne Differenzierungen über Exklusion begründen [...] Muß dagegen, wie in der modernen Gesellschaft, die Individualität von vornherein extrasozietal gedacht werden, kann die Differenzierung des Gesellschaftssystems sich auf un93

Unterhaltungen

- darin partiell den Briefen Über die ästhetische

Erzie-

hung des Menschen folgend - bei der analytischen Rekonstruktion der Zeitproblematik auf das Individuum konzentrieren und zugleich seine Bildungsfähigkeit im Sinne einer gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit als Ansatz eines potentiell gelingenden Problem-Managements thematisieren, wird der Ursprung der Problematik nicht in der Revolution und im Krieg, sondern latent in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft verortet. Dort verbirgt sich die potentielle (Er-)Lösung von der (durch die Umwälzungsprozesse hervorgerufene) Verunsicherung. Das Individuum wird in seiner gestörten >Geselligkeit< auf diese Weise bei Goethe indirekt als Epizentrum der historischen Umbruchssituation benannt. Das hier durch >Ungeselligkeit< exkludierte Individuum muß in diesem Sinne wieder in die gesellige Gemeinschaft integriert werden. Wenn sich die Rahmenhandlung im besonderen auf die gesellig-individuellen Prozesse (die neue Geselligkeit hängt von individuellen Bildungserfolgen ab) konzentriert, so fokussieren die Erzähleinlagen variantenreich die Problematik des Individuums bzw. die Frage nach seiner Bildbarkeit. Die Geschichten werden durch die Rahmenhandlung in eine spezifische Reihenfolge gebracht und somit in einer graduellen Staffelung mit neuen Implikationen für den Gesamttext aufgeladen. Die ersten Erzähleinlagen - abseits der strengen Aufsicht der Baronesse - konzentrieren sich auf Phänomene, für die die Gesellschaft zwar verschiedene Erklärungsmodelle zu entwickeln versucht, die aber doch in den Status des Unerklärlichen und für jede Sinnstiftung Unzugänglichen zurückgewiesen werden.20 Die Phänomene scheinen jenseits vom Menschen und abseits von seiner positivistischen Weltauslegungskompetenz angesiedelt zu sein. Indem das Unfaßbare und letztlich Unerklärliche mit der Antonelliund der Klopf-Geschichte zum Gegenstand des Erzählens wird, gerät zunächst eine Verunsicherung des Subjekts in den Blick, die sich andeutungsweise auch noch auf die erste Bassompiere-Geschichte erstreckt, in der ein plangemäß umgesetztes Handeln des Protagonisten abrupt und

20

terschiedliche Formen der Inklusion von Individuen [...] stützen. Dann liegt das Problem in der Partizipation von bereits individualisierten Individuen, und dafür müssen, je nach Funktionsbereich, unterschiedliche Angebote entwickelt werden, soll nicht die vielbefürchtete Entfremdung zum Prinzip werden.« (III, 160) Der vorrevolutionäre Differenzierungsformwechsel zeichnet im oben beschriebenen Sinne auch gleichzeitig für die neuartige Stellung des Individuums in der Gesellschaft verantwortlich. Darauf verweist besonders Carl Niekerk in seiner Untersuchung: Bildungskrisen. Die Frage nach dem Subjekt in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Tübingen 1995.

94

für ihn unverständlich unterminiert wird, da sich offensichtlich die Voraussetzungen für die avisierte Begegnung in - auch nachträglich - nicht nachvollziehbarer Form gewandelt haben. Das Ringen um eine Erklärung für den gespaltenen Schreibtisch, die Friedrich schließlich im Gegensatz zu der versprochenen Aufklärung der rätselhaften Geschichten, im Verlaufe der Unterhaltungen nicht mehr schuldig bleibt, korrespondiert mit dem verzweifelten, aber vergeblichen Bestreben der Anwesenden, die Geschichten von ihrem verstörenden Potential zu befreien und in eine wie auch immer begründete - sinnvolle Deutungssphäre zu integrieren: Sowohl in der Antonelli-Geschichte als auch in der Geschichte vom rätselhaften Klopfen - beiden Geschichten liegt ein faktisches, zudem durch Zeugen objektiviertes Phänomen zugrunde - werden die Protagonistinnen mit Geistererscheinungen konfrontiert, die sich weder kontrollieren noch erklären lassen, so daß diese Grenzen der Selbstbestimmung und Regulierbarkeit der Welt zugleich - wenn schon nicht thematisch, so doch zumindest als Problem - in die Unterhaltungen aufgenommen werden: Die N o t w e n d i g k e i t der Selbstbestimmung fällt dem Einzelnen als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung zu. E r w i r d in die A u t o n o m i e entlassen w i e die Bauern mit den preußischen Reformen: ob er will oder nicht. U n d selbst w e n n er fragen würde, wie soll ich damit fertig werden, würde man ihn auf den kulturellen Imperativ verweisen, der da sagt: das mußt D u selbst wissen. T r a u m und T r a u m a der Freiheit gehen unversehens ineinander über. 2 1

In Goethes Unterhaltungen wird die Ablösung von dieser traumatischen Unsicherheit in den irritierenden, sich jeder Explikation entziehenden Geistererscheinungen symbolisch eingefangen, so daß die Unterhaltungen das Phänomen als symptomatisches ernstnehmen, konstruktiv einbinden und dabei zugleich überwinden, ohne es zu negieren. Das Trauma wird schließlich durch den »Traum der Freiheit« abgelöst, indem der Text eine korrelative Steigerung von den formulierten Ansprüchen und nachfolgenden Erzählungen präsentiert. Unter der Ägide der Baronesse gerät am zweiten Abend in diesem Sinne - auch hier wieder im Zeichen der evolutiven Steigerung - ein emphatischer Subjektbegriff und die Frage nach der Bildbarkeit des Menschen ins Zentrum des Erzählens. Von der Prokurator-Geschichte, in der eine moralisch anfällige Person mit erzieherischen Impulsen wieder auf den rechten Weg gewiesen wird, bis zur Ferdinand-

21

Niklas Luhmann: Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum. In: N . L.: Soziologische Aufklärung. Die Soziologie und der Mensch. Bd. 6, Opladen 199$, S. 1 2 5 - 1 4 1 , hier S. 1 3 2 .

95

N o v e l l e - in d e r d a r i n v o l l z o g e n e n ( s e l b s t - ) r e f l e x i v e n B i l d u n g des I n d i v i d u u m s - ist e i n e z u m V e r l u s t v o n W e l t a u s l e g u n g s k o m p e t e n z u n d S e l b s t b e s t i m m u n g gegenläufige Steigerung z u b e m e r k e n , die sich z u m G l a u b e n an die Fähigkeit des I n d i v i d u u m s z u r B i l d u n g u n d darüber hinaus z u m s e l b s t t ä t i g e n B i l d u n g s t r i e b d e s M e n s c h e n b e k e n n t u n d d a m i t die ( e i n g e s c h r ä n k t e ) U t o p i e des Ä s t h e t i s c h e n als ä s t h e t i s c h e E r z i e h u n g p e r f o r m a t i v b e l e g t . I n d i e s e m S i n n e w e r d e n d i e Unterhaltungen

- im vollen B e w u ß t -

sein d e r K r i s e n s i t u a t i o n - z u e i n e r S e l b s t v e r s t ä n d i g u n g , d i e an d e r n e u g e w o n n e n e n B e d e u t u n g d e s M e n s c h e n 2 2 u n d z u d e m - in F o r m des chens

Mär-

(das i m s o l i d a r i s c h e n Z u s a m m e n s c h l u ß d i e n o t w e n d i g k o m p l e m e n -

täre B e w e g u n g z u d e n ä s t h e t i s c h e n B i l d u n g s p r o z e s s e n d e r R a h m e n h a n d l u n g d a r s t e l l t ) - a n d e r M ö g l i c h k e i t eines >geselligen< W e g s aus d e r K r i s e festhält.

21

In seiner Archäologie der Humanwissenschaften beschreibt Foucault damit nicht nur den Ubergang von der Renaissance zum klassischen Zeitalter, sondern dokumentiert auch das »Ereignis«, »das sich an der ganzen sichtbaren Oberfläche des Wissens verteilt und dessen Zeichen, Erschütterungen und Wirkungen man Schritt für Schritt verfolgen kann« (M. F: Die O r d n u n g der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, " F r a n k f u r t a.M. 1991, S. 269) und das eben auch das hier relevante A u f k o m m e n des epistemischen Konstrukts »Mensch« als »dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges O b j e k t und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis« (Ebd., S. 375) zur Folge hatte. Während sich in der Renaissance die Erkennbarkeit der Welt auf dem Prinzip universeller Ähnlichkeiten und damit auf dem dreigliedrigen Erkenntnisprinzip der Analogie gründete, beginnt sich das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem im Ubergang z u m klassischen Zeitalter durch die O r d n u n g der Zeichen selbst z u regulieren. Das Zeichen repräsentiert das Bezeichnete vollständig, so daß an die Stelle der natürlichen Verbindung v o n Zeichen und Bezeichnetem ein selbstgeregeltes Zeichensystem tritt. Die geschlossene O r d n u n g cartesianischer Mathesis, die mit klassifizierenden Identitäten und Differenzen operiert, ersetzte die unendliche Interpretation von Ähnlichkeiten. Das in diesem Rahmen bedeutsame »fundamentale« und »radikale« Umbruchereignis, als dessen äußere Punkte Focault die Jahre 1775 und 1825 markiert, stellt sich für ihn in zwei Phasen dar. Diese Phasen überlappen sich genau im hier relevanten Zeitraum, nämlich um 1795-1800: »In der ersten dieser Phasen ist die fundamentale Seinsweise der Positivitäten nicht verändert. D i e Reichtümer der Menschen, die natürlichen Arten, die Wörter, mit denen die Sprachen bevölkert sind, bleiben noch, was sie im klassischen Zeitalter waren: reduplizierte Repräsentationen, Repräsentationen, deren Rolle es ist, Repräsentationen zu bezeichnen, sie zu analysieren, sie z u komponieren und sie zu dekomponieren [...]. In der zweiten Phase erst werden die Wörter, die Klassen und die Reichtümer eine Seinsweise erlangen, die nicht mehr mit der der Repräsentation vereinbar ist.« Ebd., S. 273Í. D e r Ordnungsraum, der bisher als ein der Repräsentation und den D i n gen gemeinsamer O r t z u verstehen war, ist zerbrochen, da das eigentliche W e sen dessen, was repräsentiert wird, aus der Repräsentation selbst herausfällt. 96

2. Die Unterhaltungen als struktureller Prätext des Wintergartens Goethes

Unterhaltungen

deutscher

Ausgewanderten

ist ein utopisch

fundierter Erneuerungsimpetus eingeschrieben, der sich in Auseinandersetzung mit der Gegenwart vom zeitgenössischen Hintergrund abzusetzen versucht. Der gemeinsame Bezugspunkt, den Arnim spielerisch mit dem Rekurs auf zentrale Topoi Goethes anzitiert, ist somit die jeweilige defizitäre Gegenwart, die - mit der jeweils verschiedenartigen Zusammenführung der Bereiche Kunst, Individuum und gesellschaftlicher Interaktion - ins Visier der Texte gerät. 23 Inkompatibel mit Wulf Segebrechts These von der grundsätzlichen affirmativen Ausrichtung des »geselligen Erzählens« 24 fällt in den

Unterhal-

23

Im Kontext dieser Arbeit geht es weniger um die gattungsgeschichtlichen Implikationen bzw. die poetologische Wirkungsmächtigkeit der Erzähleinlagen (Vgl. dazu Klaus-Detlef Müller: Den Krieg wegschreiben. Hermann und Dorothea und die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ironische Propheten. Sprachbewußtsein und Humanität in der Literatur von Herder bis Heine. Studien für Jürgen Brummack zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Markus Heilman, Birgit Wagenbauer, Tübingen 2001, S. 85-100), etwa der Novelle als Krisenform (Gerhard Neumann: Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre - Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hrsg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers, Stuttgart 1984, S. 433-460), sondern primär um die Rahmenhandlung in Interferenz mit den Erzähleinlagen: Vgl. zur Rahmenhandlung Joachim Müller: Zur Entstehung der deutschen Novelle. Die Rahmenhandlung in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und die Thematik der Französischen Revolution. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. Hrsg. von Helmut Kreuzer, Stuttgart 1969, S. 152-175.

24

Die von Arnim übernommene Situation eines geselligen Zusammenschlusses und der (geplanten) Ausblendung der Gegenwart, die analog zu Goethe konstituiert wird, zitiert ein traditionsreiches Motiv des Rückzugs und der Abschirmung. Goethe bezieht sich in seiner Strukturkonzeption auf Boccaccios Dekamerone, in dem durch reihenweises Geschichtenerzählen in der Zurückgezogenheit des Klosters von der Pest abgelenkt werden soll. Auch wenn keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben gegeben ist, besitzen gesellige Rahmenerzählungen ein wesentliches Element dieser »Halserzählungen« (André Jolies): »Geschichten werden gegen das Gefährdende anerzählt, d.h.: es handelt sich, wo im geselligen Rahmen erzählt wird, um kein interesseloses Wohlgefallen am Erzählen selbst, sondern um eine recht handfeste Interessenwahrnehmung bedrohlichen Mächten gegenüber [...]: Die Geschichtenerzähler und ihre Zuhörer überbrücken keine leere, sondern eine sie bedrohende Zeit [...]: Die gesellige Erzählsituation verweist auf eine existentielle Notsituation.« Wulf Segebrecht: Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N . F . 25 (1975), S. 306-322, hier S. 308. Nach Segebrecht bedeutet die räumliche Sepa-

97

tungen das utopische Erneuerungspotential auf, das in einer künstlich erzeugten (und bewußt temporären 2 ') gesellschaftlichen Situation als gesprächsweise Annäherung durchgespielt wird; weder in den Unterhaltungen noch im Wintergarten kann angesichts der immer wieder beschworenen Neukonstituierung der Geselligkeit bzw. Gesellschaft im Akt des Erzählens (in einer Gemeinschaft) von einer bloßen Stabilisierung 26 die Rede sein. Beide Texte begreifen - in unterschiedlicher Weise das unmittelbar Gefährdende - d. h. den aus der Revolution resultierenden Krieg bzw. das Ausbleiben des befreienden Krieges - als Produkte längerfristiger Fehlentwicklungen. Damit ist eine Rückkehr zum alten Gesellschaftszustand als Brutstätte für Revolution und Krieg (Goethe) bzw. einer lethargischen Erneuerungsunfähigkeit (Arnim) bereits im Vorfeld ausgeschlossen. 27 Indem sie das historisch Neue als irreversibel annehmen, bedienen sie sich zugleich eines umfassenderen Diagnoseverfahrens und eines korrelativen Problem-Managements, dessen erfolgreicher Beginn in der Notgemeinschaft performativ belegt wird. Damit ergibt sich durch das in der Rahmenhandlung hergestellte Rückzugsmotiv der (mehr oder weniger gelungenen) >Verinselung< (d. h. Isolierung) einer kleinen, mehr oder weniger repräsentativen Gesellschaft, - nach Mannheim - ein utopisches und kein ideologisches Moment, das zugleich eine produktive Distanz als auch eine unabdingbare Nähe zum Zeitgeschehen ermöglicht (eben ohne daß eine gegen historische Einbrüche abgeriegelte Idylle konstituiert wird). In beiden Fällen bleibt das historische Geschehen in der mehr beschlossenen als vollzogenen Abgeschiedenheit präsent und die Isolation auf die fiktiv reale bzw. auch textextern reale kontemporäre Gegenwart bezogen. Auf diese Weise wird eine Parallelwelt mit einem Fensterplatz zur Realität als idealtypisches sozial-historisches Versuchsfeld geschaffen.

25

16

27

ration keineswegs eine Absage an das Gesellschaftssystem, aus dessen - zumeist durch Krisen, Seuchen, Kriege - erschüttertem Zusammenhang sich die Gruppe abgespalten hat; sie ist vielmehr von der konservativen Tendenz zur Wahrung und Bestätigung des Gegebenen getragen: Das Erzählen wird nach Segebrecht zum prinzipiell »apologetische[n] Akt«. Segebrecht, Geselligkeit und Gesellschaft, S. 309. Vgl. dazu besonders das Kapitel: Utopische Manifestationen - Vom abgeschütteten Provisorium zur ästhetischen Antizipation. Wulf Segebrecht: Die Thematik des Krieges in Achim von Arnims Wintergarten. In: Aurora 45 (1985), S. 3 1 0 - 3 1 6 , hier S. 3 1 1 . Das zeigt besonders die Integration Karls mit seinen schlagenden Argumenten gegen das Ancien Regime bzw. die spezifische, noch zu klärende Adaption der Textvorlagen im Wintergarten.

98

Sowohl in den Unterhaltungen wie im Wintergarten bleibt das Rahmen-Gespräch als ein »Ort der Synthese«28 und implizites Postulat insofern erhalten, als die gesellige (durch die Erzähleinlagen und den darüber geführten Dialog vermittelte) Integration (Goethe) bzw. die (im Sinne der Volkstätigkeit erfolgende) >nationale< Identitätsstiftung der Gesellschaft (Arnim) als Zielvorgaben impliziert werden. Manfred Frank verweist auf das um 1800 erwachende »Interesse am >GesprächVergangenheit< zurückzukehren versucht: So stellt Arnim im Gegensatz zu seiner Position anklagend-resigniert fest: »Die meisten Leute in Deutschland bleiben in der Vorzeit bey einem Punkte stehen, fortlebend denken wenige« (Schultz, 1,398). Zumindest für Goethes Unterhaltungen blieb dieser Zusammenhang nicht unbeobachtet: Bereits Gerhard Neumann hat in seiner Analyse von Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre und Goethes Unterhaltungen auf die Novelle als Krisenform verwiesen, in der die wesentlichen Momente einer gewandelten Selbsterfahrung des Menschen reflektiert werden: »1. ein emphatischer Begriff vom Subjekt und seiner Autonomie, der Eigentümlichkeit seiner Körpererfahrung [...] 2. das Ereignis der Französischen Revolution selbst, die diesen emphatischen Begriff des Subjekts [...] >sozialrelevant< macht, das heißt politisch zu garantieren sucht, indem sie mit den Rechts normen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch einen Rechtsanspruch des Subjekts an den Staat auf Erfüllung seiner - des Subjektes - Eigentümlichkeit denkbar werden läßt; 3. die Konsequenzen, die sich aus der Dialektik von emphatischem Subjektbegriff

100

sowohl eine F o r m von Gemeinschaft (Geselligkeit bzw. Volk) als auch die moderne Individualität die integralen Elemente ihrer utopischen A u s einandersetzung mit der Gegenwart dar.

und Rechtsnormen des Staats ergeben [...]; die Gleichheit aller, als Rechtsanspruch verstanden, schafft unvermerkt zugleich staatliche Organe, die sich in Maschinen der Normierung verwandeln«. Neumann, Die Anfänge deutscher Novellistik, S. 43jf. In der Novelle wird die doppelte Bedrohung des sich konstituierenden Subjekts durch soziale Redeordnungen und durch die Gewalt der Tauschgesetze insofern als ästhetisches Problem fokussiert, als die Einsicht für dieses doppelte Moment neuzeitlicher Selbsterfahrung die Notwendigkeit einer neuen Form des Erzählens mit sich bringt, die eine Vergegenwärtigung menschlicher Identifikationsvorgänge in der komprimierten Darstellung von Krisen leisten kann. Wenn sich im Verhältnis der sechs Geschichten zu dem Erzählrahmen die politisch und sozialgeschichtlich begründete Erfahrung der besagten >Spaltung< des Subjekts zwischen den inkommensurablen Gesetzen von Liebe, die einer (privaten) Ordnung des Symbols jenseits Verrechenbarkeit und Bewertung zuzurechnen sind, und den sozialen Normen einer Tauschgesellschaft, die eine (öffentliche) Zeichenordnung des Geldes (als ein sozial etabliertes Wertsystem) konstituieren, artikuliert, so findet sich im abschließenden Märchen der Versuch, »diese Zusammenhänge sozialer Zeichenproduktion und ihrer subjektbildenden Kraft aufzunehmen, spielerisch zu entfalten [...]: philosophische, naturwissenschaftliche, poetische und ökonomische Zusammenhänge auch politisch legitimierbar zu machen, wenn dieser >PolitikLiebe< kommuniziert.1 Individualität und Gemeinschaft

stehen einander zunächst

unvermittelt

gegenüber.

Der

Gedanke von Bildung als (möglichem) Ausgleichsmedium zwischen Individuum und Gesellschaft findet sich erst im Anton-Fragment und in den Kronenwächtern

wieder. Nichtsdestoweniger bilden beide - wie im

folgenden zu zeigen sein wird - die beiden zentralen Komponenten der utopischen Konstruktion im Wintergarten.

Wie in der Einleitung be-

schrieben erfolgt die Bestimmung der utopischen Konstruktionen über die inhaltliche Anbindung an Luhmanns Diagnose eines Differenzierungsformwechsel, in dessen Folge der - als Krise und Entfremdung wahrgenommene - Komplexitätsanstieg eine semantische Neuorientierung notwendig macht. Der exkludierte Mensch ist nun keinem Subsystem mehr zuzurechnen, das seine Identität verbürgt; er befindet - um jedem Funktionssystem eingeschrieben werden zu können - außerhalb der Gesellschaft. Auf diese für den Einzelnen virulente Problematik antwortet der Wintergarten

zum einen mit einem modernen Individualitäts-

konzept, mit dem sich der Einzelne als Einheit verstehen und (über das Kommunikationsmedium Liebe) kommunizieren kann und zum anderen mit dem Versuch einer Wieder-Erreichbarmachung von Gemeinschaft, die eine (Re-)Integration in die Gesellschaft verspricht. Die spezifische Verknüpfung der beiden Problemlösungsstrategien und ihre ästhetische Vermittlung in einer appellativen Zeitstruktur, deren utopische Intention mit der Präsentation des Bildes im Maroquinleder gebundenen Buch antizipiert wird, gilt es im folgenden zu beschreiben. Die utopische Di-

1

Die Liebe ist in den Unterhaltungen, besonders im Märchen als Medium der Bildung präsent: »Hierauf sagte der Alte lächelnd: >Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.«« (UA238)

102

mension besagten Bildes läßt sich in diesem Sinne nur vor Arnims Positionen zu Volk (als Gemeinschaft) und Individualität profund erfassen. Da diese Arbeit nicht primär auf den Krieg auf der Handlungsebene zielt, sondern auf den Veränderungen von utopischen Konstruktionen zwischen Kriegs- und Friedenszeit, werden hier nicht - wie es auf den ersten Blick vielleicht sinnvoll erschiene - die Adaptionen der Texte mit Kriegsthematik untersucht. Die in ihnen enthaltenen Veränderungen und Kürzungen erweisen sich als weniger deutungsbedürftig als die Verschiebungen in den Texten mit Liebesthematik und lassen sich im Kontext des bereits angedeuteten und nun genauer zu beschreibenden Gemeinschaftsbegriffes explizieren. Ihre Interpretation wird deshalb in dieser Arbeit mit dem Verweis auf Vickie Zieglers Studie zum Wintergarten ausgespart.2 Obgleich sich die neuartige Stellung des Individuums in vielfacher Hinsicht Raum im Wintergarten verschafft, werden im folgenden insbesondere die Erzähleinlagen untersucht, in denen Liebesgeschichten in besonders prägnanter Weise eine Verschiebung hin zum modernen Individualitätskonzept dokumentieren. Die verschiedenen, die Liebe betreffenden Erzählungen werden gleich mehrfach untersucht, um zu verdeutlichen, daß es sich bei dem modernen Individualitätskonzept nicht um einen zufälligen oder beiläufigen Aspekt des Wintergartens handelt, sondern um einen integralen Bestandteil seiner utopischen Konstruktion. Trotzdem wird dabei aus Platzgründen weder der Anspruch verfolgt, jeden Eingriff in den jeweiligen (literarischen oder dokumentarischen) Prätext zu beobachten und zu deuten, noch die (jeweilige) Zugehörigkeit jeder Erzähleinlage zu dem oben beschriebenen Schema (Gemeinschaft/Individuum) zu erläutern. Unter den Texten, die um das Thema Liebe kreisen, wird ζ. B. Poliphil und Polia ausgespart, da man angesichts von Arnims massiver Textkürzung der bekannten und äußert umfangreichen Hypnerotomachia Francesco Colonnas (auf knappe sechs Textseiten in der Erstausgabe der Wintergartens) prägnant auf die offensichtliche Veränderung des Endes verweisen kann. Die gesamte Stoßrichtung des Textes, der Arnim in einer französischen Ubersetzung von 1553 vorlag, wird damit bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das entscheidende Erwachen Poliphils nach der eben nur geträumten Vereinigung mit der geliebten Polia wird bei Arnim ausgelassen und das Happyend damit für die Realität reklamiert. Die Apotheose der Liebe, aber auch das Thema der

2

Vickie L. Ziegler: Bending the frame in the German Cyclical Narrative. Achim von Arnim's Der Wintergarten und E.T. A. Hoffmann's Die Serapionsbrüder, Washington D.C. 1987. 103

w i d e r s t r e b e n d e n G e l i e b t e n r e a g i e r e n auf d i e s e W e i s e i m S i n n e d e r h i e r z u g r u n d e g e l e g t e n T h e s e a u f d i e E n t w i c k l u n g e n in d e r R a h m e n h a n d l u n g u n d die bisherigen Erzähleinlagen u n d bestätigen die konstitutive B e d e u t u n g , d i e d e r L i e b e i m Wintergarten

zugesprochen wird.

F ü r den ebenfalls zentralen Gemeinschaftsbegriff erweist sich im besonderen die vieldeutige R a h m e n h a n d l u n g

im K o n t e x t des

Wunderhom-

A u f s a t z e s als r e l e v a n t , d i e i m f o l g e n d e n e x e m p l a r i s c h u n t e r d i e s e m A s p e k t interpretiert w i r d ; innerhalb ihrer impliziten u n d expliziten Zielsetz u n g (in d e n L e k t ü r e a n w e i s u n g e n u n d A u s l e g u n g e n ) m a c h e n a u c h d i e verschiedenen

Erzähleinlagen

E i n f l u ß ( b e s o n d e r s Philander·, Die Abenteuer

des Prinzen

Sinn. Träume-,

Bei Die

ihrem

präsumtiv

drei Erznarren·,

Karl Stuart-, Das Lied

heilsamen

Johann

von der Jugend)3

Beer, auf d i e

b r a c h l i e g e n d e V o l k s t ä t i g k e i t 4 h a n d e l t es s i c h - i m S i n n e d e r S t r a t e g i e d e r R a h m e n h a n d l u n g - u m e i n e d e r t r a g e n d e n S ä u l e n d e s Wintergartens.

Die

textnahen (gekürzten oder gekoppelten) Adaptionen der Texte Moscher o s c h s , G r i m m e l s h a u s e n s , W e i s e s u n d R e u t e r s ' - in A r n i m s A u g e n k a n o -

3

Z u der Adaption von Schaffgottschs Amtsbericht, Christian Reuters Schelmuffsky, Moscheroschs Philander und Grimmelshausens Springinsfeld vgl. Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770-1830, Frankfurt a.M. 2000, S. 257-272. Unergiebig z u diesem Thema: Gertrud Hausner: A c h i m von Arnim und die Literatur des 17. Jahrhunderts, Wien 1934.

4

»Man parallelisierte die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs mit der eigenen N a p o leonischen Ä r a und akzentuierte durch selektive Aneignung den patriotischen Gehalt barocker Dichtung. D i e seinerzeitigen Warnungen vor französischer Hegemonie in Kultur, Sprache und Politik wurden als Appelle an die Gegenwart interpretiert, damalige Rekurse auf >altdeutsche< Tugenden erneuert und als Chance begriffen, sich in bedrängter Zeit eines deutschen Nationalcharakters zu versichern.« Martin, Barock um 1800, S. 580.

5

Die Erzähleinlage des vierten Winterabends ist zu größten Teilen an Moscheroschs Wunderliche Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald angelehnt, die Arnim als fünfbändigen Raubdruck besaß: Johann Michael Moscherosch: Les Visions de D o n de Quevedo. Das ist: Wunderliche, Satyrische und wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald, L e y den 1646. Nach Angaben von Renate Moering (Vgl. dazu A r n i m Werke, Bd. 3, S. 1058f.) benutzte Arnim für die Erzähleinlage jedoch folgende Ausgabe: Philander unter den streifenden Soldaten und Zigeunern im dreißigjährigen Krieg. Aus: Wunderliche Wahrhafftige G e sichte Philanders von Sittewald das ist Straffschrifften H a n ß Michael Moscheroschen v o n Wilstädt. Anderer Theil. vermehrt und gebeßert. Getrukt und verlegt zu Strasburg bey Josias Städeln. 1665/1666 und kompiliert dies mit Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen: Der seltzame Springinsfeld. Hrsg. von Franz Günter Sieveke. A b d r u c k der Erstausgabe von 1670 mit den Lesarten der zweiten Ausgabe, Tübingen 1969. Christian Weise: Die drey ärgsten Ertz-Narren in der ganzen Welt, Leipzig 1679. Christian Reuter: Schelmuffskys / wahrhaftige, curiose und sehr / gefährliche / Reise - / Beschreibung / zu / Wasser und Lande / 104

nische Texte des deutschen >Volks< - stellen dabei einen essentiellen Rekurs auf das traditionswürdige Gemeingut dar, das in seiner neuen Positionierung das gemeinsame, hohe »Volksmäßige« 6 wieder in Erinnerung rufen soll. Das Textarrangement des Wunderhorns,

auf das im

Wintergar-

ten zurückgegriffen wird, verbürgt zusätzlich zu der expliziten politischsozialen Tendenz ein national-pädagogisches Anliegen, das der funktional zerfaserten Gesellschaft, die sich in einem »Arbeitshause« ( W H 4 1 9 ) einem ganzheitlichen Menschsein entfremdet, eine organische Weltkonzeption entgegenhält. Zugleich werden die Texte aus dem 18. Jahrhundert in auffälliger Weise an den Dreißigjährigen Krieg angebunden, so daß die Wintergesellschaft die eigene Gegenwart - in der früheren Kriegsepoche gespiegelt7 thematisieren kann und damit das selbstauferlegte Schweigegebot auch in den textnahen Adaptionen des 18. Jahrhunderts 8 grundsätzlich unterläuft.

6

7

8

in / Zweyen Theilen / curiösen Liebhabern vor Augen / geleget, / und mit Zweyen / Lust- und Trauer-Spielen / versehen. / Frankfurt und Leipzig, 1750. Achim von Arnim: An das geehrte Publikum. In: Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. Heidelberg 1808. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Hans Jessen, Stuttgart 1962. An das geehrte Publikum. Trost Einsamkeit, alte und neue Sagen und Wahrsagungen, Geschichten und Gedichte. Hrsg. von Ludwig Achim von Arnim, Heidelberg 1808, Spalte XII. Martin weist darauf hin, daß Arnim die ausgewählten Texte thematisch verbindet, »indem er sie historisch auf den Dreißigjährigen Krieg fokussiert. [...] Die jeweils angebundenen Texte, die Auszüge aus Reuter und Grimmelshausen werden damit gewissermaßen rückdatiert.« Martin, Barock um 1800, S. 259. Die Moscherosch- und Grimmelshausen-Adaptionen verweisen dabei auf die »physische wie seelische Gefährdung eines Individuums, dem in unsicheren Zeiten die Sicherheit einer religiös fundierten gesellschaftlichen Ordnung mangelt. In solcher Weise verallgemeinert, liegen zugleich die Bezüge zur kriegerischen und unbefestigten Gegenwart der Wintergarten-Gesellschaft zu Tage.« Martin, Barock um 1800, S. 269. Von der »montageartigen Zusammenstellung« des Amtsberichtes und der Insel Felsenburg muß allerdings die »stärker assimilatorische Kombinationsform des siebten Winterabends« von Reuters Scbelmuffsky und Weises Erznarren unterschieden werden; dabei ist Arnim offensichtlich Reuters Erzählung wichtiger als Weises Rahmengeschichte.« Martin, Barock um 1800, S. 262: »Die Erzählung von Philander unter den streifenden Soldaten und Zigeunern im Dreißigjährigen Krieg [...] aus dem Vierten Winterabend verknüpft demgegenüber disparate Vorlagen stilistisch und erzählerisch-motivisch. Einen Auszug aus dem Zentrum von Moscheroschs Soldaten-Leben verbindet Arnim mit wenigen Kapiteln aus der Eingangspartie von Grimmelshausens Springinsfeld-Roman. Um beide Texte einander anzunähern, kann Arnim sie zwar weitgehend im originalen Sprachstil belassen, muß sie aber ihrer Kontexte entkleiden.« Martin, Barock um 1800, S. 263; bei Moscherosch gerät der Held »in den Bereich des Teufels, auf den sich die Soldaten leitmotivisch berufen, droht dort sein Seelenheil zu verspielen, erkennt unter lutherischer Anleitung seine Verfehlungen, büßt IOJ

ι. Die Rahmenhandlung im Wintergarten Anders als die Unterhaltungen, die mit einer lakonischen Einleitung sofort in medias res gehen, wird der Wintergarten als Sammlung eingeführt, deren Entstehen in einer kurzen Beschreibung der Erzählumstände resümierend geschildert und zugleich - mit dem Zitat des Ritters von Turn - mit einem explizit didaktischen Anspruch verbrämt wird: Uberaus ein edel und hübsche Meinung ist's, sich in dem Spiegel der alten Historien, die uns von den Voreltern verlassen sind, zu besehen, uns dadurch zum Guten zu wenden, das Üble zu fliehen, Herzen und Gedanken in den Dienst des Allmächtigen zu richten. ( W G 74, Hervorhebung von C . N . )

Auch im Rückzug der Arnimschen Wintergesellschaft läßt sich das »Interesse des Tages« nicht per se ausklammern, da es als genuiner Bezugspunkt der Gesellschaft im Sinne einer angestrebten »Wendung« zum »Guten« als implizite, situativ-pragmatische Anwendungsaufforderung in der Rezeption dessen, »was bloß erzählt und nicht gewesen«, durchgehend erhalten bleibt. Diese Worte, die der Ritter an seine Töchter richtet, legt der Erzähler im besonderen Maße der »nun zerstreuten, übellaunigen« Wintergesellschaft ans Herz, zu deren Unterhaltung die folgenden Geschichten zusammengebracht wurden, die sehr unzufrieden mit der ganzen Welt, doch immer etwas Neues von ihr wünschte, endlich aber mit allem, was bloß erzählt und nicht geschehen, ganz nachsichtig, aufmunternd, wohlwollend und zufrieden schien. ( W G 74)

Während zu Beginn noch beiläufig konkrete Phänomene einer chaotischen Zeit gestreift werden (»Wer kann alle Leute fahren lassen, die jetzt Fußreisen machen«, WG 75), produziert der »graue Mann«, den der Erzähler zur Unterhaltung mitreisen läßt, gleich zu Beginn der Rahmenhandlung9 deren konstitutive allegorische Dimension, indem er sich über augenfällige Allusionen - als Personifikation der gleichnamigen Jahreszeit ausweist: »Er meinte, daß er diesen Winter nicht überleben

9

[...] und wird zuletzt gnädig behandelt. Einerseits kompliziert Moscherosch das Muster durch Einschübe und Abschweifungen, expliziert aber andererseits den religiösen Gehalt unvermittelt [...]. Auf beides verzichtet Arnim. Er strafft das Soldaten-Leben zu einer übersichtlichen Novelle, die den Kontext der Gesichte substituiert, Philanders Weg begradigt und religiöse Anliegen eher ins Bild setzt als ausdrücklich verhandelt.« Martin, Barock um 1800, S. 264^ Vgl. zur Rahmenhandlung Bettina Knauer: Arnims Wintergarten als Arabeskenwerk. In: Universelle Entwürfe - Integration - Rückzug. Arnims Berliner Zeit (1809-1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen ArnimGesellschaft. Hrsg. von Ulfert Ricklefs, Tübingen 2000, S. 6 1 - 7 2 .

106

könnte, ohne sich selbst zu überleben« ( W G 76). Als beide in der Stadt ankommen, aus der die »Feinde« gerade abmarschiert sind, verweigert der Winter vergeblich die Öffnung des grauen Kastens: »aber kaum waren die Schlösser eröffnet, so stieg eine solche Schneewolke heraus, oder sank herab vom Himmel, was ich nicht unterscheiden konnte, daß meine Pferde vor Schrecken durchgingen.« ( W G 77) Dem Erzähler fällt auf, »daß der Alte wohl gar eine allegorische Person, der Winter, ich meine der Repräsentant der Jahreszeit, gewesen sei« ( W G 77). In dieser ironisch gehandhabten Verzögerung der Erkenntnis, die sich dem Leser lange vor der expliziten Benennung des Erzählers aufdrängt, ergibt sich, indem die fiktiv reale Gestalt zugleich als Personifikation und als reales Jahreszeitenphänomen aufzufassen ist, eine Brechung des konventionellen Beginns: So zog also der Winter ein, wo die Feinde ausgezogen, und meine frohen Erwartungen und Gedanken erstarrten wie der lebendige Strom, der durch die Straße flöß. Alles besetzte und bewachte dieser traurige Winter mit seiner langweiligen Heerschar, [...] selbst an dem Boden knirschten die gejagten Füße noch unwillig, daß auch der treue Boden, den selbst die Feinde mußten stehen lassen, seine Farbe angenommen.« (WG 77) 10 Die spezifische Metaphorik der Passage macht hier deutlich, daß es sich nicht nur um eine historisch rekonstruierbare Verschlüsselung der historischen Nachkriegszeit handelt, sondern vielmehr auch um den Versuch, den »Zustand der gesellschaftlichen Erstarrung« 1 1 einzufangen, der sich vom gesellschaftlichen Ganzen bis hin zum Einzelnen erstreckt. 12 Die 10

11

12

Arnims spezifisches Verhältnis zum vaterländischen Boden wird auch in Träume des Wintergartens noch einmal im Motiv des Einbeißens ins Vaterland (wie er es auch im Stammbuch Varnhagens van Ense formuliert hatte) evident. In der Ausdehnung der Winterherrschaft auf den Boden, der bisher von feindlichen Requirationen ausgeschlossen war, deutet sich also die umfassend desolate Situation des Vaterlandes an. Vgl. zu der Motivik auch Thomas Sternberg: Die L y rik Achim von Arnims. Bilder der Wirklichkeit, Wirklichkeit der Bilder, Bonn 1983· Segebrecht, Die Thematik des Krieges im Wintergarten, S. 3 1 1 . Bereits im Aufsatz Von Volksliedern resümierte Arnim: »Es fehlt an Krieg, es fehlt an Frieden, eine unerschwingliche Last wälzt sich den Söhnen auf!« (WH 423) »Sogar meinen Atem fand ich im Dienste des Winters, wie er sich an die Fensterscheiben legte und mir den tröstenden Anblick der Sonne verschloß.« (WG 77) Die spezifische Bildlichkeit des Winters wird dann in Segebrechts Sinne offengelegt, wenn der Erzähler den Mittelzustand zwischen Krieg und Frieden - mit einer überraschenden Fortsetzung des begonnenen Satzes, die das Pathos des anstehenden Todes ironisch mit dem Hinweis auf die Schaden zu nehmenden Ohren bricht - mit der Kälte des Winters assoziiert: »Krieg oder Frieden, dachte ich, eins von beiden sei nur gewiß, dieser Mittelzustand bringt mich - um meine Ohren. O weh! ich fühlte meine Ohren nicht mehr, die heili-

107

textstrategisch entscheidende allegorische Überformung der Rahmenhandlung findet sich auch im Aufeinandertreffen des Erzählers und seiner zukünftigen Gastgeberin, die in einer strukturellen Reziprozität seine Begegnung mit dem Alten wiederholt. Während er den Alten zunächst als reale Person und dann als Allegorie begreift, erscheint ihm die Hausherrin zuerst als geisterhafte Statue, die bei seinem Anblick davonläuft und ihn mit »Entsetzen« fühlen läßt, »daß es Geister gebe, wenn auch dies keiner gewesen.« ( W G 78) A u c h die übrige Wintergesellschaft besteht in diesem Sinne aus weitgehend namenlosen, durch Attribute oder Funktionen typisierten Gästen der Hausherrin, die sich unter dem einzigen Gesetz, »das aber strenge beobachtet wurde, nichts Bestimmtes von den Begebenheiten der Zeit zu reden und dafür allerlei Geschichten aus andern Zeiten und Ländern zu sammeln, die dann gemeinschaftlich genossen wurden, entweder frei vorgetragen oder abgelesen« ( W G 80), zusammenfinden. Der Sinn des Schweigens zu politisch virulenten Themen liegt weniger in einer möglichen gesellschaftlichen Verrohung und dem Verlust geselliger Bildung, als vielmehr in der Konzentration auf einen Textbestand - zusammengesetzt aus »Geschichten aus andern Zeiten und Ländern« - , der das gemeinsame Genießen in besonderer Weise fördert und damit zugleich die Wintergesellschaft

unter

»volksgemäßen«

Voraussetzungen

in

eine

Winter-

Gemeinschaft zu transformieren imstande 1st. 13

13

gen Zeugen der Ehrlichkeit waren beide erfroren.« (WG 78) Wenig überzeugend deutet Irmgard Berchtenbreiter diese Passage - im Sinne Jakob Böhmes als Indiz für eine beklagenswert schlecht ausgebildete Empfindlichkeit: »Vorerst geht es um die >Qualität< jener >winterlichen< Ohren. Ihre >Empfindlichkeit< ist keineswegs ein solch glücklicher Zustand erfüllter Wirklichkeit, wie der Böhmesche Kontext für >Empfindnis< ihn beschreibt. Hier handelt es sich viel eher um Organe, die noch kaum damit begonnen haben, in der Funktion w i r k l i c h zu sein. Dies sind wenig geübte, schlecht abgehärtete Ohren«. I.B.: Achim von Arnims Vermittlerrolle zwischen Jakob Böhme als Dichter und seiner Wintergesellschaft, München 1972, S.64Í. Hierin manifestiert sich eine deutliche Abweichung von den Erzählpostulaten, die - wie schon das Gesetz vom Interesse des Tages zu schweigen - eine rigidere und ausführlichere Erörterung in den Unterhaltungen finden: Die formale Entwicklung der Unterhaltungen spiegelt sich eben auch in den immer erweiterten und immer strenger erteilten Regeln für ein ästhetisch anspruchsvolles Erzählen, die es dann in den Erzähleinlagen umzusetzen gilt; so bezieht Luise nach der Prokurator-Geschichte, die in Italien spielt, Position gegen die zeitliche und örtliche Verschiebung, die im Wintergarten zum Programm gemacht wird: »Ich leugne nicht, daß ich die Geschichten nicht liebe, die unsre Einbildungskraft immer in fremde Länder nötigen [...] Mag man doch den Schauplatz der Feenmärchen nach Samarkand und Ormus versetzen, um unsere Einbildungskraft zu verwirren. Wenn Sie aber den Geist, unser Herz bilden wollen, 108

2.

» H i s t o r i s c h - r o m a n t o - v ö l k e r o - l i e d e r i s c h e n Sachen«: D a s >Volk< als Z i e l u t o p i e

2.1.

Das >Volk< in Von

Volksliedern

Während das Allgemeine bei Goethe in der Rahmenhandlung als Gesellschaft präsent ist und somit gleich zu Beginn die Geselligkeit und der auf gesellschaftliche Harmonie angelegte (zum Teil durch Entsagung geprägte) Habitus des Einzelnen fokussiert wird, spielt bei Arnim gesellschaftlich angemessenes Verhalten keine thematische Rolle; das Allgemeine als Korrelat des Individuellen erscheint im Wintergarten weniger als Manifestation einer intakten Geselligkeit, sondern vielmehr in dem Versuch 1 4 wie es in der Konzeption der Zeitung für Einsiedler

heißt - , »die hohe

Würde alles Gemeinsamen, Volksmäßigen darzustellen«.' 5 In Arnims Nachschrift Von Volksliedern

zu Des Knaben

Wunderhorn

ist die rele-

vante, überzeitliche Bezugsgröße - wie gesagt - als »Volksthätigkeit« bezeichnet, die sich in ihrem hypostasierten Gegenstück, dem Volkslied, manifestiert und zugleich auf seinen Produzenten, das Volk, zurückverweist: Kein Volksschauspiel kann entstehen, weil es den Künsten kein Volk giebt; die äußere Noth hat sie verbunden nicht innere Lust, sonst wäre e i η Volk, so weit man deutsch am Markte reden hört. Wisset, Künstler sind nur in der Welt, wenn sie ihr nothwendig, ohne Volksthätigkeit ist kein Volkslied und selten eine Volksthätigkeit ohne dieses, es hat jede Kraft ihre Erscheinung, und was sich

14

15

so geben Sie uns einheimische, geben Sie uns Familiengemälde, und wir werden uns desto eher darin erkennen und, wenn wir uns getroffen fühlen, desto gerührter an unser Herz schlagen.« ( U A 1 8 7 ) Während die Unterhaltungen - mit Blick auf die Verknüpfung von Inhalt, Form und Rezeption - in einem hohen Maße auch auf die Regenerierung des Kunstwerks abzuzielen scheinen, indem ein weiter Raum für ästhetische Programme und Auseinandersetzungen über Form-Inhalt-Relationen geschaffen wird, intendiert der Wintergarten offensichtlich die Neuformung des Menschen in der neuen historischen Situation weniger durch eine zeitgemäß neukonzipierte Form (deren Umgestaltung analog zu Arnims Dichtungstheorie, die die Form als zeitlich annimmt, den Gehalt aber als überzeitlich versteht - trotz des expliziten Zitatcharakters fast zwangsläufig stattfindet) des historisch Uberlieferten als vielmehr über noch zu klärende inhaltliche Aspekte. Die Vergegenwärtigung eines zu aktualisierenden (und zum Teil zeitgemäß zu ergänzenden) kulturellen Erbes muß im Zuge eines längerfristigen Projekts gedeutet werden, dessen Wurzeln sich bis zur historisierenden Anknüpfung an den germanischen Mythos in Ariels Offenbarungen zurückverfolgen lassen, der - in unkonventioneller und für Arnim typischer Weise - in die christlichhistorische Zeit transponiert wird. Vgl. zu Ariels Offenbarungen: Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik, S. 27-69. Arnim, An das geehrte Publikum, Spalte XII. 109

vorübergehend in der Handlung zeigt, das zeigt in der Kunst seine Dauer beym müssigen Augenblicke. (WH 423) D a die Volkstätigkeit - so die Diagnose in Von Volksliedern

- als die

realisierte, vitale Potenz des Volkes fehlt, kann auch das Volk als Einheit nicht mehr vorausgesetzt werden. D e m formulierten Bestreben, ein »Volksmäßiges« mithilfe der Volkstätigkeit

»darzustellen«,

als Volkslied Gestalt gewinnenden liegt dabei implizit das

-

Zielkonstrukt

>Volk< als eine idealtypische (Rezeptions- und Produktions-)Gemeinschaft zugrunde. Die Konzeption der Zeitung diesen Vorstellungen. Rahmen der Zeitung

16

für

Einsiedler

basiert auf

Zeitgemäßes Bearbeiten und Weiterdichten im

sollte die überlieferte Volkspoesie für die Gegenwart

lebendig erhalten, um so auch das >Volk< zu neuem nationalen Leben wecken. 1 7 Zahlreiche zwischen 1760 und 1780 entstandene neologische Komposita mit dem Partikel Volk 1 8 verweisen in diesem Sinne auf neue Bedeutungsschichten des Volksbegriffs, der über semantische Erweiterungen und Verschiebungen quasi neu gebildet wird. 1 9 16

17

18

19

Obwohl die exponierte Positionierung des Volksbegriffes für die Phase der Heidelberger Romantik insgesamt signifikant war, ergeben sich unterschiedliche Zugriffe: Gemeinsam ist den - je nach den axiomatischen Prämissen des jeweiligen Weltbildes zwangsläufig differierenden - Überlegungen allerdings die Uberzeugung von der fundamentalen Bedeutung von Volk und Volkspoesie, wobei gerade der letzteren - als Medium der Sammlung, Selbstdarstellung und Selbsterneuerung des Volkes - in den Zeiten, in denen sich die kollektive Identität über nationale Begrifflichkeiten zu definieren begann, große Aktualität zukam. Günter Niggl: Geschichtsbewußtsein und Poesieverständnis bei den >Einsiedlern< und den Brüdern Grimm. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hrsg. von Friedrich Strack, Stuttgart 1987, S. 216-224, h ' e r S. 224. Ausgehend von diesem massierten Aufkommen der neuen Begriffe spricht Hermann Bausinger von einer »Erfindung der Volkspoesie«: H. B.: Formen der Volkspoesie, 2 Berlin 1980, S. 11 ff. Arnim ist sich in diesem Sinne des konstruktiven Charakters des Wunderhorns bewußt: »Eine Geschichte des Volkslieds aus unserm Wunderborn zu entwickeln, scheint mir ebenso wunderlich als die Mineralogie aus einem steinernen Gebäude zu studieren. Es würde immer eine große Planlosigkeit verrathen, wenn wir so etwas beabsichtigt hätten, daß wir gerade viele der wichtigsten Lieder für die Geschichte des Volksliedes ganz oder wenigstens in ihren Haupttheilen ausgeschlossen.« (Schultz, II, 569) Die Etablierung eines semantisch vielschichtigen Begriffes setzt zugleich einen komplexen Prozeß zwischen dem figuralen und referentiellen Volksdiskurs in Gang, mit dessen Hilfe ein langfristiger und folgenreicher Identitätsstiftungsprozeß initiiert wird. Vgl. Alexander von Bormanns Überlegungen im Anschluß an Paul de Man in A . v . B . : Volk als Idee. Zur Semiotisierung des Volksbegriffs. In: Volk Nation Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hrsg. von Alexander Bormann, Würzburg 1998, S. 35-56, hier S. 44ff.

110

Arnims (Ziel)-Vorstellung v o m >Volk< koppelt sich in Von

Volkslie-

dern in entscheidender Weise an den entstehenden Nationalismus an, wobei die Termini V o l k und Nation 2 0 in Arnims Terminologie weitgehend auswechselbar sind. 21 Der Nationalismusbegriff - als komplexer und vielschichtiger Terminus 22 der sozialgeschichtlichen bzw. sozialpsychologischen Forschung - wird im folgenden doppelt relevant: Z u m einen geht es um eine spezifische Form des Nationalismus bei Arnim, die abseits von ihrem historischen Wahrheitsgehalt interpretatorisch-deskriptiv

aufge-

zeigt werden soll, zum anderen wird dieser individuelle konstruktive Zugang 23 mit seinem diskursiven zeitgenössischen Hintergrund abgeglichen. Ziel ist also keineswegs die realgeschichtliche Verortung möglicher Funktionen des Nationalismus, sondern die spezielle Problemdiagnose und die damit korrelierende Rolle des Nationalismus bei Arnim im zeitgenössischen Kontext. Die Beschreibung dieser individuellen Perspektive auf das Volk bzw. die Nation kann dem Nationalismus (obwohl sie partiell mit seinen allgemeinen Ansprüchen und verbindlichen Funktionen konvergiert) als einem faktisch-historischen und

mental-intentionalen

Phänomen in seinem komplexen Bedingungs- und Wirkungsgeflecht kaum gerecht werden. Der kontemporäre Nationsbegriff ist deshalb von dem umfänglichen, verschieden akzentuierbaren, modernen Nationsbe-



21

22

23

Mit denen A r n i m im übrigen sowohl Preußen (und auch andere deutsche Staaten) als auch >Deutschland< bezeichnet: Die Bezeichnungen sind also keineswegs präzise oder stabil, vor allem auch deshalb, weil sie in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen verwendet werden. Das wird u.a. in seinen kultursoziologischen Reflexionen über das genuin entwurzelte Theater deutlich, das »in der That« der N a t i o n »immer fremder« wurde, »zulezt sich sogar einbildete über die Nation erhaben zu seyn« ( W H 408): Ex negativo läßt sich aus diesen Überlegungen die Existenz einer (fatalerweise ignorierten und von den Bühnen ausgeschlossenen) »Nation« (als repräsentativer Teil einer Gesellschaft) erschließen. »Der Begriff >Nationalismus< ist einer der inhaltlich vieldeutigsten, die es im politischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch gibt. [...] D e r Nationalismus erscheint mithin als coincidentia oppositorum, und erst im konkreten historischen Zusammenhang kann deutlich werden, w o f ü r der Begriff jeweils steht oder stehen soll.« Heinrich August Winkler: D e r Nationalismus und seine Funktionen. In: Nationalismus. Hrsg. von H . A . W . 2. erweiterte Auflage, K ö nigstein/Ts. 1985, S. 5-46, hier S. 5. Damit ist hier lediglich die Ebene der zeitgenössischen Selbstbeschreibung gemeint, keineswegs jedoch eine verkürzte historische Gesamteinschätzung oder ein übersteigerter Konstruktivismus, der die »pure Erfindung« einer g e dachten Ordnung< unterstellt: Wehler verweist darauf, daß diese »Erfindung« immer an objektive, äußerst komplexe Sachverhalte angekoppelt bleibt. Vgl. Wehler, Nationalismus, S. 37. III

griff der historischen Forschung zu trennen. 24 Im folgenden ist bei Arnim vom Nationalismus die Rede, wenn die Existenz einer deutschen Nation oder eines deutschen Volkes axiomatisch behauptet oder vorausgesetzt wird. [...] Die Konzeption eines »deutschen Vol24

Unter der modernen Nation wird eine Idee verstanden, die im 18. Jahrhundert entstanden ist und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann: Langewiesche konstatiert - die Forschung resümierend - eine fundamentale Zäsur in der europäischen Nationsbildung um 1800: »Das im Begriff der modernen Nation eingeschlossene Egalitätsprinzip ließ auf Dauer keinen grundsätzlichen Partizipationsausschluß innerhalb der Nation mehr zu - wohl aber Ausschluß durch Ausstoßung bis hin zur physischen Vernichtung. Das umfassende Partizipationsgebot der Moderne und dessen Massenbasis - dieses weltgeschichtlich Neue an der >Moderne< trat unter den Losungsworten Nation und Nationalstaat an.« Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 22. Das Konzept der »modernen Nation« hat ihre Voraussetzungen dementsprechend 1) in der Idee einer Staatsbürgergesellschaft, in der alle Männer als rechtlich und politisch Gleiche verstanden werden (mit den folgenden Zentralforderungen: »Abbau der ständischen Privilegiengesellschaft und Partizipation an den staatlichen Entscheidungen durch ein demokratisiertes Männerwahlrecht, gekoppelt mit allgemeiner Wehrpflicht«, die sich u. a. mit spezifischen Abweichungen in Arnims virulentem Verfassungsverlangen und seinen Landsturmplänen spiegeln); 2) in der Tatsache, daß gesellschaftliche Entwicklungen eine großräumige Kommunikation erlaubten: »Große Wirtschaftsräume bildeten sich heraus, die auch die lokalen Produzenten unter Veränderungsdruck setzen, gekoppelt mit Industrialisierung, Agrarreformen und der Verstaatlichung vieler Lebensbereiche; der Staat brach mit neuen Steuern, mit der Durchsetzung von Schul- und Wehrpflicht lokale Lebenswelten auf, [...] die Kommunikationsrevolution schuf großräumige Informationsnetze« und erlaubte eine Nationalisierung der Massen; 3) in der Vorstellungswelt der modernen Nation beginnt die Nation - vorbei an der Religion - zum Letztwert aufzusteigen, eine Tendenz, die sich in den utopischen Konstruktionen in der Zeit zwischen 1800 und 1815 ebenfalls ohne eine intendierte Abwertung der Religion zumindest andeutet: Gott wird bei Arnim vielmehr zum entscheidenden Bürgen der vaterländischen Ambitionen. Vgl. dazu Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 31-34. Bernd Estel definiert die moderne Nation als »eine (zumindest teilweise geschlossen siedelnde) Bevölkerung, die eine eigene, arbeitsteilige Gesellschaft auch modernen Zuschnitts bildet oder bilden kann, und deren Angehörige sich mehrheitlich als eigene ethnische oder historisch, d. h. durch Gemeinsamkeit des kollektiven, insbesondere: des politischen Schicksals begründete Einheit verstehen; eine Einheit, die nach diesem Verständnis ein natürliches Recht auf Unabhängigkeit nach außen besitzt, und die deshalb auch einen eigenen, den Nationalstaat errichten oder behalten soll. Als Nationalismus schließlich soll ein Nationalbewußtsein gelten, das der so verstandenen Nation und ihrem Wohl einen, wenn nicht absolut, dann doch ¿«verweltlich höchsten Wert, also einen (ontischen bzw. sittlichen) Vorrang vor allen anderen sozialen Gebilden und deren innerweltlichen Zielsetzungen einräumt, und deshalb die oberste Loyalität der Menschen bzw. der eigenen Person der Nation vorbehält.« B.E.: Grundaspekte der Nation. In: Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften. Länderdiagnosen und theoretische Perspektiven. Hrsg. von Β. E., Tilman Mayer, Opladen 1994, S. 1 3 - 8 1 , hier S. 19.

112

kes< gründet auf der Vorstellung von einer die Menschen in den einzelnen Territorien übergreifenden ontologischen Entität von existentieller Bedeutung f ü r den einzelnen. A l s Nationalist wird derjenige bezeichnet, f ü r den das >Volk< mehr ist als die Summe seiner Teile, nämlich ein handelndes und leidendes Subjekt der Geschichte. 2 '

Arnims Volksbegriff im Wunderbom-Aufsatz

läßt sich im Zuge der Be-

deutungsverschiebungen und -erweiterungen keine klar definierte, einheitliche Bedeutung zuweisen. Der Terminus unterliegt bei ihm »einer durchgängigen, allerdings differenzierten Verzeitlichung, ändert seine Semantik je nachdem, ob er im gegenwärtigen, vergangenen oder - und dies ist der häufigste und angesichts des programmatischen Charakters des Aufsatzes auch der wichtigste - zukünftigen Zeithorizont verwendet wird.« 26 Diese »wichtigste« Bedeutungsschicht, die das >VolkVolk< als Zielutopie: Preußen oder Deutschland?

Arnims preußischer Patriotismus scheint auf den ersten Blick mit dem ostentativ vertretenen deutschen Nationalismus zu kollidieren. O b w o h l er sich ebenfalls der »klassischen Topoi des Nationalismus [...]: das >auserwählte Volkheilige Vaterlandhistorische Missions die >TodfeindeNationerzogen< w e r den/1

70

71

Germanistentages in München vom 17.-22. Oktober 1966. Hrsg. von Benno von Wiese (u. a.), Berlin 1967, S. 126-144, hier S. 143. Damit schließt Arnim sich an den Auserwähltheitstopos der deutschen Nationalgemeinde an: Vgl. eine Zusammenstellung verschiedener Positionen der intellektuellen Elite bei Wehler, Nationalismus, S. 6 j f f . Immer wieder prallen auf diese Weise widersprüchliche Motivkreise aufeinander, das Einbeißen in die Erde Brandenburgs - die befremdliche Leibhaftigkeit der vaterländischen Verzweiflung ist als gängige Metapher Arnims auch im Wintergarten eines der stärksten patriotischen Bilder - , die olympische Göt-

126

Gerade in der betonten Internationalität ist bei Arnim konzeptuell der Weg zu einem selbstbewußten, aggressiven Nationalismus geebnet. Die Parallelen zu Friedrich Ludwig Jahn, der eine offensive Variante dieser neuen vaterländischen Besinnung vertritt, machen diesen modellimmanenten Anknüpfungspunkt in besonderer Weise augenfällig. In einer ähnlichen Paradoxie wie Arnim geht auch Jahn davon aus, daß das deutsche Volkstum die Idee weltbürgerlicher Gesinnung und Humanität, »den heiligen Begriff der Menschheit in sich aufgenommen«72 habe. Mit dieser These des >kosmopolitischsten< und deshalb >deutschesten< Deutschen werden traditionell kosmopolitische Grundsätze ad absurdum geführt und in eine nationale Stoßrichtung umgeleitet. Jahns Hauptschrift Deutsches Volkstum von 1810 beklagt in diesem Sinne die Gefährdung der Deutschen (als Inkarnation des »heiligen Begriffs der Menschheit«), die unter dem permanenten Einfluß Frankreichs von der »Krankheit« der »Ausländerei« befallen und damit »volkstumslos« zu werden drohen. Gegen diese degenerierenden Einflüsse müsse - so Jahn in einer fragwürdigen Weiterentwicklung von Herders Thesen in Adrastea - Abschirmung, Konzentration auf das Eigene und schließlich konsequente Volkserziehung eingesetzt werden. Herder hatte bereits in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit auf das Vorurteil allerdings explizit im Sinne eines eingeschränkten Nationalismus - verwiesen, das er nicht in einem oberflächlich aufklärerischen Sinne73 abzulehnen bereit war.74 Jahn reduziert Herders komplexe Vorstellungen auf

71

73

74

terwelt in Träume und die Konfrontation mit französischer, englischer und italienischer Geschichte vor Berliner Lokalkolorit (Brandenburger Tor). Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Mit einem Vorwort von Gerhard Fricke, Leipzig 1936, S. 38. Vgl. dazu Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart, Bad Cannstatt 1983. Gerhard Sauder: Aufklärung des Vorurteils - Vorurteile der Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S· 2 5 9 - 2 7 7 . »Das Vorurteil ist g u t , zu seiner Zeit: denn es macht g l ü c k l i c h . Es drängt Völker zu ihrem M i t t e l p u n k t e zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in i h r e r A r t , brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon K r a n k h e i t , B l ä h u n g , u n g e s u n d e F ü l l e , A h n d u n g d e s T o d e s !« Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 36. In diesem Sinne erfolgt bei ihm auch die Rückbesinnung auf den »bestimmtesten Kreis« des alten Griechenlandes: »Wie anders dachten einst darüber die Zeiten und Völker, da alles noch so e n g e n a t i o n a l war. Aus dem besondersten e i n z e l n e n Bedürfnisse stieg jede Bildung herauf und kehrte dahin zurück - lauter E r f a h r u n g e n , T a t ,

127

die Idee eines autochthonen Volkstums, dessen volkspädagogisch initiierte Bildung primär die Stärkung des nationalen Einigungswillen anvisiert, und legt auf diese Weise einen trivialisierenden und wirkungsmächtigen Entwurf vor, der gerade in der (auch von Arnim praktizierten) nationalisierenden Anknüpfung an kosmopolitisches Gedankengut dessen originäre Intentionen konterkariert. Mithilfe von Jahns aggressiver Überschreitung wird die Ambivalenz der Denkfigur erkennbar: Die nationale Integration und Identitätstiftung gründet sich auf die dezidierte Ausgrenzung des Fremden, 7 ' die auch in Arnims Texten einen konstitutiven Bestandteil der nationalen >Selbsterfindung< darstellt; die ausgrenzende Nationalisierung vollzieht sich dabei auf der alten >kosmopolitischen< Basis und wird schließlich im offen »gewalttätige[n] Potential von Arnims Nationalismus« 76 unübersehbar.

2.4.

Die anachronistisch konzipierte Erreichbarkeit von Gemeinschaft in Von Volksliedern

In der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn und der Novellensammlung Der Wintergarten soll in diesem Sinne - über eine Reanimation der Volkstätigkeit - eine Gemeinschaft (das >Volkwieder< erreichbar gemacht werden, die in den Verwerfungen der Zeit verloren gegangen scheint. Eine tiefere Ursache für die defizitäre Gegenwart hatte Arnim in dem »allgemeinen Klage- und Elend-Wesen« ( W H 4 1 4 ) erkannt, das von den Regierungen in seiner reinigenden Funktion als Fieber verkannt wurde: »Statt einer höheren Thätigkeit machten sie gegenthätige (antipoetische) Bemühungen, das Fieber sollte sich schwächer zeigen, indem sie die gesammte Kraft des Körpers minderten« ( W H 4 1 J ) . Darin ergibt sich insofern ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für Arnims Argumentation

7! 76

A n w e n d u n g des L e b e n s « . Ebd, S.68. Vgl. dazu: Karl Menges: Vom Nationalgeist und seinen »Keimen«. Zur Vorurteils-Apologetik bei Herder, Hamann und anderen >PatriotenStaat< liest; in der zunehmenden, widernatürlichen Abstraktion des Staates - wenn er sich von den »Einwohnern« (der Gesellschaft) zu separieren beginnt - spiegelt sich in diesem Sinne ein problematischer Deformationsprozeß: Die Spaltung war gemacht, der Keil eingetrieben, bald sollte der Staat nicht mehr für die Einwohner, sondern als Idee vorhanden seyn, manches Volk kannte seinen eignen Namen nicht mehr und wo ein Staat sich selbst geboren, da sah man, daß die andern eigentlich nur noch Namen waren. (WH 415) Historisch gesehen ist diese Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine konsequente semantische Antwort auf die irreversible Umstellung des Gesellschaftssystems auf eine primär funktionale Differenzierungsform. Eine repräsentative Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems im ganzen läßt sich in der Gesellschaft nicht mehr durchsetzen, so daß es nahe liegt, »von Differenz statt von Einheit auszugehen«:78 »Die sich [...] durchsetzende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft honoriert diese Tatbestände, wenngleich nicht mit der hier formulierten Einsicht. Sie reagiert auf die Technizität der Funktionscodes, die sie zutreffend als Abstraktion und zugleich in sehr problematischer Weise als >Entfremdung< interpretiert.«79 Trotz entscheidender Gegensätze knüpft Arnim mit seinem Entfremdungstopos in diesem Sinne an Schillers Briefe Erziehung 77

78

79 8c

des MenschenSo

über die

ästhetische

und damit an eines der wirkungsmächtigsten

Vgl. dazu: »Es wurden ihnen [den Regierten] Grenzen des Nothwendigen gesezt, man schnitt die Freude davon ab - so ward ihrem Leben aller Werth genommen« (WH415); »Die Scheidung zwischen Freude und Bedürfniß war einmal gemacht« (WH 418). Niklas Luhmann: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. In: N. K.: Soziologische Aufklärung. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Bd. 4, Opladen 1987, S. 67-73, hier S. 68. Luhmann, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 69. Schiller greift dabei Rousseaus Entwurf einer bisherigen Menschheitsgeschichte als Geschichte der Selbstentfremdung auf: »Was aber bei Rousseau als Maßstab der Geschichtskritik erscheint, gerät bei Schiller mit der Idee der Identität zum Ideal einer versöhnten geschichtlichen Existenz.« Vgl. dazu Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 138. Vgl. auch Heinrich Mettler: Entfremdung und Revolution: Brennpunkt des Klassischen. Studien zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen im Hinblick auf die Begegnung mit Goethe, Bern, München 1977. Rose Riecke-Niklewski: Die Metaphorik des Schönen. Eine kritische Lektüre der Versöhnung in Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Tübingen 1986. Jürgen Habermas: Hegels Begriff der Moderne. Exkurs zu Schillers Briefe Uber die ästhetische Erziehung des Menschen. In: J. H.:Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 59-64. 129

Analysekriterien des als defizitär verstandenen menschlichen Daseins in der Neuzeit an. Anders als für Schiller bildet für ihn allerdings nicht ein auf das Individuum und dessen gesellschaftlicher Interaktion begründeter ästhetischer Staat, sondern die (ebenfalls kulturell zu leistende) Restituierung eines >Volkes< die Voraussetzung für die Uberwindung der »Spaltung«. »Die im romantischen Nationen-Code angelegte Spannung zwischen der beklagenswerten Gegenwart und einer als Kulturnation idealisierten Gemeinschaft« 81 bietet eine Orientierung, wenn sie die Nation (das >VolkRenaturgegebenen< holistischen Inklusions-Anspruch willkürlich 97 in ihrer Selbstverständlichkeit in Frage gestellt wird, bedarf es einer funktional ausgerichteten Selbstverortung, die von Arnim entsprechend ironisch präsentiert wird. Weder Verbesserung des Blutes, noch Bewahrung und Verbesserung von Sittlichkeit oder gar zu vermittelnde Seeligkeit sind die Prämissen des jeweiligen »Geschäftes« oder - mit Luhmann - der Code, unter dessen Voraussetzung die bezeichneten Gruppen im entsprechenden System operieren bzw. sich selbst reproduzieren. Die spezifische negative Dynamik, die Arnim der beginnenden Auflösung der Stände attestiert, ist dabei ein gedanklicher Reflex auf das nunmehr irreversibel funktional differenzierte Gesellschaftssystem.' 8 Diese aus seiner Sicht künstliche 96 97

98

Bewegung

Gaier, Soziale Bildung und ästhetische Erziehung, S. 23éff. D. h. diese Umstellung erfolgt nach Arnim ohne Zwangsläufigkeit, sondern als Folge von selbstverschuldeten Umdisponierungen innerhalb der Stände. Arnim sieht hier die historische Veränderung eher als Aktion und weniger als Reaktion; er bietet deshalb für dieses Phänomen keine Erklärung an. Wenn in der Folge nur noch von einem funktional differenzierten Gesellschaftssystem die Rede ist, so soll dabei Luhmanns wichtige Erkenntnis, daß neben der primär wirksamen funktionalen Differenzierung noch immer andere Differenzierungsformen gleichzeitig präsent bleiben, nicht vergessen werden. D.h. eine Differenzierungsform löst die vorangegangene nicht ohne Rest ab: J

33

wird als Problem fokussiert und - wie an der permanent suggerierten Möglichkeit, durch eine freie Entscheidung den historisch destruktiven Prozeß konstruktiv umzukehren, deutlich wird - für grundsätzlich korrigierbar gehalten. Arnim beobachtet in der Tradition Schillers die Funktionalisierung als wesentliche Fehlentwicklung; in Anbetracht des Verdachts, »daß keiner mehr sein eigner Herr, daß alle bereits eingefangen in einem großen Arbeitshause« (WH 419), können sich Formen des integrativen geselligen Beisammenseins" - so die Argumentation - nicht mehr angemessen entwickeln: Schauspiel, Gaukelspiel und Musik, wie die Stadt sie zur Versöhnung für ihre Einkerkerung braucht, und das Land, wie es sich daran freut [...] alles dies wurde Eigenthum einzelner, um es besteuern zu können [...] Neue Feste konnten unter den Umständen so wenig als neue Sprüchwörter allgemein werden. [...] Der Nährstand, der einzig lebende, wollte thätige Hände, wollte Fabriken, wollte Menschen die Fabrikate zu tragen, ihm waren die Feste zu lange Ausrufungszeichen, und Gedankenstriche, ein Komma meinte der, hätte es auch wohl gethan. ( W H ^ f . )

Nach Arnim fehlt der Ort in der Gesellschaft, wo der Mensch als Mensch in seinem ganzheitlichen Anspruch integriert ist: »Wie die Balken unsrer Decken heutiges Tags von einem sonst unbekannten Schwämme verschwächt werden, so werden die Menschen um uns plötzlich hohl und leer, da sie noch kaum angefangen zu tragen und stützen, zu leisten und zu streben. Wo seyd ihr versunken? Ihr liegt verloren im Allgemeinen, im Weltmeere mit tausend Schätzen.« (WH 424, Hervorhebung von C. N.) Sobald die Logik des Wirtschaftssystems das gemeinschaftliche Beisammensein der Notwendigkeit von ungestörter Produktion und Verkauf zwangsläufig nachordnet, wird das gesellige Leben unter die jeweilige Systemrationalität subsumiert. Das Fest wird in diesem Sinne jeweils unter anderen systemischen Gesichtspunkten verortet und gegebenen-

99

» Vielmehr wechselt im Laufe der Evolution deren Primat. Trotz primär funktionaler Differenzierung persistieren auch in modernen Gesellschaften Bereiche, die segmentär bzw. stratifikatorisch differenziert sind, ebenso wie in der stratifizierten Gesellschaft des europäischen Mittelalters in Teilbereichen segmentare Differenzierung überlebt hatte [...].« Schroer, Individuum in der Gesellschaft, S. 242. Dieter Langewiesche weist auf die grundsätzliche Bedeutung des Festes im 19. Jahrhundert hin: »Feste galten überall als ein Mittel, Gemeinschaft zu stiften und zugleich in symbolischen Bildern Zukunft zu entwerfen. Das trifft auf die Revolutionsfeste Frankreichs ebenso zu wie auf die nationalen Feste in Deutschland des 19. Jahrhunderts«. Langewiesche, Nation, Nationalismus, N a tionalstaat, S. 1 1 2 .

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falls - was Arnim als Berechnung versteht - unterstützt (wegen der zu erwartenden Steuerabgaben) oder negiert (wegen des Produktions- und Verdienstausfalls). Der holistische Impetus des Festes droht dabei verlorenzugehen, obwohl seine Bedeutung und seine Notwendigkeit gerade unter den von Arnim beobachteten Umständen ungebrochen bleibt: Da die primär funktional differenzierte Gesellschaft nichts anderes mehr ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse, kann sie »nicht selbst in sich selbst als ganzes noch einmal vorkommen [...]« und bietet »dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als gesellschaftliches Wesen< existieren kann« (III, 158); im System der Intimbeziehungen, an dem die ausgeschlossenen und in die Systemumwelt verbannten psychischen Systeme als >Personen< beteiligt sind, stellt das Fest insofern einen wesentlichen Ort der möglichen geselligen Integration dar. Die Folgen der Umstellung auf eine primär funktionale Gesellschaftsformdifferenzierung werden auch in der Beschreibung von Vagabunden in »unbestimmten Geschäften« greifbar. Indem Arnim diese Heimatlosen als Indikator für die entscheidende funktionale Desintegrationsbewegung der Gesellschaft interpretiert, geht er zwar historisch fehl. Die Inklusion von »Mischexistenzen« (Luhmann) wurde gerade in segmentar bzw. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften, die auf deren Zuordnung zu einem Teilsystem angewiesen waren, zum Problem, weil »zu viel Verhaltenerwartungen an der Person hängen, die ohne Schichtindex nur ein privates Individuum wäre« (1,30): »In der alten W e l t w a r die Inklusion durch die soziale Position konkretisiert, deren normative Vorgaben dann nur noch die Möglichkeit boten, den Erwartungen mehr oder weniger gerecht zu werden.«100

Dieses problematische Ausnahmephänomen der Mischexistenzen wird in einer funktional differenzierten Gesellschaft jedoch zum Normalfall, so daß Arnim die problematische Ausschlußbewegung in ihrer Virulenz als neu auffallen konnte. Die fehlende gesellschaftliche Integrationskraft, 101 die dem Einzelnen die ganzheitliche Zuordnung zu einem (und nur einem) Teilsystem verweigert 102 und die gesellschaftliche Inklusion statt-

100

Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 626.

101

E r kann z w a r potentiell jedem Funktionssystem zugeordnet werden, verliert dabei aber innerhalb des Gesellschaftssystems seine Ganzheit: A l s Ganzes kann er nur noch außerhalb der Gesellschaft existieren.

102

O b w o h l die systemtheoretisch-historischen A n a l y s e n Luhmanns überzeugend verdeutlichen, daß nur die Verbannung des Menschen in die U m w e l t der m o dernen Gesellschaft, durch Inklusionsanspruch qua Exklusion, die Möglichkeit

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dessen über eine zersplitternde Teilzuordnung unter verschiedenen funktionalen Aspekten regelt, wird für ihn in der Ausschlußbewegung des Nährstandes augenfällig, dem es unter diesen Voraussetzungen

nicht

gelingt, Individuen in ihrer komplexen Gesamtheit zu integrieren. Der »Nährstand« grenzt insofern »neuerdings« 103 die »Heimatlosen«

aus:

»Weil der Nährstand eines festen Hauses bedarf, so wurde jeder als T a u genichts verbannt, der umherschwärmte in unbestimmtem Geschäfte« ( W H 4 2 0 ) . Ohne die funktionale Zurechnung, d.h. ohne die Funktionsvoraussetzung »des festen Hauses«, werden die Menschen in diesem Fall aus der Sicht des »Nährstandes« allenfalls als Problem wahrnehmbar, als wenn dem Staate und der Welt nicht gerade diese schwärmenden Landsknechte und irrenden Ritter, diese ewige Völkerwanderung ohne Grenzverrükkung, diese wandernde Universität und Kunstverbrüderung zu seinen besten schwierigsten Unternehmungen allein taugten. (WH 420) 104 Im Gegensatz zur neuartigen funktionalen Codierung des »Nährstandes« setzt A r n i m auf eine ganzheitliche Perspektive, die auf das Ganze des »Staates«, der »Welt« bzw. der Gesellschaft als relevanten Bezugspunkt rekurriert, und wehrt sich gegen den Glauben, viele zusammen könnten etwas werden, was kein Einzelner darunter zu seyn brauche, so sollte sich kein einzelner Krieger bilden, sie wurden zur Ruhe und zum nährenden Leben eingepfercht, sie musten dem ewigen Streite gegen die Barbaren entsagen. Man wollte keine Krieger, doch man wollte Kriegsheere, man wollte Geistlichkeit, aber keinen einzelnen Geist (WH 418).

103

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für die beschriebene spezifische Individualitätsform, akzentuiert Arnim hier nur die negativen Folgen der Ausgrenzung. Die Verortung des Einzelnen ist nicht mehr reguliert, sondern muß von diesem selbst vorgenommen werden: »Eine ausgeprägt funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems muß es dem einzelnen überlassen, in welchem Moment und mit welchen Interessen er an den Funktionssystemen der Gesellschaft partizipiert«. Niklas Luhmann: Die Autopoiesis des Bewußtseins. In: N . L.: Soziologische Aufklärung. Die Soziologie und der Mensch. Bd. 6, Opladen 1995, S. 5 5 - 1 1 2 , hier S. 99. Da dieses Phänomen als neues Problem fokussiert wird, bleibt die stratifikatorische Differenzierung weiterhin für einen utopischen Rekurs offen und der eigentliche, unentfremdete Nährstand wird nach wie vor als integrationsfähig angesehen. Er beansprucht auch in der desolaten Gegenwart eine Sonderstellung unter den Ständen: »So wurde das Thätige und Poetische im Lehr- und Wehrstande allmählig aufgehoben, w o nicht die allmächtige Noth alle Kräfte lüftete, nur der Nährstand konnte nicht so unumschränkt vernichtet werden, nähren muste sich doch jeder, so kümmerlich es seyn mochte. Darum finden wir auch das neuere Volkslied [...] diesem angeschlossen in mäßiger Liebe, Gewerbund Handelsklagen, Wetterwechsel und gepflügtem Frühling.« (WH 418) » S o danken w i r die mehrsten unsrer A r z e n e y e n d e n Z i g e u n e r n , die wir Verstös-

sen und verfolgt haben: Durch so viel Liebe konnten sie keine Heimath erwerben!« (WH 421)

136

Innerhalb der verschiedenen Systeme wird der Mensch in seiner Ganzheit belanglos; es folgt daraus zwangsläufig die funktionale Gleichschaltung der Krieger und geistvollen Menschen in ihren jeweiligen Funktionssystemen. Arnim antizipiert damit ex negativo seine anachronistische Vision von der Synthese aus höchster >gebildeter< Individualität und einer Totalintegration, die den Menschen in seiner spezifischen Disposition annimmt und als >Menschen< integriert. Die harmonische Funktionsfähigkeit des Gesellschaftsganzen scheint nur legitim, wenn die einzelnen »Glieder« sich wiederum aus vollwertigen Individuen zusammensetzen; wo beides nicht mehr gewährleistet ist - weder das harmonische Zusammenspiel der einzelnen Teile des Gesellschaftskörpers (»Aber so wenig die Glieder [Wehrstand und Lehrstand] ohne den Magen [Nährstand], so wenig war der Magen ohne die andern Glieder in jener uralten Fabel« WH 418), noch die holistische Integration des Individuums - waltet notwendiger Weise Niedergang, Spaltung und Freudlosigkeit (Vgl. WH4i8f.). Arnim beschreibt damit (im problematischen Kontext eines »Regenerationsmythos«,10' d.h. einer kontaminierenden idyllisch-nostalgischen Verklärung der Vergangenheit) eine historisch begründbare Erfahrung, die dem als krisenhaft empfundenen Wechsel der Differenzierungsform zugeschlagen werden kann. Bei seiner Sehnsucht nach ganzheitlicher Inklusion handelt es sich um ein »spezifisch modernes Phänomen«, das jedoch übersieht, »daß noch nie jeder Mensch nur als Mensch Mitglied einer Gesellschaft gewesen war« (III, 159): Dieser aus Verlustgefühlen resultierende Glaube an ein vergangenes (und wiederbelebbares) holistisches Menschsein blockiert auch bei Arnim die Einsicht, »daß früher das Problem gar nicht auftreten konnte, weil man als Mitglied einer Gesellschaft Individuum war und nicht umgekehrt.« (III, 15^) Der Wunderhornaufsatz beklagt den als fatal verstandenen Wegfall der gesellschaftlichen Ganzheit, der als gedankliche Kontrastvorlage für das WintergartenProjekt zu berücksichtigen ist. Diese spezifische Verlusterfahrung angesichts der fehlenden gesamtgesellschaftlichen Regulierung - wie sie beispielsweise die hierarchische Ordnung in der Stratifikation noch bereitstellte - , die zugleich an die wichtige Etablierung einer modernen Individualitätsform gekoppelt ist, gilt es im folgenden noch präziser zu erläutern.106 105

Wehler, Nationalismus, S. 64.

106

Gerade mit Blick auf die Individualität w i r d deutlich, daß L u h m a n n die z u nehmende Differenzierung der Gesellschaft nicht w i e A r n i m als einseitigen R a tionalisierungsprozeß begreift, dem er bereitwillig eine pathologische Struktur

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Die Kommunizierbarkeit von Individualität

3.1.

Individualität und Liebe: Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium

Die Frage, wie der moderne Anspruch auf Individualität in den Wintergarten integriert wird, leitet den Blick auf Luhmanns historischsoziologische Untersuchung von der Liebe als Passion, in der korrespondierend mit der neugefaßten Individualität das entsprechende Bedürfnis nach neuen Formen ihrer Kommunizierbarkeit untersucht wird. Die Umstellung von der primär stratifikatorischen auf die primär funktionale Differenzierung der Gesellschaft führt dazu, daß die traditionellen Selbstverortungsprämissen - Name, Stand, Alter, Geschlecht etc. - nicht mehr für die Selbstidentifikation als Grundlage des eigenen Erlebens und Handelns ausreichen; der einzelne wird auf die Ebene seines Persönlichkeitssystems verwiesen, um in Differenz zu seiner Umwelt (und in ihrer Handhabung) Bestätigung zu finden. >Liebe< als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium erfüllt dabei die Aufgabe, Individualität zu kommunizieren, und bezeichnet einen Code, »nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.« (LP 23) In der Liebes-Semantik werden auf diese Weise die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse registriert und verarbeitet. Insofern geht es in diesem Zusammenhang nicht um eine generelle Verortung von romantischen Liebeskonzepten, die in zahlreichen Überlegungen und Darstellungen von Liebe und Ehe vorliegen,107 sondern um den Stand des Individuums im

zuspricht, weil er fundamentale Grundlagen des sozialen Lebens untergräbt, sondern - axiologisch neutral - als Qualitätsveränderung auffaßt, der alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt. D a m i t distanziert er sich von Versuchen, v o n sich aus M o m e n t e (wie es z . B . Jürgen Habermas mit den Strukturen verständigungsorientierter Kommunikation, Talcott Parsons mit seiner Vorstellung von solidaritätsstiftender Moral oder Emile Durkheim mit der Idee von einer Bindungswirkung institutionalisierter N o r m e n tun) in der Gesellschaft zu benennen, die imstande sind, die divergierenden Teilbereiche in modernen Gesellschaften zu integrieren. D a z u sieht die Systemtheorie keine Veranlassung. V g l . Klaus Bendel, Funktionale Differenzierung und gesellschaftliche Rationalität. Z u N i k l a s Luhmanns Konzeption des Verhältnisses von Selbstreferenz und Koordination in modernen Gesellschaften. In: Zeitschrift für Soziologie 2 2 ( 1 9 9 3 ) , H e f t 4, S. 2 6 1 - 2 7 8 , hier S. 2 é i f . 107

Paul Kluckhohn liefert einen Überblick in seiner umfänglichen Studie: Die A u f f a s s u n g der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle a.S. 1 9 2 2 , S. 6 1 5 - 6 2 9 , in der er bereits auf den historischen 138

Kontext des Differenzierungsformwechsels, für dessen neue Position und Selbstverständigung die gewandelten Liebeskonzeptionen als eindeutige Indikatoren zu verstehen sind. Da Luhmanns Modell genau diese Schnittstelle zwischen dem symbolisch vergesellschafteten Kommunikationsmedium >Liebe< und den gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen fokussiert, eignet er sich für die folgenden Überlegungen besser als andere Konzeptionen zur historischen Bedingtheit der Liebessemantik.108 Obwohl das Kommunikationsmedium Liebe als kompensatorische Strategie in Folge der gesellschaftlichen Exklusion des Individuums verstanden wird, steht seine politisch-strategische Okkupation oder Nutzbarmachung nicht zur Debatte. Luhmann läßt in seinem hauptsächlich auf den Differenzierungsformwechsel konzentrierten Modell außer Acht, daß die über eine symbolisch generalisierte Kommunikation gesteuerte Selbstwahrnehmung das Individuum auch im Sinne spezifischer hegemonialer Klassen diszipliniert.10? Im Gegensatz dazu konzentriert sich Michel Foucault in Der "Wille zum Wissen genau auf die damit implizierte Machtfrage, wenn er untersucht, wie sich Diskurs- und Machtpraktiken zum »Dispositiv der Sexualität« im Zeichen einer »Bio-Macht« formieren. Er kann mit seinen Überlegungen plausibilisieren, daß in historischen (Macht)-Verschiebungen auch der Wille zum Wissen strategisch disponiert wird: »Die Sexualität ist an Machtdispositive gebunden, die jüngeren Datums sind; sie hat sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend ausgeweitet; die ihr zugrundeliegende Konstellation ist nicht auf Reproduktion ausgerichtet, sondern war von Anfang an auf eine Intensivierung des Körpers - seine Aufwertung als Wissensgegenstand und als Element in den Machtverhältnissen - bezogen.« 110 Die daraus resultierenden Machttechniken wurden zunächst in den ökonomisch privilegierten und poliWandel des Liebesbegriffs hinweist, dem er mit einem Abstecher in die antike griechische W e l t im europäischen Kontext (Frankreich, England, Deutschland) nachgeht. L u h m a n n selbst verweist auf die großen Unterschiede v o n A u t o r z u A u t o r am E n d e des 18. Jahrhunderts, die größer zu sein scheinen »als die U n terschiede zwischen den historischen Epochen. Keine Leitdifferenz kann sich durchsetzen« ( L P 1 7 1 ) . 108

Einen knappen und präzisen Überblick über die literaturwissenschaftlichen Zugänge zu diesem T h e m a liefert Julia Bobsin: V o n der Werther-Krise zur L u cinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1 7 7 0 1800, Tübingen 1994, S. 1 2 - 1 5 .

109

Darauf verweist Nikolaus W e g m a n n in Diskurse der Empfindsamkeit. Z u r Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18.Jahrhunderts, Stuttgart 1988. V g l . dazu auch Jutta Greis: D r a m a Liebe. Z u r Entstehungsgeschichte der m o dernen Liebe im D r a m a des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1 9 9 1 .

110

Michel Foucault: D e r Wille z u m Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M. 1983, S. 129.

139

tisch führenden Klassen eingesetzt; als Instrument der Hegemonie des Bürgertums grenzt sich das neue Dispositiv vom alten Allianzdispositiv mit seinem festen, sich selbst reproduzierenden Regelsystem ab: »Die Klasse, die im 18.Jahrhundert zur Hegemonie kam, dachte gar nicht daran, ihren Körper eines Sexes zu berauben [...] Im Gegenteil, sie hat sich einen Körper gegeben, den es zu pflegen, zu schützen, zu kultivieren galt, damit er seinen Wert behalte.« 111 Auch wenn also Luhmanns machttheoretische »Verkürzungen der Fragestellung gegenüber Foucaults historischer Diskursanalyse« 1 1 2 kritisiert werden können, erweist sich der Fokus seines Modells (nämlich auf die soziale Evolution und die Korrelation von gesellschaftlicher Differenzierung und daraus resultierender Individualisierung) für diese Fragestellung - gerade auch in der Beschränkung - als angemessen. Im Sinne dieser Zuspitzung bleiben hier auch die ungleichen Voraussetzungen von Mann und Frau im romantischen Liebeskonzept, in dem Frauen als »die weiblichen Trägerfiguren für männliche Sehnsüchte«" 3 fungieren, von untergeordnetem Interesse.

N a c h Luhmann nun geht es in dem sich ausdifferenzierenden Medium Liebe nicht um eine totale thematische Fixierung aller Kommunikationen auf den Partner bzw. das Liebesverhältnis, sondern um seine spezifische Codierung," 4 die sich durch die beständige Mitbeachtung des Partners

111

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Foucault, Wille zum Wissen, S. 148. Dabei bildet der Sex »das Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens. Einerseits gehört er zu den Disziplinen des Körpers [...]. Andererseits hängt er aufgrund seiner Globalwirkungen mit den Bevölkerungsregulierungen zusammen.« Foucault, Wille zum Wissen, S. 173. Hans-Peter Schwander: Alles um Liebe? Zur Position Goethes im modernen Liebesdiskurs, Opladen 1997, S. 100. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M. 1979, S. 68. Vgl. zu diesem Komplex auch Barbara Duden: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47 (1977), S. 125-140. Anneliese Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit. Eine Studie zum klassischen Frauenbild in Goethes Wilhelm Meister, Bern, N e w York 1986. Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. Ulrike Prokop: Die Illusion vom großen Paar. 2. Bde, Frankfurt a.M. 1991. Hans-Peter Schwander kritisiert an Luhmanns Studie genau das Faktum, daß sie einerseits auf die Ungleichheit der Voraussetzungen von Mann und Frau aufmerksam macht (u.a. L P 172), sie aber andererseits in seinem weiteren Ansatz, »der immer von zwei gleichberechtigten Individuen« ausgeht, ausblendet. Schwander, Alles um Liebe, S. 99. Sobald ein Kommunikationsmedium eine spezifische Sondersemantik hervorgebracht hat, können die durch das Medium geordneten Prozesse selbstreferen-

140

herausbildet; zunächst erscheint der neue Anspruch auf Individualität (als Anspruch auf Anerkennung der eigenen egozentrischen Welt- bzw. Selbstentwürfe), der das Zurechnungsgeschehen lenkt, als interpretatorische Zumutung. Infolgedessen bedarf die neue, komplizierte Alltagsorientierung der tradierten Semantik (in Form von kulturellen Uberlieferungen, literarischen Vorlagen, aber gerade auch von den dadurch mitgeprägten konzisen Sprachmustern, Situationsbildern etc.) als einer verläßlichen Basis, die Selektionen und Zurechnungen in allgemein verständlichen Kategorien erleichtert. Luhmann unterstellt dabei - mit einem deutlichen Anklang an Kosellecks Vorstellung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - historische Kontinuität als zentrale Beobachtungsprämisse, die gerade mit Blick auf Arnims Texte (bei denen es sich aufgrund ihrer Anachronizität um paradigmatische Schichtungs-Texte handelt) einen heuristisch wichtigen Zugang eröffnet. Was eine Epoche letztlich charakterisiert, muß insofern nicht neu sein; die epochale Sinngebung kann sich vielmehr aus Strukturverschiebungen speisen, die Tradiertes und Gegenwärtiges neu arrangieren: Sucht man unter dieser Leitvorstellung nicht nach Epochenschwellen, sondern nach zentralen Momenten der Sinngebung, dann lassen sich im Bereich der Liebessemantik deutliche Schwerpunktverschiebungen erkennen, die sich parallel zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen entwikkeln. ( L P 50)

U m diese zentralen Zusammenhänge beschreibbar und verstehbar machen zu können, unterscheidet Luhmann in Liebe als Passion vier Sinnbereiche, von denen die Form des Codes das Ordnungsprinzip erfaßt, unter dem die Einheit des Codes über alle Differenzen formuliert wird; indem sie sowohl die Möglichkeiten von Kommunikation als auch ihre Transformationen regelt, ist sie die Voraussetzung für die evolutive Ausdifferenzierung einer Semantik. Ein weiterer Sinnbereich fokussiert die variierenden Aspekte, die zur Begründung von Liebe herangezogen werden; auch die semantische Einarbeitung von neuen Problemen in den Code als Verweis auf gesellschaftliche Umstellungen und schließlich die Anthropologie, der sich der spezifische Liebes-Code zuordnen läßt, stellen grob skizziert Sinnbereiche her, die, indem sie - trotz ihrer starken Schematisierung - als Raster die verschiedenen Veränderungen in der Liebessemantik und damit die Umbrüche in der >Gesamtrealität< rekonstruiertiell, d. h. reflexiv werden: Erst mit dieser semantischen Codierung ist die A u s differenzierung des Mediums abgeschlossen und die universelle Zugänglichkeit gewährleistet: »Erst in dieser F o r m kann das Problem der Inklusion und der >Chancengleichheit< gelöst werden.« ( L P 36)

141

und erkennbar machen, als Indikator eines spezifischen, zeitgenössischen >Menschenromantische Liebe< weitergesponnen wird." 8 3.1.1. Die Liebesgeschichte des Kanzlers Schlick und der schönen Sienerin: Eurial und Lukrezia In einer der wenigen Untersuchungen" 9 zum Zusammenhang von den jeweiligen Prätexten und den Erzähleinlagen des Wintergartens versucht Vickie Ziegler,120 vor allem den edukativen, auf die spirituell-politische Wiedergeburt Deutschlands gerichteten Impetus der Novellensammlung Arnims herauszuarbeiten. Geleitet von dieser Arbeitsprämisse würdigt sie die Eingriffe und Veränderungen in der ersten Erzähleinlage, der Liebesgeschichte des Kanzlers Schlick und der schönen Sienenn, primär unter den von der Rahmenhandlung formulierten Kriterien; Aneas Silvius Piccolominis Eurial und Lukrezia111 wird vom Invaliden als Beispielerzählung eingeführt, die eine schon zuvor resümierte Moral exemplifizieren, mäeutisch zur emotionalen Selbsterkenntnis und patriotischen Einsicht der Hausherrin beitragen (um auf diese Weise »viele unsrer Landsmänninnen in ihrer Liebe künftig patriotischer zu machen, sie ganz der vaterländischen Jugend zuzuwenden«; WG 83f.) und zugleich deren Liebe zum - ehrlosen und untreuen122 - Franzosen für den patriotisch-integren IlS

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Die Modernisierung der Erzähleinlagen ist dabei auch immer im Sinne einer höheren Glaubwürdigkeit bzw. einer kontemporären Relevanz des Geschehens für den zeitgenössischen Leser zu verstehen. Vgl. dazu u.a. Anton Reichl: Uber die Benutzung älterer deutscher Literaturwerke in Achim von Arnims Wintergarten. In: Schulprogramm Arnau. Böhmen 1889-1890. Konrad Kratzsch: Untersuchung zur Genese und Struktur der Erzählungen Ludwig Achim von Arnims, Jena 1968. Präziser noch ders.: Die Vorlagen zu Achim von Arnims Wintergarten in der Zentralbibliothek der deutschen Klassik. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliographie 29 (1968), S. 29-44. Ziegler, Bending the frame. Die Erzählung des späteren Papstes Pius II. war Arnim in einer Ausgabe zugänglich, die weder Verfasser noch Ubersetzer nennt: Ein Liebliche, vnd Warhafftige History von zweien Liebhabenden Menschen, Euriolo vnd Lucretia [...] Jetzt mit schönen Figuren widerumb neu gezieret. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn, durch Weygand Han (1550). Es dürfte sich dabei aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Separatdruck der von Nielas von Wyle übersetzten Translatzen aus dem Jahr 1497 handeln. Vgl. Arnim, Werke, Bd. 3, S. 1052-1054. Dieses nationale (Negativ-)Stereotyp wird immer wieder akzentuiert; in späte-

145

Invaliden gewinnen soll. Damit ist eine patriotische Sendung formuliert, die gekoppelt an berühmte Vorbilder (wie die Römischen Venezianischen

Elegien,

die

Epigramme, Fiammetta und Corinne) eine schon zuvor in

der - zu beklagenden - Distanz zur »guten Ritterzeit« (83) angedeutete Krisenzeit indiziert. Das mit Pathos vorgetragene Postulat (»sei es unser Bemühen«) des Invaliden begreift diesen Tiefpunkt als potentiellen Wendepunkt: Wir [Europa] stehen nun einmal gar nicht mehr auf der Erde wie die andern Weltteile, sondern, von diesen auf dünnem Seile in der Luft getragen, sei es unser Bemühen wie gute Seiltänzer, wo wir der Menge unvermeidlich als fallend erscheinen, uns am höchsten von dem Seile aufschnellen lassen; das feste Bestehen ist doch einmal nicht möglich. (WG 84, Hervorhebung von C. N.) In diesem Sinne versteht auch Arnim die momentane Schwäche als mögliches »Wachstum«: »Es ist aber in unserm Volke ein allgemeines Sehnen zum Höheren, aber es geht ihm wie Leuten die stark wachsen, sie sind während der Zeit verdammt schwach und träge.« (Schultz, 1 , 1 1 3 ) 1 2 3 Die gegenwärtige Trostlosigkeit birgt insofern eine Chance: » O b sich etwa die Welt ausruht zum Ausserordentlichen?« ( W H 424) Die erläuternde Uberleitung des Invaliden zu seiner Erzählung formuliert en miniature reduzierte und komprimierte Programm des Wintergartens,

das

indem sie

durch die Rückbesinnung auf das in den Traditionen bzw. der eigenen nationalen und kulturellen Identität 124 brachliegende Potential zu beleben trachtet.

123

124

ren Erzählungen wie Seltsames Begegnen und Wiedersehen oder der Tolle Invalide wird der Blick auf den fremden Nachbarn dagegen deutlich modifiziert, die agierenden Personen individualisiert. Vgl. zur Einschätzung des Fremden bei Arnim: Moßmann, Das Fremde ausscheiden. J. Edward W. Mornin: National subjects in the works of Achim von Arnim. In: German Life and Letters 24 (1970/1971), S. 316-327. Bernhard Gajek: Achim von Arnim: romantischer Poet und preußischer Patriot ( 1 7 8 1 - 1 8 3 1 ) . In: Sammeln und Sichten. Festschrift für Oscar Fambach zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Joachim Krause (u. a.), Bonn 1982, S. 264-282. Vgl. auch: »Du [Brentano] wirst mir eingestehen, daß die Welt vom bösen ins schlimme vom schlimmen ins schlechte, vom schlechten ins schlechtere, vom schlechteren ins fatale, vom fatalen in die einzige Seligkeit übergeht.« (Schultz, 1,142) »Nationalität erscheint [...] als ein spezifischer Code der Inklusion, mit dem Vergemeinschaftung sozial konstruiert wird und der sich in bestimmten historischen Situationen als angemessener als andere Codes erweist.« Die Imagination der gesellschaftlichen Einheit als Gemeinschaft kann auch durch eine ästhetische Codierung erfolgen. Vgl. dazu Giesen; Junge, Vom Patriotismus zum Nationalismus, in: Nationale und kulturelle Identität, S. 256. 146

Neben der fiktiv verhandelten politischen Stoßrichtung der Novellenadaption ergeben sich - gerade in der polysemierenden Verbindung von Rahmenhandlung und Erzähleinlage - auch noch andere Deutungsperspektiven; zum einen muß die spezifische Exegesesituation in der Rahmenhandlung berücksichtigt werden, in der Christof Wingertszahn ein ästhetisches Konzept erkennt. Der vorgetragene Text führt »zu Spiegelungen im Medium des Bilds und der Poesie; dazu werden verschiedene Rezeptionsmodi angeschnitten, die den Text humoristisch als Scherz, tragische Liebesgeschichte und zotenhaft deutbar machen [...]. Als Kennzeichen für die ästhetische Rezeption dient die Anregung zur Aktualisierung der textuellen Mehrdeutigkeit.«12' Im Gegensatz zu der als propagandistisch eindeutig verstandenen Einleitung des Textes führt die nachträgliche Auslegesituation also zwangsläufig zur Potenzierung seiner Deutungsmöglichkeiten. Diese performativ zelebrierte ästhetische Mehrdeutigkeit widerspricht im Wintergarten nicht der politischen Position, sondern flankiert sie: Der Text entzieht sich infolgedessen einer möglichen Reduktion auf propagandistisch handhabbare Parolen, auf deren Sondierung sich Ziegler konzentriert. Zum anderen lassen die inhaltlichen Verschiebungen in der Novelle erkennen, daß jenes Modell der »Verschiedenverstehbarkeit«, das am Ende der Erzähleinlage zum Einsatz kommt, nicht nur auf die textuelle Mehrdeutigkeit im Sinne Wingertszahns verweist, sondern auch funktional zu verstehen ist, indem es die inhaltlich in der adaptierten Novelle vorbereitete Korrekturbedürftigkeit eines veralteten Liebeskonzeptes ausstellt und damit auf eine neu - über das Medium Liebe - kommunizierte Individualität verweist. Die 1444 verfaßte humanistische Novelle ist (trotz des Arsenals an traditionellen Komödienfiguren, die phasenweise einen entsprechend humoristisch-rasanten Verlauf der Handlung verbürgen) durchsetzt von ernsthaften Reflexionen über das Wesen der Liebe, das situativ im Rekurs auf die griechisch-römische Mythologie oder die Historie im allgemeinen expliziert wird. Dadurch gewinnt das Original mit seinen zahlreichen retardierenden, reflexiv-philosophischen Momenten den Charakter einer Abhandlung, der das kontemporäre pathologische Liebeskonzept zugrundeliegt. Da die Auffassung von der Liebe als Krankheit der romantischen Liebessemantik widerspricht, werden diese reflexiven Momente bei Arnim konsequenterweise auf ein für das motivierte Fortlaufen der Handlung notwendiges Minimum eingeschmolzen. Die Ausblendungen 125

Wingertszahn, Ambiguität, S. 33.

147

gehen Hand in Hand mit der bereits benannten neuen Eingangsforderung, die gegenüber dem Original entscheidend verändert wird: Vorgeführt werden soll - so die Leseanweisung in der Rahmenhandlung - nicht mehr wie bei Piccolomini die destruktive Kraft der Leidenschaft, sondern vielmehr das notwendig zerstörerische Element der Fremdheit in einer internationalen Liebespaarkonstellation; diese Bedeutungsverschiebung wird im abschließenden Kommentar unübersehbar, wenn bei der zugrundeliegenden Ubersetzung von Nielas von Wyle 1 2 6 anders als in Arnims verkürzter Adaption (»Welche dies lesen, wollen lernen sich zu warnen« W G 108) ein Totalverdikt gegen die Liebe formuliert wird: »Welche da disz lesen werden, die wollen sich lernen warnen vnd hüten by ander lüten schaden daz Inen das kom zu nutze, vnd nit sich flyssen zertrinken das getranck der liebe, das ferr und w y t mer aloes und bitterkeit in im hat dann honges oder süsse«. 127 Daß es sich bei dem Liebeshandel in diesem Sinne um den konkreten Belegfall einer destruktiven Leidenschaft handelt, wird bei Wyle eingangs als Lektüreanweisung vorgegeben: »darjnne alle aigenschaft der liebe vnd was die gebürt. besunder daz darlnne allwegen entlich mer bitterkalt dann süsse vnd mer laides dann fröiden funden werd vnd darumb die syg zefliechegn vnd zemyden.« (EuL 3) Der Zustand der unerfüllten Passion wird hier zeitgemäß als Erkrankung gedeutet, 128 so daß Lukrezia die körperliche Erfüllung terminologisch konsequent als einziges Remedium des Leidens einfordert: »allain ist vnser rüw und artznie wenn vns wirt der volle des liebgehapten menschen.« (EuL 39) Die Passion als Krankheit bedeutet bei Wyle 1 2 9 einen spezifischen Ichverlust (und nicht - wie bei Arnim - die erst in der Erfüllung wirksame Ich-begründende Spiegelung im Alter ego der Liebesbeziehung), zumal die Lust alle entfremdenden Leiden der Liebe in der kom-

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Im folgenden ist vereinfachend von Piccolomini die Rede, auch wenn hier die Übersetzung Wyles zugrundeliegt, der als empirischer Autor in der Ein- und Ausleitung der ersten Translatze auch persönlich in Erscheinung tritt. Verglichen mit: Nielas von Wyle: Translationen. Hrsg. von Adalbert von Keller, Stuttgart 1861, S. 3. Die folgenden Angaben E u L mit der entsprechenden Seitenangabe beziehen sich auf diese Ausgabe. So Eurials Hinweis auf körperliche Mangelzustände: »Siehe wie mager vnd blaich ich syg. es ist ain klain ding das noch die sele vnd minen lybe zusamen hept.« (EuL 4 1 ) Vgl. dazu Luhmann: »Im Mittelalter hatte man die aus der Antike stammende Vorstellung, Liebespassion sei eine Art Krankheit noch ganz medizinisch genommen, hatte eine Art Symptomatologie entwickelt und Therapien (zum Beispiel coitus) angeboten. Sexualität galt dabei als normales Körperverhalten, Passion dagegen als Krankheit.« (LP 63) Vgl. dazu Aldo D. Scaglione: Nature and Love in the Late Middle Ages, Berkeley 1963. 148

plizierten Situation allenfalls kurzfristig kompensiert.' 30 In diesem Sinne werden die beiden Liebenden von Anfang an vor allem als leidende (und weniger als »liebhabende«) Menschen eingeführt, die unter der Macht des tyrannischen Gefühls zwangsläufig Tugend (Lukrezia) und Vernunft (Eurial) einbüßen; diese Verstöße gegen konventionelle Regeln und sozial determinierte Moralbegriffe werden in Dialogen - insbesondere zwischen Sosias und Lukrezia - und in Eurials Selbstgesprächen und Überlegungen als ungemeine Belastung und Ichentfremdung vorgeführt. Droht die »unselig« »entzündete« (EuL 27) Lukrezia »frevelhaft« mit ihrem zwangsläufigen Tod, wenn sie den Geliebten entbehren muß, so reflektiert Eurial dazu analog über die Liebe als perpetuiertes Sterben: »langes wainen kurtzes lachen, wenig fröid und vil forchte vnd wer lieb hat der stirbt allwegen vnd gelyt doch niemer tode.« (EuL 31) Den moralischen Einwänden Sosias' 131 und den eigenen logisch-rationalen Erkenntnissen zum Trotz kommt Eurial im Kontext langer historisch-mythologischer Verweise und Parallelen zum Tierreich schließlich zu folgendem Schluß: »Ich armer tun vmb sust disen dingen widerstreben [...] diese anfechtung ist natürlich [...] liebe vberwindet alle ding. Dar vmb wychen wir der liebe.« (EuL3if.). Dem damaligen Liebeskonzept entsprechend 132 ist die Semantik der Liebe auf die Perfektion ihres Gegenstandes gegründet, dessen Vollkommenheit die Liebe >erzwingtIdealität< der Geliebten und dem daraus resultierenden Gewaltpotential der Liebe: »mich hat gefangen din geziert, vnd die edel loblich gnäd vnd gütigkait diner schöne (damit du mengklichen vbertrifst) halt vnd behept mich dir verbunden, w a z liebe gewesen syg hab ich vor nit gewisset, du hast mich dem gewalt der liebe vnderworffen« (EuL 33); diese traditionelle und formelhafte Begründung der Liebe - »mich haben vberwunden din schyn vnd geleste diner ougen mit denen du mechtiger bist dann die sunne« (EuL 33) - entfällt bei Arnim weitgehend. In seiner stark verkürzten Briefversion greift er nicht mehr auf die Semantik der Idealisierung zurück, sondern verzichtet auf eine konkrete kausale K o n struktion; in der intertextuellen Verbindung von Prätext und Adaption ist diese Kürzung interpretatorisch entscheidend, da sie eine Verschiebung von der Idealisierungssemantik der italienischen Renaissance hin zum (intertextuell als Verknappung wirksamen) Inkommunikabilitätstopos des 18. Jahrhunderts praktiziert; damit exponiert Arnims beschnittene Version zugleich im besonderen Maße das wortlose Einverständnis der Liebenden über den beredten Blick (»sei gegen mich nicht härter in Worten, als du gewesen bist mit Augen«, W G 89), der hier im Sinne der romantischen Liebeskonzeption bereits eine gemeinsam konstruierte Sonderwelt generiert. 134 Während der Aspekt der Fremdheit bei Wyle vor allem ein F a k t u m 1 " bezeichnet, das die Handlung zu ihrem edukativ verwertbaren Ende führt und gleichzeitig als permanenter Verweis auf in Instabilität der Liaison fungiert, betont Arnim in der vorangehenden und nachfolgenden Exegesesituation die ausschlaggebende Bedeutung der nationalen Differenz. Das Fremde schadet vermittelt, indem es sich - da es einem anderen nationalen und kulturellen Kontext entstammt - zwangsläufig wieder entzieht. Wenn Arnim das Scheitern der Beziehung unter dem Kriterium des Fremden und der - von der Vorlage vorgegebenen - notwendigen Abreise des Kanzlers verdichtet, erhält die Liebe zwischen den beiden Protago-

134

Nicht nur Auslassungen, Komprimierungen und Umformulierungen führen zu dieser textstrategischen Sinnverschiebung, sondern auch eine visuelle Akzentuierung: So betont Arnim die tröstliche und ergötzende Kraft des gegenseitigen Anblicks der Liebenden nach einer zwischenzeitigen Abwesenheit Schlicks durch die kursivierte Beschreibung des Augenblicks: Er blickte »heimlich und verstohlen Lukrezien an und warf Augen in Augen.« (WG 94) Über den Schriftsatz wird ein Pathos kreiert, das ein wortloses Einverständnis über den Blickkontakt herstellt. 13 ' »vnd hierinne nützit erdächt, sunder ist disz ding zü Senis beschechen, zu zyten do kaiser Sigmund aida lag.« (EuL 19) 150

nisten automatisch eine andere Qualität. 136 Bei Arnim werden die Lebensgefahr, der mögliche Ehrverlust und der drohende Ausschluß aus der Gesellschaft ebenfalls (massiv reduziert) thematisiert,'37 dabei aber im Sinne der 136

137

Zelebriert wird eine Leidenschaft, deren Gefühlsintensität und ausschließlicher Fokus auf den Geliebten erst bei Arnim jener romantischen Auslegung in der nachträglichen Exegesesituation zugänglich wird, weil er Piccolominis textstrategisch gegen die Liebe als Passion aufgeführten Zweifel und Gefühlseinbrüche stark kürzt oder gänzlich ausblendet. So scheinen auch die von Piccolomini fast wörtlich übernommenen Passagen (Vgl. EuL, 47) über die Leiden der Liebe auf die Sehnsucht und das in gegenseitiger Liebe begründete Begehren zu verweisen: »Du weißt wie sehr ich brenne, ich mag die Flamme nicht mehr leiden. Hilf mir, daß wir bei einander sein mögen. Eurial ist krank vor Liebe und ich sterbe; es ist nichts schädlicher, als weiter unsrer Begierde zu widerstreben« (WG95). Unter den veränderten Vorzeichen erhalten aus dem Original übernommene Reflexionen einen anderen Stellenwert. Vgl. dazu E u L 49 und EuL48: »wer will grösser verkerung suchen? das ist das so ouidius in dem buch methamorphoseos will, da er schribt vzs menschen werden vnuernünftige tiere stain oder krüter. das hat ouch gemaint der fürnemest poet maro, da er geschriben hat daz circe etliche jre bulen hab verkert in gestalten vnd formen vnuernünftiger tieren.« Eurials gekürzte Vorwürfe (er »hub jetzt an Lukrezia zu hassen«, W G 97) und Selbstvorwürfe bei der drohenden Entdeckung durch Lukrezias Ehemann prangern zwar - ebenso wie im Original unter der Prämisse, daß ihn Lukrezia ihn nicht »lieb gehabt, sondern als einen Hirsch in ein Netz gelockt« (WG 97) hat - im Angesicht des Todes die eigene Leichtsinnigkeit an. In Piccolominis Original kommt er dabei nicht umhin, die erlittenen Qualen in einer allgemeinen Reflexion der Liebe zuzuschreiben, von der er sich im übrigen loszusagen verspricht, wenn die Rettung gelingt: »disz ist ain kurtze wollust, vnd ain aller lengstes schmertzen [...] Nim war mich selbs, yetz wirt ich sin ain exempel ain fabel und rufe aller menschen.« (EuL 50) Textstrategisch ergibt sich auch hier mit der Ausblendung eine entscheidende Veränderung, da in Arnims Adaption niemals generell auf die Liebe als zerstörerische Kraft bezug genommen wird, sondern die Zweifel und Bedenken immer nur in spezifischen Situationen auf der Ebene der erzählten Figuren auftreten. Die besonnen durchgeführte Rettung überzeugt ihn dann schließlich, daß er sich nicht in ihrer Liebe getäuscht hat und das Beisammensein mit ihr somit den erlittenen Schrecken rechtfertigt (EuL, 5 ¿f.; W G 98). Die zahlreichen Selbstvorwürfe, aber eben auch an Lukrezia gerichtete Anklagen und Anschuldigungen, die einen tiefen, kaum reparablen Gefühlseinbruch offenlegen, gewinnen ihre Bedeutsamkeit bei Piccolomini in der retrospektiven Distanz: Dort gerät der Weg zur Herberge für den Verkleideten gedanklich zum Spießrutenlaufen, weil er - wie Arnim eher andeutet als ausführt - die Begegnung mit dem ebenfalls an Lukrezia interessierten Kaiser (»Danne er die selbs ouch lieb hat. darumb mir nit zu nutze wer jm min liebe zeoffnen vnd die zeverreauten, die mich enpfangen vnd by leben hat behalten.« E u L 53) imaginiert, deren potentielle Lächerlichkeit bzw. Gefährlichkeit durchaus mitbedacht wird: »Ich wurd yederman zü ainer fabel vnd jm zü schimpf vnd spotte.« (EuL 53) Bei Arnim entsteht durch den schnellen Ablauf, der den als Knecht verkleideten Eurial unversehens wieder nach Hause versetzt, eine insofern andere Nuancierung der Retrospektive, als Eurial nur kurz an seine Leiden zurückdenkt: »Da dachte er über den Handel und alle Gefahr. Weh mir, das hat Γ51

verschobenen Textstrategie zwangsläufig aus dem pathologischen Erlebenshorizont des Liebeskranken, der in einer primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaftsform der italienischen Renaissance situiert ist, in den Horizont des romantisch Liebenden projiziert: Während also bei Arnim die Liebe (d. h. der Geliebte) die eigene Identität (und eine - für die beschriebene Zeit anachronistische Individualität) verbürgt, steht bei Piccolomini noch die stratifikatorische gegliederte Gesellschaft für die Selbstverortung des Einzelnen Pate. Insofern die Liebe die sozialen Bindungen, Verpflichtungen, Konventionen aufzulösen droht, liegt hier die dissoziierende und destruktive Gefahr in der Leidenschaft selbst, wohingegen sie bei Arnim erst in der Trennung der Liebenden virulent wird. Obwohl auch Arnim auf die Elemente der Passion zurückgreift (die jedoch nicht als zwangsläufig pathologisch gedeutet werden), scheint das Verhalten der Figuren somit nicht mehr zu einer zentrifugalen Ich-Zersetzung zu führen, sondern zu einer in der Liebe intensivierten Ich-Erfahrung des jeweiligen Protagonisten, der sich nur in der Beziehung zum anderen vollkommen aufgehoben und in seiner Identität und Individualität bestätigt fühlen kann. Innerhalb der neugeschaffenen Novellenadaption ist deshalb zwar das von Piccolomini konzipierte tragische Ende Lukrezias als zwangsläufige

mein Vater mir unterwiesen, daß ich mich auf keiner Frauen Treue verlassen solle. Aber Lukrezie kann liebhaben, sie hat mir das Leben erhalten, ihr gehört es nun« (WG 99). Es folgen Reminiszenzen an den vergangenen sinnlichen Genuß, die ebenfalls zu der Arnimschen Umgewichtung beitragen und das Bild einer Liebe vermitteln, bei der letztlich das Gefühl der gegenseitigen Liebe die bei Piccolomini als vorrangig geschilderten leidvollen Begleiterscheinungen ausreichend kompensiert: In Piccolominis Novelle, wo Eurial anders als im Selbstgespräch bei Arnim seinem Diener Achat über die Geschehnisse berichtet, wird nicht nur die durchlebte, sondern auch die gegenwärtige, aus dem Abenteuer resultierende Gefahr weitaus umfassender reflektiert: »ob mich yemant mit korn geladen, het erkennet, was schand? was rede? vnd was vneere? mir vnd minen nächkomen dar von were entstanden. Der kayser hett mich vrlobt vnd mich von im getan als ainen lichtfertigen mane. Er het aber joch daz verachtet, wie wer jm gewesen hett mich der man funden jn dem schryne ligen verborgen?« (EuL J3f.) Es folgen die möglichen Strafen und Konsequenzen des Ehebruchs, die er sich en détail vorstellt, bis er sich schließlich - in der Erinnerung an die Liebenswürdigkeit und Integrität Lukrezias - die »fröid« vergegenwärtigt, die bei Piccolomini die erlittene »forcht« und die berechtigte Besorgnis aber nicht überblendet. Auf der Ebene der fiktiven Realität ergeben sich allerdings daraus keine Verschiebungen, da auch bei Piccolominis weitgefächerter Exponierung der Gefahren letztlich - wider besseren Wissens - die selbstlose Liebe der Sicherheit, aber eben auch der Vernunft vorgezogen wird. Auf der Ebene der Textstrategie bedeutet die Ausblendung des Gefahrenpanoramas einen deutlichen Eingriff gegenüber der Vorlage. Die Inkaufnahme der Gefahren wird bei Piccolomini in den Kontext der Liebespassion als zwanghafter Krankheit verschoben, die unhintergehbar alle Vernunft zunichte macht.

Folge der Trennung konsequent, nicht aber das Schicksal des Kanzlers, der nach seiner Abreise zunächst von niemandem »Tröstung [nahm], als lang bis ihm der Kaiser eine hübsche Jungfrau aus herzoglichem Blute geboren keusch und weise ins Ehebett vermählte.« (WG 108) Diese für den Kanzler heilsame Wendung kann in Arnims Text nicht überzeugen: Der zeitgenössisch begründete Irritationsfaktor des Endes wird in dem sich anschließenden Gespräch augenfällig, wenn die Wintergesellschaft nach einer kontemplativen Pause »allmählich darauf [kommt], die Geschichte des Kanzlers mit seiner jungen Frau, die dort nicht erzählt, auszubilden, es schien uns ganz unleidlich, wenn er Lukrezien eigentlich vergessen könnte, er müsse jetzt ganz dem Staate leben und eine vornehme Ehe führen, doch in der Art, daß seine junge Frau ihm doch sehr ergeben bliebe, weil er sehr schön bleibe.« (WG 109) Allein in der emotionalen Anhänglichkeit an die Verstorbene sieht die Gesprächsrunde eine glaubwürdige und charakterlich schlüssige Fortentwicklung des Kanzlers. Da die Ehe in der Romantik nicht wie bei Piccolomini ein von den demonstrierten destruktiven Leidenschaften einer »Buhlschaft« freies und demzufolge gesundes Lebenskonzept darstellt, sondern sie für die Wintergarten-Kunde - konform zu den Tendenzen der Romantik - implizit ebenfalls auf der Vorstellung von »Liebe als Passion< gründet, weckt sie Assoziationen von einem neuen Glück, das von der Gesellschaft in seinem romantischen Anspruch zwangsläufig als fragwürdig dekonstruiert werden muß. Dem Sonderfall der perfekten Ubereinstimmung zwischen Eurial und Lukrezia muß - nach der Liebeslogik des beginnenden 19. Jahrhunderts - die willkürlich >zugeteilte< junge Frau zunächst nachgeordnet sein. Darauf rekurriert auch die Bildunterschrift zu der Zeichnung des Gesandten, der die Dreierkonstellation skizzenhaft visualisiert: Wie ein Grabmal der Geliebten / Steht der Ritter an ihrem Grabe, / Ganz verschließet den Betrübten / Seiner Tränen Totengabe, / Viele würden tot ihn nennen, / Doch an seiner Seite wachet, / Seine Frau als Todesengel, / Seine Lebensflamm anfachet, / Hält die Fackel treu in Händen, / Fast erloschen in seinen Tränen, / Da er selbst sie möchte wenden und enden« (WG 109).

Zusammen mit der spezifischen Liebesbeziehung zu Lukrezia geht auch das originäre Leben und die durch die Liebe intensivierte Lebenslust unwiderruflich verloren. Der Tod der Geliebten verursacht die metaphorische Totenstarre der Gefühle (des ja standesgemäß weiterhin aktiven Menschen), die den Wiederbelebungsversuchen der jungen Ehefrau als Wunsch, die eigene Lebensflamme zu enden, entgegensteht. Der Quasi(Liebes-)Tod des Kanzlers wird hier als einzig mögliche Konsequenz

!$3

imaginiert, die ihn zwar physisch überleben läßt, zugleich aber als tot erkennt (»viele würden tot ihn nennen«). Mit der Verschiebung des Blickwinkels auf die Perspektive »jener« jungen Frau knüpfen die Reflexionen an die Rahmenhandlung an, deren explizite Intention sich ja auf die politisch korrekte emotionale Umkehr der Hausherrin bezogen hatte. Bei einer Reise nach Italien - so die kollektive Fiktion - vertraut der Gesandte jener Frau den ganzen Handel, sie liebt ihn um so mehr, weil er das L e b e n der schönsten Frau gekostet, sie kommen zu ihrem Grabe, der Gesandte zeichnete es mit der gotischen Kapelle, es w a r ein einfacher Stein auf dem die Frau ausgestreckt liegt, der Kanzler steht daneben in sich versunken und seine Frau hält eine Fackel. ( W G 109)

Die für den Wintergarten signifikante materielle (der Gesandte zeichnet es tatsächlich) Umsetzung in ein Schußtableau bedeutet aber keineswegs, daß eine eindeutige >Moral< für die Rahmenhandlung extrahiert und fixiert wird; der Invalide macht zu dem traurig-abstrusen Szenario der ménage a trois »mehrere Unterschriften, scherzend, zotenhaft und traurig« (WG 109), zu denen auch die oben zitierte Grabszene gehört, die letztlich vor den anderen eine Sonderstellung einnimmt, weil sie als einzige vom fiktiven Erzähler der Rahmenhandlung überliefert wird. Der letzte Vers führt den Komplex der Erzähleinlage, Rahmenkommentar und -fortsetzung wieder auf den Ausgangspunkt der Rahmenhandlung zurück: »Frau, so [wie die junge Kanzlergattin] laßt von euch mich wähnen. Nämlich, fügt er immer hinzu, daß Sie der Kanzler wären und ich die junge Frau.« (WG 109) Die im Vorfeld promulgierte Applikation greift allerdings nur partiell-spielerisch.138 Das werbende Hilfsangebot des Invaliden und seine Hoffnung auf eine patriotisierende Bindung zur Hausherrin gründet sich auf der indirekten Anerkennung der deutschfranzösischen Liebe, die als Form der romantisch-individualisierenden Beziehung nicht unter rationalen Kriterien austauschbar scheint; die konstitutive Moral der Geschichte und ihre erzählerische Umsetzung erweisen sich folglich als divergent. Da im Verlauf der Rahmenhandlung

138

D a auch in A r n i m s Piccolomini-Version weniger die nationale Fremdheit, als vielmehr die Ehebruchssituation z u m unlösbaren Problem w i r d -

nicht die

notwendige Abreise, sondern die undenkbare Entführung der verheirateten Lukrezia verhindert den glücklichen A u s g a n g - , kann die Eingangsforderung nach patriotisch fundierter Liebe mit der Erzähleinlage letztendlich nicht überzeugend belegt werden, zumal auch unklar bleibt, welcher der beiden Protagonisten letztlich mit der Hausherrin (sie scheint ein Konglomerat aus der Verlassenen und dem Deutschen darzustellen) zu identifizieren ist. J

54

die Beziehungen der Hausherrin 13 ' durch die intendierte und vollzogene Heirat mit dem »Winter« einen allegorischen Status gewinnen, muß das Angebot des Invaliden in diesem Zusammenhang insofern weniger als Auftakt zu einer individuellen Liebe als vielmehr zu einer - noch zu erläuternden - allegorischen

Allianz gelesen werden. Mit dieser angedeute-

ten Verbindung der in nationaler Orientierungslosigkeit

verlorenen

Hausherrin und des opferwilligen Helden wird eine Synthese in Aussicht gestellt, deren Bedeutsamkeit am Ende des Wintergartens

angezeigt und

als potentiell glückliches Ende imaginiert wird. 140 Während also die Figuren in den Erzähleinlagen (und in der spezifischen Lesart der adaptierten Novelle in der Rahmenhandlung) in ihrer unhintergehbaren Individualität gefeiert werden, erweisen sich die Figuren der Rahmenhandlung vor allem als Typen, als Rollen, als personifizierte Diskurse und Meinungen, die eine interpretatorische Festschreibung einzelner Sequenzen immer wieder unterlaufen. In der Deutung und Fortschreibung der ersten Erzähleinlage wird in diesem Sinne zwar - wie Wingertszahn herausarbeitet - eine Deutungsfreiheit und auch ein Fortschreibungskonzept im Sinne des offenen Kunstwerks evident; dabei jedoch ist - abgesehen von der immer wieder dokumentierten und eingeforderten

individuell-

rezeptiven Verschiedenverstehbarkeit141 - bei moralisch divergierenden Standpunkten'42 das spezifische Liebeskonzept einvernehmlich und bildet den allgemeinen Bezugspunkt der auf der Ebene der fiktiven Realität erzählten Liebesgeschichten, in dem die unterschiedlichen Zugriffe aufgehoben werden. Die allegorische Uberformung der Hausherrin ist - trotz ihrer individuellen Züge - nicht zu übersehen; auf die stark allegorisierende Tendenz der Rahmenhandlung wurde bereits in der Beschreibung des Beginns eingegangen. Vgl. dazu auch Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik, S. 89-103: Die Figuren müssen sich »mit Andeutungen von Identität begnügen [...], die in ihrer A b straktion und Konzentrierung auf geistige, innere Intentionen gespenstisch und geisterhaft wirken.« Ebd., S. 90. Vgl. zu der anderen Qualität dieser Beziehungen in der Rahmenhandlung auch das Kapitel: Die zeitutopische Dimension der Liebe in der Rahmenerzählung: Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und/oder als Ausgleichsmedium im Zeichen einer symbolisch zeitutopischen Konstruktion 140

141

142

Vgl. dazu Bettina Knauer: »Diese Liebe der Hausherrin ist weit mehr als ein subjektives Gefühl, sie ist Ausdruck einer höheren Verbindung, durch die H e terogenes und Getrenntes miteinander vermittelt werden«. Knauer, Arnims Wintergarten als Arabeskenwerk, S. 63. »Der allgemeine Eindruck summte nach wie der letzte Akkord im Resonanzboden; was soll ich die einzelnen Äußerungen wiederholen, jeder Leser hat ja auch Eingeweide zum Fühlen und seinen eigensinnigen Kopf« ( W G 108). »Auch wurde bald sehr ernsthaft moralisch über die Handelnden gesprochen [...] Die Männer waren strenger als die Frauen« ( W G io8f.). 155

3-1.2. Albert und Concordia »The contrast between the love affair of Schlick and Lukrezia, and that of Albert and Concordia, could hardly be greater.« 143 Die tragisch endende Ehebruchsgeschichte unter den Reichen und Schönen in Siena und die sich allmählich anbahnende Romanze zwischen der Witwe Concordia und dem Eheaspiranten Albert im »wiedergefundenen Paradies« 144 scheinen in diesem Sinne auf den ersten Blick wenige augenfällige strukturelle Parallelen zu haben, sondern allenfalls im Sinne einer moralischen Reinigung und Steigerung 145 zusammenzuhängen. Tatsächlich aber greifen beide Liebesgeschichten - wie im folgenden zu zeigen sein wird - gleichermaßen auf ein neues Liebes- und damit auch modernes Individualitätskonzept zurück. Die einleitende Veränderung in Albert und Concordia, die den kaiserlichen General Schaffgotsch' 4 6 in Arnims Version zum Pflegevater (und

143

Ziegler, Bending the frame, S.45. Zugrunde liegt Johann Gottfried Schnabels Roman: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii [...] von Gisandern: »Arnim besaß das zuerst 1731—1743 erschienene Werk in der Ausgabe von 1768 (Halberstadt), einmal komplett, einmal nur den ersten Band.« Arnim Werke, Bd. 3, S. 1054^ Hier zitiert nach Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hrsg. von Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand, Stuttgart 1994. 145 Die Schnabeladaption Arnims konturiert die ohnehin bereits im Sinne des 18.Jahrhunderts angelegte Tugendexposition der Insel Felsenburg, wobei er gleichzeitig den stark religiösen Inselalltag - gerade mit Blick auf die sich anbahnende Liebesbeziehung - partiell säkularisiert (vgl. zum Beispiel die aufwendigen Gebete zu Gott bei Schnabel, die bei Arnim allenfalls komprimiert auftauchen; IF 138). Der konfessionelle Seitenhieb auf die reformierten »verdächtigen« Trostmittel wird bei Schnabel durch den »kräfftigen« Trost durch » G O T T E S Wort« abgelöst (IF 187). Arnim verweist lediglich allgemein auf die tröstende Bibellektüre: Bei dem sonntäglichen Gottesdienst allerdings übernimmt er die latente Diskreditierung der katholischen Konfession, die sich angesichts ihres fragwürdigen Stellvertreters Lemelies und dessen separat durchgeführter Gottesdienste implizit ergibt (IF 134). Auch das zum Dank für die Genesung abgesungene und abgebetete Te deum fehlt bei Arnim (IF 213). Moral ist bei ihm nicht mehr automatisch an verschiedene Frömmigkeitspostulate geknüpft. Diese Verschiebung auf den Aspekt der Moralität spiegelt sich bei Arnim besonders in der Einfügung der Schaffgotsch-Episode, in der Graf Schaffgotsch in unbestechlich sokratischer Manier heldenhaft seinen Tod entgegentritt, ohne dabei die Wahrheit oder religiöse Uberzeugungen zu verraten. Weltliche Integrität ergibt sich hier nicht primär aus religiösen Uberzeugungen, sondern steht gleichberechtigt neben ihnen. '46 vgl. z u r Quelle f ü r Jen Amtsbericht: Dieter Martin: Arnims Quellenkombination im Wintergarten (1809). Schnabels Albert Julius als Pflegesohn des Grafen von Schaffgottsch. In: Jahrbuch der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft 1996, St. Ingbert 1996 (Schnabeliana. 2), S. 9 - 3 1 : Letzte Lebensgeschichte des 144

156

zum putativen biologischen Vater) von Albert macht, zielt dabei auf eine veränderte Kontextualisierung der >NovelleSubjektReIntegration< des modernen Individuums und präfiguriert zugleich einen (zeit-)utopischen Anspruch. In seiner historisch-semantischen Analyse der Individualisierungsvorgänge begreift Luhmann die neu zu fassende Lebensform »Karriere« und die zentrale Differenz »Anspruch« als wichtige Formen, den neuen sozialen Anforderungen 1 1 zu genügen. Diese Überlegungen werfen auch ein Schlaglicht auf die historische Bedeutsamkeit des Entwicklungsromans, dessen Voraussetzungen in der Bildungsidee konvergieren: die Vorstellung von der unzerstörbaren individuellen N a t u r des Menschen, die Erkenntnis, daß äußere Lebensbedingungen und Erfahrungen die menschliche Entwicklung entscheidend mitbestimmen und endlich als drittes M o t i v der G e danke, daß es der kontinuierlichen, von der sittlichen Freiheit des Subjekts getragenen B e m ü h u n g bedarf, damit die Persönlichkeit sich in ihrer Besonderheit auch realisiert und dadurch zu sich selbst k o m m t . 1 2

Der Entwicklungsroman knüpft an wesentliche Aspekte des Bildungsprinzips 13 an, dessen Genese allerdings nicht nur als ideengeschichtliche 10

Vgl. dazu das folgende.

11

Im Versuch zu klären, wie das Individuum zu sich selbst finden und sich selbst in seiner Individualität bestimmen und steigern kann, weist L u h m a n n auf drei F o r men b z w . Verfahren hin, die die moderne Gesellschaft bereitstellt: Z u m einen in der Tendenz, Individualität im >Copieverfahren< zu gewinnen, zum zweiten mit der gegen E n d e des 19. Jahrhunderts aufkommenden Idee, dem Individuum eine >Mehrheit von Selbst< und damit ein Identitätsproblem zu unterstellen, z u m dritten als Individualisierung in F o r m von Karriere (im weitesten Sinne des Wortes).

12

Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen z u m deut-

13

Z u nennen sind dabei die pietistisch inspirierte Introspektion, das Leibnizsche

schen Bildungsroman, 2 M ü n c h e n 1983, S. 38. M o n a d e n - und Entelechieprinzip, eine quietistisch-gefühlsbetonte Introversion, die im privaten Bereich proklamierten und umgesetzten Frömmigkeits- und

240

Quintessenz im Sinne der Einflußforschung zu fassen ist. Die angedeuteten Einwirkungen beschreiben zum großen Teil ihrerseits (semantisch materialisierte) Annäherungen an die neue Problematik von Individualität im Zuge der sich vollziehenden gesellschaftlichen Umstellung (oder werden in ihrem Kontext in besonderer Weise erneut relevant). Nach der irreversiblen Differenzierungsformumstellung wird das Individuum als »einmaliges, einzigartiges, am Ich bewußt werdendes, als Mensch realisiertes Weltverhältnis begriffen« (III, 212). Die Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen können nicht mehr erschöpfend an sozialen Positionen, Zugehörigkeiten, Inklusionen ausgerichtet werden, da dem Individuum nun »zugemutet« wird, sich durch Bezug auf die eigene Individualität zu identifizieren. Dieser autopoietische Zirkel, d.h. der Zirkel der Selbstreproduktion, muß jedoch die Frage erzwingen, wie das psychische System enttautologisiert und in seiner Selbstreferenz asymmetrisiert werden kann. Luhmann verweist in diesem Zusammenhang auf die »Zeitfunktion« der »evolutionär erzwungene[n] Gegebenheiten« (III, 228), die zum einen durch die Irreversibilität der Zeit (Karriere) und zum anderen durch die Uberkomplexität der Umwelt (SystemUmwelt-Differenz durch Ansprüche) einen re-entry - d. h. einer Unterscheidung im durch sie unterschiedenen Bereich - ermöglichen. Beides funktioniert als Lösung (mit Folgeproblemen), d. h. als Enttautologisierung, Entfaltung, Asymmetrisierung für die Probleme der Selbstbeschreibung des Individuums in der modernen Gesellschaft. Die Verortung innerhalb der Zeitdimension scheint eine zeitgemäße Lösung, die dem Wandel der sozialen Strukturen entspricht und unter dem Bildungsmuster »Karriere« neue soziale Identität (im Sinne der nötigen Asymmetrisierung, Entfaltung und Enttautologisierung individueller Selbstreferenz) Tugendvorstellungen, den Konflikt apriorischer moralischer Ü b e r z e u g u n g und relativierender Erfahrung, den die französischen Enzyklopädisten

wahrnah-

men, Kants Synthese von subjektivierter Moral und bedingungsloser A n e r k e n nung des allgemeinen Sittengesetzes, die Idee der individuell-selbstgesetzlichen Lebensform des Sturm und Drang-Subjektivismus, H u m b o l d t s

Vorstellung

v o m zugleich idealischen und individuellen Charakter, die Verquickung ( W i e land, Herder) von Milieutheorie (besonders Montesquieu, Helvétius) und Präformationslehre (Leibniz) im Sinne der anzustrebenden Vollkommenheit des G a n z e n (Herder, H u m b o l d t ) etc. Vgl. dazu resümierend Jacobs,

Wilhelm

Meister und seine Brüder, S. 2 9 - 3 8 . Daß die neue Konzeption von Bildung an zahlreiche inhaltliche Konzeptionen anknüpft, macht auch G e o r g Bollenbeck deutlich, der die W u r z e l n jener Vorstellung einer »sich bildenden Individualität« bei Leibniz, Shaftesbury und Rousseau nachzeichnet. Diese wird allerdings unter anderen Differenzschemata als im 18. und 19. Jahrhundert konstituiert. Vgl. dazu III, 1 7 3 - 2 5 8 . G . B : Bildung und Kultur. G l a n z und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1996, S. 9 6 - 1 5 9 .

241

schaffen kann, insofern Geburt, häusliche Sozialisation und schichtmäßige Lage keinen erwartbaren, d. h. aus dem Vorbedingungen ableitbaren >Normalkritische Masse« an Differenzen, die eine nicht länger gesellschaftsstrukturell gleichsam vorprogrammierte Biographie generieren könnte, ist [noch] nicht gegeben. 1 '

Damit konvergiert die Auffassung der (systemtheoretischen) biographischen Autopoiesis mit dem historischen Argument des spezifischen modernen Individuums. Erst in der Potenzierung der Differenzen erfolgt die »Injizierung von Af«/iikausalität« in die Person und baut die biographische »Selbstreferentialität als ßgewkausalität auf. Die Biographie der Person wird zur freischwebenden, sich selbst tragenden Konstruktion.« 16 Dabei verbürgt die Repetitivität auf der Ebene des basalen Selbstbewußtseins eine identitätsverbürgende Logik innerhalb der biographischen Transitorität. Diese repetitive Verlaufsform generiert zwar durch kumulative und intern differenzierende Erfahrungen auch eine retrospektiv als >Entwicklung< begriffene Biographie, unterscheidet sich aber deutlich von der (primär) evolutionären Verlaufsform in funktional differenzierten Gesellschaften, die in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit für einen im einzelnen unvorhersagbaren und ungerichteten Verlauf der Biographie sorgen: Zwischen dem teleologisch gedeuteten und gesellschaftlich weitgehend vorbestimmten, repetitiven und dem gegenwärtigen - wie es Schimank faßt - opportunistischen »Sich-Durchwursteln« der evolutionären biographischen Verlaufsform ist die Bildungsproblematik des Entwicklungsromans anzusiedeln, der um 1800 im Sinne der parallellaufenden Reflexions- und Anspruchsindividualität zumeist immer noch eine weitgehend textentelechisch konzipierte Anlage der im Entwicklungsprozeß begriffenen Person (als ein prozessual zu gewährleistendes >Zu-sichselbst-KommenBildung< bzw. Entwicklung dar. Eine solche Selbst-/ Fremdbeobachtung psychischer Systeme unter dem Gesichtspunkt der Individualität löst den weiter oben beschriebenen Reflexionsindividualismus keineswegs ab. Vielmehr läuft die durch Reflexion produzierte Identität mit der durch die »Ansprüche« forcierten Differenz historisch nebeneinander her: So geht es auch bei den Liebesvorstellungen der R o mantik um das Verhältnis von Identität und Differenz und um die Unentscheidbarkeit des Ausgangspunktes in diesem Verhältnis: Muß man schon identisch sein, um Ansprüche haben und begründen und um lieben zu können; oder >bildet< sich die Identität erst im Prozessieren von Anspruch und Liebe? U n d die Steigerungssemantik von >Bildung< dient nicht zuletzt dazu, dies Unentscheidbarkeitsproblem zu verschleiern. Wird Individualität als durch Reflexion hergestellte Identität gesellschaftlich anerkannt, werden damit die institutionellen Leitlinien der Individualisierung in Richtung auf ein Mehr an Verdiensten aufgehoben. Das Individuum wird seiner eigenen Impulsivität überlassen und zugleich mit dem Anspruch anderer konfrontiert, sich selbst zu identifizieren. (III,24I)

Alle Ansprüche gründen damit auf der Differenz von Individuum und Gesellschaft, deren Beziehung insofern asymmetrisch aufzufassen ist, als es - durch die Differenzierung der Sozialisations- und Inklusionsverhältnisse - keinen Gegenhalt, d. h. keine kollektive Identität, für die individuelle Identitätsbildung mehr gibt. Das ins Abseits der Gesellschaft katapultierte Individuum beginnt seine Individualisierung mit einer Differenzerfahrung, 17 die der Aufgliederung der Gesellschaft nach Funktionsbereichen entspricht. Diese Anspruchshaltung findet sich als Postulat einer produktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt auch in der Bildungsproblematik wieder, so wie sich in ihr die Karrieredisposition als Zeitdimension in der kumulativen (in der Entwicklung des Helden verbundenen) Handlungsführung widerspiegelt. Angesichts der problematischen Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft (die ihm einerseits die moderne Individualität beschert und andererseits - statt ihn in einen gesellschaftlichen Gesamtzusammen17

Vgl. III, 2 4 5 f .

244

hang zu >integrieren< - auf die jeweilige Inklusion in gesellschaftliche Teilsysteme verweist) wird deutlich, inwiefern die Tendenzen des Entwicklungsromans und speziell des Bildungsromans eine utopische Intention aufweisen können. Auf der einen Seite bezieht sich der utopische Gehalt - analog zu Voßkamps Überlegungen zum zeitutopischen Gehalt des Bildungsromans 18 - auf die individuelle Entwicklung im Kontext der Zeitschiene. Korrespondierend mit den zeitgenössischen Historisierungsprozessen kann auch der biographische Entwicklungsverlauf einer Person im reflexiven Selbstbewußtsein als Prozeß gedeutet werden. Er drückt sich über die Zeit als >Bildung< (frei nach Luhmanns Begriff »Karriere« mit negativen oder positiven Vorzeichen versehen) aus, deren unterschiedliche Etappen zu einem Verlauf synthetisiert werden können, der nicht länger als biographisch repetitiv, sondern als evolutionär zu verstehen ist. Die texientelechisch zu verstehende Konzeption im Bildungsroman gibt dabei nicht die Verzeitlichung vor, sondern - über die Vorstellung einer sich im Stoff verwirklichenden Form - eine implizite, positive Zielvorgabe, mit der die Entwicklung in der Zeit im Rekurs auf das Individuum (von der ein Abweichen in einem negativen Bildungsgang möglich und wahrnehmbar bleibt) zu bewerten ist. Wie ein positiver, d. h. sich erfüllender Bildungsvorgang hin zu einem mit der Umwelt und sich selbst ausgesöhnten Individuum verläuft, ist jedoch nicht durch das Wesen bzw. die innere Form vorgegeben, sondern im Kontext der modernen Gesellschaft konsequent der Kontingenz überlassen, die erst in einem zweiten Schritt, nämlich mithilfe einer (ob durch Lehrer'bzw. Erzieher oder selbsttätig angeregten) reflexiven biographi-

18

Voßkamp hat in seiner Interpretation der utopischen Momente in Wilhelm Meisters Lehrjahren die Verzeitlichungstendenz im Bildungsprozeß wiedererkannt (Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Hrsg. von W. V. Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 227-249, hier S. 22/ff.): Für ihn wird der Bildungsroman mit seiner iterativen Zielsetzung einer allseitigen Vervollkommnungsfähigkeit des Subjektes in der Zeit im Zeichen einer kontrafaktischen A n tizipation zu einer spezifischen Form der Zeitutopie. Die Zielvorgabe, das normative Telos ist - unter der Ägide einer positiven Anthropologie - dann die ausgebildete individuelle Subjektivität im Gegensatz zum nicht mit sich identischen Subjekt. Verweyen und Witting beziehen den zeitutopischen Charakter des Bildungsromans auf die per se dynamische Entelechievorstellung und bezweifeln dabei - im übrigen zu recht - die Kompatibilität von EntelechieVorstellungen und Verzeitlichungsprozeß. Verweyen, Witting, Utopie bei Grimmelshausen und Goethe, S.408. Als zeitutopisch wird hier die Verlaufsform der »Karriere« nach Luhmann verstanden. 2 45

sehen Selbstdeutung, in den Bildungsprozeß integriert und adaptiert werden kann. Auf der anderen Seite findet sich die zentrale System/Umweltdifferenz in der Anspruchshaltung einer Person wieder. In der für den Entwicklungsroman zentralen Begegnung zwischen Ich und Welt wird das Phänomen der »Ansprüche« auf spezifische Weise als selbständig bzw. pädagogisch geleiteter Integrationsprozeß oder als Abweichung davon thematisiert. Die Differenzerfahrungen, welche die funktional differenzierte Umwelt vorgibt, sollen - unabhängig von sozial beglaubigten Modellen für Individualisierung - zu einer individuellen Identität verarbeitet werden. Speziell durch die Differenzierung der Sozialisations- und Inklusionsverhältnisse wurde der Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Identitätsbildung aufgebrochen. Möglich scheint allein die individuell gelungene (d.h. mit der Individualität, der Persönlichkeit kompatible bzw. sogar für die Herausbildung der im Kern vorhandenen Persönlichkeit notwendige) Einschreibung in relevante Funktionsbereiche der Gesellschaft, die dann erfolgreich sind, wenn sie der iexfentelechisch konzipierten, aber erst zu entwickelnden Persönlichkeit entsprechen. Die neue Gewichtung der Individualität im Zeichen des in der Umwelt der Gesellschaft exilierten Individuums geht in diesem Sinne Hand in Hand mit erfolgreich durchgesetzten Ansprüchen und Einschreibungen in die gesellschaftlichen Subsysteme, so daß der Kontakt zur Umwelt und zur Gesellschaft gewahrt bleibt. Damit greift der Entwicklungsroman wesentliche Formen der Asymmetrisierung und Enttautologisierung des selbstreferentiellen Individuums auf. Die utopische Intention richtet sich angesichts der fehlenden Korrespondenz zwischen individueller und gesellschaftlich-kollektiver Identitätsbildung (für deren politische semantische »Fingierung« 1 ' - anders als in ζ. B. Frankreich 20 - im Deutschland um 1800 die realgeschichtlichen Voraussetzungen fehlen) zwangsläufig auf die Individualutopie, in der die Probleme der modernen Form von Individualität versuchsweise bewältigt und (als Erfolg oder als Scheitern des Protagonisten) gedeutet werden. Die Adaption von zeitutopischen Strukturen (im Sinne ihrer '9

Vgl. dazu die Argumentation von Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 1 5 7 - 1 6 0 , V o ß k a m p zeigt, »daß die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft nur als imaginäre Einheit, als semantische Imagination zu haben ist [...]«. V o ß k a m p , U t o p i e und Utopiekritik in Goethes Romanen, S. 1 3 .

2

°

Vgl. dazu: » V o n daher übernimmt der Bildungsroman als eine spezifische F o r m der literarischen Zeitutopie der individuellen Totalität in Deutschland eine mit der politischen Utopie der Verzeitlichung [ . . . ] in Frankreich korrespondierende Rolle.« V o ß k a m p , Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen, S. 2 3 .

246

textentelechisch als idealtypisch stilisierten Prozeßhaftigkeit) in der individuellen Bildungsutopie (die damit auch gleichzeitig die Anspruchshaltung des Individuums als Ausgleich mit der Gesellschaft umfaßt) ist mit Blick auf die spezifisch dynamische Situation im Anton-Fragment und (als Negativ-Folie) in den Kronenwächtern

zentral für das Verständnis

des Wandels utopischer Strukturen bei Arnim.

2. Anton-Fragment im Kontext der Forschung Das Anton-Fragment wurde bisher im Vergleich mit den von Arnim publizierten Kronenwächtern21 kaum von der Forschung beachtet. Als Vorstufe zum Berthold-Roman gehört es einem völlig anderen Entstehungszusammenhang an, der einen interpretatorischen Rückgriff auf das Fragment für das Verständnis der Kronenwächter problematisch macht. Zudem scheint eine eigenständige Deutung des Textes angesichts der offensichtlichen Unvollständigkeit und der - von Arnim selbst empfundenen - überarbeitungsbedürftigen Widersprüchlichkeit kein selbstverständliches Anliegen. Die differenzierte und stark modifizierende Übernahme zahlreicher Motive aus der Ursprungsfassung 22 impliziert überdies, daß der vorliegende Anton-Text - falls er überhaupt noch als Vorlage für die Fortsetzung in Frage kam - vollständig überarbeitet werden sollte. Auch wenn die Forschung plausibel und nahezu einstimmig auf die Vorläuferfunktion des Anton-Fragments verweist, sagt das über dessen Überarbeitungsstand wenig aus. Insbesondere der Anhang stellt wahrscheinlich ein Konglomerat verschiedener Arbeitsphasen dar, 23 deren 21

22

23

Mit den Kronenwächtern ist im folgenden immer die autorisierte Fassung, die von Arnim unter diesem Namen publizierte Geschichte Bertholds gemeint. Eine ausführliche Auflistung einiger, aber noch längst nicht aller korrespondierenden Motive leistet Roland Hoermann: Achim von Arnim's 1854 Kronenwächter Text. Bettina's Forgery or Berthold's Forerunner start of a sequel or end of an Ur-Kronenwächter, Stuttgart 1990. Vgl. 8 . 7 3 - 8 6 . Zum spezifischen Problem der Fragmentarizität anhand der Untersuchungen von Hoermann und Helga Halbfass: Komische Geschichte(n). Der ironische Historismus in Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter, N e w York, Berlin, Wien u.a. 1993, vgl. Tobias Bulang: Tücken des Fragments. Z u zwei neueren Studien über Achim von Arnims Kronenwächter. In: Internationales Jahrbuch der Bettinavon-Arnim-Gesellschaft 1 1 / 1 2 (1999/2000), S. 2 3 7 - 2 4 6 . Auffällig zumindest erscheint das Auftauchen des Namens Grünewald im Anhang, das zunächst - vielleicht von Bettine - noch mit Verweis auf den originären Namen Güldenkamm motiviert wird: »Güldenkamm's, oder wie er in letzter Bearbeitung des ersten Bandes umgetauft wurde: Grünewalds Geschichte.« ( K W 604) Auch das doppelte Vorkommen der Passage über das »Rätsel der

247

genaue Chronologie und möglicher Abschluß nicht sicher festgestellt werden kann. Möglicherweise wurden die auf das Anton-Fragment bezogenen Notizen auch nach Vollendung des Berthold-Romans assoziativ weitergeführt, um die fest eingeplante Fortsetzung im weitesten Sinne an das Schicksal Antons bzw. an Ideen und Tendenzen des Ursprungstextes anknüpfen zu lassen. In jedem Fall bleibt aber auffällig, daß der mindestens bis hin zur Schwäbischen Reise 1820 präsente, von Bettine energisch am Leben erhaltene24 Plan, die Kronenwächter mit einem zweiten, die »Ubersicht« des gesamten »Planes« (KW 624^ nachliefernden Band abzuschließen, niemals umgesetzt wurde. 2 ' Vergleicht man die utopischen Konzeptionen, die den Kronenwächtern und dem Anton-Fragment zugrundeliegen, erweisen sich die beiden Texte als grundsätzlich konträr, was die Möglichkeit eines modifizierten Anschlusses des Fragments (in dessen Kontext und Entwicklung - so dokumentiert es der Anhang - eine »Lösung« des Gesamtunterfangens erkennbar geworden wäre, auch wenn sie in den fragmentarischen Überlegungen noch Unstimmigkeiten aufweist) an die publizierten Kronenwächter sehr fraglich macht. Zwischen 1812 und 1817 haben sich die Vorbedingungen und Intentionen des Romans offensichtlich so grundlegend gewandelt, daß die Kronenwächter für die ursprünglich intendierte Auflösung im Folgeband nicht mehr als anschlußfähig gelten können, da sie in ihrem Gehalt und in ihrer Stoßrichtung bereits wesentliche Intentionen des Ur-Kronenwächterbandes, des Anton-Fragments, ersetzt haben. Während die Ausblendung des Anton-Fragments für die Interpretation der Kronenwächter somit tatsächlich eine schlüssige Folge aus der Heterogenität der beiden Teile darstellt,26 scheint in diesem ZusammenKrone« ( K W 604, 6 1 0 ) impliziert weniger eine bedeutungsschwere wörtliche Wiederholung, sondern die bestätigende Wiederaufnahme einer früheren Ü b e r legung während einer späteren Arbeitsstufe. 24

U b e r die Komplikationen zwischen zuversichtlicher A n k ü n d i g u n g und Bettines schmeichelnden bis bitterbösen Motivationen vgl. exemplarisch Lützeler: A c h i m von A r n i m : Die Kronenwächter. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. In: A c h i m von A r n i m Werke. B d . 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 6 3 4 - 6 4 5 und S. 6 6 5 677.

2

'

» A r n i m hat es in anderthalb Jahrzehnten nicht fertiggebracht, dieser dialektisch-realistischen W e n d e des Zeitgeistes eine endgültige F o r m zu verleihen, während das Versagen des einzelnen v o r der Last u n d der Nichtigkeit des geschichtsbeladenen Handelns seine künstlerische F o r m bereits seit langer Zeit gefunden hatte.« Luciano Zagari: Revolution und Restauration in A r n i m s erzählerischem W e r k . In: A u r o r a 39 ( 1 9 7 4 ) , S. 2 8 - 5 0 , hier S. 4 1 .

26

So die explizite Schlußfolgerung Ricklefs und N e u h o l d s im Unterschied zu Geppert: Beide verzichten strikt darauf, »den zweiten Band oder den >Nachtrag
wird entwickele«. H. G. H., Symbolik der Geschichte, S. 63. In der Gräfin Dolores versucht Meixner - mit Rekurs auf die Protagonistin »im [...] Spannungsfeld von Intention und Gestalt, poetischer Idee und dargestellter Wirklichkeit die Verbindung und das Auseinandertreten von Figur und Individualität, in einem weiteren Sinne von allegorischem Figuralismus und immanenter Psychologie aufzudecken, um von hier aus die geschichtliche Situation einer bestimmten Phase der romantischen Kunst und ihres Realitätsbezugs zu erfassen.« Horst Meixner: Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann, Frankfurt a.M. 1971, S. 17. Vgl. dazu auch Hemstedt, der - allerdings gleichermaßen für beide Romanteile - festhält: »Alle Figuren sind Repräsentanten höherer Mächte, sie stehen zugleich für etwas anderes.« Hemstedt, Symbolik der Geschichte, S. 3éf. 249

Entwicklungsprozeß antizipieren oder katalysieren. 2 ' Ricklefs verweist in einem ähnlichen Kontext auf die »erlösende und heilsstiftende Rolle« der Kunst, »die mit dem - im >Nachtrag< gespiegelten - ursprünglichen K o n zept der Antongestalt und der >geistigen< Krone verbunden war«,' 0 konzentriert sich dabei allerdings auf das Künstlertum Antons, das erst in der im Anhang explizit eingeforderten Synthese mit anderen Eigenschaften zur Erlöserfunktion des Protagonisten beitragen kann. Angesichts seiner hohen Komplexität und Heterogenität verwundert es nicht, daß der widersprüchliche 3 ' Vorläufertext, dessen (an eine historische Quelle angelehnte) Hauptfigur' 2 deutliche Anklänge an die Protagonisten Grimmelshausens (Simplizissimus, aber auch Philander) mit modernen

Individuations-

und

Bildungsprozessen

verbindet,

zugunsten

seines konsistenten Nachfolgers vernachlässigt wurde: 3 3 A u c h wenn A s pekte von Antons Persönlichkeit abgehandelt werden, so liegt der F o r -

29

30 31

32

"

Hemstedt analogisiert die allegorische Komponente Antons mit dem schlafenden Volksriesen des Wintergartens (WG 419): »Anton ist wie eine zweite Verkörperung dieses Giganten. E r ist der mythische Mensch des Reformationszeitalters, der ein ganzes Volk mit seiner politischen Vergangenheit, seinen politischen, religiös-sittlichen Vorstellungen und seiner visionär geschauten Zukunft symbolisieren soll.« Hemstedt, Symbolik der Geschichte, S. 64. Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik, S. 2 1 1 . Ricklefs spricht von einer »atmosphärisch wundervolle[n] und stilistisch so ursprüngliche[n] Welt des Historien-, Picaro- und Künstler-Romans«. Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik, S. 2 1 1 . So entstammt z. B. die im Rahmen dieser Arbeit wichtige physiognomische Besonderheit Antons Zachers Chronicon: »Anno. 1520. Lebte in Waiblingen, Anthonius Sixtus, seiner Kunst ein Mahler, der wegen groß und gröbin deß Leibs für Rysengeschlecht geachtet ward, und solch guete Stimm zusengen gehapt, daß Er yber einen Jambus einen großen laib brot, mit 6 M fleisch und 9 mas wein auffräumen kondte.« Wolfgang Zacher: Chronicon Weibligense. Handschrift in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart geschrieben von 1666-1670, S. 163. Vgl. dazu: Arnim, Werke, Bd. 2, S. 738. Ebenfalls grundlegend für den Text und auch entscheidend für die folgende Interpretation: Martin Crusius: Schwäbische Chronik, Worinnen zu finden ist / was sich von Erschaffung der Welt an biß auf das Jahr 1596. in Schwaben / denen benachbarten Gegenden / auch vieler anderer Orten / zugetragen [...] Aus dem Lateinischen erstmals übersetzt / und mit einer Continuation vom Jahr 1596. bis 1733. auch einem / Vollständigen Register versehen [...] Ausgefertigt von Johann Jacob Moser. 2Bde, Franckfurt 1733, hier Bd. 2, S. 101: »Daß ein Geschlecht vergehe, und das andere komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe, und ein jegliches Ding seine Zeit habe, und alles unter dem Himmel seine Stunde habe [...]«. Vgl. die Fortsetzung der Inschrift in Arnim, Werke, Bd. 2, S. 730f. Vgl. zu weiteren Quellen: Arnim, Werke, Bd. 2, S. 625-628. Eine Ausnahme stellen insbesondere die Arbeiten von Geppert, Kronenwächter und Hemstedt, Symbolik der Geschichte dar. 250

schungsschwerpunkt dezidiert auf den Kronenwächtern,34

von denen aus

allenfalls ein Seitenblick auf das Fragment als eines möglicherweise weiterhin gültigen Fortsetzungskonzepts Arnims gewagt wird. 35

3. Abenteuergeschichte und Individuationsprozeß: Entwicklungselemente im U r - K r o n e n w ä c h t e r - T e x t Innerhalb der Anton-Geschichte werden wesentliche Entwicklungselemente und -strukturen erkennbar, die jedoch - trotz zeitlicher Nähe zu Goethes Wilhelm

Meister - kaum mit den distinkten Merkmalen des

Bildungs- bzw. Entwicklungsromans3^ übereinstimmen. Um die Nähe und die Differenz zum zeitgenössischen Entwicklungsbegriff festzustellen, ohne dabei die umfängliche Begriffsgeschichte des Terminus >Bildungsroman< in ihrer jeweiligen Legitimität und Praktikabilität wiederaufzurollen, erweist sich hier die gebräuchliche Definition Melitta Gerhards als hilfreich, die dem sich in der Goethe-Zeit historisch konkretisierenden Bildungsroman einen quasi überhistorischen Aufbautypus 37 in 34

35

36

37

Halbfass konzentriert sich mit wenigen Seitenblicken ebenfalls auf den ersten Band. Halbfass, Komische Geschichte(n). Eine Praxis, die sich durchgesetzt hat, da auch der Charakter des Protagonisten Antons im zweiten Teil »fazettiert«, »in dem lockeren Gefüge des zweiten Teils nur skizzenhaft vorgezeichnet« und »in dieser Gebrochenheit nicht eindeutig« bestimmbar ist. Burwick, Dichtung und Malerei, S. 336. Roswitha Burwick beschränkt sich bei der Skizzierung Antons ebenfalls auf die Kronenwächter. Vgl. dazu auch R. B.: Kunst und Geschichte in Achim von Arnims Kronenwächtern. In: Aurora 46 (1986), S. 129-146. Vgl. zur Begriffsgeschichte Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), S. 427-473. (Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 1969) Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S.9-23. Helga Esselborn-Krumbiegel: Der >Held< im Roman. Formen des deutschen Entwicklungsromans im frühen 20. Jahrhundert, Darmstadt 1983, S. 1-26. Hans Heinrich Borcherdt: Der deutsche Bildungsroman. In: Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hrsg. von Rolf Selbmann, Darmstadt 1988, S. 182-238. Jürgen Jacobs; Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20.Jahrhundert, München 1989. Todd C. Kontje: The German >BildungsromanEntwicklungs- und Bildungsroman< in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte der fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. von Michael Titzmann, Tübingen 1991, S. 299-313. Gerhart Mayer: Der deutsche Bildungsroman von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. Köhn, Entwicklungs- und Bildungsroman, S.435, Hervorhebung von C . N . Köhn betont die quasi-überhistorische Facette, obwohl ihm bewußt ist, daß auch

Form des Entwicklungsromans gegenüberstellt, zu dem alle »erzählenden Werke« gerechnet werden, »die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Hineinwachsens zum Gegenstand haben, wie immer Voraussetzung und Ziel dieses Weges beschaffen sein mag.« 38 Wesentliche Charakteristika sind dabei die Entwicklung des Helden in der Auseinandersetzung mit der Welt bzw. die schließlich erreichte oder verfehlte, individuell vollzogene Aussöhnung zwischen Ich und Umwelt. 3 9 In der entscheidenden Zielperspektive weicht das Anton-Fragment von den Entwicklungsvorgaben des >Bildungsromans< ab. Die individuellallegorische Doppelkonzeption des Helden führt zu einer entsprechenden Ausprägung der Zieldimension, in der eine Integration in die soziale

bestehende

Welt weder der persönlichen Ausgangskonstitution Antons ent-

spricht, noch das implizite holistische Weltveränderungspostulat

des

Fragments abdeckt. Trotz dieser Differenz zum Initiationsmodell 40 des

38

39

40

diese Formen nicht ungeschichtlich betrachtet werden dürfen. Vgl. dazu auch Jacobs, Wilhelm Meister, S. 14: »In der Tat bedarf es zum Entstehen von Entwicklungsromanen zunächst einmal der (historisch bedingten) Existenz des Romans als Kunstform überhaupt, und ferner muß die Entwicklung eines Helden den Romanautoren als bewegende Fragestellung und darstellungswürdiges Thema in den Blick kommen.« Die Historizität der Gattung dokumentiert sich eben auch in dieser scheinbar elementaren Grundvorstellung und nicht nur in der jeweiligen (erreichbaren oder nicht mehr erreichbaren) Zielvorgabe. Melitta Gerhard: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes Wilhelm Meister, Halle a.d.S. 1926, S. 1. Anders als in Wilhelm Diltheys poetischer Beschreibung der Bildung eines »Jünglings« (»Wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.« In: W. D.: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906, S. 327, Hervorhebung von C . N . ) wird hier auch die verfehlte Selbstverortung in der Welt dem Entwicklungsmodell zugerechnet. Jürgen Jacobs weist darauf hin, daß gerade dem >Bildungsroman< eine positive finale Wendung inhärent sei; so faßt er sein Untersuchungsergebnis folgendermaßen zusammen: »Das entscheidende Kriterium, das den Bildungsroman von anderen Formen des Entwicklungsromans abhebt, ist seine Tendenz zum ausgleichenden Schluß: Der Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität, der dem Helden zum existentiellen Problem wird, soll am Ende überwunden werden. Indem ein solcher Ausgleich zum Ziel der Geschichte wird, rückt der Desillusionsroman, der mit der Resignation, dem Untergang, der definitiven Enttäuschung des Helden endet, in eine entschiedene Gegenposition zur Bildungsgeschichte.« Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 271. Insofern ist im folgenden immer nur von einer Entwicklungsgeschichte, nicht jedoch vom Bildungsroman im Sinne Jacobs' die Rede. Formal ist der Initiationsroman »unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß 2

5

2

Entwicklungsromans greift das Anton-Fragment zumindest auf die dort beschriebene dreiphasige Entfaltung der Bildungsproblematik zurück, in der Entfremdung, Entwicklung und (vom Fragment implizierte) Erfüllung strukturell als Zeitutopie gedeutet werden können. Der ostentative Sublimierungsprozeß, den Anton vom steinevertilgenden (KW 436) Frauenfreund zum asketisch-androgynen Kronenwächter bzw. Kronenburgvernichter (des Nachtrags) durchläuft, ist dabei in seinen Etappen an verschiedene Motive geknüpft, die seine Entwicklung und deren reflexive Erfassung kontinuierlich dokumentieren, forcieren bzw. begleiten. Davon fällt - als typisches, psychologisiertes Merkmal des Entwicklungsromans - die Funktion der Nebenfiguren 4 ' und hierbei wiederum besonders der Paarbeziehungen 42 ins Auge, deren unterschiedliche Konstellationen als Ausgangs- und Zielkonzeption - Aufschluß über den jeweiligen Entwicklungsstand geben. Neben der Beziehung zu Anna und Susanna handelt es sich auch bei den intriganten Verführergestalten Seger und dem zärtlichen Gespenst (im Nachtrag mit dem bezeichnenden Namen Voluptas versehen) um bedeutsame Figurationen, die in einer vieldeutigen Interferenz zu Antons Bildungsprozeß und zu seinen angestrebten bzw. existenten Paarbindungen stehen. Sie fungieren textstrategisch als Antons externalisierte alter ego(s), wobei sie dessen Entwicklung paralysieren und als Materialisationen seiner sinnlichen Bedürfnisse abgestreift werden müssen.

die Darstellung auf eine jugendliche, in der Regel männliche Hauptfigur fokalisiert ist und daß die erzählte Geschichte eine dreiphasige Organisation aufweist: D e r H e l d tritt aus einer etablierten sozialen O r d n u n g in den außersozialen R a u m aus, wobei die Transitionsphase durch eine Reise markiert wird, um am E n d e in eine neue, mit der ersten O r d n u n g nicht identische soziale O r d n u n g einzutreten, w o m i t zugleich die als definitiv gesetzte Entscheidung über seine berufliche und sexuelle Lebensform stattfindet und das Jugendalter abgeschlossen ist.« Titzmann, Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit, S. i o i f . 41

V g l . Martin Swales: Unverwirklichte Totalität. Bemerkungen z u m deutschen Bildungsroman. In: Z u r Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hrsg. von Rolf Selbmann, Darmstadt 1988, S. 4 0 6 - 4 2 6 , hier S. 4 1 if.

42

In bezug auf Goethes Wilhelm

Meister

verweist Gerhard N e u m a n n auf die

Bedeutung der Liebe im Bildungsroman: »Liebe erscheint als jener Verwirklichungsraum menschlicher Selbstwerdung, in dem auch soziale Identität, als E r w e r b einer Rolle, ihre F o r m zu finden vermag.« G . N . : »Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern«. Die Erziehung zur Liebe in Goethes helm Meister.

Wil-

In: Liebesroman - Liebe im R o m a n . Eine Erlanger Ringvorle-

sung. Hrsg. von Titus Heydenreich, Egert Pöhlmann, Erlangen 1987, S. 4 1 - 8 2 , hier S. 42. N e u m a n n betont dabei den »Lernprozeß des Mannes, der durch B e gegnung mit mehreren Frauen sich entwickelt, der Besitzwunsch, der ganz im Zeichen bürgerlichen Denkens steht [...]«. Ebd., S. 43.

253

Bei Antons Bildungsgang steht - trotz seiner selbstreflexiven Prozeßhaftigkeit - weniger eine entelechische Organizität des Wachstums im klassischen Sinn im Vordergrund. Statt der sich still entfaltenden »Bildung eines strebenden Geistes« 43 werden die gedanklichen Entwicklungsprozesse des Helden aus äußeren Handlungsabläufen abgeleitet, die als Aggregat von Kampf- und Notsituationen dem barocken Abenteuerroman verwandt sind. Das Wilhelm-Meister-Postulat der adäquaten Erfüllung und Erweiterung der Persönlichkeit hin zu einer teleologischen Vorstellung einer Totalität der ihm innewohnenden Möglichkeiten 44 wird von Anton nicht übernommen: 45 Vielmehr gibt die dualistische Konzeption des Helden das textentelechische Persönlichkeitsproblem vor, das es in seiner Vita zu bereinigen gilt. Sein Bildungsgang ist somit nicht als variable Entfaltung der vorhandenen Anlagen inszeniert, sondern als edukativer Läuterungsprozeß, in dessen Verlauf Anton (laut Nachtrag)

nicht über

die Konfrontation mit der jeweiligen Welt seine eigene Position findet, sondern vielmehr auf die Höhe der Kronenburg katapultiert wird, wo er zuletzt auch seine leiblich-sinnlichen Begierden in asketischer Weitabgewandtheit ausmerzt. Mit dieser adaptierten finalen Wendung in die Isolation 46 wird in der erhaltenen Schlußversion des Nachtrags le

Parallele

zum

pikaresken

Roman

offensichtlich.

eine strukturelTrotz

dieses

asketischen Ethos, das auf diese Weise anachronistisch in der Entwicklungskonzeption des Anton-Fragments mitschwingt, 47 handelt es sich

43

44

45

46

47

Friedrich Schlegel: Über Goethe's Meister: In: Athenäum. Eine Zeitschrift, ersten Bandes, zweites Stück, Berlin 1798. [Reprint Frankfurt 1973], S. 323. Vgl. zur Problematik dieser Vorstellung Swales, Unverwirklichte Totalität, S. 41 if. Geppert verweist dagegen mit Blick auf die Kronenwächter darauf, daß Arnim »die Idee persönlicher Bildung als einer auf Erfahrung gegründeten Selbsterziehung, deren Ergebnis prinzipiell offen ist«, in der Geschichte Bertholds verschärft hat. Geppert, Kronenwächter, S. 42. Dabei handelt es sich allerdings nicht - wie im Picard-Roman - um eine dezidiert religiös fundierte Isolation, sondern um einen auf die Spitze getriebenen Selbstbildungsvorgang. Vgl. dazu A . Hirsch: Barockroman und Aufklärungsroman. In: Etudes Germaniques 9 (1954), S. 9 7 - 1 1 1 , hier S. 98. Mit dem asketischen Ethos, der episodischen Grundstruktur, der Bemühung um eine möglichst umfassende Welterfassung weckt der Text deutliche Reminiszenzen an Grimmelshausens Simplizissimus: »Allerdings hatte schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine >Einbürgerung< des Pikaro stattgefunden. Das asketische Ethos schwindet zugunsten einer weltfreundlicheren und den Kompromiß zulassenden Haltung. Dem Helden wird daher nach seinem Weg durch die Welt eine anerkannte Position innerhalb der Gesellschaft angewiesen. Es ist ohne näheren Kommentar deutlich, daß sich hier im bürgerlich umgewerteten Pikaro-Roman Parallelen zum späteren Bildungsroman auftun müssen.« Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 25. 2

54

letztlich um einen modernen Individualisierungs- bzw. Bildungsprozeß, dessen spezifische (weltentrückte) Umsetzung aus der dualistischen Konzeption des Helden resultiert. Die Vita des Helden erweist sich - entgegen der episodischen Abenteuerstruktur des Fragments - keineswegs als mechanische Kulmination, 48 sondern wird durch die beständige Reflexionsleistung des Helden in eine komplexe Zeitstruktur überführt, in der das Ich des Helden einer erinnernden Konstruktion unterworfen wird: »Das Ich des Bekenners existiert nicht apriori, es muß vielmehr erinnert und aus der Erinnerung vergangener Dinge zusammengefügt werden«. 49

3.1.

Anna, Susanna und die zärtliche Gestalt: Ausgangs- und Zielkonstellation

Anton, dessen Entwicklungspotential über seine anfangs dominante N e i gung zu sinnlichen Exzessen hinausweist, wird von Anna und Susanna in unterschiedlicher Weise wahrgenommen; sie verkörpern insofern eine Bestätigungsfunktion für seinen nach den Kriterien der Tauglichkeit 50 erfaßten und deshalb eingeschränkten (Anna) bzw. für seinen bildungsfähigen und -bedürftigen Ausgangszustand (Susanna). Susanna ist symbolisch mit dem textentelechischen Bildungsprojekt verbunden, das sie inauguriert und katalysiert. Die Verbindung mit ihr ist an die Erfüllung der impliziten Entwicklungsvorgabe Antons gekoppelt und markiert auf diese Weise den textstrategischen Zielpunkt. Außerdem trägt Susanna als unaufdringliche Mahnerin auch zur Entwicklung und reflexiven Einkehr Antons bei. Die von vornherein im Zeichen der Paarbildung inszenierte

48

49

50

Helga Esselborn-Krumbiegel versucht in ihrer Studie über den >Helden< im Roman den Unterschied zwischen Abenteuer-Roman und Entwicklungsroman deutlich zu machen, indem sie auf die zentrale, sinn- und handlungsintegrierende Funktion des Helden verweist: Im Gegensatz zur kausal-psychologisch motivierten Heldenhandlung müssen der Umwelthandlung zwangsläufig sowohl die psychologische Kontinuität der Personenführung als auch die motivierende Eigendynamik fehlen; sie wird - wie im Anton-Fragment in besonderer Weise erkennbar - additiv: Diese Reihung »begründet im Entwicklungsroman jedoch keine erzählerabhängige Anekdotenstruktur wie im Abenteuerroman, in dem der Held nur Erlebnisträger ist, sondern eine heldenorientierte Mosaikstruktur.« Esselborn-Krumbiegel, Held im Roman, S. 24. David H. Miles grenzt in seiner Heldentypologie den »Bekenner« vom Pikaro ab; in: D. H. M.: Pikaros Weg zum Bekenner. In: Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Hrsg. von Rolf Selbmann, Darmstadt 1988, S. 374-405, hier S.376. Auf Antons Bedenken, wer nach dem Bildersturm noch Bilder kaufen möge, reagiert Anna ohne Anerkennung des Geleisteten: »Wehe Dir, Du unnützer Mann, so bist Du zu gar nichts tauglich.« (KW 347, Hervorhebung von C. N.) 2J5

Beziehung zu ihr hat also zugleich eine dynamisch-katalytische Komponente, die mit den symbolischen Paarbildungsprozessen im Wintergarten korrespondiert. Zu Beginn des Fragments findet sich Anton - in einem vagen Anschluß an die Geschehnisse der Kronenwächter - verletzt, aber »wieder zum Leben erwacht« unter der fürsorglichen Obhut der verwitweten Anna, deren Zärtlichkeiten im kindlich-sinnlichen Bedürfnisspektrum Antons gegenüber seiner »Freßlust« deutlich als sekundär verortet werden: »Anton [...] hatte zu viel mit seiner Eßlust zu schaffen, um diese Liebeszeichen nach dem vollen Werte aufzunehmen, er dachte erst an diese Bedeutung, als ihn einer seiner Kameraden fragte, ob er bald Hochzeit mache?« (KW333) In seiner charakteristischen Bequemlichkeit und Sinnlichkeit legt Anton - mit unverblümter Deutlichkeit - offen, worauf es ihm bei der Vermählung ankommt, wenn er als ehrlicher, gutmütiger »Grobian« (KW 333) um die Aufnahme in das Bett ihres Gatten bittet: »er habe nirgendwo so gut geschlafen, wie in ihres verstorbenen Mannes Bette [...] sie solle ihn wieder darin betten.« (KW 333). Von vornherein ist eine Schieflage in der Ehe vorprogrammiert; Annas Restriktionen gegenüber seinen leiblichen Bedürfnissen, ihre Versuche, ihn zugunsten ihrer Paarbeziehung zu isolieren, wecken bei Anton Fluchtinstinkte'1 bzw. gesteigerten Unmut.' 2 Indem Anton in einem repressiv-erzieherischen Sinne als Kind53 wahrgenommen wird und durch Intrigen (mit den Geistlichen), Befehle und Betrug (Verdünnen des Weins) - bewußt im Status der Kontrollierbarkeit und Unmündigkeit gehalten werden soll, verkennt und hemmt Anna - wenn auch oftmals im Zeichen der Schadensbegrenzung bzw. -Vermeidung - sein Entwicklungspotential, das für Susanna klar und vorbehaltlos zu Tage tritt. Annas extremer Verkennung scheint Anton zunächst mit trotziger Konsequenz zu entsprechen. Auf seine ersten irreversiblen Fehler (dem heimlichen Tausch von Annas silbernen Pokalen gegen ein Pferd, das ihm schließlich 51

» A n t o n hatte nun keine Beschäftigung, als mit ihr zu sprechen; er fing deswegen an, w a s er gelobt hatte, zu erfüllen und den Altar in der Kirche, v o r w e l chem er getraut worden, mit einem neuen Bilde des großen Christopheis [ . . . ] zu verzieren« ( K W 334).

52

» E r forderte Wein, trank, er fand ihn besser als bei seiner Frau, die ihn heimlich bis zur Hälfte mit Wasser mischte, ärgerte sich über den Betrug und verlangte einen Schoppen nach dem andern.« ( K W 33 5)

53

» N a c h A n t o n s Genesung [ . . . ] stand sie v o r ihm und winkte aus der Ferne, wie einem Kinde, das laufen lernt, und als das Riesenkind auf sie zu kam, gab sie ihm einen zärtlichen K u ß « ( K W 3 3 3).

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geraubt wird), reagiert er allerdings mit Einsicht und fügt sich - wenn auch ohne reflexive Besinnung und produktive Entwicklung - im Bewußtsein seiner Schuld 54 »demütig« den Verhaltensvorgaben seiner Frau: Anton, im geheimen Bewußtsein der Schuld mit den [heimlich verkauften] Bechern, wurde in dieser Zeit so demütig wie in der ersten seines Ehestandes [...] E r dachte auch wieder an die Malerei und verfertigte einen St. Sebastian und einen St. Petrus [...] Freilich war diese Einnahme immer nur gering gegen die Ausgaben, die ihm solch Bild machte. U m ruhig und ausdauernd zu malen, mußte seine Weinkanne nie leer werden; es blieb immer nur wenig übrig, um die beiden Becher, wie er sich vorgenommen hatte, früher zu ersetzen, ehe die Frau den Verlust wahrnehmen könne. ( K W 344)

Der Wandlungsansatz, der durch das ausdauernde Zechen blockiert wird, deutet ex negativo bereits an, daß lediglich die Fähigkeit zur Askese eine progressive Introspektion (und Selbst-Bildung) ermöglicht. Erst die spätere Einschränkung des Weinkonsums erzwingt eine rauschfreie, reflexive Annäherung an die Umwelt. Die neue Perspektive auf seine Arbeit als Künstler, die nun als Mischung aus »besondrer Anlage« und »handwerksmäßiger Gewohnheit« erkannt und wahrgenommen wird, forciert in der Betrachtung der selbstgeschaffenen »frommen, stillen Gesichter«" eine »vermehrte« Achtung gegenüber Anna, »die bei aller Härte gegen ihn doch immer ein sehr mildes heiliges Gesicht bewahrte, und immer fleißig betete« ( K W 345). Seine beginnende Wandlung, »als er sich so mit eigner Gesinnung seiner Kunst widmete und aus dem Handwerke hervorstrebte« ( K W 345), findet durch den Bildersturm, in dessen Durcheinander er die Kirchenbilder erfolgreich verteidigt und dabei sein eigenes Haus verliert, ein jähes Ende. Anna begegnet dem Besserungswilligen »mit gleicher Härte, die er während der Zeiten seines wüsten Herumlebens in ihr notwendig gemacht hatte« ( K W 344). Zugleich definiert sie seine Begabung im Zeichen ihres Profilierungsbedürfnisses' 6 und der

54

"



Anton »im Bewußtsein, wie viel mehr er noch verschuldet, ertrug alles geduldig.« ( K W 344) In dieser ersten kurzen Phase der inneren Einkehr konvergieren fraglos mehrere Problemkomplexe - so sind neben dem angedeuteten künstlerisch-reflexiven Sublimierungsprozeß auch noch die Ehestandsthematik und die kunsttheoretischen Folgen dieser ephemeren Läuterung mit dem weiteren Verlauf der Handlung, dem verdichteten Berthold-Roman oder etwa auch der mit dieser Problematik vergleichbaren Thematik von Raphael und seine Nachbarinnen ins Auge zu fassen (vgl. dazu Burwick, Kronenwächter und Neuhold, Kunsttheorie). »Diese Malerei machte Frau Annen so stolz auf Mann und [das porträtierte] Kind, daß sie eines Abends einige alte Freundinnen zu sich bat, um es ihnen zu zeigen« ( K W 334). Dieses Profilierungsbedürfnis führt Anton überhaupt erst zurück in das Weinhaus.

2

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Nützlichkeit (ν. a. des Geldverdienens), so daß sie sein selbstloses Eintreten für die Malerei im Bildersturm unter diesen axiologischen Prämissen nur

noch

als

dümmliches

Versagen

eines

»unnütze[n]

Mann[es]«

(KW 347) deuten kann. Das verzerrte Bild, das sie mit ihren festgefahrenen Verortungsmechanismen von ihrem Mann gewinnt, trägt wiederum zu einer hypertrophen Sparsamkeit bei, mit der sie der Verschwendungssucht und Lebenslust Antons zunächst prophylaktisch, dann kompensatorisch zu entsprechen versucht hatte. In diesem wechselseitigen, von Mißverständnissen forcierten Verkennen ist das Ende ihrer dissoziierenden Sonderwelt der Liebe (die ohnehin nur in einer künstlichen Abgeschiedenheit und Begrenzung Bestand haben konnte) insofern zwangsläufig, als Anton auf der einen Seite unfähig ist, die berechtigte Kritik seiner Frau von ihrer problematischen Vermittlung zu trennen (d. h. vor allem ihre für die gemeinsame Liebe wenig schmeichelhafte Fixierung auf materielle Güter beobachtet), und Anna auf der anderen Seite die »Welthaftigkeit« (LP 167) von Antons Ich zugunsten seiner sinnlichen Charaktermaske in Frage zu stellen beginnt: »Die ganze Welt hat in dem Kerl Platz, so hat er mir Haus und Hof hinuntergeschluckt und ist davon nicht einmal satt geworden; daß ihm die Pest in den Magen schlage!« (KW464) Als Anton von seiner wahren (gräflichen) Identität erfährt, wird auch seine Entfremdung von Anna explizit, wenn die neue Stellung und die Prophezeiung eines »höheren Geschicks« nicht nur seine »alte Weise«, sondern insbesondere auch seine Frau deplaziert erscheinen läßt: Das Schreckenvolle aller Ereignisse [um die leidvoll zu Tode gekommenen Geschwister des Vaters], welche die Seinen teils überstanden, teils das Gefährliche des Dienstes, wozu er berufen, drückten ihn nicht nieder, aber nichts von seiner alten Weise stimmte mehr dazu; selbst seine Frau fügte sich nicht in diese Entbehrungen und Anstrengungen, um einen so ungewissen Zweck zu erreichen; daß er nun erreicht habe, wonach er sonst fröhlich gestrebt hatte, ein ritterlicher Mann zu werden, das war ihm noch nicht so nahe und deutlich. Er brütete so in sich, wie er noch nie getan [...] ( K W 4 1 2 , Hervorhebung von C. N.).

Zu diesen pragmatischen Räsonnements gesellen sich auch gefühlsbedingte Bedenken, die sich im Anschluß an ein Lied Güldenkamms nicht länger verdrängen lassen. Das Lied handelt - in anzüglicher Analogie zur fiktiv realen Situation (Anton und Susanna reisen gemeinsam zu Wasser) - von der Begegnung eines »schönen Kindes« mit einem verheirateten Ritter bei einer Fährfahrt, wobei letzterer durch die Lieder des Spielmanns von seiner lustvollen Zuneigung für die junge schöne Begleitung befreit wird: Da kömmt die Fähre zu dem andern Strande, / Das schöne Kind geht fort an fremder Hand; / Der Ritter ruft: Du sprengst die falschen Bande, / Ich hab mich 258

heim zu meiner Frau gewandt! / Der Spielmann schlägt mit Jubel in die Saiten: / Nur einer Liebe folge, der sei treu; / Der Sänger mag Dich zu der Einen leiten, / Er spielte Dich, er spielte sich auch frei [insofern der Ritter ihm die Uberfahrt bezahlt hatte], Anton hatte diese Worte mit Bestürzung gehört, er fühlte,

daß er nicht in dem Sinne an seine Frau denken konnte (KW 435, Her-

vorhebungen von C. N.).

Die deformierte Charakterwahrnehmung des jeweils anderen markiert den Endpunkt der Partnerschaft zwischen Anna und Anton, die in der gegenseitigen Verfluchung und schließlich in der grotesk-tragischen Mordszene kulminiert, in der Anna sich wieder auf den vermeintlich versöhnungsbereiten (vor allem aber nunmehr materiell abgesicherten) Gatten einläßt. Anders als in der Ausgangsposition mit Anna ist die Beziehung zwischen Susanna und Anton im Sinne der romantischen Liebe ausgestaltet, so daß über ihre Liebe auch der Weg Antons »zur selbstbewußten Selbstbildung« (LP 172) eingeschlagen werden kann. Die kritische Bestätigung, die sie zu geben versteht, gewährleistet eine konstruktive soziale Reflexivität, die - auf der Ebene zwischenmenschlicher Interpenetrationen - zur konstitutiven Bedingung für die »>Bildung< individueller Selbstreflexion« (LP 174) wird. Über die romantische Liebe zwischen Susanna und Anton wird ein Individualisierungsprozeß erfaßbar und kommunizierbar, der Anton seines statischen Charakters enthebt, obwohl er - wie Geppert richtig bemerkt im vorliegenden Fragment weitgehend dem bekannten Arsenal an Tugenden und Fehlern verpflichtet bleibt.57 Der Text jagt seinen Helden durch einen geradezu aufdringlichen Parcours von äußeren Einschränkungen, Leid, Kampf, Liebe und Glück, die in jeweils zwischen Introversion und Extroversion alternierenden Zuständen durchlaufen werden; die beiden Pole seines Selbstverständnisses werden metaphorisch früh benannt und gewichtet: Wahrhaftig, sagte Anton, darum war ich so giftig nicht, sondern weil Ihr mir das Liebste [die Malerei] beschimpfen und zerstören [im Kontext des von Seger initiierten Bildersturms] wolltet, das Einzige, wovon ich lebe. - Ei was, meinte Seger, Du lebst vom Essen und Trinken (KW 348).

Der neuen Kunsterfahrung stellt Seger Antons Fixierung auf sinnliche Erfahrungen, seine »derbe[...] Natur« (KW350) gegenüber, die bis zum Ende des Fragments ein deutliches Vorrecht beansprucht; damit wird 57

Bereits die erste, durch Anna erzwungene Reflexionsleistung Antons präfiguriert ein Muster, nach dem auch alle nachfolgenden Szenen der reflexiven Einkehr konzipiert sind. Vgl. dazu u.a. K W 3 6 3 ^ K W 3 é j f . ; K W 3 6 8 .

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auch zugleich die implizite Zielvorgabe offengelegt, die jenen von Seger und Voluptas unterstützten bzw. evozierten, oftmals als sündig konnotierten Bedürfnissen den Kampf ansagt. Während Anna als übelgelaunte Ehefrau sein Wesen - wie Seger - metonymisch in seinen zunehmend destruktiven sinnlichen Bedürfnissen inkarniert sieht, gelingt es Susanna, in Anton eine Anweisung auf die Zukunft zu erkennen und seinen problematischen Ausgangszustand zusammen mit seinen Möglichkeiten in einer bedingungslosen Liebe anzunehmen, d. h. ihn in seiner dynamischen Stabilität zu erfassen und zu bestätigen. So registriert Anton frühzeitig (und zu diesem Zeitpunkt konsequenterweise noch unwillig), daß sie ihm diente »mit einer Hochachtung, wie einem höheren Wesen, das er nicht sein mochte« ( K W 3 8 3 ) . ' 8 Susanna steht - als androgyne und keusche Inhaftierte des Frauenhauses - in einem komplementären und kompensatorischen Verhältnis zum riesenhaften, sinnenfreudigen Anton; sie bewahrt Anton gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft vor dem tödlichen Ubergriff des eifersüchtigen Seger und korrigiert seine körperliche Versehrtheit (indem der Finger gerettet wird, der Ehering aber verloren geht) durch sympathetische Kräfte, ohne daß ihre christlich-fromme Integrität dadurch ins Abseitige entfremdet wird. In ihrer ätherischen Perfektion hebt sie sich zudem deutlich von Anna ab, die als kräftige, einfache, bodenständige, (in jeder Hinsicht) erfahrene Hausfrau eingeführt w i r d . " Susannas umfassende Ergebenheit Anton gegenüber gewinnt in ihrer expliziten Todesbereitschaft, mit der sie auf seine (vermeintliche) Hinrichtung reagiert, eine absolute Stoßrichtung: »wem gehöre ich an auf dieser Welt als ihm, der mich nicht mehr

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In diesem Handlungszusammenhang wünscht sich Anton wieder einmal, in ihm entsprechender Gesellschaft zu sein, erkennt jedoch immerhin zugleich in seiner Sehnsucht nach einem »munteren Gesellen von weniger Vortrefflichkeit, der in seiner Fröhlichkeit mitjubelte, der an seinem Halse hing« ein »Unrecht« ( K W 383), was die Rolle und Funktion Susannas textstrategisch absichert. Z u dem wird Antons Besonderheit, die Susanna emphatisch zum Ausdruck bringt, auch von anderer Seite bestätigt und damit objektiviert: So mehrt zum Beispiel seine Führerschaft in den Pforzheimer Wirren das Zutrauen aller zu Anton »bis zu einer göttlichen Verehrung« ( K W 506). Dieser Gegensatz wird bis ins Erscheinungsbild der beiden Frauen ausgestaltet, insofern Anna und Susanna »einander so wenig glichen [...] jene hochgewachsen mit blondem Haar, diese klein und mit dunklen Locken« ( K W 489). Dabei bezeichnet die Androgynität Susannas bereits einen deutlichen Abstand zur optischen Sinnlichkeit Annas: Ihre offenkundige Nähe zu Mignon verweist auf Wilhelm Meisters Lehrjahre-, die antipodische Deskription von Antons Herzensdamen reproduziert aber auch auf Arnims biographische Konstellation: Die unerwiderte Liebe zur blonden Auguste Schwinck wird schließlich abgelöst durch die Liebe zur (mignon-ähnlichen) Ehefrau Bettine.

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hört; er ist mir Mutter und Vater, Bräutigam und Mann, Vaterland und Unterhalt [...] hier will ich beten und verhungern« (KW369). Indem Susanna ihren Weltbezug ausschließlich und unauswechselbar über Anton definiert, nimmt sie ihn zugleich in seiner problematischen Konstitution an, ohne ihn zu idealisieren. Ihre Mahnung, »Ihr zündet das Licht an beiden Enden an, und so verbrennt es bald« (KW 425), fällt auf fruchtbaren Boden: »So eindringend hatte Frau Anna ihn nie ermahnt, sie sprach nur immer vom Gelde, das er unnütz verschwende; er sah sie zärtlich an und sprach, wärst Du nur immer bei mir gewesen, es wäre manches anders.« (KW 42 5) Mit dieser »zärtlichen« Entgegnung legt Anton ein intuitives Wissen um die (selbst-)entfremdende Wirkung seiner sinnenfreudigen Eskapaden offen. Da er sich von Susanna erkannt und begriffen fühlt, wird deren bildender Einfluß - in ihrer liebenden Anteilnahme - überdies als >Zu-sich-selbst-Kommen< exponiert. Susannas Blick für die Diskrepanz zwischen Antons phänotypischem und eigentlichem Ich wird besonders in ihrem Vergleich zwischen dessen Selbstbildnis und seiner realen, selbstentfremdeten Physiognomie augenfällig. Das von ihr initiierte Porträt (das im Sinne einer nicht bewußt wahrgenommenen Inspiration, d.h. also einen Zu->Fall< seine spezifische Lebensnähe erhält),60 für das sie - als inspirierende Patin (»er meinte, daß ihm Susanna, die immer eifrig zusah [...] ihm mit besonderen Gebeten beigestanden«, K W 4 1 5 ) zugleich ein besonderes Spezialistentum an den Tag legt,61 fungiert später als Bezugs- und Vergleichspunkt zu seinem - durch ein nächtliches Trinkgelage - »entstellten« Gesicht: »Herr, sagte sie, Ihr seht auch heute ganz entstellt aus; seht Euch einmal im Wasserbecken an, vorgestern wäret Ihr viel schöner als Euer Bild, und heute viel häßlicher.« (KW 425) Ihr eigenes Porträt empfindet sie vice versa als zu »hübsch«; das von Anton gefertigte Bild - das sie in schlafender Unverstelltheit zeigt - wird ihr zum konstruktiven Vorbild der Selbsterfüllung und Selbstfindung. Die gegenseitig gewährleistete steigerungsfähige Identität hält in diesem Sinne auch für Susanna noch Entwicklungsmöglichkeiten offen:

60

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»So fahr Gott und der Teufel mit allem Sonnen- und Höllenfeuer hinein! Ich hab mich heiß genug dran gearbeitet! und warf den Pinsel gegen das Bild. Susanna tat einen Schrei, hob das gefallene Bild auf und rief: Seht Herr, jetzt ist Feuer in den Augen! Anton sah hin und war verwundert, wie der Pinsel, der mit Weiß gefüllt war, so glücklich auf das eine Auge gefallen war, um ihm einen Ausdruck von Lebensfeuer zu geben, den er nie herauszubringen verstanden; er brachte jetzt den Effekt mit Absicht im andern Auge hervor [...]« (KW416). »Susanna war hingegen immer noch unzufrieden damit, sie fand, es sähe noch immer so tot, so starr und unbeweglich aus [...sie] sagte, die Augen hätten nicht das volle Feuer« ( K W 4 i j f . ) .

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O laß mich werden im Wachen wie Du [das Porträt] bist, heilig im Schlaf [...] Nun, sagte er [Anton], bist D u noch nicht mit Deinem Bilde zufrieden? ich sehe, D u hast es mit einem Blumenkranz umfaßt. Ach Herr, sagte sie, wenn das Bild nur mit mir zufrieden ist [...] ich habe eine große Angst, daß ich ihm nicht gut genug bin (KW 418).

Susannas textstrategische Stellung als Zielvorgabe im Entwicklungsgang Antons wird bereits früh in Form einer antizipierenden Momentaufnahme offengelegt. Seine ephemer empfundene Purifikation und die daraufhin gefühlte Zugehörigkeit zu Susanna werden intuitiv in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Im Angesicht der toten Schwestern Semiramis und Dido überdenkt er in diesem Sinne, »was er in den Gemütern der Menschen gewirkt; sein Gemüt selbst erkannte sich in einer Freiheit von dem Boden des Jammers, und er hörte auf, ein Leibeigner seines Bedürfnisses zu sein; er kam sich vor, als gehöre er zu Susannen« (KW 364, Hervorhebung von C. N.). 62 Während Anna versuchte, sich im Kontext ihrer erzieherischen Abstrafungsbemühungen der kirchlichen Autorität zu bedienen/ 3 strahlt Susanna eine uneigennützige religiöse Authentizität aus, die sich in ihrer Wirkung wohltuend von Annas berechnenden Intrigen abhebt. Nach dem Aufruhr in Augsburg fällt das vorwurfsfreie Gebet Susannas »Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« auf vorbereiteten Boden, insofern Anton in einem seltenen Zustand der Einkehr darüber sinniert, »wie viel Unschuldige sein blinder Eifer vielleicht in ein vieljähriges Verderben gestürzt« (KW 365): »Das Wort drückte sich in das tiefste Gedächtnis Antons; er fühlte, daß er nie gewußt, was er getan, sondern, daß der Zufall mit ihm gespielt; und vor dem Mädchen faßte ihn eine heimliche Scheu, wie vor einem Engel.« (KW366) 64 Indem Susanna als »Engel« aufgefaßt wird, ist Antons Beziehung zu ihr von vornherein eine ideale Komponente eingeschrieben, die neben der vorbereiteten romantisch konzipierten Liebeserfüllung zweier, sich gegenseitig

in ihrem

selbstre-

ferentiellen Weltverhältnis bestätigenden Individuen auch die - noch zu 61

63

64

Auch diese Beziehung steht zunächst im Schatten von Antons leiblichen Bedürfnissen (Wein, Speisen, Spiel); seine Eifersucht auf Güldenkamm ist schnell verdrängt, wenn er mit Brot versorgt wird: »Anton hatte bei dem Brote seine Verwunderung über Susannen [und ihre unterstellte Verbindung zu Güldenkamm] lachend vergessen« (KW 436). »Sie machte ihm täglich Vorwürfe, auch schlug sie wohl zuweilen, aber das half alles nichts; sie schickte deswegen die Geistlichen über ihn, daß sie ihm das Abendmahl versagen sollten. Anton merkte bald, woher dies stamme, und ärgerte sich über diese Pfaffenwirtschaft, durch die seine Frau ihn regieren wollte« (KW 341). Der für das Anton-Fragment zentrale Gesichtspunkt des gesteuerten Zufalls wird im folgenden noch präzise zu erörtern sein.

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thematisierende - allegorische Synthese beider Personen möglich macht. Im vorliegenden Fragment wird der Gedanke einer Liebesbeziehung sowohl von Anton als auch von Susanna als naheliegend empfunden, aber da er nur in Form der Ehe realisierbar scheint - mit Blick auf Anna lediglich als konditionale Überlegung ausformuliert ( K W 525). Dabei konfligiert Antons immer wieder aufkeimende unbedachte »Lust«, Susanna zu berühren, mit ihrer überzeugten Zurückgenommenheit, die ihre unschuldige »Unwissenheit« in einem augenfälligen Unterschied zum »erfahrnen Scherz von Frau Annen« ( K W 489) erscheinen läßt. Die Begegnung mit der anhänglich-treuen Susanna produziert bei Anton, der sich seiner ehelichen Rolle als Hausvater und dem (gefährdeten) Fortbestand seiner Liebe verpflichtet fühlt, 6 ' eine problematische Doppelbindung an Frau und (platonische) Freundin. Dem von Mephistopheles erbetenen Liebesbrief legt Anton in diesem Sinne seine Gefühle zu Anna und Susanna zugrunde. Die daraus entstehende zärtliche Gestalt 66 - obwohl »Gemisch seiner Liebe« ( K W 489) - kann ihn allerdings lediglich erotisch fesseln und wird auf diese Weise nicht als adäquate Lösung 6 7 in der Partnerverwirrung begriffen. Das »Gespenst« materialisiert sich, nachdem Anton seine Frau verflucht hatte ( K W 550), 68 und wird in diesem fragwür65

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»Er dachte sich Frau und Kind in dem Muttergottesbilde [...] da ward er wieder Hausvater und Gatte und flehte um die Fortdauer seiner Liebe. Susanna aber ward ihm gleichgültig«. Gegen diesen Verrat an seinen Gefühlen Susanna gegenüber wehrt sich sein Körper, indem die von Susanna geheilten Wunden wieder aufbrechen: »nicht bloß die Wunde am Schenkel, sondern auch der Finger, die Susanna ihm geheilt, schienen in den alten Zustand der Verletzung zurückkehren zu wollen.« (KW 444) Dabei liefert Anton die latente Vorlage, die sich mit Mephistopheles' magischer »Hilfe« in eine phasenweise manifeste Gestalt verwandelt; damit ist er der geistige Vater dieses seltsamen Produktes und das Gespenst konstatiert in diesem Sinne: »Deiner Macht muß ich gehorchen, aber Du gebietest mir nicht und mein Dasein wird ein ewiges Warten.« (KW 501) Die zärtliche Gestalt weist eine deutliche Nähe zum Golem in Isabella von Ägypten auf, der ebenfalls imstande ist, Lust zu gewähren, Karl aber keineswegs zu erfüllen vermag. Eine »höhere Forderung« kann weder die zärtliche Gestalt noch der Golem befriedigen. Vgl. zum Golem Bella auch Lawrence D. Frye: Textstruktur als Kunstauffassung. Achim von Arnim und die Ästhetik Schillers. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 25 (1984), S. 1 3 1 - 1 5 9 , hier S. 1 5 off. Anton empfindet sich »durch tausendfachen Fluch von ihr geschieden« (KW 5 $6) und bekennt sich zur Irreversibilität dieses Geschehens: »Den Fluch nehmen Gottes Engel von Eurem Haupte! sprach Susanna. Wenn er nur in meinem Herzen verlöschen wollte, sprach Anton, aber er treibt mich unaufhörlich und gibt mir wunderliche Anschläge.« (KW 556) Die Reue, die er dabei empfindet, korrespondiert mit seiner Anhänglichkeit: »Weh mir, ich liebe sie noch« (KW 556). 263

digen Kontext als sinnliche Verführung wahrgenommen, da nicht die kombinierte Individualität der beiden Frauen in der zärtlichen Gestalt begeistern kann, sondern nur ihre ambivalenten sinnlichen Reize: »Er wünschte sich, recht bald Frau Annen untreu sein zu können, aber

seine

Freude war nicht gleich seiner Begierde, denn einer Toten gleich schlummerte

sie, er mochte sie nicht berühren.« ( K W 4 8 9 , Hervorhebung von

C . N . ) Umgekehrt ist das Abgleiten in die Sphäre der Sinnlichkeit auch im Sinne eines dilatorischen Problem-Managements (nicht aber im Sinne einer Problemlösung) zu verstehen, mit der die identitätsgefährdende doppelte Liebesbindung - auf die sinnlichen Aspekte reduziert 69 - zu beiden Frauen zunächst entschärft, wenn auch nicht bewältigt werden kann. Dieser sedative Aspekt der Erscheinung wird auch nach der (Wieder-)Begegnung mit Anna in seiner gesamten Problematik offensichtlich, wenn es heißt: Seine Frau schwebte ihm erst vor den Augen daß er sie nicht bannen konnte, bald aber ging diese Gestalt in das freischwebende zärtliche Nebelbild [die zärtliche Gestalt] über, die ihn allen Heiligen zum Trotz freundlich begrüßte, und diesmal lieblicher als je ein Inbegriff alles Schönen war. [...] (KW 567, Hervorhebung von C. N.) Die betäubende und blockierende Funktion von Antons Sinnlichkeit wird als lasziv-unbedachte Weltflucht inszeniert. Die zärtliche Gestalt wird auf diese Weise zur Chimäre. Daß Anton die entfremdende Wirkung des Gespenstes intuitiv erkennt, zeigt sich in seiner fatalen Verschränkung von sinnlicher Stimulation und Aggression: 70 »Er stach mit W u t gegen die Mauer, w o er dieses Bild gesehen« ( K W 496): Nur nach vielen Bitten hatte Anton eine Lampe erhalten, nachdem ihn das zärtliche Gespenst im Dunkel wohl zwei Stunden mit zärtlichen Liebesworten versucht hatte [...] Zauberer, warum ziehst Du mich aus meiner Seligkeit und stößt mit Degen und Blicken gegen mich und verachtest mich? Deiner Macht muß ich gehorchen, aber Du gebietest mir nicht und mein Dasein wird ein ewiges War-

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Diese Projektion Antons bleibt in diesem Sinne offen für reizvolle Erweiterungen: Später erscheint die Gestalt zudem mit einer »Beimischung« (KW 496) des Fräulein Gertruds (nachdem er deren Bräutigam im Duell getötet hat und bevor er diesen auf magische Weise wieder zum Leben erweckt). »Ihr Wesen war diesmal unausstehlich, sie suchte ihn sogar eifersüchtig zu machen, indem sie den alten bärtigen Heiligen schmeichelte und doch nebenher zu ihm hinschielte.« (KW 567) »Zärtlich bewegte sich das geliebte Bild vor ihm, umsonst mahnte er es, sich ihm zu verbinden, er sei ein Neugeborner aller Fesseln frei, seit er die Stunde verflucht, die ihn wieder mit seiner Frau verbinde, aber die liebliche Gestalt bald seiner Frau, bald Susannen ähnlicher schien den Spaß wie ein törichtes Kind allzuweit zu treiben, er zürnte in seinem erhitzten Gemüte, zog sein Messer und rief: Teufelin, ein Wort, du bist mein oder bist des Todes, du teilst mein Lager oder wir sind auf ewig geschieden« (KW 576). 264

ten. - Bringe Dich selbst um, rief er wild, opfere Dich mir, daß ich Deiner Dienste froh werde, indem ich Dich verliere. [...] Er hatte sich nur hart gestellt, sein Herz klopfte, seine Wangen brannten, sie aber schlief in seinen Armen ein und mitten im Taumel seiner Wünsche, denen er nicht mehr gebot, die er nicht zu hemmen wünschte, machte ihn der Anblick ihres müden sinkenden Auges so schlaftrunken, daß er eingeschlafen war, ehe er es ahnte. (KW 499ÍÍ.) O b w o h l das zärtliche Gespenst ihre einzigartige Treue und Schönheit als Folge der Synthese beschreibt - »denn in mir sind alle, die Dich lieben« ( K W 5 1 6 ) - , kann sie also - als bloß flüchtig bestehende Projektion von Antons sinnlich-erotischen (und nicht ästhetischen) Wünschen - einem genauen, zumal künstlerisch motivierten und deshalb halb distanziert, halb emphatischen Blick nicht standhalten: »Schön bist D u , sagte Anton, ich möchte Dich malen [...] Kaum blickte er sie so fest an, so war sie verschwunden und er schlief ruhig« ( K W 5 1 6 , Hervorhebung von C . N.). Die zärtliche Gestalt ist jedoch nicht nur als lüsterne Projektion bzw. als Signum der permanenten Verführbarkeit Antons zu werten. 7 1 Sie ist als gelungene und bedrohlich empfundene Fusion der reizvollen H e r zensdamen - auch als eine vulgäre Manifestation von Antons Mehrfachbindung aufzufassen. Diese doppelte Beziehung wird als Blockade und als Identitätskrise inszeniert/ 2 deren transitorische Funktion der Text immer wieder exponiert. Die chiromantischen Fähigkeiten der Zigeunerin tragen in diesem Sinne zur Problemfixierung bei und inaugurieren zugleich die zukünftige Lösung: Ei, sagte die Frau, Eure Hand ist so breit blanker Herr, daß sie ein Land bedekken könnte und sie wird nicht hart darauf ruhen, ja das wäre nun alles recht gut blanker Herr, aber Ihr werdet noch heiraten, das wäre alles gut, aber Ihr werdet ein junges Mädchen heiraten, das nicht bis fünf zählen kann. Susanna ward rot und Anton sah auf sie mit dem Gedanken, es könne sie wohl betrüben, daß sie es nicht sei und fragte, um einen übereinstimmendem Sinn zu bekommen, wessen Tochter seine Frau sein werde. Eines Kaisers Tochter, antwortete die Frau. ANTON Wann soll ich sie erkennen? ZIGEUNERIN Wenn Du Niemand liebst als sie. (KW 5 2 8 p

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Auch in wollüstigen Machtspekulationen taucht sie auf: »Heiter ging er [...] auf und nieder, von Würden zu Würden hob er sich empor, erkaufte Länder erweiterte durch Eroberung und die Krone auf der Kronenburg die das vereinigte Deutschland beherrschen sollte, fühlte er schon auf seiner Stirne, ihm ward so wollüstig, da stand die zärtliche Gestalt [...] vor ihm.« (KW 517L) Die Bestürzung, die Anton bei Güldenkamms gesanglich verbrämter Aufforderung »Nur einer Liebe folge« (KW 43 5) empfindet, wenn er das spezifische Gefühlsdefizit gegenüber Anna erkennt, macht deutlich, daß er diese Problematik erspürt. Im Nachtrag wird dann explizit auf Susannas hohe Geburt verwiesen: »Entdekkung ihrer Geburt und ihrer Würde (Tochter Carl V)« (KW 597); zudem er265

Die enge Korrelation von Paarbeziehung und Bildungsweg führt schließlich auch zum traurigen Tiefpunkt, der zugleich als Wendepunkt zu verstehen ist. Wenn er sich mit Anna im Glauben vereinigt, es handele sich bei ihr um sein materialisiertes Phantasma, treibt er die Krisis zum Höhepunkt, der mit jenem - dem Fluch geschuldeten - Mord an Anna endet; damit befreit sich Anton auf tragische Weise von der dissoziierenden Doppelbindung und leitet zugleich - auf fatale aber konsequente Weise die notwendige (im Fragment nicht mehr ausgestaltete) neue Bildungsstufe ein. In diesem Sinne erfühlt er schließlich die zunehmend problematische Beziehung zu Anna als Grund seiner Verwirrung in den abgründigen »grauenvollen Wunderlichkeiten«: E r ließ sich auf ein Knie nieder und betete zu dem Gestirn, das in alle N a t u r e n Klarheit gösse ihn [ . . . ] zu erheben in die A r m e der einen ewig einigen Liebe zu legen, die einst im gemeinsten Leben ihn so sicher und fest, so erfüllt von einem, so erheitert v o n allem in ruhiger Tätigkeit geduldet hatte, vorher aber, rief es in ihm, räche mich an dem Weibe, das mich in diesen A b g r u n d von Z w e i f e l n durch G e i z und Z a n k gestürzt hat ( K W 5 2 1 ) .

Susannas Gedanken über die Ehe, die sie als heiliges Bündnis von Mann und Frau für unauflöslich hält (KW 527), 74 quittiert Anton in diesem Sinne mit einem Händedruck und einer textentelechisch bedeutsamen Ahnung: »Es dämmerte ihm eine Aufklärung seiner wunderlichen Schicksale aus diesen Worten [...]« (KW 527).

3.2. Anton und die Kunst Auch wenn die Rolle und die Funktion der Kunst aufgrund des fragmentarischen Zustands der einzelnen Textteile nicht abschließend geklärt werden kann, so muß doch - im Bildungskontext - ihr bedeutsamer antizipatorisch-dekuvrierender Gehalt auffallen. Ahnlich wie Susanna, die sich vertrauensselig an Anton heftet und ihn dabei im Unterschied zu der Umwelt bereits als das »höhere Wesen« erkennt, zu dem er sich noch gibt sich offensichtlich eine Verbindung zwischen der gealterten Zigeunerkönigin, die »Kaiser Karls erste Liebschaft ist« ( K W 591), ihrem verlorenen Kind ( K W 5 9 1 ) und Susanna. D i e Zigeunerin im Fragment verläßt A n t o n mit den bedeutungsschweren Worten: »Sorgt für Susanna, ich werde sie einmal von E u c h zurückfordern.« ( K W 529) 74

Diese U b e r z e u g u n g w i r d v o m Text dezidiert unterstützt, w e n n die Möglichkeit der Scheidung und Wiedervermählung anhand der denkbar schlechtesten Beispiele disqualifiziert wird (an der geschiedenen Grethe und dem konvertierten Rautenstrauch, schließlich an der blasphemischen Tripelhochzeit von

Frau

Niklas - die sich als Schwester Grethes erweist - , Grethe und Rautenstrauch; K W 5 joff.).

266

entwickeln muß, legt die Kunst in materialisierter Form verborgene Aspekte seiner Persönlichkeit offen und akzentuiert seine exzeptionelle Position. Das Geschaffene, dessen volle Bedeutung sich dem Protagonisten zunächst als etwas »Wunderbares« (KW 344) entzieht, regt zur selbstreflexiven Einkehr an. Dieser Beschreibung liegt fraglos Arnims spezifisches Inspirationskonzept zugrunde, das den Künstler in seiner Funktion als Vermittler zwischen »Transzendenz und >MenschheitHimmelssieges< fügt sich schließlich das weitere Schicksal Antons, der auf symbolische Art sein Bildungsziel erreicht, wenn er im Rückzug auf eine »gläserne Säule« die Ehe mit Susanna vollzieht: »Wie Beide der Erde schon abgewendet, vor dem Lichte ihrer Gedanken die Sterne erlöschen. - Geistesverklärte haben keine Planeten.« (KW 603) Der Bildungsprozeß wird im Kontext dieser Überlegung in Form einer dezidierten Weltabkehr vollendet (und ist angesichts der spezifischen Ausgangsdisposition des Helden auch nur in Form eines solchen asketischen Rückzugs zu denken), stellt allerdings in der Folge nicht mehr die Voraussetzung eines neuen Weltzugriffes, sondern das Ende dar, da Anton im »Lobe, im Vertrauen auf die Krone stirbt« (KW 603). 100 Antons 100

V o m Entwicklungsroman

(als Auseinandersetzung zwischen Ich und W e l t

gekoppelt an eine sinnvolle Integration des Einzelnen in die Welt) weicht die

282

Vergeistigung, die im Roman-Fragment immer implizit gefordert, jedoch niemals erreicht wurde, wird hier gegen seine weltlichen Gelüste abgesetzt: »Der Hunger ist ihm nicht mehr schmerzlich - er hat kein Verlangen nach Speise, selbst die Luft ist ihm zu schwer.« (KW603) Diese plötzlich empfundene Schwere alles Irdischen kontrastiert im Fragment mit seinem Versuch, die »Lücke in seinem Innern« (KW436) statt durch (das fehlende) Brot durch kleine Steine zu füllen, ein Unterfangen, das Susanna folgerichtig mit Tränen quittiert: »das [Steinefressen] tat ihm wohl. Susanna fand diesen Scherz entsetzlich, sie mußte weinen«; die trotzige Haltung Antons wird dabei explizit als kindlicher Habitus erläutert, aber nicht in ihrer Widernatürlichkeit entschärft: wie ein unartiges Kind, das die Kirschkerne nicht hinunterschlucken soll, erst tut, als wolle es dieselben aus dem M u n d e nehmen, sie zeigt und dann doch verschluckt, so hatte er eine eigene Freude an den Besorgnissen der beiden und fühlte sich endlich so w o h l gesättigt, wie damals, als er die erste Trappe seiner Frau aufzehrte. ( K W 4 3 6 )

Den unreflektierten, kindlichen Verhaltens- und Wahrnehmungsschemata entwachsen, öffnet sich seine »Geistesverklärung« nur noch mit Blick auf die Krone für die Welt, deren Bedeutsamkeit als Zukunftsanweisung formuliert wird (»im Vertrauen auf die Krone stirbt er«). Das individuelle Schicksal erfüllt sich nicht im allgemeinen, gewinnt aber durch den dezidierten Bezug auf die »Krone« in der persönlichen Uberwindung der IchDissoziation und der erfüllenden Integration einen antizipatorischen Status mit Blick auf das Allgemeine. Dabei kommt der »Vermählung« mit Susanna als ultimativem Abschluß des Entwicklungsprozesses eine besondere Bedeutung zu; im Roman-Fragment konnte die Beziehung zu den Frauen als wesentliches Indiz für den Stand der Selbstwahrnehmung und Entwicklung gewertet werden. Die Skizze zur Fortsetzung geht noch einen Schritt weiter, indem sie der vollendeten Verklärung im Geiste die Vermählung mit Susanna als verkürztes »symbolontisches« Curriculum 101 voranstellt, bei dem zwei »symbola [...] sich zu einem Ganzen«102 vereinigen: »Anton findet Bildungsgeschichte Antons deshalb nicht hinsichtlich der einzelnen »kulissenartig« (Geppert) inszenierten Etappen seines Reifeprozesses ab, sondern vielmehr weil die vollendete Bildung hier eben nur noch als Weltabkehr lebbar ist: Deshalb steht sie zwangsläufig am E n d e seines Lebens. 101

A c h i m Aurnhammer: A n d r o g y n i e . Studien zu einem M o t i v in der europäischen Literatur, Köln, Wien 1986: »Das >symbolontische Curriculum« besteht also aus drei Phasen: Ganzheit - Chiasma [>Trennung in HälftenromantischDeutschlands< darstellt108 oder ob zugleich - wie es im Anton-Fragment anklingt - eine konkrete gesellschaftliche Utopie umgesetzt werden sollte, die sich analog zu Antons Entwicklung oder durch seine tatkräftige bzw. künstlerische Unterstützung vollzieht.

5.1. Utopie des Ästhetischen Über den zeitutopischen Charakter des Textes hinaus beansprucht das Romanfragment (zusammen mit dem Nachtrag) einen spezifischen (durch Anton repräsentierten) Vorbildcharakter. Ähnlich wie im Wintergarten zielt der Text mit seiner Utopie des Ästhetischen auf die historisch-reale Zukunft, die durch die angedeutete Zielperspektive des Textes (d.h. durch die ästhetische Antizipation) katalysiert werden soll. Das Zeitalter Antons und das Zeitalter der Revolution werden dabei in ihrem Umbruchscharakter exponiert und erweisen sich insofern als vergleichbar; die spätmittelalterliche Geschichte bleibt zugleich metonymisch in der Gegenwart enthalten: 107

108

Diese Vorstellung wurzelt wiederum in der romantischen Codierung von Nationalität, die analog zur persönlichen Individualität gebildet wird. Giesen, Kollektive Identität, S. 177ff.; Giesen, Junge, Nationale und kulturelle Identität, S. 286-302. Er treibt das Geschehen zu einem Punkt voran, an dem deutlich werden muß, worin die Bedürfnisse der Zeit de facto bestehen: Das Bildungsgebot für die Deutschen, unter denen die Arbeiter im Geiste nun eine besondere Stellung gewinnen, wird als einzige Möglichkeit zur Rückgewinnung der Krone betrachtet, die von einem einzelnen nicht geleistet werden kann. Die möglicherweise in diesem Sinne geplante Offenheit des Endes hätte einen appellativen Gehalt, der u. a. auch aus dem Wintergarten bekannt ist, und sorgt für die angemessene Kompatibilität des Anton-Konzepts und dem realen historischen Kontext: Mit der Anton-Figur wird diese postulative Offenheit konturiert und (im Nachtrag) antizipatorisch zu einem guten Ende geführt. 286

In dieser schrecklichen Nacht, w o Jeder für die Seinen bebte, sich aber gern vergessen hätte, stieg z u m erstenmal der große Komet aus dem Schöße der N a c h t auf, der nachher noch so viel Blutvergießen über die Welt gebracht hat; das traf in das schönste Wohlleben Deutschlands. So ist uns oft das Leben eines einzelnen Menschen ein Bild v o n den Schicksalen seines Volkes, o f t voraus warnend, oft z u spät. ( K W 575) I m R o m a n - F r a g m e n t ( u n d d e m N a c h t r a g ) k a n n u n d soll d a s L e b e n e i n e s e i n z e l n e n M e n s c h e n als » w a r n e n d [ e s ] « B i l d v o n d e n » S c h i c k s a l e n s e i n e s V o l k e s « g e l e s e n w e r d e n . I n d i e s e m - p o s i t i v g e w e n d e t e n S i n n e - ist A n t o n s I n d i v i d u a l u t o p i e ( w e i t g e h e n d als u t o p i s c h v o l l e n d e t e r B i l d u n g s p r o z e ß gestaltet) z u g l e i c h d e r V e r w e i s a u f eine k o l l e k t i v e U t o p i e . I n i h m g e w i n n t d i e Z u k u n f t e i n e n k o n k r e t e n P r o t a g o n i s t e n , d e s s e n S c h i c k s a l - in d e r p e r m a n e n t e n R ü c k k o p p l u n g a u f d i e » K r o n e « - als s e l b s t b e t r i e b e n e H ö h e r e n t w i c k l u n g u n d V o l l e n d u n g eine ä s t h e t i s c h v i s u a l i s i e r t e , t e x t e x terne V o r - B i l d f u n k t i o n z u k o m m t . 1 0 9

6. Zyklische Aspekte des Geschichtsbildes im Anton-Fragment N e b e n der christlich-eschatologischen Vorstellung v o n den »unendlichen G e s c h l e c h t e r [ n ] d e r E r d e « , d i e »aus e i n e m B l u t e s t a m m e n a u c h an e i n B l u t g l a u b e n s o l l e n , das f ü r A l l e v e r g o s s e n , A l l e z u r S e l i g k e i t

führen

w i r d « ( K W 581), f i n d e t d a s G e s c h e h e n i m R o m a n - F r a g m e n t z u

großen

T e i l e n v o r der Folie einer z y k l i s c h erfahrenen V e r ä n d e r b a r k e i t der G e s c h i c h t e (als e i n e r » e w i g w a n d e l n d e n , e w i g g l e i c h e n F l ä c h e « , K W 578) statt, d i e s i c h w i e d e r u m j e w e i l s h i s t o r i s c h e i n m a l i g u n d u n w i e d e r h o l b a r vollzieht: O könnten wir doch auch rückwärts unsern Blick in eurer Kraft [der A h n u n gen] wenden und die Welt verstehen lernen, die unsere Erinnerung belastet, könntet ihr das Vergessene und Verborgene uns wiederbringen, erst dann wäre unsre Welt unendlich ( K W 581).

109

D e r A n t o n des Nachtrags ist insofern die verdichtete Inkarnation der ästhetisch vermittelten Utopie des Textes, als er zugleich einen fiktiv realen individuellen als auch einen allegorisch allgemeinen Reifeprozeß dokumentiert. Problematisch erscheint dabei der Versuch, einen auf das moderne Individuum zugeschnittenen Bildungsgedanken flexibel auf die Volksentität auszudehnen; auf diese Weise erhält die divergente Volksmasse einen ahistorisch homogenen und zugleich individuell-organisch überhöhten Anstrich, ohne daß das organisch individualisiert gedachte Modell der Gemeinschaft von den wahren Deutschen die moderne Individualität eines psychischen Systems integrieren oder kopieren kann: D i e zentrale Analogie zwischen Allgemeinem und Individuum verharrt deshalb auf einer allusiven Ebene, auf der wesentliche Aspekte v o n Antons Individualisierung zwangsläufig unterschlagen werden. 287

Die phylogenetischen Zyklusvorstellungen werden von der Vorstellung des Jahreszeitenwechsels getragen, dessen »Wiederkehr« zugleich die zyklische Kontinuität des beschriebenen Fortschritts (der hier ontogenetisch als individuell-menschlicher Reifeprozeß gefaßt wird) gewährleistet: dazu möchte ich euch zur Stunde meiner Geburt hinwenden, das Gefühl wissen mit dem der Mensch sein Auge zum ersten Mal öffnete, zu wissen, wie er dann in der Wiederkehr des Jahres, nachdem er den großen Kreis das erste Mal durchwandert, den Jahrestag seiner Geburt feierte, ja dann wüßte ich, wie die Erde fühlt mit ihren Saaten und Wäldern in jeder Jahreszeit (KW 581). Die Beschreibung des zyklischen Tiefs, des Winters als »Tod des Jahres« ( K W 582), ergibt eine unübersehbare motivische und inhaltliche Parallele zwischen den Kronenwächtern

und dem Anton-Fragment; so heißt es im

Anton-Fragment: ob die Tiere ihr Leben rühmen, das auf einen Jahreslauf beschränkt ist, oder ob sie neidend den überlebenden Geschlechtern, sich vor der Luft verkriechen, die sie erweckt hatte und entschlummern. Dann wüßte ich wie jedem Geschlechte der Tiere zu Mute ist, wenn der Tod des Jahres, der Winter, alle Blätter abstreift; - was die Vögel singen wenn diese gleich ihnen durch die Luft fliegen, was das Gewild schreit, wenn sie ihnen das Gras bedecken und die Fische, wenn sie wie unzählige Nachen auf der Wasserfläche umhergaukeln bis sie versinken. Eine schwerere Decke überzieht aber bald mit gleichem Weiß die vielfarbige Erde, wie mögen die Ameisen erschrecken auf ihren weiten Wanderungen, wie mögen die Bienen trauern, wenn sie ihren Vorrat, die goldene Erinnerung unzähliger Blumenküsse in der Not angreifen, was mögen die Fische träumen, wenn eine harte trübe Eiswölbung sie in härterer Gefangenschaft hält als die Netze, denen sie so oft entschlüpft sind und sie von der Oberfläche bannt, an der sich das Wasser erneut, in der sie so oft fröhlich des Sonnenscheins rauschten, wie sie erschrecken nun der Hirsch, den der Teich so lange tränkte verwundert über ihr Haupt hintobt und mit hartem Hufe anklopft bis er die Eisdecke eingeschlagen und dann selbst erschreckt den Kopf zurückzieht, wenn ihm die scheuen Bewohner des so spiegelnden Elements ungeduldig entgegentreten, weil sie schon erstickt sind in der kalten Nacht und verkehrt oben aufsteigend kaum noch die Flossen zu regen vermögen. [...] alle Tiere macht der Winter ernst und boshaft und der Mensch, der alle beherrschen sollte, verkriecht sich furchtsam vor ihnen und liest in dem Fluge, in dem Geschrei der Tiere abergläubische Zeichen einer höhern Gewalt. Du armer Mensch, wärst Du doch wie jene Murmeltiere einem Winterschlafe wenigstens unterworfen, wenn du nicht mit den Zugvögeln dich in die Gegenden ewigen Frühlings flüchten kannst oder wie die Wasserlilien nur zum Blühen an die Oberfläche kommst, o daß du ihnen nicht gleichtun kannst und schlafend, oder wandernd, oder versinkend dem Winter entkommen magst; keiner von uns mag so schnell ziehen und versinken um der Kälte zu entkommen, die in einer Nacht halbe Weltteile überfliegt und wer schliefe so fest, daß ihn der Frost und der Sturm nicht weckten, so schlafen nur die Toten. Die Lebenden aber wie das Grün, das 288

noch aus dem Schnee wunderbar hervorblickt, strecken ihre Arme von ihrem Lager in die Welt der Sonne entgegen, aber sie wärmt nicht mehr, sie erschrekken vor ihr wie vor einer alten Freundin, die in einem Augenblicke ihnen fremd geworden ist. (KW 58iff.) Ähnliche Reflexionen leiten das Kapitel »Todaustreiben« in den wächtern

Kronen-

ein:

Wie mag die Erde sich scheuen, wie möchte sie so gern ihren Lauf zurück wenden, wenn sie in den Winterhimmel tritt, der alle ihre Saaten verschüttet. Sie ringt vergebens gegen ihren eignen Umschwung. - Ob die Tiere wohl ihr Leben rühmen mögen, welche auf einen Jahreslauf beschränkt, nur Frühling und Sommer kennen? Oder ob sie neidend zu den überlebenden Geschlechtern hinblicken mögen, ehe sie sich vor der kalten Luft verkriechen? Törigter Neid, sie wissen nicht wie die Bienen trauern, wenn sie ihren Vorrat in der Winternot angreifen müssen, denn sie hatten ihn nur zur Erinnerung der Blumenküsse zusammen getragen. Sie wissen nichts von der Gefangenschaft der Fische, wenn sich ihr Mund an der harten Eisdecke, die sie unbemerkt umschlossen hat, blutig stößt, wie sie erschrecken, wenn der Hirsch neugierig auf die Eisdecke klopft, weil ihm verlangte nach dem klaren Bach und das Wasser ihm in Stein verwandelt ist. Der Winter kommt den Tieren und den Menschen zur Verwunderung, nur wenige wissen ihre Zeit voraus, wie die Wasserlilien, die zum Blühen in rechter Zeit ihre strahlenden Häupter über die Oberfläche der Gewässer erheben, um dann genügsam und ruhig in den Abgrund seliger Erinnerung bis zur Wiedergeburt zu versinken. (KW 292) Die Tatsache, daß die Kronenwächter

als die autorisierte Fassung diese

Passage übernehmen, verweist auf das -

neben dem christlich-escha-

tologischen Grundgedanken - zentrale zyklisch fundierte Geschichtsbild beider Texte, vor dessen Hintergrund zwei gegenläufige Handlungsfolgen und Utopiekonstruktionen entwickelt werden. Während in den wächtern

Kronen-

in diesem Sinne mit einer resignativen Anerkennung des Win-

ters nunmehr noch die passive Erwartung des Frühlings geschildert wird, begründet im Anton-Fragment das antizipatorische individuelle Frühlingserlebnis zugleich die motivierte Kampfansage an den Winter: Aber die Trompeten schmettern in allen Straßen gedämpft von den Schneelagen, doch hörbar, der Feind ist nahe, der Freund ist in der Not, Not und Ehre rufen ihn [Anton], doch der die ganze Welt vergessen möchte, die Schüsse fallen immer näher, das Laufen der Flüchtenden hallt immer schneller, er fühlt keinen Frost mehr, ihm ist heiß wie in Frühlingsluft, die Ahnung, hier müsse er kämpfen, durchlebt ihn, ob der Himmel hell oder dunkel, nur eine Tätigkeit in ihm und um ihn her, nur ein Bestreben, denen, die ihn vom traurigen Tod des Erfrierens erweckt haben, sich anzuschließen, ihre Feinde sind seine Feinde und wäre es die ganze Welt. Mit solchen Herze voll Ahnungen des Mutes sprang Anton unter der Schneedecke hervor (KW 583, Hervorhebungen von C. N.). 289

Die oben zitierte Textsequenz bildet nicht nur einen Bestandteil beider Kronenwächter-Teile, sondern knüpft zugleich auch dezidiert an die Frühlingsmetaphorik des Wintergartens und Von Volksliedern an. Bereits im Wunderhorn-Aufsatz akzentuiert Arnim in einer nahezu identischen Bildlichkeit (Eis, Hirsch, kommender Frühling im Kontext einer Jahreszeitenzyklik) optimistisch das positive Moment des Übergangs: Das Eis hält lange, ehe es bricht und trägt viel, aber wer nur einmal über das glatte Eis durch alle wunderbare Bahnverschlingungen seiner Vorläufer fest dahingefahren, w o seine Augen den Schein der Sonne vor sich her springen sahen, er ahndet das freudige Leben im freyen Strom - zu schwimmen darin, zu segeln darauf, hindurch dem rauchenden Hirsche nachzureiten, dann bey ihm auszuruhen im Grünen, die Sterne darin zu sehen, kommen und untertauchen in ewiger Witterung. (WH 424^)

Im Gegensatz zu den Kronenwächtern verbindet Wunderhorn-Aufsatz, Wintergarten und Anton-Fragment - vor dem Hintergrund einer diesseitigen historischen Zyklik - das Vertrauen auf einen symbolischen, individuell zu katalysierenden Frühling - »denn der Frühling kommt auch aus ihnen [den jeweiligen Protagonisten des Aufbruchs].« (Arnim VI, 480)

290

VII. Die Kronenwächter

ι.

Geschichte und Geschichtsrezeption im Wintergarten Dichtung den

und Geschichte:

-

Die Einleitung zu

Kronenwächtern1

Mit seiner komplexen postulativen bzw. deskriptiven Amalgamierung von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit bezieht der

Wintergarten

sowohl eine analytische2 als auch eine persuasiv-pädagogische Position, die der kritischen Zeiterfahrung zugleich eine utopische Komponente im Sinne der wünschenswerten Veränderung einschreibt. Diese Gemengelage aus Alt und Neu stellt eine verdichtete Reaktion auf die Verschiebungen eines Geschichtsbildes dar, die neue Impulse im Rekurs auf die Vergangenheit zu verarbeiten hat. In der paradoxen Verschachtelung von retrospektiv inspirierter Zukunftsvision und beobachteten Gegenwartsdefiziten, muß deshalb bei Arnim zwischen Postulat und Analyse sorgfältig getrennt werden. »Geschichte« als passiv zu rezipierendes Produkt einer »gewaltigen Dichtung« (»der Poesie«, des Weltgeistes oder auch Gottes), das vom Rezipienten wahrgenommen und sogar widergespiegelt werden kann, und Geschichte als aktiv zu gestaltende Welterschließungsstrategie, welche die Individualität des Handelnden der Umwelt einschreibt, stellen zwei komplementäre, ex negativo ableitbare Akzente der Geschichtsvorstellung im Wintergarten

dar, die sich im Zuge der kontemporären Ver-

änderungen zu verschieben beginnen. Arnims theoretische Annäherungen an den passiv zu rezipierenden Begriff Geschichte setzen sich partiell von den gängigen zeitgenössischen Konzeptionen ab, die jene begriffliche

1

2

Während Arnim im Kontext des Wunderhorn- Aufsatzes und des Wintergartens grundlegende Voraussetzungen (oftmals in einem sehr engen Zusammenhang mit Herder) zu einer >historistisch< fundierten Geschichtsauffassung übernimmt und propagiert, entwickelt er in Dichtung und Geschichte - trotz großer Kontinuität romantisch determinierter Vorstellungen - eine eigenständige und originelle Form der Geschichtsbetrachtung. Deren Rekonstruktion im Rekurs auf den Wunderhorn-Aufsatz möglich ist.

291

Wende der Geschichte zum Kollektivsingular3 mitbestreiten. Indem Arnim die »Geschichte« als Entäußerungsform, als Medium einer höheren Instanz versteht - insofern eine gewaltige Dichtung durch die ganze Natur weht, bald als Geschichte, bald als Naturereigniß hervortritt, die der Dichter nur in einzelnen schwachen Wiederklängen aufzufassen braucht, um ins tieffte Gemüth mit unendlicher Klarheit zu dringen [...] und wir in der Höhe nähren uns von allem dem, als wenn es aus uns hervorgegangen wäre, als aus dem ewigen, schöpfenden Geiste (Steig 1,35)

- verweigert er, den Aufstieg der Geschichte zu einer »letzten Instanz«, »zum Agens menschlichen Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts«4 anzuerkennen. Die Emanzipation der Geschichte, die - im Sinne eines verschmolzenen Reflexions- und Wirklichkeitsbegriffes - den »Prozeß der Ereignisse und den Prozeß ihrer Bewußtmachung vereinheitlicht«5 und als ihr eigenes Subjekt auch außerhalb der menschlichen Bespiegelung existiert, kann innerhalb von Arnims transzendentem Rückbindungsversuch an »eine gewaltige Dichtung« bzw. an Gott nicht fruchtbar werden. Infolgedessen setzt er sich zwangsläufig von den zentralen theoretischen Aspekten des modernen Geschichtsbegriffes, der »Geschichte an und für sich« ab.6 Nichtsdestoweniger knüpfen die aufklärerisch-pädagogischen (>VolksBetrachtung< und >Blick< charakterisieren Burckhardt und Dilthey das historische Denken. Sie vergleichen die Form der Gegenwärtigkeit des Vergangenen im Bewußtsein mit der Anschauung von Bildern [Arnim vergleicht sie mit Fingerabdrücken]. Die Frage nach dem histo304

bleiben stumm und werden grundsätzlich einer »unlesbaren« irdischen Materialität zugeschlagen. Die Kategorien der totalen Verstehbarkeit versagen angesichts der Kontamination von Geist und irdischer Form. Die Geistesprodukte (als Anschauungsreflex der Wirklichkeit bzw. des Glaubens) werden nichtsdestoweniger als »Zeichen der Ewigkeit«, als »Wirken des Geistes« für die Tradition lesbar: Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt [...] Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu nahe, als sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahndungsreiche Bilder und wie die Eindrücke der Finger an harten Felsen im Volke die Ahndung einer seltsamen Urzeit erwecken, so tritt uns aus jenen Zeichen in der Geschichte das vergessene Wirken der Geister, die der Erde einst menschlich angehörten, in einzelnen, erleuchteten Betrachtungen, nie in der vollständigen Ubersicht eines ganzen Horizonts vor unsre innere Anschauung. (KW 13)

Ohne die rezeptiv-deutende Lektüre der Geistesarbeiter, die sich der Treue und Liebe in den irdischen Ereignissen annimmt, bleiben alle Geschicke der Erde äußerlich. Die Dichtung verfügt insofern über einen funktionierenden Modus der Sinnstiftung innerhalb einer zunehmend fremden und heteronomen Wirklichkeit; ihre hermeneutische Sonderstellung wird als Zeichen des Ewigen der »irdischen Tätigkeit« und auch der rationalen Verstandestätigkeit 37 vorgeordnet. Die notwendige »Ubersetzung« des Dichters, der sich »träumend«, »sorgend« und »arbeitend« in die »Ewigkeit« versenkt, distanziert sich von der »Zeit [...], die immer nur Weniges zu lieben versteht, aber alles fürchten lernt und mit Ängstlichkeit dingt, was mitteilbar sei, oder was verschwiegen bleiben müsse.« (KW 12) Die Heimlichkeit der Welt, jene leise »Geschichte«, die durch »Dichtung« erst zum Sprechen gebracht werden muß, vermittelt und entschlüsselt die »Eigenheit des Menschen« in einer eigens etablierten und spezifizierten Wahrheitskategorie (KW 14). Sie differenziert zwischen der Äußerlichkeit der Ereignisse und der verstehbaren und über die Dichtung kommunizierbaren »Treue und Liebe in ihnen« (KW 13) und filtert damit das Lesbare aus dem Unlesbaren. Die »Weltgeschicke« fallen aus den Kategorien des menschlich verfügbaren Sinnes, d. h. also der Lesbarkeit

37

rischen Sinn hat eine ästhetische Antwort gefunden.« Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, S. 13. »Aber der Geist liebt seine vergänglichen Werke als Zeichen der Ewigkeit, nach der wir vergebens in irdischer Tätigkeit, vergebens in Schlüssen des Verstandes trachten, auf die uns der Glaube vergebens eine Anwartschaft gäbe, wenn sie nicht die irdische Tätigkeit lenkte, das Spiel des Verstandes übte, und dem Glauben aus der tätigen Erhöhung in Anschauung und Einsicht beglaubigt entgegen träte.« (KW 13)

305

heraus, indem sie - von Gott gelenkt - einen eschatologisch relevanten Sinn verbürgen (»Gott wird sie lenken zu einem ewigen Ziele«, KW 13), der sich in den einzelnen historisch greif- und erfahrbaren Phasen jedoch entzieht. Indem die Geschichte auf Gott zurückgebunden wird und auf diese Weise nicht als sich selbst bedingender, sondern als heteronomer Prozeß gedacht wird, entzieht sie sich hier nicht nur als Reflexionsbegriff, sondern auch als Aktionsbegriff, in dessen Horizont »die Spätfolgen des eigenen Handelns voraussagbar«38 erscheinen. Mit der Verstehbarkeit der »äußerlichen« Geschichte negiert Arnim auf diese Weise zugleich auch ihre Verfügbarkeit, die mit tröstlicher Gebärde in den göttlichen Zuständigkeitsbereich verschoben wird. Damit ist der religiös fundierte Rückzug in die »Einsamkeit der Dichtung« legitimiert und vollzogen. Der Dichter als entschlüsselnder und vermittelnder »Leser« der relevanten geistigen Sphäre gewinnt in seinen Produkten einen Vorrang vor der historischen Welt, aus der er das Wesentliche extrahiert und präsentiert, während das »Außerhumane« als »illiterat« (Thomas Mann) negiert wird. Der Dichtung wird hier in weit höherem Maße die Funktion der Weltaufschließung, Sinnstiftung und Erkenntnis zugesprochen als jeder »irdischen Tätigkeit« bzw. jedweden »Schlüssen des Verstandes« (KW nf.), die im Modus der Vergeblichkeit eingeführt werden. Die Kronenwächter müssen in diesem Sinne als ein optimistischer Versuch einer ästhetischen Utopie ein Thema, das als mise en abyme nicht nur in der Einleitung gestreift wird - gewertet werden, während die Geschehnisse auf der Handlungsebene eindrucksvoll die für das Einzelindividuum schwer nachvollziehbare Kontingenz der »äußeren« Geschehnisse im Scheitern der politischen und privaten Pläne dokumentieren und dabei die ästhetisch vermittelten Utopien des Textes nachdrücklich desavouieren. Die Fehllektüren und Deutungsdefizite werden literarisch-performativ auf den fiktiven Leser der Kronenwächter und seine vorgängigen und jeweils evozierten Leseerwartungen projiziert. Die noch zu beschreibenden Ambiguisierungen weisen insofern einen funktionalen Charakter auf, der die Frage der >Lesbarkeit< konkretisiert und auf die Textebene der handelnden Figuren spiegelt.

38

Koselleck, Ü b e r die Verfügbarkeit der Geschichte, S. 269. 306

2. Das erste Buch der

Kronenwächter

Die doppelte Paarrelation zu Anna und Susanna wird im Anton-Fragment nicht nur als Krisenphänomen (in der zärtlichen Gestalt) virulent, sondern auch als immanente Entwicklungsvorgabe, in der die Beziehung zu Anna den Ausgangspunkt und die Ehe mit Susanna den individualutopischen Endpunkt verkörpert. Diese spezifische Doppelverbindung wird in den Kronenwächtern übernommen, in ihrer Stoßrichtung aber entscheidend verändert: Während im Anton-Fragment die vorbereitete neue Verbindung zu Susanna als Zielvorgabe verstanden wird, implizieren die Kronenwächter bei der zweiten (Ersatz-)Partnerwahl (trotz romantisch inszenierter Liebe) ein irreversibles Moment des Irrtums; 59 auf diese Weise ist der positive Entwicklungs- und Bildungsgedanke in den Kronenwächtern a priori sabotiert, obwohl er - wie Geppert konstatiert dem Geschehen ex negativo zugrunde liegt.40 Die spezifische Harmonie der geselligen Integration und der analog bzw. antizipatorisch zur gesellschaftlichen Vollendung verlaufenden individuellen Entwicklung erweist sich insofern als unmöglich. Gesellschaftliche Integration und anerkannte soziale Leistungen sind für Berthold an Krankheit und persönliche Stagnation gebunden. Die Möglichkeit zur individuellen Entwicklung, Bildung und zu einem visionären Gestaltungsimpetus wird dagegen über den allmählichen Ausschluß aus der Gemeinschaft erkauft. Zugleich fällt auf, daß auch in den Kronenwächtern - laut Sage - der »Friede auf Erden« an eine Heirat unter den verfeindeten Stämmen 41 geknüpft wird. Die implizite, von der Handlungsführung schließlich invertierte Zielutopie basiert insofern - wie im Anton-Fragment - auf einer individuellen Perfektion (indiziert durch eine adäquate Partnerwahl), die der allgemeinen Vollendung und Befriedung vorgängig ist. Die Zeit, in der das Geschehen stattfindet, verweigert allerdings - anders als im Anton-Fragment - ostentativ

39

40 41

Bereits zu Beginn ihrer jungen Liebe schläft Anna während eines Gespräches ein ( K W 1 3 7 ) und erinnert auf diese Weise überdeutlich an Mariane, die erste enttäuschte Liebe Wilhelm Meisters, die ebenfalls vom Schlaf überwältigt wird, was der Erzähler im Wilhelm Meister mit der vielsagenden Hoffnung quittiert, »daß unser Held für seine Lieblingsgeschichten aufmerksamere Zuhörer künftig finden möge.« ( H A , Bd. 7, 33) Geppert, Kronenwächter, S. 41. Streng genommen ist auch Anna eine Weifin: Die Prophezeiung müßte insofern auch in diesem Fall greifen; die Sage erweist sich also zumindest in der Formulierung als zu weit gefaßt; entweder sie bleibt in ihrer Geltung mehrdeutig oder sie ist in der Erfüllung an ein bestimmtes Personal gebunden, nämlich Apollonia und Berthold, so daß die persönliche Fehlentscheidung allgemeine Konsequenzen zeitigt, indem die Bedingungen der Sage (zunächst) ausgesetzt werden. 307

die Erfüllung der Sage und macht sie auf diese Weise unlesbar. Der >VolksGuten< zufrieden gibt. Die konstitutive Wirklichkeitsanbindung

der

Sage, auf die Lützeler verweist, kommt dann schließlich überwiegend im zweiten Buch zum Tragen. Innerhalb der Handlungsstereotypen des Märchens wird zugleich »eine bürgerliche Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte« 45

zelebriert. In ihm

scheint eine symbolische »Verbindung von Adel und Bürgertum« gelungen. 46 In diesem Sinne steht Berthold (trotz offensichtlicher Einbrüche 4 7 ) zunächst mit seinem unverstellten Vertrauen 48 in die Welt in einem passiv-empfangenden Einverständnis mit dem Himmel:

43

44 45

46

47

48

Günther Schweikle: Artikel Märchen. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle, Stuttgart 1990, S. 292. Günther Schweikle: Artikel Sage. In: Metzler Literatur Lexikon, S. 405 Neuhold, Kunsttheorie, S. 1 5 1 : »Der Staufersproß Berthold lebt als erfolgreicher und zukunftsorientierter Bürger der frühen Neuzeit.« Ebd., S. 152. Insofern versteht Neuhold »das erste Buch der Kronenwächter als Zeichen einer zwar nicht reflektierten, aber dennoch gelingenden >Versöhnung des Geistes alter und neuer ZeitMachbarkeitbis ein von Gott Begnadeter alle Deutschen zu einem großen friedlichen gemeinsamen Leben vereinigen wird< [...]. Die Anlage des Romans macht es wahrscheinlich, daß hierin seine soziale Utopie liegen sollte: im mythisch-feudalen Ausgangspunkt.« Haustein, Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim von Arnims, S. 102. Dies ist allerdings nicht als Selbstkritik Arnims oder als Abrechnung mit vorangegangenen Positionen zu lesen. Auch in früheren Texten wurde immer nur ein relativer Gestaltungsfreiraum reklamiert, der in den Kronenwächtern in den hybriden politischen Ansprüchen weit überschritten wird. Die Relativierung der eigenen Utopie des Ästhetischen erfolgt in komplexeren Zusammenhängen (etwa über die Inversion des zeitutopischen Schemas). Der diplomatische Fingerling kann seinen Schützling Berthold nicht vor dem Brunnenbau warnen, weil er sich zuvor einer möglichen Hochzeit mit Hildegard abgeneigt gezeigt hatte: »Einen Vorteil hatte er [Berthold] inzwischen 334

z u s a m m e n f ü g e n . Bertholds umfassende (autokratisch beschlossene) Pläne über die freie Z u k u n f t seiner Stadt gehen in diesem Sinne einher mit seiner frappanten diplomatischen U n f ä h i g k e i t , die mentalen und politischen Befindlichkeiten in Waiblingen auszuloten. D i e f ü r jeden versierten Politiker erahnbare und nachvollziehbare Stimmung in Waiblingen angesichts der folgenschweren privaten (Brunnenbau) und politischen Vorentscheidungen (angestrebte Reichsfreiheit), die Berthold im G e h e i m e n ausgehandelt hat, bleibt ihm auf diese Weise verborgen. A n a l o g dazu legt er eine subjektiv-optimistische L e k t ü r e der zahllosen V o r z e i c h e n und O r a kel an den T a g , die je nach aktuellem B e d ü r f n i s 1 0 2 ausgelegt oder in ihrer

102

durch den verlornen Antrag, es durfte Fingerling seine Einwendungen gegen den Brunnen aus erwiderndem Nachgeben nicht weiter vorbringen.« (KW 189) Die spezielle Verpflichtung des Voigts gegenüber Berthold, der eine seiner Töchter verheiratet hatte, führt zu weiteren dem Protagonisten unbekannten Komplikationen: »Vielmehr gab er gleich den Bürgern zu verstehen, wenn sie sich gegen den Bau setzten, so würde Berthold durch herzogliche Gnade ihn dennoch durchsetzen, ihr Widerspruch sei vergebens. Die Bürger kannten Herzog Ulrich und schwiegen, trugen es aber Berthold nach, der doch nichts von diesem Gerede des Voigts wußte.« (KW 190) Der verheimlichte Tod des Bergknappen und die damit verbundene Lüge »wandte immer mehr Herzen von ihm, aber er war zu übermächtig durch seinen Reichtum, durch die große Zahl von Arbeitern, die er beschäftigte, als daß irgend ein Bürger eine Anklage gegen ihn gewagt hätte.« (KW 199) Gerade in der gesamten Phase des problematischen Brunnenbaus, die ihn von seinen Waiblinger Bürgern irreversibel entfremdet und damit auch seine zukünftigen Projekte bereits im Vorfeld entscheidend sabotiert, wimmelt es von bedeutungsschwangeren Zeichen, die Berthold ignoriert: Die Eile Bertholds (»in seiner Lust den Brunnen fertig zu sehen«, KW 191) und seine fehlende Erfahrung im Bergbau, mit denen er beharrlich bereits geschehene QuasiKatastrophen wie die Verschüttung der Brunnenarbeiter ignoriert, führen letztlich zum Tod des von Luther ausgesandten Bergknappen: Daß Berthold bereit ist, sich insbesondere auf wohlmeinende Orakelsprüche einzulassen (so befragt er angesichts der Heirat mit Anna eine Münze, anstelle dem offensichtlich »zweifelhaften Fall« auf den Grund zu gehen: »Ob er sie heiraten solle, ob sie ihn wolle, ob sie nicht zu jung sei, ob er ihr gleich seine Hand anbiete, ob er prüfend warte, das schwirrte ihm so im Kopf umher, daß er nicht auf eignen Rat sich verlassen wollte, sondern die Vorsehung anzusprechen beschloß, indem er eine Münze für den Opferstock aus seinem Beutel nahm. Er hatte sich dies als Kind schon in zweifelhaften Fällen angewöhnt [...] Auch diesmal erhielt er dreimal das Kreuz hinter einander, somit blieb ihm kein Zweifel, daß er um Anna bald anhalten müsse«, KW 141), zeigt sich im Text deutlich an seiner Ignoranz gegenüber den handfesten Warnsignalen, die er beim Brunnenbau hartnäckig übergeht: Dagegen deutet er die Ankunft des Bergknappen als Zeichen: »Aber unsern Berthold klang ein andrer Gesang in den Ohren bei den Worten, dies sei ein Bergmann, er sah ihn an wie einen höhern Boten«, der das Brunnenprojekt retrospektiv legitimiert (KW 192). Wenn dieser »höhere Bote« jedoch von »Unortnunge« und »pöser Warnung« (KW 196) mit Blick auf einige Geschehnisse den Brunnenbau betreffend spricht, überredet Berthold ihn zur 335

faktischen Bedeutsamkeit 103 verkannt werden. 104 Erst retrospektiv erkennt Berthold im Scheitern seines Planes, Waiblingen zu einer reichstädtischen Verfassung zu verhelfen, daß diese »zu einer leeren Form wurde, weil sie nicht durch die Notwendigkeit entstanden war, eine allgemeine Kraft zu begrenzen. Diese allgemeine, belebende Kraft fehlte, die Verständigen schwiegen, die Toren und die Widerspenstigen waren überlaut«; »er fühlte, daß er die Stadt nicht gekannt, sie in seine Hoffnungen habe zwingen wollen, er konnte sich nur mit der guten Absicht bei dem schlechten Erfolge rechtfertigen.« ( K W 3 0 1 )

Während der Text zwischen offensichtlicher Bedeutsamkeit - besonders in den (Traum-)Episoden mit Barbarossa 10 ' - und scheinbar sinnloser

103

104

105

Fortsetzung der Arbeit. Die spezifische Flexibilität in der jeweilig »angenehmen« Deutung kommentiert der Text mit Blick auf die Seelenmessen, die Berthold, »so wenig er sonst darauf gehalten« (KW 198), für den Bergknappen lesen läßt: »so verschmähen nur wenige, was ihnen angenehm im Glauben ist, nur das Unbequeme veranlaßt den Zweifel und die Untersuchung.« (KW 199) In der Becherepisode etwa wird das verabredete Zeichen der Eheeinwilligung von Anna zweifelhaft: Berthold »sah seinen Becher abwechselnd erscheinen und verschwinden! [...] E r nahte sich jetzt schnell und sah, daß Anna mit der Mutter und Fingerling am Fenster stand, daß die Mutter den Becher neckend zurückzog, wenn jene beiden ihn hinaus gestellt hatten« (KW 148): Das sich gegenseitig neutralisierende >Ja< der Tochter und >Nein< der Mutter deutet bereits eine signifikante Grundkonstellation des Textes an, wobei die doppelte Bindung an Mutter und Tochter, die sich im spielerischen Veto der Mutter antizipierend abbildet, wiederum auf Bertholds verdoppeltes Leben verweist. Während sich Bertholds willkürlich erzwungene Zeichenexegese im übrigen nur in seltenen Fällen bewährt, behält die Volksweisheit, die besonders in Hildegard personifiziert scheint, in den meisten Inaugurationen und Vorbehalten (insbesondere gegenüber Faust) recht; im zweiten Buch wird dies unübersehbar, wenn der frisch aufgeworfene Maulwurfshügel (KW 305) wahrheitsgemäß den baldigen Tod eines Hausmitgliedes (nämlich Bertholds) ankündigt. Das Auftreten des Barbarossas, der Berthold im ersten Buch tatkräftig unterstützt, indem er ihm mit dem Hausschatz ein Lehen gewährt, sichert die Handlungen Bertholds in einem transzendenten und historisch legitimierten Rahmen ab; als der diese Legitimation zum Nachteil der Waiblinger (zunächst durch den Brunnenbau) überschreitet, macht der Traum der Hochzeitsnacht den mörderisch-gewaltsamen Bruch mit Barbarossa deutlich: Als dieser sein Lehen zurückfordert, kommt es zum geträumten Eklat: »Da dachte ich deiner [Anna], wie ich der Armut dich hingeben müßte und konnte meinen Zorn nicht mäßigen, so unbegreiflich ist der Mensch sich selbst im Traume, ich ergriff das Messer, welches ich damals beim Schatze gefunden und durchstach den Alten und der Alte war ich selbst, ich hatte mich selbst erstochen.« (KW 252) Diese Warnung, deren Genese zum einen - wie oben erläutert - psychologisch fundiert ist, könnte wiederum tatsächlich an das zweimalige Erscheinen des Barbarossa anknüpfen und wäre dann als eindeutig zu verstehende (auch wenn Anna sie deutend in ihr Gegenteil verkehren will: »Der Traum bedeutet immer sein Gegenteil, sagte sie«, K W 252), objektivierte Warnung von außen zu begreifen.

336

bzw. unter einem subjektiven Sinnvorbehalt falsch gedeuteten Kontingenz changiert,106 vollzieht sich mithilfe der subjektiven Lese- und Deutungsunfähigkeit des Protagonisten eine ästhetische Gratwanderung. Dem Text gelingt das paradoxe Unterfangen, die Unlesbarkeit der historischen Vorkommnisse zu postulieren und zu demonstrieren, gleichzeitig aber in der Sphäre der Dichtung die Wege des Irrens nachvollziehbar zu machen. Als ästhetische Sinneinheit inmitten der politischen Dispute - deren finale Gewichtung der Text ostentativ nicht vornimmt - sorgt die ausführliche psychologische Motivation der Handelnden dafür, daß der Text die psychologischen Befindlichkeiten der Einzelnen expliziert und für den Leser in sinnstiftenden Bezügen konfiguriert. Die partielle poetische Lesbarmachung der Welt, deren Widerstand gegen eine kohärente Sinnstiftung in den zahllosen antinomen bzw. ambivalenten Konstellationen eingefangen und in den Text integriert wird, leistet, was die illiteraten historischen Umstände an sich verbieten, indem sie die »Treue und Liebe« (KW 13) in den Ereignissen offenlegt. Auf diese Weise erreicht Arnim die Darstellung einer Welt, der er in der Einleitung eine sich dem Verstehen entziehende Äußerlichkeit zuspricht, in einem ästhetischen Medium, das sich für ihn laut Einleitung nur unter der expliziten Prämisse des Sinnes zu formieren vermag. Dabei vollzieht er - ohne sich grundsätzlich vom Sinn politischer Überlegungen und gemäßigter Steuerung loszusagen - eine Abkehr von der in seinen früheren Texten implizierten Vorstellung von einer littérature engagée: Arnims Utopie des Ästhetischen zieht sich von der dichterisch-prophetischen Anweisung auf Veränderung auf einen intuitiven Explikationsanspruch der »heimlichen Geschichte« zurück. Die inadäquat gegen die Zeit beanspruchte >Machbarkeit< führt im Text letztlich in eine politische und gesellschaftliche Sackgasse. In diesem Sinne wird dem sterbenden Berthold im Kloster Lorch eine Abwandlung der bei Crusius vermerkten Inschrift 107 präsentiert, die er auf seinem retrospektiven Erkenntnisstand mit einem zustimmenden »Amen« quittiert: Daß ein Geschlecht vergehe und das andre komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe und ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel 106

107

Retrospektiv erkennt Berthold seine Fehleinschätzungen; nichtsdestoweniger oder gerade deswegen überwiegt für ihn der Eindruck der Kontingenz: »So ists mit dem guten Namen der Menschen, sagte Berthold, vom Zufall geschenkt, von der Zeit bald ausgelöscht!« (KW 307, Hervorhebung von C. N . ) Crusius, Schwäbische Chronik, hier Bd. 2, S. 101: »Daß ein Geschlecht vergehe, und das andere komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe, und ein jegliches Ding seine Zeit habe, und alles unter dem Himmel seine Stunde habe [...]«. Vgl. die Fortsetzung der Inschrift in Arnim, Werke, Bd. 2, S. 73éf. 337

seine Stunde, dessen gedenket man nicht, wie es doch jedem geraten ist, denn die künftigen Zeiten werden alles zugleich in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit und was wir schaffen in der Gegenwart, denn nichts erringen wir, als die Zukunft.

( K W 308, Hervorhebung von C. N.)

Statt der Überheiligung des Zeitlichen wird eine zyklische Vorstellung von Geschichte propagiert, die eine Zukunft sicherstellt, ohne in ihr die teleologische Vollendung des Gegenwärtigen zu postulieren oder zu erwarten. Mithilfe dieses zentralen Zusatzes zu der Lorcher Inschrift wird die Erfahrung des Helden mit der Einleitung zu den Kronenwächtem kurzgeschlossen. Die Infragestellung der postulativen Gestaltbarkeit von Geschichte und Politik - als mise en abyme auf die Handlungsebene des Textes gespiegelt - findet sich dabei auch in der dystopischen Struktur des Textes wieder.

4.

Die invertierte Zeitutopie

4.1. Die utopische Struktur des Hausmärebens Das Hausmärchen

[...] ist der Mittelpunkt, was in dem Buche vorkommt, wird

immer in gewisser Beziehung darauf stehen. (Steig III, 402)

Das Hausmärchen, das in für Arnim typischer Weise verschiedene literarische (ζ. B. Schillers Kraniche des Ibykus), mythologische (ζ. B. die deutliche Anspielung auf Penelope, die das gewebte Leichentuch für Laertes abends wieder auftrennt) und konkrete historische Bezüge (das Zeitalter Attilas) zu einem heterogenen Ganzen konglomeriert, nimmt im Gesamtgefüge des Textes eine komplizierte und vieldeutige autoreferentielle Position ein, indem es zentrale Themenkreise der Kronenwächter aufgreift und ins Märchenhafte transzendiert. Die kunstvolle Verflechtung verschiedener Bereiche (von persönlicher ethischer Reife, der Funktion von Kunst, Politik und Geschichte) schafft überdies ein dichtes Netz von Bezügen, die im Zusammenspiel mit dem übrigen Text seine Implikationen potenzieren. Seine per se ambivalente Stellung erhält das Hausmärchen, da es - neben der autoreferentiellen textstrategischen Relevanz auch als zentrale Legitimation der fragwürdigen Wächtergemeinschaft auf der Handlungsebene fungiert und seine postulative, zeitutopische Struktur insofern hauptsächlich im Sinne der Kronenwächter annimmt, die aus ihr die Berechtigung zur terroristischen Umgestaltung der Gesellschaft ableiten. Neuhold weist darauf hin, daß neben der spezifisch teleologischen Konzeption des Hausmärchens die »gegenläufige Figur des pulsar-

338

tigen Wechsels erkennbar«108 wird, die das Finale des Märchens (den Machtantritt des Sohnes) als »eine weitere Zwischenetappe im ewigen Wechsel«109 erscheinen läßt. Das Hausmärchen endet in diesem Sinne nicht mit der märchenhaft perpetuierten Perspektive der lebenslang währenden Zufriedenheit, sondern wird für die Problematik der gegenwärtigen Zeit geöffnet: »Doch die Zeit will neue Taten / Und erzählt ist schon genug, / Gott im Himmel wird uns raten, / Schützt uns vor des Teufels Trug, / Wird uns seine Sänger senden / In des Schmerzens Einsamkeit, / Daß wir ahnden, wie zu enden, / Das Beginnen dieser Zeit.« (KW 229) In der Deutung der Kronenwächter ergibt sich der appellativ-teleologische Gehalt des Märchens paradoxer Weise gerade aus genau dieser Vorstellung vom potentiellen historischen Wechsel, der eine Restitution des alten Geschlechts als möglich erscheinen läßt. Wenn Margarete Elchlepp darauf verweist, daß es sich bei dem Hausmärchen um die Urform der textlichen Geschichtskonzeption handelt, wobei diese auf eine »gleichbleibende Struktur der Geschichte [verweist], die hinter ihren verschiedenen Erscheinungen verborgen ist«, 110 erfaßt sie zwar die autoreferentielle Dimension des Märchens, übersieht aber seine widersprüchliche Instrumentalisierung durch die Kronenwächter, deren postulative Inanspruchnahme erst im Textverlauf durch das (textstrategisch dominante) zyklische Geschichtsbild entkräftet wird. Durch die Adaption der Kronenwächter wird das Hausmärchen aus seiner überzeitlichen, mythologischen Position in eine historische Dimension gezwängt, in der es Handlungsanweisung und Legitimation für eine teleologisch verbrämte Zukunft darstellt. Damit enthält es zugleich jene eschatologische Komponente, die explizit im Gesang des ehemaligen Kronenwächters Martin über den Königssohn auf der Kronenburg thematisiert wurde: Er ist so sicher in Kräften, / So herrlich von Angesicht, / So glücklich in allen Geschäften, / Des Unsterns achtet er nicht; / Ihm scheint der Tag der Sage / Schon freudig durch die Nacht, / Die Nacht vorm jüngsten Tage / Wird schweigend zugebracht. ( K W 4 1 )

Die utopische Konzeption, die in der politischen Instrumentalisierung des Hausmärchens erkennbar wird, ist dynamisch strukturiert. Im Hausmärchen wird keine lokale Gegenweltlichkeit imaginiert, sondern eine historische Wandlung, die durch eine selbstbewußte Handhabung politischer Möglichkeiten initiiert werden soll. Als zeitutopisches Kernstück der 108 109 110

Neuhold, Kunsttheorie, S. 253. Neuhold, Kunsttheorie, S. 254. Elchlepp, Achim von Arnims Geschichtsdichtung Die Kronenwächter,

S. 257.

339

Kronenwächtervision erweist sich das Hausmärchen auch als politische Utopie, wenn es die Durchsetzung des (durch das Blut des gerechten Vaters und zudem durch die übernatürliche Verwandtschaft der Mutter legitimierten) Herrschaftsanspruches des »Königssohnes« beschreibt.111 Geppert erkennt deshalb im Hausmärchen folgerichtig eine »verläßliche[...] Sinn-Instanz«. 112 In ihm werden die Geschehnisse einsehbar und sinnhaft arrangiert und zu einem poetisch gerechten Ende geführt. Genau diese Sinndimension geht jedoch in der willkürlichen und gewaltsamen Applikation auf die fiktive Realität verloren. Wenn die Kronenwächter die zeitutopische Stoßrichtung des Hausmärchens als Umgestaltungslegitimation übernehmen und sie in ihren politischen Aktionen und Intrigen beanspruchen, kontaminieren und diskreditieren sie die originäre Intention des Märchens. Die finale Restituierung des alten Herrschergeschlechtes soll über zahlreiche destruktive und terroristische Operationen gewährleistet werden, in die der fiktive Leser durch Bertholds (funktionales, nicht inhaltliches) Sympathisieren mit dem Rappolt-Clan Einblick erhält. Die zentralen dynamischen Komponenten des Hausmärchens korrespondieren (als Strukturvorgabe mit ausgewechselten Vorzeichen) mit der individuellen Entwicklung Bertholds und seinen politischen Plänen. Seine unglückselige Liaison mit den Kronenwächtern entspricht dem appellativen Charakter des Hausmärchens, das abschließend auf die »Zeit« verweist, die »neue Taten« »will«. Damit wird zugleich Bertholds politisches Ziel taktisch an die Bestrebungen der Kronenwächter angekoppelt, mit denen er einen Teil des Weges gemeinsam zurückzulegen bereit ist, ohne darin eine Gefahr für die inhaltliche Eigenständigkeit seines politischen Konzeptes zu erahnen. Indirekt partizipiert er - trotz seiner zukunftsorientierten, modernen Zielkonzeption der städtischen Selbständigkeit - auf diese Weise an der rückwärtsgewandten Skrupellosigkeit und moralischen Fragwürdigkeit der Kronenwächter. Die inhaltlich diametral unterschiedlichen Pläne, die konservative Politikkonzeption der Kronenwächter und Bertholds liberal-freiheitliches Städteprojekt, konvergieren in dem Anspruch auf eine monopole Gestaltungslegitimität, die dem genuinen Fortgang der Geschichte jeweils entgegengesetzt ist: zum einen, indem Berthold die gegenwärtigen Möglichkeiten zu einem vorzeitigen Reifungsprozeß listig und persuasiv katalysieren will, zum anderen, indem die Kronenwächter 111

112

Bei der utopischen Struktur wird auch der Prozeß der inneren Einsicht relevant, deren ethische Dimension und Riickbezüge auf Kant Geppert ausführlich erörtert: In: Geppert, Kronenwächter, S. 6iff. Geppert, Kronenwächter, S. 6i. 340

das bereits historisch Abgeschlossene gewaltsam und intrigant zu verlängern versuchen. Das individuelle Vorhaben Bertholds scheitert im Rahmen des ersten Teils der Kronenwächter mit dem bezeichnenden Hinweis auf seine unerfüllbaren, aber unabdingbaren historischen Voraussetzungen. 1 ' 3 Auch die implizierte Zeitstruktur des Hausmärchens und seine Adaption durch die Kronenwächter führt im Verlauf des Textes zu einer Demontage der postulativen Geschichtsstruktur des Märchens, von der textstrategisch letztlich wiederum nur der zyklische Anspruch erhalten bleibt, »denn nichts erringen wir, als die Zukunft.« (KW 308) Sowohl Bertholds Vorhaben als auch die Intentionen der Kronenwächter werden insofern im Text mehrdeutig, die ergriffenen Mittel aber erscheinen textstrategisch eindeutig als inadäquat, wenn nicht gar (trotz vermeintlich reiner Absichten wie bei Berthold) als ethisch unvertretbar. Obwohl also Bertholds Anspruch im zeitgenössischen Kontext als (zu) modern qualifiziert wird, sind seine neuen, weitreichenden politisch-strategischen Ambitionen überhaupt nur durch die widernatürliche, künstliche Kontinuität seines Lebens möglich - dieses unheilvolle Uberdauern muß ebenfalls in Interferenz mit der Rolle und der Funktion der Kronenwächter im Text gesehen werden, die sich analog zu dieser medizinischen Lebens>Verlängerungsbestehenden sozialen Welt< im Zeichen eines neuen politischen Anspruchs entfaltet, der Bertholds originärer Persönlichkeit widerspricht. Diese destruktive Bewegung verhält sich gegenphasig zum zeitutopischen Entwicklungsprozeß des Anton-Fragments. Der optimistischen Konstruktion von Antons (allegorischer) Individuation opponiert das spezifische Scheitern Bertholds, die Entwicklungsdimension wird damit gegen den Helden gerichtet.

4.3. Stagnation der zeitutopischen Konzeption des Hausmärchens Wenn angesichts Bertholds Vita eine Umkehrung des zeitutopischen Schemas hin zur Katastrophe feststellbar ist, so läßt sich auch für die Pläne der Kronenwächter 119 - trotz ihres betonten Aktionismus - kein

118

»Das entscheidende Kriterium, das den Bildungsroman von anderen Formen des Entwicklungsromans abhebt, ist seine Tendenz z u m ausgleichenden Schluß: D e r Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität, der dem Helden zum existentiellen Problem wird, soll am E n d e überwunden werden. Indem ein solcher Ausgleich z u m Ziel der Geschichte wird, rückt der Desillusionsroman, der mit der Resignation, dem Untergang, der definitiven Enttäuschung des Helden endet, in eine entschiedene Gegenposition zur Bildungsgeschichte.« Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 2 7 1 .

"

9

So wie Berthold in einem umfassenden Kontext v o n bedeutungsvollen Korrespondenzen und Geschehnissen bereits mit einer fast zwangsläufigen Sinnunter-

343

dynamisches Fortschreiten erkennen. Stattdessen befinden sich die materiellen Bürgen gegenwärtiger Wirksamkeit und zukünftiger Bedeutsamkeit im Raum. Die Krone auf der Kronenburg als beständiger Referenzpunkt und als materielle Verdichtung der Zielkonzeption der

Kro-

nenwächter akzentuiert weniger die Zukunft als vielmehr eine räumliche Gleichzeitigkeit. Die sich unmittelbarer Darstellung (»sei es personal-szenisch, sei es im Erzählerbericht«) 120 entziehende Kronenburg als (in den Erzählungen) präsenter (Nicht-)Ort steht neben dem zeitutopischen Gehalt des märchens

Haus-

und gewinnt den Charakter einer räumlichen Gegenwelt, die

sich von der Gegenwart distanziert. Die zeitutopische Stoßrichtung des Hausmärchens

kommt im Verlauf des Textes nicht zum Tragen, sie stag-

niert im Bild der (jahres-)zeitlosen Kronenburg, deren »paradiesische«, 121 in einem umfassenden Wortsinn u-topische Konnotationen 122 allerdings

120 121

122

Stellung aufwächst (aber erst im zweiten Leben daraus einen Anspruch ableitet, der sich - begonnen mit der Aussetzung des Todes - nicht mehr mit dem Sinn Gottes (KW 13) decken sollte), so beziehen auch die Kronenwächter einen großen Teil ihrer Legitimation aus diesen vielschichtigen Symbolen, die ihre Ambiguität wiederum auf die Stellung und Funktion der Kronenwächter zurückprojizieren. Geppert, Kronenwächter, S. 57. Die elliptische Satzstruktur, mit der die Beschreibung begonnen wird, greift Antons Sprachlosigkeit angesichts der Schönheit der Kronenburg (»wer könnte sie euch beschreiben«, KW 284) performativ wieder auf: »Die beschneiten Wipfel hinter ihm wie Paradiesesmauern: Alpenrosen und Bergthimian blühten neben ihm, ein freudiger, wundervoller Teppich, wie er ihn oft in seiner Weberei ersonnen und doch nicht ganz erreicht hatte [...]« (KW 80); »da sangen die Vögel in ewigem, sichern Frieden und die Blumen schienen keinen Winter zu kennen, die Erde schuf sie in einer Fülle der Kraft, wie nirgend sonst« (KW 82). Ihre ästhetische Komponente ist dabei in den jeweiligen Berichten mehr oder weniger stark akzentuiert, bleibt aber für den Rezipienten der Erzählungen immer präsent, auch wenn sie für Anton sekundär erscheint: »Ich war in der Kronenburg, wer könnte sie euch beschreiben! Aber alle ihre Wunder erfreuten mich wenig« (KW 284); Berthold hört aus dritter Hand die ambivalente, aber ästhetisch anerkennende Beschreibung der Kronenburg, die seine Mutter ihm von seinem Vater übermittelt: Die Sonne »blendete seine Blicke, die über tausend Wunder, wie über Traumbilder ungläubig hinirrten! Die beschneiten Wipfel hinter ihm wie Paradiesesmauern [...] Uber dem Wasser schien er zu schweben und ohne Hoffnung an dem glatten Felsen niederzugleiten, der gerundet ihm die Gefahr versteckt hatte [...] und schon zwischen Himmel und Wasser schwebte [...] und in der Mitte dieses Wellenschaumes stand fast wie der Schatten eines Schlosses ein siebentürmiges, eckiges Schloß, das in seinen Türmen völlig durchsichtig und von Glasstücken erbaut schien, da jeder der Türme einen bunten Regenbogen auf die entfernte, schwarze Wasserfläche der Bucht und die schwarzen Felsen warf. Er hatte nie einen so gewaltsamen Anblick erlebt, die Sonne schien dienstbar dem Menschenwerke« (KW 81). 344

k o n s e q u e n t g e b r o c h e n w e r d e n , da sie sich in ihrer Bedeutungsanreicherung123

im a x i o l o g i s c h e n

unüberschaubaren

G e f ü g e des T e x t e s

nicht

eindeutig v e r o r t e n läßt. M i t ihrer m ä r c h e n h a f t e n E r s c h e i n u n g v e r b i n d e t sich M o r d , U n t e r d r ü c k u n g u n d T o d . A u c h die K r o n e ist nicht v o n dieser M e h r d e u t i g k e i t a u s g e n o m m e n , da sie z u m A n l a ß v o n Intrigen, B e t r u g und Totschlag wird.124 D i e ästhetisch entrückte E r h a b e n h e i t der K r o n e n b u r g w i r d zunächst d u r c h die B e s c h r e i b u n g e n der S t a m m b u r g H o h e n s t o c k ex n e g a t i v o bestätigt, die in ihrer v e r s c h m u t z t e n 12

Häßlichkeit

und ihrem

B a u « ' den R a h m e n f ü r eine u n k o n v e n t i o n e l l - f u n k t i o n a l e ,

»verwirrten 126

v o r allem

aber brutal-rustikale Geselligkeit ( K W 2 6 2 f f . ) 1 2 7 abgibt. D e r diametrale G e g e n s a t z z w i s c h e n K r o n e n b u r g u n d H o h e n s t o c k w i r d allerdings in

I2} 124

125

126

127

Neuhold, Kunsttheorie, S. 25 iff. Die Krone selbst wird - konträr zu der ästhetischen Perfektion der Kronenburg - als ein »schlechtefr], goldne[r] Reifen über einen eisernen Ring geschmiedet« (KW 82) beschrieben; in dieser ästhetischen Bedürftigkeit schwingt eine gralsähnliche Bedeutsamkeit mit, so daß die implizierte Würdigkeit verbunden mit der phänotypischen Minderwertigkeit die Krone ebenfalls als zweideutig erscheinen läßt; damit korrespondiert die ambivalente Rolle der Krone als Gegenstand der Begierde; sie ist für den Text handlungskonstitutiv, da der Tod von Bertholds Vater und der Raub Bertholds unmittelbar mit ihr zusammenhängt: Ihre problematische Involvierung in dramatisch-tragische Situationen wird bereits früh deutlich, wenn Bertholds Vater, der den Auftrag seines Vaters, »die lang bewahrte Krone der Hohenstaufen zu rauben und durch deren Uberlieferung seine Versöhnung mit dem Kaiser zu machen, [...] erfüllt« (KW 77) hat, beim Diebstahl mit der »scheinbaren« Wahl konfrontiert wird, »entweder die Krone, oder das Kind in die Wasserflut zu stürzen, wenn er nicht mit beiden niederfallen wollte. Daß er aber das Kind herabschleuderte, war nicht seine Wahl, wie er mir geschworen, sondern es geschah ehe er wählte.« (KW 83) Berthold und Anna konstatieren, »daß ihnen der Bau gar seltsam verwirrt scheine, die Gebäude lägen in allerlei spitzen Winkeln, selbst in Krümmungen an einander, wie Kinder in ihren Spielen zu bauen pflegen.« (KW 262) Grünewald stellt beim ersten Anblick Hohenstocks fest: »Und was ist das für ein Schwalbennest in der Mitte, sieht aus wie eine gebrochene Kinnlade mit schwarzen Zähnen, da möchte ich nicht begraben sein.« (KW 261) Der Ehrenhalt deckt mit apologetischer Intention den tieferen Sinn in den barbarischen Sitten der Burg auf: Vor den Ställen der Burg standen Landleute »in so schlechter Bekleidung, daß die Städter sie für Bettler hielten. Nein, sagte der Ehrenhalt, das sind in ihrer Art sehr reiche Leute, aber sie gehen gern bequem in ihren Kleidern und mögen sich ihr gutes Zeug nicht verderben« (KW 262); in einem analogen Sinne ist die Schönheit und Regelmäßigkeit des Gesamtbaus Hohenstock seiner Funktionalität aufgeopfert: »Das ganze Schloß sei von geheimen Gängen durchzogen, diesen sei alle Schönheit und Regelmäßigkeit aufgeopfert, das habe er endlich durch seine Kenntnis vom Bauwesen herausgebracht.« (KW 267) Vgl. dazu auch Geppert, Kronenwächter, S. y^f. 345

mehrfacher Hinsicht aufgeweicht: Z u m einen ist die Makellosigkeit der Kronenburg

doppeldeutig

und

erhält

eine

omnipotent-diktatorische

Konnotation, wenn Bertholds Vater ihren »gewaltsamen Anblick erlebt, die Sonne schien dienstbar dem Menschenwerke« ( K W 8 1 ) ; zum anderen scheint der kunstvolle O r t für den jeweils darüber Berichtenden keineswegs eine integrative Absorptionskraft zu entfalten. Ihre unbestrittene Schönheit tritt im Vergleich mit ihren renitenten Bewohnern, den »grausamen Kronenwächter«

(so Anton, K W 287), in den

Hintergrund. 1 2 8

Stattdessen fällt auf, daß - gerade für Berthold - eine spezifische A n z i e hungskraft von Hohenstock ausgeht. N a c h der ausführlichen Schilderung der rauhen Sitten überrascht die plötzliche Affinität des schöngeistigen und feinsinnigen Bertholds zu dem alten Stammsitz, an dessen Fertigstellung - so wird die ambivalente, schäbig-bedeutungsvolle Konzeption und Umsetzung des Baus mythologisch konsequent fundiert - niemand geringerer als der Teufel beteiligt gewesen sein soll: Seht, fuhr der Ehrenhalt mit Behagen fort, so etwas habt ihr weder in Weiblingen, noch in Augsburg gesehen [...] Aber das denkt euch einmal, was bei dem wildesten Gewässer, beim dichtesten Walde, bei dem höchsten Berggipfel nicht gedacht werden kann, so lange die Erde steht, ging nie ein Menschenfuß über diese Fläche, als nur auf dem einzigen Wege, auf dem Damme, den der Teufel erbauen half, aber freilich zur Mitgabe Zank und Streit in dieses Geschlecht pflanzte, indem solche wunderbare Liebe für diesen wunderbarsten Fleck der Erde entstand, daß jeder ihn allein und einzig zu besitzen trachtete. - Ja, es ist seltsam, sprach Berthold, nun ich auf längere Zeit von dem wunderbaren Schlosse Abschied nehme, quält es mich recht innig, daß ich nicht zum ausschließlichen Besitz desselben kommen kann, ich möchte dem Rappolt seinen Anteil mit meinem Hause abtauschen, geht das wohl? (KW272Í.) A u c h A n t o n wehrt Annas aggressives Verdikt 1 2 9 über Hohenstock mit Bestimmtheit

ab:

»Da

erlebte

ich

frohe

Tage,

antwortete

Anton«

( K W 283). Das schmutzige Gegenstück zur winterlosen, ganzjährig blühenden Kronenburg rangiert offensichtlich in seiner aufdringlichen N ä h e zu natürlichen Prozessen und zum Jahreszeitenzyklus höher in der Wert-

128

129

N u r Grünewald hat eine neutrale, tendenziell positiv eingefärbte Erinnerung an die Kronenburg, die aber von seinem Gesprächspartner Anton warnend relativiert wird: »Wenn ich so ein Glas zu viel getrunken habe, sagte er [Grünewald] endlich, da kommt es mir immer vor, als ob ich ein Kaisersohn und einst in einem gläsernen Schlosse bei einem Löwen gewohnt habe, doch will mir das kein Mensch glauben. - Ich glaube es euch wohl, sagte Anton, aber seid froh, daß ihr aus dem Neste fortgekommen seid [...] das Schloß hätte in Stücken gehen und ihr drein treten können.« (KW i}6i.) Anna resümiert ihre Ansicht über Hohenstock folgendermaßen: »Gott sei jedem gnädig, der da zu hausen gezwungen ist.« (KW 283) 34 6

Schätzung der Hohenstaufen als die märchenhaft-zeitlos schöne Flutburg. So konstatiert der Ehrenhalt über das Leben auf Hohenstock: »Das Jahr ist uns eine Tat, die uns vom Beginnen bis zum Schluß unter Arbeit und Festen an sich fesselt, als gehörten wir notwendig zur Welt, ja wir fühlen uns Mitschöpfer und Mitgeschaffene zugleich.« (KW 273) Berthold gesteht in diesem Sinne ein, »so seltsam dies Völkchen sei, so stehe doch jeder fest auf seinen Füßen und wisse seine Bahn« (KW 267). Diese erdverbundene Weltsicht steht in ihrer Geschichts- und Gestaltungsferne dem überlegenen Weltzurichtungsanspruch der Kronenwächter positiv entgegen, ohne in ihrer überzogenen, buchstäblich schmutzigen Bodenhaftung idealisiert zu werden. In dem ambivalenten Spannungsgefüge von Kronenburg und Hohenstock werden die idealen, raumutopischen Komponenten der Kronenburg in ihrer auf den ersten Blick positiven Gegenbildlichkeit dekonstruiert. Wenn im Rahmen des ersten Teiles der Kronenwächter die zeitutopische Umsetzung stagniert, so wird in ähnlicher Weise die Kronenburg als komplexes Raumsymbol und als utopisch überformter Ausgangs- und Fluchtpunkt des Kronenmythos sabotiert. Die Gegenwelt der Kronenburg ist keine Antizipation der Zielvorgabe und kann insofern die zeitutopische Konzeption nicht ersetzen oder repräsentieren. Die Intentionen der Kronenwächter werden, indem sie sich in einer fragwürdigen symbolischen Räumlichkeit verflüchtigen, für die Dauer des ersten Teils der Kronenwächter ostentativ eingefroren.

5. Die ästhetische Utopie und die Utopie des Ästhetischen Die Einleitung zu den Kronenwächtern macht deutlich, daß der politischen Utopie (d. h. der ästhetisch präsentierten politisch-gesellschaftlichen Utopie), »die ihr Zeitliches überheiligen möchte mit vollendeter, ewiger Bestimmung« (KW 13), eine spezifische ästhetische Utopie (und zugleich auch eine Utopie des Ästhetischen, die über die - in diesem Fall ästhetische - Wirksamkeit des Textes reflektiert) entgegengehalten werden soll, die weder über die »Geschicke der Erde« zu verfügen noch sie vollständig zu prognostizieren glaubt, sondern sich auf die Erkenntnis und Vermittlung von »Glaube und Liebe in ihnen« (KW 13) beschränkt. Im Romanverlauf richtet sich dieser in der Einleitung explizierte Vorwurf insbesondere gegen die Kronenwächter, insofern sie die (ohnehin auf fragwürdige Weise betriebene) Reinthronisierung des alten Herrschergeschlechts mit einem überzeitlichen (partiell - wie in Martins Lied - sogar eschatologisch implementierten) Anspruch verbrämen. Auch Bertholds Gestaltungsan347

spruch kollidiert mit der Prämisse der Einleitung, in der die Gestaltungshoheit der »irdischen Geschicke« in den Machtbereich Gottes verschoben wird und sich somit der selbstverständlichen Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Planbarkeit des Menschen entzieht; zugleich wird der dynastische Anspruch, auf den sich die politisch weitreichenden Pläne begründen, als eine über den Bluttausch hinaus fortgesetzte Perpetuierung und Uberheiligung des eigenen Lebens diskreditiert. Die beiden zentralen (im weitesten Sinne politischen) Utopien der Handlungsebene können also im Rahmen des vorliegenden Textes nicht reüssieren. Somit ergibt sich die Frage, wohin sich die utopische Stoßrichtung des Textes verlagert hat, wenn die verschiedenen Utopiemodelle des Textes in ihrem überzogenen Gestaltungsanspruch auf der Handlungsebene kritisiert und destruiert werden. Auf der Ebene der erzählten Figuren fällt es schwer, einen Erfolg versprechenden utopischen Gegenentwurf zu Bertholds dramatischem Niedergang auszumachen. Obwohl zahlreiche, von der Forschung umfassend interpretierte Künstlerfiguren 130 auftreten und ihre ästhetischen Uberzeugungen formulieren, kommt ihnen im ersten Teil der Kronenwächter keineswegs eine Berthold oder den Kronenwächtern vergleichbare, utopisch-kompensatorische Funktion zu. Unter den verschiedenartigen Konzeptionen von Kunst und Künstlern in den Bereichen Weberei (Bertholds Eltern), Architektur (der Baumeister und Berthold), Meistersang (Grünewald, David im Hausmärchen) und bildender Kunst (Sixt und Anton) ist auf der Handlungsebene nur Antons Rolle strukturell als zeitutopisches Gegenmodell 131 zu Bertholds Vita angelegt, was sich - neben ihrem gemeinsamen verwandtschaftlichen Hohenstaufenschicksal - zunächst in der chiastischen Situation des Bluttausches 132 und der - damit vermutlich korrelierenden - emotionalen Empfänglichkeit Annas gegenüber Anton begründet (die Anton strukturell und inhaltlich stärker exponiert als beispielsweise den Hohenstaufensproß Grünewald); zudem wird die mögliche Lebens- und Kunstutopie Antons sowohl in seinen Werken, als auch in seiner sympathisch infantil-naiven Persönlichkeitsstruktur vorbereitet. Dabei nähert sich der Sublimierungsprozeß innerhalb seines künst130 131

132

Vgl. dazu exemplarisch Neuhold, Kunsttheorie, S. 221-244. »Im ersten und zweiten Buch geht es um fertige Kunstwerke, deren Funktion es in erster Linie ist, auf den Betrachter zu wirken [...]. Im dritten Buch rückt mit Anton der Prozeß der künstlerischen Gestaltung in den Mittelpunkt.« Burwick, Dichtung und Malerei, S. 329. Genau dieser Bluttausch diskreditiert als künstliche Lebensverlängerung wiederum Antons weiteren Weg, der in einem (am Textende lediglich insinuierten) unnatürlichen Tod ein adäquates Ende nehmen würde. 348

lerischen Schaffens offensichtlich den auktorial formulierten ästhetischen Postulaten an. Der Abstand zwischen dem ersten Giebelbild, das er nach der schlafenden Anna gestaltet, indem er nur das »Schöne« an ihr malt, das Häßliche aber wegläßt (KW 245), bis hin zur letzten Bildversion umfaßt einen Quantensprung der künstlerischen Reifung: »Anton hatte lange gebetet, daß eine heilige Mutter mit dem Kinde seiner Seele sich darstelle, die vollkommner und reiner das Wesen derselben zeige, als jene [Anna], die er am Hausgiebel gemalt hatte. Aber immer deutlicher schwebte ihm dieselbe Gestalt vor.« (KW 315) In Gedanken beginnt er das »deutlichere« Bild zu malen, das ihm konzeptuell vorschwebt und stellt schließlich fest, »es sei dasselbe und doch ganz anders, wie jenes, das er auf den Giebel gemalt habe. Es war so viel fester, reiner, erdenfreier, als jenes, daß ein gemeines Auge den Ursprung aus jenem übersehen hätte, die Ähnlichkeit war nur noch ihm kenntlich.« (KW 316) Das sublimierte »Abbild«, das in einer beispielhaften Synthese Anna und Maria darstellt und dabei Himmlisches und Irdisches in einer Person verschmilzt, korrespondiert mit der zentralen kunsttheoretischen Forderung der Kronenwächter nach einer Amalgamierung von »Alltägliche[m] und Sonntägliche[m]« (KW 86). Trotz dieser - erkennbar nach Mustern des AntonFragments - strukturierten zeitutopischen Entwicklung bleibt der Anknüpfungspunkt für eine Fortsetzung im Sinne einer zeitutopischen Vollendung vage, weil der Tod Antons am Ende des ersten Teils weder sicher festgestellt, noch negiert wird. Bertholds enge Beziehung zur Kunst, die in der harmonischen Renovierung des Barbarossa-Hauses den Höhepunkt einer restaurativen Kennerschaft erreicht, sollte dagegen nicht im Sinne einer kreativen Eigenständigkeit mißgedeutet werden.' 33 Sein einziger selbständig-visionärer Entwurf - nämlich die Verbindung der beiden Häuser durch den Brunnen - der von der historischen Vorgabe abweicht, bildet den irreversiblen Ausgangspunkt seines Scheiterns. Bertholds tragisches Ende in der Gruft seiner Ahnen macht deutlich, daß ihm angesichts der »traurigsten [...] Weltgeschicke« kein »mächtigeres Gegenstück von [...] Freude [...] verliehen ist« (KW 13) und daß ihn in der Schwäche des Geistes »nichts zu halten vermag« (KW 13). Seine plötzliche Affinität zum Kampf ist fraglos als kompensatorisches Bedürfnis aus der Phase der kränklichen Tatenlosigkeit abzuleiten. Es tritt jedoch zusammen mit den politischen Ansprüchen und Konzeptionen - im Ver133

Burwick empfindet diesen handwerklich-mechanischen Aspekt von Bertholds Projekten als latente Diskreditierung seines Schaffens; zuzustimmen ist ihr vor allem in der ausführlichen Explikation, daß es sich bei Berthold eben nicht um eine Künstlerfigur handle. Burwick, Dichtung und Malerei, S. 314ff. 349

lauf des Textes immer mehr in den Vordergrund und drängt den vorangegangenen Gedankenreichtum (KW 126) zurück. Sein Niedergang, der sich schließlich unausweichlich und ohne Rückzugsmöglichkeit präsentiert, ist eben nur im Kontext seines politisch-gesellschaftlichen Neugestaltungsimpetus, schwerlich jedoch im Horizont eines möglichen, die desolaten politischen und persönlichen Erfahrungen ausgleichenden Künstlertums zu verstehen. Für die spezifische ästhetische Utopie, die der Text formuliert, steht also weniger das konkrete Personal der Handlungsebene ein, das (wie im übrigen auch gerade Berthold) nur phasenweise zum Sprachrohr der textstrategischen Kunstauffassung wird, sondern die paratextlichen (in der Einleitung) bzw. auktorialen Reflexionen, die verschiedene Positionen der erzählten Figuren bestätigen und andere als zweifelhaft erscheinen lassen. Zu Beginn des zweiten Buches (KW 96-98) reformuliert der Erzähler seine Reflexionen innerhalb des Textes. Dabei verkörpert der »heilige Zweck« der in den Kirchen bewahrten, sakralen (bildenden) Kunst 1 3 4 das von Arnim eingeforderte »sonntägliche« Element in nuce. Die Inauguration einer neuen Kunst, die zwischen der Kunstferne der Reformierten und der ornamentalen Kunstbegeisterung der Jesuiten vermitteln wird, postuliert eine Anbindung an das Alte und zugleich dessen Überschreitung: Beides wird vor einer neuen Kunst verschwinden, Dämmerung

erwärmen;

deren Strahlen

uns aus der

vielleicht wird ungestört fortgearbeitet werden, wo

Kranach, Dürer und Raphael ihre Pinsel niederlegten, wo die edlen Bilder vor den toten Augen unter Staub und Kerzendampf verblichen, oder wo die blinde Wut sie herabriß. Ehe aber diese Zeit eintreten kann, muß Alltägliches und Sonntägliches, muß Haus und Kirche aus einem Stück gebildet sein, wie damals, als unser Dürer den heiligen Hieronimus mit seinem Löwen in sein eignes Wohnzimmer setzte, als Kranach den Melanchthon zur Taufe, den Luther zur Kreuzigung Christi führte. Das Himmlische Erde entrückt, sondern wohnte vertraulich

war damals noch nicht so weit der unter den Wahrhaften,

der

Künstler

brauchte sich nicht in eine andre Welt hinauf zu schrauben, er sah die Seinen im erhöhten Sinn an. (KW9éf., Hervorhebungen von C. N.)

A n dieser Stelle, die »einige der wichtigsten Punkte der Kunsttheorie Arnims auf engstem Raum« 1 3 ' konzentriert, wird die ästhetische Utopie -

134

In der Einleitung zum zweiten Buch fokussieren die Kronenwächter im besonderen die bildende Kunst, in deren Gegenständlichkeit eine sinnfällige Verschmelzung von Alltäglichem und Sonntäglichem gelingen kann; obwohl das Medium Dichtung in seiner sukzessiven Darstellung anderen Gesetzen unterliegt als die bildende Kunst, ergeben sich auffällige Korrespondenzen, was ihre idealtypische Ausprägung angeht. Vgl. dazu Neuhold, Kunsttheorie, S. 2i9ff. Vgl. dazu auch S. 2 1 8 - 2 2 1 ; S. 1 2 2 -

35°

als eine Synthese zwischen Alltag und Sonntag - an das in der Einleitung entworfene Konzept des Geistes angeschlossen.136 Denn »wäre dem Geist die Schule der Erde überflüssig, warum wäre er in ihr verkörpert, wäre aber das Geistige je ganz irdisch geworden, wer könnte ohne Verzweifelung von der Erde scheiden.« (KW 13) Einer Welt, in der sich der Geist »verkörpert« und dabei zwangsläufig »verdunkelt« (KW 13), entspricht diese Form der (Alltag und Sonntag, Irdisches und Himmlisches vermittelnden) Kunst im Sinne des in Dichtung und Geschichte explizierten Wahrheitsbegriffes, mit dem es die faktische Abbildung der »äußeren Geschicke« zu überschreiten gilt. Das Himmlische, das in der Vergangenheit noch nicht »so weit der Erde entrückt war« und das sich nun in eine andere Welt entzieht, markiert zugleich die Gegenwartskritik, die das »ungestörte« Anknüpfen an die Tradition problematisch (aber nicht unmöglich) macht (»vielleicht wird ungestört fortgearbeitet werden«, KW 96, Hervorhebung von C. N.); anders als in der klar positionierten Einleitung, die den krisenfesten Charakter der Kunst hervorhebt, wird hier auf die zeitgenössische, prekäre Notwendigkeit verwiesen, »sich [...] in eine andre Welt hinauf zu schrauben« (KW 97), eine Maßnahme, die frühere Künstler, da »das Himmlische [...] vertraulich unter den Wahrhaften« (KW97) wohnte, nicht nötig hatten. Die für die Gegenwart pejorative Gegenüberstellung von Damals und Jetzt' 37 richtet sich folglich gleichermaßen gegen eine entzauberte Welt (als Zeitkritik) und eine überspannte Kunst (als Kunstkritik), die den »sicheren Verkehr mit der Welt« aufgegeben hat, indem sie sich gänzlich in eine andere »hinaufgeschraubt« hat. Indem die Kronenwächter - als »Dichtung« - vor der dynamischen Folie der »Geschichte« die Heimlichkeit der Welt (die erst die Dichtung vollendet zu vermitteln versteht) darstellen und damit den geschichtlichen Rahmen füllen,'38 müssen sie insofern als Versuch verstanden werden, die Verschmelzung des Alltäglichen und Sonntäglichen zu leisten, als im Medium der Geschichte »einzelne, erleuchtete Betrachtungen« zu gewährleisten sind, in der an »das vergessene Wirken der Geister, die der Erde einst menschlich angehörten« (KW 13), erinnert wird. Die spezifi-

1 2 7 : E r verweist hierbei auf die »absichtslose enge F ü g u n g von Transzendenz und Immanenz, Gehalt und F o r m « . Ebd., S. 2 1 9 . 136

A u s dieser Analogie zwischen Dichtung und bildender Kunst läßt sich auch der selbstexplikative A n s p r u c h dieser Reflexionen zu Beginn des zweiten Buches ableiten.

137

Z u den verschiedenen Kritikpunkten vgl. N e u h o l d , Kunsttheorie, S. 2 1 8 .

138

V g l . dazu das Kapitel: Verfügbarkeit und Lesbarkeit der historischen Welt.

351

sehe ästhetische Utopie wird nicht primär auf der Handlungsebene durch den plot eingelöst, etwa durch das Schicksal einer exponierten Künstlerfigur (wie es bei Anton antizipatorisch anklingt), sondern wird auf der Ebene des abstrakten Autors, durch die spezifische Verknüpfung des discours,119 etabliert und erfüllt. Der Text ist damit selbst als autoreferentielle Annäherung bzw. als Beleg für die beschriebene und eingeforderte Utopie des Ästhetischen zu lesen, die in der Schaffens- und Leseanweisung der Einleitung gefordert wird. Das Dichten wird auf diese Weise zu einem Sehen höherer Art, das die Fakten der historischen Welt zu einer höheren Wahrheit umbildet und gleichzeitig die menschlichen Anteile in den Weltgeschicken benennt und expliziert. Ähnlich wie in Dichtung und Geschichte weist Arnim in der Einleitung zum zweiten Buch auf den schnellen Wandel der »Gewohnheiten« und des »Schmuck[s] des täglichen Lebens« (KW 96) hin, die eine Vergegenwärtigung des vergangenen »häuslichen Lebens« erschwert. Dieser mentalitätsgeschichtliche Alltagsgedanke korrespondiert mit der unterstellten »Heimlichkeit der Welt« der Einleitung, »die mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust, als alles, was in der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu nahe, als sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahndungsreiche Bilder« (KW 13). Die Utopie des Ästhetischen beansprucht in ihrer neuen Konzentration auf ein jeweils individuelles Problem-Management nur noch eine sehr reduzierte politische Wirkungsmächtigkeit; indem sie die Bedeutung der Kunst für das Verständnis des Alltags und der historischen Welt exponiert, wird sie im Rahmen einer nur noch partiell lesbaren und steuerbaren Welt selbstreflexiv. Eine textlich vorgedachte und exemplarisch inszenierte gesellschaftliche Umstrukturierung gerät geradezu mit der utopischen Intention des Textes in Widerspruch. Stattdessen beansprucht die Utopie des Ästhetischen eine adäquate Wirkung der Dichtung, wenn diese ihren selbstetablierten Anforderungen gerecht wurde. Die textimmanente Umsetzung der textlichen Utopie zielt damit in Bohrers Sinne auf den subjektiven Rezeptions- und Aktualisationsprozeß im Leser. 139

Zugleich finden sich auf der Handlungsebene Kunstwerke aus verschiedenen Bereichen - allen voran das Hausmärchen als märchenhaftes Konglomerat aus historischen Versatzstücken, der Hohenstaufenpalast mit seiner traditionsbewußten wirtschaftlichen Ingebrauchnahme und das Giebelbild Antons in seiner Uberlagerung von Heiligem und Profanem - , die jene Postulate umsetzen und damit als auf die Ebene der erzählten Figuren projizierte Belegfälle jener »neuen Kunst« gelten dürfen. 352

6. Der Krieg im Bedeutungsnetz der Texte und der Wandel der ästhetisch vermittelten Utopien und der Utopien des Ästhetischen: V o m Kriegsappell zum Krieg als Symbol innerhalb der Handlung

Nicht nur die Zeitstruktur der ästhetisch vermittelten Utopien des Wintergartens

und des Anton-Fragments bzw. der Kronenwächter

ist also

einer Wandlung unterworfen, sondern gerade auch die jeweilige Utopie des Ästhetischen. Ausgehend von der zentralen Verortung der Kultur im gesellschaftlich-politischen Gefüge wird im Wunderhorn-Aufsatz

eine

politische Wirksamkeit der Kunst theoretisch eingefordert, die im Wintergarten

ihre ästhetische Umsetzung findet. Analog dazu agiert der

Künstler Anton im Anton-Fragment als präsumtiver Welterlöser; in den Kronenwächtern

dagegen formuliert die Einleitung eine Utopie des Äs-

thetischen, die sich von der grundsätzlichen Planbarkeit und Gestaltbarkeit der Geschichte freimacht und sich auf die angemessene, vollendende Deutung von Geschichte konzentriert. Der Krieg, der im

Wintergarten

noch eine der zentralen und konkreten Handlungsanweisungen darstellt, bildet sich dabei im Anton-Fragment zu einer wichtigen symbolischen Instanz um. Der Abstand zwischen dem permanent in Kampf und Krieg involvierten Anton auf der einen Seite und Berthold auf der anderen Seite schließlich, dessen erster Kriegszug de facto kampflos bleibt, bildet eine Stagnation ab, in der >Krieg< bzw. der für Berthold ausgesetzte Krieg - als katalytisches Movens der Veränderung - funktional als bildliche Explikation des utopischen bzw. ex negativo des dystopischen, eingefrorenen Prozesses eingesetzt wird. Der Krieg funktioniert in der Kontrastierung von Anton-Fragment und Kronenwächtern

somit (auch) als Indikator für das Maß an Gestalt-

barkeit, das dem Menschen in der historischen Welt zugeschrieben wird, und hilft auf diese Weise, die utopischen Konstruktionen und zugleich ihre Funktion als Utopie des Ästhetischen in ihren historisch zu explizierenden Modifikationen zu erfassen. Während die Utopie des Ästhetischen im Wintergarten

eine gesellschaftlich-kulturelle und nicht zuletzt politi-

sche Erneuerung intendiert und das Anton-Fragment in diesem Sinne seinen divinatorischen Vor-Bildcharakter annimmt, scheint die Kunst in den Kronenwächtern

nicht mehr als Mittel, sondern als Zweck eingesetzt.

Die sich verändernde Einschätzung von der Machbarkeit von Geschichte (im Abgleich mit denn Möglichkeiten der Zeit) bedingt die Umgewichtung der Utopie des Ästhetischen. 353

6.1.

Kampf und Krieg im Anton-Fragment und in den Kronenwächtern

Der »Krieg« ist im Anton-Fragment nur noch zersplittert in zahllosen Kampfsituationen greifbar, die auch abseits (fiktiv) historisch motivierter Kriegssequenzen Raum gewinnen. Die optimistisch-zeitutopische Dimension der Anton-Figur korreliert mit dem düsteren Umbruchszeitalter, das die - hauptsächlich metaphorische - Kulisse und den (gestaltungsbedürftigen) Horizont für die implizierten Bildungs- und Entwicklungsprozesse darstellt. Von dem Bildersturm (KW 34$f.) und der damit verbundenen Verteidigung seines Hauses (KW 346), der Verdingung als Landsknecht (nachdem er sich schon auf einigen Fehden »den Ruf eines sichern unerschrockenen Mannes erwarb«, KW 341), als der er allerdings an keinem Kriegszug teilnimmt, über das Pforzheimer Desaster (KW 362365), in dem er - nachdem er unverschuldet der Anlaß der städtischen Katastrophe wurde - wie selbstverständlich eine militärische Führungsposition übernimmt, seine entbehrungsreiche Wanderung durch eine vom Krieg zerrüttete Region (KW427-448), dem Duell mit Junker Blaubart (KW492ff.), dem wiederum von Anton angeführten Kampf um Augsburg (KW 504-506) bis hin zu den - um Katharina entfachten - kämpferischen Wirren zwischen Pforzheimern und Waiblingern wird die Handlung vornehmlich über Gewalt und Intrigen vorangetrieben. In den einzelnen Sequenzen überwiegt der phänomenologische Zugang zu den destruktiven Facetten des Krieges die jeweiligen (fehlenden oder offenkundigen) ideologischen Justifikationen. Da die verschiedenen Kampfsituationen (die - ausgelöst von Intrigen, Mordbrennerei etc. - bestenfalls als Defensive gerechtfertigt werden) nicht als >Weltgericht< inszeniert werden, ist das ideologische Moment des Kampfes primär auf der Ebene des Individuums zu suchen. Der Kampf fungiert in diesem Sinne als (unterschiedlich gemeisterte) Bewährungssituation, die antizipatorisch auf den geläuterten und perfektionierten ZielCharakter Antons verweist. Die permanenten, in der kämpferischen Auseinandersetzung kulminierenden Krisensituationen symbolisieren dabei zugleich eine in die Außenwelt projizierte charakterliche Umbruchssituation. Das große Maß an Wandelbarkeit, so problematisch es sich in der Umwelt manifestieren mag, steht grundlegend für die zeitutopische Struktur des Fragments (und des Nachtrags) ein. Anders als in den Kronenwächtern wird dem in der Geschichte agierenden Subjekt - ganz im Sinne des Wunderhorn-Aufsatzes und des Wintergartens - ein menschlicher Aktionsradius vorgegeben, in dessen Rah354

menI4° die Welt durch den Menschen veränderbar erscheint. Bereits im Fragment wird deutlich, daß die Kronenwächter diese Möglichkeit ohne Reflexion über die wahrhaften Bedürfnisse der Zeit »töricht« (KW 597) handhaben, während Anton sich der Auflösung der zeitgenössischen Problemkonstellation kontinuierlich annähert. Die Kampf- und Kriegssituationen scheinen insofern - neben ihren phänomenologisch aufgezeigten verwerflichen Folgen von Hunger, Tod und Leiden - auf der symbolischen Ebene immer auch als Wendepunkt zu funktionieren, an dem das Leiden über eine zeitutopisch inszenierte Einsicht, Erkenntnis und Umsetzungsfähigkeit in eine umfassende Erneuerung umgeleitet werden kann. Die (überwiegend) statische Weiblinger Atmosphäre in den Kronenwächtern unterscheidet sich zunächst von dieser (zumeist kämpferisch ausgestalteten) weitgehenden Umbruchsimplikation des Anton-Fragments. Erst gegen Ende des zweiten Buches »schrie die Kriegstrompete, daß alles für einige Zeit verstummen mußte« (KW 297). Dabei läuft der Tatendurst Bertholds ins Leere. 141 Der Kampfeinsatz auf Seiten des Schwäbischen Bundes scheitert am Unmut der Bürger über ihren eidbrüchigen Bürgermeister. Das humoristische Vorspiel zum ersten (von Berthold im Sinne des Schwäbischen Bundes fingierten Ablenkungs-) Kriegszug antizipiert symbolisch die erzwungene Tatenlosigkeit, aus der sich Berthold im folgenden nicht lösen kann: Anton, der sich auf der Flucht vor dem Ehrenhalt mit einer Kugel im Mund zu maskieren versucht, verliert seine Tarnung in der Suppe: Ein Bürger »fing an zu essen und biß sich fast einen Zahn an der Kugel aus, die er für einen Kloß gehalten, es war die einzige Kugel, die bei diesem Zuge Schaden tat.« (KW 298, Hervorhebung von C. N . )

Nachdem sich die Bürger ostentativ gegen seine weitreichenden Pläne gewendet haben, »saß er [Berthold] fast gedankenlos müßig; das Geschehene läßt sich nur durch Tat, nicht durch Nachdenken vernichten« (KW 301); er »konnte nicht einschlafen und sich zu nichts entschließen« (KW30}). Der Versuch, die persönliche Lethargie durch verstärkten Aktionismus zu kompensieren, schlägt fehl: Bald war er bei Frundsberg durch den Ehrenhalt eingeführt, doch gab wenig Hoffnung

jener

zu Taten, den Herzog hatten die Schweizer verlassen und dar-

um entließ er auch seine Landeskinder zur Verteidigung der Städte. Diese fielen 140

141

Der Aktionsradius ist auch hier - wie im Wintergarten - nicht ins Unendliche erweiterbar, sondern erscheint durch die gottgegebenen Umstände determiniert, legitimiert und in diesem Falle durch die Sage begrenzt. »Berthold freute sich der kühnen Taten, die seiner warteten« (KW 3oof.).

355

aber ohne bedeutenden Widerstand. [...] Der Zug ging nun von einem Städtlein zum andern, gewöhnlich geschahen kaum einige Schüsse, dann wurde

unter-

handelt. ( K W 305, Hervorhebung von C . N . )

Bertholds Wunsch, sich im kriegerischen Kontext zu bewähren, scheitert in signifikanter Weise nicht in der Schlacht, sondern an einem banalen Mangel an Gelegenheit, indem sich alle angestrebten Möglichkeiten zum Kampf und zu einer umfassenden Umgestaltung vor ihm verschließen. Trotz grundsätzlicher Kampftauglichkeit - die in einem furiosen Turniersieg (also in einem virtuellen Rahmen) erprobt und demonstriert wurde und Kampfeswillen findet er als geschichtlicher Akteur keine Wirkensund Schaffenssphäre innerhalb der historisch-politischen Welt. In einer unübersehbaren Symbolik war bereits zu Beginn des zweiten Buches eine Theaterrequisite unter der Last seiner Imaginationen und Wünsche zusammengebrochen. Der Probe-Ritt auf dem trojanischen Pferd, von dem Berthold schon damals konstatiert, daß er »dieses Vorfalls [...] oft noch gedenken« werde (KW 12$), antizipiert in diesem Sinne das realitätsferne Scheitern im Kontrast zum Erhofften und Gewünschten. Auf der Suche nach der historischen Bewährungssituation »freut«142 ihn der gefährliche Spionageauftrag von Frundsberg. Allerdings bleibt auch hier die kämpferische Konfrontation aus. Bertholds Tod in der Gruft seiner Ahnen stellt lediglich die telepathische Folge von Antons schwerer (möglicherweise tödlicher) Verletzung dar und dokumentiert auf diese Weise noch im persönlichen Finale seine Determination und Handlungsunfähigkeit. Der ausgesetzte Krieg in den Kronenwächtern indiziert - indem er alle funktionalen und phänomenologischen Zuschreibungen transzendiert eine veränderungsunfähige Zeit. Obwohl er in der Realität zwischen 1806 und 1813 weder den erhofften politischen und noch weniger den kulturellen Neubeginn in Arnims Sinne initiieren konnte,143 wird der Krieg in den 142

143

»Der Auftrag war gefährlich [...], doch freute es ihn, seinen Willen bewähren zu können.« ( K W 306) Arnims funktional legitimierender Blick ist nach dem Ende der Kriegsphase wiederum konkret auf deren Resultate verwiesen, die nun erst absehbar werden. So stellen sich angesichts der nach wie vor defizitären Gesamtsituation auch in bezug auf Sinn und Wert des Krieges Zweifel ein, zumal er (an Savigny am 20 Juni 1814) bitter bilanziert, daß der Krieg nichts »Wohltätiges« gewährleisten könne »als die Abwesenheit des Feindes«: »Ich habe es allen Enthusiasten für die Folgen dieses Krieges voraus gesagt, daß sie sich in Hinsicht des Eintretens dieser Folgen sehr verrechneten« (Härtl, 85). In seinen Briefen an Wilhelm Grimm präzisiert er die ungewollten Folgen des Krieges: »Erst jetzt ist es mir klar, wie Deutschland nach dem dreißigjährigen Kriege so durchaus dumm werden konnte, ungeachtet während desselben noch viele Zeichen des Geistes gesehen wurden [...] vielmehr ist es wahrscheinlich, daß die Welt mit

356

Kronenwächtern auf diese Weise ex negativo zugleich zum Zeichen für die zeitgenössische >Kriegsfunktional< lesbarer Krieg bedarf einer Zeit, die für den Menschen umsetzbare Eingriffsmöglichkeiten bereitstellt. Der ausgesetzte Krieg in den Kronenwächtern verweist - aus der Perspektive der Restauration - zugleich auf diese (unerfüllte) Potentialität der Kriegszeit und deren Eliminierung in der Gegenwart, wobei die - zurück in die Kriegszeit projizierte - heteronome Struktur der kontemporären Wirklichkeit wiederum durch eine aggressive Kriegssymbolik beschrieben wird.

7. Seltsames Begegnen und Wiedersehen und der Tolle Invalide im Kontext der

Kronenwächter

Analog zu dieser phänotypisch-retrospektiv motivierten Kriegssymbolik fällt in den Kronenwächtern, in der Einquartierung und auch in den parallel dazu fertiggestellten Erzählungen Seltsames Begegnen und Wiedersehen und Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau auf, daß der Krieg anders als im Wintergarten kein innerweltlich teleologisches Betätigungsfeld 144 mehr bietet (allenfalls noch im Sinne der Bewährung), sondern vielmehr als Schauplatz der größten Kontingenz und Heteronomie fungiert. In den drei Erzählungen wird diese Unsteuerbarkeit und Unlesbar-

144

der Masse von Leuten überschwemmt, die ihr Früheres vergessen und nichts bedeutend Neues sich erworben haben, jeder Willkür die Hand bieten wird.« (Wilhelm Grimm, 11. Februar 1814, Steig 111,294) Auch der Oberst in der Einquartierung kann auf der Sinnsuche das Soldatenschicksal nur als experimentelle Alternative nach dem Scheitern aller persönlichen Ambitionen begreifen. 357

keit der phänomenologischen kriegerischen Umwelt von einer christlichen Theologie begleitet bzw. aufgefangen (wobei - das zeigt der Tolle Invalide - sogar trotz Happyends eine Fremdbestimmung erkennbar werden kann). Sie dokumentieren auf diese Weise die nach 1814 ausgebildete resignative Überzeugung, daß in der zeitgenössischen Gegenwart die Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert werden. Die Kriege der jüngeren Vergangenheit bleiben in diesem Sinne primär als dramatische Kulisse präsent. Anders als in Seltsames Begegnen und der Einquartierung wird am Ende des Tollen Invaliden die »Sünde« von dem Paar »geschieden« (TI 54). Da Rosalie in unbedingter Liebe und uneingeschränktem Gottvertrauen handelt, wird ihrem Mann schließlich die göttlich verfügte Erlösung zu Teil: »Die Sünde ist uns geschieden, sagte Francoeur, nie will ich wieder auf den Frieden schelten, der Friede tut mir so gut.« (TI 54) Mit Gottes Hilfe kann der Krieg - als Ursache in der komplizierten Entfremdungsgeschichte - dem Protagonisten metaphorisch ausgetrieben und in einen Zustand des persönlichen »Friedens« umgeleitet werden: »Rosaliens Treue und Ergebenheit in Gott« (TI 55) katalysiert - verbunden mit ihrer Liebe zu Francoeur - den Prozeß der Befriedung, indem sie sich den undurchschaubaren, irdischen Prozessen fügt. Der auktoriale Erzähler resümiert und expliziert den Prozeß folgendermaßen: »Gnade löst den Fluch der Sünde, / Liebe treibt den Teufel aus.« (TI 55) Die Gesundung Francoeurs wird allerdings für die Protagonisten nicht zwangsläufig als wundersamer Eingriff Gottes lesbar, sondern könnte in strikt diesseitiger Rationalität auch durch den plötzlichen (und zufällig herbeigeführten) Splitteraustritt erklärt werden. Erst die Reaktion von Rosalies Mutter macht den positiven Ausgang der Krisis als Zeichen der Gnade erkennbar: W a s aber Rosalie noch inniger berührte [als die Vermögensüberschreibung des Kommandanten], w a r ein Bericht, der erst nach Jahren aus Prag einlief, in w e l chem ein Freund der Mutter anzeigte, daß diese wohl ein Jahr, unter verzehrenden Schmerzen, den Fluch bereut habe, den sie über ihre Tochter ausgestoßen, und, bei dem sehnlichen W u n s c h e nach Erlösung des Leibes und der Seele, sich und der W e l t z u m Uberdruß bis zu dem Tage gelebt habe, der Rosaliens Treue und Ergebenheit in G o t t gekrönt, an dem T a g e sei sie, durch einen Strahl aus ihrem Innern beruhigt, im gläubigen Bekenntnis des Erlösers selig entschla-

fen.Cn, 5) Der vollkommene Ausgleich, der im Tollen Invaliden das Schlußbild bestimmt, gründet somit in Gott. Wenn hier - anders als in den schicksalhaften, komplementären Fügungen in der Einquartierung und in Seltsa-

358

mes Begegnen

- die problematische Ausgangslage kein gutes Ende zu

implizieren scheint, erfolgt unter der Ägide Gottes eine Inversion der Vorbedingungen als unwahrscheinliche positive Lösung bzw. Bekehrung der Protagonisten. E r verbürgt in diesem Fall zwar eine sinnvolle diesseitige Konstellation, die göttlichen Fügungen werden von den Liebenden jedoch inmitten der »irdischen Geschicken« empfangen, ohne daß sie erzwungen, prognostiziert oder vollständig erforscht werden können. Sowohl in der Darstellung der unpatriotischen Liebe Rosalies im Tollen Invaliden

als auch in der kompensatorischen, patriotisch korrekten

Einstellung Julies in Seltsames Begegnen und Wiedersehen, die textstrategisch aggressiv in ihrer inhumanen Qualität ausgestellt wird, findet sich das präzisierende Korrektiv zur im Wintergarten

getadelten Liebe der

Hausherrin zum feindlichen Franzosen. Ebenso wie die nationale Grenze in dieser Erzählung verschwimmt und der im Wintergarten

in absentia

schwarzgezeichnete Gegner an Präsenz, Farbe und Kontur verliert das streng dualistische Freund-Feindschema des

gewinnt,

Wintergartens

seine evidente Legitimation, und der Krieg wird somit nurmehr zur dramatisch-apokalyptischen Kulisse für die tragischen Verkettungen. Es ist gerade in Seltsames Begegnen und Wiedersehen anders als im Tollen

Inva-

liden auffällig, daß dabei die alten politischen Wertungsstereotypen nicht aufgegeben werden:' 4 5 Das Verdikt über Moral und Gesinnung des französischen Heeres,' 46 die Wertung des Partisanenkrieges in Spanien' 47 und

145 146

147

Vgl. dazu Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 76-95. Diese Wertung wird durch Hans, den Diener Stauffens, gestützt, der zu Julie hineingerufen wird: Er »ergoß sich in fatalen Historien seines Herrn, der doch in Vergleich mit seinen Kameraden wirklich tugendhaft zu nennen war, obgleich nicht unschuldig.« (SB 937) Die problematische charakterliche Disposition Stauffens ergibt sich zum Teil aus den Kriegserfahrungen, zum Teil aber auch aus seinem Dienst unter der französischen Fahne: Zum Ikonendiebstahl heißt es: »aber zu tief war in ihn die Sitte des Volkes eingedrungen, dem er diente, er glaubte das Bild erst zum Dasein zu erwecken, indem er es nach dem kunstgebildeten Frankreich brächte« (SB 949). »Der Dienst [in Spanien] war aber in diesem Kriege höchst anstrengend, so leicht die Schlachten auszufechten waren, so wenig nutzte deren Gewinn, das Volk ergab sich nicht, der kleine Krieg war verderblich, die Erhaltung schwer, die Verbindungen stets unterbrochen, jedes Corps wie eine einzelne blockierte Festung in dem weiten durch Gebürge zerissenen Lande, die Not und Dauer dieser Anstrengungen statt zu ermüden, brachte auch die Gleichgültigsten von beiden Seiten zu einem ungewöhnlichen Eifer für die Sache, die sie ergriffen und die sie verteidigen mußten.« (SB 944Í.) Die eigene »Ergötzung« an dem geraubten Marienbild »ging ihm weit über die Erbauung eines frommen Bauernvölkchens, dessen Sprache ihm freilich nur wenig bekannt war, dessen Ausdauer und Mut seine Achtung hätte erzwingen müssen.« (SB 949, Hervorhebung von C.N.) 359

der permanente Hinweis auf die notwendige Befreiung Deutschlands verweisen auf eine unveränderte inhaltliche Position. Zugleich aber wird über das jeweils fokussierte Schicksal des Einzelnen die Sicht auf die Geschehnisse differenzierter148 und problematisiert die abstrakten ideologischen Konzepte. Das Thema der Feindliebe wird dabei auf verschiedene Weisen lesbar; einerseits wird kontinuierlich auf die grundsätzliche Problematik der Liebe zwischen verfeindeten Lagern im Krieg hingewiesen: Constanze wollte bitter kränkend im Namen ihrer Freundin an den Rittmeister schreiben, als sie ansetzte fand sie, daß er nichts als seine Schuldigkeit auf dem Schlachtfelde getan. Juliens Schuld war es, daß sie sich dem Feinde verlobte, es kam kein Brief zustande. (SB 934)

Zum Schluß ist dementsprechend von der Liebe die Rede, die Julie »irrend dem Mörder ihres Vaters geschenkt« (SB 951, Hervorhebung von C. N.) hat. Andererseits aber bietet die Familienkonstellation, die Stauffen genealogisch als Deutschen ausweist149 (wenn er sich als wiedergefundener Sohn des alten Oheims von Constanze erweist) - der nur durch eine Verkettung verschiedener der Revolution und dem Krieg geschuldeter Umstände in die fragwürdige Heeresgemeinschaft unter Napoleon geraten ist - , eine nationale Explikation für die unpatriotische Leidenschaft und eine implizite, durch Julies Verhalten blockierte Möglichkeit zur Versöhnung. Ahnlich wie in der Einquartierung im PfarrhausIs° wird in der von Zufällen gezeichneten Familienvita zum Schluß die denkbare finale Wiedervereinigung auf grausame Weise invertiert.1'1 Im Gegensatz zur Einquartierung steht dabei das junge Paar im Mittelpunkt der Destruktion, so daß die Zerstörung (im Fokus auf die jugendliche Paarbil148

149

1,0 151

So konstatiert Stauffen schon angesichts des fatalen Totschlags jenes noch unbekannten alten Gegners (Julies Vater): »So etwas zerreißt das Herz, sagte der Rittmeister, wenn wir das allgemeine Kriegsgeschick im Einzelnen uns anschaulich machen.« (SB 931) In ähnlicher Weise wird in den Majoratsherren schließlich der lupenreine Stammbaum der Esther aufgedeckt. Vgl. dazu das folgende Kapitel. Vgl. zum Konzept der >Lesbarkeit< in der Erzählung Seltsames Begegnen und Wiedersehen auch Detlef Kremer: Kabbalistische Signaturen. Sprachmagie als Brennpunkt romantischer Imagination bei Ε. T. A. Hoffmann und Achim von Arnim. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hrsg. von Evelyn Goodman-Thau, Gerd Mattenklott, Christoph Schulte, Tübingen 1999, S. 1 9 7 - 2 2 1 , hier S. 215-220. Die besondere Stellung der Schriftlichkeit gegenüber der Oralität in diesem Text ordnet Kremer der jüdischkabbalistischen Tradition (im Gegensatz zur platonisch-christlichen Logostradition) zu; diese spezifische Hermeneutik erweist sich im Kontext der intrikaten Handlungsführung jedoch nur phasenweise (etwa beim gegenseitigen Wiedererkennen von Mutter und Sohn) als erfolgreich.

360

dung) total wird, zumal auch der Vater den Tod des Sohnes nicht überlebt. Hätte Julie ihrer genuinen humanen Regung gehorcht, hätte sie die finale Trennung und den Tod des Geliebten verhindern können; die von Julie reflexionslos übernommene Härte Constanzes wird als abstrakt und in ihrer Wirkung als unverhältnismäßig entlarvt. Die differenzierte Konzeption des Text bedient sich zwangsläufig überwiegend der phänomenologischen Perspektive und nur noch bedingt der ideologischen Sichtweise auf den Krieg. Stattdessen wird die verstörende Grausamkeit des Schlusses, der sich auf die kriegsbedingte Wirklichkeit gründet, hier mit der Geschichte der beiden verwitweten Frauen, der Mutter Stauffens und Julie, transzendiert und - ähnlich wie in den Kronenwächtern - für eine jenseitige Dimension geöffnet. Sie begeben sich in das Kloster in Spanien, wo Stauffen die Mutter einst entdeckte und das Marienbild entwendete, das nun ehrfürchtig an seinen originären Standort zurückgeführt wird: Nichts war von der Kirche übrig, so wunderbar war das heilige Bild erhalten, daß eine neue unentweihte Kirche wie ein Vorhimmel sich darüber wölbe allen Glücklichen zur Erhebung, allen Unglücklichen

eine beruhigende

Grabesdecke,

von dem Lichte einer andern Welt durchstrahlt. (SB 962, Hervorhebung von C.N.)1'2

Diese Öffnung zur »anderen Welt« als sinnstiftende Kontingenzbewältigung angesichts einer desolaten innerweltlichen Unsicherheit und Unbestimmbarkeit (die - auch in den Kronenwächtern - in der destruierenden Phänomenologie des Krieges manifest wird) findet sich nicht nur als wichtige inhaltliche und strukturelle Komponente in den Kronenwächtern, sondern wird auch dem Geschehen in der Erzählung Einquartierung im Pfarrhaus zugrundegelegt und stellt somit die wesentliche existenzversichernde Komponente im Weltbildes Arnims post bellum dar. 152

V o r diesem Hintergrund wird deutlich, warum das unverminderte Gottvertrauen, das Rosalie trotz aller Unglücksfälle im Tollen Invaliden beweist, zu einer Sonderstellung der Erzählung führt: Durch ihre unbedingte Anhänglichkeit an Francoeur kann sie den Geliebten und die gefährdete Stadt vor dem sicheren Ende bewahren und damit - im Gegensatz zu den beiden gleichzeitig erschienenen Texten (Einquartierung und Seltsames Begegnen und Wiedersehen) - ein uneingeschränkt positives Ende herbeiführen, das sogar die Versöhnung der von ihr entzweiten Mutter einschließt. Das Geschehen spielt allerdings nicht wie die beiden anderen, gleichzeitig fertiggestellten Texte in den napoleonischen Kriegen, sondern im Siebenjährigen Krieg, was eine spezifische Distanz zu den gegenwärtigen Geschehnissen erzeugt. In diesem Kontext wird die Lust am Krieg (als Selbstzweck) in einem Erkenntnisvorgang Francoeurs negiert, indem er das Geschehen folgendermaßen resümiert: »Die Sünde ist uns geschieden [...] nie will ich wieder auf den Frieden schelten, der Friede tut mir so gut.« (TI 54) 361

Vili.

Die Kronenwächter u n d Die Einquartierung im Pfarrhaus

Michael Andermatt hat in seiner gründlichen Motivanalyse der Erzählung Die Einquartierung

im Pfarrhaus1 darauf hingewiesen, daß sich eine the-

matische Antithese von »höheren Geschicken« und willkürlichen Zufällen aufbaut. Diese strukturelle Komposition entspricht den

Kronenwäch-

tern: Während im ersten Buch aus der Perspektive der Handelnden die höheren Geschicke in den unglaublichen Verknüpfungen, Glücksfällen, Wiederbegegnungen vorwalten, dominieren im zweiten Teil Zufälle und Mißverständnisse; die (ambiguisierte) märchenhafte Disposition des ersten Buches wird in der gescheiterten Verlobungssequenz ostentativ unterlaufen. Diese überraschend-zufälligen Wendungen in Arnims Erzählschlüssen indizieren eine wichtige Facette seiner utopischen Konstruktionen. Es handelt sich dabei um die parallel-laufende Präsentation und Sabotage eines (fiktiv realen, fiktiv imaginierten oder textstrategisch vorbereiteten) Idealzustands, die spezifische Daseinsformen als utopisch ausweisen. Im Kontext dieser transitorischen Unmöglichkeit des Gewünschten in der Jetzt-Zeit (dessen Einlösung in der Zukunft unter veränderten Rahmenbedingungen aber durchaus denkbar ist), zeigt Arnim, wie utopische Konzepte situativ scheitern müssen. Das utopische Gedankenspiel2 irisiert hier zwischen Potentialität bzw. ephemerer Realität und - längerfristig betrachtet - historisch bedingter Irrealität. Während der Gestus des offenen Endes (im Wintergarten, aber auch in der Gräfin Dolores) noch den Ausblick auf ein zu erreichendes Ziel als immanente Quasi-Teleologie beinhaltet, realisieren die hintertriebenen Erzählschlüsse3 vieler Erzählungen nicht nur eine Form der romantischen

1 2

3

Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 83-109. Der Begriff des Spiels bei Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989. »Nicht um Harmonie geht es, sondern um Widerspruch, nicht um Beruhigung, sondern um Verunsicherung, nicht um Antwort, sondern um Frage, nicht um ein Ende, sondern um Progressivität.« Michael Andermatt: Happy-End und Katastrophe. Die Erzählschlüsse bei L. Achim von Arnim als Form romanti-

362

Ironie, sondern stellen inhaltlich auch einen geradezu anti-teleologischen Ansatz zur Disposition, der nur auf höherer Ebene von metaphysischen Erlösungselementen aufgehoben wird. Die Konzeption der Einquartierung,

die über verschiedene Vorstufen zu

einer inhaltlich verwandten, aber doch strukturell gänzlich divergierenden Endfassung führt, hat über diese Gemeinsamkeit hinaus im Zuge der Textgenese auch eine ähnliche Veränderung erfahren, wie sie zwischen dem j4«£o«-Fragment und den Kronenwächtern

beobachtbar wurde. Das

resignative Gottvertrauen des Endes, das im Kontext von unterstellten höheren, irdisch nicht mehr zwangsläufig sinnvoll interpretierbaren Geschicken an die Stelle eines naiv optimistischen Weltverhältnisses tritt, ist dabei eine wichtige Parallele zwischen den Kronenwächtern Einquartierung,

und der

deren strukturell-konzeptionelle Analogie im Span-

nungsfeld von asymptotischer Utopieerfüllung und de facto-Verfehlung es im folgenden zu belegen gilt. In der nachvollziehbaren, analog praktizierten Strukturverschiebung demonstrieren die Texte einen wichtigen Einschnitt in der Lebens- und Weltbetrachtung, die sich indirekt von der engagierten Wunderhorn-

und Wintergarten-Phase

distanziert und eine

neue Geschichtsauffassung im Zeichen eines fatalistischen Gottvertrauens konzipiert.

ι. Die gescheiterte Familienzusammenführung als asymptotische Annäherung an eine implizite utopische Konstruktion in der Druckfassung der

Einquartierung

Inmitten der kriegerischen Wirklichkeit bestehen die »Sorgen und Leiden« des jung verheirateten Paares, die »die schönsten Wochen ihres Lebens«, den »Eintritt in den Ehestand« (EP 907), verdunkeln, aus politisch-administrativen (Einquartierung) und persönlichen (sterbende Mutter/Schwiegermutter) Bedrängnissen. In dem Gespräch zwischen dem einquartierten Oberst und seinem Wirt, dem Prediger, überlagern sich beide Problemfelder und scheinen sich dabei zunächst zu neutralisieren. Nach der kurzen biographischen Erzählung des Oberst, die sich in wenigen Worten auf seine zufällig-willkürliche Berufswahl bezieht, konzentriert sich der Prediger - der im Zuge seiner optimistisch-genügsamen

scher Ironie. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hrsg. von Michael Andermatt, Bonn 1994, S. 1 1 - 3 3 , hier S. 29.

36}

Weltauffassung nicht bereit ist, auf das erfragte »betrüblich« »verkümmerte Leben« seiner Schwiegermutter einzugehen - auf die gelungene Eheschließung mit seiner Frau und die »höheren Geschicke«, die »alles für uns tun, wenn wir am wenigsten es ahnen« (EP 910). Zufällig entdeckt er dabei die wahre Identität des Obersten, der sich als Vater seiner Frau erweist. Damit scheint in dieser Phase der Erzählung ein doppelt ausgleichender Wechsel auf die Zukunft ausgestellt zu werden: Zum einen verhilft die beklagte Einquartierung der Pfarrfrau zu dem bisher unbekannten Vater (»aus dem Todeshauche der Mutter war ihr der Vater erstanden, das erklärte ihr der Pfarrer mit flüchtigen Worten, die ihr kindliches Herz mit steigender Liebe schwellten«, E P 9 1 5 ) , zum anderen ermöglicht die Entschlüsselung der Familienstruktur eine finale Wiedervereinigung mit der verlorenen Geliebten. Der letzte Kuß der Geliebten wird jedoch endgültig durch den Tod ausgesetzt: »auch sie erkannte ihn, drückte ihm die Hand, wollte ihn küssen, da sank sie auf ihr Lager nieder und verschied« (EP915); und auch die kurzfristig besetzte Vaterposition wird zugunsten der »ernsten Pflicht, der er sein Leben verschworen« (EP 916) aufgegeben: Der Pfarrer flehte ihn [den Oberst] an, daß er unter ihnen weile, daß er sich unter ihnen ausruhe bei seinem einzigen Kinde. Draußen warten meiner tausend liebe Söhne, antwortete der Oberst; der Himmel hat mich nicht umsonst dem feierlichen Leben entrissen, denn vergessen hatte er's mir nicht, was ich als Jüngling mir als Glück träumte, er führte mich zum Tröste in dessen Nichtigkeit, hier sah ich Tod und Täuschung als Grenze aller Bestrebungen fürs häusliche Glück, will sehen ob etwas andres, etwas daurendes die Bahn des Kriegers schließt; versuch's auch auf deiner frommen Bahn, breite Gottes Reich als frommer Streiter auf Erden aus und bete für mich, denn dazu fehlt mir die Zeit und das Wort.« (EP 917)

Die natürliche Familienkonstruktion wird im paternalen Verhältnis des Oberst zu seinen Soldaten abstrahiert und ersetzt. Zu dieser Entscheidung gelangt er angesichts der grotesken Vergegenwärtigung seines irreversibel gescheiterten Lebensglückes durch die Großmutter der Pfarrfrau. Auf der Flucht vor dem drohenden Wahnsinn wird aus dem vernünftigen, selbstbestimmten Oberst ein Getriebener: Als sie den Obersten auch erkannte, sagte sie [die Großmutter] ihm, er sei älter geworden, aber er scheine ihre Tochter noch wie sonst zu lieben und so solle alles vergeben und vergessen sein, daß er sie einst für so viel Liebe habe sitzen lassen [...] Ich hätte es nicht überlebt, sagte sie, wenn ich dich [die für die tote Tochter gehaltene Enkelin] tot gefunden hätte, nein, alles in der Ordnung, die Alten bestellen den Kindern ihren Platz im Himmel, wie sie schon auf Erden eine Wiege ihnen bereiteten. Dem Obersten schauderte bei den Worten und er 364

führte beide Frauen der Türe zu, die Stube schien ihm ein Grab, worin er lebend begraben die Gespräche der Verweseten höre, ihm war wie einen Sterblichen, der unbewußt in die Gesellschaft von Geistern geraten ist und nicht weiß, ob es Täuschung sei, ob er die Täuschung stören könne oder dürfe und doch fürchtet wahnsinnig in diesem Umgange zu werden. (EP 916)

Indem sich die persönlichen Glücksvorstellungen (»was ich als Jüngling mir als Glück träumte«, EP 917) ad absurdum geführt haben, werden die zukünftigen Lebenspläne in eine putativ dauerhaftere Bahn (»will sehen ob etwas andres, etwas daurendes die Bahn des Kriegers schließt«, EP 917, Hervorhebung von C. N.) umgeleitet. Die unlesbare Macht des irdischen Schicksals, die mit dem Tod der Tochter - in einem offensichtlichen Gegensatz zur falschen Einschätzung der Großmutter - alles »aus der Ordnung« setzt, wird in eine höhere Ordnung des Himmels eingebunden, die über die scheinbar unzusammenhängenden Zufälle und Schicksalsschläge zur bereitwilligen Aufgabe des nichtigen, in Tod und Täuschung fundierten Irdischen führt.4 Eine textstrategisch abschließende Funktion erhält das Gebet des Pfarrers, das die Geschehnisse im Verweis auf die göttliche Transzendenz deutend konfiguriert: Der Mensch ist bald vergessen, / Der Mensch vergißt so bald, / Der Mensch hat nichts besessen, / Er sterb' jung oder alt. / Der Mensch ist bald vergessen, / N u r Gott vergißt uns nicht, / Hat unser Herz ermessen / Wenn es in Schmerzen bricht. / Wir steigen im Gebete / Zu ihm, wie aus dem Tod, / Sein Hauch, der uns durchwehte, / Tat unserm Herzen not. (EP 917)

In diesem Rekurs auf Leid und Schmerz macht sich der Pfarrer das Erlebte im Horizont einer religiösen Kontingenzbewältigung zu eigen. Die Sinnstiftung erfolgt bei ihm mit Blick auf die höheren Geschicke, die nur noch bedingt nach irdischen Glückskriterien lesbar werden. Während die Krisenerfahrungen (Einquartierungen, Verlust der Mutter und schließlich des Vaters) der jungen Pfarrfrau vom sozialen Umfeld (dem Pfarrer) abgefangen werden können, wird die Liebesgeschichte des Oberst und seiner Geliebten in einem auffälligen Spannungsfeld von Erfüllung und Nichterfüllung inszeniert. Für den Oberst, der die Vorstellung einer Verbindung mit seiner Jugendliebe längst aufgegeben hat,5 wird eine 4

5

Unterstützt wird diese in einem höheren Sinn aufgehobene und irdisch nicht mehr deutbare Sinnlosigkeit letztlich wiederum durch die Prophezeiung der Mutter, mit der sie vor der Trennung den weiteren Verlauf der Geschehnisse inaugurierte: »Die Prophezeiung ist, wenn sie zutrifft, eine Garantie dafür, daß eine Ordnung der Dinge, mag sie auch noch verborgen sein, vorhanden ist. Die Voraussehbarkeit impliziert eine bestehende Ordnung.« Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 100. »Der Krieg beschäftigte bald meine ganze Seele; nach mehreren Jahren wollte

365

Fallhöhe konstruiert. Er kann seine Freundin zwar erneut treffen, weiß aber zugleich um den dilatorischen Charakter der Begegnung, die schließlich sogar auf einen bloßen Blickwechsel und vor allem die Andeutung eines nicht mehr vollzogenen letzten Kusses eingeschränkt wird. Die kurzfristige Reinstallation der Kernfamilie von Mutter, Vater und Kind scheitert während der asymptotischen Annäherung an das Ideal; zudem wird die bereits im Zeichen des Ersatzes verhandelte Vaterbeziehung (»aus dem Todeshauche der Mutter war ihr der Vater erstanden«, EP 915) ausgesetzt. Sie gewinnt schließlich lediglich in materieller Hinsicht Bedeutung, wenn der Oberst mit einer nachträglichen Mitgift seinen konventionellen Pflichten entspricht und die Ehe der Tochter mit dem Geld nach herkömmlichen Vorstellungen legitimiert.

2. Die Einquartierung

im Pfarrhaus im Kontext ihrer Vorstufen:

Inhaltliche Verschiebungen Die motivische Vorrangigkeit des »verkümmerten Lebens«,6 die in der thematischen Konfrontation von »höheren Geschicken« und sinnlosen Zufällen kulminiert, wird in besonderer Weise deutlich, wenn ein Entwurf zur Erzählung mit einbezogen wird.7 Als Bindeglied zwischen dem Drama Wart bis es Nacht8 und der 1817 publizierten Fassung von der Einquartierung im Pfarrhaus präsentiert er - ähnlich wie das AntonFragment im Vergleich zu den Kronenwächtern - eine konträre Konstruktion.9 In der Einquartierung wird der Moment der Paar-Zusammenfiihrung im Gestus der Erfüllung zum Moment der endgültigen Trennung. Damit eignet der Begegnung ein dystopisches Element, dessen

6 7

8 9

ich sie mit meiner Erinnerung nicht stören, wenn sie mich für tot gehalten und andere Verbindung eingegangen wäre [...] ich gäbe viel darum, von dem lieben Kinde wieder etwas zu hören.« ( E P 9 1 4 ) Andermatt, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 109. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, 8.587-594. »Zur Datierung kann zusammenfassend gesagt werden, daß vor der Erzählung die Dramenfassung Wart bis es Nacht entstand, und zwar frühestens im Sommer 1814, wobei aber Motive, die Arnim schon länger vertraut waren, aufgenommen wurden. Wann die Prosafassungen entstanden, ist ungewiß.« Arnim, Werke, Bd. 3, S. 1355. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 5 53-576. Abgesehen von der problematischen Vater-Tochter-Relation, deren ödipale Färbung als dramatisches Movens unabdingbar ist, finden sich in einer differenten Chronologie zwar ähnliche Problemkonstellationen wie in der publizierten Prosafassung; nichtsdestoweniger werden die korrespondierenden Motive unterschiedlich vorbereitet und aufgelöst. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 381. 366

brachiale Peripetie10 durch die groteske Farce eines Happyends in den erblindenden Augen der Großmutter noch akzentuiert wird. In den beiden Vorstufen zu der Einquartierung dagegen erweist sich die Prophezeiung nicht nur im wörtlichen Sinne als wahr, sondern auch als verstehbar und sinnvoll. In Wart bis es Nacht wird für eine umfängliche Aussprache, für eine Explikation, eine Rechtfertigung und ein gegenseitiges Verzeihen Raum geschaffen. Im Prosa-Entwurf zur Einquartierung wird offensichtlich, was die letzte Begegnung mit dem Geliebten für die Mutter bedeutet, die auf ihrem Sterbelager selbst die Bedingungen für ihre friedliche letzte Ruhe benennt: »sie sterbe gewiß noch nicht, sie müsse noch eine Botschaft erhalten, sonst werde sie nicht im Grabe ruhen. Da trat der Oberst herein, sank vor ihrem Bette nieder, sie erkannte ihn, drückte ihm freudig die Hand und verschied.«11 Die problematische Rolle der Großmutter - als von der Zeit und vom Geschehen überholte Visionärin eines möglichen, aber gescheiterten Glückes - ergibt sich im besonderen in der Druckfassung, da die stark gestraffte Dramaturgie des Endes ihr Erscheinen mitten in der Todesstunde ihrer Tochter vorsieht. Im Gegensatz dazu trifft sie in Wart bis es Nacht ihre Tochter noch an, die sie allerdings mit ihrer ebenfalls anwesenden Enkelin verwechselt: ein Irrtum, den die sterbende Mutter als erfolgreiches, reziprokes Antidot gegen den mütterlichen Verlustschmerz und das eigene Bedauern darüber empfindet: »Ich fleh dich an, laß dich von ihr als Tochter segnen, und ehre sie als Mutter, ich überlebe nicht den Schmerz! Sie überlebte nicht den Kummer, wenn sie mich sterbend sah.«12 Großmutter und Oberst treffen nicht aufeinander. In dem ProsaEntwurf zur Einquartierung kommt dem Oberst - wie auch in der Druckfassung - die Aufgabe zu, seine Tochter mit der unbekannten Großmutter bekannt zu machen. Der Entwurf jedoch mildert die Verwechselung von Enkelin und Tochter insofern, als er sie in zeitlicher und räumlicher Distanz zur Toten stattfinden läßt, so daß mit ihrer Verkennung nicht das wahnsinnige »Schaudern« der Druckfassung erzeugt werden kann. Obwohl Gedanken aus den Vorstufen einfließen, werden sie in diesem Sinne im Gesamtkontext der Einquartierung umgewertet bzw. intensi10

n 12

Der Text scheint in der umfänglichen Ausgangskonstellation einen umfassenden Sieg der Liebe vorzubereiten, indem analog zur bewegten Liebesgeschichte des Pfarrers zumindest die Chance eines Wiedersehens mit einem hohen Versöhnungspotential aufgeladen wird. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 587, Hervorhebungen von C. N . Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 560.

367

viert. In Wart bis es Nacht wird der Beschluß des Oberst, seine Soldaten nicht zu verlassen, auf deren unbedingte durch den plot nachgewiesene Treue zurückgeführt. Die Verbindung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen basiert infolgedessen auf einem dramatisch explizierten, persönlich-paternalen Verhältnis, das nicht im Zeichen einer Ersatzbeziehung (vom natürlichen Vater zum Soldatenvater) verhandelt wird. Der überstürzten Flucht in den Soldatenstand in der Einquartierung steht im Drama überdies eine sinnstiftende Interpretation der Geschehnisse als »höhere Geschicke« und deren konsequente Exegese - »Noch war mir keine Ruh beschieden« 13 - entgegen. Die Kulisse für die Ereignisse ist dabei in bezeichnender Weise nicht der Krieg wie in der Einquartierung (so der paratextuelle Hinweis zur Einquartierung im Pfarrhaus - Eine Erzählung aus dem letzten Krieg), sondern der Frieden, der mit der dörflichen Friedensfeier zugleich konkret in die Handlung eingebunden wird. Das Geldgeschenk des Vaters fungiert im Drama nicht - wie in der Einquartierung - als unzureichender materieller Ersatz für die lediglich emotional einlösbaren Vaterpflichten, vielmehr findet es noch in der Gegenwart des Vaters einen konstruktiven Anwendungszweck, in dem sich die Familie - auf einer höheren ideellen Ebene symbolisch wiedervereinigt - spiegelt. Das Grab der Mutter wird - nach einer Idee der Tochter - mithilfe des väterlichen Vermögens zu einer Stiftung genutzt, die auf die familiären Ereignisse kompensatorisch bezug nimmt: Hier sey ein ernstes Mahl für ewge Zeit gestiftet, ein Mahl der Todten, hier ehre jeder die Geliebten, die hinweggeschieden mit den frühen Tagen. Ausstatten will ich hier die armen Kinder, vor allem arme Waisen und die, die ihren Vater lange missen und nicht nennen dürfen. 1 4

Dementsprechend verweist der Vater entschieden auf seine zukünftige geistige Präsenz an den kommenden Jahrestagen des neueingeführten Festes: »gedenket mein [...], ich werde unter euch im Geiste seyn, wie jene [die tote Mutter] die von Kinderschaar aus stillem Haus hieher in stillre Tiefe wird getragen. Sie hat durch mich so viel gelitten, - ich kann nur an den Lebenden vergüten.« 15 Die Lieder - unter denen sich auch wörtlich das fatalistische Gebet der Einquartierung findet - sind klar auf die Beerdigung der Mutter bezogen, mit der das Stück schließt. Der Rekurs auf Gott erfolgt hier in einer stabilisierten Situation, in der die verschiedenen Handlungsstränge - trotz des tödlichen Schicksalsschlages 13 14 15

Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 568. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 574. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 574. 368

zu einem sinnvollen Ganzen zusammengeführt wurden, in dem die einzelnen Protagonisten ihren Platz und ihre Bestimmung in der Welt erkennen und einnehmen können. In der Endfassung der

Einquartierung

dagegen ist das Gebet nicht mehr eine zum Diesseitigen komplementäre jenseitige Existenzversicherung, sondern die zwangsläufige Ausblendung diesseitig durchschaubarer und kalkulierbarer Ziele (die immer nur vorläufig fokussiert werden können)16 zugunsten eines möglichen, aber nicht verbürgten Zweckes in der Welt. Der altruistische Gedanke, der dem Finale beider Vorstufen mit der Stiftungsidee und ihrem innerweltlichen Wirkungsanspruch zugrundeliegt, wird in der Abwendung des Oberst vom »persönlichen Glück« zugunsten einer dauerhafteren Bahn noch andeutungsweise zitiert, erweist sich bei ihm allerdings als umständebedingte Notlösung. Im Prosa-Entwurf zur Einquartierung

werden die Tendenzen aus dem

Drama aufgegriffen und verstärkt. Statt einer Flucht in Tätigkeit und Glauben ex negativo findet sich auch hier eine originäre (optimistische und versöhnte) Reflexion auf die eigenen Pflichten im Zuge einer spontan erfahrenen Bekehrung. Der Entwertung der bisherigen Hoffnungen als Irrtum, die der Oberst in der Einquartierung

vornimmt, ist der plötzli-

chen Aufwertung des Geleisteten im Modus der Erkenntnis entgegengesetzt: der Tod ist versöhnt und die Lebenden drücke ich lebendig ans Herz [...] Auch mich treibt eine höhere Stimme weiter, wo ich mein Grab finde. Ich wollte bey euch bleiben, hielt alles was ich gethan für ein vergebliches Irren in der Wüste, hier ist mir der Glaube aufgegangen: Keiner steht an meiner Stelle so gut wie ich selbst, ich weiß daß ich den tausend braven Seelen, die unter mir stehen, etwas war, etwas seyn werde wie kein anderer.' 7

Der Glauben, die Religiosität, der »Vater im Himmelreich« sichern auch im Prosa-Entwurf eine innerweltliche Perspektive ab, die in der Endfassung der Einquartierung

nur noch schemenhaft erhalten bleibt (indem die

geglückte Paarbindung des Pfarrers gegenüber dem Todesfall mehr oder weniger in den Hintergrund gedrängt wird).18 In der Vorstufe dagegen verdeutlichen die letzten Worte der verlassenen Tochter den Offenba-

16

17 18

Nachdem der Oberst mit dem häuslichen Glück abgeschlossen hat, ist er auf eine experimentelle Lebenskonzeption, eine vorläufige Weiterführung seines diesseitigen Lebens unter einer anderen Prämisse angewiesen. Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 593. Das resignierte Gebet am Ende verweist in diesem Sinne auf die Gültigkeit einer transzendenten Führung, macht aber zugleich deutlich, daß sie nicht zwangsläufig im Diesseits lesbar und verstehbar sein muß. 369

rungscharakter der Situation, die - indem sie mit der Paarkonstellation Pfarrer und Pfarrersfrau einen glücklichen Aspekt des Endes akzentuiert - optimistisch gedeutet wird: U m so mehr wollen wir in den milden Gaben an diesem Feste der armen verlassenen Kinder gedenken, die dieses Segens sich nicht erfreuen, die so wie ich in meinen früheren Jahren, umsonst nach ihrem lieben Vater fragen und zu dem Vater im Himmelreich all ihre Liebe und H o f f n u n g hinwenden. E r hat mich nicht verlassen! Ich will die Mädchen ausstatten, die ihren Vater nicht nennen dürfen - das kann ich - aber nur der H i m m e l vermag ihnen die Männer zu schenken, die rein und liebevoll ihr H i m m e l werden, - wie er sich mir in D i r offenbarte, D u lieber H i m m e l auf E r d e n . 1 '

Diese Schlußperspektive der Vorstufe macht die finale Umgewichtung in der Einquartierung unübersehbar; während der Gottesglaube in der Vorstufe zugleich eine diesseitige Konstellation verbürgt, wird er in der Einquartierung zum jenseitigen Anhaltspunkt in einer desolaten Welt. Die inhaltlich-strukturellen Verschiebungen zwischen den verschiedenen Fassungen markieren eine deutliche Parallele zu den Kronenwächtern und dem Anton-Fragment. Wenn im Anton-Fragment eine zeitutopische Vollendung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene impliziert wird, bleibt in den Kronenwächtern schließlich nur der transzendente Bezug auf die göttliche Macht und der Verweis auf einen Sinn der »irdischen Geschicke«, die das menschliche Verstehen überschreitet. Die Einquartierung im Pfarrhaus steht insofern in einer doppelten Beziehung zu den Kronenwächtern. Zum einen verbindet beide Texte die spezifische Inversion der für den Leser und die handelnden Personen erwartbaren Erfüllung des implizierten utopischen Schemas (kurzfristige Wiedervereinigung und Versöhnung mit der Geliebten, Elternersatz für die sterbende Mutter in der Einquartierung bzw. individueller und allgemeiner Friede und Vollendung in den Kronenwächtern), die in asymptotischer Näherung textstrategisch vorbereitet und schließlich ins Gegenteil verkehrt wird (drohender Wahnsinn beim Oberst und daraus resultierender neuerlicher Verlust des Vaters in der Einquartierung bzw. Tod und Krieg in den Kronenwächtern). Zum anderen verweisen die verschiedenen divergenten Werkstufen in beiden Fällen auf einen Wandel, der mit Konzepten der Lesbarkeit (Einquartierung) und Steuerbarkeit (Kronenwächter) abrechnet und - trotz transzendenten Bezugs - vor allem die irdische, als sinnlos empfundene Verkümmerung fokussiert.

19

Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz, S. 5 94t.

37°

IX. Über die Potentialität der Kriegszeit: Die Welt im Sprung

Es ist ein fester Glaube in mir, den ich aber niemand beweisen kann, daß Preußen bei Lützen gesiegt hätte und der ordnende Mittelpunkt von ganz Deutschland geworden wäre, daß es weder der müßigen Quälerei des Wiener Kongresses noch der Ungewißheit über all seine künftigen Verhältnisse unterworfen worden sei, wenn es in jener Zeit eine Verfassung durch öffentliche Verhandlung gebildet hätte, weil sie aus der Wahrheit geboren. Der religiöse Sinn, der Wahrheit und Schönheit mit einander einigt, beiden Lebensfähigkeit einhauchte, fehlte wahrlich nicht in jener Zeit, er war im Unglück wiedererwacht, und ahndete eine neue Kirche, ohne sie von neuen heimlich bereiteten liturgischen Formen abhängig zu glauben, er grünte unter dem Schnee und erhielt sich durch den Schnee gegen die Kälte, bis der himmlische Frühling Kälte und Schnee ohne Zutun der Menschen löst, diese aber fühlen ohne Unterweisung, wenn der Frühling gekommen ist, denn der Frühling kommt auch aus ihnen. (Arnim VI, 480) Indem Arnim in der im Januar 1 8 1 5 vor der Deutschen Tischgesellschaft gehaltenen Rede auf ein - seiner Meinung nach - neuralgisches, aber fehlgeschlagenes Ereignis 1 als historische Weggabelung zurückverweist, konfrontiert er die wirkliche mit der potentiell möglichen Gegenwart und markiert mit seiner Rede zugleich den Zeitpunkt, an dem sich seine »übergrossen Erwartungen« 2 (Schultz, II, 703) in der Realität der N a c h kriegszeit wiederum auf die Zukunft vertagen mußten. Entscheidend für diesen Zusammenhang ist der Rekurs auf die alte Winter- bzw. Frühlingsmetaphorik, die auf die immanenten Möglichkeiten der Zeit verweist und dabei zugleich auf das spezifische Konzept von der (hier offensichtlich verfehlten) notwendigen Konvergenz von Weltgeist (bzw. Gott) (»bis der himmlische Frühling Kälte und Schnee ohne Zutun der Menschen löst«) und menschlichem Beitrag (»diese aber fühlen

1 2

Er verweist dabei auf die preußische Niederlage bei Lützen am 2. Mai 1813. Diese Erwartungen ergaben sich insbesondere im Umfeld der »Deutschen Schlacht« (diesen Namen schlägt Arnim für die Völkerschlacht bei Leipzig vor; Arnim VI,428); sie manifestieren sich u.a. in den von ihm verfaßten begeisterten Akklamationen des Preußischen Correspondenten. Vgl. dazu exemplarisch die zusammengestellten Texte zum Jahr 1813 in: Arnim Werke, Bd. VI, S. 4 1 0 448.

371

ohne Unterweisung, wenn der Frühling gekommen ist, denn der Frühling kommt auch aus ihnen«) zurückgreift. Obwohl dieses Konzept der Vorsehung,3 der Reife und des richtigen atmosphärischen Zeitpunktes durch das Konditional (hätte man »eine Verfassung durch öffentliche Verhandlung gebildet« und hätte »Preußen bei Lützen gesiegt«) nachhaltig geschwächt wird, hält Arnim an der Vorstellung eines Weltplanes fest (»will eine Zeit etwas Großes, so wird die Erziehung sich überall verbessern«, Arnim VI, 463). Statt der chiliastisch inaugurierten Erfüllung und einer damit verbundenen Vorstellung von Machbarkeit (im Einklang mit der Weltzyklik) stehen jedoch nun wieder Hoffnungen im Vordergrund; im August 1814 schreibt er an Brentano: U n d mitten in der Abhängigkeit von mancherlei ganz kleinlichen Verhältnissen [gemeint ist wahrsheinlich v o r allem die eigene problematische finanzielle Situation] ist meine Seele o f t stundenlang gebannt, an dem

Babylonischen

Thurmbau zu grübeln, w o und wie sich alle und alles vereinigen Hesse, was mir innerlich noth ist v o n deutschen Menschen und ich habe ein mauerfestes Zutrauen, es müsse sich vonselbst ohne Zuthun irgendwo fügen, nachdem die Belehrung dieser Zeit alle A r t e n v o n niederträchtigen Eitelkeiten Neid und Pralerei, die so reichlich die gebildeten Geister neuerer Zeit begleiteten und sie aus einander schleuderten, erkannt und bestritten hat. (Schultz, II, 7 1 0 , H e r v o r h e bung v o n C . N . )

In den Kronenwächtern findet sich ein transzendent verbürgtes Geschichtsmodell, das zugleich ein nicht-teleologisches, zyklisch-immanentes Fortschreiten von Geschichte zuläßt; diese Konzeption erlaubt eine größtmögliche Kontinuität zu seinen bisherigen Vorstellungen, insofern er auf die nicht mehr unmittelbar gestaltbare Gegenwart weiterhin mit einer vehementen Kritik zugreifen kann. An diese Analyse knüpfen verschiedene Texte Arnims in der Restaurationszeit an; im Landhausleben4 von 1826, das die letzten vom Autor eigenhändig veröffentlichten Erzählungen zusammenstellt, werden in diesem Sinne ästhetisch-poetologische, politische und soziale Fragen erneut zum nunmehr zumeist satirisch gebrochenen Thema, etwa wenn in 3

4

So ergeben sich seiner Meinung nach auch aus der Zeit der französischen Besatzung deutlich erkennbare Aspekte v o n Vorhersehung: »So verderblich es f ü r Frankreich war, Deutschlands Geschichte zu vernichten, ihm eine fremde V e r fassung aufdringen zu wollen, eben so vergebens und schädlich wäre es f ü r uns, diese sieben Jahre als gar nicht vorhanden vergessen zu wollen, auch sie gehören zu dem Weltplane und nur der kann ihn ergreifen und ihm ohne Widerstreben folgen, der alles Geschehene gut und schön zu machen weiß.« (Arnim VI,447) Die Erzählungen dieser Sammlung sind äußerst komplex und vielschichtig, so daß ihre Bedeutung im folgenden nur angedeutet werden kann.

372

Wunder über Wunder eine Wilhelm A/eisfer-Adaption vorgetragen wird, die nach Aussage Arnims' nicht Goethe, sondern die zeitgenössischen kapriziösen Erziehungskonzepte parodiert. Die solchermaßen als »Kinderkunst« attribuierte spezifische Bildungsphilosophie wird in ihrer satirisch überzeichneten Vergeblichkeit wiederum in signifikanter Weise über ein Hyperion-Zitat - in einen transzendenten Zusammenhang gestellt:6 »Wer hat nicht in unsrer Zeit die Einbildungen der Pädagogen, die Unzerstörbarkeit der Jugend und die seltsame Modenpuppe kennen gelernt, welche Bildung genannt wird? >Ihr begreift es nicht, warum eure Kinderkunst nichts hilft; - indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. -< (Hölderlin)« (LL 66ii.) Die in einem Schlußbericht komprimierte Rahmenerzählung nimmt explizit auf den Wintergarten

bezug und formuliert ein neues, zurückge-

nommenes ästhetisch-politisches Programm: Das ist gegen die Manier, welche im Wintergarten beobachtet wurde, sie hätten jeder Erzählung ihren geselligen Rahmen und die dabei gewonnene Kritik lassen sollen. - Die Erfahrung hat mich belehrt, entgegnete ich, daß diese Z w i schenreden der Gesellschaft von den meisten Lesern, eben weil sie nur Bruchstücke einer fortlaufenden Geschichte sind, überschlagen oder überlaufen werden. Kritisches Urteil über die Geschichten scheint aber außerdem ein gänzlicher Mißgriff, weil jeder Leser, wenn er nun einmal diese unselige Richtung zur Kritik hat, sich lieber selbst auf seinen Weg schafft gegen einen fremden Stangenzaun aufbäumt: wenn er aber von diesem Unheil noch frei geblieben, dieses Unheil noch frei geblieben, dieses Beurteilen von Dingen, die ihm leben, als Eingriff in die Rechte des freien Daseins verabscheuen muß. ( L L 722)

Dabei liegt der ersten Erzählung des Landhauslebens, sen der Gesellschaft,

den

Metamorpho-

zwar noch ein spezifischer »Evolutions-Optimis-

mus« zugrunde, zugleich aber kann die »positive Entwicklungsrichtung der Gesellschaft [...] weder auf weltanschaulicher noch auf politischer Ebene konkretisiert und argumentativ oder exemplarisch abgesichert werden.«7 Die Auswüchse der Gegenwart8 werden insbesondere in den Metamorphosen

vorgeführt und korrigiert. Arnims satirischer Zugriff,

dessen Eindimensionalität er künstlerisch zu brechen und vervielfältigen 5

6

7 8

Zu dieser ironischen Selbstpositionierung Arnims vgl. u.a. Fischer, Literatur und Politik, S. 1 9 9 - 2 1 5 . Jacob Grimm an Friedrich Carl von Savigny, 24. Juli 1821; zitiert nach Arnim, Werke, Bd. 4, S. 1227. Fischer, Literatur und Politik, S. 178. So auch beispielsweise das in den Metamorphosen inszenierte, für die Restaurationsepoche signifikante religiöse Schwärmertum, das als äußerliche Frömmigkeit angeprangert wird und insofern von Arnims reflektiertem, transzendentem Geschichtsmodell zu differenzieren ist. 373

versucht,' stellt nichtsdestoweniger ex negativo Verhaltensmaßregeln auf und entfernt sich damit in auffälliger Weise von den allegorisch umgesetzten gesamtgesellschaftlichen Visionen des Wintergartens·,

die quasi aufklä-

rerische Absicht korrespondiert zugleich mit dem eingestanden begrenzten Handlungsspielraum: »Die Politik ist verschlossen, bedarf die Welt nicht einer gewissen Klatscherei« ( L L 726) heißt es resümierend im Schlußbericht. Dementsprechend kehrt sich in der zu einem nachgetragenen Schlußbericht kondensierten Rahmenhandlung eine wesentliche Stoßrichtung des Wintergartens

um. Während dort der Aufbruch aus der künstlich

angelegten Abgeschiedenheit des Wintergartens die Novellensammlung beschließt, erfolgt in dem Bericht Wie diese Handschrift überreicht

wurde

dem

Marchese

am Ende die Abreise »zur Villeggiatura, oder - wenn sie

es lieber hören, - zum Landhausleben« ( L L 727). Die Villa, in der wiederum die zusammengefaßten Erzählungen im geselligen Umfeld entstanden, wird von der Wirklichkeit ostentativ separiert und - mit dem Verweis auf Grimmelshausens Novellenzyklus Das wunderbarliche

Vo-

gelnest - zugleich als poetisches Idyll gekennzeichnet: Obgleich nahe der Hauptstadt, so einzig durch ihre Lage, durch ihre hohe Felsumgebung im flachen Sande, ist dennoch auf keiner Karte zu finden, ja die Stelle ist überall mit Wald und Sumpf bezeichnet. Ich war noch ein Knabe von etwa zwölf Jahren, als ich die Arbeiter am Gypsfelsen, den mein Vater zu seinen Abgüssen erkauft hatte, ermunterte, weiter hinein zu sprengen, weil ich da etwas singen gehört hatte, und der Sumpf mir oben jedes Ubersteigen hinderte. Und welche Freude, als sich nun die himmlische Wassergegend, der reiche Boden, alles blühend und singend in Frühlingslust eröffnete. Da waren die Ämter wieder gefunden, die im dreißigjährigen Kriege beim Durchbruch der Deiche verloren schienen. Wir fanden Bewohner, die nur von jenem dreißigjährigen Kriege noch zu erzählen wußten, ganz die Genossen des Simplicissimus, alle Bäume voll jener wunderbaren Vogelnester, die Simplicissimus beschreibt. O, diese Heimlichkeit einer neu entdeckten Welt so in unsrer Nähe, mitten im abgetragenen Stoffe, war selbst dem Landesfürsten so reizend, daß er dies Geheimnis zu bewahren anbefahl, und dem Ländchen die ganze Seligkeit seiner früheren Verhältnisse unter der einen Bedingung ließ, daß sie nicht heraustrachteten, aber alle willig aufnähmen, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit sich dieses Edens erfreuen wollten. So ist nun diese kleine Reich ein öffentliches Geheimnis (LL 72if.). Die Frage nach der Gestaltbarkeit der Geschichte gewinnt besonders im bereits 1 8 1 4 entstandenen Dramas des Landhauslebens, 9

Marino

Caboga,

Vgl. dazu Arnim, Werke, Bd. 4, S. 1207ff. Das geschieht im Schlußbericht sogar in expliziter Abgrenzung zu Tiecks allzu deutlicher Lehrabsicht in der Erzählung Die Verlobung. 374

Konturen, in dem deutlich gemacht wird, wie die notwendige Veränderung im Zeichen der verschlossenen Politik denkbar ist. Es handelt sich um eine Utopiekonstruktion jenseits der Machbarkeit, inszeniert als spontanes Gottesgericht, das dem verbrecherischen Eigennutz des oligarchischen Rates durch ein Erdbeben ein Ende macht. Die gesellschaftlichen Analysen, in der die Defizite angeprangert und politische Lösungen aufgezeigt werden, provozieren dabei allerdings keine menschlichen Aktionen. Marino Caboga verweigert vielmehr jede Handlung und ruft zum abwartenden Glauben auf. Erst der Eingriff Gottes schafft die Möglichkeit der Realisierung. Ambitionierte Politik wird somit auf ungewöhnliche Weise von einer transzendenten Macht abhängig gemacht. Im Verweis auf den zeitgenössischen griechischen Befreiungskampf kommt der Erzähler im Schlußbericht aber letztlich nicht umhin, den Marino Caboga gegen die bis dato unerlöste Wirklichkeit abzugleichen, da »es sich bald in der Nähe von Ragusa um ganz ähnliche Verhältnisse, um die Befreiung von rechtlosen Gesetzen, um die Herstellung eines von den Trümmern seiner Herrlichkeit begrabenen Volkes handeln werde. Der Verfasser hätte sich schwerlich mit jener einfacheren Aufgabe befriedigt, wenn damals schon der verwickelte Knoten in der Wirklichkeit zu lösen gewesen wäre, an welchem die Staaten-Künstler sich noch bis jetzt vergebens abarbeiten, vielmehr ihn mit jeder Bemühung der Lösung immer fester zusammenziehen.« (LL 724^) Uber die neuen Gesetzgebungen und Reformen vermerkt er im November 1816 in diesem Sinne bitter: Sind erst ein hundert Dorfschaften ruinirt, so sind die übrigen v o n selbst klug, und es entsteht mit dieser Klugheit eine Verfassung, die jetzt vergebens von unsern Staatsräthen gesucht wird. [ . . . ] Ich schwöre aber, daß ich nur darum bleibe, weil ich die Sache abwarten will, weil unmöglich ein so ungeheures Experiment ohne himmlische Zulassung über ein V o l k ergehen kann« (Steig 1 1 1 , 3 5 7 , Hervorhebung von C . N . ) .

Der Eingriff einer regulierenden göttlichen Instanz, die das Volk mäeutisch in einen Zustand der staatsbürgerlichen Weisheit versetzt, läßt sich nunmehr nur noch erwarten, nicht aber forcieren. Diese Überlegungen zeigen, daß die gedanklichen Veränderungen im Kontext der kommenden Restauration nur bedingt inhaltlicher Art sind. Die entscheidenden Aspekte seiner Weltkonzeption werden allenfalls nuanciert, nicht aber entscheidend umgestellt. Nichtsdestoweniger erhält die nachnapoleonische Zeit eine Qualität, die sich deutlich von der langen Phase zwischen Revolution und Völkerschlacht unterscheidet. Die restaurativ begründete Zeit des Friedens weist im Vergleich zu der von Kriegen 375

bestimmten Phase zwischen 1792 und 1813 eine zurückgenommene Potentialität auf. Der Veränderungskoeffizient des sich in ihr und mit ihr konstituierenden Erwartungshorizontes10 erscheint deutlich minimiert und auf Hoffnungen verkürzt. Die zeitutopische Grundstruktur, die in den Kronenwächtern einer konkreten Zeitdystopie (vor dem relativierenden Hintergrund eines ostentativen Zyklusgedankens) weicht, entbehrt der optimistischen Dynamik. Die Chancen der Kriegszeit sind den Grenzen der Restaurationszeit gewichen. In den Kronenwächtern wurde deutlich, daß der Krieg in hohem Maße für eine Veränderbarkeit einsteht. Die Kriege im Trümmerschatten der Französischen Revolution werden bei Arnim in der Umbruchssituation selbst insofern nicht nur im Zeichen von Niederlage und Sieg interpretiert, sondern auch als möglicher Wendepunkt auf dem Weg in eine bessere Gegenwart wahrgenommen. Die Invertierung des zeitutopischen Schemas in den Kronenwächtern und die Neuverortung in einer jenseitig determinierten Gottesordnung bedeutet gleichzeitig, daß Arnim aus der neuartigen, restaurativen Zeit die spezifischen Möglichkeiten in ihrem zuvor unterstellten Ausmaß eliminiert sieht. Damit wird zugleich der Grad der Steuerbarkeit reduziert." Anders als im AntonRoman, in dem der Weg aus dem Chaos in eine harmonische Zukunft der Gegenwart immanent ist, deshalb durch das Individuum (im Einklang mit der Geschichte, Gott etc.) beschreitbar und zugleich durch die angedeutete Sage auch lesbar erscheint, wird in den Kronenwächtern der Spielraum der Zeit so klein, daß jede politische Aktion, die sich über die subtile Verwaltung von Sachzwängen erhebt, zwangsläufig die reduzierten zeitimmanenten Möglichkeiten übersteigt und zum Scheitern verurteilt ist. Die holistisch-chiliastische Vision eines menschlich herbeigeführten Umbruchs, die Initiation einer neuen kulturellen und politischen Reife, wird durch ein Politikkonzept ersetzt, das en détail weiterhin um konkrete Inhalte kämpft. Dabei bleibt die ganzheitlich imaginierte Staatsrenaissance zwar als hoffnungsvoller Fluchtpunkt erhalten, verliert aber den Nimbus einer konkreten Zukunftserwartung. Insofern ändert diese neue Zeitqualität kaum etwas an Arnims politischem Engagement,12 das sich - nun eben unter geduldig-resignativen Vorzeichen - weiterhin innerweltliche Bahn zu brechen versucht. 10

11

12

Koselleck, >Erfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< - zwei historische Kategorien, S. 363. Obwohl Arnims Konzept von >Machbarkeit< immer auf der komplexen Verschachtelung von menschlicher Erfüllung und göttlichem Willen basiert, verringert sich für ihn mit den Erfahrungen im Vorfeld der Restauration die Möglichkeit der menschlichen Teilnahme. Vgl. dazu Knaack, Nicht nur ein Poet, S. 42-76.

376

Die für diese Interpretation entscheidende, sich vom Wintergarten bis hin zu den Kronenwächtern verschiebende Verwendung des Motivs >Krieg< läßt sich dabei erst unter der Verknüpfung des utopischen Inhalts, seiner Form (die ästhetische Präsentation und ihre Negation) und dem Rekurs auf die mit den Utopien vermittelte Vorstellung von Machbarkeit erkennen, in denen er von der Handlungsanweisung im Wintergarten über eine Negation der innerweltlich handhabbaren Möglichkeiten zur Chiffre einer vergangenen Zeit wird, in der eben diese Möglichkeiten noch bestanden. Der ausbleibende Krieg - in den Kronenwächtern ein Signum der Restaurationszeit - ist im Gegensatz zu den Anleihen an den kontemporär-semantischen Feldern zugleich eine reine, persönliche Konstruktion und Zeitanalyse Arnims. Krieg wird dabei nicht zum Synonym für Modernisierung, sondern zum Zeichen einer möglichen, d. h. gestaltbaren Wandlung. Die Wiedereinsetzung alter, inadäquater politischer Systeme unterbricht in Arnims Augen den utopischen Sprung der Welt und konfrontiert den Einzelnen mit den unübersehbaren Folgen der Funktionalisierung. Aus der Momentaufnahme einer Welt im möglichen Ubersprung wird das Panorama einer zersprungenen, entzauberten und nivellierten Welt.13 Auch die Utopie des Ästhetischen verabschiedet sich zunächst - auf die zeitgenössischen Rahmenbedingungen verweisend - von einer konkreten politischen Wirksamkeit. So schreibt Arnim am 3. August 1815 an Brentano: Du erneust unser altes Projekt mit der Volksbuchhandlung, damals hatte ich viel mehr Zutrauen zu der Einsicht der Regierungen, das schwindet mir immer mehr und ich sehe von der Seite nur Hindernisse, aber keine Unterstützung [...] Und wenn ich da von Dir höre, wie meine Befreiung von Wesel, die auf so manches Zeitinteresse anspielt, in Breslau so gleichgültig aufgenommen ist, so machts mir wenig Lust, mich einem Schauspielpublico anzuvertrauen mit A r beiten, die noch weniger von Theatergewohnheiten an sich tragen. Vielleicht kommt eine bessre Zeit, die einem die Lust wiederbringt, für sie thätig zu seyn, in diesem Augenblicke

scheint die ganze Welt abgerichtet,

Resultat hervorzubringen,

und was darin zerstreuen

ein grosses

politisches

könnte bringt keinen

derlichen Segen. Vielleicht kommt eine Zeit, wo sich die Leute nach allem muth und vielen großen Thaten dennoch etwas leer fühlen Kunst wieder hervortreten.

13

sonEdel-

und dann mag die

(Schultz, II, 719, Hervorhebung von C . N . )

»Wie reich erfüllt war damals die Welt ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie jetzt geworden!« Achim von Arnim: Die Majorats-Herren. In: Arnim, Werke, Bd. 4, S. 107. 377

Damit wird aber eine grundlegende Utopie des Ästhetischen'4 keineswegs aufgegeben, sondern - das zeigen die zahlreichen Texte, Erzählungen und Novellen, die sich selbstbewußt mit ästhetischen und poetologischen Fragen beschäftigen - im Rückzug auf das eigene Feld anders nuanciert. Die Kronenwächter verweisen auf die zeitgemäße Alternative, die sich in Bohrers Sinne - auf den ästhetischen >Glanz< der Utopie und subjektive Rezeptionsprozesse konzentriert. Wie im Schlußbericht des Landhauslebens angedeutet, erscheint die Kunst als eigenständiger Bereich, in dessen »heitere« Sphären ein Rückzug nunmehr legitim und sinnvoll erscheint. Das Landhaus liegt zwar in der Nähe der »Hauptstadt«, beweist aber in seiner öffentlichen Heimlichkeit zugleich eine zeitlose Autonomie. Die initiatorische Eintrittsbedingung in das als literarisches Exil gekennzeichnete Landhausleben, »daß sie [die Einwohner des verborgenen Ländchens] nicht hinaustrachteten« (LL 721), wendet sich damit auch gegen Mitgestaltungsanspruch des Wintergartens. Wenn die Kronenwächter in diesem Sinne - statt einer ästhetisch vermittelten Gesellschaftsutopie eine autothematische ästhetische Utopie im Vertrauen auf eine kommende Kunst formulieren, wird auf diese Weise deutlich, daß sich zwar die Funktion, nicht aber die generelle Wertigkeit von Kunst in den kontemporären Umwertungsprozessen verschiebt.

14

In diesem Sinne knüpft A r n i m in der Rede v o r der Tischgesellschaft am 18. Januar 1 8 1 5 mit einem Hölderlin-Zitat noch einmal spielerisch-grundsätzlich an die früheren Postulate an: » W o ein V o l k das Schöne liebt, w o es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht wie Lebensluft ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt und f r o m m und groß sind alle Herzen, und Helden gebiert die Begeisterung.« (Arnim V I , 4 8 5 ; vgl. auch 4 9 5 )

378

X.

Literaturverzeichnis

ι.

Verwendete Abkürzungen

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379

SC: Thomas Lirer: Schwäbische Chronik. Hrsg. von Peter Hans Pascher, Klagenfurt 1979. Schultz, I: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. 2 Bde. Hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a.M. 1998. Bd. 1. Schultz, II: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. 2 Bde. Hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a.M. 1998. Bd. 2. Steig I: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Erster Band. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1894. Steig II: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Zweiter Band. Achim von Arnim und Bettine Brentano. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1913. Steig III: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Dritter Band. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1904. TI: Achim von Arnim: Der Tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. In: Α. ν. Α.: Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Renate Moering, Frankfurt a.M. 1992. U A : Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: J. W. v. G.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. Bd. 6, München 1988. Vordtriede: Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel von Achim von Arnim und Bettina Brentano. Hrsg. von Werner Vordtriede. 2 Bde, Frankfurt a.M. 1988. WG: Achim von Arnim: Der Wintergarten. In: A . v . Α.: Werke in sechs Bänden. Sämtliche Erzählungen 1802-1817. Hrsg. von Renate Moering. Bd. 3, Frankfurt a.M. 1990. WH: Achim von Arnim: Von Volksliedern. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Hrsg. von Heinz Rölleke. Bd. 6, Stuttgart 1975. I: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980. III: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989.

2.

Primärliteratur

Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel von Achim von Arnim und Bettina Brentano. Hrsg. von Werner Vordtriede. 2 Bde, Frankfurt a.M. 1988. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. 2 Bde. Hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a.M. 1998. Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Erster Band. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1894. Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Zweiter Band. Achim von Arnim und Bettine Brentano. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1913. Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Herausgegeben von Reinhold Steig und Herman Grimm. Dritter Band. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart 1904. 380

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