Die Metaphysische Deduktion der Kategorien ist eines der zentralen und bis heute am wenigsten verstandenen Argumente in
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German Pages 430 [429] Year 2021
Till Hoeppner Urteil und Anschauung
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 143
Till Hoeppner
Urteil und Anschauung Kants metaphysische Deduktion der Kategorien
Gefördert von der VolkswagenStiftung
ISBN 978-3-11-055627-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055737-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055642-1 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2020951831 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meinen Eltern, ohne die
Vorwort Diese Untersuchung ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Kants Metaphysischer Deduktion der Kategorien von mittlerweile mehr als zwölf Jahren. Begonnen habe ich sie mit einer Hausarbeit über Kants Begriff der Funktion, die ich zu einem Seminar geschrieben habe, das Rolf-Peter Horstmann im Sommersemester 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin angeboten hat. Zu diesem Thema habe ich dort dann im Sommersemester 2009 auch meine Magisterarbeit eingereicht, die erneut von Rolf-Peter Horstmann und nun auch von Johannes Haag begutachtet wurde. Einige Jahre später, im Sommer 2015, habe ich an der Universität Potsdam dann meine Dissertation – einen Kommentar zur Metaphysischen Deduktion – verteidigt, ebenfalls betreut von Johannes Haag und Rolf-Peter Horstmann, wenn auch in nun vertauschten Rollen. Die Untersuchung, wie sie hier vorliegt, habe ich vor dem Hintergrund dieser Forschungen schließlich in der Zeit von Oktober 2018 bis November 2020 in Chicago und Berlin aufgeschrieben. Ich verstehe die vorliegende Untersuchung als eine argumentative Rekonstruktion von Kants Text. Der Text, den ich rekonstruiere, ist der „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ auf A 64 bis 83 / B 89 bis 113 der Kritik der reinen Vernunft in ihren beiden Auflagen von 1781 (A) und 1787 (B). Zudem ziehe ich andere, für ein Verständnis der Überlegungen in diesem Kapitel erforderliche oder zumindest erhellende Textstellen aus der Kritik heran; aus Schriften, die Kant nach der Kritik geschrieben hat; sowie schließlich aus Kants Nachlass-Notizen und aus Nachschriften zu seinen Vorlesungen jeweils seit der Entstehungszeit der Kritik. Von entscheidender Bedeutung sind dabei vor allem vier weitere Passagen der Kritik selbst: i) die rückblickende Beschreibung der Aufgabe der Metaphysischen Deduktion auf B 159, ii) die rückblickende Beschreibung des Vorgehens im „Leitfaden“ auf A 299/B 355 f., iii) der Abschnitt „Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“ auf A 95 bis 110 der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage und schließlich iv) die §§ 15 bis 21 auf B 128 bis 148 der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in der zweiten Auflage der Kritik. Ich glaube, dass sich vor dem Hintergrund einer umfassenden und detaillierten Analyse des „Leitfadens“, bei Hinzuziehung verwandter Stellen aus dem umgrenzten Textbestand und nicht zuletzt bei Berücksichtigung des Verhältnisses des „Leitfadens“ zu den genannten vier Passagen der Kritik eine Interpretation https://doi.org/10.1515/9783110557374-202
VIII
Vorwort
der Metaphysischen Deduktion nahelegt, die sich nur schwer bestreiten lässt, sobald diese Texte einmal gemeinsam betrachtet und auf eine bestimmte Weise zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei hoffe ich, dass meine durchgehend wohlwollende, argumentative Rekonstruktion dazu beitragen kann, auch die philosophische Überzeugungskraft der Position Kants deutlich zu machen. Wer nach einer Kurzfassung der hier entwickelten Interpretation sucht, findet sie im ersten Teil meines Aufsatzes „Kant’s Metaphysical and Transcendental Deductions. Tasks, Steps and Claims of Identity“. Eine kurze Zusammenfassung gebe ich jeweils am Ende der Kapitel dieser Untersuchung, gefolgt von einigen ausgewählten Anmerkungen zur Forschung, die ich zudem in Fußnoten diskutiere. Die Literatur zum Thema habe ich hier insoweit berücksichtigt – sei es zur unterstützenden Bestätigung oder in kritischer Abgrenzung –, als es mir für die Rekonstruktion der Metaphysischen Deduktion erhellend erschien, das zu tun. Zwei besonders wichtigen Beiträgen zum Thema, den Interpretationen zentraler Passagen des „Leitfadens“ durch Béatrice Longuenesse und Michael Wolff, sind eigene, längere Anhänge gewidmet. Ohne die interessierte, wohlwollende und kritische Unterstützung durch Kolleg*innen und Freund*innen über die Jahre hätte ich die hier vertretene Position nie entwickeln können. Von besonderer Bedeutung für mich waren dabei James Conant, Dina Emundts, Eckart Förster, Stefanie Grüne, Johannes Haag, Rolf-Peter Horstmann, Moreno Rocchi, Daniel Smyth, Barry Stroud und Bernhard Thöle. Ihnen allen danke ich sehr herzlich. Für Kommentare zum Manuskript danke ich Adem Mulamustafić, der es als Ganzes gelesen hat, und Moreno Rocchi, Daniel Smyth, Bernhard Thöle und Joachim Toenges-Hinn, die jeweils Teile gelesen haben. Für die Auseinandersetzung über Themen dieser Untersuchung danke ich darüber hinaus Lucy Allais, Henry E. Allison, Karl Ameriks, Bianca Ancillotti, Ralf Bader, Christian Barth, Manfred Baum, Peter Baumann, Sebastian Bender, Julia Borcherding, Matthew Boyle, Reinhard Brandt, Jochen Briesen, Sebastian Bürkle, Andrew Chignell, Luca Corti, Corey W. Dyck, Nadja El Kassar, Stephen Engstrom, Paul Franks, Eli Friedlander, Jens Gillessen, Logi Gunnarsson, Simon Gurofsky, Jonas Held, Till Hopfe, Daniel James, Toni Kannisto, Andrea Kern, Heiner Klemme, Anton Friedrich Koch, Karen Koch, Nicholas Koziolek, HansPeter Krüger, Amy Levine, Lena Ljucovic, Béatrice Longuenesse, Niklas Lutterbach, Colin McLear, Joshua Mendelsohn, Adem Mulamustafić, Alexandra Newton, Tyke Nunez, Michael Oberst, James O’Shea, Dominik Perler, Adrian Piper, Robert Pippin, Konstantin Pollok, Bernd Prien, Sebastian Rödl, Tobias Rosefeldt, Timothy Rosenkoetter, Paolo Rubini, Santiago Sanchez, Marco Santi, Oliver Schliemann, Ulrich Schlösser, Ryan Simonelli, Houston Smit, Nicholas Stang, Andrew Stephenson, Daniel Sutherland, Jana Thesing, Brendan Theunissen,
Vorwort
IX
Jessica Tizzard, Joachim Toenges-Hinn, Clinton Tolley, Konrad Vorderobermeier und Michael Wolff. Auch ohne das Glück vielfältiger und großzügiger Unterstützung meiner akademischen Arbeit hätte ich diese Untersuchung wohl nicht verfasst. Der VolkswagenStiftung schulde ich Dank für die (erneute) Förderung meiner Forschung, die es mir ermöglicht hat, mich von März 2018 bis März 2019 an der Universität Chicago aufzuhalten, wo ich dann auch damit begonnen habe, die vorliegende Untersuchung aufzuschreiben. (In diesem Zusammenhang hat die Stiftung dankenswerterweise auch den Druckkostenzuschuss für dieses Buch übernommen.) Ebenso bin ich James Conant und dem Forschungskolleg für Analytischen Deutschen Idealismus an der Universität Leipzig für die (ebenfalls erneute) Verleihung eines Forschungsstipendiums für das Sommersemester 2019 zu Dank verpflichtet. Schließlich danke ich Johannes Haag und dem Institut für Philosophie an der Universität Potsdam ganz herzlich dafür, mir für das akademische Jahr von Sommer 2020 bis Winter 2020/21 die Vertretung der Professur für Philosophie des Geistes und Philosophische Anthropologie anvertraut zu haben, die ich nun zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Untersuchung innehabe. Für die Geduld und Mühe bei der Erstellung und Korrektur des Manuskripts danke ich Mara Weber beim Verlag de Gruyter und David Jüngst bei Integra Software Services. Meinen Eltern ist diese Untersuchung gewidmet.
Inhaltsverzeichnis Vorwort Siglen
VII XV
Abbildungsverzeichnis 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1
XVII
Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion 1 Was ist die Metaphysische Deduktion der Kategorien? 1 Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion: Der apriorische Ursprung der Kategorien 2 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion: Logische Funktionen, Kategorien und apriorischer Ursprung 13 Metaphysische und Transzendentale Deduktion der Kategorien 21 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung 27 Die Kategorien als reine, intellektuelle und elementare Begriffe 30 Die Methode der Entdeckung und der Anspruch auf Vollständigkeit 51 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung (Horstmann, Reich, Krüger) 63 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes, die Einheit des Urteils und die Funktionen des Denkens 70 Diskursiver Verstand 70 Der logische Gebrauch des Verstandes: Die Analyse von Repräsentationen und die Unterordnung unter Begriffe 76 Begriffe und Funktionen 76 Der Begriff der Funktion (I): Akte der Repräsentation 80 Die Akte der Begriffsbildung: Komparation, Reflexion und Abstraktion 82 Der Begriff der Funktion (II): Kollektive Einheiten von Teilakten 92 Die logischen Funktionen des Denkens 96 Die Mittelbarkeit von Begriffen: Die Urteils- und Anschauungsthese 96
XII
2.3.2 2.3.3
2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.4
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4
4
4.1 4.1.1
Inhaltsverzeichnis
Die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils Die Begründung der vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils aus der Mittelbarkeit von Begriffen 110 Die logischen Funktionen des Verstandes: Die Zurückführbarkeits- und Prädikationsthese 117 Die Tafel logischer Funktionen: Die Titel 127 Die Tafel logischer Funktionen: Die Momente 135 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff (und ihrer Kritik durch Bernhard Thöle) 161
105
Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes, die Einheit der Anschauung und die Inhalte der Kategorien 176 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung 177 Vom logischen zum realen Gebrauch des Verstandes 178 Die Rezeptivität des realen Gebrauchs: Die Gegebenheitsthese 182 Die Spontaneität des realen Gebrauchs: Die Synthesisthese 194 Die realen Funktionen der Synthesis der Anschauung 211 Die Aufgabe der Synthesis der Anschauung 211 Die Akte der Synthesis der Anschauung: Apprehension, Reproduktion und Rekognition sinnlicher Eindrücke 216 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien 245 Die Synthesis der Anschauung als der Inhalt der Kategorien 245 Die Tafel der Kategorien: Die Titel 268 Die Tafel der Kategorien: Die Momente 292 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung (Heimsoeth, Sellars, Engstrom) 322 Der dritte Schritt: Der höhere Begriff des Verstandes, die Identität der Funktion und der apriorische Ursprung der Kategorien 336 „Dieselbe Funktion“ und also „Derselbe Verstand“ 338 Die Identität der Funktion und der apriorische Ursprung der Kategorien: Die Identitäts- und Aprioritätsthese 338
Inhaltsverzeichnis
4.1.2
4.2
Die Identitätsthese als die Behauptung der generischen Identität von Urteil und Synthesis der Anschauung und die Aprioritätsthese als Konsequenz der Identitätsthese 348 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Béatrice Longuenesse 365
Anhang. Der rekonstruierte Text: Die argumentativen Abschnitte des „Leitfadens“ 375 Literaturverzeichnis Namensregister Sachregister
381 387
389
Stellenkonkordanz
401
XIII
Siglen AA Anth Br EEKU FM IaG KpV KrV KU Log MAN MS MSI PhilEnz Prol Refl ÜE VAProl V-Lo/Blomberg V-Lo/Busolt V-Lo/Dohna V-Lo/Philippi V-Lo/Pölitz V-Lo/Wiener V-MP/Arnoldt V-MP/Dohna V-MP/Heinze V-MP-K2/Heinze V-MP-K3/Arnoldt V-MP-L1/Pölitz V-MP-L2/Pölitz V-MP/Mron V-MP/Schön V-MP/Volckmann V-MS/Vigil V-Phil-Th/Pölitz V-Th/Volckmann WDO
Akademie-Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07) Briefe (AA 10-13) Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (AA 20) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA 20) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 08) Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) Kritik der reinen Vernunft (zitiert nach Originalpaginierung A/B) Kritik der Urteilskraft (AA 05) Logik (AA 09) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (AA 04) Die Metaphysik der Sitten (AA 06) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA 02) Philosophische Enzyklopädie (AA 29) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) Reflexionen (AA 14-19) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (AA 08) Vorarbeit zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 23) Logik Blomberg (AA 24) Logik Busolt (AA 24) Logik Dohna-Wundlacken (AA 24) Logik Philippi (AA 24) Logik Pölitz (AA 24) Wiener Logik (AA 24) Metaphysik Arnoldt (K 3) (AA 29) Kant Metaphysik Dohna (AA 28) Kant Metaphysik L1 (Heinze) (AA 28) Kant Metaphysik K2 (Heinze, Schlapp) (AA 28) Kant Metaphysik K3 (Arnoldt, Schlapp) (AA 28) Kant Metaphysik L1 (Pölitz) (AA 28) Kant Metaphysik L2 (Pölitz, Original) (AA 28) Metaphysik Mrongovius (AA 29) Metaphysik von Schön, Ontologie (AA 28) Metaphysik Volckmann (AA 28) Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA 27) Philosophische Religionslehre nach Pölitz (AA 28) Natürliche Theologie Volckmann nach Baumbach (AA 28) Was heißt sich im Denken orientieren? (AA 08)
https://doi.org/10.1515/9783110557374-204
Abbildungsverzeichnis Arten von Begriffen anhand ihrer Inhalte 12 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion (a) 18 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion (b) 65 Die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils nach [12] bis [15] 109 Der mittelbare Bezug von Begriffen auf Gegenstände 112 Vermittelnde Ketten von Urteilen 123 Die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils als die vier Titel der Tafel logischer Funktionen 128, 163 Die Titel und Momente der Tafel logischer Funktionen 164 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion (c) 206 Voraussetzungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Arten von Repräsentationen, repräsentationalen Akten und ihren Anwendungsbereichen 209 Akt, Inhalt und Gegenstand in der dreifachen Synthesis sinnlicher Anschauung 242 Die Erkenntnis durch Begriffe 245 Arten gegebener Begriffe, ihre Inhalte und ihre Bildung: Empirische Begriffe und Kategorien 256 Die Bildung von Begriffen anhand der Synthesis sinnlicher Anschauung: Empirische Begriffe, Mathematische Begriffe und Kategorien 265 Die vier grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung als die (Inhalte der) vier Titel der Kategorientafel 273, 325 Die Titel und Momente der Kategorientafel 326 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion (d) 337 Bedingungen und Resultate auf A 79/B 104 f. ([45], [46]) 344 Der allgemeine Aufbau von A 79/B 104 f. ([45], [46]) (a) 347 Der allgemeine Aufbau von A 79/B 104 f. ([45], [46]) (b) 352 Die vier generischen repräsentationalen Fähigkeiten und Akte des diskursiven Verstandes 362 Der allgemeine Aufbau von A 79/B 104 f. ([45], [46]) (c) 366 Bedingungen und Resultate auf A 79/B 104 f. ([45], [46]) nach Béatrice Longuenesse 370 Der identische Aufbau der Sätze [45] und [46] auf A 79/B 104 f. 371
https://doi.org/10.1515/9783110557374-205
1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion 1.1 Was ist die Metaphysische Deduktion der Kategorien? Kant verwendet die Bezeichnung einer Metaphysischen Deduktion der Kategorien (Metaphysische Deduktion) nur an einer Stelle aller Texte, die wir von ihm haben.1 Die Passage der Kritik der reinen Vernunft (Kritik), in der er das tut, ist Teil der Transzendentalen Deduktion der Kategorien (Transzendentale Deduktion), wie Kant sie in der zweiten Auflage der Kritik entwickelt (B-Deduktion). Sie enthält u. a. eine rückblickende Beschreibung der Metaphysischen Deduktion: In der metaphysischen Deduktion wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan, in der transzendentalen aber die Möglichkeit derselben als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt (§§ 20, 21) dargestellt. (B 159)
Kant beschreibt hier i) was in der Metaphysischen Deduktion nachgewiesen wurde: „der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt“; ii) wodurch der apriorische Ursprung der Kategorien nachgewiesen wurde: „durch ihre [der Kategorien] völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“;
1 Einige der hier entwickelten Überlegungen habe ich bereits in meinen frühen Versuchen Hoeppner (2011) und (2012) angedeutet. Eine zusammenfassende Darstellung der Rekonstruktion der Metaphysischen Deduktion, wie ich sie hier entwickle, gebe ich im ersten Teil von Hoeppner (2021). In einige der grundlegenden Begriffe von Kants theoretischer Philosophie habe ich im Kleinen Kant-Lexikon eingeführt. Siehe dafür die Artikel zu Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, Amphibolie, Ding an sich und Erscheinung, Erkenntnis, Intelligible Welt und Sinnenwelt, Kategorie, Kategorientafel, Rezeptivität und Spontaneität, Synthesis, Urteil, Urteilstafel und Verstand in Berger/Schmidt (Hrsg.) (2018). – Kants Orthographie (und auch die der Vorlesungsnachschriften) habe ich durchgehend modernisiert. Zusätze in eckigen Klammern sind von mir (in normal: vervollständigende Zusätze; in kursiv: erläuternde Zusätze). – Die Kritik der reinen Vernunft wird nach den Originalauflagen Riga 1781 (A) und 1787 (B) zitiert, die übrigen Texte Kants und die Vorlesungsnachschriften nach der AkademieAusgabe (AA), Berlin 1900 ff. – Die jeweils genannte Datierung der Notizen ist die von Erich Adickes (siehe AA XIV: XVII–LXII). – Verweise auf Fußnoten (Fn.) durch die Präposition ‚an‘ beziehen sich auf den Text, dem sie angehängt sind; Verweise auf Fn. durch die Präposition ‚in‘ beziehen sich auf den Text in den Fn. selbst. – Doppelte Anführungsstriche („“) verwende ich für wörtliche Zitate, einzelne (‚‘) für sinngemäße Zitate oder sprachliche Ausdrücke. https://doi.org/10.1515/9783110557374-001
2
iii)
1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
was in der Transzendentalen Deduktion (bis §§ 20, 21) nachgewiesen wurde: „die Möglichkeit derselben [der Kategorien] als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt“.
Im Ausgang von B 159 werde ich in diesem einleitenden ersten Kapitel i) in die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion einführen (1.1.1), ii) die argumentativen Schritte der Metaphysischen Deduktion unterscheiden (1.1.2) und iii) das Verhältnis der Metaphysischen zur Transzendentalen Deduktion erläutern (1.1.3).
1.1.1 Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion: Der apriorische Ursprung der Kategorien Kants Kategorien, wie z. B. die Begriffe der Einheit, der Realität, der Substanz oder der Ursache, sollen Begriffe sein, ohne die uns das Denken von Gegenständen nicht möglich wäre. Die Aufgabe ihrer Metaphysischen Deduktion besteht dabei darin, so Kant auf B 159, ihren „Ursprung a priori“ nachzuweisen. Kant will zeigen, dass es Begriffe gibt, die eine bestimmte Art von ‚Ursprung‘ haben: einen ‚Ursprung a priori‘, wie er ihn nennt.2 Wenn Kant nach dem Ursprung von Begriffen fragt, dann fragt er danach, woher die Inhalte unserer Begriffe stammen. Unter dem Inhalt eines Begriffs versteht er dabei, in erster Annäherung, die repräsentationale Beziehung, die der Begriff zu seinen Gegenständen hat. Der Inhalt einer Repräsentation oder Erkenntnis, so Kant, ist ihre „Beziehung auf ihr Objekt“ (A 58/B 83).3 Wie können wir uns verständlich machen, dass unsere Begriffe die Inhalte haben, die sie haben, dass sie sich also auf die Gegenstände beziehen, auf die sie sich beziehen? Kant schreibt es John Locke zu, in seinem Essay Concerning Human Understanding von 1689 die Frage nach dem Ursprung von Begriffsinhalten zuerst formuliert zu haben: Locke hat den allerwesentlichsten Schritt getan, dem Verstand Wege zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophiert subjektiv, da Wolff und alle vor ihm objektiv philosophierten. Er hat die Genesis, die Abstammung und den Ursprung der Begriffe
2 Er hat dort, so Kant rückblickend, den „Ursprung von reinen Begriffen a priori“ (A 320/B 377) bzw. den „Ursprung der Kategorien“ (Prol, AA IV: 330) im Verstand nachgewiesen. Er hat „bewies[en], dass sie [die Kategorien] nicht empirischen Ursprungs sind, sondern a priori im reinen Verstande ihren Sitz und Quelle haben“ (KpV, AA V: 141). 3 Siehe A 55/B 79 („Inhalt der Erkenntnis, d. i. [...] Beziehung derselben auf das Objekt“), A 62 f./ B 87 („Inhalt [...], d. i. [...] Beziehung auf irgendein Objekt“).
1.1 Was ist die Metaphysische Deduktion der Kategorien?
3
untersucht. Seine Logik ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolff fragt: was ist ein Geist? Locke: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?4 (V-Lo/Philippi, AA XXIV: 338)
Während die metaphysische Tradition, als deren Vertreter hier Christian Wolff angeführt wird, nach der Natur der Gegenstände unserer Begriffe fragt (z. B.: „was ist ein Geist?“), geht es Locke (zunächst) darum, so Kant, den Ursprung unserer Begriffe zu verstehen (z. B.: „wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her?“). Wie kommt es, dass wir über die Begriffe verfügen, durch die wir Gegenstände denken, und woher haben diese Begriffe die Inhalte, die sie haben? Mit der Formulierung dieser Frage hat Locke „den allerwesentlichsten Schritt getan, dem Verstand Wege zu bahnen“, so Kant, da ihre Beantwortung eine Untersuchung des Vermögens erfordert, durch das wir Gegenstände denken, d. h. eine Untersuchung des Verstandes selbst. Allein wenn im Anschluss an Locke („subjektiv“) untersucht wird, woher wir unsere Begriffe und diese ihre Inhalte haben, ist das philosophische Vorgehen kritisch und nicht dogmatisch: erst wenn beantwortet ist, woher wir unsere Begriffe und diese ihre Inhalte haben, kann die Frage behandelt werden, ob ihnen auch tatsächlich Gegenstände entsprechen („objektiv“) – das ist, in erster Annäherung, die Frage der Transzendentalen Deduktion – und was als die Natur dieser Gegenstände anzusehen ist.5 Für Kant gibt es nun drei mögliche Antworten auf die Lockesche Frage nach dem Ursprung von Begriffsinhalten: die Inhalte unserer Begriffe stammen entweder aus der Erfahrung von Gegenständen (a), aus dem Verstand selbst (b) oder aber sie werden willentlich von uns hervorgebracht (c).6 Die Inhalte empirischer Begriffe, wie z. B. der Inhalt des Begriffs des Baumes, entspringen in der Erfahrung von Gegenständen, in sinnlichen Wahrnehmungen, die wir von spezifischen Gegenständen haben (a). Der Begriff des Baumes z. B. handelt von Bäumen, da er auf sinnlichen Wahrnehmungen von Bäumen beruht.7 Nicht so die Inhalte der Kategorien. Die Frage nach dem Ursprung begrifflicher Inhalte
4 Vgl. V-Lo/Philippi, AA XXIV: 335; V-Lo/Dohna, AA XXIV: 701. So sagt es Locke selbst: „[...] I shall enquire into the Original of those Ideas, Notions, [...] which a Man observes, and is conscious to himself he has in his Mind; and the ways whereby the Understanding comes to be furnished with them.“ (Locke (1689), § 3: 44) „[...] ’tis past doubt, that Men have in their Minds several Ideas [...]: It is in the first place then to be enquired, How he comes by them?“ (Locke (1689), § 1: 104) 5 Zum Begriff kritischer im Unterschied zu dogmatischer Metaphysik siehe Haag/Hoeppner (2019), Teil 1. 6 „Der Ursprung der Begriffe wird in der Metaphysik betrachtet und ist entweder empirisch oder willkürlich oder intellektuell.“ (Refl 2851, 1769–75, AA XVI: 546) Vgl. A 729/B 757; Log, AA IX: 94; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914. 7 Siehe A 84 f./B 116 f.
4
1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
stellt sich insbesondere bei solchen Begriffen, mit denen wir zwar beanspruchen, Gegenstände zu denken, bei denen aber in den sinnlichen Wahrnehmungen, die wir von Gegenständen haben, nichts angetroffen wird, das ihnen entspricht.8 Dem Begriff der Substanz z. B. entsprechen keine wahrnehmbaren Charakteristika an den Gegenständen unserer Erfahrung. Wie kann er dennoch einen Inhalt haben und sich auf Gegenstände beziehen? Wie können wir uns also den Ursprung eines Begriffsinhalts verständlich machen, „sofern er nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann“ (A 56/ B 80)? Die Kategorien sollen einen repräsentationalen Inhalt haben, sich also auf Gegenstände beziehen, ohne dass diese Beziehung in irgendeiner Weise auf diese Gegenstände zurückgeht. Wie ist das möglich? An einer Stelle der Fortschritte sagt Kant nun von den Kategorien, dass sie, ohne von der Erfahrung abgeleitet zu sein, mithin a priori, im reinen Verstande ihren Ursprung haben […].9 (AA XX: 318)
Einen apriorischen Ursprung zu haben heißt demnach, nicht, wie empirische Begriffe, aus der Erfahrung von Gegenständen zu stammen (a), sondern vielmehr gerade unabhängig von sinnlichen Wahrnehmungen spezifischer Gegenstände aus dem reinen Verstand selbst (b). Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion, den apriorischen Ursprung der Kategorien nachzuweisen, besteht dann in erster Annäherung darin, ihre Inhalte in der Natur des Verstandes als unserem „Vermögen zu denken“ (A 69/B 94, A 81/B 106, A 126) zu finden.10 Die Inhalte der Begriffe, ohne die uns ein Denken von Gegenständen nicht möglich ist, so Kant, werden in der Natur des Vermögens begründet sein, durch das wir Gegenstände denken. Die Schwierigkeit hierbei ist nun nicht, zu der Einsicht zu gelangen, dass bestimmte Begriffe, wie z. B. der Begriff der Substanz, als nicht-empirische Begriffe zu betrachten sind, als Begriffe also, die nicht aus der Erfahrung von Gegenständen stammen. Dafür ist es nämlich hinreichend, dass diesen Begriffen keine wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände unserer Erfahrung zugrunde liegen. Das unterscheidet sie zwar von empirischen Begriffen, wie z. B. vom Begriff des Baumes, dem die Möglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung von Stämmen, Ästen, Blättern usw. und damit die Möglichkeit der Wahrnehmung von Bäumen entspricht. In der Natur des Verstandes entspringen Begriffe
8 „[R]eine Verstandesbegriffe [...] können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. [...] da doch niemand sagen wird: diese [Kategorie], z. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung enthalten“ (A 137 f./B 176 f.). 9 Sie haben „ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstande“ (Prol, AA IV: 297). Siehe in Fn. 2. Vgl. B 5 f.; KpV, AA V: 136; ÜE, AA VIII: 215. 10 So auch Paton (1936), Bd. 1: 240; Longuenesse (1998b): 132; Allison (2015): 166.
1.1 Was ist die Metaphysische Deduktion der Kategorien?
5
aber nicht schon dadurch, dass sie nicht auf der Erfahrung von Gegenständen beruhen. In bloß negativer Betrachtung sind nämlich alle Begriffe nicht-empirisch, die nicht auf die Erfahrung von Gegenständen zurückgehen. Aber nicht alle diese Begriffe können auch positiv als Begriffe a priori betrachtet werden, die ihren Ursprung in der Natur des Verstandes haben. Nicht-empirische Begriffe können schließlich auch in dem Sinne auf den Verstand zurückgehen, dass sie willentlich von uns hervorgebracht werden (c). Kant nennt solche Begriffe „willkürlich gedachte“ (A 729/B 757) Begriffe, von denen gilt, dass sie „vorsätzlich gemacht“ (A 729/B 757) werden. Wie der Begriff der Substanz stammen so z. B. auch die Begriffe von Schicksal und Glück nicht aus der Erfahrung von Gegenständen, entsprechen ihnen doch ebenso wenig wahrnehmbare Eigenschaften an Gegenständen unserer Erfahrung.11 Dennoch gehen diese Begriffe in einem anderen Sinne auf den Verstand zurück als es der Begriff der Substanz tut. Der Begriff des Schicksals z. B. wird hervorgebracht durch eine willkürliche Zusammenfügung der Begriffe der Blindheit und der Notwendigkeit im Begriff blinder, d. h. gesetzloser, Notwendigkeit.12 Dem auf diese Weise zusammengesetzten Begriff entspricht nun aber weder in der Natur des Verstandes noch in der Erfahrung von Gegenständen eine von unserem Willen unabhängige Bestimmung: ein solcher Begriff ist „mir weder durch die Natur des Verstandes noch durch die Erfahrung gegeben worden“ (A 729/B 757). Er ist kein ‚gegebener‘, wie Kant es nennt, sondern vielmehr ein ‚gemachter‘ Begriff. „Ein Begriff ist gegeben, sofern er nicht aus meiner Willkür entspringt.“ (V-Lo/ Wiener, AA XXIV: 914) Begriffe sind demnach genau dann gegebene Begriffe, wenn ihren Inhalten auch tatsächlich Bestimmungen entsprechen, die nicht durch willentliche Zusammensetzung von uns hervorgebracht werden, die also „nicht von unserer Willkür abhängen“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 571). Eine solche Bestimmung ist dabei entweder eine Bestimmung in der Erfahrung von Gegenständen (a) oder aber eine Bestimmung in der Natur des Verstandes (b). Zum Beispiel ist der Inhalt des empirischen Begriffs von Metall ‚a posteriori gegeben‘, da ihm mögliche Wahrnehmungen von Metallen entsprechen und damit eben von unserem Willen unabhängige Bestimmungen in der Erfahrung von Gegenständen;13 der Inhalt des Begriffs der Kausalität hingegen ist ‚a priori gegeben‘, wenn er seinen Ursprung in der Natur des Verstandes selbst hat, d. h. wenn es ihm entsprechende
11 Siehe A 84 f./B 116 f. 12 Siehe V-MP/Mron, AA XXIX: 926; V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 199 f. 13 „Alle unsere Begriffe sind entweder gegeben oder gemacht. Gegeben sind die, die nicht von unserer Willkür abhängen, entweder bloß in meinem Verstande a priori oder in der Erfahrung a posteriori. Der Begriff von Metall ist a posteriori gegeben, der Begriff von Ursache und Wirkung aber a priori.“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 571)
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
und von unserem Willen unabhängige Bestimmungen in der Natur des Verstandes gibt (das nachzuweisen ist eine Aufgabe der Metaphysischen Deduktion);14 der Begriff des Schicksals schließlich ist ein gemachter und, wie Kant ihn auch nennt, ‚usurpierter‘ Begriff, dem weder in der Erfahrung von Gegenständen noch im Verstand selbst eine von unserem Willen unabhängige Bestimmung entspricht oder entsprechen kann.15 So ist der Begriff des Schicksals auf eine Weise zusammengesetzt, dass ihm noch nicht einmal etwas in der Sache entsprechen kann, die er repräsentieren soll.16 Als solcher ist er nun aber von anderen, ebenfalls willentlich zusammengesetzten Begriffsinhalten zu unterscheiden, die zum Zweck wissenschaftlicher Erkenntnis ‚willkürlich gedacht‘ oder ‚vorsätzlich gemacht‘ werden und denen möglicherweise tatsächlich etwas in der Sache entspricht. Hier ist an in der Mathematik a priori konstruierte oder in der Naturwissenschaft a posteriori eingeführte Begriffe zu denken, die – so der Anspruch ihrer Konstruktion oder Einführung – die Natur mathematischer oder materieller Gegenstände beschreiben.17 So ist z. B. der Begriff des Metalls uns zwar a posteriori gegeben, d. h. durch sinnliche Wahrnehmungen von Metall, die „Natur des Metalles“ finden wir aber erst durch experimentelle Versuche, „durch verschiedene Erfahrungen, die nicht im [gegebenen] Begriffe liegen“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914).18 Der Begriff der Natur eines Gegenstandes der Erfahrung ist dann „ein gemachter Begriff a posteriori“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914).19 Wir setzen Inhalte von Begriffen also auch zum Zweck der Erkenntnis zusammen, um auf diese Weise entweder a priori die Natur mathematischer oder aber a posteriori die Natur materieller Gegenstände zu erkennen, die wir repräsentieren.
14 Siehe V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 571. 15 Siehe A 84 f./B 117. 16 Er bzw. sein Gegenstand ist ‚vernunftwidrig‘, da sich etwas, das auf blinder, d. h. gesetzloser, Notwendigkeit beruht, „weder auf das Wesen der Sache selbst noch auf eine andere Ursache gründe[t]“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 199). 17 Siehe A 594/B 622 (a priori), A 728 f./B 756 f. (a posteriori). Vgl. Log, AA IX: 141. 18 „Ich kann auch einen Begriff a posteriori machen, so dass der Gegenstand mir in der Erfahrung gegeben wird. Z. B. ich habe ein Stück Metall, das ist immer a posteriori gegeben, nicht gemacht. Will ich aber einen deutlichen Begriff davon haben: so muss ich das Metall nach allen Eigenschaften probieren und auf solche Weise finde ich sie durch verschiedene Erfahrungen, die nicht im Begriffe liegen, die Natur des Metalles ist also ein gemachter Begriff a posteriori.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914) Vgl. V-Lo/Wiener, AA XXIV: 918 f. 19 „Bei den empirisch gemachten Begriffen werden uns die data aus der Erfahrung gegeben und eben daraus bilden wir unseren Begriff. [...] Bei empirischen gemachten Begriffen deklariere ich, denke, was ich sagen will.“ (V-Lo/Busolt, AA XXIV: 657)
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Nicht so die Kategorien. „Ich habe viele Begriffe, die mir durch die Natur meines Verstandes gegeben sind und die ich nicht erdichtet habe.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914)20 Die Inhalte der Kategorien werden in keinem der genannten Sinne willentlich von uns hervorgebracht. Vielmehr, so Kant, sind sie uns schon mit der Natur des Vermögens gegeben, durch das wir Gegenstände denken. Als grundlegende Begriffe, die es uns überhaupt erst erlauben, Gegenstände zu denken, werden die Kategorien, wie z. B. der Begriff der Substanz, nicht davon abhängen können, welche Gegenstände wir jeweils denken wollen. Vielmehr werden sie in jedem solchen Denken von Gegenständen bereits enthalten sein. Wenn es nun zudem so ist, dass sie uns auch nicht mit der Erfahrung von Gegenständen gegeben werden können, dann müssen die Inhalte der Kategorien uns vielmehr ‚a priori gegeben‘ sein, wie Kant es nennt, d. h. schon durch grundlegende Bestimmungen, die in der Natur des Verstandes selbst liegen.21 Als solche unterscheiden sie sich sowohl von ‚gemachten‘ Begriffsinhalten – seien diese nun mathematisch konstruiert, theoretisch eingeführt oder ‚usurpiert‘ – als auch von Inhalten, die uns empirisch durch sinnliche Wahrnehmungen ‚gegeben‘ sind, indem wir sie nämlich weder willentlich hervorbringen noch auf die Erfahrung von Gegenständen zurückführen können. Dann können die Inhalte der Kategorien uns aber nur, so Kant, mit der Natur des Verstandes selbst gegeben sein, mit der Natur des Vermögens also, durch das wir Gegenstände denken.22 Die Frage nach dem Ursprung apriorischer Begriffsinhalte ist Kant wohl besonders durch die Lektüre von Gottfried Wilhelm Leibniz’ 1765 postum veröffentlichten Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain zum Problem
20 Im Zusammenhang: „Alle unsere Begriffe sind entweder gegebene oder gemachte Begriffe. Ein Begriff ist gegeben, sofern er nicht aus meiner Willkür entspringt. Er kann entweder a priori bloß im Verstande gegeben sein oder a posteriori durch die Erfahrung. Ich habe viele Begriffe, die mir durch die Natur meines Verstandes gegeben sind und die ich nicht erdichtet habe. Z. B. der Begriff von Ursache, Zeit etc. Ebenso werden uns viele Begriffe durch die Erfahrung gegeben. Z. B. dass das Wasser ein flüssiger Körper ist.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914) 21 Siehe A 728/B 756 („a priori gegebener Begriff [...], z. B. Substanz, Ursache“); Refl 2867, 1769–77, AA XVI: 553 („a priori gegeben (reine Verstandesbegriffe)“). Vgl. Log, AA IX: 93; V-Lo/Dohna, AA XXIV: 756. 22 Die Natur eines Dinges ist „das erste, innere Prinzip alles dessen [...], was zum Dasein eines Dinges gehört“ (MAN, AA IV: 467). Da die Wirklichkeit (das Dasein) die Möglichkeit enthält, ist in der Natur eines Dinges auch sein Wesen enthalten: „Wesen ist das erste, innere Prinzip alles dessen, was zur Möglichkeit eines Dinges gehört.“ (MAN, AA IV: 467 Anm.) Vgl. Refl 4097, 1769–75, AA XVII: 414.
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geworden. Leibniz beschreibt den Gegenstand seiner Untersuchung dort wie folgt: j’examinerai comment on doit dire à mon avis […] qu’il y a des ideés et des principes qui ne nous viennent point des sens, et que nous trouvons en nous sans les former […]. (Leibniz (1765), § 1: 74)
Wie können wir uns unser Verfügen über Begriffe („des ideés“) und Prinzipien verständlich machen, so fragt Leibniz hier, die nicht aus der sinnlichen Erfahrung von Gegenständen stammen und die wir in uns vorfinden, ohne sie jedoch selbst gemacht zu haben („sans les former“)? Woher also stammen Begriffe, deren Inhalte weder a posteriori durch die Sinne gegeben noch willentlich von uns hervorgebracht werden, sondern die uns vielmehr a priori, d. h. mit der Natur unseres Verstandes gegeben sind? Wie sind Begriffe möglich, die, in Kants Formulierung, ‚a priori gegeben‘ sind (b)? Die Metaphysische Deduktion ist der Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Programmatisch grenzt Leibniz sich in den Nouveaux Essais vom Lockeschen Empirismus begrifflicher Inhalte ab, demzufolge kein repräsentationaler Inhalt im Verstand ist, der nicht zuletzt aus den Sinnen stammt,23 indem er ergänzt: nichts ist im Verstand, das nicht aus den Sinnen stammt, außer dem Verstand selbst. Dann zählt er einige Begriffe auf, die ihm zufolge nicht etwa auf die Sinne, sondern auf den Verstand selbst zurückgehen: Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus. Or l’ame renferme l’estre, la substance, l’un, le même, la cause, la perception, le raisonnement, et quantité d’autre notions que les sens ne sauroient donner. (Leibniz (1765), § 2: 111)
Kant teilt Leibniz’ programmatische Einsicht, dass es Inhalte von Begriffen gibt und geben muss, die aus der Natur des Denkens stammen, und wird in der Metaphysischen Deduktion dafür argumentieren, dass u. a. einige der an dieser Stelle von Leibniz aufgezählten Begriffe auf den Verstand selbst zurückzuführen sind (z. B. die Begriffe der Substanz, der Einheit und der Ursache). So findet Kant denn auch „die Bestimmung, die er [Leibniz] dem Lockeschen Satze Nihil est in etc. beifügte: praeter ipsum intellectum ziemlich treffend“ (V-MP/ Schön, AA XXVIII: 467). Wenn das Vermögen zu denken nämlich eine Natur aufweist – bestimmte Charakteristika, die es zu dem Vermögen machen, das 23 „[...] since there appear not to be any Ideas in the Mind, before the Senses have conveyed any in, I conceive that Ideas in the Understanding, are coeval with Sensation [...]. ’Tis about these Impressions made on our Senses by outward Objects, that the Mind seems first to employ it self in such Operations as we call Perception, Remembring, Consideration, Reasoning, etc.“ (Locke (1689), § 23: 117)
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es ist –, dann wird es auch einen entsprechenden Beitrag zu den Inhalten unseres Denkens leisten. Leibniz’ eigene Umsetzung des Programms jedoch, genuine Inhalte des Verstandes zu beschreiben und zu analysieren, lässt Kant unbefriedigt zurück: Leibniz. Ist ein Anhänger des Plato. Er behauptete, dass wir Begriffe haben, die nicht von den Sinnen entlehnt sind, und sucht also weiter zu gehen, als die Sinne zureichen; aber er hat keine genugsamen Beweise, wo die Intellectualia denn herkommen. Er sagt wohl, sie kommen vom Verstande her; zeigt aber nicht die Möglichkeit, wie wir zum Voraus Begriffe von Dingen haben können, die uns keine Sinne geben können.24 (V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 376)
Leibniz, so Kant, hat sich in den Nouveaux Essais zu Recht kritisch von Lockes Empirismus begrifflicher Inhalte abgegrenzt, allerdings ohne selbst eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Ursprung apriorischer Begriffsinhalte zu entwickeln.25 Um die Möglichkeit solcher Inhalte zu verstehen, müssen wir mehr tun, als bloß auf den Verstand zu verweisen. Woher genau stammen apriorische Begriffsinhalte und was erklärt, dass sie sich auf Gegenstände beziehen, ohne doch auf der Erfahrung von Gegenständen zu beruhen? Was genau in der Natur des Verstandes entspricht z. B. dem Begriff der Substanz und macht verständlich, dass er sich auf Gegenstände bezieht? So heißt es in der Metaphysik Mrongovius (1782/3): Locke sagte, alle Begriffe sind aus der Erfahrung entlehnt. Leibniz nein. Wir haben auch welche durch reine Vernunft. Das ist leicht zu unterscheiden, z. B. kann die Erfahrung wohl den Begriff von Ursache und Wirkung, von Gott etc. geben? Aber Leibniz fragte nicht, wie kommt die Vernunft unabhängig von aller Erfahrung zu dem Begriffe – worauf gründet sich das Vermögen, überhaupt etwas a priori zu erkennen? (AA XXIX: 781)
Es ist leicht, so Kant, mit Leibniz und gegen Locke einzusehen, dass wir über bestimmte Begriffe verfügen, die nicht aus der Erfahrung von Gegenständen stammen. Schwieriger ist es, eine Antwort auf die Frage zu geben, woher genau die Inhalte solcher Begriffe denn stattdessen stammen. Dafür ist nun eine Untersuchung des Vermögens erforderlich, durch das wir Gegenstände denken. Erst eine Untersuchung des Verstandes selbst wird zeigen können, wie wir Begriffe haben können, durch die wir Gegenstände denken, ohne darin jedoch von der Erfahrung von Gegenständen abhängig zu sein. Die Metaphysische Deduktion ist Kants Versuch, eine solche Untersuchung vorzulegen.
24 Vgl. V-MP/Schön, AA XXVIII: 466. 25 Zu Lockes Empirismus begrifflicher Inhalte siehe B 127, A 271/B 327, A 854/B 882; ÜE, AA VIII: 211 Anm.
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Wie ist es also zu erklären, dass wir über Begriffe wie z. B. den Begriff der Substanz verfügen? Wenn Begriffe ihre Inhalte unabhängig von Erfahrung aus dem Verstand selbst erhalten und diese nicht willentlich von uns zusammengesetzt, sondern uns mit der Natur des Verstandes gegeben sind (b), dann gibt es dafür nach Kant wiederum nur zwei mögliche Erklärungen: die apriorischen Inhalte unserer Begriffe sind dem Verstand entweder angeboren oder sie sind durch Akte des Verstandes erworben.26 Die Annahme von Inhalten, die dem Verstand angeboren sind, hält Kant nun aber schlicht für schlechte Philosophie, führt sie doch den Begriff angeborener Inhalte ein, ohne sich wiederum die Möglichkeit solcher Inhalte verständlich zu machen.27 Wenn wir die Inhalte der Kategorien also aus der Natur des Denkens verstehen wollen, dann hilft es uns nicht, sie als angeboren zu beschreiben, wie etwa Leibniz das tut.28 Ein Verständnis der Inhalte der Kategorien kann sich erst aus einer Untersuchung der Natur des Verstandes selbst ergeben. Wenn Kant die Kategorien nun aber als erworbene Repräsentationen ansieht, dann müssen sie in einem anderen Sinne erworben sein, als empirische Begriffe es sind, wenn sie denn auf der Natur des Verstandes und nicht auf der Erfahrung von Gegenständen beruhen sollen. Sie sind denn auch, so Kant, nicht derivativ, d. h. auf der Grundlage anderer Repräsentationen erworben, wie empirische Begriffe, deren Erwerb sinnliche Wahrnehmungen von Gegenständen erfordert. Die Kategorien sind vielmehr ursprünglich erworbene Repräsentationen: Sie sind Begriffe, die unabhängig von der Voraussetzung anderer Repräsentationen allein durch das Haben und Ausüben eines Vermögens zur Repräsentation hervorgebracht werden. Das Vermögen der Repräsentation, durch das wir über die Inhalte der Kategorien verfügen, ist dabei der Verstand. Verhältnismäßig ausführlich äußert sich Kant über die ursprüngliche Erwerbung apriorischer Repräsentationen in der Entdeckung: Die Kritik [KrV] erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angeborenen Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung [...], folglich auch dessen, was vorher gar noch nicht existiert, mithin keiner Sache vor dieser Handlung
26 Siehe KpV, AA V: 141; V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 372. 27 „Wo kommen sie [die Begriffe des Verstandes] aber in den Verstand hinein? Als unerschaffen und ungeboren muss man sie nicht annehmen; denn das macht aller Untersuchung ein Ende und ist sehr unphilosophisch. Wenn sie angeboren sind, so sind sie Offenbarungen.“ (V-MP/Heinze, AA XXVIII: 146) Vgl. PhilEnz, AA XXIX: 16. 28 Siehe Anth, AA VII: 141 Anm.; V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 372. „L’idée de l’être, du possible, du Même, sont si bien innées, qu’elles entrent dans toutes nos pensées et raisonnemens, et je les regarde comme des choses essentielles à nôtre esprit“ (Leibniz (1765), § 3: 101 f.).
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angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnisvermögen von den Objekten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zustande. Es muss aber doch ein Grund dazu im Subjekte sein, der es möglich macht, dass die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objekte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren.29 (AA VIII: 221 f.)
Alle unsere Repräsentationen, so Kant hier, sind erworbene Repräsentationen, d. h. sie setzen repräsentationale Fähigkeiten und Akte voraus, durch die wir sie hervorbringen.30 Die Inhalte der Kategorien („die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen“) werden uns dabei allerdings nicht durch die Gegenstände unserer Erfahrung gegeben, sondern gehen vielmehr auf unser eigenes „Erkenntnisvermögen“ zurück. Dass die Kategorien ursprünglich erworben sind, heißt dann, dass sie allein durch den Verstand und seine Ausübung existieren. Mit der Zurückweisung angeborener Inhalte von Repräsentationen wendet Kant sich also nicht in jedem Sinne gegen die Idee der Angeborenheit. Der „Grund“ der Kategorien ist nämlich sehr wohl angeboren.31 Dieser Grund ist unser Vermögen zu denken selbst: „uns [ist] nichts angeboren als die Verstandesfähigkeit“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 761). Kant deutet auf diese Weise die Position an, dass es grundlegende repräsentationale Fähigkeiten sind, die dem ursprünglichen Erwerb der Kategorien zugrunde liegen. Es sind solche Fähigkeiten, die in ihrer Ausübung darüber bestimmen sollen, dass die Kategorien die Repräsentationen sind, die sie sind, dass sie also die Inhalte haben, die sie haben. Der Verstand bringt die Kategorien, so Kant in der Entdeckung, durch die Ausübung grundlegender repräsentationaler Fähigkeiten „aus sich selbst a priori zustande.“ Bestimmte grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes, die uns das Denken von Gegenständen überhaupt erst ermöglichen, sollen damit den Begriffen, die a priori gegeben und ursprünglich erworben sind, 29 Vgl. ÜE, AA VIII: 222 f. Neben den Kategorien sind also auch die Repräsentationen von Raum und Zeit ursprünglich erworben, als die Repräsentationen der Formen von Gegenständen unserer Sinne. 30 „Alle Begriffe sind erworben und es kann keine idea connata geben. Denn Begriffe setzen ein Denken voraus, werden durch Auffassung der Merkmale und Abstraktion des Allgemeinen gemacht oder gedacht. Gedanken entstehen also durch eine vorher vorzunehmende operatio mentis.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 952) 31 Auch unsere räumliche und zeitliche Rezeptivität, auf deren Grundlage wir die Repräsentationen von Raum und Zeit ursprünglich erwerben, ist uns angeboren: „So entspringt die formale Anschauung, die man Raum nennt, als ursprünglich erworbene Vorstellung (der Form äußerer Gegenstände überhaupt), deren Grund gleichwohl (als bloße Rezeptivität) angeboren ist und deren Erwerbung lange vor dem bestimmten Begriffe von Dingen, die dieser Form gemäß sind, vorhergeht“ (ÜE, AA VIII: 222).
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im Verstand selbst entsprechen und zugrunde liegen. Auf diese Weise stellen sich die Bestimmungen des Verstandes, die einen ihnen entsprechenden Begriff zu einem a priori gegebenen Begriff machen, als grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte dieses Vermögens heraus, durch die wir uns auf Gegenstände beziehen. So kündigt Kant in der Kritik denn auch an, dass die Kategorien, wenn sie sich „a priori auf Gegenstände beziehen“, sie dies „als Handlungen des reinen Denkens“ (A 57/B 81) tun.32 Um die Kategorien angeben zu können, werden grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes zu identifizieren sein, die ihren Inhalten und ihrem Erwerb zugrunde liegen. „Alle Begriffe sind erworben, aber nicht alle von den Sinnen. Das Vermögen dagegen, Begriffe durch Entwicklung der Merkmale zu erwerben, ist angeboren.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 949)33 Alle Begriffe sind erworben, setzen also repräsentationale Fähigkeiten und Akte voraus, die ihre Erwerbung ausmachen. Einige Begriffe, die Kategorien nämlich, sind dabei aber, anders als empirische Begriffe, nicht durch die Wahrnehmung von Gegenständen der Sinne erworben. Sie stammen vielmehr aus dem Vermögen der Repräsentation selbst, aus dem Verstand und seinen Bestimmungen also. Sie beruhen allein auf dem Haben und Ausüben grundlegender repräsentationaler Fähigkeiten, wie z. B. auf der Fähigkeit, Begriffe hervorzubringen. In erster Annäherung sind es genau solche grundlegenden angeborenen repräsentationalen Fähigkeiten und die Akte ihrer Ausübung, die der ursprünglichen Erwerbung der Kategorien zugrunde liegen. Oben habe ich Arten von Begriffen wie folgt anhand ihrer Inhalte unterschieden: Begriff / gegeben /
\ gemacht (c)
\
(willentlich hervorgebracht)
a posteriori (a)
a priori (b)
(Erfahrung)
(Verstand)
32 „[S]ie [die Analytik] enthält nichts anderes als die Zergliederung der Handlungen unseres Verstandes. Wir haben allerlei Begriffe, die in diesem Wörterbuch [der Analytik als einem Wörterbuch der reinen Vernunft] vorkommen. Z. E. was notwendig, Substanz, Accidens etc. sei.“ (PhilEnz, AA XXIX: 36) 33 „Die Begriffe liegen nicht in uns, sondern das Vermögen zu reflektieren.“ (PhilEnz, AA XXIX:16)
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Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion ist der Nachweis, dass es Begriffe gibt, die a priori gegeben sind (b), deren Inhalte also in der Natur des Verstandes selbst entspringen. Vor diesem Hintergrund ist die Metaphysische Deduktion eine Untersuchung unseres Vermögens zu denken, in der Kant den Verstand in Bezug auf grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte analysiert, die es uns überhaupt erst erlauben, Gegenstände zu denken. Wenn Kant auf B 159 sagt, dass die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion in dem Nachweis des apriorischen Ursprungs der Kategorien besteht, dann beschreibt er also eine Untersuchung, die zu zeigen hat, dass und wie die Inhalte der Kategorien in grundlegenden Fähigkeiten und Akten des Verstandes begründet sind. Diese Aufgabe, so heißt es dort weiter, wird zuletzt dadurch erfüllt, dass die „völlige Zusammentreffung der Kategorien mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ nachgewiesen wird. Ich wende mich nun der Frage zu, wie das genauer zu verstehen ist.
1.1.2 Die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion: Logische Funktionen, Kategorien und apriorischer Ursprung Der apriorische Ursprung der Kategorien wird laut B 159 „durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ nachgewiesen. Die „völlige Zusammentreffung“ meint dabei, in erster Annäherung, die exakte Zuordenbarkeit von logischen Funktionen und Kategorien: dass den Kategorien also logische Funktionen des Denkens entsprechen und exakt zugeordnet werden können, jeder Kategorie genau eine logische Funktion des Verstandes.34 Den apriorischen Ursprung der Kategorien im Verstand selbst nachweisen heißt dann, ihnen logische Funktionen des Denkens zuzuordnen. Die exakte Zuordenbarkeit von Kategorien und logischen Funktionen drückt sich im Verhältnis ihrer beiden so genannten Tafeln aus, die Kant in der Metaphysischen Deduktion aufstellen wird: jeder Kategorie in der Kategorientafel entspricht genau eine logische Funktion in der Tafel logischer Funktionen.35 Die Zuordenbarkeit zu einer logischen Funktion des Denkens weist einen nicht-empirischen Begriff dabei als einen
34 Siehe Kants Formulierung der Konklusion der Metaphysischen Deduktion: „Auf solche Weise entspringen gerade so viele reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in vorigen Tafel logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gab“ (A 79/B 105). Siehe auch in den Prolegomena, wo er über logische Funktionen und Kategorien sagt, dass sie „ganz genau parallel ausfallen“ (AA IV: 302). Vgl. V-MP/ Arnoldt, AA XXIX: 988; V-MP/Dohna, AA XXVIII: 652. Vgl. Allison (2015): 166. 35 Siehe A 70/B 95, A 80/B 106. Vgl. Prol, AA IV: 302 f.
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Begriff a priori aus, als einen Begriff also, der im Verstand selbst entspringt. Den Kategorien, wie z. B. dem Begriff der Substanz, können logische Funktionen des Verstandes zugeordnet werden, dem Begriff des Schicksals z. B. hingegen nicht. Da Kant für einen solchen Nachweis nun aber sowohl über einen Begriff der logischen Funktionen als auch über einen Begriff der Kategorien bzw. über einen Begriff bestimmter, nicht-empirischer Begriffsinhalte verfügen muss, um schließlich beide einander zuordnen zu können, sind grundlegend drei Schritte zu unterscheiden, die für die Metaphysische Deduktion erforderlich sind: i) die logischen Funktionen des Denkens sind anzugeben; ii) die Kategorien bzw. ihre nicht-empirischen Inhalte sind anzugeben; iii) die Kategorien sind logischen Funktionen zuzuordnen, um auf diese Weise den Ursprung der Kategorien im Verstand selbst nachzuweisen, d. h. ihren Ursprung a priori. Funktionen (von lat. functio: Verrichtung, Tätigkeit) können in erster Annäherung als repräsentationale Akte (‚Handlungen‘) des Verstandes angesehen werden, d. h. als Ausübungen oder Aktualisierungen repräsentationaler Fähigkeiten dieses Vermögens. Das macht schon Kants wiederholt synonyme Verwendung der Ausdrücke ‚Funktion‘ und ‚Handlung‘ deutlich.36 Die Funktionen, mit denen die Kategorien ‚völlig zusammentreffen‘ sollen, sind logische Funktionen, die von realen Funktionen zu unterscheiden sind. Das verweist auf zwei von Kant unterschiedene Weisen, den Verstand zu gebrauchen, auf den logischen und den realen Verstandesgebrauch. Wie schon in Kants Inauguraldissertation37 ist der ‚logische‘ Gebrauch des Verstandes auch in der Kritik einem ‚realen‘ Gebrauch eben desselben Vermögens gegenübergestellt. Der logische Gebrauch besteht in der Ausübung logischer Funktionen, der reale in der Ausübung realer Funktionen. Kant erläutert den Unterschied von logischem und realem Verstandesgebrauch, wie er ihn in der Kritik versteht, relativ ausführlich an einer späteren Textstelle, einer Passage vom Beginn der „Dialektik“. Dort beschreibt er die Vernunft in Analogie mit dem Verstand und gibt im Zuge dessen eine rückblickende Beschreibung der Unterscheidung des logischen und des realen Gebrauchs des Verstandes: Es gibt von ihr [der Vernunft] wie von dem Verstande einen bloß formalen, d. i. logischen, Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, aber auch einen realen, da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder
36 Siehe A 79/B 104 f., A 108, B 143; Refl 5642, 1780–83, AA XVIII: 282. Vgl. V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 577; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 929 (beide zitiert im Absatz von Fn. 262 unten). 37 Siehe MSI, AA II: 393.
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von den Sinnen noch vom Verstande entlehnt. [...] Da nun hier eine Einteilung der Vernunft in ein logisches und transzendentales Vermögen vorkommt, so muss ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden, welcher beide Begriffe unter sich befasst, indessen wir nach der Analogie mit den Verstandesbegriffen erwarten können, dass der logische Begriff zugleich den Schlüssel zum transzendentalen und die Tafel der Funktionen der ersteren zugleich die Stammleiter der Vernunftbegriffe an die Hand geben werde.38 (A 299/B 355 f.)
Ich will mich hier darauf konzentrieren, was aus dieser Stelle über den Verstand hervorgeht. Kant verwendet eine dreifache Unterscheidung im Begriff des Verstandes.39 Er unterscheidet einen „bloß formalen, d. i. logischen“ von einem „realen“ Gebrauch des Verstandes; er beschreibt diese Gebrauchsweisen jeweils als die Ausübung eines logischen und eines transzendentalen Vermögens, von denen wir entsprechend einen logischen und einen transzendentalen Begriff haben; und schließlich nennt er einen ‚höheren Begriff‘, der beide Begriffe „unter sich befasst“ und ‚gesucht werden muss‘, um ihre Einteilung überhaupt vornehmen zu können.40 Wichtig ist zunächst, dass Kant dem ‚logischen‘ Begriff des Verstandes die Form der Erkenntnis und die Tafel der Funktionen zuordnet, unter Abstraktion vom Inhalt der Erkenntnis; dem ‚transzendentalen‘ Begriff hingegen ordnet er den Inhalt und Ursprung bestimmter Begriffe und Urteile („Grundsätze“) und die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) zu.41 Die Unterscheidung zwischen einem
38 „Alle Erkenntnis hat entweder empirische oder rationale Prinzipien; die letzteren sind entweder logisch oder real. Die logischen nehmen die ersten Begriffe von Dingen und Verhältnissen an, wie sie gegeben sind, und betrachten nur die Unterordnung nach der Identität und Kontradiktion; die zweiten sind durch die Natur der Vernunft gegebene erste Begriffe und Verhältnisse.“ (Refl 4162, 1769/70, AA XVII: 439 f.) 39 Der auf A 299/B 355 f. vorgenommene Rückbezug auf den Verstand im engeren Sinne, als von der Vernunft unterschieden, zeigt übrigens, dass Kant den Verstand auch im „Leitfaden“ so versteht, und nicht im weiteren Sinne, der auch die Vernunft und die Urteilskraft umfasst, wie Brandt (1991): 50–52 und Wolff (1995): 88–94 glauben. So fasst Kant den „Verstand überhaupt“ (A 132/B 171) – den er im „Leitfaden“ als „Vermögen zu urteilen“ (A 69/B 94, A 81/B 106) bestimmt – in Abgrenzung von der Urteilskraft auf und ordnet ihn neben Urteilskraft und Vernunft dem weiteren Begriff des Verstandes unter (vgl. V-Anth/Dohna, AA XXV: 141; V-MP-L1/ Pölitz, AA XXVIII: 241 f.) Zudem identifiziert Kant auf A 126 das Vermögen „der Urteile“ mit den engeren Begriffen des Verstandes als „ein Vermögen der Begriffe“ oder „der Regeln“ (vgl. Refl 407, 1770–78 und 409, 1772–89, AA XV: 165). 40 „Da aber alle Einteilung einen eingeteilten Begriff voraussetzt, so muss noch ein höherer [Begriff] angegeben werden“ (A 290/B 346). 41 Zur Zuordnung der Form der Erkenntnis zu als ‚logisch‘ charakterisierten Zusammenhängen vgl. Refl 413, 1770–78, AA XV: 166 f.; Refl 2851, 1769–75, AA XVI: 546; Refl 4676, 1773–75, AA XVII: 654; V-MP/Mron, AA XXIX: 799. Zum Ursprung des Inhalts von Repräsentationen und ‚transzendental‘ vgl. A 574/B 602; ÜE, AA VIII: 219; Refl 4675, 1775, AA XVII: 651.
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logischen und transzendentalen Begriff des Verstandes ist auf den Unterschied zwischen der Betrachtung und Erklärung der logischen Form von Repräsentationen auf der einen und der Betrachtung und Erklärung des Inhalts von Repräsentationen auf der anderen Seite zu beziehen. Demzufolge ist der logische Gebrauch des Verstandes, in der Ausübung logischer Akte des Denkens, verantwortlich für die logische Form von Repräsentationen; der reale Gebrauch hingegen, in der Ausübung realer Funktionen, für ihren Inhalt. Durch den logischen Begriff des Verstandes betrachten wir den Gebrauch, der die logische Form unserer Repräsentationen erklärt; durch den transzendentalen Begriff hingegen den, der ihre repräsentationalen Inhalte erklärt. Von der logischen Form von Repräsentationen spricht Kant gewöhnlich in Bezug auf Begriffe und Urteile. Die logische Form von Begriffen ist ihre Allgemeinheit, der Umstand also, dass sie auf eine Weise repräsentieren, die von verschiedenen Gegenständen gelten kann. Begriffe repräsentieren allgemein, d. h. sie repräsentieren Arten oder Eigenschaften, die verschiedenen Gegenständen gemeinsam sein können.42 Der Begriff des Baumes z. B. ist auf Bäume beziehbar, d. h. auf verschiedene Gegenstände, die u. a. die Eigenschaften teilen, einen Stamm, Äste und Blätter zu haben. Die logische Form von Urteilen hingegen ist die objektive und wahrheitsfähige Einheit der in ihnen vorkommenden Repräsentationen. Es ist diese Einheit, die macht, dass Urteile sich auf Gegenstände beziehen und wahr oder falsch von ihnen sind.43 Das Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ z. B. bezieht sich dadurch wahrheitsfähig auf Körper und ihre Teilbarkeit, dass die in ihm vorkommenden Repräsentationen, die Begriffe des Körpers und der Teilbarkeit, eine besondere Einheit aufweisen, die sie z. B. vom Begriff eines teilbaren Körpers oder einer Liste mit den Einträgen ‚Körper‘ und ‚Teilbarkeit‘ unterscheidet.44 Weder ein bloßer Begriff noch eine bloße Auflistung sind wahr oder falsch, da ihnen die besondere Einheit eines Urteils fehlt. Urteile haben ihre objektive und wahrheitsfähige Einheit wiederum in spezifischen Urteilsformen wie z. B. ‚S ist P‘, ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ usw. 42 „Der Begriff [...] ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann.“ (Log, AA IX: 91) Siehe A 320/B 376 f.; FM, AA XX: 325. Vgl. V-Lo/Dohna, AA XXIV: 702. 43 „Die logische Form aller Urteile besteht in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe“ (B 140). „[...] das Urteil [ist das], wodurch etwas als wahr vorgestellt wird“ (Log, AA IX: 65). Vgl. A 293/B 350. 44 „Wahrheit und Falschheit ist nur in Urteilen, nicht in Begriffen. Wer nicht urteilt, dessen Erkenntnis kann ich weder wahr noch falsch nennen: durchs Urteilen nur offenbart sich die Wahrheit und Falschheit.“ (V-Lo/Philippi, AA XXIV: 386) „Im Verhältnis des Denkens zwischen dem Prädikat und Subjekt beruht das Urteil, nicht im Denken des Begriffs.“ (V-Lo/Philippi, AA XXIV: 462) Vgl. Br, Brief an Beck, 3. Juli 1792, AA XI: 347; PhilEnz, AA XXIX: 21. Siehe in Fn. 474.
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Neben ihrer logischen Form benötigen Repräsentationen auch einen Inhalt, der diese Form aufweist, d. h. sie müssen in einer repräsentationalen Beziehung zu Gegenständen stehen.45 Repräsentationen handeln von etwas: sie haben ihre Gegenstände. Die Form einer Repräsentation besteht allgemein gesprochen darin, auf welche Weise sie von ihren Gegenständen handelt, z. B. allgemein oder wahrheitsfähig. Ihr Inhalt ist dann dafür verantwortlich, von welchen Gegenständen sie handelt, z. B. von einer bestimmten Art von Gegenstand (und nicht von einer anderen). Da Begriffe grundsätzlich eine allgemeine Form haben, sind sie ihrer Form nach gleich und unterscheiden sich nur durch ihre Inhalte. Es ist sein Inhalt, der einen Begriff zu dem Begriff macht, der er ist.46 Vor dem Hintergrund dieser ersten Erläuterung der Begriffe von Form und Inhalt geht aus A 299/B 355 f. hervor, dass der logische Gebrauch des Verstandes, in der Ausübung logischer Funktionen des Denkens, verantwortlich ist für die Allgemeinheit von Begriffen und für die objektive und wahrheitsfähige Einheit von Urteilen; der reale Gebrauch hingegen, in der Ausübung realer Funktionen, für unsere repräsentationale Beziehung auf Gegenstände. In diesem Sinne verwendet Kant die Unterscheidung zwischen logischen und realen Funktionen bereits in Notizen aus der Entstehungszeit der Kritik. Dort beschreibt er logische Funktionen als Akte des Verstandes, die in der Hervorbringung und Verwendung von Begriffen ausgeübt werden, reale Funktionen hingegen als Akte, die für die Repräsentation von Gegenständen verantwortlich sind. Reale Funktionen, so notiert Kant, sind der „Grund der Möglichkeit der Vorstellung der Sachen und die logischen Funktionen der Grund der Möglichkeit der Urteile“ (Refl 4631, 1772–75, AA XVII: 615). Während logische Funktionen z. B. das sind, wodurch eine Repräsentation „eine Vielgültigkeit in Ansehung anderer Vorstellungen hat [= Allgemeinheit]“, gehen reale Funktionen auf ihren Inhalt, d. h. „auf das, was in der Vorstellung liegt“, und stellen „das Objekt vor“ (Refl 4635, 1772–75, AA XVII: 619). Logische Funktionen erklären die logische Form von Begriffen und Urteilen; reale Funktionen erklären den Inhalt unserer Repräsentationen, durch den sie sich auf ihre Gegenstände beziehen.47 A 299/B 355 f. zeigt, dass Kant auch in der Kritik in diesem Sinne zwischen logischen und realen Funktionen unterscheidet. Er ergänzt seine Einteilung der
45 Siehe an und in Fn. 3. 46 Siehe Log, AA IX: 94, wo der Inhalt eines Begriffs daran geknüpft wird, „wie er durch ein Merkmal ein Objekt bestimmt“, und die allgemeine Form eines Begriffs daran, „wie er auf mehrere Objekte kann bezogen werden.“ Zur Form von Repräsentationen siehe auch in Fn. 73. 47 Diese Weise, den logischen vom realen Gebrauch des Verstandes zu unterscheiden, ist eng mit der von Kant bereits in der Inauguraldissertation verwendeten Unterscheidung verwandt. Siehe MSI, AA II: 393.
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Begriffe eines logischen und realen Verstandesgebrauchs dort noch um einen ‚höheren‘ Begriff des Verstandes, unter den die beiden anderen Begriffe fallen sollen, d. h. um den Begriff eines Verstandes, der auf diese beiden Weisen gebraucht werden kann. Kant bezieht sich auf A 299/B 355 f. ausdrücklich auf die Metaphysische Deduktion zurück. Die dort vorgenommene dreifache Unterscheidung im Begriff des Verstandes bestätigt und erläutert damit die Einteilung der Metaphysischen Deduktion in drei Schritte, die ich zu Beginn dieser Untersuchung anhand von B 159 vorgeschlagen habe. So beschreibt Kant auf A 299/B 355 f. ein Argument, bestehend aus drei Schritten, das übergeht von i) einer Betrachtung des Verstandes als logisches Vermögen, ausgeübt in logischen Funktionen, das für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist, zu ii) einer Betrachtung desselben Verstandes als transzendentales Vermögen, ausgeübt in realen Funktionen, das für den Inhalt unserer Repräsentationen, insbesondere der Kategorien, verantwortlich ist, um schließlich iii) einen ‚höheren Begriff‘ des gemeinsamen Vermögens zu bilden, das beide Arten von Funktionen ausübt. Anhand von B 159 und A 299/B 355 f. und vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ergibt sich damit das folgende Bild des Arguments der Metaphysischen Deduktion und ihrer drei Schritte: Metaphysische Deduktion
Erster Schritt
Zweiter Schritt
Dritter Schritt
Begriff des Verstandes
Logischer Begriff des Verstandes
Transzendentaler Begriff des Verstandes
Höherer Begriff des Verstandes
Gebrauch des Verstandes
Logischer Gebrauch: Ausübung logischer Funktionen
Realer Gebrauch: Ausübung realer Funktionen
–
Explanandum
Logische Form des Urteils Inhalt der Kategorien
Ursprung a priori der Kategorien
Explanans
Logische Funktionen
Exakte Zuordnung realer und logischer Funktionen
Reale Funktionen
Mit diesem Bild der Metaphysischen Deduktion und ihrer drei Schritte kann ich mich nun auch dem Text nähern, in dem das Argument der Metaphysischen Deduktion gegeben wird. Der „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbe-
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griffe“ (A 66/B 91) („Leitfaden“) ist der Ort der Metaphysischen Deduktion in der Kritik. Das Argument der Metaphysischen Deduktion, das Kant in diesem Kapitel entwickelt, kann auf erhellende Weise anhand der zu Beginn unterschiedenen drei argumentativen Schritte beschrieben werden. Jeder dieser drei Schritte beruht auf der Untersuchung eines Begriffs des Verstandes. Sie bilden so einen Übergang von einem logischen über einen transzendentalen zu einem höheren Begriff dieses Vermögens. Vor diesem Hintergrund kann ich nun einen ersten Ausblick auf Kants Vorgehen im „Leitfaden“ geben. Kants Ausgangspunkt ist der logische Begriff des Verstandes. Die ersten beiden Abschnitte des „Leitfadens“ handeln „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt“ (A 67/B 92) und „Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95).48 Dort betrachtet Kant den Verstand als logisches Vermögen, das durch die Ausübung logischer Funktionen für die logische Form von Begriffen und Urteilen verantwortlich ist, d. h. für ihre Allgemeinheit und Wahrheitsfähigkeit.49 So entwickelt Kant einen logischen Begriff des Verstandes, demzufolge dieser als ein „Vermögen zu urteilen“ (A 69/B 94, A 81/B 106) anzusehen ist. Er argumentiert, dass Denken eine „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/B 94) ist und diese Erkenntnis sich in Urteilen vollzieht. Die Analyse des logischen Verstandesgebrauchs hat dabei vor allem die Aufgabe, die grundlegenden logischen Funktionen des Urteils anzugeben, die für die logische Form, d. h. für die objektive und wahrheitsfähige Einheit des Urteils erforderlich sind.50 Im ersten Abschnitt gibt Kant dann die logischen Funktionen an, die „[a]lle Urteile“ (A 69/B 94) charakterisieren bzw. „[i]n jedem Urteil“ (A 68/B 93) vorkommen, das sich auf Gegenstände bezieht.51 Das Ergebnis dieser 48 Wie schon in Kants Inauguraldissertation (vgl. MSI, AA II: 393) betrifft der logische Gebrauch des Verstandes auch im „Leitfaden“ das Verhältnis der Subordination, in dem Begriffe aufgrund ihrer Allgemeinheit zu anderen Repräsentationen stehen können. Hier ist das Verhältnis der Subordination allerdings nur noch ein Aspekt des logischen Gebrauchs des Verstandes, den Kant nun anhand des Zwecks einer „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/ B 94) versteht, in der Begriffe auf Gegenstände bezogen werden. Der Akt der Subordination ist dabei ein notwendiges, aber kein hinreichendes Mittel zu diesem Zweck. 49 Der logische Verstandesgebrauch ist nicht der Gebrauch des Verstandes in der formalen (Allgemeinen) Logik, wo Begriffe und Urteile anhand ihrer logischen Formen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Siehe 2.3.6. Vielmehr besteht der logische Verstandesgebrauch in der Ausübung logischer Funktionen, die den logischen Formen von Begriff und Urteil zugrunde liegen, deren Verhältnisse (in Urteilen und Schlüssen) dann in der Allgemeinen Logik behandelt werden können. So auch Longuenesse (1998b): 150, (2005): 92. 50 Siehe in Fn. 43. Vgl. Log, AA IX: 101. 51 In diesem Sinne verwendet Kant den Ausdruck ‚logisch‘ auch in Zusammenhängen, in denen er von logischen Urteilen als solchen spricht, die sich auf von unseren repräsentationalen Zuständen und Akten verschiedene und unabhängige Gegenstände beziehen. Schon in einer
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Überlegungen, präsentiert im zweiten Abschnitt des „Leitfadens“, ist eine Nennung und Einteilung aller logischen Funktionen des Urteils in einer „Tafel“ (A 70/ B 95) der „Funktion des Denkens in demselben [im Urteil]“ (A 70/B 95). Damit sind die „allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) angegeben und der erste Schritt der Metaphysischen Deduktion ist getan. Der dritte Abschnitt des „Leitfadens“ handelt „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien“ (A 76/B 102). Dort geht Kant dazu über, den Verstand als transzendentales Vermögen zu betrachten, das durch die Ausübung realer Funktionen, genauer: durch Akte der Synthesis der Anschauung, für die Einheit der Anschauung52 und damit für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist. „[D]ie Synthesis“ ist das, was „die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ (A 77 f./B 103), und damit „den ersten Ursprung unserer Erkenntnis“ (A 78/B 103) bildet. Insbesondere aber ist die Synthesis der Anschauung erforderlich für den „transzendentalen Inhalt“ (A 79/B 105) der Kategorien. Kant entwickelt so einen Begriff der Kategorien als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106). Die Analyse des realen Verstandesgebrauchs hat dabei vor allem die Aufgabe, die grundlegenden realen Funktionen der Synthesis anzugeben, die für unsere Beziehung auf Gegenstände der Anschauung und für die Inhalte der Kategorien als der allgemeinsten Begriffe von Gegenständen erforderlich sind. Als die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akte, auf denen die Inhalte der Kategorien beruhen und die sie zu a priori gegebenen Begriffen machen, stellen sich so die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung heraus. Das Ergebnis dieser Überlegungen, kurz darauf präsentiert in der „Tafel der Kategorien“ (A 80/B 106), ist die Nennung und Einteilung der Inhalte der Kategorien. Damit sind die Kategorien bzw. ihre nicht-empirischen Inhalte angegeben und der zweite Schritt der Metaphysischen Deduktion ist getan. Schließlich führt Kant, noch vor der Darstellung der Kategorientafel, einen ‚höheren‘ Begriff des Verstandes ein, unter den sowohl der logische als auch der transzendentale Begriff fallen sollen, um so die Einteilung in eine logische und
frühen Notiz heißt es: „Ein Urteil ist logisch, wodurch ich eine Beschaffenheit des Objekts ausdrücke.“ (Refl 2127, 1764–69, AA XVI: 245) Und noch in der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „das Urteil aber [...] ist logisch, wenn jene [Vorstellungen] nur im Urteile auf das Objekt bezogen werden.“ (AA V: 204) Vgl. KU, AA V: 228. 52 Zum Begriff der Einheit der Anschauung siehe B 144 Anm., wo Kant die „Einheit der Anschauung“ als das erläutert, „dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt“, und A 109, wo er sie als „diejenige Einheit“ beschreibt, „die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muss, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht.“ Vgl. A 79/B 104 f.
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eine reale Art seines Gebrauchs verständlich zu machen. Dieser ‚höhere‘ Begriff ist der Gattungsbegriff des Verstandes, dessen logischen und realen Gebrauch Kant zuvor analysiert hat.53 Kant behauptet dort nun, dass „[d]erselbe Verstand“ durch „[d]ieselbe Funktion“ (A 79/B 104 f.), zum einen in logischer und zum anderen in realer Ausübung, sowohl für die logische Form oder Einheit des Urteils als auch für die Einheit der Anschauung und für den Inhalt der Kategorien verantwortlich ist.54 So soll nachgewiesen werden, dass die Inhalte der Kategorien, die auf Akten der Synthesis der Anschauung beruhen, ihren Ursprung in demselben Verstand haben, der auch urteilt. Das wiederum zeigt sich dadurch, dass die Kategorien exakt logischen Funktionen des Urteils zuordenbar sind. Die Inhalte der Kategorien können dann nämlich nur, so Kant, demselben Verstand entspringen, der auch urteilt. Damit sind sie Inhalte „reine[r] Verstandesbegriffe […], die a priori auf Objekte gehen“ (A 79/B 105), ganz unabhängig davon, welche Gegenstände wir denken. „[D]urch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) wird so „der Ursprung der Kategorien a priori“ (B 159) nachgewiesen und der dritte und letzte Schritt der Metaphysischen Deduktion ist getan. Dass die Kategorien „a priori auf Objekte gehen“ ist dabei nicht gleichbedeutend mit ihrer objektiven Gültigkeit, die nachzuweisen erst die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion ist. Um diesen Unterschied deutlicher zu machen, wende ich mich nun dem Verhältnis der Metaphysischen zur Transzendentalen Deduktion zu.
1.1.3 Metaphysische und Transzendentale Deduktion der Kategorien Der Nachweis der „Möglichkeit derselben [der Kategorien] als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt (§§ 20, 21)“ (B 159) ist eine Aufgabe der Transzendentalen Deduktion, wie Kant sie in der B-Deduktion beschreibt. Diese mit den §§ 20 und 21 erreichte Konklusion bildet allerdings nur einen ersten Schritt auf dem Weg zum Abschluss der B-Deduktion. Laut § 20 besteht diese Konklusion darin, dass „das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien [steht]“ (B 143). Damit ist, so Kant in
53 Höhere Begriffe sind Gattungs-, niedrigere hingegen Artbegriffe. Ob ein Begriff einen Gattungs- oder einen Artbegriff bildet ist jeweils relativ zu anderen Begriffen bestimmt: „Der höhere Begriff heißt in Rücksicht seines niederen Gattung (genus), der niedere Begriff in Ansehung seines höheren Art (species).“ (Log, AA IX: 96) Vgl. V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 568 f. 54 Auch Reich (2001): 12 f. bezieht den ‚höheren Begriff‘ des Verstandes aus A 299/B 355 f. und ‚dieselbe Funktion‘ aus A 79/B 104 f. in diesem Sinne aufeinander.
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§ 21, „der Anfang einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gemacht“ (B 144). Abgeschlossen wird die B-Deduktion erst dadurch, so heißt es dort weiter, „dass ihre [der Kategorie] Gültigkeit a priori in Ansehung aller Gegenstände unserer Sinne erklärt wird“ (B 145). Was im Anschluss an §§ 20 und 21 noch zu zeigen ist, so Kant in § 26, ist „die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen, [...] zu erkennen“ (B 159). Das kann so zusammengefasst werden, dass im ersten Schritt (mit §§ 20, 21) gezeigt wird, dass Anschauungen überhaupt unter die Kategorien fallen, während im abschließenden, zweiten Schritt (in § 26) zu zeigen ist, dass die Gegenstände unserer Sinne unter die Kategorien fallen und durch diese erkannt werden können.55 Ich werde hier nicht mehr über die argumentative Struktur der B-Deduktion sagen. Der vorliegende Abschnitt soll die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion deutlicher machen, indem er sie von der Aufgabe der Transzendentalen Deduktion unterscheidet. Hierfür aber ist das Verhältnis der Metaphysischen Deduktion zum zweiten Schritt der Transzendentalen Deduktion entscheidend. Laut der eben zitierten Stellen aus der B-Deduktion heißt die Transzendentale Deduktion zum Abschluss bringen, den Nachweis zu führen, dass die Kategorien von den Gegenständen unserer Sinne gültig sind. In den Paragrafen zwischen der Metaphysischen Deduktion und der Transzendentalen Deduktion, in den §§ 13 und 14 in B, führt Kant die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion denn auch auf diese Weise ein. Sie besteht darin, heißt es dort, die „objektive Gültigkeit der Kategorien als Begriffe a priori“ (A 93/B 126) nachzuweisen, was gleichbedeutend damit ist, zu zeigen, dass die Kategorien sich „a priori auf Gegenstände [beziehen]“ (A 93/B 126). Wie unterscheidet sich ein solcher Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien nun aber von dem oben genannten Ergebnis der Metaphysischen Deduktion, dass die Kategorien „a priori auf Objekte gehen“ (A 79/B 105)? Hier hilft es, einen repräsentationalen Anspruch von seiner Erfüllung zu unterscheiden. Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion ist es, zu zeigen, dass die Inhalte der Kategorien a priori, d. h. im Verstand selbst entspringen, und dass diese Inhalte sich, dem Anspruch nach, auf Gegenstände beziehen. Die Metaphysische Deduktion behandelt auf diese Weise, was es heißt, in der Beziehung auf Gegenstände überhaupt einen repräsentationalen Anspruch zu erheben. Durch die Kategorien repräsentieren wir Gegenstände als Substanzen, die qualitative und quantitative Eigenschaften aufweisen und in kausaler Wechselwir55 Diese Interpretation der zwei Schritte der B-Deduktion habe ich zuerst in Haag/Hoeppner (2019), Teil 2 vorgeschlagen. Ausgeführt habe ich sie dann etwas genauer in Hoeppner (2021). Die zwei Schritte der B-Deduktion hat zuerst Henrich (1973) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
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kung zueinander stehen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Gegenstände der Sinne auch tatsächlich unter diese Beschreibung fallen und fallen können. Es ist die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion, zu zeigen, dass die Kategorien a priori repräsentieren, dass sie also Inhalte a priori haben, durch die sie von Gegenständen handeln; die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion ist dann, den Nachweis zu führen, dass die Kategorien erfolgreich repräsentieren, dass die Gegenstände der Sinne also so sind und sein können, wie sie durch die Inhalte der Kategorien gedacht werden. Die Metaphysische Deduktion handelt von der Möglichkeit der Repräsentation durch die Kategorien; die Transzendentale Deduktion handelt von der Möglichkeit ihrer Gegenstände. Das Problem der Transzendentalen Deduktion ist damit, so Kant, „wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben“ (A 89/B 122). Dass die Kategorien subjektive Bedingungen des Denkens sind, ist ein Ergebnis der Metaphysischen Deduktion. Es soll darin bestehen, dass wir ohne die Kategorien keine Gegenstände denken können: Kategorien sind „Bedingungen, unter denen allein etwas [...] als Gegenstand überhaupt gedacht wird“ (A 93/B 125) oder „Begriffe von Gegenständen überhaupt“ (A 93/B 126).56 Dass wir Gegenstände nicht anders denken können, als durch die Kategorien, heißt aber noch nicht, dass die Gegenstände der Sinne auch so sind und sein können, wie wir sie durch die Kategorien denken und denken müssen.57 Kant gibt das Beispiel des „Begriff[s] der Ursache, welcher eine besondere Art der Synthesis bedeutet, da auf etwas A was ganz verschiedenes B nach einer Regel gesetzt wird“ (A 90/B 122). Das beschreibt den Inhalt der Kategorie der Kausalität. Es beschreibt, dass wir durch die Kategorie der Kausalität notwendige Verknüpfungen zwischen Gegenständen repräsentieren. Es ist eine der Aufgaben der Metaphysischen Deduktion, zu zeigen, dass dies der apriorische Inhalt der Kategorie der Kausalität ist, und zwar durch die Zurückführung auf eine Bestimmung des Verstandes selbst, d. h. auf eine der Kategorie entsprechende repräsentationale Fähigkeit und den Akt ihrer Ausübung. Aber selbst dann, wenn diese Aufgabe erfüllt ist, so Kant, ist immer noch „zweifelhaft, ob ein solcher Begriff nicht etwa gar leer sei und überall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe“ (A 90/B 122).58 Selbst wenn wir Gegenstände nicht
56 Siehe B 128 („Begriffe von einem Gegenstande überhaupt“), A 290/B 346 („die einzigen Begriffe [...], die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen“); ÜE, AA VIII: 215 („Begriffe von Dingen überhaupt“). 57 Siehe Haag/Hoepppner (2019). Darauf hat wiederholt Barry Stroud hingewiesen. Siehe Stroud (2000a); (2011), Kap. 5; (2017); (2019). Siehe Hoeppner (2020), Teile 33.3, 33.4. 58 „Die Kategorie an und für sich lässt unausgemacht und unbestimmt, ob der Begriff, d. i. sie selbst, objektive Realität habe. Sie ist hierin einer Vorstellung gleich, welche nichts
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anders denken können, als durch den Begriff der Kausalität, so ist damit noch nicht gesagt, dass diesem Begriff auch etwas an den auf diese Weise gedachten Gegenständen entspricht und entsprechen kann. Nach der Metaphysischen Deduktion könnte der Begriff der Kausalität also immer noch leer sein in dem Sinne, dass er tatsächlich keinen Gegenstand hat oder haben kann: es könnte immer noch sein, dass die Gegenstände der Erfahrung tatsächlich keine kausalen Verknüpfungen aufweisen oder aufweisen können.59 Es ist die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion, den Nachweis zu führen, dass die Kategorien, u. a. der Begriff der Ursache, nicht in diesem Sinne leer, sondern vielmehr objektiv gültig sind, so dass die Gegenstände unserer Sinne tatsächlich unter sie fallen und wir sie durch die Kategorien erkennen können. In der zweiten Auflage der Kritik beschreibt Kant nicht nur die Argumente in der „Analytik der Begriffe“ auf eine neue Weise, sondern auch die Argumente in der „Transzendentalen Ästhetik“. Der Unterscheidung zwischen einer Metaphysischen und einer Transzendentalen Deduktion der Kategorien entspricht dort die Unterscheidung zwischen einer Metaphysischen und einer Transzendentalen Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit: Ich verstehe aber unter Erörterung (expositio) die deutliche (wenn gleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört; metaphysisch aber ist die Erörterung, wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff als a priori gegeben darstellt. (B 38) Ich verstehe unter einer transzendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. (B 40)
Es liegt nahe, dass die beiden Arten von Erörterungen und Deduktionen auf eine analoge Weise durch die Ausdrücke ‚metaphysisch‘ und ‚transzendental‘ voneinander unterschieden werden.60 Hier nur so viel: In positiver Hinsicht besteht die Analogie darin, dass es in den metaphysischen Überlegungen jeweils um die apriorische Gegebenheit eines Begriffs geht, d. h. um die Gegebenheit mit dem bloßen Haben und Ausüben eines Vermögens der Repräsentation. Die Widersprechendes enthält, sich also denken lässt, aber leer sein kann.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 979) 59 Die Frage, ob die Kategorien tatsächlich Gegenstände haben, stellt sich in dieser Form, da die Kategorien (im Unterschied zu Ideen der Vernunft) reine Begriffe sind, „deren Gegenstände in der Erfahrung können gegeben werden, z. E. von den Substanzen, Ursachen, Wirkungen etc. etc.“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566) Denn bei solchen Begriffen (anders als bei Ideen der Vernunft) „fragt es sich: kann man den Gegenstand dieses [reinen] Verstandesbegriffes [z. B. des Begriffs der Kausalität] in der Erfahrung antreffen?“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 906) 60 So auch Paton (1936), Bd. 1: 239; Krüger (1968): 339 f.; Horstmann (1997): 61–63; Longuenesse (1998a): 4 Fn. 3.
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transzendentalen Überlegungen behandeln vor diesem Hintergrund dann die Möglichkeit von Erkenntnissen durch diese Begriffe. Auch die Analogie mit der Metaphysischen Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit bestätigt auf diese Weise, dass die Metaphysische Deduktion nachweisen soll, dass die Kategorien a priori gegebene Inhalte enthalten, Inhalte also, die uns mit der Natur unseres Verstandes gegeben sind und ohne die wir keine Gegenstände denken könnten. Ob wir diese a priori gegebenen Inhalte der Kategorien aber auch zur Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung gebrauchen, ob wir durch sie also erfolgreich die Gegenstände unserer Sinne repräsentieren können, das ist das Problem der Transzendentalen Deduktion.61 Der Metaphysischen und Transzendentalen Deduktion ist gemeinsam, dass sie Deduktionen sind. Eine Deduktion kann vor dem Hintergrund der Deduktionsschriften in der zeitgenössischen Jurisprudenz allgemein als die Rechtfertigung einer Befugnis oder eines Rechtsanspruchs durch die Angabe von Rechtsgründen verstanden werden, typischerweise durch die Zurückführung auf den Ursprung des Anspruchs.62 Kant wendet nun ein Analogon dieses Verfahrens auf Begriffe a priori an: Die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs von Begriffen mit apriorischen Inhalten bedarf einer Transzendentalen Deduktion, da es bei ihnen nicht, wie bei empirischen Begriffen, möglich ist, auf einen empirischen Begriffserwerb und damit auf Rechtsgründe aus der Erfahrung von Gegenständen zu verweisen, die uns der Objektivität dieser Begriffe versichern könnten. Bei Begriffen, „die auch zum reinen Gebrauch a priori (völlig unabhängig von aller Erfahrung) bestimmt sind“, stellt sich das Problem der „Rechtmäßigkeit eines solchen Gebrauchs“, d. h. die Frage, „wie diese Begriffe sich auf Objekte beziehen können, die sie doch aus keiner Erfahrung hernehmen“ (A 85/B 117). Die Transzendentale Deduktion ist eine Deduktion, da sie den Rechtsanspruch der Kategorien auf Objektivität verteidigt. Auch die Metaphysische Deduktion ist eine Deduktion im Sinne der Verteidigung eines Rechtsanspruchs. Die Transzendentale Deduktion ist, wie gesehen, die Rechtfertigung der Objektivität der Kategorien, die Rechtfertigung des Anspruchs also, dass die Gegenstände der Sinne tatsächlich unserem Denken durch die Kategorien entsprechen und entsprechen können. Die Metaphysische Deduktion kann dann als die dieser noch vorgeordnete Rechtfertigung der Apriorität
61 In einer Notiz seines Handexemplars der Kritik, einem Nachtrag zu A 83, unterscheidet Kant zwei Fragen in Bezug auf die Kategorien: „1. Woher entspringen sie? 2. Wie gelten sie von Gegenständen der Erfahrung a priori?“ (HE, AA XXIII: 25) Auch hier hält er die Fragen der Metaphysischen und Transzendentalen Deduktion auseinander. 62 Siehe A 84 ff./B 116 ff. Dieser Hintergrund wurde zuerst von Henrich (1989): 30–40 beleuchtet. Siehe auch Proops (2003).
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der Kategorien verstanden werden, als die Rechtfertigung des Anspruchs also, dass die Kategorien a priori gegebene Inhalte haben, die nicht willentlich von uns zusammengesetzt, sondern uns schon mit der Natur unseres Verstandes gegeben sind.63 Die Verteidigung des Rechtsanspruchs der Kategorien auf Apriorität soll dabei, wie es sich für eine Deduktion gehört, durch die Zurückführung dieses Anspruchs auf seinen Ursprung geschehen: durch die Zurückführung auf seinen Rechtsgrund im Verstand selbst.64 Mit der Metaphysischen Deduktion will Kant also rechtfertigen, dass die Inhalte der Kategorien uns schon mit den Bestimmungen in der Natur unseres Verstandes gegeben sind, d. h. mit den grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akten dieses Vermögens. Vor diesem Hintergrund erklärt sich schließlich auch, inwiefern die Metaphysische Deduktion eine metaphysische Deduktion ist. Wenn Kant die Kategorien nämlich als a priori gegebene Begriffe ausweist, dann zeichnet er sie dadurch gerade als metaphysische Begriffe aus, d. h. als Begriffe, durch die wir metaphysische Urteile fällen und durch die wir beanspruchen, metaphysische Erkenntnis zu haben. Die Metaphysische Deduktion der Kategorien ist dann deshalb eine metaphysische Deduktion, weil sie den Kategorien den Status metaphysischer Begriffe verleihen soll. So sind die Kategorien, wie z. B. der Begriff der Substanz, solche Begriffe, so Kant in der Prolegomena, die „zur Metaphysik gehören“ (AA IV: 273). Sie sind „Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen“ (AA IV: 273).65 Die Urteile, die wir in der Metaphysik fällen und durch die wir in der Metaphysik erkennen, wie z. B. das Urteil „Bei allem Wechsel
63 So ähnlich auch Paton (1936), Bd. 1: 227 Fn. 1, 240. 64 So auch Longuenesse (1998a): 4 Fn. 3, (1998b): 132. 65 Zudem ist die Metaphysische Deduktion eine metaphysische Untersuchung, da sie den Ursprung von Begriffsinhalten behandelt, d. h. die Beziehung von Begriffen auf Gegenstände. Siehe Refl 2851, 1769–75, AA XVI: 546; Refl 4450, 1772–75, AA XVII: 556 („eine Einteilung der allgemeinen Begriffe [...], durch welche man Dinge denken kann [...], gehört vor die Metaphysik“); V-Lo/Dohna, AA XXIV: 701; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 905. Vor diesem Hintergrund kann übrigens die Auffassung nicht überzeugen, die Allison (2001): 82 und Proops (2003): 221–224 vertreten, der zufolge die Metaphysische Deduktion nicht der Frage zuzuordnen ist, „was Rechtens ist (quid iuris)“, sondern der, „die die Tatsache angeht (quid facti)“ (A 84/B 116), da Kant solche Untersuchungen der Tatsache von der Metaphysik ausschließt (vgl. FM, AA XX: 275; V-MP/Volckmann, XXVIII: 377; V-MP/Mron, XXIX: 764). In der V-MP/Mron, AA XXIX: 781 f. soll Kant die Aufzählung der Kategorien („wie viel sind reine Vernunftbegriffe[?]“) ausdrücklich von einer quaestio facti abgegrenzt haben. Als Beleg für die genannte Deutung gilt z. B. Refl 5636, 1780–83, AA XVIII: 267: „Quaestio facti ist, auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begriffs gesetzt habe; quaestio iuris, mit welchem Recht man denselben besitze und ihn brauche.“ Die Frage der Metaphysischen Deduktion erweist sich hier aber gerade als quaestio iuris, indem sie die Rechtmäßigkeit des Besitzes apriorischer Begriffe betrifft, die Transzendentale Deduktion hingegen die Rechtmäßigkeit ihres Gebrauchs.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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der Erscheinungen beharrt die Substanz“ (B 224), sind nämlich wesentlich Urteile a priori, die zwar, so der Anspruch, von Gegenständen handeln, deren Wahrheit und Begründung aber unabhängig sind von der Erfahrung dieser Gegenstände (und die zudem auch nicht einfach durch eine Analyse der beteiligten Begriffe eingesehen werden können). „Metaphysische Erkenntnis“, so Kant erneut in der Prolegomena, „muss lauter Urteile a priori enthalten, das erfordert das Eigentümliche ihrer Quellen.“ (AA IV: 266) Diese Quellen hat er dabei kurz zuvor so eingeführt: was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, dass sie nicht empirisch sein können. Die Prinzipien derselben (wozu nicht bloß ihre Grundsätze, sondern auch Grundbegriffe [die Kategorien] gehören) müssen also niemals aus der Erfahrung genommen sein: denn sie soll [...] metaphysische, d. i. jenseits der Erfahrung liegende, Erkenntnis sein. [...] Sie ist also Erkenntnis a priori oder aus reinem Verstande [...]. (AA IV: 265 f.)
Da er metaphysische Erkenntnis als Erkenntnis a priori versteht, die nicht aus der Erfahrung von Gegenständen, sondern vielmehr aus dem reinen Verstand selbst gewonnen ist, nennt Kant das Argument, das zeigen soll, dass die Kategorien in diesem Sinne a priori gegebene Begriffe sind, ihre Metaphysische Deduktion. Es soll zeigen, dass die Kategorien metaphysische Begriffe sind, Begriffe also, durch die wir Gegenstände a priori denken. „Ob es solche Begriffe [Ursache, Größe, Qualität etc.] gibt, ist eine Untersuchung, die in die Metaphysik gehört, weil diese cognitio pura ist.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 905) Diese Untersuchung aber ist die Metaphysische Deduktion. Ihre Frage lautet: Gibt es Begriffe, die uns mit der Natur unseres Vermögens zu denken gegeben sind? Und, wenn es sie gibt: welche sind es? Um den bis hierhin erarbeiteten Begriff der Metaphysischen Deduktion zu vertiefen, wende ich mich nun zunächst einer weitergehenden Betrachtung ihres Gegenstandes zu, d. h. den Kategorien, um im Anschluss die Methode der Metaphysischen Deduktion zu erläutern.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung Das Kapitel „[d]es transzendentalen Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (A 67/B 92), in dem Kant die Metaphysische Deduktion gibt, ist der erste argumentative Abschnitt der „Transzendentalen Logik“, wie Kant sie nennt. Damit bildet die Metaphysische Deduktion auch den Anfang der „Transzendentalen Analytik“, der ersten Abteilung der „Transzendentalen Logik“, und der „Analytik der Begriffe“, des ersten Buches der „Transzendentalen Analytik“. In einer Transzendentalen Logik, so Kant,
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserer Erkenntnis heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat.66 (A 62/B 87)
Es sind dabei die im „Leitfaden“ zu entdeckenden Kategorien, die allein im Verstand selbst entspringen sollen. Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion besteht demnach darin, im Zuge einer isolierten Betrachtung des Verstandes die Begriffe anzugeben, die allein aus diesem Vermögen stammen, und zu erklären, dass sie die Inhalte haben, die sie haben. „Die transzendentale Logik“, so Kant in einer Notiz von 1775, „handelt von Erkenntnissen des Verstandes dem Inhalte nach“ (Refl 4675, AA XVII: 651). Die Transzendentale Logik ist eine Logik des Inhalts von Repräsentationen, insbesondere der Kategorien, d. h. eine Logik ihrer Beziehung auf Gegenstände.67 Die „Transzendentale Analytik“, d. h. die erste Abteilung der „Transzendentalen Logik“, ist nämlich, [d]er Teil der transzendentalen Logik [...], der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann [...]. Denn ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne dass sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt [...]. (A 62 f./B 87)
Die Elemente, ohne die wir keine Gegenstände denken könnten, die Elemente also, ohne die unsere Erkenntnis keinen Inhalt, keine Beziehung auf Gegenstände hätte, sind erneut die im „Leitfaden“ zu entdeckenden Kategorien oder ‚reinen Verstandesbegriffe‘. Sie sollen, wie bereits angedeutet, die allgemeinsten Begriffe des Denkens von Gegenständen sein. In der Einleitung zur „Transzendentalen Analytik“ nennt Kant nun vier Charakteristika dieser Begriffe: Diese Analytik ist die Zergliederung unserer gesamten Erkenntnis a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis. Es kommt hierbei auf folgende Stücke an: 1. Dass die Begriffe reine und nicht empirische Begriffe seien. 2. Dass sie nicht zur Anschauung und zur Sinnlichkeit, sondern zum Denken und Verstande gehören. 3. Dass sie Elementarbegriffe seien und von den abgeleiteten oder daraus zusammengesetzten wohl unterschieden werden. 4. Dass ihre Tafel vollständig sei und sie das ganze Feld des reinen Verstandes gänzlich ausfüllen. (A 64/B 89)
Die Kategorien, die in der Analytik, d. h. in der „Zergliederung unserer gesamten Erkenntnis a priori“, entdeckt werden sollen, so Kant, sind i) rein und nicht empirisch, ii) intellektuell und nicht anschaulich oder sinnlich,
66 Die Transzendentale Logik enthält „die Prinzipien des reinen Denkens“ (A 21/B 36). 67 Zur Transzendentalen Logik als einer Logik des Inhalts von Repräsentationen siehe Tolley (2012): 418, 427–29, 440 f.; (2016): 81 f. Zum Begriff des Inhalts von Repräsentationen siehe zu Beginn des nun folgenden Abschnitts 1.2.1.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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iii) elementar und nicht abgeleitet oder zusammengesetzt und iv) ihre Tafel ist vollständig. Diese Charakteristika der Kategorien dienen Kant u. a. dazu, seine Aufzählung von der bei Aristoteles gegebenen abzugrenzen, mit dem er zwar die „Absicht“ (A 80/B 105) teilt, von dem er sich jedoch „in der Ausführung gar sehr entfernt“ (A 80/B 105). So wirft er Aristoteles z. B. vor, sowohl Begriffe berücksichtigt zu haben, die eigentlich der Sinnlichkeit zuzuordnen sind (ii),68 als auch Begriffe, die nicht selbst elementar, sondern vielmehr abgeleitet sind,69 während andere elementare Begriffe in Aristoteles’ Aufzählung sogar ganz fehlen (iii).70 Die grundlegende Kritik, die Kant in diesem Zusammenhang an Aristoteles äußert und die auch den gerade genannten Kritikpunkten zugrunde liegt, lautet dabei, dass Aristoteles seiner Bestimmung der Kategorien kein Prinzip der Aufzählung zugrunde gelegt habe (iv).71 Kant hingegen erhebt den Anspruch, über ein solches Prinzip zu verfügen: über ein Prinzip, das zeigen kann, welche Begriffe in die Tafel aller reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe von Gegenständen gehören und welche nicht. Hier soll es nun, in Fortführung und Vertiefung des bisher Gesagten, um den Gegenstand und die Methode der Metaphysischen Deduktion gehen und damit um den Gegenstand und die Methode der Transzendentalen Analytik und der Analytik der Begriffe in ihrem jeweils ersten Kapitel. Ausgehend von einigen weiterführenden Bemerkungen zur Unterscheidung von Form, Inhalt und Gegenstand einer Repräsentation (‚Vorstellung‘) erläutere ich zunächst die Charakterisierung der zu entdeckenden Begriffe, d. h. der Kategorien, als rein (i.), intellektuell (ii.) und elementar (iii.) (1.2.1). Im darauffolgenden Abschnitt erörtere ich dann die Methode einer „Zergliederung unserer gesamten Erkenntnis a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis“ (A 64/B 89) und den darin erhobenen Anspruch auf Vollständigkeit (iv.) der zu entdeckenden Begriffe (1.2.2).
68 Der Sinnlichkeit zuzuordnen sind die Begriffe von Ort, Zeit und Lage. Siehe A 81/B 107; Prol, AA IV: 323; V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 548. 69 Die Begriffe von Handeln und Leiden sind vom Begriff der Kausalität abgeleitete Begriffe. Siehe A 81/B 107; V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 400; V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 548. 70 Es fehlen die Kategorien der Modalität, die Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Siehe V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 400; V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 548. 71 Siehe A 81/B 107; Prol, AA IV: 323; FM, AA XX: 271 f.; V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 400.
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
1.2.1 Die Kategorien als reine, intellektuelle und elementare Begriffe Zu Form, Inhalt und Gegenstand von Repräsentationen. Oben habe ich die Unterscheidung zwischen der Form und dem Inhalt einer Repräsentation bereits kurz in Bezug auf Begriffe und Urteile erläutert (siehe 1.1.2). Demzufolge besteht die Form von Repräsentationen darin, auf welche Weise sie von ihren Gegenständen handeln; ihr Inhalt hingegen darin, von welchen Gegenständen sie handeln. Der Inhalt einer Repräsentation ist ihre repräsentationale Beziehung zu ihren Gegenständen: die „Beziehung auf ihr Objekt“ (A 58/B 83).72 Der Inhalt von Repräsentationen besteht darin, dass sie davon handeln, wovon sie handeln. Ihre Form ist hingegen die Art ihrer repräsentationalen Beziehung zu Gegenständen und besteht darin, wie sie davon handeln, wovon sie handeln.73 Ich will diese Unterscheidung nun genauer für Begriffe und Anschauungen erläutern, d. h. für die zwei grundlegenden Arten der Repräsentation von Gegenständen.74 Arten von Repräsentationen unterscheiden sich durch ihre Form. Bestimmte Repräsentationen einer Form unterscheiden sich wiederum durch ihre Inhalte. Anschauungen haben einzelne Form. Sie repräsentieren auf eine Weise, die nur von einem einzelnen Gegenstand gelten kann: Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung.75 (A 32/B 47)
Sinnliche Anschauungen repräsentieren einzelne Gegenstände der Sinne. Sie tun das wiederum in spezifischen Formen. Bei uns Menschen, so Kant, sind diese Formen Raum und Zeit: die einzelnen Gegenstände unserer Sinne nehmen (ebenfalls einzelne) räumliche und zeitliche Stellen ein und stehen in räumlichen und zeitlichen Verhältnissen zueinander.76 Begriffe hingegen haben allgemeine Form.
72 Siehe in Fn. 3. Zu Kants relationalem Begriff des Inhalts von Repräsentationen siehe Sellars (1967): 35 ff., 59 ff. und Tolley (2011): 201 f., 207 f. 73 Die „Form“ einer Erkenntnis ist „die Art, wie wir den Gegenstand erkennen“ (Log, AA IX: 33; V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 510). Vgl. V-Lo/Busolt, AA XXIV: 609 („die Art, wie wir die Gegenstände erkennen“). Siehe Tolley (2011): 208, 222 Fn. 37. 74 Siehe A 320/B 376 f.; Refl 2836, 1773–78, AA XVI: 538; Log, AA IX: 91; Refl 5643, 1780–88, AA XVIII: 282 f. 75 Eine Anschauung „bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln“ (A 320/ B 377). Vgl. V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 395. 76 „Wir kennen nichts, als unsere Art, sie [Gegenstände an sich] wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muss. Mit dieser haben wir es lediglich zu tun. Raum und Zeit sind die reinen Formen derselben“ (A 42/B 59 f.).
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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Sie repräsentieren auf eine Weise, die von verschiedenen Gegenständen gelten kann: Der Begriff ist der Anschauung entgegengesetzt, denn er ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann.77 (Log, AA IX: 91)
Begriffe repräsentieren Arten oder Eigenschaften, die verschiedenen Gegenständen gemeinsam sein können. Der Begriff des Baumes z. B. repräsentiert Bäume, d. h. verschiedene Gegenstände, die u. a. die Eigenschaften teilen, einen Stamm, Äste und Blätter zu haben. Seine Form besteht darin, dass er allgemein repräsentiert. Das macht ihn zu einem Begriff. Sein Inhalt besteht darin, dass er von Bäumen handelt. Das macht ihn zum Begriff des Baumes. Die Anschauung eines Baumes hingegen repräsentiert genau einen Baum, der Gegenstand der Sinne ist, d. h. einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, der u. a. einen Stamm, Äste und Blätter hat und bestimmte räumliche und zeitliche Stellen einnimmt. Ihre Form besteht darin, dass sie einzeln repräsentiert. Das macht sie zu einer Anschauung. Ihr Inhalt besteht darin, dass sie von diesem Baum handelt. Das macht sie zur Anschauung eines Baumes. Begriffe sind darüber hinaus auch in dem Sinne allgemein, dass sie repräsentationale Fähigkeiten sind, die sowohl wiederholt über die Zeit ausgeübt als auch zwischen repräsentierenden Subjekten geteilt werden können. Begriffe sind wiederhol- und teilbare Fähigkeiten der Klassifikation von Gegenständen als Mitglieder einer Art oder Träger allgemeiner Eigenschaften. Anschauungen sind im Unterschied dazu auch in dem Sinne einzeln, dass sie nicht-wiederholbare und nicht-teilbare repräsentationale Akte oder Zustände sind, die allein in ihrer Ausübung, d. h. zu einem bestimmten Zeitpunkt als Akte oder Zustände eines bestimmten repräsentierenden Subjekts vorkommen.78 Dass Begriffe allgemeine Fähigkeiten sind, Anschauungen hingegen einzelne Akte oder Zustände repräsentierender Subjekte, drückt sich auch darin aus, dass Begriffe von Gegenständen erworben sind, nicht jedoch ihre Anschauungen. Sowohl Begriffe als auch sinnliche Anschauungen setzen sich aus Teilrepräsentationen zusammen. Begriffe enthalten weitere Begriffe in sich, Anschauungen
77 „[Man muss] einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält“ (B 39 f.). 78 So auch Haag (2007): 312 f. „Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflektierte Vorstellung (repraesentatio discursiva).“ (Log, AA IX: 91) Vgl. B 136 Anm. („Anschauungen, mithin einzelne Vorstellungen“); V-Lo/Wiener, AA XXIV: 905.
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weitere Anschauungen usw. So enthält z. B. der Begriff des Baumes u. a. die Teilbegriffe von Stamm, Ast und Blatt, aber auch Teilbegriffe höherer Arten (Gattungen) wie Pflanze, Lebewesen usw.; die Anschauung eines Baumes enthält u. a. Anschauungen eines Stammes, von Ästen und Blättern als ihre Teilrepräsentationen in sich. Kant nennt solche Teilrepräsentationen ‚Merkmale‘.79 Die Teilrepräsentationen einer Anschauung sind intuitive Merkmale, die einzelne Eigenschaften und Teile des Einzelgegenstandes repräsentieren, von dem die Anschauung handelt; die Teilrepräsentationen eines Begriffs sind diskursive Merkmale, die allgemeine Eigenschaften und Gattungen der Art von Gegenstand repräsentieren, von der der Begriff handelt.80 Wie die Anschauungen und Begriffe, in denen sie enthalten sind, unterscheiden sich auch intuitive und diskursive Merkmale anhand ihrer Form, d. h. dadurch, wie sie repräsentieren: intuitive Merkmale einzeln, diskursive allgemein.81 Von der Form und dem Inhalt einer Repräsentation ist schließlich ihr Gegenstand zu unterscheiden. Der Gegenstand einer Repräsentation ist das, was eine Repräsentation durch ihren Inhalt repräsentiert und was sie durch ihre Form auf eine bestimmte Weise repräsentiert. Der Gegenstand einer Repräsentation ist damit das, womit eine Repräsentation übereinstimmen muss, um erfolgreich zu repräsentieren. Die Anschauung bezieht sich auf einen einzelnen Gegenstand; der Begriff bezieht sich auf eine Art oder Eigenschaft von Gegenständen, so dass Mitglieder der Art bzw. Einzelgegenstände, die die Eigenschaft aufweisen, unter ihn fallen. Zum Beispiel sind einzelne Bäume die Gegenstände von Baumanschauungen; der Baum im Sinne einer Art ist hingegen der Gegenstand des Baumbegriffs, so dass Mitglieder dieser Art, d. h. einzelne Bäume, unter den Begriff des Baumes fallen. Es sind dabei dieselben Gegenstände, die durch Anschauungen repräsentiert werden, die auch unter den Begriff der entsprechenden Art fallen. Baumanschauungen z. B. repräsentieren dieselben Gegenstände – Bäume –, die auch unter den Begriff ihrer Art, d. h. unter den Begriff des Baumes, fallen.
79 Siehe Refl 2280–86, ab Mitte der siebziger Jahre, AA XVI: 298–300. Vgl. V-Lo/Dohna, AA XXIV: 725. Die Rolle von Merkmalen als Teilrepräsentationen hat auch Smit (2000): 252, 261 f., 264 betont. Ich glaube jedoch, dass Merkmale allein als Teilrepräsentationen zu verstehen sind und nicht auch als Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände, wie Smit (2000): 248, 254 f. zusätzlich annimmt. 80 „Merkmal ist eine Teilvorstellung [...]. Es ist entweder intuitiv [...]: ein Teil der Anschauung, oder diskursiv: ein Teil des Begriffs“ (Refl 2286, 1780–89, AA XVI: 299 f.). Siehe Wolff (1995): 65 f.; Smit (2000): 252, 254, 256. 81 „Begriffe aber sind Merkmale von allgemeinem Gebrauche.“ (Refl 2281, 1776–89, AA XVI: 298) Vgl. FM, AA XX: 273 f.; EEKU, AA XX: 211 Anm.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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Anschauungen von Gegenständen und der Begriff der entsprechenden Art haben so denselben Inhalt, jedoch in unterschiedlicher Form. So bemerkt Kant ausdrücklich in den Fortschritten: Wenn nun ein Begriff ein von der Sinnenvorstellung genommener, d. i. empirischer Begriff ist, so enthält er als Merkmal, d. i. als Teilvorstellung, etwas, was in der Sinnenanschauung schon begriffen war und nur der logischen Form, nämlich der Gemeingültigkeit nach, sich von der Anschauung der Sinne unterscheidet [...].82 (AA XX: 273 f.)
Der Begriff des Baumes und Baumanschauungen z. B. haben denselben Inhalt in unterschiedlicher, einmal in allgemeiner und einmal in einzelner Form. So sind sowohl Anschauungen von Bäumen als auch der Begriff des Baumes Baumrepräsentationen. In Bezug auf die bereits genannten Eigenschaften von Bäumen, u. a. einen Stamm, Äste und Blätter zu haben, gilt dann also, dass sowohl Baumanschauungen als auch der Baumbegriff entsprechende Merkmale enthalten: Baumanschauungen enthalten die intuitiven Merkmale eines einzelnen Stammes, einzelner Äste und Blätter; der Baumbegriff hingegen enthält die diskursiven Merkmale der allgemeinen Eigenschaften Stamm, Ast und Blatt. Wie erklärt sich dieser gemeinsame Inhalt von Begriffen und Anschauungen, z. B. von Baumbegriff und Baumanschauungen? Hier kommt Kants Erklärung der logischen Form von Begriffen durch Akte der Hervorbringung oder Bildung von Begriffen ins Spiel. Die Form von Begriffen, d. h. ihre Allgemeinheit, so Kant, ist gemacht: „Die Form eines Begriffs als einer diskursiven Vorstellung ist jederzeit gemacht“ (Log, AA IX: 93). Allgemeinheit kann nicht gegeben werden. Wir selbst bringen sie durch die Ausübung des Verstandes hervor. Die Akte, durch die wir die allgemeine Form von Begriffen hervorbringen, sind logische Funktionen, d. h. Akte des Verstandes in seinem logischen Gebrauch, der für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist (siehe 1.1.2; ich werde hier noch davon abstrahieren, welche Akte das sind).83 Empirische Begriffe sind dabei, wie Kant an der Stelle aus den Fortschritten sagt, ‚von der Sinnenvorstellung genommen‘. Ihr Inhalt geht auf die Anschauungen zurück, auf deren Grundlage sie gebildet werden. Oben habe ich bereits ausgeführt, dass der Inhalt empirischer Begriffe gegeben ist, d. h. dass ihm Bestimmungen in der Erfahrung von Gegenständen zugrunde
82 „[...] durch Abstraktion [in der Begriffsbildung] kommen wir zu keiner Erkenntnis; die Erkenntnis muss vor der Abstraktion schon da sein. Man ändert durch die Abstraktion nur die Form. [...] Es entspringt nicht der Begriff durch Abstraktion, sondern er wird durch dieselbe nur allgemein gemacht.“ (V-Lo/Philippi, AA XXIV: 452) 83 „Die logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden [...].“ (Log, AA IX: 94) Vgl. Refl 2854, 1772–78, AA XVI: 547 („Logische actus im Begriffe“).
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
liegen, die von unserem Willen unabhängig sind (siehe 1.1.1). Bei empirischen Begriffen bildet so die Erfahrung von Gegenständen den Anwendungsbereich der Begriffsbildung, beim Begriff des Baumes z. B. die Erfahrung von Bäumen. Die Grundlage der Bildung empirischer Begriffe sind dabei Bestimmungen in der Erfahrung, z. B. Anschauungen von Bäumen und ihre intuitiven Merkmale u. a. einzelner Stämme, Äste und Blätter. Die empirischen Inhalte, deren allgemeine Form in der Bildung empirischer Begriffe hervorgebracht wird, wie z. B. die Beziehung auf Bäume, sind damit unwillentlich durch Anschauungen gegebene Inhalte. Die Akte empirischer Begriffsbildung sind auf sinnliche Anschauungen wahrnehmbarer Gegenstände und ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften gerichtet.84 Anschauungen und die in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmale legen dabei die Inhalte der auf ihrer Grundlage gebildeten Begriffe und ihrer diskursiven Merkmale fest, die Inhalte also, durch die empirische Begriffe auf allgemeine Weise von Gegenständen der Wahrnehmung und ihren Eigenschaften handeln. Empirische Begriffe sind ihrem Inhalt nach von Erfahrungen von Gegenständen abgezogen.85 Anschauungen von Bäumen z. B. und die in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmale u. a. eines Stammes, von Ästen und Blättern legen den Inhalt des Begriffs des Baumes und seiner diskursiven Merkmale u. a. von Stamm, Ast und Blatt fest. Der Inhalt so gebildeter Begriffe ist damit davon abhängig, worauf die Akte ihrer Bildung gerichtet sind, und die Inhalte empirischer Begriffe verhalten sich derivativ zu den Inhalten der Anschauungen, auf deren Grundlage sie gebildet werden. In der Begriffsbildung empirischer Begriffe übertragen sich somit Inhalte auf Begriffe, die durch Bestimmungen in der Erfahrung gegeben sind. Die Akte der Begriffsbildung bringen sie lediglich in eine allgemeine Form. Vor dem Hintergrund dieser einführenden Bemerkungen zu Form, Inhalt und Gegenstand von Repräsentationen kann ich nun auch die von Kant auf A 64/B 89 genannten Charakteristika der zu entdeckenden Begriffe erläutern und auf diese Weise die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion präzisieren. Die Kategorien sind, so Kant dort zunächst, rein und nicht empirisch (i.), intellektuell und nicht sinnlich (ii.), elementar und nicht abgeleitet oder zusammengesetzt (iii). Die Kategorien sind reine und keine empirischen Begriffe (i.). Das erste der auf A 64/B 89 genannten Charakteristika, dass die zu entdeckenden Kategorien nämlich reine und keine empirischen Begriffe sind, betrifft die Frage, woher sie ihre Inhalte haben, d. h. den Ursprung ihrer Beziehung auf Gegenstände. Ein
84 Siehe A 76/B 102; Log, AA IX: 94 f. 85 Siehe A 8/B 12 („die Erfahrung [...], von welcher ich diesen Begriff des Körpers abgezogen hatte“), A 23/B 38 („empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden“), A 30/B 46 („empirischer Begriff, der [von irgendeiner] Erfahrung abgezogen worden“).
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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Begriff ist rein, wenn sein Inhalt nicht aus der Erfahrung abgezogen ist, sondern aus dem Verstand selbst stammt: Ein reiner Begriff ist ein solcher, der nicht von der Erfahrung abgezogen ist, sondern auch dem Inhalte nach aus dem Verstande entspringt.86 (Log, AA IX: 92)
Ein reiner Begriff hat damit „lediglich im Verstande seinen Ursprung“ (A 320/ B 377), wie Kant es in der Kritik sagt. Ein reiner Begriff zu sein ist also gleichbedeutend damit, einen Inhalt zu haben, der a priori, d. h. mit der Natur des Verstandes gegeben ist. A priori gegebene Begriffe sind wiederum Begriffe, die auf Bestimmungen des Verstandes beruhen, d. h. auf grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akten des Vermögens zu denken (siehe 1.1.1). Ich will hier nun mehr dazu sagen, wenn auch noch immer in programmatischer Absicht, wie vor diesem Hintergrund die Inhalte reiner Begriffe erklärt, d. h. wodurch sie festgelegt werden. Wie gerade angedeutet ist der Inhalt von Begriffen allgemein davon abhängig, worauf die Akte ihrer Bildung gerichtet sind, und ihre in diesem Sinne gegebenen Inhalte verhalten sich derivativ zu den Inhalten, auf deren Grundlage sie gebildet werden. Um zu verstehen, wodurch Begriffe ihre Inhalte haben, ist daher ihre Hervorbringung zu betrachten, in der repräsentationale Inhalte allererst eine allgemeine Form erhalten und so die Inhalte von Begriffen festgelegt werden. Die Bildung empirischer Begriffe ist auf Bestimmungen in der Erfahrung gerichtet, d. h. auf Anschauungen von Gegenständen, deren Inhalte sich im Zuge der Begriffsbildung auf empirische Begriffe übertragen. Sie werden durch die Akte der Begriffsbildung lediglich in eine andere, in eine allgemeine Form gebracht. So ist zu erwarten, dass die Bildung reiner Begriffe stattdessen auf Bestimmungen des Verstandes gerichtet ist, d. h. auf grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte dieses Vermögens, die bzw. deren repräsentationale Inhalte dabei in eine allgemeine Form gebracht werden und sich in einem genauer zu bestimmenden Sinne auf die so gebildeten Begriffe übertragen. In diese Richtung geht Kant bereits in einer frühen Notiz von 1769: Einige Begriffe sind von den Empfindungen abstrahiert, andere bloß von dem Gesetze des Verstandes, die abstrahierten Begriffe zu vergleichen, zu verbinden oder zu trennen. Der letzteren Ursprung ist im Verstande, der ersteren in den Sinnen. Alle Begriffe von solcher Art heißen reine Verstandesbegriffe, conceptus intellectus puri. (Refl 3930, AA XVII: 352)
86 „Purus ist der Begriff, der unabhängig von der Erfahrung im bloßen Verstande seinen Ursprung hat. Der Begriff z. B. von Ursache, Größe, Qualität etc.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 905) Vgl. V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566; V-MP/Mron, AA XXIX: 796.
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Empirische Begriffe sind davon abstrahiert, so Kant hier, was durch die Sinne gegeben ist, die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe hingegen von Akten (oder ‚Gesetzen‘) des Verstandes selbst. Auch hier sehe ich noch davon ab, auf welche Akte die Bildung reiner Begriffe genau gerichtet ist. (Kant scheint in dieser Notiz noch mit der Idee zu experimentieren, dass es sich dabei um Akte der Analyse und Verwendung von Begriffen handelt.) Die Position, dass die Inhalte der Kategorien auf einer Reflexion auf Akte des Verstandes beruhen, bringt Kant auch noch in einer einige Jahre späteren Notiz zum Ausdruck (in der er bereits, nur um das hier schon kurz anzudeuten, der Position der Kritik nahekommt, dass es die Reflexion auf Akte der Synthesis in der Repräsentation von Gegenständen ist, die die Inhalte der Kategorien erklärt): Die (transzendentalen) Notionen [die Kategorien] stellen nicht Dinge, sondern die Actus des Verstandes vor, sich synthetische Begriffe von Dingen zu machen.87 (Refl 2857, 1776–89, AA XVI: 548)
Die allgemeine Auffassung, dass die Inhalte der Kategorien auf Akten des Denkens von Gegenständen beruhen, kommt dann auch in Beschreibungen der Kritik und der Prolegomena zum Ausdruck, nach denen ein „reiner Begriff allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt [enthält]“ (A 51/B 75) bzw. solche Begriffe „nur das Denken eines Gegenstandes überhaupt enthalten“ (AA IV: 282).88 Reine Begriffe, so Kant hier ausdrücklich, enthalten allein das Denken von Gegenständen als ihren Inhalt. Sie enthalten, so lässt sich das in erster Annäherung ausführen, grundlegende Fähigkeiten und Akte des Denkens, durch die sie sich auf Gegenstände beziehen. Wenn nun der Inhalt von Begriffen davon abhängig ist, worauf die Akte ihrer Bildung gerichtet sind, dann sagt Kant damit auch, dass die Bildung reiner Begriffe auf repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes gerichtet ist, die auf diese Weise zu den Inhalten reiner Begriffe werden. Es sind grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Denkens, durch die reine Begriffe sich auf Gegenstände beziehen. Die Kategorien sollen Begriffe sein, so Kant, die unser Denken von Gegenständen grundsätzlich charakterisieren, Begriffe also, ohne die wir Gegenstände nicht denken könnten. Sie sind Begriffe von Gegenständen überhaupt,89 d. h. Begriffe der allgemeinsten Charakte-
87 „Die Verstandesbegriffe drücken alle actus der Gemütskräfte aus“ (Refl 4642, 1772–75, AA XVII: 622). 88 „Ein reiner Verstandesbegriff ist eine reine Erkenntnis des Objekts durch den bloßen Verstand [...]: mithin kann man ihn auch einen Begriff des reinen Denkens nennen“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 983). 89 Siehe an und in Fn. 56.
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ristika, die Gegenstände des Denkens als solche charakterisieren, wie z. B. die Charakteristika der Substantialität oder Kausalität (siehe 1.1.3). Die Kategorien sind höchst allgemeine „ontologische Prädikate“ (Prol, AA IV: 358; KU, AA V: 181; AA XX: 391), wie Kant sie auch manchmal nennt. Ihre Teilbegriffe sind allgemeinste diskursive Merkmale, die von den allgemeinsten Charakteristika der Gegenstände des Denkens handeln.90 So enthält z. B. die Kategorie der Substanz das Merkmal des Substanz-Akzidens-Verhältnisses, durch das sie Träger von Eigenschaften repräsentiert. Da diesem Begriff keine wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen entsprechen, ist der Begriff der Substanz auch kein Begriff, der aus der Erfahrung von Gegenständen gewonnen werden kann. Er muss vielmehr, so Kant, im Verstand selbst begründet sein, d. h. in einem ihm entsprechenden Akt des Denkens von Gegenständen, hier: im Akt des Denkens eines gemeinsamen Trägers von Eigenschaften.91 Es müssen, so Kant programmatisch, grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes selbst sein, die den Anwendungsbereich der Bildung der Kategorien ausmachen, den Bereich also, auf den die Akte ihrer Bildung gerichtet sind. Die Inhalte der Kategorien, durch die sie von den allgemeinsten Charakteristika der Gegenstände des Denkens handeln, sollen damit in einem genauer zu bestimmenden Sinne durch grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes selbst festgelegt sein. Auf diese Weise wird die Identifikation grundlegender repräsentationaler Fähigkeiten und Akte des Verstandes zu einer der entscheidenden Aufgaben der Metaphysischen Deduktion (siehe 1.1.1). Die Kategorien sollen sich schließlich „als Handlungen des reinen Denkens“ (A 57/B 81) auf Gegenstände beziehen. Zudem wird hier nun deutlich, dass die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akte des Verstandes dabei den Anwendungsbereich der Bildung der Kategorien ausmachen sollen. An dieser Stelle ist erneut das Verhältnis zu Leibniz’ Nouveaux Essais erhellend. Dieser hat dort nämlich eine Position angedeutet, der zufolge die Inhalte von Begriffen, die aus dem Verstand stammen, auf eine Reflexion auf uns selbst zurückzuführen sind. Im Vorwort bemerkt er in diesem Sinne, que les idées, qui n’ont point leur origine de la sensation, viennent de la reflexion. Or la reflexion n’est autre chose qu’une attention à ce qui est en nous, et les sens ne nous donnent point ce que nous portons dejà avec nous. Cela êtant, peut-on nier, qu’il y ait beaucoup d’inné en nostre esprit, puisque nous sommes innés à nous mêmes pour ainsi dire, et qu’il y a en nous: Estre, Unité, Substance, Durée, Changement, Action, Perception, Plaisir, et mille autres objects des nos idées intellectuelles? (Leibniz (1765), Préface: 51)
90 So auch Smit (2000): 252 f. 91 Siehe in Fn. 8. Vgl. B 6.
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Die Inhalte unserer Begriffe, die nicht aus den Sinnen, sondern aus dem Verstand selbst stammen („nos idées intellectuelles“), so Leibniz hier, sollen durch eine Reflexion erklärt werden können, die auf uns selbst gerichtet ist. Wie auch Parallelstellen deutlich machen, sind Charakteristika wie Sein, Einheit und Substantialität uns nach Leibniz in der Selbstreflexion gegeben, da es Charakteristika sind, die uns selbst, d. h. den denkenden Subjekten, als Bestimmungen zukommen (sie sind unserem Geist angeboren, „inné en nostre esprit“).92 Wir verfügen demnach über die Inhalte z. B. der Begriffe von Sein, Einheit und Substantialität, und können Gegenstände durch sie denken, weil wir selbst u. a. Sein, Einheit und Substantialität als Bestimmungen aufweisen und uns diese Bestimmungen in der Reflexion auf uns selbst zugänglich sind. Über den Begriff der Substanz z. B. sagt Leibniz: Je suis d’opinion que la reflexion suffit pour trouver l’idée de la substance en nous mêmes, qui sommes des substances. (Leibniz (1765), § 18: 105)
Weil wir selbst Substanzen sind, so Leibniz’ Überlegung hier, können wir den Inhalt des Begriffs der Substanz auch durch Reflexion in uns selbst finden. Kant glaubt nun zwar ebenfalls, dass die Inhalte der Kategorien in einem bestimmten Sinne durch Selbstreflexion festgelegt sind. Allerdings sind es für ihn nicht Bestimmungen des denkenden Subjekts, die den Gegenstand dieser Reflexion ausmachen, sondern Bestimmungen des Verstandes. In der Bildung der Kategorien reflektieren wir so nicht auf unsere eigenen Bestimmungen, sondern auf unseren Verstand, d. h. auf Fähigkeiten und Akte unseres Vermögens zu denken.93 Anhand dieses Unterschieds lässt sich nun auch deutlicher machen, warum die Leibnizsche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung apriorischer Begriffsinhalte Kant unbefriedigt zurücklässt. Zum einen muss Leibniz für seine Antwort sowohl annehmen, dass wir selbst, d. h. die denkenden Subjekte, die Charakte-
92 „Il faudroit donc que nous fussions nous mêmes hors de nous, car les idées intellectuelles ou de reflexion sont tirées de nôtre esprit: Et je voudrais bien savoir, comment nous pourrions avoir l’idée de l’être, si nous n’étions des Êtres nous mêmes, et ne trouvions ainsi l’être en nous.“ (Leibniz (1765), § 23: 85 f.) Vgl. Leibniz (1765), § 3: 101 f. – Vgl. aber Engstrom (2018): 238 f., der meint, Leibniz antizipiere bereits Kants Ansatz einer Erklärung metaphysischer Begriffe durch eine Reflexion auf kognitive Akte. 93 So auch Sellars (2002b): 346: „Categorial concepts [...] are formed by abstraction, not, however, by reflecting on the self as object, but by reflecting on its conceptual activities. [...] Even before entering his Critical period, Kant had come to think of categorial concepts as derived by reflecting on the nature of mental activity. The crystallization of this insight into the Metaphysical Deduction required only a perspicuous classification of the forms of mental activity.“
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ristika aufweisen, die wir durch a priori gegebene Begriffe denken (eine Annahme, die, wenn überhaupt, nicht so ohne Weiteres gemacht werden kann); als auch, dass sich diese Charakteristika auf von uns verschiedene Gegenstände übertragen lassen (eine Annahme, die so anspruchsvoll ist, dass sie Kants Transzendentale Deduktion überflüssig machen würde). Zum anderen – und das ist im Zusammenhang der Metaphysischen Deduktion wichtiger – kann die Reflexion auf unsere eigenen Bestimmungen uns nicht erklären, wie wir überhaupt dazu in der Lage sind, Charakteristika wie z. B. Einheit und Substantialität zu repräsentieren. Dass wir nämlich fähig sind, Einheit, Substantialität usw. zu denken, wird bei Leibniz einfach darauf zurückgeführt, dass wir uns selbst als Einheiten, Substanzen usw. denken können. Dann übertragen wir diese Fähigkeit, so die Idee, auf das Denken von Gegenständen. Dafür muss die Fähigkeit, Einheiten, Substanzen usw. zu denken, aber bereits angenommen werden. Was genau es dabei heißt, Einheit, Substantialität usw. zu denken, was genau wir also tun, wenn wir solche Charakteristika repräsentieren, sei es nun in Bezug auf von uns verschiedene Gegenstände oder in Bezug auf uns selbst, bleibt auf diese Weise noch völlig ungeklärt. Eine Reflexion auf repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes, auf Fähigkeiten und Akte also, durch die wir Gegenstände als Einheiten, Substanzen usw. denken, verspricht mehr Erfolg, wenn es darum gehen soll, die grundlegenden Inhalte des Denkens in unserer Beziehung auf Gegenstände zu erklären. Wie ist die Reflexion auf Fähigkeiten und Akte des Verstandes, die Kant im Sinn hat, nun aber genauer zu verstehen? Was soll es heißen, auf den Verstand selbst zu reflektieren? Wie schon in der Inauguraldissertation94 und in Notiz 3930 soll Kant auch in der Logik Philippi (1772) über die Kategorien gesagt haben, dass sie ihren Ursprung in einer Reflexion auf Fähigkeiten und Akte des Verstandes in der Erfahrung haben und dass wir sie auf eben diesem Wege erwerben: Es sind dies Begriffe [Begriffe, die a priori gegeben sind], die nicht entspringen durch das, was in die Sinne fällt, die nicht erdichtet sind und nicht abgezogen werden können von den Vorstellungen durch die Sinne. Wo haben wir sie denn her? Der Verstand hat, indem er auf sein eigenes Verfahren bei Gelegenheit der Erfahrungen attendierte, sie sich erworben. [...] Reine Verstandesbegriffe drücken also aus die Gesetze nach denen der Verstand verfährt. (AA XXIV: 452)
Die Kategorien stammen, so erläutert Kant hier, aus einer Reflexion auf den Verstand selbst, und zwar so, wie er sich in der Erfahrung ausdrückt. Die Kategorien werden dabei auf einer Reflexion auf die Charakteristika der Erfahrung von 94 Siehe MSI, AA II: 395.
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Gegenständen beruhen, die nicht auf die Sinne zurückgehen können, sondern vielmehr auf Akte des Verstandes zurückzuführen sind. Sie sind damit zwar nicht aus der Erfahrung erworben, wie empirische Begriffe es sind, aber doch anhand der Erfahrung („bei Gelegenheit der Erfahrungen“).95 Die Kategorien stammen, so die Überlegung, aus der Reflexion auf repräsentationale Akte des Verstandes selbst („auf sein eigenes Verfahren“), wie sie in der Erfahrung, d. h. in sinnlichen Anschauungen von Gegenständen zum Ausdruck kommen. Auch in der Kritik kündigt Kant in diesem Sinne an, dass er „die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen [wird], in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt [...] werden.“ (A 66/B 91) In der Metaphysik Volckmann (1784/5) wird die Erwerbung der Kategorien denn auch wie folgt beschrieben. Es gibt, so heißt es dort, Verstandesbegriffe durch die Reflexionen unseres Verstandes, deren wir bedürfen, wenn wir eine Erfahrung zustande bringen, so, dass wir diese Reflexionen absonderten und bei der Absonderung allein nehmen. Dazu [...] brauchen [wir] nur die Actus unseres Verstandes abzusondern. (AA XXVIII: 372)
Es soll demnach grundlegende Akte („Reflexionen“ oder „Actus“) des Verstandes geben, durch die wir dazu beitragen, die Erfahrung von Gegenständen hervorzubringen („zustande bringen“). Wir können unsere Aufmerksamkeit nun allein auf diese Akte in der Erfahrung von Gegenständen richten, so Kant hier, und sie isoliert betrachten (‚absondern‘). Auf diesen genauer zu beschreibenden grundlegenden Akten des Verstandes, durch die wir Erfahrungen von Gegenständen haben und die wir in der philosophischen Analyse isolieren können, sollen dann in einem genauer zu bestimmenden Sinne die Kategorien beruhen. Kant will so dem Umstand gerecht zu werden, dass Erfahrungen offenbar mehr enthalten als bloß die an Gegenständen wahrnehmbaren Eigenschaften. Die Erfahrung von Bäumen z. B. weist eine bestimmte Einheit auf, die mehr ist, als die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Stammes, von Ästen, Blättern usw.
95 „Allein dieses muss man anführen: dass selbst die Begriffe des Verstandes, obgleich sie nicht von den Sinnen abgezogen sind, doch bei Gelegenheit der Erfahrung entspringen; z. E. den Begriff von Ursache und Wirkung würde keiner haben, wenn er nicht durch Erfahrung Ursachen wahrgenommen hätte. [...] Die Begriffe sind aber durch den Verstand, seiner Natur nach, bei Gelegenheit der Erfahrung entsprungen; denn der Verstand formiert bei Gelegenheit der Erfahrung und der Sinne Begriffe, die nicht von den Sinnen, sondern von der Reflexion über die Sinne abgezogen sind. [...] Also der Materie nach entspringt alles aus den Sinnen; der Form nach aus dem Verstande, die aber dem Verstande nicht angeboren sind, sondern bei Gelegenheit der Erfahrung durch Reflexion entstehen.“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 233) Vgl. Refl 4172, 1769/70, AA XVII: 443.
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So treten diese Eigenschaften als solche auf, die in der Erfahrung eines Baumes miteinander verbunden sind. Diese Einheit des Gegenstandes kann z. B. so aufgefasst werden, dass sie den noch genauer zu beschreibenden Akt des Verstandes ausdrückt, einen gemeinsamen Träger dieser verschiedenen Eigenschaften zu denken oder die ihnen zugrunde liegende Substanz. Es ist dann die Ausübung eben dieses Aktes, so die Überlegung, die die Einheit in der Erfahrung des Baumes erklärt. In erster Annäherung ist es die zentrale Aufgabe der in der Kritik betriebenen, von Kant so genannten ‚transzendentalen Reflexion‘, zu unterscheiden, durch die Ausübung welcher Vermögen und Fähigkeiten verschiedene Aspekte unserer Erfahrung erklärt werden können.96 Das bringt mich zu Kants grundlegender Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand und damit zum zweiten der auf A 64/B 89 genannten Charakteristika der Kategorien. Die Kategorien sind intellektuelle und keine anschaulichen oder sinnlichen Repräsentationen (ii.). Das zweite der auf A 64/B 89 genannten Charakteristika, dass die zu entdeckenden Kategorien nämlich intellektuelle und keine anschaulichen oder sinnlichen Repräsentationen sind, betrifft die Frage, welchem Vermögen sie zuzuordnen sind. Es ist diese „Unterscheidung der Erkenntnisart, wozu sie [Vorstellungen, Begriffe] gehören“ (A 262/B 318), die Kant durch den Ausdruck einer „transzendentalen Überlegung (reflexio)“ (A 262/B 318) bezeichnet. Locke z. B. wirft er vor, mit seinem Empirismus begrifflicher Inhalte „die Verstandesbegriffe [...] insgesamt sensifiziert, d. i. für nichts, als empirische oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben“ (A 271/B 327) und sie so letztlich der Sinnlichkeit und damit dem falschen Vermögen zugeordnet zu haben. Von reinen Begriffen gilt nämlich, so wendet Kant gegen Locke ein, dass „sie einen ganz anderen Geburtsbrief als den der Abstammung von Erfahrungen müssen aufzuzeigen haben.“ (A 86/B 119) Die Kategorien gehen auf das Vermögen des Denkens zurück und nicht auf die Sinne. „Die erste Frage vor aller weiteren Behandlung unserer Vorstellung[en]“, so Kant, „ist die: in welchem Erkenntnisvermögen gehören sie zusammen? Ist es der Verstand oder sind es die Sinne, vor denen sie verknüpft oder verglichen werden?“ (A 260/B 316) Die Unterscheidung zwischen Verstand und Sinnlichkeit, die dieser Frage zugrunde liegt, ist die grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Weisen, sich zu Repräsentationen zu verhalten. Ich will diese Unterscheidung hier nun kurz skizzieren, um das zweite Charakteristikum der Kategorien nach A 64/B 89 zu erläutern. Die eine Weise, sich zu Repräsentationen zu verhalten, besteht darin, „Vorstellungen selbst hervorzubringen“ (A 51/B 75), durch die von Kant so genannte Spontaneität oder den Verstand; die andere
96 Siehe A 260 ff./B 316 ff.
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Weise, sich zu Repräsentationen zu verhalten, besteht darin, „Vorstellungen zu empfangen“ (A 51/B 75), durch die von Kant so genannte Rezeptivität oder Sinnlichkeit. So wird unterschieden, was in unserer Erkenntnis von Gegenständen auf die Ausübung repräsentationaler Akte zurückgeht und was nicht. Das geschieht, wie gerade schon angedeutet, in philosophischer Reflexion anhand der Erfahrung, d. h. in einer Reflexion anhand verschiedener Aspekte, die unsere Erfahrung, unsere empirischen Anschauungen von Gegenständen charakterisieren. Auf der einen Seite sind wir rezeptiv in unserer Erkenntnis von Gegenständen (und nicht rein spontan), da wir, in erster Annäherung, Gegenstände nicht einfach durch Denken hervorbringen können. So sind wir darauf angewiesen, dass uns etwas gegeben ist, das nicht allein auf die Ausübung repräsentationaler Akte zurückgeführt werden kann, wie z. B. der Umstand, dass Gegenstände der Erfahrung die wahrnehmbaren Eigenschaften haben, die sie haben. Auf der anderen Seite sind wir in unserer Erkenntnis von Gegenständen aber auch spontan (und nicht rein rezeptiv), was sich u. a. daran zeigt, dass Erfahrungen von Gegenständen eine bestimmte Einheit aufweisen, die durch ein bloß passives Verhältnis zu Gegenständen allein nicht erklärt werden kann. Zum Beispiel enthält die empirische Anschauung eines Baumes mehr als Repräsentationen der wahrnehmbaren Eigenschaften eines braunen Stammes und grüner Blätter, nämlich deren Verbindung in der Repräsentation eines Baumes. Es ist u. a. diese genauer zu beschreibende Einheit in der Erfahrung von Gegenständen, die auf den Verstand, d. h. auf die Akte der Ausübung dieses Vermögens, zurückgehen soll; den wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen hingegen, werden sie für sich genommen betrachtet, entspricht die Fähigkeit der Sinnlichkeit. Zu Beginn der B-Deduktion beschreibt Kant das so, dass unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist.97 (B 130)
97 „Alle Vorstellungen, die eine Erfahrung ausmachen, können zur Sinnlichkeit gezählt werden, eine einzige ausgenommen, d. i. die des Zusammengesetzten als eines solchen. Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann, sondern wir sie selbst machen müssen: so gehört sie nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit, sondern zur Spontaneität des Verstandes, als Begriff a priori.“ (FM, AA XX: 275 f.) „Meinem Urteile nach kommt alles darauf an: dass [...] die Zusammensetzung nicht vermittels der bloßen Anschauung und deren Apprehension, sondern nur durch die selbsttätige Verbindung des Mannigfaltigen in der Anschauung gegeben [...] werden kann [...]. Nach dem gemeinen Begriffe kommt die Vorstellung des Zusammengesetzten als solchen mit unter den Vorstellungen des Mannigfaltigen welches apprehendiert wird als gegeben vor und sie gehört sonach nicht, wie es doch sein muss, gänzlich zur Spontaneität“ (Br, Brief an Beck, 16. Oktober 1792, AA XI: 376). Vgl. V-MP/Schön, AA XXVIII: 482.
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Die ‚Vorstellungen, die durch Objekte gegeben werden‘, setzen die Fähigkeit voraus, sie durch den Einfluss von Gegenständen auf unsere Sinne zu empfangen, oder die Sinnlichkeit; die Verbindung beruht auf dem Vermögen, sie selbst vorzunehmen, oder auf dem Verstand. Die ‚durch Objekte gegebenen Vorstellungen‘ sind so genannte sinnliche Eindrücke oder Empfindungen, durch die uns einfache sinnliche Qualitäten wie Farbe, Gewicht, Härte, Geräusch usw. gegeben werden.98 Sie liegen unserer Repräsentation wahrnehmbarer Eigenschaften durch empirische Anschauungen zugrunde. „Empfindung“, so führt Kant diesen Begriff ein, ist „[d]ie Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“ (A 19 f./B 34).99 Eine empirische Anschauung ist dann dadurch gekennzeichnet, dass sie „sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht“ (A 20/B 34).100 Wenn Gegenstände unsere Sinne beeinflussen, so bringen sie Empfindungen oder Eindrücke in uns hervor und auf dieser Grundlage repräsentieren wir wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen durch empirische Anschauungen. Dass wir Empfindungen oder Eindrücke überhaupt haben können, beruht auf der Fähigkeit, „Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke)“ (A 50/B 74); und diese „Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit“ (A 19/B 33). Ein, wie Kant es nennt, Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke wird uns unabhängig von der Ausübung repräsentationaler Akte und allein aufgrund des Einflusses von Gegenständen auf unsere Sinne gegeben. Besonders deutlich sagt Kant das zu Beginn des zweiten Schrittes der B-Deduktion in § 21: Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise [im ersten Schritt der B-Deduktion in §§ 15–20] doch nicht abstrahieren, nämlich davon, dass das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt.101 (B 145)
98 Siehe A 20 f./B 35 („was [...] zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc.“); FM, AA XX: 268 f. („was die Beschaffenheit der Sinnenanschauung, in Ansehung ihres Materialen, nämlich der Empfindung betrifft, z. B. Körper im Licht als Farbe, im Schalle als Töne oder im Salze als Säuren usw.“) Vgl. V-MS/Vigil, AA XXVII: 483 („Farbe, Gewicht, Dichtigkeit, Rauhigkeit, Glätte; das ist alles empirisch, es beruht auf sinnlichen Eindrücken“); V-MP/Schön, AA XXVIII: 482 f. 99 „Die Vorstellung vom Eindruck des Gegenstandes auf uns ist Empfindung“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 929). 100 „Die Empfindung macht die Anschauung empirisch. [...] Anschauungen a posteriori oder empirische Anschauungen sind die, welche mit Empfindungen verbunden sind.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 548) Vgl. V-MP/Mron, AA XXIX: 795. 101 „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich“ (A 99). „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts
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Wenn wir durch philosophische Überlegung isolieren,102 was die Fähigkeit der Sinnlichkeit unabhängig von der Ausübung des Verstandes zu unserer Erfahrung von Gegenständen beiträgt, so sind dies sinnliche Eindrücke einfacher sinnlicher Qualitäten, auf deren Grundlage wir durch empirische Anschauungen wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen repräsentieren können. Mit der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke geht zudem eine Weise einher, wie sie uns gegeben sind.103 Diese lässt Kant, wie er oben sagt, an dieser Stelle noch unbestimmt. Es ist u. a. diese spezifische Weise, uns gegeben zu sein, von der Kant im ersten Schritt der B-Deduktion abstrahiert.104 Diese Weise der Gegebenheit aber ist allgemein „das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können“ (A 20/B 34).105 Eine solche „reine Form der Sinnlichkeit“ (A 20/B 34), wie Kant sie nennt, ist allgemein ein System von Verhältnissen, in dem die einzelnen Gegenstände der Anschauung und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften (ebenfalls einzelne) Stellen einnehmen können. Durch ein solches System haben einzelne Gegenstände „ihre Stelle in der Anschauung, darin die Gegenstände allein gegeben werden können“ (A 271/B 327). Die spezifische Form, die unsere Sinne haben, und von der Kant in der B-Deduktion zunächst noch abstrahiert, besteht aus den Repräsentationen von Raum und Zeit (siehe 1.2.1). Wir Menschen repräsentieren ein System zeitlicher und räumlicher Stellen, an denen die einzelnen Gegenstände der Anschauung und ihre Eigenschaften zeitlich nacheinander und räumlich nebeneinander auftreten können.106
als Empfänglichkeit ist“ (B 129). Vgl. A 97, wo Kant „dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis [Rezeptivität] beileg[t]“. 102 Siehe A 22/B 36. 103 „Das, wodurch die Dinge gegeben sind, ist Empfindung; wie sie gegeben sind, reine Anschauungen.“ (Refl 4629, 1772–75, AA XVII: 614) 104 Er abstrahiert dort „noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben [wird]“ (B 144). „Die bloß subjektive Beschaffenheit des vorstellenden Subjekts, sofern das Mannigfaltige in ihm (für die Zusammensetzung und die synthetische Einheit desselben) auf besondere Art gegeben ist, heißt Sinnlichkeit, und diese Art [...] die sinnliche Form der Anschauung.“ (Br, Brief an Beck, 20. Januar 1792, AA XI: 314 f.) Vgl. V-MP/Schön, AA XXVIII: 482: „Die Form der Anschauung ist [...] nichts anderes als die Art, wie das Mannigfaltige gegeben wird.“ 105 „Sie [eine reine Anschauung a priori] ist nichts anderes als das Bewusstsein seiner eigenen Rezeptivität, Vorstellungen (Eindrücke) der Dinge nach gewissen Verhältnissen untereinander zu empfangen.“ (Refl 4673, 1774, AA XVII: 639) 106 „Im Raum oder [in der] Zeit kann ein Ding einen positus [eine Stelle] haben und es wird in Ansehung anderer Dinge gestellt“ (V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 400). Zur Zeit siehe A 30/B 46 („Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“), zum Raum A 23/B 38 („außer- und nebeneinander“).
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Durch die Stellen, die Gegenstände der Anschauung und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften innerhalb dieses Systems von Verhältnissen einnehmen, weisen sie bestimmte Ausdehnungs- und Gestalteigenschaften auf.107 Zum Beispiel erstreckt sich die Existenz eines Baumes über die Zeit und bilden die Verhältnisse seiner wahrnehmbaren Eigenschaften eine bestimmte räumliche Gestalt. „Ausdehnung und Gestalt“ (A 21/B 35) werden nach Kant durch die so genannte „reine Anschauung“ (A 20/B 34 f.) eines Gegenstandes repräsentiert.108 Eine reine Anschauung ist dabei das, so erläutert er bei der Einführung dieses Begriffs, was übrig bleibt, wenn wir hinsichtlich der Repräsentation eines Gegenstandes der Anschauung davon abstrahieren, was durch sinnliche Eindrücke gegeben und was durch den Verstand gedacht wird, d. h. sowohl von einzelnen, wahrnehmbaren Eigenschaften wie z. B. einer bestimmten Farbe, als auch von allgemeinen, nicht-wahrnehmbaren Charakteristika wie z. B. der Substantialität eines Gegenstandes.109 Wie die Kategorien sind auch die reinen Anschauungen von Raum und Zeit ‚a priori gegeben‘.110 Auch sie bringen wir nicht willentlich hervor, sondern sie sind uns bereits mit unserer Fähigkeit der Sinnlichkeit gegeben. Allerdings ist die räumliche und zeitliche Form unserer Anschauung uns nicht durch die Natur sinnlicher Anschauung gegeben, wie die Kategorien uns durch die Natur des Verstandes gegeben sind. Sie bildet vielmehr die Form, die unsere Sinne de facto aufweisen, ohne dadurch jedoch auszuschließen, dass auch andere Formen der Sinnlichkeit möglich sind. Andere Formen der Anschauung, d. h. andere Weisen, die Verhältnisse und Stellen der einzelnen Gegenstände der Anschauung und ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften zu repräsentieren, erscheinen zumindest denkbar.111 Von den Kategorien will Kant hingegen zeigen, dass sie die einzig
107 Siehe B 66, wo Kant „Ausdehnung“ durch „Verhältnisse [...] der Örter in einer Anschauung“ erklärt. 108 „Ausdehnung und Gestalt [...] gehören [bei einem Körper] zum Wesen“ (V-Lo/Busolt, AA XXIV: 635). Zum Begriff des Wesens siehe in Fn. 22. Vgl. Refl 4097, 1769–75, AA XVII: 414: „Das Notwendige des Begriffs macht das Wesen aus. [...] Das erste von demjenigen, was ein Ding ist, heißt Wesen. [...] Das Wesen der Körper besteht in der undurchdringlichen Ausdehnung“. 109 Siehe A 20 f./B 34 f. 110 Siehe A 720/B 748, wo Kant schreibt, dass „von aller Anschauung keine a priori gegeben [ist], als die bloße Form der Erscheinungen, Raum und Zeit“. Vgl. B 38. 111 Siehe in Fn. 76. Siehe A 37/B 54, wo Kant sagt, dass wenn ein mögliches anderes Wesen einen Gegenstand der Anschauung „ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit [die Vorstellung der Zeit], anschauen könnte, so würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vorstellen, eine Erkenntnis geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, mithin auch der Veränderung, gar nicht vorkäme.“ Vgl. V-MP/Heinze, AA XXVIII: 181, 189. – Strawson (1959), Kap. 2 unternimmt den Versuch, eine alternative, nicht-räumliche Form der Individua-
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möglichen Begriffe sind, durch die Gegenstände überhaupt gedacht werden können. Sinnlich anzuschauen, so Kant also, heißt nicht notwendigerweise, räumlich und zeitlich anzuschauen; aber durch Begriffe zu denken heißt notwendigerweise, durch die Kategorien zu denken. Über den ersten Schritt der B-Deduktion sagt Kant nun, dass er dort, da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen, noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahieren muss, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittels der Kategorie durch den Verstand hinzukommt, zu sehen. (B 144)
Ich werde hier nichts weiter zum Argument der B-Deduktion selbst sagen, sondern nur erläutern, was aus dieser Stelle für meine Zwecke hervorgeht.112 Ich habe bereits angedeutet, was die Sinnlichkeit, isoliert betrachtet, unabhängig vom Verstand zur Erfahrung von Gegenständen beiträgt. Sie ist zum einen für das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke verantwortlich, das auf den Einfluss von Gegenständen zurückgeht und unserer Repräsentation wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen zugrunde liegt; zum anderen ist sie verantwortlich für die Art, wie uns dieses Mannigfaltige gegeben ist, d. h. für die in unserem Fall räumliche und zeitliche Form der Sinnlichkeit. Umgekehrt, so Kant nun, sind die Kategorien das, was der Verstand, isoliert betrachtet, unabhängig von der Sinnlichkeit zur Erfahrung von Gegenständen beiträgt.113 Der Verstand ist allgemein das Vermögen „Vorstellungen selbst hervorzubringen oder die Spontaneität der Erkenntnis“ (A 51/B 75). Die Kategorien sollen dabei die Repräsentationen sein, die wir unabhängig von der Sinnlichkeit allein durch den Verstand selbst hervorbringen, und zwar sowohl ihrer allgemeinen Form als auch ihrem repräsentationalen Inhalt nach. Wie gesagt ist es die Verbindung von Repräsentationen, die „nicht durch Objekte gegeben [ist]“ (B 130), sondern vom Verstand selbst vorgenommen werden muss. Der Verstand ist denn auch „das Vermögen, a priori zu verbinden“ (B 135).114 Daraus ergibt sich nun, dass wir die Kategorien mit dem Verstand, unabhängig von der Sinnlichkeit, durch Akte der Verbindung selbst hervorbringen. Eine zentrale Aufgabe der Metaphysischen Deduktion wird denn auch darin bestehen, genauer zu verstehen, wie wir die Kategorien durch Akte der Verbindung selbst hervorbringen. Die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akte, auf denen die Inhalte
tion von Gegenständen der Sinne zu denken und stellt das Gedankenexperiment einer reinen Geräuschwelt an. Siehe Hoeppner (2020), Teil 33.2. 112 Für meine Interpretation der B-Deduktion siehe die zweite Hälfte von Hoeppner (2021). 113 Zur Isolation des Verstandes siehe A 62/B 87. 114 Siehe B 130, wo Kant schreibt, dass „alle Verbindung [...] eine Verstandeshandlung“ ist.
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der Kategorien als a priori gegebene Begriffe beruhen, sind damit in erster Annäherung Fähigkeiten und Akte der Verbindung. Mit dem Verstand bringen wir die Kategorien und damit auch, wie es gerade hieß, die Einheit der Anschauung hervor. Die Kategorien, so deutet sich hier bereits an, sollen auf Fähigkeiten und Akten in der Synthesis der Anschauung beruhen. Die „Einheit der Anschauung“ ist dabei das, wie Kant in einer erhellenden Fußnote in § 21 der B-Deduktion erklärt, „dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt“ (B 144 Anm.). Die Einheit der Anschauung, die in einem genauer zu bestimmenden Sinne nur durch die Kategorien und die Synthesis der Anschauung durch den Verstand zustande kommt, ist dafür verantwortlich, dass durch Anschauungen überhaupt Gegenstände gegeben werden, dafür also, dass Anschauungen überhaupt einzelne Gegenstände der Sinne repräsentieren. Sie ist nämlich, wie Kant es in der Transzendentalen Deduktion der ersten Auflage der Kritik (A-Deduktion) sagt, „diejenige Einheit [...], die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muss, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht.“ (A 109) Sie ist die Einheit, die Anschauungen überhaupt erst zu Repräsentationen einzelner Gegenstände macht, durch die u. a. der Zusammenhang verschiedener Merkmale in der Repräsentation eines Gegenstandes besteht (z. B. der Zusammenhang der Repräsentationen von Stamm, Ästen und Blättern eines Baumes). So beziehen sich auch die sinnlichen Eindrücke in Anschauungen erst durch die Einheit der Anschauung auf wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen, da sie erst durch diese Einheit überhaupt zu Repräsentationen von Gegenständen gehören. Für sich genommen ist eine Empfindung nämlich nichts mehr als eine Repräsentation, „die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes, bezieht“ (A 320/B 376). So gilt von den „Empfindungen der Farben, Töne und Wärme“, dass sie, „weil sie bloß Empfindungen und nicht Anschauungen sind, an sich kein Objekt [...] erkennen lassen“ (B 44).115 Allein mit der Verbindung durch den Verstand weisen Repräsentationen die Einheit auf, die macht, dass sie von Gegenständen handeln und so mehr ausdrücken als bloß einen Zustand des repräsentierenden Subjekts, z. B. mehr als bloß
115 „[...] dasjenige Subjektive, was die Beschaffenheit der Sinnenanschauung, in Ansehung ihres Materialen, nämlich der Empfindung betrifft, [...] [muss] bloß subjektiv bleiben und [kann] keine Erkenntnis des Objekts, mithin keine für jedermann gültige Vorstellung in der empirischen Anschauung, darlegen“ (FM, AA XX: 268 f.). „Anschauung bezieht sich aufs Objekt, Empfindung bloß aufs Subjekt.“ (HE, A 20, AA XXIII: 21) „Empfindung ist eigentlich nur subjektiv und vor den Sinn, Anschauung objektiv und vor den Verstand“ (Refl 1902, 1776–79, AA XVI: 153). Vgl. V-Lo/Dohna, AA XXIV: 707; V-MP/Schön, AA XXVIII: 482.
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eine Farbempfindung. Erst durch den Akt der Verbindung erheben wir den Anspruch, Objekte zu repräsentieren, z. B. als auf eine bestimmte Weise farbig. Für die formalen Eigenschaften der Ausdehnung und Gestalt in der reinen Anschauung eines Gegenstandes gilt dabei dasselbe: auch sie können nur dann als Eigenschaften von Gegenständen repräsentiert werden, wenn sie innerhalb von Anschauungen auf Gegenstände bezogen sind, da auch sie erst durch diese Einheit zu Repräsentationen von Gegenständen gehören. Wenn es allgemein die Einheit der Anschauung ist, durch die eine Repräsentation auf einen Gegenstand bezogen ist, dann gilt das auch für das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke und für die reine Anschauung. Beide gehen zwar zuletzt, wenn wir sie für sich betrachten, auf das Vermögen der Sinnlichkeit zurück. Die wahrnehmbaren und formalen (bei uns: räumlichen und zeitlichen) Eigenschaften eines Gegenstandes repräsentieren sie aber allein innerhalb von Anschauungen, d. h. allein durch die Verbindung des Verstandes. Vor diesem Hintergrund lassen sich die folgenden drei Ebenen unterscheiden: a) was die Sinnlichkeit, in Isolation betrachtet, zur sinnlichen Anschauung beiträgt; b) was der Verstand, in Isolation betrachtet, zur sinnlichen Anschauung beiträgt; und schließlich c) die sinnliche Anschauung, die im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand hervorgebracht wird, d. h. unsere tatsächliche Erfahrung von Gegenständen, von der die Beiträge der Sinnlichkeit und des Verstandes in a) und b) jeweils Abstraktionen sind: a) der Beitrag der Sinnlichkeit: das durch Gegenstände gegebene Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke und die (bei uns: räumliche und zeitliche) Form der Sinnlichkeit/reine Anschauung; b) der Beitrag des Verstandes: Akte der Verbindung/die Kategorien; c) das Ergebnis im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand: die Einheit der Anschauung, d. h. die Repräsentation eines Gegenstandes sinnlicher Anschauung mit seinen wahrnehmbaren und formalen (räumlichen und zeitlichen) Eigenschaften. Beide Weisen, sich zu Repräsentationen zu verhalten, die passive und die aktive Weise, sind unabdingbar für unsere Erkenntnis von Gegenständen. Ich will das an dieser Stelle nur kurz in Bezug auf sinnliche Eindrücke und den Akt der Verbindung andeuten: Über die Sinne werden uns sinnliche Eindrücke gegeben, die durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden, so dass wir auch erst durch solche Eindrücke im Verhältnis zu etwas stehen, das von unseren Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und seiner Existenz nach unabhängig ist. Aber erst durch den Akt der Verbindung stehen
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wir überhaupt in einer repräsentationalen Beziehung zu Gegenständen der Anschauung, d. h. erst hier repräsentieren wir etwas, das wir von uns, von unseren Akten und Zuständen der Repräsentation unterscheiden. Kant selbst hat das in einer Notiz so aufgeschrieben: [...] als Erkenntnis betrachtet geht die Empfindung auf den Gegenstand und die Anschauung ist nur die Form, ihn vorzustellen. Obzwar die Anschauung eigentlich objektiv, Empfindung aber subjektiv ist.116 (Refl 1838, 1772–78, AA XVI: 133)
Wenn Kant die Kategorien auf A 64/B 89 als intellektuelle im Unterschied zu anschaulichen oder sinnlichen Repräsentationen bezeichnet, dann unterscheidet er die Kategorien, zu denen wir uns aktiv verhalten, von sinnlichen Eindrücken und der räumlichen und zeitlichen Form unserer Anschauung, zu denen wir uns auf verschiedene Weisen passiv verhalten. Sinnliche Eindrücke sind etwas, das uns zustößt, dem wir ausgeliefert sind; Raum und Zeit sind etwas, das uns schlicht zukommt, mit dem wir lediglich de facto und kontingenterweise ausgestattet sind. Die Kategorien hingegen bringen wir selbst hervor. Sie beruhen auf dem Akt der Verbindung durch den Verstand, der ein „Actus seiner Selbsttätigkeit“ (B 130) ist und durch den unsere Repräsentationen sich allererst auf Gegenstände beziehen. Die Kategorien sind damit nichts, das jemandem lediglich de facto und kontingenterweise zukommt, oder etwas, wie Kant es am Ende der B-Deduktion in leicht anderem Zusammenhang ausdrückt, „was bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist.“ (B 168) Sie sind nichts, wovon man sagen könnte: „ich bin nur so eingerichtet“ (B 168), dass ich nicht anders als durch die Kategorien denken kann. Sie sind vielmehr „selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis“ (B 167), die die Natur des Denkens von Gegenständen durch Begriffe charakterisieren: die Kategorien sind die Begriffe, die wir selbst durch Akte der Verbindung hervorbringen müssen, um überhaupt durch Begriffe Gegenstände denken zu können. Die Kategorien sind elementare und keine abgeleiteten oder zusammengesetzten Begriffe (iii.). Das dritte der auf A 64/B 89 genannten Charakteristika, dass die zu entdeckenden Kategorien nämlich elementare und keine abgeleiteten oder zusammengesetzten Begriffe sind, betrifft die Frage, wie die Kategorien sich zu anderen Begriffen von Gegenständen verhalten.
116 „Empfindung [...] drückt eben sowohl das bloß Subjektive unserer Vorstellungen der Dinge außer uns aus, aber eigentlich das Materielle (Reale) derselben (wodurch etwas Existierendes gegeben wird)“ (KU, AA V: 189).
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Die Kategorien sollen a) keine aus anderen ‚abgeleiteten‘, sondern generische Begriffe sein. Alle Begriffe sind insofern allgemein, als sie Inhalte haben, die von verschiedenen Gegenständen gelten können. Die Kategorien sollen nun aber höchst allgemein sein, so dass ihnen alle anderen Begriffe von Gegenständen, die selbst keine Kategorien sind, untergeordnet werden können. So ist z. B. der Begriff der Kraft zwar ein reiner, aber auch ein spezifischer Begriff – eine ‚Prädikabilie‘ –, da er unter den ebenfalls reinen, jedoch generischen Begriff der Kausalität fällt (ein ‚Prädikament‘).117 Die Kategorien zeichnen sich also dadurch aus, dass sie die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen sind. Das ist gleichbedeutend damit, dass ein Begriff nur dann ein Begriff von Gegenständen ist, wenn er unter die Kategorien fällt. Die Kategorien sollen b) keine aus anderen ‚zusammengesetzten‘, sondern einfache Begriffe sein. Die Allgemeinheit und Einfachheit von Begriffen verhalten sich umgekehrt zueinander: je allgemeiner ein Begriff ist, d. h. je mehr Gegenstände er unter sich enthält, desto einfacher ist er, d. h. desto weniger Teilbegriffe enthält er in sich.118 Daraus, dass ein Begriff komplex (‚zusammengesetzt‘) und nicht einfach ist, folgt, dass er auch ein spezifischer (‚abgeleiteter‘) und kein generischer Begriff ist.119 Der Begriff der Kraft z. B., d. h. der Begriff „der Kausalität einer Substanz, welche Kraft genannt wird“ (A 648/B 676), ist eine Zusammensetzung aus den reinen, generischen Begriffen der Kausalität und der Substanz und damit ein aus diesen abgeleiteter Begriff.120 Kategorien dagegen, wie z. B. die Begriffe der Kausalität und der Substanz selbst, sind höchst einfach, haben also Inhalte, die sich nicht auf diese Weise weiter in Teilbegriffe zerlegen lassen. So repräsentiert z. B. der Begriff der Substanz lediglich etwas, das Träger von Eigenschaften ist, so dass er, würde er weniger enthalten, fast leer und nur noch der höchste Begriff von einem Gegenstand überhaupt wäre (das gilt für alle Kategorien).121 Die Kategorien zeichnen sich also auch dadurch aus, dass sie die einfachsten Begriffe von Gegenständen sind. Das ist gleichbedeutend damit, dass die Inhalte der Kategorien in allen Begriffen von 117 Siehe A 82/B 108. 118 „Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen gegeneinander in umgekehrtem Verhältnisse. Je mehr nämlich ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt.“ (Log, AA IX: 95) 119 „Die Kategorien mit den modis der reinen Sinnlichkeit oder auch untereinander verbunden geben eine große Menge abgeleiteter Begriffe a priori“ (A 82/B 108). Vgl. FM, AA XX: 272. 120 Vgl. V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 431. 121 Siehe B 6, wo Kant bemerkt, dass der „Begriff [des Objekts als Substanz oder einer Substanz anhängend] mehr Bestimmung enthält als der eines Objekts überhaupt“. Vgl. A 290/B 346, wo er über die Kategorien sagt, dass sie „die einzigen Begriffe sind, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen“. – Zum gegenwärtigen Absatz vgl. Tolley (2012): 436–38.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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Gegenständen als Teilbegriffe enthalten sind. Als elementare Begriffe sind die Kategorien also Begriffe von Gegenständen, die sowohl höchst allgemein als auch höchst einfach sind. Wie ist nun vorzugehen, wenn die Aufgabe darin besteht, alle unsere reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe von Gegenständen anzugeben? Wie ist zu verstehen, was Kant als „Zergliederung unserer gesamten Erkenntnis a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis“ (A 64/B 89) beschreibt? Damit komme ich zur Methode und zum Vollständigkeitsanspruch Kants in der Metaphysischen Deduktion.
1.2.2 Die Methode der Entdeckung und der Anspruch auf Vollständigkeit Die Metaphysische Deduktion hat die Aufgabe, den Ursprung der Kategorien im Verstand, in unserem Vermögen zu denken nachzuweisen. In Kants methodologischer Selbstbeschreibung wird die „Analytik der Begriffe“, deren erstes Kapitel der „Leitfaden“ bildet, denn auch als eine Analyse des Verstandes selbst angekündigt: Ich verstehe unter der Analytik der Begriffe nicht die Analysis derselben oder das gewöhnliche Verfahren in philosophischen Untersuchungen, Begriffe, die sich darbieten, ihrem Inhalte nach zu zergliedern und zur Deutlichkeit zu bringen, sondern die noch wenig versuchte Zergliederung des Verstandesvermögens selbst, um die Möglichkeit der Begriffe a priori dadurch zu erforschen, dass wir sie im Verstande allein als ihrem Geburtsorte aufsuchen und dessen reinen Gebrauch überhaupt analysieren; denn dieses ist das eigentümliche Geschäfte einer Transzendentalphilosophie; das übrige ist die logische Behandlung der Begriffe in der Philosophie überhaupt. Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch eben denselben Verstand, von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden. (A 65 f./B 90 f.)
Kant betreibt eine, wie er sie nennt, „Zergliederung des Verstandesvermögens selbst“. Er unterscheidet sie von der Zergliederung von Begriffen – wie z. B. von der Zergliederung des Begriffs der Substanz oder des Begriffs des Urteils –, in der Begriffe in Bezug auf die in ihnen enthaltenen Teilbegriffe analysiert und auf diese Weise deutlich gemacht werden. Die Analyse des Verstandes nimmt Kant im Unterschied dazu mit der Absicht vor, „die Möglichkeit der Begriffe a priori [...] zu erforschen“. Den Nachweis dieser Möglichkeit beschreibt er dann erneut anhand der zwei Teilaufgaben, die der Metaphysischen Deduktion und der Transzendentalen Deduktion zugewiesen sind. Die Aufgabe der Metaphysische Deduktion ist es, Begriffe a priori „im Verstande allein als ihrem Geburtsorte
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
auf[zu]suchen“; die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion hingegen ist es, den „reinen Gebrauch“ des Verstandes zu analysieren, d. h. den Gebrauch reiner Begriffe (der Kategorien) im Bezug auf Gegenstände. Da das Vermögen des Verstandes nämlich aus repräsentationalen Fähigkeiten und den Akten ihrer Ausübung besteht, sind es gerade solche Fähigkeiten und Akte, auf die eine Analyse des Verstandes gerichtet ist.122 So sollen die Kategorien denn auch auf grundlegende repräsentationale Akte und Fähigkeiten dieses Vermögens zurückgeführt werden (hier: auf ‚erste Keime und Anlagen‘) (siehe 1.1.1). Die Aufgabe lautet dann, diejenigen repräsentationalen Fähigkeiten und Akte anzugeben, die den Verstand grundsätzlich charakterisieren und den reinen, intellektuellen und elementaren Begriffen dieses Vermögens zugrunde liegen. Die philosophische Reflexion richtet sich dabei auf die Akte des Verstandes, wie sie in der Erfahrung von Gegenständen zum Ausdruck kommen. Hier ist erneut an die Charakteristika unserer Erfahrung zu denken, die nicht auf die Fähigkeit der Sinnlichkeit zurückgeführt werden können, sondern vielmehr unter Rückgriff auf repräsentationale Fähigkeiten und ihre Ausübung in Akten des Verstandes zu erklären sind, wie etwa die Einheit der Bestimmungen eines Gegenstandes. Die Kategorien werden, wie es hier erneut heißt, „bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt“. In diesem Sinne sind sie anhand und nicht aus der Erfahrung gewonnen, sind sie ursprünglich und nicht derivativ erworben. Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion besteht darin, den apriorischen Ursprung der Kategorien, d. h. den Ursprung ihrer Inhalte (ihrer Beziehung auf Gegenstände), im Verstand selbst nachzuweisen. Laut der drei bereits besprochenen Charakteristika aus A 64/B 89 sollen die Kategorien dabei reine Begriffe sein, die durch Reflexion auf grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes gebildet werden (i.); sie sollen intellektuelle Begriffe sein, die wir mit dem Verstand durch Akte der Verbindung selbst hervorbringen (ii.); und sie sollen elementare Begriffe sein, d. h. die allgemeinsten und einfachsten Begriffe des Denkens von Gegenständen (iii.) (siehe 1.2.1.i-iii). Schließlich erhebt Kant den Anspruch, nur und alle Begriffe dieser Art anzugeben. Was aber garantiert, dass in der philosophischen Überlegung die richtige Auswahl grundlegender Fähigkeiten, Akte und Begriffe getroffen wird? Das bringt mich zum vierten und letzten der auf A 64/B 89 genannten Charakteristika der Kategorien. Die Tafel der Kategorien ist vollständig (iv.). Dass in der Tafel, mit der die Kategorien aufgezählt werden, nur reine, intellektuelle und elementare Begriffe enthalten sind, und alle Begriffe dieser Art, kann nach Kant nur durch
122 Siehe in Fn. 32.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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ein Prinzip der Aufzählung garantiert werden.123 Die Kategorien sind „nach einem Prinzip aufzusuchen“ und müssen „selbst nach einem Begriffe oder Idee unter sich zusammenhängen“ (A 67/B 92). Die Aufzählung gemäß einem Begriff oder einer Idee als ihrem Prinzip unterscheidet die Tafel der Kategorien von einem bloßen Aggregat im Sinne einer mehr oder weniger zufälligen Ansammlung und macht sie, im Unterschied zu der von Aristoteles gegebenen Aufzählung von Kategorien, zu einem System im Sinne des geordneten Ganzen einer Wissenschaft.124 Die reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe des Verstandes werden ein solches System bilden, da sie die Begriffe des reinen Verstandes sind, d. h. des Vermögens zu denken, betrachtet unabhängig sowohl von empirischen Spezifika als auch vom Verhältnis zur Sinnlichkeit (d. h. von Raum und Zeit als den spezifischen Formen menschlicher Sinnlichkeit). Schließlich sollen die Kategorien Begriffe sein, die uns mit der Natur des Verstandes selbst gegeben sind. So fährt Kant fort, nachdem er auf A 64/B 89 das vierte Charakteristikum der Kategorien genannt hat, d. h. die beanspruchte Vollständigkeit ihrer Tafel: Nun kann diese Vollständigkeit einer Wissenschaft nicht auf den Überschlag eines bloß durch Versuche zustande gebrachten Aggregats mit Zuverlässigkeit angegeben werden; daher ist sie nur vermittels einer Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori und durch die daraus bestimmte Abteilung der Begriffe, welche sie ausmachen, mithin nur durch ihren Zusammenhang in einem System möglich. Der reine Verstand sondert sich nicht allein von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Er ist also eine für sich selbst beständige, sich selbst genugsame und durch keine äußerlich hinzukommenden Zusätze zu vermehrende Einheit. Daher wird der Inbegriff seiner Erkenntnis ein unter einer Idee zu befassendes und zu bestimmendes System ausmachen, dessen Vollständigkeit und Artikulation zugleich einen Probierstein der Richtigkeit und Echtheit aller hineinpassenden Erkenntnisstücke abgeben kann. (A 64 f./B 89 f.)
Da das System, um das es Kant in der Metaphysischen Deduktion geht, das System des reinen Verstandes ist, d. h. das System aller reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe dieses Vermögens, hat der Begriff, der als das Prinzip der Untersuchung fungiert, eine Idee zu sein, die wir vom Verstand selbst bilden, d. h. eine Idee des Verstandes.125 Für die Bildung solcher Ideen und ihre Verwendung als
123 Siehe Prol, AA IV: 323, wo Kant das Erfordernis eines „Prinzip[s]“ betont, „nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und alle Funktionen desselben, daraus seine reinen Begriffe entspringen, vollzählig und mit Präzision bestimmt werden könnten.“ Vgl. FM, AA XX: 281, wo er kritisiert, bei Leibniz und Wolff (und überhaupt in der Metaphysik vor der Kritik) gäbe es einen „Mangel an Vollständigkeit, da noch keine Kritik eine Tafel der Kategorien nach einem festen Prinzip aufgestellt hatte“. 124 Siehe Prol, AA IV: 323 f.; FM, AA XX: 271. 125 So auch Wolff (1995): 136–38; (2017): 84.
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leitende Prinzipien der Untersuchung ist die Vernunft oder „das Vermögen der Prinzipien“ (A 299/B 356) zuständig. Die Vernunft ist dabei nicht auf Gegenstände der Erkenntnis, sondern vielmehr auf den Verstand gerichtet, und zielt auf „das Systematische der Erkenntnis“ durch den Verstand ab, d. h. auf den „Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“ (A 645/B 673).126 Solche Ideen der Vernunft haben die Aufgabe, „den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten“ (A 644/B 672), oder einen „regulativen Gebrauch“ (A 644/ B 672). Sie leiten die Untersuchung auf ein epistemisches Ziel hin, hier auf das System aller reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe des Verstandes. Diese Idee des Verstandes, von der die philosophische Untersuchung in der Metaphysischen Deduktion angeleitet ist, fungiert nun als der titelgebende „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (A 66/B 91). Sie ist der von Kant so genannte Leitfaden zur Erreichung eines epistemischen Ziels oder, wie Kant es hier nennt, einer Entdeckung: der Entdeckung nämlich, dass es reine, intellektuelle und elementare Begriffe des Verstandes gibt, und, welche es sind.127 Eine regulative Idee, so Kant im „Anhang zur Dialektik“, ist die Idee der Form des Systems: Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu dem übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird. (A 645/B 673)
126 Die Vernunft ist „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. [Sie] geht also niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgendeinen Gegenstand [wie der Verstand es tut], sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben“ (A 302/B 359). Vgl. in Fn. 218. 127 So auch Wolff (1995): 178 Fn. 267. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 bemerkt Kant denn auch, dass eine Idee, nämlich die „Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, [...] uns doch zum Leitfaden dienen [dürfte], ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.“ (AA VIII: 29) Vgl. A 623/B 651. Die Bezeichnung eines Leitfadens ist auf den Faden der Ariadne in der griechischen Mythologie zurückzuführen und damit auf einen Faden, der dazu dient, sichere Orientierung in einem Labyrinth zu verschaffen. Siehe im Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783 (Br, AA X: 346), wo Kant von der „Annehmlichkeit einer Kritik“ spricht, „mit einem sicheren Leitfaden in einem Labyrinth herumzuspazieren, darin man sich alle Augenblicke verwirrt und ebenso oft den Ausgang findet.“ Der Leitfaden im „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“, d. h. die diese Untersuchung leitende Idee des Verstandes, dient der Entdeckung des Systems der Kategorien.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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Die Form eines Systems besteht darin, dass jedes seiner Teile, in diesem Falle jede Kategorie, eine eindeutige Stelle im System einnimmt, und damit auch in einem eindeutigen Verhältnis zu allen anderen Teilen des Systems steht, d. h. zu allen anderen Kategorien. Die Kategorien treten in einer bestimmten Anzahl und Ordnung auf. Diese Form oder Einheit eines Systems, so Kant in der „Methodenlehre“, ist wiederum vom Begriff des Zwecks des Systems abhängig: Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stelle der Teile untereinander a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. (A 832/B 860)
Die Idee ist hier ein durch die Vernunft gebildeter Begriff, der ein Ganzes repräsentiert. Sie ist zugleich der Begriff des Zwecks, der das Ganze zusammenhält und der die Form bestimmt, die das Ganze und seine Teile aufweisen müssen, um dem Zweck entsprechen zu können. Der Zweck eines Ganzen ist die Aufgabe, zu deren Erfüllung die Teile des Ganzen gemeinsam beitragen.128 Er bestimmt so über die Form des Ganzen und seiner Teile, über die Form nämlich, die zu seiner Erfüllung erforderlich ist. Bei einem wissenschaftlichen System, wie die Kategorien es bilden sollen, geht es damit um die „Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht“ (A 833/B 861). In der Kritik der Urteilskraft bemerkt Kant in diesem Sinne, dass der Zweck eines Dinges bestimmt, „was das Ding sein solle“, und die „Vollständigkeit“ seiner Teile davon abhängt, „ob alles dazu Erforderliche an ihm sei“ (AA V: 227). Der Zweck eines systematischen Ganzen legt fest, welche Teile für das Ganze erforderlich sind, indem sie jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend zur Erfüllung seines Zwecks sind. Die Metaphysische Deduktion behandelt nun das systematische Ganze des reinen Verstandes, d. h. das Ganze aller reinen, intellektuellen und elementaren Repräsentationen dieses Vermögens. So hat sie die Aufgabe, „jedem reinen Verstandesbegriff seine Stelle und allen insgesamt ihre Vollständigkeit“ (A 67/B 92) zu bestimmen. Die Idee des Verstandes, die als das leitende Prinzip dieser Untersuchung fungiert, muss daher eine Idee vom Zweck
128 Ein Zweck ist „der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser [Begriff] als die Ursache von jenem [Gegenstand] (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird“ (KU, AA V: 220). „Denn die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck.“ (KU, AA V: 426)
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
des Verstandes sein.129 Das System aller reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe des Verstandes ist genau dann vollständig, wenn sie jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend zur Erfüllung dieses Zwecks sind. Was also ist der Zweck des Verstandes, von dem Kant in der Metaphysischen Deduktion ausgeht? Was ist die Aufgabe dieses Vermögens? Der Begriff des Verstandes, den Kant an den Anfang seiner Untersuchung im „Leitfaden“ stellt, ist der Begriff des Vermögens einer „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/B 94). Die Aufgabe des Verstandes gemäß diesem Begriff ist es, in erster Annäherung, durch Begriffe zu erkennen, d. h. Begriffe auf Gegenstände zu beziehen.130 Die leitende Frage der Analyse des Verstandes im „Leitfaden“ lautet dann, welche repräsentationalen Fähigkeiten und Akte erforderlich sind, um Begriffe auf Gegenstände zu beziehen. Begriffe versteht Kant dabei von Anfang an als allgemeine Repräsentationen, d. h. als Repräsentationen mit einer allgemeinen Form, Repräsentationen also, die von verschiedenen Gegenständen gelten können. Gegenstände hingegen versteht er von Anfang an als einzelne Gegenstände. Das Problem einer Erkenntnis durch Begriffe besteht dann darin, zu verstehen, wie allgemeine Repräsentationen auf einzelne Gegenstände bezogen werden können. Wie ist es gerechtfertigt, von diesem Begriff des Verstandes auszugehen? Kant bezieht sich in der Entdeckung zurück auf die „Definition der Kritik, da Verstand als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe erklärt wird“ (AA VIII: 217 Anm.), d. h. auf die Definition im „Leitfaden“, und bezeichnet sie als die einzige angemessene, weil der Verstand dadurch auch als transzendentales Vermögen ursprünglich aus ihm allein entspringender Begriffe (der Kategorien) bezeichnet wird [...]. (AA VIII: 217 Anm.)
Gegeben, das epistemische Ziel des „Leitfadens“ besteht darin, alle reinen, intellektuellen und elementaren Begriffe des Verstandes zu entdecken, so ist von einer Idee des Verstandes auszugehen, die das auch leisten kann. Sie muss, das hat bereits A 299/B 355 f. deutlich gemacht, vom Verstand nicht nur als einem logischen Vermögen handeln, das für die allgemeine und wahrheitsfähige Form unserer Repräsentationen (Begriffe und Urteile) verantwortlich ist, sondern ihn auch als ein transzendentales Vermögen zu verstehen erlauben, das selbst der Ur-
129 Siehe Wolff (1995): 136–38, (2017): 84. 130 Kant verwendet ‚Beziehung auf den Gegenstand‘ und ‚Erkenntnis des Gegenstandes‘ auf A 68 f./B 93 f. auf austauschbare Weise. „Erkenntnisse“ bestehen nämlich, wie Kant es auf B 137 sagt, „in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt.“ Siehe auch Log, AA IX: 33 („Alle unsere Erkenntnis hat eine [...] Beziehung auf das Objekt“). Vgl. V-Lo/ Dohna, AA XXIV: 701; V-MP/Schön, AA XXVIII: 471, 482.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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sprung der Inhalte von Begriffen ist, d. h. der Ursprung der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände. So gibt es einen Sinn, in dem die Idee des Verstandes, der zufolge er das Vermögen einer Erkenntnis durch Begriffe ist, schon mit dem epistemischen Ziel der Metaphysischen Deduktion gegeben ist. Bereits mit der Frage der Metaphysischen Deduktion, ob der Verstand auch durch Begriffe erkennt, die ihm mit seiner Natur gegeben sind, wird der Verstand nämlich als ein Vermögen verstanden, das durch Begriffe erkennt. Die Idee des Verstandes als eines Vermögens der Erkenntnis durch Begriffe ist der Arbeitsbegriff des Verstandes, der Begriff, von dem Kant ausgeht, um ihn im „Leitfaden“ zu entwickeln.131 Er wird dort argumentieren, dass Begriffe, d. h. Repräsentationen mit einer allgemeinen Form, nur in Urteilen auf einzelne Gegenstände bezogen werden können. Allein in Urteilen kann der Verstand also seinen Zweck der Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände erfüllen.132 So entwickelt Kant den Begriff des Verstandes als eines Vermögens der Erkenntnis durch Begriffe im „Leitfaden“ genauer als den Begriff, demzufolge der Verstand ein „Vermögen zu urteilen“ (A 69/B 94, A 81/B 106) ist. Es ist der auf diese Weise entwickelte Begriff des Verstandes, der als das Prinzip der Metaphysischen Deduktion fungiert, als die regulative Idee, der die Untersuchung im „Leitfaden“ folgt.133 Die Tafel der Kategorien, so Kant, „ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen, [...] erzeugt“ (A 80 f./B 106).134
131 Siehe Wolff (2017): 88. 132 Siehe Wolff (1995): 137. 133 Im Anschluss an Kant hat Wilfrid Sellars die Methodologie einer von ihm so genannten transzendentalen Linguistik entwickelt, deren Verfahren dem Vorgehen Kants im „Leitfaden“ eng verwandt ist. Um die Regeln anzugeben, die jede mögliche Sprache aufweisen muss, die von einer objektiven Welt handeln kann, beginnt er mit dem Arbeitsbegriff einer Sprache, demzufolge eine Sprache die Aufgabe hat, empirisches Wissen von der Welt zu generieren, in der sie gebraucht wird. Dann entwickelt Sellars diesen Begriff als den Begriff einer Sprache, deren Ausdrücke als Träger von Bedeutung, Wahrheit und Wissen charakterisierbar sind. Vor diesem Hintergrund will er schließlich die Regeln identifizieren, die jede Sprache aufweisen muss, deren Ausdrücke als Träger von Bedeutung, Wahrheit und Wissen charakterisierbar sind, d. h. jede Sprache, die empirisches Wissen von der Welt generieren kann, in der sie gebraucht wird. Siehe Sellars (2002b): 268, 281. Ähnlich verfährt die ebenfalls an Kant angelehnte konnektive Analyse repräsentationaler Fähigkeiten bei Strawson und Stroud. Siehe Strawson (1959), (1992); Stroud (2000b), (2011). Siehe Hoeppner (2020). 134 „Um aber ein solches Prinzip auszufinden [ein Prinzip, nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und alle Funktionen desselben, daraus seine reinen Begriffe entspringen, vollzählig und mit Präzision bestimmt werden könnten], sah ich mich nach einer Verstandeshandlung um, die alle übrige enthält und sich nur durch verschiedene Modifikationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urteilen.“ (Prol, AA IV: 323)
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Damit ist die Idee des Verstandes als Vermögen zu urteilen der titelgebende „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (A 66/B 91).135 Die leitende Frage der im „Leitfaden“ gegebenen Analyse der Verstandes lautet dann, welche repräsentationalen Fähigkeiten und Akte erforderlich sind, um Begriffe in Urteilen auf Gegenstände zu beziehen. In seiner Antwort wird Kant argumentieren, dass wir dafür sowohl die repräsentationalen Fähigkeiten und Akte des Urteilens benötigen, die in der Tafel logischer Funktionen dargestellt sind, als auch die repräsentationalen Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, auf denen die Inhalte der Kategorien beruhen, die in der Tafel der Kategorien aufgezählt werden. Der Aufzählung aller Kategorien geht denn auch eine Aufzählung aller logischen „Funktionen des Verstandes“ voraus, von denen nach Kant ebenfalls gilt, dass sie „insgesamt gefunden werden [können]“ (A 69/B 94), bzw. eine Aufzählung aller „Funktionen der Einheit in den Urteilen“, von denen gilt, dass man sie „vollständig darstellen kann“ (A 69/B 94).136 Da auch die logischen Funktionen des Denkens vollständig aufgezählt werden sollen, müssen also auch sie ein System bilden, das auf einem Prinzip der Aufzählung beruht.137 So verwendet Kant den Begriff des Verstandes, demzufolge dieser ein „Vermögen zu urteilen“ (A 69/ B 94, A 81/B 106) ist, als das Prinzip der Aufzählung sowohl aller logischen Funktionen des Denkens, die im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion anzugeben sind, als auch aller Kategorien, die im zweiten Schritt anzugeben und im dritten Schritt dann exakt den logischen Funktionen zuzuordnen sind,138 um auf diese Weise schließlich als Begriffe ausgewiesen zu werden, die in demselben Verstand entspringen, der auch urteilt (siehe 1.1.2). Um Kants Arbeitsbegriff und Verständnis der Aufgabe des Verstandes besser zu verstehen, möchte ich dieses einleitende Kapitel mit einigen weiterführenden Anmerkungen dazu beschließen, was genau es ist, das Kant untersucht, wenn er in der Metaphysischen Deduktion unser Vermögen einer Erkenntnis durch Begriffe analysiert. Wie gerade schon bemerkt heißt
135 Als der Leitfaden im „Leitfaden“ fungieren also nicht etwa die formale (Allgemeine) Logik (so Krüger (1968): 334, Frede/Krüger (1970): 33), die Tafel logischer Urteilsformen (so Krüger (1968): 345; Longuenesse (1998a): 3, 4 Fn. 3, 7, 9, 11) oder die Formen der (Allgemeinen) Logik (so Tolley (2012): 430, (2016): 82 f.; Engstrom (2018): 244). Siehe an und in Fn. 127. Zur Allgemeinen Logik siehe 2.3.6. 136 Vgl. V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 988, wo es heißt, „dass wir imstande sind, die Funktionen des Verstandes vollständig aufzufinden“. 137 Siehe A 64 f./B 89 f. 138 So auch Krüger (1968): 337 f.; Wolff (1995): 138, 186.
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das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe zu untersuchen zunächst einmal, die Frage zu stellen, wie eine Erkenntnis durch Begriffe möglich ist, also zu fragen: Was müssen wir können und tun, d. h. welche Fähigkeiten müssen wir haben und ausüben, um durch Begriffe zu erkennen? Die Metaphysische Deduktion ist Kants Versuch, diese Frage zu beantworten. Welche Möglichkeit untersucht Kant nun aber genau, wenn er den Verstand als ein Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe analysiert? Was genau haben wir also, wenn wir eine Erkenntnis durch Begriffe haben? Eine Erkenntnis durch Begriffe besteht in der Beziehung allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände und der Akt, durch den wir Begriffe auf Gegenstände beziehen, ist das Urteil. Das Urteil, so wird Kant argumentieren, ist der einzige Zusammenhang, in dem der Verstand seine Aufgabe einer Erkenntnis durch Begriffe erfüllen kann, da Begriffe nur in Urteilen auch auf Gegenstände beziehbar sind.139 Was aber heißt es genauer, Begriffe durch Urteile auf Gegenstände zu beziehen? Zwei Weisen Kants, Urteile zu charakterisieren, erlauben es hier, sich einer ersten Antwort auf diese Frage zu nähern, und auch anzudeuten, inwiefern Urteile in diesem Sinne die Kategorien erfordern, d. h. Begriffe von Gegenständen überhaupt. Oben habe ich Urteile bereits andeutungsweise anhand der objektiven und wahrheitsfähigen Einheit charakterisiert, mit der sie sich auf Gegenstände beziehen (siehe 1.1.2). Dort habe ich diese Einheit dann von bloßen Begriffen oder Listen unterschieden, die als solche weder wahr noch falsch sind. Dem komplexen Begriff eines teilbaren Körpers oder einer Liste mit den Einträgen ‚Körper‘ und ‚Teilbarkeit‘ z. B. fehlt die besondere Einheit, die das Urteil ‚Körper sind teilbar‘ auszeichnet und überhaupt erst zu einer Erkenntnis durch Begriffe macht, die sich wahrheitsfähig auf Gegenstände bezieht (im Beispiel: auf Körper als teilbare Gegenstände). Um das hier nur kurz anzudeuten: Wie im Fall empirischer Anschauungen ist auch der repräsentationale Anspruch von Urteilen, ihr Wahrheitsanspruch also, von einer genauer zu beschreibenden Einheit der in ihnen enthaltenen Repräsentationen und damit von einem Akt der Verbindung abhängig, durch den Begriffe allererst auf Gegenstände bezogen und Urteile wahr oder falsch von ihnen sind. Mit dem Unterschied von Urteilen zu bloßen Begriffen und Listen wird so die Wahrheitsfähigkeit von Urteilen betont. In Kants eigener Darstellung steht aber meist die Charakterisierung von Urteilen anhand ihrer Objektivität im Vordergrund. Im „Leitfaden“ drückt Kant die Objektivität von Urteilen dadurch aus, dass er die in ihnen vollzogene Erkenntnis durch Begriffe als die
139 Siehe A 68/B 93.
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Beziehung von Begriffen auf Gegenstände beschreibt.140 So erläutert er die Beziehung von Repräsentationen auf Gegenstände in beiden Auflagen der Kritik denn auch im Sinne ihrer Objektivität und umgekehrt, behandelt beide Formulierungen also als austauschbar.141 Die Objektivität von Repräsentationen besteht genau darin, dass sie sich auf Gegenstände beziehen.142 Kant behandelt damit im „Leitfaden“ die logischen Funktionen objektiver Urteile, was nichts anderes heißt, als dass er die Funktionen angeben will, die in Urteilen ausgeübt werden müssen, um Begriffe in Urteilen auf Gegenstände beziehen zu können.143 Dass Begriffe nun auf Gegenstände bezogen sind, bedeutet in erster Annäherung, dass sie sich auf etwas beziehen, das vom Subjekt, von den Akten und Zuständen der Repräsentation verschieden und unabhängig ist. Es geht also darum, dass eine Repräsentation „auf etwas [...] von den Subjekten Unterschiedenes, d. i. auf ein Objekt, bezogen wird.“ (Br, Brief an Beck, 1. Juli 1794, AA XI: 515) Begriffe sind somit auf Gegenstände repräsentationaler Akte oder Zustände bezogen, wenn sie auf etwas bezogen sind, das selbst nicht wiederum ein repräsentationaler Akt oder Zustand des Subjekts ist. Im „Leitfaden“ wird Kant argumentieren, dass für einen solchen Bezug von Begriffen auf Gegenstände zuletzt sinnliche Anschauungen erforderlich sind, da nur diese, und anders als Begriffe, direkt auf einzelne Gegenstände bezogen sind und nicht wieder auf andere Repräsentationen.144 Dass Begriffe in Urteilen auf Gegenstände bezogen
140 Siehe A 68 f./B 93 f. So auch Allison (2004): 84 f. 141 Siehe A 109 („Beziehung auf einen Gegenstand, d. i. objektive Realität“), B 137 („die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit“), A 155/B 194 („objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen“). 142 In Übereinstimmung damit grenzt Kant bloß subjektiv gültige Urteile auch durchgehend gerade von Urteilen ab, die sich auf Gegenstände beziehen. Siehe Prol, AA IV: 298f., zitiert in Fn. 146. 143 So auch Longuenesse (1998a): 78, Allison (2004): 136. Es geht also gerade nicht um einen Begriff des Urteils, der auch bloß subjektiv gültige Urteile etwa im Sinne bloß assoziativer Verknüpfungen umfasst, wie Brandt (1991): 17, 22, 33, 36 meint. Auf A 68 f./B 93 f. lässt Kant es mit der Rede von der ‚Erkenntnis von Gegenständen‘ und der ‚Beziehung auf Gegenstände‘ gerade nicht „offen, ob das Urteil subjektiv oder objektiv gültig ist“ (Brandt (1991): 22). Brandts Auffassung ist eng mit seiner Überzeugung verknüpft, dass die ersten beiden Abschnitte des „Leitfadens“ der formalen (Allgemeinen) Logik zuzuordnen sind (vgl. Brandt (1991): 17, 33, 51 f.). Zur Allgemeinen Logik siehe 2.3.6. Aber auch das ist nicht zu halten. Der „Leitfaden“ gehört als ganzer zur „Transzendentalen Logik“. So auch Schulthess (1981): 259, Wolff (1995): 32. Das zeigt sich schon daran, dass Kant ihn ausdrücklich als „transzendentalen“ (A 67/B 92) Leitfaden bezeichnet. Zur Transzendentalen Logik siehe 1.2, 2.3.6. 144 Siehe A 68/B 93. Auf B 158 bemerkt Kant, dass „zur Erkenntnis eines von mir verschiedenen Objekts, außer dem Denken eines Objekts ü̈berhaupt (in der Kategorie), ich doch noch einer Anschauung bedarf, dadurch ich jenen allgemeinen Begriff bestimme“.
1.2 Der Begriff der Kategorien und die Methode ihrer Entdeckung
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sind bedeutet darüber hinaus, dass Urteile von bloß subjektiven Einheiten wie z. B. assoziativen Verknüpfungen zu unterscheiden sind, die eben gerade nicht von etwas handeln, das von subjektiven Akten und Zuständen, d. h. von einer Einheit bloß in uns, verschieden und unabhängig ist. Ein Urteil, so Kant in § 19 der B-Deduktion, ist ein Verhältnis, das objektiv gültig ist und sich von dem Verhältnis eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet. (B 142)
Ein Beispiel, das Kant von dem Fall gibt, in dem dieselben Repräsentationen einmal zu einer bloß subjektiven und einmal zu einer objektiven Einheit miteinander verbunden werden, ist der Unterschied zwischen der subjektiven Einheit der assoziativen Verknüpfung „Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere“ (B 142) und der objektiven Einheit des Urteils „er, der Körper, ist schwer“ (B 142). Nur im Urteil repräsentieren wir, dass Bestimmungen „im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden“ (B 142) sind. In einem Urteil der Form ‚S ist P‘ etwa, z. B. im Urteil ‚Körper sind schwer‘, ist es dabei die Kopula (‚ist‘/‚sind‘), die diese Verbindung im Gegenstand ausdrückt.145 Im Urteil erheben wir so den Anspruch, dass die Weise, wie wir Repräsentationen miteinander verbinden, auch der Weise entspricht, wie Bestimmungen im Gegenstand des Urteils miteinander verbunden sind. Urteile sollen auf diese Weise mehr ausdrücken als bloß eine Verbindung im urteilenden Subjekt, wie z. B. die Verbindung zwischen dem Tragen eines Körpers und dem Gefühl der Schwere. In Urteilen beanspruchen wir vielmehr, dass die Verbindung im Gegenstand besteht, als eine Verbindung also, die vom Zustand oder Akt ihrer Repräsentation verschieden und unabhängig ist.146 Mit dem Urteil ‚der Körper ist
145 Auf B 141 f. vertritt Kant, ein Urteil sei „die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen. Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben, um die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden.“ Vgl. VLo/Blomberg, AA XXIV: 274: „Die Form des Urteils ist das Verhältnis. Das Zeichen, welches dieses Verhältnis oder die Form anzeigt, ist die copula est.“ Siehe Sellars (2002b): 274: „To judge, for example, that snow is white is not just to represent snow and represent white; it is to be committed to the idea that the representable snow and the representable white belong together regardless of what anyone happens to think. [...] This thesis finds its clearest expression in section 19 of the Second Edition Deduction“. 146 Siehe Prol, AA IV: 298, wo Kant erläutert, ein Urteil „für objektiv halten“ hieße, „dass es nicht bloß eine Beziehung der Wahrnehmung auf ein Subjekt, sondern eine Beschaffenheit des Gegenstandes ausdrücke“. Und in Prol, AA IV: 299 sagt er über die Gültigkeit objektiver Urteile, dass sie „sich nicht auf das Subjekt oder seinen damaligen Zustand ein[schränkt].“ –
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
schwer‘ erheben wir z. B. den Anspruch, dass der Körper schwer ist und dass dies verschieden und unabhängig davon ist, dass wir seine Schwere fühlen. Es ist dabei genau ihr Objektivitätsanspruch, der Urteile in ihrer Beziehung von Begriffen auf Gegenstände wahr oder falsch (wahrheitsfähig) macht, und zwar abhängig davon, ob die repräsentierte Verbindung auch im Gegenstand besteht oder nicht.147 Es sind die Gegenstände unserer Urteile, die sie wahr oder falsch machen. Um nun aber Repräsentationen im Urteil so miteinander zu verbinden, dass die Verbindung der allgemeinen Weise entspricht, wie Bestimmungen ‚im Objekt‘ miteinander verbunden sind, benötigen wir, in erster Annäherung, ein Verständnis dessen, was es überhaupt heißt, in einem Objekt verbunden zu sein. Wir brauchen ein Verständnis der Einheit, die Objekte auszeichnet, im Unterschied zu Verbindungen bloß in uns. Wir brauchen also einen Begriff vom Objekt, oder, wie Kant sie nennt, Begriffe von Gegenständen überhaupt: Begriffe, die von den allgemeinsten Charakteristika handeln, die die Gegenstände einer Erkenntnis durch Begriffe auszeichnen, oder Kategorien. Nur wenn wir wissen, was es heißt, das Objekt einer Erkenntnis durch Begriffe zu sein, wissen wir auch, was es heißt, Repräsentationen im Urteil so miteinander zu verbinden, dass sie eine Verbindung im Gegenstand repräsentieren können. Über dieses Wissen verfügen heißt aber, so wird sich zeigen, über bestimmte grundlegende repräsentationale Fähigkeiten zu verfügen, die den Kategorien zugrunde liegen. Indem Kant seine Untersuchung im „Leitfaden“ auf diese Weise als eine Untersuchung der Möglichkeit einer Erkenntnis durch Begriffe aufzieht, die wir nur in Urteilen haben können, verleiht er ihr einen philosophischen Fokus, der ihn zuletzt auf die Kategorien führen wird. Diesen Fokus bildet die Frage, welche repräsentationalen Fähigkeiten und Akte erforderlich sind, um Begriffe auf von unseren Akten und Zuständen der Repräsentation verschiedene und unabhängige Gegenstände zu beziehen. Was müssen wir können und tun, um in diesem Sinne objektive und wahrheitsfähige Urteile zu fällen? Die nun folgenden drei Kapitel sollen zeigen, wie Kants Beantwortung dieser Frage ihn auf die Kategorien führt.
Siehe Stroud (2011): 132: „[...] in order to think or experience anything one must be capable of judgment – of thinking that such-and-such is so. That in turn requires a capacity to think of things’ being so or not so independently of the thinking of it. And that requires making sense of a distinction between a thinking subject with his or her thoughts and experiences on the one hand and something or other that is independent of a thinking subject on the other – the truth or falsity of what the thinker thinks or experiences to be so.“ 147 So auch Reich (2001): 46 f., 51; Baum (1986): 123 f.; Thöle (1991): 71 f.; Allison (2004): 87 f.
1.3 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
63
1.3 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung (Horstmann, Reich, Krüger) Zusammenfassung. Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion ist der Nachweis, dass es bestimmte Begriffe gibt, über die wir verfügen und verfügen müssen, die so genannten Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe. Kategorien, so Kant, sind Begriffe von Gegenständen überhaupt, d. h. Begriffe, die für das Denken von Gegenständen überhaupt erforderlich sind: Sie sollen Begriffe der allgemeinsten Charakteristika von Gegenständen des Denkens sein, ohne die uns ein Denken von Gegenständen nicht möglich wäre. Kant beschreibt die Kategorien dabei als Begriffe, die einen Ursprung a priori haben. Das ist so zu verstehen, dass ihr Inhalt, d. h. die mit ihnen beanspruchte repräsentationale Beziehung auf Gegenstände, im Verstand selbst begründet ist. Die Kategorien sind Begriffe, so Kant, deren repräsentationale Inhalte weder auf die Erfahrung von Gegenständen zurückgehen noch willentlich von uns hervorgebracht werden, sondern uns mit der Natur des Verstandes selbst gegeben sind, d. h. mit der Natur unseres Vermögens zu denken. Wenn Kant die Kategorien als a priori gegebene Begriffe beschreibt, als Begriffe also, deren Inhalte uns mit der Natur des Verstandes gegeben sind, dann beschreibt er sie als Begriffe, denen grundlegende Bestimmungen dieses Vermögens entsprechen und zugrunde liegen, d. h. grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes. Der Nachweis, dass die Kategorien einen apriorischen Ursprung in diesem Sinne haben, erfordert es daher, grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes zu identifizieren. Um nun auf diese Weise Begriffe anzugeben, deren Inhalte auf grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akten des Verstandes beruhen, ist zunächst ein Begriff des Verstandes zu entwickeln, d. h. ein Begriff des Vermögens, durch das wir Gegenstände denken. Der Begriff eines Vermögens aber ist allgemein der Begriff der Aufgabe, zu deren Erfüllung es uns befähigt. Kant versteht es nun als die Aufgabe des Verstandes, durch Begriffe zu erkennen. Der Verstand, so Kants Arbeitsbegriff, ist das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe. Unter einer Erkenntnis durch Begriffe versteht er dabei die Beziehung allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände, wobei die Gegenstände der Repräsentation hier so aufgefasst werden, dass sie von den Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig sind. Die Frage, die sich aus Kants Arbeitsbegriff des Verstandes ergibt, lautet dann: Was müssen wir können und tun, d. h. welche repräsentationalen Fähigkeiten müssen wir haben und ausüben, um Begriffe auf Gegenstände zu beziehen? Kant wird argumentieren, dass die Beziehung allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände nur durch Urteile möglich ist. Er spezifiziert den Begriff des Verstandes
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
so als den Begriff des Vermögens, Urteile zu fällen, und fragt nach den repräsentationalen Fähigkeiten, die wir haben und ausüben müssen, um Begriffe in objektiven, wahrheitsfähigen Urteilen auf Gegenstände beziehen zu können. Die Analyse der für solche Urteile erforderlichen Fähigkeiten und Akte, die Kant im „Leitfaden“ entwickelt, um diese Frage zu beantworten, wird ihn im Verlauf dieses Kapitels schließlich auf die Kategorien führen, d. h. auf die Begriffe des Denkens von Gegenständen überhaupt. Kants Weg im „Leitfaden“ führt ihn dabei von einem logischen über einen transzendentalen zu einem höheren Begriff des Verstandes, so dass das Kapitel insgesamt als eine Entwicklung des Begriffs des Verstandes beschrieben werden kann. Er beginnt, in den ersten beiden Abschnitten, mit einer Betrachtung des Verstandes als logisches Vermögen, das für die logische Form oder Einheit von Urteilen verantwortlich ist, d. h. für ihre Wahrheitsfähigkeit und Objektivität. Dann geht er, im dritten Abschnitt, zu einer Betrachtung des Verstandes als transzendentales Vermögen über, das für die Einheit von Anschauungen als Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne und so zuletzt für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist, insbesondere aber für den Inhalt der Kategorien, der in allen Begriffen von Gegenständen enthalten ist. Schließlich bringt Kant den „Leitfaden“ mit der Einführung eines höheren Begriffs des Verstandes zum Abschluss und betrachtet den Verstand auf diese Weise als ein Vermögen, das sowohl für die logische Form von Urteilen als auch für Anschauungen und den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist. Daraus folgert er dann den apriorischen Ursprung der Kategorien, d. h. den Ursprung ihrer Inhalte in demselben Verstand, der auch urteilt, und erfüllt so die Aufgabe, die er sich in der Metaphysischen Deduktion gestellt hat. Die drei Teilaufgaben der Metaphysischen Deduktion, die diesen Begriffen des Verstandes entsprechen, sind dabei i) die Angabe der logischen Funktionen des Urteils zur Erklärung der logischen Form oder Einheit des Urteils (logischer Begriff des Verstandes), ii) die Angabe der Kategorien bzw. ihrer nicht-empirischen Inhalte zur Erklärung der Einheit von Anschauungen und des Inhalts von Repräsentationen (transzendentaler Begriff) und iii) die Zuordnung der Kategorien zu den logischen Funktionen des Urteils, um so ihren Ursprung im Verstand selbst nachzuweisen (höherer Begriff). Diese drei Schritte gliedern denn auch die vorliegende Untersuchung der Metaphysischen Deduktion. Im nun folgenden Kapitel setze ich mich mit Kants logischem Begriff des Verstandes auseinander und rekonstruiere seine Analyse des Urteils und der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände. Im nächsten Kapitel beschäftige ich mich dann vor diesem Hintergrund mit Kants transzendentalem Begriff
1.3 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
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des Verstandes und rekonstruiere seine Analyse der Synthesis von Anschauungen und des Inhalts unserer Repräsentationen, insbesondere der Kategorien als der Begriffe von Gegenständen überhaupt. Im letzten Kapitel behandle ich schließlich Kants höheren Begriff des Verstandes und rekonstruiere sein Argument für den Ursprung der Kategorien in demselben Vermögen, das auch urteilt, oder im Verstand. Hieraus ergibt sich nun das folgende Bild sowohl der Metaphysischen Deduktion als auch der vorliegenden Untersuchung dieses Arguments, eine vor dem Hintergrund des Gesagten genauer ausgeführte Fassung des Bildes von oben (siehe 1.1.2): Metaphysische Deduktion
Erster Schritt
Zweiter Schritt
Dritter Schritt
Begriff des Verstandes
Logischer Begriff des Verstandes
Transzendentaler Begriff des Verstandes
Höherer Begriff des Verstandes
Gebrauch des Verstandes
Logischer Gebrauch: Ausübung logischer Funktionen des Urteils
Realer Gebrauch: Ausübung realer Funktionen der Synthesis der Anschauung
–
Explanandum
Logische Form oder Einheit des Urteils
Einheit der Anschauung/Inhalt der Kategorien
Ursprung a priori der Kategorien
Explanans
Logische Funktionen des Urteils
Reale Funktionen der Synthesis der Anschauung
Exakte Zuordnung realer und logischer Funktionen
Anmerkungen zur Forschung (Horstmann, Reich, Krüger). Zum Abschluss will ich noch kurz ausgewählte Beiträge der Forschung zu einigen der in diesem Kapitel behandelten Fragen diskutieren. Es gibt nicht viele gründliche Auseinandersetzungen mit der Frage, was genau die Aufgabe von Kants Metaphysischer Deduktion ist. Eine Ausnahme bildet hier Rolf-Peter Horstmann, der sich eingehend mit dem Problem befasst hat, „was überhaupt unter einer metaphysischen Deduktion zu verstehen ist“.148 Entscheidend ist dabei die Frage, so Horstmann, „was denn im Rahmen der Deduktion eines Begriffs als geklärt vorausgesetzt werden muss, ehe man sinnvollerweise auf die Idee kommt, sich die transzendentale Deduktion
148 Horstmann (1997): 61.
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
eines Begriffs zum Programm zu machen.“149 Die vor dem Hintergrund von B 159 und der Analogie mit einer metaphysischen Erörterung naheliegende und, wie ich glaube, richtige Antwort, dass nämlich für den Nachweis der objektiven Gültigkeit eines Begriffs a priori zunächst der Nachweis seiner Apriorität zu erbringen ist, weist Horstmann mit der Begründung zurück, die betreffenden Begriffe seien schon „als apriorische Begriffe vorausgesetzt“.150 Bei einem Begriff wie dem der Substanz stelle sich die Frage nach seiner Apriorität gar nicht, da es doch selbstverständlich sei, dass dieser Begriff kein empirischer Begriff sein könne. Wie sich gezeigt hat, ist der positive Nachweis der Apriorität von Begriffen für Kant aber sehr wohl erforderlich, da er einen Unterschied macht zwischen nicht-empirischen Begriffen, die im Verstand entspringen, und solchen, die das nicht tun (siehe 1.1.1).151 Bei Begriffen a priori, die aus dem Verstand selbst stammen, ist die Zurückführung auf grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes möglich und nötig. Ohne einen solchen positiven Nachweis der Apriorität eines Begriffs hätten wir keine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Ursprung von Begriffen, die die Natur des Denkens charakterisieren sollen. Neben a priori ‚gegebenen‘ Begriffen, denen Bestimmungen, d. h. repräsentationale Fähigkeiten und Akte, in der Natur des Verstandes selbst entsprechen, gibt es nämlich auch Begriffe, die a priori ‚gemacht‘ sind, wie z. B. mathematische152 oder von Kant so genannte ‚usurpierte‘ Begriffe.153 Solche gemachten Begriffe sind zwar ebenfalls Begriffe a priori, sie entstammen aber nicht der Natur des Verstandes, sondern beruhen vielmehr auf unserer willentlichen Zusammensetzung. Der Ausweis eines Begriffs als a priori gegeben ist daher nicht gleichbedeutend mit dem Ausweis als Begriff a priori, wie Horstmann dies meint.154 Die Kategorien sollen vielmehr a priori gegebene Begriffe sein, die in der Natur, in Bestimmungen des Verstandes selbst ihren Ursprung haben, und es ist die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion, sie als solche auszuweisen.155
149 Horstmann (1997): 66. 150 Horstmann (1997): 64. So auch de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 1: 211, Bd. 2: 23. 151 Gemäß dem Verfahren der Metaphysischen Deduktion kann dieser Unterschied auch als einer zwischen nicht-empirischen Begriffen beschrieben werden, die sich logischen Funktionen des Verstandes zuordnen lassen, und solchen, bei denen das nicht möglich ist. 152 Siehe A 594/B 622; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914, 918 f. 153 Siehe A 84/B 117. 154 Siehe Horstmann (1997): 62. Siehe in Fn. 20. 155 Siehe Guyer (2001): 317 f. Guyer (2001): 319 irrt dann allerdings ebenfalls darin, dass er meint, in der Metaphysischen Deduktion gehe es um den Gebrauch der Kategorien von Gegenständen. Auch Wolff (1995): 115 Fn. 123 kritisiert Horstmanns Verständnis der Aufgabe der Metaphysischen Deduktion.
1.3 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
67
Zwar glaubt auch Horstmann, dass es die Aufgabe einer Transzendentalen Deduktion ist, den Nachweis der objektiven Gültigkeit eines Begriffs a priori zu erbringen.156 Vor dem Hintergrund, dass er den Nachweis der Apriorität eines Begriffs für trivial hält, glaubt er allerdings auch, dass es schon in der Metaphysischen Deduktion um die objektive Gültigkeit der Kategorien geht. Die Metaphysische Deduktion zeige, so Horstmann, dass die Kategorien sich auf Gegenstände beziehen, die Transzendentale Deduktion hingegen, wie sie dies tun.157 Das ist aber nicht nur unvereinbar mit der Aufgabe der Metaphysischen Deduktion nach B 159, sondern macht das Argument schlicht zu einem Teil der Transzendentalen Deduktion. So bezieht Horstmann sich in seiner Rekonstruktion denn auch vor allem auf die so genannte objektive Deduktion, d. h. auf das von Kant in der A-Vorrede als die objektive Seite der Transzendentalen Deduktion beschriebene Argument.158 Das ist aber, wie sich gezeigt hat, ganz unnötig, da die Metaphysische Deduktion dem nicht-trivialen Problem der Apriorität der Kategorien zugeordnet werden kann und die Transzendentale Deduktion dann dem daran anschließenden Problem ihrer objektiven Gültigkeit. An Auseinandersetzungen mit der Methode der Metaphysischen Deduktion, vor allem aber mit Kants Weg zur Tafel der logischen Funktionen des Denkens in ihrem ersten Schritt, mangelt es hingegen nicht. Hier ist besonders an die Positionen zu denken, die Klaus Reich und Lorenz Krüger entwickelt haben. Klaus Reich hat vorgeschlagen, Kants Argument für die Tafel logischer Funktionen als eine Analyse des Begriffs vom „Urteil überhaupt“159 zu verstehen. Reich glaubt zudem, dass Kant dieses Argument im „Leitfaden“ selbst nicht gegeben hat, aber meinte, dass es mithilfe von Überlegungen aus dem Umfeld der Transzendentalen Deduktion gegeben werden könnte.160 Reich macht es sich zur Aufgabe, dieses Argument selbst zu entwickeln, um es im Anschluss „aus Kants Werk und Nachlaß“161 als ein Argument in Kants Sinne auszuweisen. Zu den Gründen, dieses Vorgehen für unvereinbar damit zu halten, was Kant im Sinn hatte, haben Reinhard Brandt und Michael Wolff das Nötige gesagt.162 Die Argumente für die Tafel logischer Funktionen, wie auch die Argumente für die Tafel
156 Siehe Horstmann (1997): 63, 67 f. 157 Siehe Horstmann (1997): 67 f. 158 Siehe Horstmann (1997): 69–72. Für Kants Verweis auf die objektive Seite der Transzendentalen Deduktion auf A 92 f. siehe A XVI f. Es ist vielmehr die subjektive Deduktion, die für die Metaphysische Deduktion relevant ist. Siehe an und in Fn. 429. 159 Reich (2001): 54. Vgl. Reich (2001): 46 ff. und 53 ff. 160 Reich (2001): 29 ff. 161 Reich (2001): 65. 162 Siehe Brandt (1991): 15–17, 37, 45 f.; Wolff (1995): 6–8, 37 f.
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1 Die Aufgabe, der Aufbau und die Methode der Metaphysischen Deduktion
der Kategorien, sind im Text des „Leitfadens“ selbst zu suchen und können dort, so wird sich zeigen, auch gefunden werden. Ich will an dieser Stelle nur hinzufügen, dass Kant sein Vorgehen ausdrücklich nicht als eine Analyse von Begriffen, sondern als die Analyse eines Vermögens auffasst, als eine Analyse des Verstandes (siehe 1.1.2, 1.2.2).163 Nicht nur hat Kant also keine Zergliederung des Begriffs vom Urteil im Sinn, bei der es im Übrigen unklar ist, an welcher Stelle sie aus welchen Gründen abgeschlossen ist, d. h. an welcher Stelle „die Definition des Urteils erschöpft“164 ist, wie Reich es ausdrückt.165 Stattdessen geht Kant vielmehr von einem Begriff der Aufgabe des Verstandes aus, d. h. von einer regulativen Idee des Zwecks dieses Vermögens, und analysiert dann, welche Fähigkeiten wir haben und ausüben müssen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die Aufgabe, von der Kant im „Leitfaden“ ausgeht, ist dabei die Aufgabe, durch Begriffe zu erkennen (siehe 1.2.2). Der Verstand, so der Arbeitsbegriff, ist ein Vermögen der „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/B 94). Die Fähigkeiten, die wir haben und ausüben müssen, um durch Begriffe zu erkennen, sind bei einem solchen Vorgehen genau dann alle angegeben, wenn sie und nur sie gemeinsam hinreichend dafür sind, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, d. h. wenn sie und nur sie gemeinsam dazu in der Lage sind, die zu Beginn beschriebene Aufgabe des Denkens zu erfüllen. In Abgrenzung von der Position Klaus Reichs bewegt Lorenz Krüger sich hier in die richtige Richtung, wenn er argumentiert, dass es Kant vielmehr darum geht, in Bezug auf Formen oder Akte des Verstandes zu fragen, „ob sie Formen sind, die dem Verstand zu seinem Zweck, Einheit unter unseren Vorstellungen herzustellen, verhelfen“.166 Kant will analysieren, so Krüger zu Recht, was dafür erforderlich ist, um den Zweck des Verstandes zu erfüllen. Nur glaube ich, dass Krüger mit seiner Beschreibung des Zwecks des Verstandes bereits etwas zu spät ansetzt. Kants Ausgangspunkt ist vielmehr die Aufgabe, durch Begriffe zu erkennen, d. h. die Aufgabe, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen. Die Behauptung, dass der Verstand Einheit unter Repräsentationen herstellt, gehört schon zur Entwicklung des Begriffs des Verstandes, d. h. zur Beschreibung und Erklärung dessen, wie der Verstand seinen Zweck erfüllt, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen. Diese Entwicklung des Begriffs des Verstandes geschieht wiederum dadurch, wie Krüger treffend bemerkt, dass „von den einheitsstiftenden Handlungen des
163 164 165 166
Siehe A 65 f./B 90 f. So auch Krüger (1968): 335. Reich (2001): 105. So auch Wolff (1995): 6 f. Krüger (1968): 342. Vgl. Krüger (1968): 343, 344, 347. So auch Thöle (2001): 481.
1.3 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
69
Verstandes gezeigt wird, daß sie solche des Urteilens sind.“167 Begriffe werden nämlich in erster Annäherung genau dadurch auf Gegenstände bezogen, dass im Urteil die Einheit von Repräsentationen hergestellt wird.168 Gerade weil wir Begriffe nur in Urteilen auf Gegenstände beziehen können, indem wir nur dort eine wahrheitsfähige Einheit unter Repräsentationen herstellen können, so wird Kant im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ argumentieren, ist der Verstand als ein „Vermögen zu urteilen“ (A 69/B 94, A 81/B 106) anzusehen. Diesem Abschnitt wende ich mich im nun folgenden Kapitel zu.
167 Krüger (1968): 343. 168 Siehe A 68 f./B 93 f.
2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes, die Einheit des Urteils und die Funktionen des Denkens Die Aufgabe des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion ist es, in einer Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes den logischen Begriff des Verstandes zu entwickeln (siehe 1.1.2). Der erste Abschnitt des „Leitfadens“ handelt denn auch „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt“ (A 67/B 92) und der zweite „Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95), wie es in den Überschriften heißt. Im Zuge seiner Entwicklung des logischen Begriffs des Verstandes will Kant die logischen Funktionen der Begriffsbildung und insbesondere die „allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) angeben, die jeweils für die logische Form von Begriffen, d. h. für ihre Allgemeinheit, und insbesondere für die logische Form von Urteilen, d. h. für ihre Objektivität und Wahrheitsfähigkeit, verantwortlich sind. Kant beginnt die Bearbeitung dieser Aufgabe mit der Einführung und Rechtfertigung seines Arbeitsbegriffs des Verstandes.
2.1 Diskursiver Verstand Kants Arbeitsbegriff des Verstandes im „Leitfaden“ ist der Begriff eines Vermögens der „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/B 94) (siehe 1.2.2). Dieser Begriff ist bereits heuristisch mit der Aufgabe der Metaphysischen Deduktion gegeben, den Ursprung der Kategorien im Verstand selbst nachzuweisen. Kant beginnt den ersten Abschnitt des „Leitfadens“ nun damit, diesen Arbeitsbegriff des Verstandes auch inhaltlich zu rechtfertigen. (Von hier an nummeriere ich die Sätze der argumentativen Abschnitte des „Leitfadens“, die der Untersuchung am Ende auch noch einmal im Zusammenhang angehängt sind.)169 Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt [1] Der Verstand wurde oben bloß negativ erklärt: durch ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen.170 [2] Nun können wir unabhängig von der Sinnlichkeit keiner Anschauung teilhaftig werden. [3] Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. [4] Es gibt aber außer der Anschauung keine andere Art zu erkennen als durch Begriffe. [5] Also ist
169 Hierin folge ich dem Vorgehen von Wolff (1995). 170 Im Text der Kritik findet sich hierzu keine direkte Entsprechung. Das kann so ausgelegt werden, dass der „Leitfaden“ auf einen relativ frühen Entwurf aus den 1770er Jahren zurückgeht. Siehe de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 31; Wolff (1995): 53–57. https://doi.org/10.1515/9783110557374-002
2.1 Diskursiver Verstand
71
die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv. (A 67 f./B 92 f.)
Kant führt den Verstand, der Gegenstand seiner Untersuchung im „Leitfaden“ ist, zu Beginn dieses Kapitels als einen diskursiven, in Abgrenzung von einem intuitiven Verstand ein. Unsere Erkenntnisfähigkeit erläutert er dabei dadurch, dass er ihr eine Grenze zieht und auch die andere Seite dieser Grenze denkt.171 Zu sagen, von welcher Art unsere Erkenntnisfähigkeit ist, heißt nämlich auch durch Negation zu sagen, von welcher Art sie nicht ist. Das tut Kant nun sowohl in Bezug auf die Art unseres Verstandes als auch in Bezug auf die Art von Anschauungen, die wir haben können. Unser Verstand ist diskursiv und nicht intuitiv; unsere Anschauungen sind sinnlich und nicht intellektuell. Die allgemeine Rolle von Anschauungen, seien sie nun sinnlich oder intellektuell, ist es, einzelne Gegenstände zu geben; die allgemeine Rolle des Verstandes ist es, diese Gegenstände zu denken. Wir können, so Kant in [2], Anschauungen nur durch unsere Sinne haben, und, so heißt es weiter in [3], ‚also‘ nicht durch unseren Verstand. Das folgt unter den Voraussetzungen, dass Anschauungen entweder auf die Sinne oder den Verstand zurückgehen, und dass die Anschauungen, die wir haben können, sinnliche Anschauungen sind. Zu sagen, dass unsere Anschauungen sinnlich sind, heißt dabei erst einmal nur, dass uns Gegenstände nicht schon dadurch gegeben sind, dass wir sie denken. Es ist schließlich möglich, dass wir Gegenstände denken, die es nicht gibt, oder die nicht so sind, wie wir sie denken. Unser Verstand ist nicht von der Art, dass uns allein dadurch, dass wir Gegenstände denken, diese Gegenstände auch gegeben sind. In diesem Fall würden die Rolle der Anschauung, Gegenstände zu geben, und die Rolle des Verstandes, Gegenstände zu denken, zusammenfallen. Der Verstand, durch den das möglich wäre, ist ein intuitiver Verstand und seine Repräsentationen sind intellektuelle Anschauungen. Die Anschauungen, die wir haben können, sind im Unterschied dazu sinnliche Anschauungen, die davon abhängig sind, dass unsere Sinne von Gegenständen beeinflusst werden. Sinnliche Anschauungen sind „von dem Dasein des Objekts abhängig, mithin nur dadurch, dass die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird, möglich“ (B 72).172 Für uns fallen so die
171 „Grenzen (bei ausgedehnten Wesen) setzen immer einen Raum voraus, der außerhalb einem gewissen bestimmten Platze angetroffen wird und ihn einschließt [...]. Unsere Vernunft aber sieht gleichsam um sich einen Raum für die Erkenntnis der Dinge an sich selbst, ob sie gleich von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann“ (Prol, AA IV: 352). Vgl. Prol, AA IV: 360 f. 172 In Abgrenzung von einer intellektuellen Anschauung bemerkt Kant auf B 72 ausfühlicher über unsere „Anschauungsart“, dass sie „darum sinnlich heißt, weil sie nicht ursprünglich, d. i. eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird (und die, soviel wir einsehen, nur dem Urwesen zukommen kann), sondern von dem Dasein des Objekts
72
2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Rolle der Anschauung, Gegenstände zu geben, und die Rolle des Verstandes, Gegenstände zu denken, auseinander. Wir sind nicht dazu in der Lage, allein durch Denken Anschauungen hervorzubringen; wir haben Anschauungen von Gegenständen nur dadurch, dass unseren Sinnen Gegenstände gegeben werden. Das ist die Beobachtung, mit der Kant seine Argumentation im „Leitfaden“ beginnt. Vorausgesetzt nun, wie Kant das in [4] ausdrücklich tut, es gibt nur zwei grundlegende Arten, Gegenstände zu erkennen, nämlich durch Anschauungen oder Begriffe, und unser Verstand ist kein Vermögen der Anschauung, dann ist er, so heißt es in [5] weiter, ‚also‘ ein Vermögen der Begriffe. Ein Verstand ist allgemein, wie bereits angedeutet (siehe 1.2.1.ii), das Vermögen Vorstellungen selbst hervorzubringen oder die Spontaneität der Erkenntnis […].173 (A 51/B 75)
Arten des Verstandes unterscheiden sich dabei dadurch voneinander, welche Arten von Repräsentationen durch sie hervorgebracht werden können. Ein diskursiver Verstand ist das Vermögen, selbst Begriffe hervorzubringen; ein intuitiver Verstand ist das Vermögen, selbst Anschauungen hervorzubringen.174 Unser Verstand ist von der Art, dass wir durch ihn keine Anschauungen, sondern nur Begriffe haben können: er ist ein diskursiver Verstand oder ein Vermögen der „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], A 69/B 94). Einen diskursiven Verstand zu haben heißt, für die Gegebenheit von Gegenständen auf sinnliche Anschauungen angewiesen zu sein. „Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand“ (AA V: 406), so Kant in der Kritik der Urteilskraft, und das heißt eben auch, so erläutert er dort wenig später, dass wir das Vermögen eines „diskursiven, der Bilder [Anschauungen] bedürftigen Verstandes“ (AA V: 408) besitzen. Der diskursive Verstand ist ein von sinnlichen Anschauungen abhängiger, ein endlicher Verstand. Anschauungen selbst hervorbringen zu können wäre hingegen gleichbedeutend damit, für das Haben von Anschauungen nicht auf den Einfluss von Gegenständen angewiesen zu sein, sondern diese Gegenstände allein durch
abhängig, mithin nur dadurch, dass die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird, möglich ist.“ Vgl. V-Phil-Th/Pölitz, AA XXVIII: 1050 f. 173 „[...] die Kraft intellektuelle [Vorstellungen] hervorzubringen ist das intellektuelle Erkenntnisvermögen.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 881) Siehe in Fn. 174. 174 „Das obere Vermögen hat Spontaneität in seinen Vorstellungen. Wir sehen uns daher selbst als die zwingende Ursache dazu an. [...] Das intellektuelle Erkenntnisvermögen ist das Vermögen zu denken oder sich Begriffe zu machen. [...] Der vollkommenste Verstand würde [...] der sein, welcher bloß durch Anschauung erkennt, freilich aber nicht durch sinnliche Anschauung. So stellen wir uns den göttlichen Verstand vor.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 888) „[...] so ist der menschliche Verstand diskursiv, der intellectus originarius aber intuitiv. Er erkennt nicht per conceptus, sondern per intuitus.“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 328) Siehe Wolff (1995): 60.
2.1 Diskursiver Verstand
73
ihre Repräsentation zur Existenz bringen zu können. Einen intuitiven Verstand zu haben hieße, durch intellektuelle Anschauungen Gegenstände hervorbringen zu können.175 Ein intuitiver Verstand ist ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten […]. (B 139)
Er ist ein ursprünglicher, ein produzierender oder göttlicher Verstand. Ein Verstand, „der selbst anschaute“, wäre damit einer, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden […]. (B 145)
Die Begriffe eines intuitiven Verstandes und intellektueller Anschauungen sind, wie Kant sie nennt, Grenzbegriffe, mit denen wir durch Negation die andere Seite der Grenze unserer Erkenntnisfähigkeit denken.176 Solche Begriffe sind dabei „nur von negativem Gebrauche“ (A 255/B 311), sie erlauben also keine positive Bestimmung ihrer Gegenstände. Dass unser Verstand ein diskursiver Verstand ist beschreibt die Natur und die Grenze unseres Vermögens zu denken: wir haben einen Verstand, durch den wir Begriffe, aber keine Anschauungen hervorbringen können. Wenn wir die andere Seite dieser Grenze denken, dann denken wir einen Verstand, der, anders als unserer, Anschauungen und ihre Gegenstände hervorbringen kann oder einen intuitiven Verstand. Dass unsere Anschauungen sinnliche Anschauungen sind, beschreibt dann die Natur und die Grenze der Repräsentationen, durch die uns Gegenstände gegeben werden: wir haben Anschauungen, die sinnlich sind, die Gegenstände also nur geben können, wenn diese unsere Sinne beeinflussen, und nicht allein dadurch, dass sie gedacht werden. Wenn wir die andere Seite dieser Grenze denken, dann denken wir Anschauungen, deren Gegenstände, anders als die unserer sinnlichen Anschauungen, allein dadurch gegeben sind, dass sie gedacht werden oder intellektuelle Anschauungen. Wir müssen die andere Seite der Grenze unserer Erkenntnisfähigkeit auf diese Weise denken, so Kant, wenn wir sie als eine besondere Art von Erkenntnisfähigkeit verstehen wollen: als die Art von Erkenntnisfähigkeit nämlich, die von der
175 Der intuitive Verstand ist ein Verstand, der „intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen Gegenstand“ (A 256/B 312) erkennt. „Hätten wir intellektuelle Anschauungen, so müsste unser Verstand schöpferisch sein und die Dinge selbst hervorbringen. Da das nicht [so] ist, so müssen die Dinge in uns die Vorstellungen hervorbringen und das durch die sinnliche Anschauung.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 880) Vgl. V-Lo/Philippi, AA XXIV: 361; V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 241. 176 Siehe A 254 f./B 310 f.; KU, AA V: 401–4. Es ist Eckart Förster zu verdanken, die Aufmerksamkeit wieder auf diese Überlegungen gelenkt zu haben. Siehe Förster (2002); (2011): 158–60. Siehe auch Leech (2014).
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sinnlichen Gegebenheit von Gegenständen abhängig ist. In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant das ausdrücklich über den Begriff einer intellektuellen Anschauung. Dort heißt es rückblickend, dass wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mussten, wenn die unsrige als eine besondere Art [...] gehalten werden sollte […]. (AA V: 405)
Dafür, dass die Anschauung, die wir haben können, eine besondere Art von Anschauung ist, reicht es wiederum aus, widerspruchsfrei eine andere denken zu können (eine also, die logisch möglich ist):177 es reicht aus, dass der Begriff einer Anschauung nicht bereits enthält, dass sie sinnlich ist. In diesem Sinne kann Kant in der Kritik denn auch sagen: man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, dass sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. (A 254/B 310)
Kants inhaltliche Rechtfertigung seines Arbeitsbegriffs des Verstandes als eines Vermögens der Begriffe, wie er ihn in [5] einführt, geschieht damit zum einen anhand der Beobachtung in [2], dass wir Anschauungen und ihre Gegenstände nicht allein durch Denken hervorbringen können; und zum anderen anhand der begrifflichen Überlegungen in [3] und [4], dass Anschauungen sinnlich oder intellektuell und Erkenntnisse begrifflich oder anschaulich sein können. Durch die Abgrenzung von den anderen begrifflichen Möglichkeiten eines intuitiven Verstandes und intellektueller Anschauungen rechtfertigt Kant so auch inhaltlich, dass unser Verstand als ein diskursiver Verstand anzusehen ist. Gegeben, dass es nicht im Begriff des Verstandes enthalten ist, dass er ein Vermögen der Begriffe ist, sondern dass ein Verstand auch ein Vermögen der Anschauungen sein könnte; und gegeben, dass es nicht im Begriff von Anschauungen enthalten ist, dass sie sinnliche Repräsentationen sind, sondern dass Anschauungen auch intellektuelle Repräsentationen sein könnten; und gegeben schließlich, dass wir nicht dazu in der Lage sind, Anschauungen und ihre Gegenstände allein durch Denken hervorzubringen; so folgt, dass unsere Anschauungen sinnliche Repräsentationen sind und unser Verstand ein diskursives Vermögen ist.178 Damit ist
177 „Ich nenne einen Begriff problematisch, der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit anderen Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann.“ (A 254/B 310) Zu logischer Möglichkeit als Widerspruchsfreiheit siehe A 244/B 302: „die logische Möglichkeit des Begriffs (da er sich selbst nicht widerspricht)“. Vgl. Log, AA IX: 51. 178 Den in [1]–[5] ausgedrückten Gedankengang formuliert Kant so ähnlich auch in den Prolegomena: „Alles, was uns als Gegenstand gegeben werden soll, muss uns in der Anschauung
2.1 Diskursiver Verstand
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Kants Arbeitsbegriff des Verstandes im „Leitfaden“ eingeführt und gerechtfertigt.179 Unser Verstand, als unser Vermögen zu denken, ist demnach ein diskursiver Verstand oder ein Vermögen der Hervorbringung von und der Erkenntnis durch Begriffe.180 Die ersten beiden Abschnitte des „Leitfadens“ handeln „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt“ (A 67/B 92) und „Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95). Es ist ihre Aufgabe, den logischen Begriff des Verstandes als eines Vermögens der Begriffe zu entwickeln, d. h. seinen logischen Gebrauch in der Hervorbringung und Verwendung von Begriffen zu analysieren (siehe 1.1.2). Dieser logische Gebrauch soll für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich sein, d. h. für die allgemeine Form von Begriffen und für die wahrheitsfähige und objektive Form von Urteilen. Der erste Schritt der Metaphysischen Deduktion wird dabei vornehmlich darin bestehen, die logischen Funktionen des Urteils anzugeben, die jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend zur Erklärung der logischen Form von Urteilen sind. Diese Funktionen präsentiert Kant schließlich in einer „Tafel“ (A 70/B 95) der „Funktion des Denkens“ (A 70/B 95) im Urteil.
gegeben werden. Alle unsere Anschauung geschieht aber nur vermittels der Sinne; der Verstand schaut nichts an, sondern reflektiert nur.“ (Prol, AA IV: 288) 179 Brandt (1991): 6 und Wolff (1995): 118, 137, 181 halten den Begriff des Verstandes als eines Vermögens der Erkenntnis durch Begriffe hingegen für eine im Rahmen der Metaphysischen Deduktion unbegründete Voraussetzung. Zudem geht Wolff davon aus, dass Kant diesen Begriff im „Leitfaden“ dogmatisch voraussetzt und erst in der Transzendentalen Deduktion rechtfertigt. Wie oben gezeigt ist der Begriff des Verstandes jedoch zum einen bereits heuristisch durch die Aufgabenstellung der Metaphysischen Deduktion gegeben (siehe 1.2.2). Zum anderen ist unser Verstand, der durch Begriffe erkennt, ein diskursiver Verstand, der, wie gerade gesehen, abzugrenzen ist von einem intuitiven Verstand, der durch Anschauungen erkennt. Die Beobachtung, dass wir über einen solchen intuitiven Verstand nicht verfügen, und die Folgerung, dass unsere Anschauungen sinnlich sind, rechtfertigt den Begriff unseres Verstandes als eines Vermögens der Begriffe auch inhaltlich. 180 „Die Erkenntnis durch Begriffe heißt das Denken (cognitio discursiva).“ (Log, AA IX: 91) „Unser Denken ist eigentlich eine Erkenntnis durch Begriffe oder eine diskursive Erkenntnis.“ (V-Lo/Busolt, AA XXIV: 614) – Vgl. Strawson (1987): 237: „We have to begin, he [Kant] holds, with the general truth – which surely no one will challenge – that we are creatures whose intellect is discursive and whose intuition is sensible.“ 239: „[...] such creatures [creatures whose intellects are discursive and whose intuition is sensible] must, in judgement, employ and apply general concepts to the objects of sensible intuition; the very notion of the generality of a concept implies the possibility of numerically distinguishable individual objects falling under one and the same concept“.
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2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes: Die Analyse von Repräsentationen und die Unterordnung unter Begriffe 2.2.1 Begriffe und Funktionen Nachdem Kant unseren Verstand als ein diskursives Vermögen, d. h. als ein Vermögen der Hervorbringung von und der Erkenntnis durch Begriffe charakterisiert hat, führt er den Begriff der Funktion ein. Funktionen, so Kant zunächst, sind das, worauf Begriffe ‚beruhen‘ oder ‚sich gründen‘: [6] Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also[181] auf Funktionen. [7] Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. [8] Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. (A 68/B 93)
Kant führt den Begriff der Funktion in [6] analog zum Begriff der Affektion ein: Funktionen sollen sich so zu Begriffen verhalten wie Affektionen zu sinnlichen Anschauungen.182 Sinnliche Anschauungen sind vom Einfluss von Gegenständen abhängig, durch den uns sinnliche Eindrücke gegeben werden. Solche Eindrücke können wir allein durch unsere Fähigkeit haben, „Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke)“ (A 50/B 74). Den Einfluss von Gegenständen, auf den diese sinnlichen Eindrücke zurückgehen, bezeichnet Kant als ‚Affektion‘: [Anschauung] findet [...] nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, dass er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. (A 19/B 33)
Affektionen, so lässt sich dieser Textstelle entnehmen, sind notwendige Bedingungen des Habens von Anschauungen. Anschauungen sind ohne Affektionen und die sinnlichen Eindrücke, die auf ihnen beruhen, nicht möglich. Übertragen auf das Verhältnis von Funktion und Begriff heißt das: Funktionen sind notwendige Bedingungen des Habens von Begriffen. Begriffe sind ohne die Ausübung von Funktionen nicht möglich. Kant führt Funktionen hier zunächst
[181] Adickes (1889): 114 schlägt ‚aber‘ statt ‚also‘ vor. Wenn es tatsächlich ‚also‘ heißen und eine Folgerung ausdrücken soll, dann folgt, dass Begriffe auf Funktionen beruhen, genau dann, wenn i) Repräsentationen entweder durch den Gegenstand (durch ‚Affektion‘) oder durch uns (durch ‚Funktionen‘) hervorgebracht werden und ii) Begriffe (ihrer allgemeinen Form nach) nicht durch den Gegenstand hervorgebracht werden. 182 Siehe Wolff (1995): 71 f.
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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ein, um die Möglichkeit von Begriffen verständlich zu machen. Schließlich ist es die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion, die Möglichkeit der Kategorien zu erklären, d. h. die Möglichkeit einer bestimmten Art von Begriffen:183 die Möglichkeit der Begriffe von Gegenständen überhaupt, die uns a priori mit der Natur, d. h. mit den grundlegenden Bestimmungen unseres Verstandes, gegeben sind. Die Metaphysische Deduktion handelt nämlich von der Möglichkeit reiner, intellektueller und elementarer Begriffe von Gegenständen (siehe 1.2.1). Unser diskursiver Verstand ist ein Vermögen, durch das Begriffe, d. h. Repräsentationen mit einer allgemeinen Form, hervorgebracht und zur Erkenntnis von Gegenständen gebraucht werden. In erster Annäherung sind Funktionen Akte des Verstandes, d. h. Ausübungen repräsentationaler Fähigkeiten dieses Vermögens. In den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ geht es nun um den logischen Gebrauch unseres Verstandes, der durch die Ausübung logischer Funktionen die logische Form von Repräsentationen hervorbringt. Entsprechend habe ich logische Funktionen als Akte des Verstandes eingeführt, durch deren Ausübung wir für die Form unserer Repräsentationen verantwortlich sind (siehe 1.1.2). Mit der Einführung und Beschreibung von Funktionen in [6] versucht Kant zunächst, genauer verständlich zu machen, wie wir durch die Ausübung logischer Funktionen Begriffe hervorbringen, d. h. Repräsentationen mit einer allgemeinen Form. In [7] charakterisiert Kant eine Funktion nun als die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.
Ich beginne mit der Charakterisierung des Aktes, „verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“ Dann wende ich mich dem mehrdeutigen Ausdruck ‚Einheit der Handlung‘ zu. Die ‚gemeinschaftliche Vorstellung‘ ist eine Repräsentation mit einer allgemeinen Form oder ein Begriff: eine Repräsentation, die von verschiedenen Gegenständen gelten kann. Die Allgemeinheit von Begriffen bringt es mit sich, dass ihnen andere Repräsentationen von Gegenständen untergeordnet werden können. Das ist dann möglich, wenn den Gegenständen dieser anderen, ‚verschiedenen‘ Repräsentationen gemeinsam ist, was durch den Begriff repräsentiert wird. So können z. B. verschiedene Repräsentationen von Bäumen, u. a. Anschauungen oder Begriffe von Fichten, Weiden und Linden, dem Begriff des Baumes untergeordnet werden, da ihnen gemeinsam ist, dass sie von Bäumen handeln, d. h. von Gegenständen u. a. mit Stamm, Ästen und Blättern.
183 Siehe Wolff (1995): 65 ff., (2017): 84.
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Im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ charakterisiert Kant den Akt der Unterordnung dann so: Analytisch werden verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff gebracht […].184 (A 78/B 104)
Das ist eine Beschreibung desselben Aktes wie in [7], d. h. des Aktes der Unterordnung unter einen Begriff, der nun auch als Akt der Analysis charakterisiert wird. In die Unterordnung von Repräsentationen unter Begriffe geht eine Analyse dieser Repräsentationen ein: eine Analyse in Bezug auf in ihnen enthaltene Teilrepräsentationen. So zeigt z. B. die Analyse des Begriffs der Fichte, dass er u. a. die Teilbegriffe von Stamm, Ast und Blatt enthält, und dass er daher dem Begriff des Baumes untergeordnet werden kann. Das textliche Umfeld beider Passagen macht deutlich, dass mit logischen Funktionen, mit Akten der Unterordnung und der Analysis im „Leitfaden“ neben der Bildung von Begriffen auch ihre Verwendung in Urteilen gemeint ist. Schließlich ist der diskursive Verstand, dessen logischer Gebrauch hier analysiert werden soll, nicht nur ein Vermögen der Hervorbringung von Begriffen, sondern auch ein Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe, d. h. ihrer Beziehung auf Gegenstände. In [6], unmittelbar vor der Charakterisierung des Funktionsbegriffs, ist zunächst von logischen Funktionen die Rede, auf denen Begriffe „beruhen“. Und auch in [8], unmittelbar nach der Charakterisierung des Funktionsbegriffs, spricht Kant von der Spontaneität des Denkens, auf der sich Begriffe „gründen“. Wenige Sätze später wird er dann aber auch Urteile als (logische) „Funktionen der Einheit“ (A 69/B 94) beschreiben. Zu Beginn des dritten Abschnitts des „Leitfadens“, noch bevor Kant die Unterordnung unter Begriffe als Analysis charakterisiert, nennt er zunächst den Akt, Repräsentationen „zuerst in Begriffe zu verwandeln“, und sagt dann, dass das „analytisch zugeht“ (A 76/B 102). Und kurz nachdem er die Unterordnung unter Begriffe als Analysis charakterisiert hat, beschreibt er den Akt, „verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit“ (A 79/B 104) zu geben, und sagt von ihm, dass er „vermittels der analytischen Einheit [...] die logische Form eines Urteils zustande“ (A 79/B 105) bringt.185 Schon eine solche erste Lektüre dieser Passagen macht deutlich, dass der Akt der Unterordnung und Analysis sowohl die Bildung von Begriffen als auch ihre Verwendung in Urteilen charakterisiert.186
184 „[...] die logische Subsumtion welche analytisch ist unter einem Begriffe“ (Br, Anm. Brief an Tieftrunk 11. Dezember 1797, AA XIII: 471). 185 „Man stellt sich in jedem Urteile eine analytische Einheit vor.“ (Refl 4273, 1770–78, AA XVII: 491) 186 Vor diesem Hintergrund ist es weder überzeugend, den in [7] beschriebenen repräsentationalen Akt der Unterordnung auf Begriffsbildung zu beschränken, wie Reich (2001): 35
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Sowohl in der Bildung als auch in der Verwendung von Begriffen werden Repräsentationen auf der Grundlage einer Analyse in Bezug auf ihnen gemeinsame Teilrepräsentationen unter einen Begriff gebracht. Im ersten Fall, dem Fall der Begriffsbildung, wird der Begriff dabei überhaupt erst als eine allgemeine Repräsentation hervorgebracht, d. h. als eine Repräsentation, unter die andere Repräsentationen fallen (z. B. der Begriff des Baumes, unter den Anschauungen und spezifischere Begriffe von Bäumen wie die Begriffe der Fichte, der Weide und der Linde fallen). Im zweiten Fall, dem Fall des Urteilens, wird ein Begriff auf die Gegenstände anderer Repräsentationen bezogen, indem diese Repräsentationen dem Begriff auf eine Weise untergeordnet werden, die wahr oder falsch ist (z. B. in dem wahren Urteil ‚Fichten sind Bäume‘). Im ersten Fall leistet die Analyse und Unterordnung von Repräsentationen damit einen Beitrag zur Allgemeinheit eines Begriffs, im zweiten Fall zur wahrheitsfähigen Einheit eines Urteils.187 Den Akten der Begriffsbildung und des Urteilens, die beide als logische Funktionen anzusehen sind, ist damit gemeinsam, dass sie Akte der Unterordnung von Repräsentationen unter Begriffe sind, in beiden Fällen auf der Grundlage der Analyse von Repräsentationen in Bezug auf ihnen gemeinsame Teilrepräsentationen. Beide sind Akte der Unterordnung auf der Grundlage von Analysis. Das erlaubt nun eine genauere Charakterisierung des logischen Gebrauchs des Verstandes, des Gebrauchs also, der durch die Ausübung logischer Funktionen für die Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist. Den Verstand logisch zu gebrauchen, d. h. logische Funktionen auszuüben, besteht allgemein darin, Repräsentationen in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen zu analysieren und auf dieser Grundlage Begriffen unterzuordnen. Begriffsbildung und Urteilen, die beiden Ausübungen des logischen Gebrauchs in diesem Sinne, unterscheiden sich dabei dadurch, dass in der Begriffsbildung die allgemeine Form von Begriffen, im Urteilen aber die wahrheitsfähige Form von Urteilen hervorgebracht wird, d. h. die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände. Ein Begriff allein steht für eine Art von Gegenstand oder allgemeine Eigenschaften; im Urteil werden Begriffe auf Gegenstände bezogen und treffen auf sie zu oder nicht, wodurch das Urteil wahr oder falsch ist.
Fn. 23 das tut, noch ist es überzeugend, ihn auf Urteile zu beschränken, wie Longuenesse (1998b): 140 f. und Allison (2004): 148 das tun. 187 Siehe Sellars (1967): 11 („[...] the question-answering activities of classifying and relating intuitively represented objects of experience [...] Kant refers to [...] as ‘analysis’“). Siehe auch Rosenberg (2005): 96. Zur Unterscheidung zwischen bloßen Begriffen und Urteilen siehe in Fn. 44.
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2.2.2 Der Begriff der Funktion (I): Akte der Repräsentation Damit wende ich mich dem Ausdruck ‚Einheit der Handlung‘ zu, den Kant in [7] zur Charakterisierung von logischen Funktionen verwendet. Der Ausdruck ist mehrdeutig, da ‚Einheit‘ entweder für ein Ergebnis oder für eine Eigenschaft des Aktes der Unterordnung stehen kann. Mit der ersten Möglichkeit ist eine, wie ich sie nennen will, resultative, mit der zweiten eine attributive Lesart des Begriffs der Funktion verbunden.188 Nach einer resultativen Lesart von ‚Einheit der Handlung‘ wäre die Einheit als ein Resultat, als ein Ergebnis des Aktes der Unterordnung anzusehen.189 Die Einheit des Aktes der Unterordnung wäre dann die logische Form eines Begriffs, d. h. seine Allgemeinheit, oder die logische Form eines Urteils, d. h. seine Wahrheitsfähigkeit. Diese Lesart des Begriffs der Funktion kann jedoch durch den Text des „Leitfadens“ nicht gestützt werden, da logische Funktionen in diesem Kapitel durchgehend die Rolle dessen spielen, worauf die Formen von Begriffen und Urteilen beruhen, so dass Funktionen nicht selbst diese Formen sein können.190 Logische Funktionen sind notwendige Bedingungen der Hervorbringung der logischen Form von Begriffen und Urteilen und können daher nicht selbst eine solche Form sein. Gemäß einer attributiven Lesart von ‚Einheit der Handlung‘ wäre die Einheit als ein Attribut, als eine Eigenschaft des Aktes der Unterordnung anzusehen. Da die resultative Lesart, wie gerade gesehen, ausgeschlossen werden kann, muss die attributive zutreffen. Dann stellt sich aber die Frage, wie sie genauer zu verstehen ist. Hier lässt sich nun erneut eine Lesart als Eigenschaft von einer Lesart als Akt unterscheiden: Funktionen können entweder als bestimmte Eigenschaften repräsentationaler Akte oder als repräsentationale Akte mit einer bestimmten Eigenschaft angesehen werden. Nach der ersten Lesart wären Funktionen Einheiten, die repräsentationalen Akten als Eigenschaften zukommen; nach der zweiten Lesart wären sie repräsentationale Akte, denen die Eigenschaft der Einheit zukommt.
188 Diese Unterscheidung habe ich bereits in Hoeppner (2011): 198–201 vorgenommen. Ihr entspricht die in Haag (2007): 161 getroffene Unterscheidung zwischen Lesarten als Produkt oder Eigenschaft repräsentationaler Akte. 189 Eine solche Deutung scheinen de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 36 und Brandt (1991): 47 f. zu vertreten. 190 Siehe [6] für Begriffe und A 79/B 104 f. für Urteile. Paton (1936), Bd. 1: 204, 246 f., 251 identifiziert Funktion und Form. Zur Unterscheidung von Funktion und Form siehe Wolff (1995): 19 f.; Longuenesse (1998b): 143, (2005): 19 Fn. 5, 94; Allison (2004): 147 f.
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Die Charakterisierung einer Funktion als ‚Einheit der Handlung‘ legt zunächst einmal nahe, dass Funktionen die Einheiten repräsentationaler Akte sein sollen, Eigenschaften repräsentationaler Akte also, die sie zu einheitlichen Akten machen.191 Dass Kant dennoch die andere attributive Lesart im Sinn hat, der zufolge Funktionen selbst repräsentationale Akte mit einer bestimmten Eigenschaft sind, ist daran zu sehen, dass er Funktionen zur Gattung repräsentationaler Akte zählt. Das zeigt sich nicht nur an seiner wiederholt synonymen Verwendung der Ausdrücke ‚Handlung‘ und ‚Funktion‘,192 sowie daran, dass er Akte des Urteilens als Funktionen ansieht.193 Es zeigt sich auch an der Rolle, die er Funktionen im „Leitfaden“ zuschreibt: Funktionen sollen das sein, worauf Begriffe „beruhen“ ([6]) und sich „gründen“ ([8]), sowie das, was für die Einheit des Urteils und für die Einheit der Anschauung verantwortlich ist.194 Diese Rolle, Repräsentationen und ihre Einheit hervorzubringen, können Funktionen aber nur dann spielen, wenn sie repräsentationale Akte sind.195 Darüber hinaus zeigt sich, dass Funktionen nicht als Eigenschaften repräsentationaler Akte verstanden werden können, die diese zu einheitlichen Akten
191 Siehe Haag (2007): 161. 192 Siehe A 79/B 104 f., A 108, B 143; Refl 5642, 1780–83, AA XVIII: 282. Vgl. V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 577; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 929 (zitiert im Absatz von Fn. 262). 193 „Alle Urteile sind [...] Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen“ (A 69/B 94). 194 „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit [...].“ (A 79/B 104 f.) „[...] so sind die Realfunktionen der Grund der Möglichkeit der Vorstellung der Sachen und die logischen Funktionen der Grund der Möglichkeit der Urteile“ (Refl 4631, 1772–75, AA XVII: 615). Vgl. Refl 4675, 1775, AA XVII: 651. 195 Wolff (1995): 22 versteht eine Funktion als „die (numerische und atomare) Einheit einer Handlung“, die sich dadurch von Akten des Verstandes (‚Handlungen‘) unterscheidet, dass „numerische Handlungseinheiten keine zeitlich lokalisierbaren Vorgänge [sind]“. Dass das daran vorbeigehen muss, was Kant mit ‚Einheit der Handlung‘ meint, ist schon daran zu sehen, dass Kant nicht mit dem Charakteristikum zeitlicher Lokalisierbarkeit arbeitet und das in diesem Zusammenhang auch gar nicht tun kann, da die Akte des Verstandes, um die es im „Leitfaden“ geht, keine zeitlich lokalisierbaren Vorgänge sind, sondern vielmehr das, was für die Einheit von Repräsentationen verantwortlich ist, die nicht sinnlich gegeben werden kann. So auch Longuenesse (2005): 93 Fn. 23. Auch ist die Unterscheidung von Akten und Funktionen unvereinbar mit Kants wiederholter synonymer Verwendung der sie bezeichnenden Ausdrücke (siehe in Fn. 192). Zudem bestehen Funktionen für Wolff (1995): 66 allgemein darin, „eine bestimmte Vorstellung als eine Teilvorstellung anderer Vorstellungen auszuzeichnen“. Das passt wiederum schlecht dazu, dass Funktionen nach Kant auch für die Einheit der Anschauung verantwortlich sind (siehe in Fn. 194), die, anders als die Einheit von Begriffen, gerade nicht darin besteht, Teilrepräsentationen anderer Repräsentationen zum Inhalt zu haben. Wolffs Charakterisierung trifft so lediglich auf logische Funktionen (der Subordination und Analysis) zu, nicht jedoch auf reale Funktionen (der Synthesis der Anschauung).
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machen, wenn gefragt wird, was die Rede von Einheit hier eigentlich heißen soll. So ist die wohl beste Kandidatin für eine Eigenschaft, die repräsentationale Akte einheitlich macht, eine Regel, der diese Akte folgen.196 Für Kant sind es jedoch Begriffe, die die Rolle von Regeln spielen.197 Und Begriffe sollen, so Kant in [6], auf Funktionen beruhen, so dass Funktionen selbst keine Begriffe und damit auch keine Regeln sein können. Wenn Funktionen nun als repräsentationale Akte mit einer bestimmten Eigenschaft anzusehen sind, dann ist zu fragen, welche Eigenschaft Kant diesen Akten genau zuschreibt, wenn er sie in [7] als einheitliche Akte charakterisiert. Um das besser zu verstehen, will ich zunächst die erste der im „Leitfaden“ eingeführten Ausübungen logischer Funktionen genauer betrachten: den Akt der Begriffsbildung, durch den wir Begriffe hervorbringen, d. h. Repräsentationen mit einer allgemeinen Form.
2.2.3 Die Akte der Begriffsbildung: Komparation, Reflexion und Abstraktion Allgemeinheit finden wir nicht vor. Allgemeinheit ist etwas, das wir selbst hervorbringen, denn „das Allgemeine“, so Kant in einer Notiz, „wird durch Erfahrung nicht gegeben“ (Refl 6854, 1776–89, AA XIX: 180). Die Allgemeinheit von Begriffen muss daher grundsätzlich auf repräsentationalen Akten des Verstandes beruhen.198 Von Begriffen gilt also, dass sie „durch den Verstand [...] Allgemeinheit erhalten“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566). Die Frage danach, woher die allgemeine Form von Begriffen stammt, ist dann eine Frage nach den repräsentationalen Akten, die für die Allgemeinheit von Repräsentationen verantwortlich sind. Die Frage nach dem „Ursprung der Begriffe der bloßen Form nach“ (AA IX: 93), so heißt es in der Logik, ist eine Frage danach, „[w]elche Handlungen des Verstandes einen Begriff ausmachen“ (AA IX: 93). Kants Beschreibung der Akte der Begriffsbildung ist damit Teil der Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes, d. h. der Identifikation logischer Funktionen zur Erklärung der logischen Form unserer Repräsentationen.
196 Siehe Reich (2001): 35; Longuenesse (1998a): 3 Fn. 2, (1998b): 140, (2001): 174 Fn. 5; Allison (2004): 148. 197 Ein Begriff „ist seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines und was zur Regel dient.“ (A 106) „Wir definierten ihn [den Verstand] zwar anfangs als das Vermögen der Regeln, welches aber einerlei ist, denn Begriffe dienen zu Regeln.“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 568) Vgl. V-Lo/Dohna, AA XXIV: 693, 703. 198 „Die Form eines Begriffs als einer diskursiven Vorstellung ist jederzeit gemacht.“ (Log, AA IX: 93)
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Nun setzen wir empirische Begriffe aber nicht einfach willentlich zusammen (siehe 1.1.1). Als a posteriori gegebene Begriffe haben sie vielmehr einen Inhalt, der auf Bestimmungen in der Erfahrung von Gegenständen beruht. So beschreibt Kant den Akt der Begriffsbildung im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ als den Akt, „Vorstellungen [...] zuerst in Begriffe zu verwandeln“ (A 76/B 102). Und in der Logik Pölitz (1780) wird die Frage der Begriffsbildung so formuliert: „Wie entspringen Begriffe oder wie können Vorstellungen zu Begriffen werden?“ (AA XXIV: 566)199 Beide Formulierungen machen deutlich, dass die Hervorbringung von empirischen Begriffen, d. h. von allgemeinen Repräsentationen von Gegenständen der Erfahrung, neben repräsentationalen Akten des Verstandes auch andere Repräsentationen von Gegenständen erfordert, die der Ausübung der Akte der Begriffsbildung vorausgesetzt sind. Diese Repräsentationen von Gegenständen, die der Bildung von empirischen Begriffen vorausgehen, sind sinnliche Anschauungen, d. h. Repräsentationen von einzelnen Gegenständen der Sinne:200 „Wir fangen immer von Anschauungen an.“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566) „Wie kommt es also, dass repraesentatio singularis zur communis wird?“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 907) „Wie wird aus Anschauung ein Begriff?“ (V-Lo/ Busolt, AA XXIV: 654) Die Formulierungen aus dem „Leitfaden“ und aus Nachschriften zu Kants Logikvorlesungen beschreiben jeweils einen Übergang von anderen Repräsentationen zu Begriffen, eine Verwandlung von Anschauungen in Begriffe. Bei einem solchen Übergang oder einer solchen Verwandlung muss nun aber etwas dasselbe bleiben. Das, was zwischen Anschauungen und auf ihrer Grundlage gebildeten Begriffen dasselbe bleibt, ist ihr repräsentationaler Inhalt, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände (siehe 1.2.1). Dieser gemeinsame Inhalt ist es, durch den Begriffe auf dieselben Gegenstände zutreffen, von denen die Anschauungen handeln, auf deren Grundlage die Begriffe gebildet werden. Dieser Inhalt wird in Anschauungen einzeln und in Begriffen allgemein repräsentiert, bzw. durch Teilrepräsentationen, die zunächst als intuitive und dann als diskursive Merkmale auftreten.201 „[E]in von der Sinnenvorstellung genommener, d.i. empirischer Begriff“, so hieß es in den Fortschritten, unterscheidet sich „nur der logischen Form, nämlich der Gemeingültigkeit nach, [...] von der Anschauung der Sinne“ (AA XX: 273 f.).
199 Passagen wie diese zeigen, dass es hier um Akte der Begriffsbildung im Sinne des Erwerbs allgemeiner Begriffe geht. So auch Longuenesse (1998): 115–22, Allison (2004): 79–81, Grüne (2009): 14–22. Es handelt sich also nicht um Akte, durch die Begriffe, über die wir bereits verfügen, lediglich deutlich gemacht werden, wie Pippin (1982): 112–14 und Ginsborg (2015): 69 f., 150–54 meinen. 200 Siehe Grüne (2009): 14–16. 201 Siehe Smit (2000): 256, 259.
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Der Begriff des Baumes und Baumanschauungen z. B. weisen denselben Inhalt auf, jedoch in unterschiedlicher, in allgemeiner und einzelner Form. Beide sind Baumrepräsentationen, d. h. sie beziehen sich auf Bäume. Baumanschauungen enthalten u. a. die intuitiven Merkmale eines einzelnen Stammes, einzelner Äste und Blätter; der Baumbegriff hingegen enthält u. a. die diskursiven Merkmale der allgemeinen Eigenschaften Stamm, Ast und Blatt. Bei empirischen Begriffen bildet die Erfahrung von Gegenständen den Anwendungsbereich der Begriffsbildung, beim Begriff des Baumes also die Erfahrung von Bäumen. Die Grundlage der Bildung empirischer Begriffe, d. h. a posteriori gegebener Begriffe, sind Bestimmungen in der Erfahrung, hier Anschauungen von Bäumen und ihre intuitiven Merkmale u. a. einzelner Stämme, Äste und Blätter. Die empirischen Inhalte, deren allgemeine Form in der Bildung empirischer Begriffe hervorgebracht wird, wie hier ihre Beziehung auf Bäume, sind damit durch Anschauungen gegebene Inhalte. Anschauungen von Bäumen und die in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmale u. a. eines Stammes, von Ästen und Blättern legen den Inhalt des Begriffs des Baumes und seiner diskursiven Merkmale u. a. von Stamm, Ast und Blatt fest. Der Inhalt so gebildeter Begriffe ist auf diese Weise davon abhängig, worauf die Akte ihrer Bildung gerichtet sind, und verhält sich derivativ zu den Inhalten der Anschauungen, auf deren Grundlage die Begriffe gebildet werden. In der Begriffsbildung empirischer Begriffe übertragen sich damit Inhalte auf Begriffe, die durch Bestimmungen in der Erfahrung gegeben sind. Die Akte der Begriffsbildung bringen sie lediglich in eine allgemeine Form. Das Verfügen über empirische Begriffe ist demnach ganz grundsätzlich vom Haben von Anschauungen abhängig. „Begriffe setzen ja schon Vorstellungen von Objekten voraus und sind von den [intuitiven] Merkmalen abstrahiert“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 949). Damit es möglich ist, dass Anschauungen ihre Inhalte auf Begriffe übertragen, müssen Anschauungen bereits über Inhalte verfügen, sich also bereits auf ihre Gegenstände beziehen. Darüber hinaus müssen Anschauungen ihre Inhalte unabhängig von Begriffen haben, d. h. sie müssen sich unabhängig von Begriffen auf ihre Gegenstände beziehen. Zumindest haben Anschauungen unabhängig von den Begriffen zu sein, die auf ihrer Grundlage gebildet werden: wir müssen nach Kant Anschauungen eines Gegenstandes haben können, ohne über einen Begriff dieses Gegenstandes zu verfügen. „Der, der den ersten Baum sieht, weiß nicht, was das ist, was er sieht.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 905)202 Wer also zum ersten Mal einen Baum
202 „Wer von der roten Farbe zuerst eine Vorstellung haben wollte, musste die rote Farbe sehen.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 904)
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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sieht, hat zwar eine Anschauung von einem Baum, aber ohne zu wissen, dass es sich dabei um einen Baum handelt, ohne also bereits über den Begriff des Baumes zu verfügen und den Baum unter den Begriff des Baumes bringen zu können. Dass Anschauungen sich in diesem Sinne auch unabhängig von Begriffen ihrer Gegenstände auf Gegenstände beziehen können und deutlich sind, d. h. hinreichend für die Unterscheidung dieser Gegenstände von anderen und ihrer Teile untereinander,203 das sagt Kant ausdrücklich auch in der Entdeckung: […] es gibt auch eine Deutlichkeit in der Anschauung, also auch der Vorstellung des Einzelnen, nicht bloß der Dinge im Allgemeinen [...] durch Begriffe […] (so wie die, wenn ein neuholländischer Wilder [sic!] zuerst ein Haus zu sehen bekäme und ihm nahe genug wäre, um alle Teile desselben zu unterscheiden, ohne doch den mindesten Begriff davon zu haben) […]. (AA VIII: 217 Anm.)
Das Haben von Anschauungen von Gegenständen und die Ausübung der damit einhergehenden Fähigkeit, diese Gegenstände und ihre Teile sinnlich von anderen zu unterscheiden, ist möglich unabhängig vom Verfügen über die Begriffe dieser Gegenstände und ihrer Teile. Um ein Haus und seine Teile sehen und voneinander unterscheiden zu können, ist weder der Begriff des Hauses erforderlich noch Begriffe seiner Teile (z. B. von Tür, Fenster und Dach). Das muss auch so sein, wenn das Verfügen über empirische Begriffe umgekehrt vom Haben von Anschauungen und von der Ausübung der Fähigkeit einer sinnlichen Unterscheidung der Gegenstände von Anschauungen und ihrer Teile abhängig ist. Deutlichkeit der Anschauung findet statt, wo gar kein Begriff ist. e. g. wo man keinen Namen für das Mannigfaltige an einem Gebäude hat und doch alles wohl unterscheidet.204 (Refl 220, 1776–83, AA XV: 84)
Anschauungen von Gegenständen, samt der Fähigkeit der Unterscheidung ihrer Gegenstände und der Teile dieser Gegenstände, d. h. die Deutlichkeit von Anschauungen, sind demnach ganz und gar unabhängig vom Verfügen
203 Siehe Grüne (2009): 122–24. 204 Ästhetische Deutlichkeit „findet statt, ob wir uns gleich den Gegenstand gar nicht durch Begriffe vorstellig machen, das heißt, obgleich die Vorstellung, als Anschauung, sinnlich ist.“ (EEKU, AA XX: 227) „Es kann eben Deutlichkeit stattfinden 1. im Anschauen, wenn wir das Merkmal von dem, was wir anschauen, gut unterscheiden können. Das ist die Deutlichkeit der Anschauung. 2. im Denken, wenn wir klare Begriffe und Vorstellungen mit dem Anschauen verbinden. Oft kann man etwas deutlich anschauen, ohne etwas dabei deutlich zu gedenken. Zur Deutlichkeit der Anschauung gelangen wir durch mehr Aufmerksamkeit per Synthesin; zur Deutlichkeit der Begriffe aber gehört die Zergliederung dessen, was ich denke, was ich mir schon wirklich in Gedanken konzipiere, d. i. die Deutlichkeit des Verstandes per Analysin.“ (V-Lo/Blomberg, AA XXIV: 42) Vgl. Refl 643, 1769/70, AA XV: 283.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
über Begriffe dieser Gegenstände und Teile. Sie sind möglich, „wo gar kein Begriff ist.“ Umgekehrt sind empirische Begriffe nur auf der Grundlage von Anschauungen möglich, die ihre Inhalte auf die Begriffe übertragen. Empirische Begriffe werden, so Kant, durch die Ausübung bestimmter logischer Funktionen oder Akte des Verstandes gebildet, die auf Anschauungen gerichtet sind. Welche Akte müssen wir nun ausüben, um auf der Grundlage von Anschauungen Begriffe hervorzubringen, d. h. Repräsentationen mit einer allgemeinen Form? Das bringt mich zu den Akten unseres Vermögens zu denken, die nach Kant auf der Grundlage von Anschauungen für die Hervorbringung empirischer Begriffe erforderlich sind. Es handelt sich hierbei um die logischen Funktionen der Komparation, der Reflexion und der Abstraktion. Das, so Kant, sind die Akte, auf denen Begriffe „beruhen“ ([6]) oder auf die sie sich „gründen“ ([8]): sie sind Akte, „verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ ([7]) und dadurch „Vorstellungen [...] zuerst in Begriffe zu verwandeln“ (A 76/B 102). Die ausführlichste Darstellung dieser Akte findet sich in der Logik, die Gottlob Benjamin Jäsche auf der Grundlage von Kants Notizen zu Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre und Nachschriften zu Kants Vorlesungen kompiliert hat. Daher werde ich mich bei meiner Rekonstruktion auch auf diese Notizen205 und Nachschriften206 selbst stützen. Die Notizen und Nachschriften bestätigen die Darstellung der Logik dabei weitgehend. In seinen Schriften selbst sagt Kant zwar relativ wenig über Begriffsbildung. Aber auch dort finden sich Hinweise darauf, dass er eine Auffassung von Begriffsbildung vertreten hat, die der Darstellung in der Logik entspricht. In der Kritik z. B. spricht Kant über „Verstandesbegriffe“ (in Abgrenzung von Vernunftbegriffen) als „reflektierte [...] Begriffe“ (A 310/B 366). Und in der ersten (unveröffentlichten) Einleitung zur Kritik der Urteilskraft beschreibt Kant den Akt der Begriffsbildung auf eine Weise, die bis in Details hinein der Darstellung der Logik entspricht. Er sei der Akt, so Kant dort, durch den man eine gegebene Vorstellung mit anderen vergleichen [Komparation] und dadurch, dass man dasjenige, was sie mit verschiedenen gemein hat [Reflexion], als ein Merkmal zum allgemeinen Gebrauch herauszieht, sich einen Begriff machen könne [Abstraktion].207 (AA XX: 211 Anm.)
205 Siehe Refl 2854–83, AA XVI: 547–58. 206 Siehe V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566 f.; V-Lo/Busolt, AA XXIV: 654; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 907, 909. 207 Siehe auch die indirekten Nachweise auf A 653 f./B 681 f., A 657/B 685.
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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In der verhältnismäßig ausführlichen Beschreibung der Logik heißt es nun über diese Akte: Die logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden, sind: 1) die Komparation, d. i. die Vergleichung der Vorstellungen untereinander im Verhältnisse zur Einheit des Bewusstseins; 2) die Reflexion, d. i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewusstsein begriffen sein können; und endlich 3) die Abstraktion oder die Absonderung alles Übrigen, worin die gegebenen Vorstellungen sich unterscheiden. [...] Um aus Vorstellungen Begriffe zu machen, muss man also komparieren, reflektieren und abstrahieren können, denn diese drei logischen Operationen des Verstandes sind die wesentlichen und allgemeinen Bedingungen zur Erzeugung eines jeden Begriffs überhaupt. Ich sehe z. B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde. Indem ich diese Gegenstände zuvörderst untereinander vergleiche, bemerke ich, dass sie voneinander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der Äste, der Blätter u.dgl.m.; nun reflektiere ich aber hiernächst nur auf das, was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die Äste, die Blätter selbst und abstrahiere von der Größe, der Figur derselben u. s. w.; so bekomme ich einen Begriff vom Baume.208 (AA IX: 94 f.)
Der Akt der Begriffsbildung besteht demnach aus den Teilakten, Anschauungen miteinander zu vergleichen (Komparation); die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was diesen Repräsentationen untereinander gemeinsam ist (Reflexion); und davon abzusehen, was sie voneinander unterscheidet (Abstraktion). Ich werde Kants Auffassung dieser Teilakte nun noch etwas genauer beschreiben. Komparation. Im ersten Akt der Begriffsbildung werden verschiedene Anschauungen miteinander verglichen. Dafür sind zunächst gegenwärtige oder vergangene, wirkliche oder bloß mögliche209 Anschauungen von Gegenständen in ein Bewusstsein aufzunehmen, in das einheitliche Bewusstsein eines denkenden
208 „Logischer Ursprung der Begriffe: 1. durch Komparation: wie sie sich zueinander in einem Bewusstsein verhalten. 2. durch Reflexion: wie verschiedene in einem Bewusstsein begriffen sein können. 3. durch Abstraktion: da man das weglässt, worin sie sich unterscheiden.“ (Refl 2876, 1776–89, AA XVI: 555) „Ich vergleiche Dinge und attendiere auf das, was sie gemein haben, und abstrahiere von allen übrigen Dingen: so ist dieses ein conceptus, wodurch alle diese Dinge können gedacht werden.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 907) „Begriffe entstehen per comparationem, reflexionem et abstractionem. In einem Bewusstsein fasse ich viele Vorstellungen, in denen ich vergleiche, was nur eine Wiederholung des Anderen ist. Aus der Reflexion erkennt man also das, was viele Dinge gemein haben, hernach nimmt man [durch] die Abstraktion weg, worin sie nicht übereinkommen, und denn bleibt representatio communis übrig.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 909) 209 „Es ist nicht immer Vergleichung mit anderem nötig, um einen allgemeinen Begriff zu bekommen, sondern Bewusstsein der Möglichkeit der Vorstellung auf mancherlei Art.“ (Refl 2876, 1776–89, AA XVI: 556)
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Subjekts. Die zu vergleichenden Anschauungen sind „mit einem Bewusstsein zusammen[zu]halten“ (Refl 2878, 1776–89, AA XVI: 556). In diesem einen Bewusstsein verhalten sich Anschauungen nun auf eine bestimmte Weise zueinander. In der Komparation wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, so Kant, „wie sie [die Anschauungen] sich zueinander in einem Bewusstsein verhalten“ (Refl 2876, 1776–89, AA XVI: 555). Sie verhalten sich nun u. a. dadurch zueinander, dass sie in bestimmten Hinsichten voneinander verschieden sind, und zwar durch die in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmale (Teilrepräsentationen). So werden im Beispiel die Anschauungen von Bäumen als solche aufgefasst, die sich hinsichtlich der in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmale eines Stammes, von Ästen und Blättern in Größe, Form, Farbe, Anzahl usw. voneinander unterscheiden. Es ist die spezifische und quantitative Verschiedenheit wahrnehmbarer Gegenstände und ihrer sinnlichen Qualitäten untereinander, anzutreffen in sinnlichen Anschauungen und ihren Merkmalen, auf die die Aufmerksamkeit im Teilakt der Komparation gerichtet ist: „ich [bemerke], dass sie [die wahrgenommenen Gegenstände] voneinander verschieden sind“ (AA IX: 94). So bezeichnet Kant die Komparation denn auch als „apprehensio variorum (Auffassung)“ (Refl 2876, AA XVI: 556). Es ist deutlich, dass eine solche Auffassung von Anschauungen und ihren Gegenständen, als voneinander verschieden, nicht unabhängig davon möglich ist, dass auch Aufmerksamkeit dafür besteht, was sie untereinander gemeinsam haben (z. B. Stamm, Äste und Blätter). Die Teilakte der Komparation, Reflexion und Abstraktion sind nur als Teilakte eines einheitlichen und komplexen Aktes der Begriffsbildung möglich und verständlich, sie können nicht unabhängig voneinander ausgeübt und verstanden werden. Die Beschreibung des Teilaktes der Komparation greift dabei den Aspekt der Begriffsbildung heraus, durch den Anschauungen und ihre Gegenstände als in bestimmten Hinsichten voneinander verschieden aufgefasst und in ein Bewusstsein aufgenommen werden. Reflexion. Mit der Beschreibung des zweiten Teilaktes, der Reflexion, wird der Aspekt der Begriffsbildung herausgegriffen, durch den Anschauungen und ihre Gegenstände als solche aufgefasst werden, die etwas untereinander gemeinsam haben. Im Beispiel enthalten die Anschauungen von Bäumen jeweils intuitive Merkmale eines Stammes, von Ästen und Blättern. In der Reflexion wird ins Bewusstsein aufgenommen‚ „was sie [die wahrgenommenen Gegenstände] unter sich gemein haben“ (AA IX: 94). Es ist so die Gleichartigkeit wahrnehmbarer Gegenstände und ihrer sinnlichen Qualitäten untereinander, anzutreffen in sinnlichen Anschauungen und ihren Merkmalen, auf die sich die Aufmerksamkeit im Teilakt der Reflexion richtet. Die verschiedenen Anschauungen und ihre Gegenstände werden in der Reflexion demnach „mit demselben Bewusstsein“ (Refl 2876,
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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AA XVI: 555) verbunden, d. h. die Reflexion ist auf die „Identität des Bewusstseins“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566) in verschiedenen Anschauungen von Gegenständen ausgerichtet. Dasselbe sind dabei die intuitiven Merkmale, die von verschiedenen Anschauungen geteilt werden: die Reflexion zielt auf die Einheit unter Anschauungen ab, die es erlaubt, ihre Gegenstände unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen. Sie ist, so Kant, die „Überlegung des Zusammenhangs zur Einheit des Begriffs“ (Refl 2876, AA XVI: 556). Sie besteht darin, „sich nach und nach der Vorstellungen bewusst [zu] werden, d. i. sie mit einem Bewusstsein zusammen[zu]halten“ (Refl 2878, AA XVI: 556). Das Bewusstsein des intuitiven Merkmals des Stammes in einer Anschauung wird gefolgt von dem Bewusstsein des intuitiven Merkmals des Stammes in einer anderen usw. „[I]ch vergleiche, was nur eine Wiederholung des Anderen ist.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 909) Ohne einen Begriff des Stammes werden diese Merkmale in der Reflexion zunächst einmal als einander ähnlich aufgefasst, d. h. als solche, die qualitative oder relationale Verwandtschaften aufweisen. Die Reflexion handelt davon, „wie verschiedene [Anschauungen bzw. Gegenstände] in einem Bewusstsein begriffen sein können“ (Refl 2876, AA XVI: 555). Die Aufmerksamkeit für Gemeinsamkeiten (Wiederholungen, Ähnlichkeiten, Verwandtschaften) von Anschauungen und ihren Gegenständen ist nun zwar von entscheidender Bedeutung für die Allgemeinheit des Begriffs, durch die er von verschiedenen Gegenständen gelten kann. Sie erreicht die Allgemeinheit des Begriffs aber noch nicht. Die Allgemeinheit des Begriffs repräsentiert eine Einheit zwischen Gegenständen, die darin besteht, eine allgemeine Eigenschaft zu teilen bzw. zu derselben Art zu gehören. Die Akte der Komparation und der Reflexion sind nun zwar notwendig für eine solche Repräsentation einer Eigenschaft oder Art, aber nicht hinreichend. Hinreichend zur Erklärung der allgemeinen Form eines Begriffs, so wird Kant argumentieren, sind sie nur im Zusammenspiel mit dem Akt der Abstraktion. Ohne die Abstraktion blieben die Komparation von Anschauungen und die Reflexion auf ihre Gemeinsamkeiten nämlich an diejenigen Anschauungen gebunden, auf die sie in der Begriffsbildung jeweils gerichtet sind. Die Akte der Komparation und der Reflexion bleiben so an die einzelnen Repräsentationen geknüpft, deren Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten durch sie aufgefasst werden. Die Allgemeinheit des Begriffs ist damit noch nicht erreicht, handelt sie doch von allen möglichen Gegenständen der betreffenden Art oder mit der betreffenden Eigenschaft, ob sie nun angeschaut werden (oder angeschaut worden sind) oder nicht. Abstraktion. Erst mit dem dritten Akt der Begriffsbildung, dem Akt der Abstraktion, wird die Erklärung der Allgemeinheit des Begriffs abgeschlossen. Das geschieht dadurch, so Kant, dass von den in der Komparation aufgefassten Unterschieden der Anschauungen abgesehen wird und so nur noch die in der Reflexion
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
aufgefassten Gemeinsamkeiten zwischen ihnen übrig bleiben. Die Abstraktion ist damit der Akt, „da man das weglässt worin sie [die Anschauungen und ihre Gegenstände] sich unterscheiden“ (Refl 2876, AA XVI: 555): sie ist die „abstractio von dem Übrigen“ (Refl 2876, AA XVI: 556). So wird im Beispiel von den Unterschieden der Stämme, Blätter und Äste, d. h. von ihrer Größe, Form, Farbe, Anzahl usw. abgesehen und nur noch die bloße Gemeinsamkeit eines Stammes, von Blättern und Ästen gedacht. Die spezifische „Identität des Bewusstseins“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566), auf die der Akt der Reflexion gerichtet ist, wird damit von den verschiedenen Repräsentationen getrennt, deren Teilinhalt dieses Bewusstsein ist. Sie wird so für sich aufgefasst, d. h. als ein allgemeiner Begriff, der in Bezug auf verschiedene Repräsentationen und Gegenstände ein und derselbe sein kann.210 Erst hiermit können die intuitiven Merkmale, die in verschiedenen Anschauungen anzutreffen sind, und die Eigenschaften, die sie repräsentieren, auch im strengen Sinne als Fälle desselben Begriffs gedacht werden. Damit ist dann die „Einheit des Begriffs“ (Refl 2876, AA XVI: 556) erreicht, durch die eine Repräsentation ein bestimmter Begriff, d. h. eine Repräsentation allgemeiner Eigenschaften oder einer Art von Gegenständen, ist.211 In Vorlesungen soll Kant die Abstraktion denn auch als ‚Separation‘212 bezeichnet haben. Mit der Abstraktion werden Merkmale von den Anschauungen getrennt, deren Teilinhalte sie sind. Erst dadurch, so Kant, werden auf der Grundlage von Anschauungen Begriffe gebildet und auf der Grundlage von intuitiven Merkmalen diskursive Merkmale. Erst durch die Abstraktion wird so die Form im Sinne der Allgemeinheit eines Begriffs hervorgebracht. Mit der Absonderung der spezifischen Unterschiede der betrachteten Anschauungen lassen wir so auch all das hinter uns, was ihnen lediglich als den einzelnen Anschauungen zukommt, die sie jeweils sind: Könnte ich nicht abstrahieren: so würde ich keinen Begriff haben, weil mir da immer etwas Anderes in den Sinn kommen würde als was der einzelnen Vorstellung gemein ist. Z. B. wenn jemandem beim Ausdruck Haus nur immer der Krug, den er gesehen, in den Sinn käme, der behielte immer einen intuitus. Man sieht wohl durch Weglassen und Abstrahieren wird kein Begriff, aber es vollendet ihn und macht, dass er kein singularis bleibt. (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 909)
210 „Der Begriff ist das Bewusstsein, dass in einer Vorstellung desselben dasselbe enthalten ist als in einer anderen oder dass in mannigfaltigen Vorstellungen einerlei Merkmale enthalten sind.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 888) 211 Siehe Refl 5561, 1778–83, AA XVIII: 234 („Einheit des Begriffs, dass er nicht ein anderer als dieser sei“). Vgl. Refl 5743, 1783/4, AA XVIII: 341. 212 Siehe V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 566 f.; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 907, 909.
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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Die u. a. von David Hume vertretene Auffassung, von der Kant sich hier abgrenzt, betrachtet Merkmale immer nur als Teile einzelner Repräsentationen, die darüber hinaus noch andere Merkmale haben, mit denen gemeinsam sie Repräsentationen einzelner Gegenstände bilden.213 Auf diese Weise könnten Merkmale nie separat und unabhängig von den Repräsentationen einzelner Gegenstände sein, deren Teilrepräsentationen sie sind. Ohne die Abstraktion und nur mit Komparation und Reflexion gäbe es also gar keine im strengen Sinne allgemeinen Repräsentationen, die diskursive Merkmale zum Inhalt haben, die von bestimmten Repräsentationen einzelner Gegenstände unabhängig sind. Alle Repräsentationen blieben auf diese Weise letztlich immer Repräsentationen von Einzelnem und so auch selbst einzeln, d. h. weder teilbar noch wiederholbar. Erst durch die Abstraktion erhalten Repräsentationen die allgemeine Form, die sie zu Begriffen macht und es ermöglicht, dass verschiedene Repräsentationen bzw. Gegenstände unter sie fallen. Erst auf der Grundlage der Abstraktion repräsentieren Begriffe, was den Gegenständen verschiedener Repräsentationen abstrakt gemeinsam ist: „die Abstraktion ist die Bedingung, unter welcher conceptus communes werden können.“ (Refl 2871, 1769–77, AA XVI: 553)214 Die Bildung eines empirischen Begriffs durch die Akte der Komparation, Reflexion und Abstraktion ist die Aneignung der wiederholt ausübbaren repräsentationalen Fähigkeit, Gegenstände auf eine bestimmte Weise zu charakterisieren. Mit dem Erwerb eines empirischen Begriffs eignen wir uns die Fähigkeit an, Gegenstände anhand ihrer sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften als Gegenstände einer bestimmten Art zu klassifizieren und von Gegenständen anderer Arten zu unterscheiden. Ein empirischer Begriff enthält, so Kant, „einige
213 „A great philosopher [George Berkeley] has disputed the receiv’d opinion in this particular, and has asserted, that all general ideas are nothing but particular ones, annex’d to a certain term, which gives them a more extensive signification, and makes them recal upon occasion other individuals, which are similar to them.“ (Hume (1739/40), 1.1.7: 17) Die von Berkeley und Hume zurückgewiesene Auffassung, an die Kant wieder anschließt, wurde u. a. von Locke vertreten: „[...] Ideas become general, by separating from the circumstances of Time, and Place, and any other Ideas, that may determine them to this or that particular Existence. By this way of abstraction they are made capable of representing more Individuals than one; each of which, having in it a conformity to that abstract Idea, is (as we call it) of that sort.“ (Locke (1689), § 6: 411) 214 „Die Allgemeinheit der Vorstellungen aber ist entstanden durch die Abstraktion.“ (V-Lo/ Blomberg, AA XXIV: 253) Vgl. in Fn. 82. Die Allgemeinheit eines Begriffs, durch die er etwas repräsentiert, was in Bezug auf verschiedene Gegenstände ein und dasselbe sein kann, ist also mit dem Akt der Reflexion noch nicht hinreichend erklärt, wie Smit (2000): 257 glaubt, sondern erfordert die Repräsentation von etwas Abstraktem.
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Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne“ (A 727/B 755), durch die wir diese Gegenstände klassifizieren und von anderen unterscheiden können. Wir gebrauchen diese Merkmale dabei „nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind“ (A 728/B 756). In einem empirischen Begriff werden so mal mehr, mal weniger Merkmale gedacht, je nachdem, wer ihn denkt und zur Unterscheidung gebraucht; und im Zuge des Begriffsgebrauchs fallen manche dieser Merkmale weg und andere kommen hinzu: „der Begriff steht also niemals zwischen sicheren Grenzen“ (A 728/B 756). Die Akte der Komparation, Reflexion und Abstraktion erklären dabei lediglich die allgemeine Form solcher empirischer Begriffe und diskursiver Merkmale, die von wahrnehmbaren Gegenständen und ihren wahrnehmbaren Eigenschaften handeln (z. B. von Bäumen, ihrem Stamm, ihren Ästen und Blättern). Sie betreffen allein empirische Begriffe mit a posteriori, d. h. durch Anschauungen gegebenen und von Anschauungen in diesem Sinne abhängigen Inhalten. Soll auch die Natur empirischer Gegenstände beschrieben werden können, die ihre wahrnehmbaren Eigenschaften erklärt – u. a. durch Eigenschaften, die selbst nicht in der Anschauung gegeben sind –, so ist darüber hinaus erforderlich, dass man auf der Grundlage von Anschauungen „zu Versuchen schreitet“ (A 728/B 756) und Begriffsinhalte a posteriori ‚macht‘, d. h. dass man sie zum Zweck der Erkenntnis der Natur empirischer Gegenstände und vor dem Hintergrund experimenteller Versuche theoretisch einführt und erweitert (siehe 1.1.1).
2.2.4 Der Begriff der Funktion (II): Kollektive Einheiten von Teilakten Die Akte der Hervorbringung von Begriffen bilden eine komplexe Einheit von Teilakten, die jeweils notwendig und nur gemeinsam hinreichend für die Erklärung von Begriffen sind, d. h. für die Erklärung von Repräsentationen mit einer allgemeinen Form. Das verweist auf eine vielversprechende Möglichkeit, den Ausdruck ‚Einheit der Handlung‘ in der Charakterisierung von (logischen) Funktionen in [7] zu lesen. Oben habe ich argumentiert, dass die Einführung und Verwendung des Funktionsbegriffs im „Leitfaden“ dafür spricht, Funktionen als repräsentationale Akte anzusehen, die die Eigenschaft aufweisen, einheitlich zu sein (siehe 2.2.2). Hier möchte ich nun weitergehend vorschlagen, dass Funktionen insofern einheitliche repräsentationale Akte sind, als sie komplexe Einheiten von Teilakten bilden, die jeweils notwendig und nur gemeinsam hinreichend für die Erfüllung ihrer Aufgabe sind. Im Falle der Begriffsbildung z. B. bilden die Teilakte der Komparation, Reflexion und Abstraktion
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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eine komplexe Einheit von Teilakten und sind jeweils notwendig und nur gemeinsam hinreichend für die Hervorbringung von Begriffen.215 Kant nennt solche komplexen Einheiten von Teilen ‚kollektive Einheiten‘.216 Kollektive Einheit ist allgemein ein Charakteristikum systematischer Ganzheiten und ihrer Teile, die gemeinsam den Zweck oder die Aufgabe des Ganzen erfüllen. Entsprechend knüpft Kant die kollektive Einheit eines systematischen Ganzen ausdrücklich an die Vollständigkeit seiner Teile.217 Mit der ‚Einheit der Handlung‘ wäre dann jeweils die kollektive, d. h. die komplexe, systematische und vollständige Einheit von Teilakten gemeint, die es ihnen erlaubt, gemeinsam die Aufgabe des komplexen Aktes zu erfüllen, dessen Teilakte sie sind.218 Das kann erneut anhand der kollektiven Einheit der Begriffsbildung erläutert werden: dass der Akt der Begriffsbildung eine komplexe Einheit ist, heißt, dass er aus mehreren Teilakten besteht, aus den Akten der Komparation, Reflexion und Abstraktion; dass der Akt der Begriffsbildung eine systematische Einheit solcher Teilakte bildet, heißt, dass ein spezifisches Verhältnis und Zusammenspiel dieser Teilakte erforderlich ist, so dass sie gemeinsam die Aufgabe der Begriffsbildung erfüllen und Begriffe hervorbringen; dass der Akt der Begriffsbildung eine vollständige Einheit solcher Teilakte bildet, heißt schließlich, dass er aus allen und nur den Teilakten besteht, die für die Hervorbringung von Begriffen erforderlich sind.219 215 Siehe Baum (1986): 139, der die Funktion des Verstandes als „Einheit von Handlungsmomenten“ bezeichnet. Zuerst habe ich die Position, dass Funktionen komplexe Einheiten von Teilakten sind, in Hoeppner (2011): 200 f. vertreten. 216 Vgl. Refl 3936, 1769/70, AA XVII: 354 f. („die Zusammennehmung von vielem“); Refl 6248, 1785–88, AA XVIII: 528 („vieles, was eines ausmacht“, „synthetische Einheit“). 217 „[...] die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung“ (Prol, AA IV: 328). Vgl. Refl 5093, 1776–78, AA XVIII: 85. 218 „Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande, und, wie dieser das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt“ (A 643 f./B 671 f.). Siehe in Fn. 126. Im Zusammenhang des „Leitfadens“ ist der allgemeine Zweck des Verstandes, den die Vernunft zum Gegenstand hat, die „Erkenntnis durch Begriffe“ (A 68/B 93, A 69/B 94) (siehe 1.2.2). Das zu einer kollektiven Einheit vereinigte Mannigfaltige ist dann ein Mannigfaltiges von Teilakten des Verstandes, die jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend zur Erfüllung dieses Zwecks sind. 219 Dass der Ausdruck ‚Einheit der Handlung‘ als die Bezeichnung einer kollektiven Einheit repräsentationaler Akte verstanden werden kann, zeigt sich daran, dass Kant den Ausdruck ‚Funktion‘ im „Leitfaden“ wiederholt im Singular verwendet und mit ihm dennoch jeweils auf ein komplexes Ganzes verweist. So spricht er „Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95), bevor er die Tafel logischer Funktionen mit ihren vier Titeln und jeweils drei Momenten darstellt. Dann sagt er von der logischen „Funktion des Denkens“, dass sie „unter vier Titel gebracht werden könne, deren jeder drei Momente unter sich enthält.“ (A 70/B 95) Schließlich spricht er von der „Funktion“, die der „Anschauung Einheit“ gibt und auf der „der
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Kant unterscheidet logische von realen Funktionen des Verstandes (siehe 1.1.2). Logische Funktionen sind die Akte des Verstandes, durch die wir die logische Form unserer Repräsentationen hervorbringen, d. h. ihre Weise, sich auf Gegenstände zu beziehen, wie z. B. die Allgemeinheit von Begriffen oder die Wahrheitsfähigkeit von Urteilen; reale Funktionen hingegen sind die Akte des Verstandes, durch die wir den Inhalt unserer Repräsentationen hervorbringen, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände.220 Kant versteht den Akt der Synthesis der Anschauung als eine reale Funktion in diesem Sinne.221 Nun wird der Ausdruck ‚Einheit der Handlung‘ in [7] zwar in Bezug auf den Akt der Unterordnung von Repräsentationen unter Begriffe eingeführt – die „Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ –, d. h. in Bezug auf die logischen Funktionen der Begriffsbildung und des Urteilens. Dennoch sind nicht nur diese logischen Funktionen, sondern ist auch die reale Funktion der Synthesis der Anschauung als eine kollektive, d. h. als eine komplexe, systematische und vollständige, Einheit von Teilakten anzusehen. Nicht nur spricht Kant auch von der „Einheit der Handlung“ (B 153) der Synthesis der Anschauung. Wichtiger ist, dass er sowohl das Urteil als auch die Synthesis der Anschauung als kollektive Einheiten von Teilakten beschreibt. So sind es verschiedene Teilakte, die „[i]n jedem Urteil“ (A 68/B 93) vorkommen müssen, das sich wahrheitsfähig auf Gegenstände bezieht. Ebenso verhält es sich mit der „dreifachen Synthesis“ (A 97), wie Kant sie in der A-Deduktion nennt, die für die Einheit der Anschauung und damit zuletzt für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist. Nicht nur das Urteil beschreibt Kant so als einen Akt, der aus Teilakten besteht, die nur gemeinsam ihr Resultat, ein wahrheitsfähiges Urteil, ergeben. Auch die Synthesis der Anschauung stellt er
reine Verstandesbegriff“ (A 79/B 104f.) beruht, bevor er die Kategorientafel mit ihren vier Titeln und jeweils drei Momenten darstellt. Oft bezeichnet Kant allerdings auch die Teilakte einer komplexen Funktion des Verstandes als Funktionen (siehe Reich (2001): 36), z. B. wenn er von den „Funktionen des Verstandes“ spricht, die „insgesamt gefunden werden [können], wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann“ (A 69/B 94), oder wenn er „logische Funktionen in allen möglichen Urteilen“ und „reine Verstandesbegriffe“ (A 79/B 105) nennt. Der Ausdruck ‚Funktion‘ bezeichnet also entweder das Ganze oder die Teile der komplexen repräsentationalen Akte des Verstandes. 220 Siehe in den Absätzen von Fn. 38 und 47. 221 Zu Funktionen der Synthesis der Anschauung siehe A 112, wo Kant von „allgemeinen Funktionen der Synthesis“ spricht; A 120 Anm., wo er anmerkt, dass „eine Funktion der Synthesis derselben [sinnlicher Eindrücke]“ erforderlich ist, um „Bilder [Anschauungen] der Gegenstände“ hervorzubringen; A 349, wo Kant „Funktionen der synthetischen Einheit“ von „Funktionen eines Urteils“ unterscheidet. Vgl. Br, Anm. Brief an Tieftrunk 11. Dezember 1797, AA XIII: 468 („Funktionen des Zusammensetzens (der Synthesis)“).
2.2 Der logische Gebrauch des Verstandes
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als eine Einheit von Teilakten dar, die jeweils notwendig und nur gemeinsam hinreichend für die Hervorbringung des Inhalts unserer Repräsentationen sind. Die kollektive Einheit des Urteils wird Kant in der „Tafel“ (A 70/B 95) logischer Funktionen darstellen. Die kollektive Einheit der Synthesis findet ihren Ausdruck in der „Tafel der Kategorien“ (A 80/B 106), die Kant entsprechend als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106, A 723/B 751) verstehen wird. Dass die Akte des Urteils und der Synthesis dabei jeweils als kollektive, d. h. als komplexe, systematische und vollständige, Einheiten von Teilakten anzusehen sind, ist natürlich etwas, das in der Metaphysischen Deduktion allererst nachzuweisen ist. Der Akt des Urteils und der Akt der Synthesis der Anschauung sind dort als kollektive Einheiten von Teilakten zu beschreiben und auszuweisen. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun auch noch einmal die drei Schritte der Metaphysischen Deduktion zusammenfassen (siehe 1.1, 1.1.2). i) Im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion geht es zunächst um die kollektive ‚Einheit der Handlung‘ des Urteils, d. h. um die komplexe, systematische und vollständige Einheit der für ein Urteil erforderlichen Akte, deren zusammenhängende Ausübung allein die objektive und wahrheitsfähige Form eines Urteils zustande bringt, durch die wir Begriffe auf Gegenstände beziehen. ii) Im zweiten Schritt der Metaphysischen Deduktion geht es dann um die kollektive ‚Einheit der Handlung‘ der Synthesis der Anschauung, d. h. um die komplexe, systematische und vollständige Einheit der für eine Anschauung erforderlichen Akte der Synthesis, deren zusammenhängende Ausübung allein die objektive Repräsentation eines einzelnen Gegenstandes der Sinne zustande bringt. Auf diesen Akten, so wird Kant dort argumentieren, beruhen die Inhalte unserer Repräsentationen im Allgemeinen und der Kategorien, deren Inhalte in allen Repräsentationen von Gegenständen enthalten sind, im Besonderen. iii) Der kollektiven Einheit von Urteilsakten, wie sie in der Tafel logischer Funktionen dargestellt wird, ist schließlich die kollektive Einheit der Kategorien zuzuordnen, wie sie in der Kategorientafel dargestellt wird – jeder logischen Funktion genau eine Kategorie –, um auf diese Weise den Ursprung dieser Begriffe im Verstand selbst nachzuweisen, d. h. in demselben Vermögen, das auch urteilt. Das ist die Aufgabe des dritten Schrittes der Metaphysischen Deduktion, mit dem Kant dieses Argument beschließt. Damit schließe ich den vorbereitenden Teil dieser Untersuchung ab und wende mich dem Argument zu, das aus diesen drei Schritten besteht. Es beginnt mit Kants Analyse des Urteils.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens 2.3.1 Die Mittelbarkeit von Begriffen: Die Urteils- und Anschauungsthese Kants argumentatives Ziel in der Metaphysischen Deduktion ist der Nachweis des apriorischen Ursprungs der Kategorien, d. h. des Ursprungs bestimmter reiner, intellektueller und elementarer Begriffe im Verstand, im Vermögen zu denken. Er will die Kategorien auf diese Weise als Begriffe von Gegenständen überhaupt ausweisen: als Begriffe, die es uns überhaupt erst ermöglichen, Gegenstände zu denken. Den Nachweis des Ursprungs der Kategorien im Verstand will er letztlich dadurch führen, dass er diese Begriffe logischen Funktionen des Urteils zuordnet, um so zu begründen, dass sie eben demselben Vermögen zuzurechnen sind, das auch urteilt. Der Verstand ist nämlich, so wird Kant argumentieren, wesentlich ein „Vermögen zu urteilen“ (A 69/B 94, A 81/B 106): ein Vermögen, das seine Aufgabe – die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände – allein im Urteil erfüllen kann. Vor diesem Hintergrund sind zunächst die logischen Funktionen des Urteils anzugeben, d. h. die Akte des Verstandes, durch die wir Begriffe auf Gegenstände beziehen und so die objektive und wahrheitsfähige logische Form eines Urteils zustande bringen. Damit ist das Ziel des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion beschrieben. Um es zu erreichen, entwickelt Kant einen Begriff des Urteils. In den Sätzen [1] bis [5] hat Kant das Vermögen des Verstandes als ein Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe beschrieben. In den Sätzen [6] bis [8] hat er dann zunächst Funktionen eingeführt als das, worauf Begriffe „beruhen“ ([6]) oder sich „gründen“ ([8]). In den Sätzen [9] bis [11] geht er nun von der Hervorbringung von Begriffen zu ihrer Verwendung über. Einen Begriff hervorzubringen und über ihn zu verfügen ist nicht dasselbe wie ihn zu verwenden. Die Verwendung von Begriffen, so wird Kant hier nun argumentieren, ist zum einen nur im Urteil und zum anderen nur in Abhängigkeit von Anschauungen möglich. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird Kant dann in den Sätzen [12] bis [15] erstmals die logischen Funktionen des Urteils beschreiben. Kants Überlegungen in den Sätzen [9] bis [11] lauten: [9] Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als dass er dadurch urteilt. [10] Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen.222 [11] Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben. (A 68/B 93)
222 Die Variante in Kants Handexemplar der Kritik lautet: „sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben, die entweder selbst nur mittelbar oder unmittelbar die Anschauung enthält, bezogen.“ (HE, A 68, AA XXIII: 45)
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Kant behauptet in [9], dass der einzige Gebrauch von Begriffen, den wir durch den Verstand machen können, ihr Gebrauch im Urteil ist. Ich will diese Behauptung die Urteilsthese nennen. Das unmittelbare textliche Umfeld macht deutlich, dass Kant mit dem Gebrauch von Begriffen die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände meint.223 Die Urteilsthese kann damit zunächst so formuliert werden: URTEILSTHESE1: Begriffe können allein im Urteil auf Gegenstände bezogen werden.
Im Akt der Begriffsbildung – dem anderen Akt des Verstandes in seinem logischen Gebrauch – werden auf der Grundlage sinnlicher Anschauungen durch Komparation, Reflexion und Abstraktion Begriffe von Gegenständen der Anschauung hervorgebracht. Dieser Akt erklärt so unser Verfügen über Begriffe, das ihrer Verwendung in der Bezugnahme auf Gegenstände vorausgeht und von dieser zu unterscheiden ist. Im Akt der Synthesis der Anschauung – dem Akt des Verstandes in seinem realen Gebrauch – werden Anschauungen hervorgebracht, die wiederum der Hervorbringung von Begriffen vorausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund findet auch in der Synthesis der Anschauung kein Gebrauch von Begriffen statt. Erst in Urteilen, und noch nicht in der Synthesis der Anschauung oder in der Begriffsbildung, gebrauchen wir Begriffe und beziehen sie auf Gegenstände: „Urteil ist der erste Gebrauch, den wir von den Begriffen machen.“ (PhilEnz, AA XXIX: 18) Eine Begründung für die Urteilsthese gibt Kant dann in [10]. Diese Begründung hat mit der Art des Gegenstandsbezugs zu tun, den Begriffe aufweisen können. Der Gegenstandsbezug von Begriffen, so Kant dort, ist immer mittelbar, nur der von Anschauungen ist unmittelbar. Mittelbar ist ein Bezug auf Gegenstände genau dann, wenn er über andere Repräsentationen von Gegenständen vermittelt ist; unmittelbar ist einer, der nicht so vermittelt ist.224 Die Mittelbarkeit des Gegenstandsbezugs von Begriffen ist in ihrer Natur als allgemeine Repräsentationen begründet. Dass Begriffe allgemeine Repräsentationen sind, die von verschiedenen Gegenständen gelten können, bedeutet nämlich, dass wir Gegenstände durch Begriffe immer als Mitglieder einer Art oder als Fälle allgemeiner Eigenschaften denken. Ein Begriff, d. h. eine allgemeine Repräsentation, steht damit nie direkt für einen Gegenstand: er steht immer für eine Art, der auch andere Gegenstände angehören können, oder für allgemeine Eigenschaften,
223 So macht u. a. der unmittelbar folgende Satz [10] deutlich, dass es bei dem Gebrauch von Begriffen um die Beziehung auf Gegenstände geht. So auch Strawson (1966): 74; Haag (2007): 162. 224 So auch de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 39; Longuenesse (1998a): 24 Fn. 13, 54, 220 Fn. 15; (2005): 86; Smit (2000): 262–64.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
die auch andere Gegenstände aufweisen können. Das kommt nach Kant nun darin zum Ausdruck, dass einem Begriff in der Bezugnahme auf Gegenstände immer eine andere Repräsentation untergeordnet werden muss und nicht, wie bei Anschauungen, direkt ein Gegenstand zugeordnet werden kann. Ein Begriff, als allgemeine Repräsentation, bezieht sich damit unmittelbar immer auf eine andere Repräsentation des Gegenstandes und nie auf den einzelnen Gegenstand selbst. Denke ich z. B. einen bestimmten Einzelgegenstand als einen Baum, dann denke ich ihn als einen Gegenstand u. a. mit Stamm, Ästen und Blättern. Unter diesen Begriff können nun aber viele Gegenstände fallen, nämlich alle Gegenstände, die Bäume sind, bzw. alle Gegenstände, die u. a. Stamm, Äste und Blätter haben. Um den Begriff des Baumes nun auf den Gegenstand des Urteils zu beziehen, muss der Begriff zunächst auf eine weitere Repräsentation bezogen werden, die den Gegenstand des Bezugs spezifiziert oder individuiert. Die andere Repräsentation, vermittelt über die ein Begriff auf einen Gegenstand beziehbar ist, so Kant in [10], kann dabei eine Anschauung oder erneut ein Begriff sein. Ist die andere Repräsentation, vermittelt über die ein Begriff auf einen Gegenstand bezogen wird, erneut ein Begriff, so kann dieser den Gegenstand des Urteils zwar spezifizieren, z. B. als Buche (durch ‚Buchen sind Bäume‘). Da aber auch der Gegenstandsbezug durch den Begriff der Buche der Bezug auf eine Art ist, der mehrere Gegenstände angehören, bzw. auf allgemeine Eigenschaften, die mehreren Gegenständen zukommen können, muss auch dieser Bezug wieder durch eine weitere Repräsentation vermittelt sein. Ist die Repräsentation, auf die ein Begriff im Urteil bezogen wird, also ein weiterer Begriff, so ist auch die Bezugnahme dieses Begriffs wieder durch eine weitere Repräsentation zu vermitteln usw. Zuletzt ist es daher allein die Vermittlung durch Anschauungen, d. h. durch Repräsentationen, die nicht wiederum nur vermittelt, sondern unmittelbar auf Gegenstände beziehbar sind, die einen Bezug von Begriffen auf die Gegenstände des Urteils erlaubt.225 Nur dann wenn, im Beispiel, die weitere Repräsentation, auf die der Begriff des Baumes bezogen wird, eine Anschauung eines Baumes ist, wird der Gegenstand des Begriffs des Baumes individuiert und
225 „Die Anschauung ist die unmittelbare Vorstellung eines einzelnen Objekts. Der Begriff ist aber die mittelbare Vorstellung eines einzelnen Objekts.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 546) „Begriff ist mittelbare Anschauung oder Darstellung eines Gegenstandes“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 971). Siehe Allison (2015): 167 f.: „The basic idea is that discursive cognition, which occurs in and through acts of judgment, yields a representation of an object only under a certain description (concept), which, as such, is also applicable to other objects, and which in order to link up with a determinate object (or set thereof) must ultimately be related to a representation that is in immediate relation to an object, i. e., an intuition.“ Vgl. Allison (2004): 84 f.
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der Begriff eindeutig auf einen Gegenstand des Urteils bezogen (z. B. durch ‚Diese Buche/Dies ist ein Baum‘). Die in [10] beschriebene Mittelbarkeit begrifflicher Bezugnahme ist als der Hintergrund der Urteilsthese anzusehen. Da Begriffe immer nur vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehbar sind, können sie auch nur innerhalb eines Zusammenhangs auf Gegenstände bezogen werden, in dem sie auf andere Repräsentationen der Gegenstände beziehbar sind. Dieser Zusammenhang aber, und der einzige Zusammenhang dieser Art, ist das Urteil: Urteile sind wahrheitsfähige Verbindungen von Repräsentationen, in denen Begriffe auf andere Repräsentationen und vermittelt über diese auf Gegenstände bezogen werden können. Daher können Begriffe sich nur in Urteilen auf Gegenstände beziehen. Die Repräsentationen eines Urteils verhalten sich damit nicht so zueinander wie die Teilbegriffe eines komplexen Begriffs und stehen auch nicht einfach nebeneinander wie die Einträge einer Liste. Im Urteil werden sie vielmehr so miteinander verbunden, dass sie sich gemeinsam auf Gegenstände beziehen und die wahrheitsfähige logische Form eines Urteils aufweisen (siehe 1.2.2). Die Urteilsthese kann daher ausführlicher so formuliert werden: URTEILSTHESE2: Begriffe sind nur im Urteil auf Gegenstände beziehbar, da sie nur dort mit anderen Repräsentationen verbunden sind, über die vermittelt sie auf Gegenstände bezogen werden können.
Auf diese Weise führt Kant in [10] auch die Rollen des logischen Prädikats und des logischen Subjekts eines Urteils ein. Er führt sie ein als die Rolle des Begriffs, der vermittelt über eine andere Repräsentation auf den Gegenstand bezogen wird und diesen als Mitglied einer Art oder als Gegenstand mit einer allgemeinen Eigenschaft charakterisiert (das ist die Rolle des logischen Prädikats), und als die Rolle der Repräsentation, sei sie nun Anschauung oder Begriff, die den Gegenstand oder die Gegenstände der Urteils herausgreift und vermittelt über die der Prädikatbegriff auf den Gegenstand oder die Gegenstände bezogen wird (das ist die Rolle des logischen Subjekts). Repräsentationen, die diese Rollen in der Prädikation spielen, leisten im Zusammenhang eines Urteils jeweils einen Beitrag zu dessen Wahrheit oder Falschheit, indem sie dort gemeinsam eine Verbindung eingehen, die dem Gegenstand des Urteils entspricht oder eben nicht. Wie schon meine Darstellung der Urteilsthese gezeigt hat, begründen die Überlegungen in [10], die diese These rechtfertigen, noch eine weitere Behauptung. Dass Begriffe sich immer nur mittelbar, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen, heißt nämlich nicht nur, dass sie nur in Urteilen auf Gegenstände beziehbar sind. Es heißt auch, dass sich bei einem Bezug, an dem allein Begriffe beteiligt sind, letztlich gar nicht verständlich machen lässt, wie er überhaupt auf Gegenstände gehen kann. Ein rein
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begrifflicher Bezug führt in einen infiniten Regress der Bezugnahme und lässt den Bezug von Begriffen auf Gegenstände zuletzt unerklärt. Wenn ein Begriff sich nämlich immer nur mittelbar auf Gegenstände beziehen kann und nun vermittelt über einen weiteren Begriff auf einen Gegenstand bezogen wird, dann bezieht sich auch dieser Begriff wieder nur mittelbar auf den Gegenstand usw. Das kann auch so beschrieben werden, dass wir durch die fortgesetzte Einführung zusätzlicher spezifischer Differenzen immer bestimmtere Begriffe von Gegenständen bilden und auf diese Weise jeden Subjektbegriff unserer Urteile erneut als Prädikat auf einen weiteren, niedrigeren Begriff beziehen können, der unter ihn fällt. Da diese mögliche Spezifikation aber kein Ende findet, sondern unendlich fortgesetzt werden kann, gibt es auch nicht so etwas wie einen niedrigsten Begriff, der sich auf genau einen Einzelgegenstand bezieht. So gilt, wie Kant es im „Anhang zur Dialektik“ sagt, dass keine Art als die unterste an sich selbst angesehen werde, weil, da sie doch immer ein Begriff ist, der nur das, was verschiedenen Dingen gemein ist, in sich enthält, dieser [...] nicht zunächst auf ein Individuum bezogen sein könne, folglich jederzeit andere Begriffe, d. i. Unterarten, unter sich enthalten müsse.226 (A 655 f./B 683 f.)
Als allgemeine Repräsentationen können Begriffe von Gegenständen somit immer weiter bestimmt und spezifiziert werden, so dass auch ihr Bezug immer weiter vermittelt wird. Ist die vermittelnde Repräsentation also selbst wieder ein Begriff, so ist auch sein Bezug wieder vermittelt usw. Jede auch noch so bestimmte Spezifikation kann immer noch als die Repräsentation einer Art aufgefasst werden, zu der verschiedene Gegenstände gehören können. Der Bezug von Begriffen auf Gegenstände ist auf diese Weise nun aber wesentlich vom Gegenstandsbezug anderer Repräsentationen abhängig, vermittelt über die sie sich auf Gegenstände beziehen können. Allein Repräsentationen, die sich nicht wieder vermittelt über Repräsentationen von Arten oder allgemeinen Eigenschaften auf Gegenstände beziehen, sondern unmittelbar für einzelne Gegenstände stehen, können einen drohenden Regress stoppen und den mittelbaren Bezug der an der Bezugnahme beteiligten Begriffe erklären, indem sie diesen Begriffen allererst ihren Bezug verleihen.
226 „Aber einen niedrigsten Begriff (conceptum infimum) oder eine niedrigste Art, worunter kein anderer mehr enthalten wäre, gibt es in der Reihe der Arten und Gattungen nicht, weil ein solcher sich unmöglich bestimmen lässt. Denn haben wir auch einen Begriff, den wir unmittelbar auf Individuen anwenden: so können in Ansehung desselben doch noch spezifische Unterschiede vorhanden sein, die wir entweder nicht bemerken oder die wir aus der Acht lassen.“ (Log, AA IX: 97)
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Da es also keinen niedrigsten Begriff geben kann, der für genau einen Einzelgegenstand steht, muss es in einer Erkenntnis durch Begriffe, d. h. in der Bezugnahme allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände, stattdessen andere Repräsentationen geben, die sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen und diese so individuieren können. Es gibt zwar keinen niedrigsten Begriff (conceptus infimus) eines Gegenstandes, so Kant, dafür aber, wie es in der Logik Pölitz heißt, die sinnliche Anschauung des Gegenstandes als die niedrigste Erkenntnis (cognitio infima) in der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände: der conceptus infimus lässt sich nicht bestimmen, cognitio infima könnte ich wohl sagen, denn Erkenntnisse enthalten sowohl Begriffe als Anschauungen. Cognitio infima wäre also die unmittelbare Anschauung, weil die nur ein einzelnes Ding enthält.227 (AA XXIV: 569)
Nur sinnliche Anschauungen können unmittelbar für Einzelgegenstände stehen. Zum einen haben Anschauungen einzelne Form, d. h. sie repräsentieren einzelne Gegenstände der Sinne (im Unterschied zu Begriffen, die eine allgemeine Form haben und Arten oder Eigenschaften von Gegenständen repräsentieren) (siehe 1.2.1). Zum anderen sind Anschauungen selbst einzeln, d. h. sie sind nichtwiederholbare und nicht-teilbare repräsentationale Akte oder Zustände eines bestimmten repräsentierenden Subjekts (und nicht abstrakt, wie Begriffe, die wiederhol- und teilbare repräsentationale Fähigkeiten sind). Als ein Akt oder Zustand, der selbst einzeln ist, kann eine sinnliche Anschauung nun aber jeweils genau einen Einzelgegenstand herausgreifen und individuieren, indem sie direkt für ihn steht und ihn abbildet.228 Zum Beispiel ist es ‚meine Anschauung dieses Baumes hier und jetzt‘, die genau dadurch einen einzelnen Baum herausgreifen, ihn demonstrativ individuieren und von allen anderen möglichen Gegenständen unterscheiden kann, dass sie direkt für ihn steht und ihn abbildet. Eine solche demonstrative Individuation
227 „Der conceptus infimus lässt sich nicht bestimmen. Denn sobald ich einen Begriff habe, den ich auf individua anwende, so wäre es doch noch möglich, dass unter den individuis, ob ich gleich keinen Unterschied mehr mache, doch noch kleinere Unterschiede stattfinden. [...] Die niedrigste Erkenntnis ist die Anschauung, weil sie immer auf etwas eigenes geht.“ (V-Lo/ Wiener, AA XXIV: 911) 228 Kant versteht Anschauungen, im Unterschied zu Begriffen, als Bilder oder Abbilder ihrer Gegenstände. So grenzt er in Anth, AA VII: 296 die „Abbildung [...] in der Anschauung“ von der „Beschreibung nach Begriffen“ ab. Vgl. V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 235. Zum einen ist ein Bild einzeln: es stellt seinen Gegenstand „in concreto“ (A 141/B 180) dar. Zum anderen bildet ein Bild seinen Gegenstand der Gestalt nach ab: ein „Bild“ ist „eine Anschauung, die ein Mannigfaltiges in gewissen Verhältnissen, mithin eine Gestalt in sich enthält“ (ÜE, AA VIII: 201f.). Vgl. Refl 683, 1769/70, AA XV: 304. In der Kritik gibt Kant denn auch das folgende Beispiel eines Bildes: „wenn ich fünf Punkte hintereinander setze: ..... ist dieses ein Bild von der Zahl fünf.“ (A 140/B 179)
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eines Gegenstandes der Sinne geschieht dabei anhand der Stelle des Gegenstandes sowohl im Verhältnis zu anderen Gegenständen als auch im Verhältnis zum repräsentierenden Subjekt, das die betreffende Anschauung hat.229 Die ebenfalls einzelnen Stellen, die von den Gegenständen unserer Anschauung eingenommen werden können, repräsentieren wir Menschen dabei als räumliche und zeitliche Stellen (siehe 1.2.1.ii). Der Gegenstandsbezug von Repräsentationen, die sich mittelbar auf Gegenstände beziehen, ist zum Schluss also nur dadurch erklärbar, dass er auf eine Bezugnahme zurückgeführt wird, die selbst keine mittelbare mehr ist. Da das aber, so Kant, nur von sinnlichen Anschauungen gilt, können auch nur diese einen infiniten Regress der Bezugnahme stoppen und den Gegenstandsbezug allgemeiner Begriffe verständlich machen, die, anders als etwa Leibniz das geglaubt zu haben scheint, nicht hinreichend sind für die Beziehung auf Gegenstände.230 Ich will diese These die Anschauungsthese nennen. Sie kann zunächst so formuliert werden: ANSCHAUUNGSTHESE1: Begriffe können zuletzt nur vermittelt über sinnliche Anschauungen auf Gegenstände bezogen werden.
229 Siehe Sellars (2002b): 277 (§ 33): „To be an intuitive representing is to represent something as located in space or time, as being here and now with me as contrasted with there and then.“ – Auch Strawson (1959), Kap. 1, 2, 4 argumentiert, dass die deskriptive Identifikation von Einzeldingen vermittels allgemeiner Begriffe letztlich von der Möglichkeit der demonstrativen Identifikation dieser Gegenstände auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen abhängig ist. Zum Schluss ist es dabei die Stelle des bezugnehmenden Subjekts innerhalb eines umfassenden und einheitlichen (für uns: zeitlichen und räumlichen) Systems von Verhältnissen, in dem sowohl das Subjekt als auch seine Gegenstände eindeutige Stellen einnehmen, die uns die Individuation von Gegenständen ermöglichen. Siehe Hoeppner (2020), Teil 33.2. 230 Siehe in Fn. 144. „Bei der Erkenntnis ist endlich nicht Beziehung aufs Objekt unmittelbar vorhanden; sondern nur auf die Anschauung von dem Objekt und in der Beziehung des Begriffs auf die Anschauung wird die Erkenntnis erworben.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 967) Siehe Broad (1978): 75 f.; Carl (1992): 139. – Im Discours de Métaphysique Leibniz formuliert seine Position z. B. so: „Il faut donc considerer ce que c’est que d’estre attribué veritablement à un certain sujet. Or il est constant que toute predication veritable a quelque fondement dans la nature des choses, et lors qu’une proposition n’est pas identique, c’est à dire lors que le predicat n’est pas compris expressement dans le sujet, il faut qu’il y soit compris virtuellement, et c’est ce que les philosophes appellent inesse. Ainsi il faut que le terme du sujet enferme tousjours celuy du predicat, en sorte que celuy qui entendroit parfaitement la notion du sujet, jugeroit aussi que le predicat luy appartient. Cela estant, nous pouvons dire que la nature d’une substance individuelle, ou d’un Estre complet, est d’avoir une notion si accomplie, qu’elle soit suffisante, à comprendre et à en faire deduire tous les predicats du sujet à qui cette notion est attribuée.“ (Leibniz (1686), § 8: 1540)
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Diese grundlegende Überzeugung bringt Kant bereits im ersten Satz der Kritik nach ihrer Einleitung zum Ausdruck: Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.231 (A 19/B 33)
Unser Denken durch Begriffe, so Kant hier, ist lediglich ein Mittel in der Erkenntnis von Gegenständen, ein Mittel, das sich an seinem Zweck, an der unmittelbaren Anschauung des Gegenstandes, bewähren muss. Begriffe sind demnach nur dann Mittel zum Zweck der Beziehung auf Gegenstände, wenn sie sich auch vermittelt über Anschauungen auf Gegenstände beziehen können. Wie die Urteilsthese ergibt sich so auch die Anschauungsthese aus der Mittelbarkeit des Gegenstandsbezugs von Begriffen und damit aus der Allgemeinheit als ihrer logischen Form. Die Urteilsthese und die Anschauungsthese besagen nun, werden sie zusammengenommen, dass Anschauungen die letzten logischen Subjekte unserer Urteile sein müssen, die sich auf Gegenstände beziehen. Wenn die Urteilsthese nämlich besagt, dass Begriffe sich nur in Urteilen, und zwar vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen können, und wenn die Anschauungsthese besagt, dass Begriffe sich letztlich nur vermittelt durch Anschauungen auf Gegenstände beziehen können, dann ist darin enthalten, dass Begriffe sich letztlich nur vermittelt durch Anschauungen in Urteilen auf Gegenstände beziehen können. Es muss also Urteile geben können, in denen ein Begriff von einer Anschauung prädiziert wird.232 Die Behauptung, dass es solche Urteile geben kann, ist ausdrücklich in [9] und [10] enthalten. So heißt es dort, in [9], dass Begriffe nur in Urteilen zur Bezugnahme auf Gegenstände gebraucht werden können; und in [10] heißt es dann, dass die Repräsentation, vermittelt über die Begriffe sich auf Gegenstände beziehen können, eine Anschauung oder ein Begriff sein kann. Die Anschauungsthese kann vor diesem Hintergrund ausführlicher so formuliert werden: ANSCHAUUNGSTHESE2: Begriffe können zuletzt nur vermittelt über sinnliche Anschauungen auf Gegenstände bezogen werden, die als die logischen Subjekte von Urteilen fungieren.233
231 „Anschauung ist dem Begriff, der bloß Merkmal der Anschauung ist, entgegengesetzt. Das Allgemeine muss im Einzelnen gegeben werden. Dadurch hat’s Bedeutung.“ (HE, A 19, AA XXIII: 21) 232 Siehe Prauss (1971): 42; Carl (1992): 139; Smit (2000): 262 Fn. 46; Allison (2001): 19; Rosenberg (2005): 93, 97; Haag (2007): 39 f., 160, 167, 177, 311. 233 Auch wenn seine Überlegungen im „Leitfaden“ Kant auf die Position festlegen, dass Anschauungen als logische Subjekte von Urteilen fungieren können, ja fungieren können müssen, scheint der historische Kant sich nicht eindeutig zu dieser Position durchgerungen zu haben.
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In Satz [11], in dem Kant den Urteilsbegriff formuliert, der aus [9] und [10] folgt (‚also‘), beschreibt er das Urteil dann entsprechend als „mittelbare Erkenntnis“ und „Vorstellung einer Vorstellung“ eines Gegenstandes.234 Die Natur des Urteils als Repräsentation einer Repräsentation besteht darin, dass im Urteil wesentlich eine Repräsentation auf eine andere und allein vermittelt über diese auf Gegenstände bezogen wird. Diese Beschreibung macht das Szenario eines infiniten Regresses rein begrifflicher Bezugnahme besonders deutlich: Wenn ein Urteil aus der Repräsentation einer Repräsentation besteht und alle beteiligten Repräsentationen Begriffe sind, die sich immer nur vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen, dann kann das nur zur Repräsentation einer Repräsentation einer Repräsentation usw. führen. Um diesen drohenden Regress zu stoppen, benötigen wir irgendwann die unmittelbare Repräsentation eines Gegenstandes. Unmittelbar, d. h. unabhängig von anderen Repräsentationen, beziehen sich aber nur sinnliche Anschauungen auf Gegenstände; Begriffe hingegen beziehen sich unmittelbar immer nur auf Repräsentationen.235 Jeder mögliche begriffliche Bezug auf Gegenstände ist auf diese Weise letztlich vom Gegenstandsbezug sinnlicher Anschauungen abhängig. Vor dem Hintergrund seiner Überlegungen in den Sätzen [9] bis [11] gibt Kant nun, in den Sätzen [12] bis [15], die logischen Funktionen des Urteils an. Vgl. Thompson (1972). Zwar gibt es neben den Stellen aus dem „Leitfaden“ noch andere Passagen, die eine solche Festlegung enthalten: „Damit eine Vorstellung Erkenntnis sei [...], dazu gehört Begriff und Anschauung von einem Gegenstande in derselben Vorstellung verbunden [= in einem Urteil], so dass der erstere, so wie er die letztere unter sich enthält, vorgestellt wird.“ (FM, AA XX: 273) „Alle synthetischen Urteile der theoretischen Erkenntnis sind nur durch die Beziehung des gegebenen Begriffs auf eine Anschauung möglich.“ (Br, Brief an Reinhold, 12. Mai 1789, AA XI: 38) „Daher sind auch alle Geschmacksurteile einzelne Urteile, weil sie ihr Prädikat des Wohlgefallens nicht mit einem Begriffe, sondern mit einer gegebenen einzelnen empirischen Vorstellung [= mit einer empirischen Anschauung] verbinden.“ (KU, AA V: 289) Vgl. B 129. Jedoch spricht Kant auch regelmäßig so von Urteilen, als seien sie Akte, in denen nur Begriffe vorkommen. Siehe A 79/B 104 f., A 266/B 322; FM, AA XX: 271 f. Dennoch werde ich die Auffassung, dass Anschauungen als logische Subjekte von Urteilen fungieren können müssen, als eine Implikation des im „Leitfaden“ entwickelten Urteilsbegriffs behandeln. Aus Kantischen Ressourcen lassen sich zudem leicht weitere Argumente konstruieren, die zeigen, dass Kant darauf verpflichtet ist, die Möglichkeit von Anschauungen in Urteilen zuzulassen, indem ihre Konklusionen diese Möglichkeit enthalten. Ein solches Argument wäre z. B. das folgende: Begriffe können nur in Urteilen gebraucht werden (Urteilsthese); Erkenntnis besteht darin, dass Anschauungen unter Begriffe gebracht werden (vgl. A 51/B 75 f.); der Akt, Anschauungen unter Begriffe zu bringen, ist ein Gebrauch von Begriffen; also besteht der Akt, Anschauungen unter Begriffe zu bringen, im Urteilen. 234 „Das Verhältnis einer Erkenntnis zur anderen, insofern die eine das Mittel ist der anderen, ist das Urteil.“ (V-Lo/Busolt, AA XXIV: 661) Vgl. Refl 3047, 1776–89, AA XVI: 631. 235 So auch Piper (1994): 241, Rosenberg (2005): 93.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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2.3.2 Die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils In den Sätzen [12] bis [15] nennt Kant erstmals die logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen. Dabei geht es ihm um die Charakteristika, die ein Urteil aufweisen muss, das sich wahrheitsfähig auf Gegenstände bezieht, d. h. um die logischen Funktionen, die für die logische Form des Urteils verantwortlich sind. Die Sätze [12] und [15] geben aufeinander aufbauende allgemeine Charakterisierungen des Urteils. Satz [12] sagt, was von ‚jedem Urteil‘ gilt, und nennt drei Charakteristika des Urteils; Satz [15] sagt, was ‚alle Urteile‘ charakterisiert, und nennt neben den drei bereits genannten noch ein weiteres Charakteristikum. Die Sätze [13] und [14] erläutern die logischen Funktionen anhand des Beispielurteils ‚Alle Körper sind teilbar‘. Ich will die logischen Funktionen des Urteils nun dadurch identifizieren, dass ich eine Interpretation und Zuordnung der jeweils in den Sätzen [12] bis [15] genannten Charakteristika des Urteils vornehme. Im Anschluss werde ich zu zeigen versuchen, dass und wie sich die auf diese Weise identifizierten Charakteristika des Urteils aus Kants Überlegungen zur Mittelbarkeit von Begriffen ergeben, die er in den Sätzen [9] bis [11] vorgenommen hat. Kants rückblickende Rede von „vier Funktionen aller Urteile“ (A 406/B 432) in der Kritik und von „vier logischen Funktionen aller Urteile des Verstandes“ (AA IV: 330) in den Prolegomena zeigt, dass er die Angabe von vier logischen Funktionen des Urteils für seine entscheidende Aufgabe im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion hält.236 Dort geht es ihm so um die Angabe der vier logischen Funktionen, die „[i]n jedem Urteil“ (A 68/B 93) vorkommen bzw. die „[a]lle Urteile“ (A 69/B 94) charakterisieren, die sich auf Gegenstände beziehen. Auf diese vier logischen Funktionen will ich mich hier denn auch konzentrieren. Sie werden später durch die vier Titel der Tafel der „Funktion des Denkens“ (A 70/B 95) aufgezählt und sind die vier, wie ich sie nennen werde, grundlegenden Funktionen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Die jeweils drei, d. h. insgesamt zwölf, Momente dieser vier Titel werde ich hingegen als elementare logische Funktionen bezeichnen.237 Der Text der Sätze [12] bis [15] lautet: [12] In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. [13] So bezieht sich z. B. in dem Urteile: alle Körper sind teilbar, der Begriff des Teilbaren
236 Siehe VAProl, AA XXIII: 55 („4 logischen Funktionen der Urteile überhaupt“). Vgl. V-Lo/ Pölitz, AA XXIV: 577; V-Lo/Wiener, AA XXIV: 929 (zitiert im Absatz von Fn. 262). 237 Zu dieser Unterscheidung siehe Wolff (1995): 26 f., der von ‚Grund-‘ und ‚Elementarfunktionen‘ spricht. Vgl. Wolff (2004): 111.
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auf verschiedene andere Begriffe; unter diesen aber wird er hier besonders auf den Begriff des Körpers bezogen, dieser aber auf gewisse uns vorkommende Erscheinungen [in Kants Handexemplar: Anschauungen].238 [14] Also werden diese Gegenstände durch den Begriff der Teilbarkeit mittelbar vorgestellt. [15] Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht und viele mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden. (A 68 f./B 93 f.)
Satz [12] nennt drei Charakteristika, die „[i]n jedem Urteil“ vorkommen müssen, das sich auf Gegenstände beziehen kann. Jedes solche Urteil, so Kant dort, ist charakterisiert durch einen Begriff, der für viele Repräsentationen gilt; die vielen Repräsentationen, für die der Begriff gilt; und die ‚gegebene Vorstellung‘, die eine von den vielen Repräsentationen ist, für die der Begriff gilt, und ‚unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘.
Der Begriff, der für ‚viele (Repräsentationen)‘ gilt, ist das logische Prädikat des Urteils. Die vielen Repräsentationen, für die dieser Begriff gilt, so will ich vorschlagen, können als die Repräsentationen angesehen werden, die durch das logische Subjekt des Urteils vertreten werden, durch die Repräsentation also, auf die das logische Prädikat bezogen ist. Da schließlich Anschauungen laut [10] die einzigen Repräsentationen sind, die sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen, ist unter der ‚gegebenen Vorstellung‘ in [12], die ‚unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘, eine Anschauung zu verstehen.239 Anhand von Zuordnungen zu den im Beispielurteil in [13] genannten Charakteristika eines Urteils können diese Interpretationen nun überprüft werden. Kants Beispiel ist das Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘. In diesem Urteil, so Kant in [13], wird der Begriff der Teilbaren „auf verschiedene andere Begriffe“ bezogen, besonders aber auf den Begriff des Körpers. Der Begriff des Körpers wiederum wird auf „Erscheinungen“ von Körpern bezogen, laut der Korrektur in Kants Handexemplar der Kritik: auf „Anschauungen“ von Körpern. Der Begriff des Teilbaren im Beispielurteil entspricht dem in [12] genannten ‚Begriff, der für viele (Repräsentationen) gilt‘, d. h. dem logischen Prädikat des Urteils. Die Ersetzung von ‚Erscheinungen‘ durch ‚Anschauungen‘, die Kant in seinem Handexemplar der Kritik vorgenommen hat, bestätigt wiederum, dass mit der in [12] genannten
238 HE, A 69, AA XXIII: 45. 239 So auch Allison (2004): 85, Rosenberg (2005): 97. – de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 40, Paton (1936), Bd. 1: 252 f. und Wolff (1995): 80 Fn. 79 glauben hingegen, bei der ‚gegebenen Vorstellung‘ handle es sich um einen Subjektbegriff. Siehe die Auseinandersetzung mit Wolffs Position in 2.4.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
107
‚gegebenen Vorstellung, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘, eine Anschauung gemeint ist, im Beispiel: Anschauungen von Körpern. Vor diesem Hintergrund können den ‚vielen‘ Repräsentationen in [12] dann entweder die ‚verschiedenen anderen Begriffe‘ oder der Begriff des Körpers im Beispiel in [13] zugeordnet werden. Weil zu den ‚vielen Vorstellungen‘ in [12] aber eine Anschauung gehören soll – die ‚gegebene Vorstellung, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘ –, können ihnen die ‚verschiedenen anderen Begriffe‘ gar nicht entsprechen, da zu diesen Begriffen dann auch eine Anschauung gehören müsste. Den ‚vielen Vorstellungen‘ kann damit im Beispiel nur der Begriff des Körpers zugeordnet werden. Die ‚vielen Vorstellungen‘ in [12] sind dann, wie bereits zu Anfang vermutet, mit der Rolle des logischen Subjekts des Urteils in Verbindung zu bringen, d. h. im Beispiel, das Kant in [13] gibt, mit dem Begriff des Körpers, der für viele Repräsentationen von Körpern steht. Ist das logische Subjekt des Urteils, wie im Beispiel, ein Begriff, so ist es seine Aufgabe, eine Art von Gegenständen herauszugreifen, auf die das Prädikat des Urteils dann bezogen werden kann. Der Begriff des Körpers, so lässt sich das Beispiel in [13] nun im Verhältnis zu Satz [12] verstehen, steht dabei, als Begriff, für ‚viele (Repräsentationen)‘ von Körpern, die spezifischer sind, z. B. für Repräsentationen von Metallen oder Bäumen. Diese fallen, als Arten von Körpern, jeweils unter den Begriff des Körpers. Unter diesen Repräsentationen, so Kant, muss schließlich auch eine Anschauung eines Körpers sein, wenn das Urteil sich zuletzt auf Gegenstände (Körper) beziehen soll. Die ‚verschiedenen anderen Begriffe‘ im Beispiel in [13] sind ebenfalls verschiedene andere Begriffe, die, als Arten teilbarer Gegenstände, neben dem Begriff des Körpers unter den Prädikatbegriff des Teilbaren fallen, wie z. B. die Begriffe der Linie oder des Raumes. Als Begriffe enthalten nämlich sowohl der Begriff des Körpers als auch der Begriff des Teilbaren viele spezifischere Begriffe unter sich, d. h. Begriffe von Arten von Körpern bzw. Begriffe von Arten teilbarer Gegenstände. Das ist unabhängig davon, ob sie als das logische Subjekt oder als das logische Prädikat eines Urteils fungieren. Im Beispielurteil wird der Begriff der Teilbaren, als das Prädikat des Urteils, dann auf einen der Begriffe bezogen, die unter ihn fallen, hier auf den Begriff des Körpers. Und auch dieser bezieht sich, als Begriff, erneut vermittelt über andere Repräsentationen auf seine Gegenstände, zuletzt vermittelt über Anschauungen von Körpern. Begriffe erlauben so die immer genauere Spezifikation der Gegenstände des Urteils, allein Anschauungen jedoch ihre eindeutige Individuation. Auf diese Weise werden, so heißt es in [14] unter Rückbezug auf [10] und [11], die Gegenstände des Urteils, Körper also, durch den Begriff der Teilbarkeit „mittelbar vorgestellt“, d. h. vermittelt über den Begriff des Körpers, oder genauer: vermittelt zunächst über den Begriff des Körpers und dann über Anschauungen von Körpern.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Um die Identifikation der grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen in den Sätzen [12] bis [15] abzuschließen, nehme ich nun noch die allgemeine Charakterisierung aller Urteile in Satz [15] hinzu. Da es sich bei den Sätzen [13] und [14] lediglich um eine Erläuterung von [12] durch ein Beispiel handelt (‚So...‘), ist Satz [15], der als Folgerung formuliert ist (‚demnach‘), als eine Folgerung aus [12] anzusehen. So ist in [15] eine Nennung derselben Charakteristika des Urteils zu erwarten wie in [12], mit dem Zusatz (mindestens) eines neuen Charakteristikums, das gefolgert wird. In [15] gibt Kant denn auch die folgenden Charakteristika ‚aller Urteile‘ an: die ‚Einheit unter unseren Vorstellungen‘, die auf Urteilen beruht; eine ‚höhere Vorstellung‘, die eine ‚unmittelbare‘ und ‚mehrere Vorstellungen‘ unter sich begreift; eine ‚unmittelbare Vorstellung‘, die unter der ‚höheren Vorstellung‘ begriffen ist; und ‚mehrere Vorstellungen‘, die unter der ‚höheren Vorstellung‘ begriffen sind.
Zwei der bisher vorgenommenen Zuordnungen erweisen sich damit als alternativlos: Der „unmittelbaren Vorstellung“ in [15], die nach [10] nur eine Anschauung sein kann, entspricht in [12] die ‚gegebene Vorstellung, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘, während ihr im Beispiel in [13] die Erscheinungen bzw. laut Handexemplar Anschauungen von Körpern zuzuordnen sind; und der ‚höheren Vorstellung‘ in [15] entspricht in [12] der „Begriff, der für viele gilt“, das logische Prädikat des Urteils also, während ihr im Beispiel in [13] (und [14]) der Begriff der Teilbaren zuzuordnen ist. Der Prädikatbegriff ist dabei insofern eine ‚höhere Vorstellung‘, als er für eine Art von Gegenstand steht, im Beispiel für teilbare Gegenstände, von der die durch die Subjektrepräsentation des Urteils vertretenen Gegenstände eine Unterart (oder einen einzelnen Fall) bilden, im Beispiel also Körper. Auch die Entsprechung der ‚mehreren Vorstellungen‘ in [15] ist vor diesem Hintergrund dann eindeutig: diesen sind die ‚vielen Vorstellungen‘ in [12] zuzuordnen, während ihnen im Beispiel, wie gerade gesehen, der Begriff des Körpers entspricht, der als das logische Subjekt für viele Repräsentationen von Körpern steht, zuletzt für Anschauungen von Körpern. Damit erweist sich die „Einheit unter unseren Vorstellungen“ als das gegenüber [12] neue und in [15] gefolgerte Charakteristikum von Urteilen, die sich auf Gegenstände beziehen. Das Charakteristikum der Einheit der Repräsentationen im Urteil ergibt sich dabei insofern aus den anderen, zuvor bereits genannten Charakteristika, als der Prädikatbegriff (der ‚höhere‘ Begriff) im Urteil auf die Subjektrepräsentation bezogen werden muss, die für eine Vielzahl verschiedener Repräsentationen steht (‚mehrere‘), u. a. aber auf eine Anschauung des Gegenstandes des Urteils (eine ‚unmittelbare Vorstellung‘), um sich überhaupt auf einen Gegenstand beziehen zu können. Es ist die Verbindung der Repräsentatio-
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
109
nen eines Urteils, durch die sie sich gemeinsam auf Gegenstände beziehen und von diesen wahr oder falsch sind. In ihrer Verbindung von Repräsentationen sind Urteile „Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen“, mit der „viele mögliche Erkenntnisse […] in einer zusammengezogen werden“, wie es in [15] heißt. Im Beispielurteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ in [13] und [14] kann dem Charakteristikum der Einheit der Repräsentationen des Urteils dabei die – von Kant nicht noch einmal ausdrücklich genannte – Kopula (‚sind‘) zugeordnet werden. Diese Zuordnungen führen, so lassen sich die Sätze [12] und [15] zusammenfassen, zu der folgenden Auffassung der wesentlichen Charakteristika von Urteilen, die sich auf Gegenstände beziehen, d. h. der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils. Jedes objektive, wahrheitsfähige Urteil ist charakterisiert durch i) einen Prädikatbegriff: der „Begriff, der für viele [Vorstellungen] gilt“ in [12]/ die ‚höhere Vorstellung‘ in [15]; ii) eine Vielzahl verschiedener Vorstellungen, die durch die Subjektrepräsentation des Urteils vertreten wird: die ‚vielen Vorstellungen‘ in [12]/die ‚mehreren Vorstellungen‘ in [15]; iii) die Einheit unter den Repräsentationen des Urteils in [15]; und iv) die Beziehung auf eine Anschauung des Gegenstandes: die „gegebene Vorstellung“ in [12]/die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15]. Unter Hinzunahme des Beispiels in [13] und [14] ergibt sich so das folgende Bild: Urteilsfunktionen nach [] bis []
[]
Beispiel in [] und []: ‚Alle Körper sind teilbar‘
[]
Prädikatbegriff
‚Begriff, der für viele gilt‘
‚Begriff des Teilbaren‘
‚höhere Vorstellung‘
Subjektrepräsentation des Urteils (Vielzahl von Repräsentationen)
‚viele Vorstellungen‘
‚Begriff des Körpers‘ (Repräsentationen von Körpern)
‚mehrere Vorstellungen‘
Anschauung
‚gegebene Vorstellung‘
‚Erscheinungen‘/ ‚Anschauungen‘
‚unmittelbare Vorstellung‘
Einheit unter Repräsentationen des Urteils
–
(die Kopula ‚sind‘)
‚Einheit unter unseren Vorstellungen‘
110
2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
2.3.3 Die Begründung der vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils aus der Mittelbarkeit von Begriffen Nach dieser ersten Identifikation und Aufzählung der vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils, wie sie anhand der Sätze [12] bis [15] möglich ist, wende ich mich an dieser Stelle nun noch einmal ihrer Begründung in den Sätzen [9] bis [11] zu. Im Zuge dessen will ich auch versuchen, ihre Rolle in der Bezugnahme auf Gegenstände etwas genauer zu erläutern. Die gerade genannten vier grundlegenden logischen Funktionen sollen jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend für die logische Form von Urteilen sein, d. h. für ihre objektive und wahrheitsfähige Bezugnahme auf Gegenstände. Sie sind, so will ich vorschlagen, in Kants Überlegungen zur Mittelbarkeit von Begriffen begründet, die er zuvor in den Sätzen [9] bis [11] angedeutet hat. Kant versteht den Verstand, so sein Arbeitsbegriff dieses Vermögens im „Leitfaden“, als das Vermögen der „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], A 69/B 94) (siehe 1.2.2, 2.1). Aufgrund ihrer Allgemeinheit können Begriffe nun nur auf Gegenstände bezogen werden, indem sie diese als Mitglieder einer Art oder als Fälle allgemeiner Eigenschaften repräsentieren (siehe 2.3.1). Das drückt sich darin aus, so Kant, dass Begriffe nie unmittelbar, sondern immer nur vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen werden können. Der Zusammenhang aber, in dem sie vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen werden können, ist das Urteil. Im Urteil treten Begriffe nämlich in Verbindung mit (mindestens) einer anderen Repräsentation auf, vermittelt über die sie auf Gegenstände bezogen werden können. Das ist der Hintergrund der Urteilsthese. Aus der Mittelbarkeit von Begriffen ergeben sich nun auch die vier grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen. Um Begriffe vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände zu beziehen, ist nämlich erstens ein Begriff erforderlich, der vermittelt über eine andere Repräsentation auf den Gegenstand bezogen wird, oder ein Prädikatbegriff. So ist zweitens auch eine Repräsentation erforderlich, vermittelt über die der Prädikatbegriff auf den Gegenstand bezogen wird und diesen spezifiziert, oder eine Subjektrepräsentation. Damit diese Repräsentationen sich nun aber nicht lediglich zueinander verhalten wie die Teilbegriffe eines komplexen Begriffs oder nebeneinander stehen wie die Einträge einer Liste, sondern sich vielmehr gemeinsam und wahrheitsfähig auf Gegenstände beziehen, ist für einen solchen Bezug von Begriffen auf Gegenstände drittens auch eine Verbindung der Repräsentationen des Urteils erforderlich, durch die der Prädikatbegriff auf die Subjektrepräsentation bezogen wird. Da jeder Begriff sich aber, aufgrund seiner Allgemeinheit, immer nur vermittelt über eine weitere Repräsen-
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
111
tation auf den Gegenstand beziehen kann, und zwar selbst dann, wenn er die Rolle des logischen Subjekts eines Urteils spielt, ist schließlich viertens auch eine sinnliche Anschauung des Gegenstandes erforderlich, vermittelt über die Begriffe sich zuletzt auf den Gegenstand beziehen können, indem allein sie den Gegenstand des Urteils individuieren und so einen drohenden infiniten Regress begrifflicher Bezugnahme stoppen kann. Das sind, so Kant, alle grundlegenden logischen Funktionen, die für eine Erkenntnis durch Begriffe erforderlich sind: Eine Erkenntnis durch Begriffe ist die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände. Begriffe aber beziehen sich nur mittelbar auf Gegenstände, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen. Ein mittelbarer Bezug von Begriffen auf Gegenstände, so Kants Analyse dieser Fähigkeit, hat dann genau vier jeweils notwendige und nur gemeinsam hinreichende Charakteristika: i) die vermittelte Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die vermittelt über eine andere auf den Gegenstand bezogen ist, oder ein Prädikatbegriff; ii) die vermittelnde Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die den Bezug des Prädikats vermittelt, oder eine Subjektrepräsentation; iii) die Vermittlung der Repräsentation des Gegenstandes: die Vermittlung des Bezugs des Prädikatbegriffs durch die Subjektrepräsentation oder deren Verbindung im Urteil; und iv) die unvermittelte Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen ist und den Bezug aller an der Bezugnahme beteiligten und nur mittelbar auf den Gegenstand bezogenen Repräsentationen (Begriffe) vermittelt, oder eine Anschauung.240 Da die Anschauung allen an der Bezugnahme beteiligten Begriffen ihren Gegenstandsbezug verleiht und so die Vermittlung des Bezugs zu ihrem Abschluss bringt, ist die Analyse der mittelbaren Erkenntnis durch Begriffe im Urteil mit dem Charakteristikum der Beziehung auf sinnliche Anschauung abgeschlossen und alle ihre grundlegenden Charakteristika sind aufgezählt. Wird vorausgesetzt, dass sinnliche Anschauungen sich tatsächlich unmittelbar auf einzelne
240 Im Fall von Urteilen, deren logisches Subjekt eine Anschauung ist, spielt diese Anschauung sowohl die Rolle der Repräsentation, die den Bezug des Prädikatbegriffs vermittelt (ii.), als auch die Rolle der unmittelbar auf den Gegenstand bezogenen Repräsentation, die den Bezug aller an der Bezugnahme beteiligten und nur mittelbar auf den Gegenstand bezogenen Repräsentationen (Begriffe) vermittelt (iv.). In diesem Fall sind die ‚vielen Vorstellungen‘ aus [12] und die ‚mehreren Vorstellungen‘ aus [15], auf die der Prädikatbegriff bezogen wird, die in der Anschauung enthaltenen Teilrepräsentationen (intuitive Merkmale). Siehe 1.2.1.
112
2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Gegenstände der Sinne beziehen, so ist der Zweck der Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände damit erfüllt. Das kann nun so dargestellt werden: DER MITTELBARE BEZUG VON BEGRIFFEN AUF G
(Verbindung) /
\
\ (Anschauung) | Gegenstand der Anschauung DAS BEISPIELURTEIL
LLE K
) /
\
Begriff der Teilbarkeit \
|
Erst im Zusammenspiel dieser vier grundlegenden logischen Funktionen sind Urteile eine „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], A 69/B 94), in der sie wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen sind und so den Zweck des Verstandes erfüllen. Ich will diese vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils, die sich aus Kants Überlegungen zur Mittelbarkeit von Begriffen ergeben und gemeinsam die logische Form des Urteils erklären, nun noch etwas genauer erläutern, eine nach der anderen. Zu i) Prädikatbegriff. Unsere Bezugnahme auf Gegenstände in Urteilen ist wesentlich begrifflich.241 Begriffe haben allgemeine Form (siehe 1.1.2, 1.2.1, 2.3.1). Sie repräsentieren auf eine Weise, die von verschiedenen Gegenständen gelten
241 Siehe A 106: „Alle Erkenntnis erfordert einen Begriff“.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
113
kann. Durch Begriffe, als allgemeine Repräsentationen von Arten oder Eigenschaften von Gegenständen, können wir Gegenstände als Mitglieder einer Art oder als Fälle allgemeiner Eigenschaften denken. Aufgrund ihrer Allgemeinheit können Begriffe dazu gebraucht werden, Gegenstände auf eine bestimmte Weise zu charakterisieren, auf eine Weise, der die Gegenstände dann entsprechen, indem sie unter den Begriff fallen, oder eben nicht. Allein Begriffe können in diesem Sinne als logische Prädikate von Urteilen gebraucht werden. Nur durch den Gebrauch von Prädikatbegriffen sagen wir etwas über Gegenstände aus, das dann von ihnen gilt oder nicht und so die Wahrheit oder Falschheit eines Gedankens ausmacht, d. h. die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit seinen Gegenständen.242 So ist es auch zu verstehen, wenn Kant in [15] sagt, dass im Urteil „statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere [...] zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht“ wird. Eine Anschauung kann, als einzelne und unmittelbare Repräsentation eines Gegenstandes, nicht prädiziert, d. h. vermittelt durch andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen werden, so dass ihre Gegenstände dann unter sie fallen oder nicht. Auf eine solche Weise kann allein ein Begriff, d. h. eine allgemeine und ggf. ‚höhere Vorstellung‘ gebraucht werden. Zu ii). Subjekrepräsentation. Wir können Gegenstände also nur dadurch denken und erkennen, dass wir sie unter Begriffe bringen, d. h. unter Repräsentationen mit einer allgemeinen Form. Ein notwendiges Korrelat dieses Umstands ist, dass es ein logisches Subjekt des Urteils gibt, das die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände vermittelt und allererst ermöglicht, indem es diese spezifiziert, durch einen weiteren Begriff, oder aber individuiert, durch eine Anschauung des Gegenstandes. Für den Gegenstandsbezug eines Begriffes, der als logisches Prädikat fungiert, ist auf diese Weise eine weitere Repräsentation erforderlich – ‚sei sie nun Anschauung oder Begriff‘, wie es in [10] heißt –, über die vermittelt, als logisches Subjekt, der Prädikatbegriff auf den Gegenstand beziehbar ist. Zu iii). Verbindung. Im Verhältnis der Prädikation stehen die Repräsentationen, die die Rolle des logischen Prädikats und des logischen Subjekts spielen, aber nicht einfach als solche, d. h. nicht unabhängig von einem Akt der Verbindung im Urteil. Ihre wahrheitsfähige und objektive Einheit im Urteil weisen Re-
242 „Wir kennen einen jeden Gegenstand nur durch Prädikate, die wir von ihm sagen oder gedenken“ (Refl 4634, 1772–75, AA XVII: 616), ausführlicher zitiert im Absatz von Fn. 254. „In jedem Urteile erkenne ich, dass etwas entweder unter den allgemeinen Begriff gehöre oder nicht“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 244). „Ich kann ein Ding nicht ohne Urteil erkennen, ich muss ihm in meinem Begriff etwas beilegen.“ (V-MP/Dohna, AA XXVIII: 652)
114
2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
präsentationen nur dadurch auf, dass wir sie dort auf eine bestimmte Weise miteinander verbinden.243 Ohne ihre Verbindung im Urteil würden die Repräsentationen eines Urteils sich nicht wahrheitsfähig auf Gegenstände beziehen, d. h. sie würden nicht gemeinsam die logische Form eines Urteils aufweisen, die sie z. B. von Listen und komplexen Begriffen unterscheidet. Das, was dabei im Unterschied zu einem komplexen Begriff wie dem Begriff des teilbaren Körpers oder zu einer Liste mit den Einträgen ‚Körper‘ und ‚Teilbarkeit‘ hinzukommt, wird in der Prädikation durch die Kopula ausgedrückt, z. B. durch ‚sind‘ in ‚Alle Körper sind teilbar‘.244 Die ‚vielen möglichen Erkenntnisse‘ in [15] sind dabei die Repräsentationen eines Urteils unabhängig von ihrer Verbindung im Urteil, z. B. die Begriffe des Körpers und der Teilbarkeit; und die eine Erkenntnis, in der sie dann durch ihre Verbindung im Urteil „zusammengezogen werden“, ist entsprechend der Bezug auf Gegenstände in ihrer Verbindung im Urteil, z. B. im Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘. Repräsentationen werden in Urteilen so miteinander verbunden, dass sie gemeinsam eine bestimmte Urteilsform aufweisen und sich wahrheitsfähig auf Gegenstände beziehen.245 Die einfachste Form dieser wahrheitsfähigen Verbindung, die, so Kant, in jedem Urteil vorkommt, ist die Form der Prädikation, die im Verhältnis einer Subjektrepräsentation und eines Prädikatbegriffs besteht, ausdrückbar durch ‚S ist P‘.246 In der Prädikation wird eine Subjektrepräsentation einem Prädikatbegriff untergeordnet bzw. wird ein logisches Prädikat auf ein logisches Subjekt und vermittelt über dieses auf den Gegenstand des Urteils bezogen. (Komplexere Formen der Verbindung von Repräsentationen im Urteil, in denen mehrere Prädikationen miteinander verknüpft werden, sind z. B. die konditionale Verbindung ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ und die disjunktive Verbindung ‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘.) Repräsentationen, die in der Prädikation die Rollen des logischen Prädikats und des logischen Subjekts spielen, leisten im Zusammenhang eines Urteils
243 „Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewusstsein ist das Urteil“ (Prol, AA IV: 304). „Die Einheit des Bewusstseins des Mannigfaltigen in der Vorstellung eines Objekts überhaupt ist das Urteil.“ (Refl 5933, 1783/4, AA XVIII: 392) Vgl. V-Lo/Wiener, AA XXIV: 928 f. 244 Siehe in Fn. 145. „In jedem Urteile kann man die gegebenen Begriffe logische Materie (zum Urteile), das Verhältnis derselben (vermittels der Kopula) die Form des Urteils nennen.“ (A 266/B 322) 245 „[...] beziehen sie [Vorstellungen] sich [...] auf ein Objekt, so muss ich eine Form der Urteile ausmitteln, in der ich sie aufs Objekt beziehe.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 550) 246 So bemerkt er in Prol, AA IV: 325 Anm., dass „kategorische Urteile allen anderen zum Grunde liegen“. „In jedem Urteile ist Subjekt und Prädikat.“ (Refl 6350, 1797, AA XVIII: 676) „Die kategorischen Urteile machen [...] die Materie der übrigen Urteile aus“ (Log, AA IX: 105). Vgl. Refl 3046, 1776–89, AA XVI: 631.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
115
einen Beitrag zu dessen Wahrheit oder Falschheit, indem sie dort eine Verbindung eingehen, die dann dem Gegenstand des Urteils entspricht oder eben nicht.247 In ihrer Verbindung im Urteil repräsentieren sie eine Verbindung „im Objekt“ (B 142), womit zugleich die Möglichkeiten gegeben sind, dass sie diese Verbindung entweder so repräsentieren, wie sie im Gegenstand vorkommt, oder eben nicht (siehe 1.2.2). Genau diese Fälle aber machen die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils aus. Ein Urteil ist wahr genau dann, wenn die Verbindung im Urteil mit der Verbindung im Gegenstand übereinstimmt, falsch hingegen, wenn sie dies nicht tut.248 Keine Wahrheit oder Falschheit ohne den Akt der Verbindung von Repräsentationen im Urteil. Neben den Rollen des logischen Prädikats und des logischen Subjekts eines Urteils muss so auch die Rolle ihrer Verbindung gespielt werden, damit ein Urteil überhaupt auf Gegenstände bezogen werden kann. Kant soll das, mit einer Fassung der Urteilsthese, so gesagt haben: Alle Erkenntnis besteht aus Urteilen; d. h. ich muss eine Vorstellung als Prädikat auf ein Subjekt beziehen. (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 550)249
Im Beispiel in [13] und [14] muss der Begriff des Teilbaren vermittelt über den Begriff des Körpers und zuletzt vermittelt über Anschauungen von Körpern auf Körper bezogen werden. Das geschieht dadurch, dass der Begriff des Teilbaren im Urteil so mit dem des Körpers verbunden wird, dass jener als logisches Prädikat auf diesen als logisches Subjekt des Urteils bezogen ist. Das Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ bezieht sich damit dadurch wahrheitsfähig auf Körper als teilbare Gegenstände, dass die in ihm vorkommenden Repräsentationen, die Begriffe des Körpers und der Teilbarkeit, die Einheit der Prädikation aufweisen. Auf diese Weise gehen sie im Urteil eine Einheit ein, die sie für sich genommen nicht haben: eine Einheit, in der der Begriff des Teilbaren vermittelt über den Begriff des
247 Siehe Sellars (1967): 59 f.: „Kant insists on the irreducibility of judgmental to non-judgmental content. This, indeed, was the very heart of his insight. This irreducibility is a function not only of the irreducibility of logical contents but of the irreducibility of the subject-predicate nexus“. 248 Zum Begriff der Wahrheit siehe A 58/B 82 („Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“), A 191/B 236 („Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt“), A 237/B 296 („Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit Objekten“). Zum Begriff der Falschheit siehe A 58/B 83: „eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von anderen Gegenständen gelten könnte.“ Vgl. V-Lo/Busolt, AA XXIV: 627: „eine Erkenntnis kann beziehungsweise auf ein Objekt falsch sein, auf ein anderes aber wahr.“ 249 Vgl. V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 984 f.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Körpers und zuletzt über Anschauungen von Körpern auf Körper bezogen wird. Allein in dieser Einheit trifft der Begriff des Teilbaren auf Körper zu oder nicht und ist das Urteil entsprechend wahr oder falsch von seinen Gegenständen.250 Zu iv). Beziehung auf sinnliche Anschauung. Aus der Mittelbarkeit des Gegenstandsbezugs von Begriffen ergibt sich schließlich die Angewiesenheit auf Repräsentationen, die sich unmittelbar, d. h. nicht wieder vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen, oder die Angewiesenheit begrifflicher Bezugnahme auf sinnliche Anschauungen. Anschauungen haben einzelne Form (siehe 1.1.2, 1.2.1, 2.3.1). Sie repräsentieren auf eine Weise, die nur von einem Gegenstand gelten kann. Eine Anschauung steht direkt für genau einen einzelnen Gegenstand der Sinne und bildet ihn ab. Ohne Repräsentationen, die in diesem Sinne Repräsentationen von Gegenständen sind, könnten Begriffe, die sich unmittelbar nur auf andere Repräsentationen beziehen, noch nicht einmal einen mittelbaren Gegenstandsbezug aufweisen, da es keine Repräsentationen gäbe, die ihnen diesen verleihen könnten.251 „Das Denken“, so Kant später in der Kritik, „ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen.“ (A 247/B 304) Denken, verstanden als die Erkenntnis durch Begriffe in ihrer Bezugnahme auf Gegenstände, muss zuletzt über sinnliche Anschauungen dieser Gegenstände vermittelt sein. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass jedes Urteil explizit eine Anschauung als logisches Subjekt enthalten muss, auch wenn das natürlich eine Möglichkeit ist, den Gegenstandsbezug von Urteilen zu sichern. Das wird schon anhand des Beispielurteils ‚Alle Körper sind teilbar‘ in [13] und [14] deutlich, in dem zumindest explizit keine Anschauung vorkommt und Anschauungen vielmehr unter den Subjektbegriff des Körpers fallen. Zu jedem Urteil, das sich auf diese Weise,
250 Strawson (2004): 11 f., 17 f. hat einen Urteilsbegriff entwickelt, der Kants Analyse in Hinsicht auf die drei grundlegenden logischen Funktionen von Prädikat, Subjekt und Verbindung eng verwandt ist. Siehe auch Stroud (2018): 104: „A thought cannot be simply a list or collection of separate items or objects, even things we are aware of. It must have predicational structure in which part of the thought expresses something that is thought to be true of some object or item picked out by another part of that same thought. Two different ingredients or aspects of the thought must be put together in a way that yields something that is either true or false. We apply a concept to something we think of and thereby think of that thing as falling under or being characterized by that concept. That is what it is to have concepts. As Kant put it: ‘concepts are predicates of possible judgments.’ Only someone with a capacity for judgement can think of things as being one way rather than another, and so can be said to possess concepts.“ 251 Siehe Piper (1994): 241, Rosenberg (2005): 93.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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d. h. vermittelt über einen Subjektbegriff, auf seinen Gegenstand bezieht, muss es vielmehr, in erster Annäherung, ein weiteres Urteil geben können, in dem eine Anschauung als das letzte logische Subjekt der Prädikation der Begriffe fungiert, die an der Bezugnahme beteiligt sind. Das ist die zweite Möglichkeit, den Anschauungs- und damit Gegenstandsbezug von Urteilen zu sichern. Hier zeigt sich, dass Kant nicht so zu verstehen ist, dass jeder Gegenstandsbezug wirkliche Anschauungen des Gegenstandes voraussetzt und wir uns also immer nur auf Gegenstände beziehen können, die unserer sinnlichen Wahrnehmung gerade zugänglich sind. Das wird auch an einer anderen Stelle der Kritik besonders deutlich, in der es heißt: Wenn eine Erkenntnis [...] sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muss der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt. Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anderes, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen. (A 155 f./B 194 f.)
Kant erklärt also die Möglichkeit von Anschauungen zu einer notwendigen Bedingung des Gegenstandsbezugs – dass Gegenstände „gegeben werden können“ –, nicht etwa ihre Wirklichkeit. Zu jedem Urteil mit Gegenstandsbezug, d. h. zu jeder Erkenntnis durch Begriffe, so behauptet Kant hier, muss es möglich sein, Anschauungen des Gegenstandes des Urteils zu haben, um nicht ‚bloß mit Vorstellungen zu spielen‘. Im Falle jedes Urteils, durch das wir uns auf Gegenstände beziehen, muss es demnach mögliche Zustände der Welt geben, in denen angemessen situierte urteilende Subjekte eine Anschauung des Gegenstandes des Urteils haben könnten. Der in der Anschauungsthese enthaltene Gedanke kann damit auch so ausgedrückt werden: nur wenn es möglich ist, Anschauungen eines Gegenstandes zu haben, dann ist es auch möglich, Begriffe auf ihn zu beziehen. „Alle unsere Erkenntnis“, so fasst Kant das in der „Methodenlehre“ der Kritik rückblickend zusammen, „bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen“ (A 719/B 747).
2.3.4 Die logischen Funktionen des Verstandes: Die Zurückführbarkeitsund Prädikationsthese In den Sätzen [9] bis [11] hat Kant die vier grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen aus der Mittelbarkeit von Begriffen gerechtfertigt; und in den Sätzen [12] bis [15] hat er sie vor diesem Hintergrund erstmals aufgezählt und anhand eines Beispielurteils illustriert. In den Sätzen [16] bis [24], mit denen Kant den ersten
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Abschnitt des „Leitfadens“ beschließt, will er nun zeigen, dass die dort gerechtfertigten und aufgezählten logischen Funktionen des Urteils auch die logischen Funktionen des Verstandes sind. Die Aufgabe des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion besteht nämlich darin, die „allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) anzugeben (siehe 1.1.2). Nach der Angabe der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils sind diese also noch als Akte des Verstandes auszuweisen, d. h. als Akte unseres Vermögens zu denken. Das tut Kant nun dadurch, dass er den Verstand als das Vermögen zu urteilen ausweist. Gegen Ende des „Leitfadens“ macht Kant die folgende Bemerkung, mit der er sich auf die Sätze [16] bis [24] und auf das Ergebnis des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion zurückbezieht: der Verstand ist durch gedachte Funktionen [in der Tafel logischer Funktionen in allen möglichen Urteilen] völlig erschöpft und sein Vermögen dadurch gänzlich ausgemessen. (A 79/B 105)
Um so behaupten zu können, dass das Vermögen des Verstandes, in seinem logischen Gebrauch, mit der Angabe der Funktionen des Urteils vollständig beschrieben ist, muss aber gezeigt worden sein, dass die logischen Funktionen des Urteils nichts anderes als die logischen Funktionen des Verstandes selbst sind, dass beide also miteinander identifiziert werden können.252 Das zu zeigen ist die Aufgabe der Sätze [16] bis [24]. In [9] hat Kant den Gebrauch von Begriffen in Urteilen bereits als einen Gebrauch durch den Verstand beschrieben. Dort hat er gesagt, dass der Gebrauch in Urteilen der einzige ist, den der Verstand von Begriffen machen kann. Das war unter Hinzunahme von [10] und [11] so zu interpretieren, dass Begriffe nur in Urteilen auf Gegenstände beziehbar sind, da sie allein in Urteilen vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen werden können (das ist die Urteilsthese in ihrer ausgeführten Form). An diese Überlegungen schließt Kant nun erneut an, um zu begründen, dass die in [12] bis [15] genannten Funktionen des Urteils als Funktionen des Verstandes anzusehen sind. Das tut er dadurch, dass er argumentiert, dass alle Akte des Verstandes auf Urteile ‚zurückführbar‘ sind: [16] Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so dass der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. [17] Denn er ist nach dem Obigen ein Vermögen zu denken. [18] Denken ist die Erkenntnis durch Begriffe. [19] Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande. [20] So bedeutet der Begriff des Körpers etwas, z. B. Metall, was durch jenen Begriff erkannt werden kann. [21] Er ist also nur dadurch Begriff, dass unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind, vermittels deren
252 Siehe Thöle (2001): 483 f.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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er sich auf Gegenstände beziehen kann. [22] Er ist also das Prädikat zu einem möglichen Urteile, z. B. ein jedes Metall ist ein Körper. [23] Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann. [24] Dass dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen. (A 69/B 94)
In [16] behauptet Kant, dass alle Akte des Verstandes sich auf Urteile „zurückführen“ lassen und dass der Verstand vor diesem Hintergrund als ein Vermögen zu urteilen verstanden werden kann. Der Verstand kann als ein Vermögen zu urteilen verstanden werden, so die Behauptung, weil wir alle Akte des Verstandes auf Urteile ‚zurückführen‘ können. Ich will diese Behauptung die Zurückführbarkeitsthese nennen. Sie kann zunächst so formuliert werden: ZURÜCKFÜHRBARKEITSTHESE1: Da wir alle Akte des Verstandes auf Urteile zurückführen können, kann der Verstand als ein Vermögen zu urteilen verstanden werden.
Kant begründet diese These in [17] bis [22]. In [23] folgert er dann, dass wir die Funktionen des Verstandes also ‚insgesamt finden‘ können, wenn wir die „Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen“ können. Mit der Zurückführbarkeitsthese muss damit gezeigt worden sein, dass die logischen Funktionen des Urteils nichts anderes als die logischen Funktionen des Verstandes selbst sind. Kant kann mit der Rede von ‚zurückführen‘ nun keine Zurückführung in dem Sinne meinen, dass alle Akte des Verstandes als Fälle des Urteilens ausgewiesen und so auf den Akt des Urteils reduziert werden können. Kant behauptet hier also nicht, dass alle Akte des Verstandes selbst Urteile sind. So sind nach Kant auch die Akte der Begriffsbildung, die für Begriffe, und die Akte der Synthesis, die für Anschauungen verantwortlich sind, jeweils Akte des Verstandes. Diese Akte können aber nicht selbst im Urteilen bestehen, da sie der Möglichkeit von Urteilen vielmehr jeweils vorausgesetzt sind. Urteile erfordern für ihre Beziehung auf Gegenstände nämlich sowohl Begriffe, die in ihnen von Gegenständen prädiziert werden, als auch Anschauungen, die ihre letzten logischen Subjekte bilden. Auch sind die Akte der Begriffsbildung und der Synthesis der Anschauung jeweils spezifisch vom Urteilen verschieden: die Begriffsbildung ist die Hervorbringung von Repräsentationen mit einer allgemeinen Form und kein wahrheitsfähiger Bezug auf Gegenstände; die Synthesis ist die Hervorbringung von Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne und keine Unterordnung von Repräsentationen unter einen Begriff. Wie die Zurückführbarkeitsthese in [16] stattdessen zu verstehen ist, das zeigt sich in ihrer Begründung in den Sätzen [17] bis [22]. In dieser Begründung bezieht Kant sich zunächst, in [17] und [18], auf seine Argumentation in den Sätzen [1] bis [5] zurück („nach dem Obigen“). Dort hat er den Verstand als ein Vermögen zu
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
denken ([17]) und Denken als eine Erkenntnis durch Begriffe charakterisiert ([18]) (siehe 2.1). Der Verstand, so Kants Arbeitsbegriff zu Beginn des „Leitfadens“, ist das Vermögen, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, oder ein diskursiver Verstand. Dann, in [19] bis [22], fasst er seine Entwicklung dieses Arbeitsbegriffs zusammen, wie er sie in den Sätzen [9] bis [15] vorgenommen hat. Dort hat Kant die Mittelbarkeit des Gegenstandsbezugs von Begriffen analysiert ([9]–[11]) und vor diesem Hintergrund dann die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils angegeben, die zur Erfüllung der Aufgabe des Verstandes erforderlich sind, d. h. für die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände ([12]–[15]) (siehe 2.3.1–3). In seiner Begründung der Zurückführbarkeitsthese in [19] bis [22] erläutert Kant nun die Rolle näher, die Begriffe in Urteilen spielen. Begriffe, so argumentiert er dort, sind Prädikate möglicher Urteile. Sie beziehen sich, „als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande“, wie er es in [19] ausdrückt. Begriffe beziehen sich, so Kant bereits in [9] bis [11], nur in Urteilen und vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände. Das beschreibt er nun so, dass Begriffe sich als Prädikate möglicher Urteile auf Gegenstände beziehen. Sie beziehen sich als logische Prädikate bzw. vermittelt über eine andere Repräsentation auf den Gegenstand, der noch nicht durch den Prädikatbegriff bestimmt ist, d. h. vermittelt über das logische Subjekt des Urteils. Ich will diese Behauptung, mit der die Zurückführbarkeitsthese nun begründet werden soll, die Prädikationsthese nennen. Sie kann zunächst so formuliert werden: PRÄDIKATIONSTHESE1: Begriffe sind Prädikate möglicher Urteile, d. h., sie beziehen sich vermittelt über andere Repräsentationen im Urteil auf den Gegenstand.
In den Sätzen [20] bis [22] erläutert Kant das dann durch ein weiteres Beispielurteil, das Urteil ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ ([22]). In diesem Urteil, so Kant in [20], „bedeutet der Begriff des Körpers etwas, z. B. Metall, was durch jenen Begriff [d. h. durch den Begriff des Körpers] erkannt werden kann.“ Im Urteil ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ wird der Begriff des Körpers auf den Begriff von Metall bezogen und nur dadurch bezieht er sich auf Metall oder, wie Kant es hier sagt, ‚bedeutet er Metall‘. Nur durch die Vermittlung über den Begriff des Metalls kann der Begriff des Körpers auf Metalle bezogen, können Metalle also als Körper gedacht werden. Die Erkenntnis durch Begriffe ist nur möglich, wenn Begriffe als Prädikate gebraucht, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen, werden können. Wie der Begriff der Teilbarkeit sich im Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ vermittelt über den Begriff des Körpers auf Körper bezieht, so bezieht sich nun der Begriff des Körpers im Urteil ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ vermittelt über den Begriff von Metall auf Metalle.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
121
Wie stark die Prädikationsthese zu verstehen ist, das macht Kant im Rahmen der Beschreibung des Beispiels in [21] deutlich. Dort sagt er über den Begriff des Körpers, dass er „nur dadurch Begriff [ist], dass unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind, vermittels deren er sich auf Gegenstände beziehen kann.“ Ein Begriff ist demnach nur dann ein Begriff, durch den Gegenstände erkannt werden können, i) wenn er andere Repräsentationen unter sich enthält und er also keine Anschauung ist und ii) wenn er sich vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen kann und er also kein bloßes logisches Subjekt eines Urteils ist. Begriffe sind in der Beziehung auf Gegenstände wesentlich Prädikate.253 (Das war bereits mit der Formulierung der Urteilsthese in [9] bis [11] deutlich geworden.) Sie sind sogar selbst dann Prädikate, wenn sie als logische Subjekte von Urteilen fungieren. Als allgemeine Repräsentationen können Begriffe nämlich auch dann nur wiederum durch die Vermittlung über andere Repräsentationen auf einzelne Gegenstände bezogen werden. Diese Position vertritt Kant ausdrücklich auch in der folgenden Notiz aus der Entstehungszeit der Kritik: Wir kennen einen jeden Gegenstand nur durch Prädikate, die wir von ihm sagen oder gedenken. Vorher ist das, was von Vorstellungen in uns angetroffen wird, nur zu Materialien, aber nicht zur Erkenntnis zu zählen. Daher ist ein Gegenstand nur ein Etwas überhaupt, was wir durch gewisse Prädikate, die seinen Begriff ausmachen, uns gedenken. In jedem Urteile sind demnach zwei Prädikate, die wir miteinander vergleichen. Davon das eine, welches die gegebene Erkenntnis des Gegenstandes ausmacht, das logische Subjekt, das zweite, welches damit verglichen wird, das logische Prädikat heißt. Wenn ich sage: ein Körper ist teilbar, so bedeutet es so viel: Etwas x, welches ich unter den Prädikaten kenne, die zusammen einen Begriff vom Körper ausmachen, denke ich auch durch das Prädikat der Teilbarkeit.254 (Refl 4634, 1772–75, AA XVII: 616 f.)
Begriffe, als gebildet durch die Akte der Begriffsbildung und unabhängig von Urteilen, in denen sie vorkommen können, sind bloße „Materialien“ der Erkenntnis, aber noch keine Erkenntnisse. Erkenntnisse, d. h. auf den Gegenstand bezogene Repräsentationen, sind sie nur in ihrer Rolle als Prädikate von
253 Siehe Longuenesse (1998a): 107 f., 326; (2005): 95. 254 „Alle Erkenntnis [...] besteht [...] aus Urteilen; und selbst Begriffe sind Vorstellungen, die zu möglichen Urteilen zubereitet sind, indem sie etwas überhaupt, was gegeben worden, als durch ein Prädikat erkennbar vorstellen.“ (Refl 5923, 1783/4, AA XVIII: 386) „Denken heißt Urteilen. Selbst die Begriffe sind Prädikate.“ (Refl 4638, 1772–75, AA XVII: 620)
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Urteilen. Das gilt unabhängig davon, ob sie an der Subjekt- oder an der Prädikatstelle eines Urteils vorkommen. Wir können also ein Urteil wie ‚Der Körper ist teilbar‘
paraphrasieren als ‚Das x, das ein Körper ist, ist auch teilbar‘
und so die prädikative Rolle auch des Subjektbegriffs deutlich machen. Jeder in einem Urteil verwendete Begriff wird auf diese Weise als ein Prädikatbegriff gebraucht und vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen, und zwar auch dann, wenn er an der Subjektstelle eines Urteils steht. Jedes Urteil, in dem zwei Begriffe vorkommen, enthält in diesem Sinne, wie Kant es in der obigen Notiz sagt, zwei Prädikate. Die Prädikationsthese lässt sich vor diesem Hintergrund ausführlicher so formulieren: PRÄDIKATIONSTHESE2: Begriffe sind wesentlich Prädikate, da sie nur vermittelt über andere Repräsentationen in Urteilen auf Gegenstände bezogen werden können, und zwar auch dann, wenn sie an der Subjektstelle der Urteile stehen.
Die Prädikationsthese ist eine zwingende Konsequenz der Position Kants im „Leitfaden“: Die Prädikationsthese folgt aus der Urteilsthese und der Mittelbarkeit von Begriffen: Wenn Begriffe, als allgemeine Repräsentationen, nur in Urteilen auf Gegenstände bezogen werden können und der Bezug von Begriffen immer ein durch andere Repräsentationen in Urteilen vermittelter Bezug ist, dann werden Begriffe in Urteilen immer als Prädikate gebraucht, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen in Urteilen auf Gegenstände bezogen. Die Prädikationsthese folgt aus der Anschauungsthese: Wenn Begriffe sich zuletzt immer nur vermittelt über Anschauungen auf Gegenstände beziehen können, die als die letzten logischen Subjekte unserer Urteile fungieren, dann können Begriffe auch immer nur als Prädikate gebraucht werden, letztlich eben als die Prädikate von Anschauungen. Umgekehrt folgt auch die Anschauungsthese aus der Prädikationsthese: Wenn Begriffe sich immer nur als Prädikate, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen können, dann müssen Anschauungen die letzten logischen Subjekte unserer Urteile sein, wenn Begriffe sich überhaupt auf Gegenstände beziehen können.
Kant selbst soll diese Zusammenhänge laut der Metaphysik Dohna (1792/3) in einem Satz zum Ausdruck gebracht haben, der als Kurzform seiner Überlegungen zum Gegenstandsbezug von Begriffen in Urteilen gelten kann. Er lautet: „Alle unsere Begriffe sind Prädikate zu möglichen Anschauungen.“ (AA XXVIII: 626) Der Bezug von Begriffen auf Gegenstände nimmt so die Gestalt vermittelnder Ketten von Urteilen an, in denen immer spezifischere Begriffe auf Gegenstände
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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bezogen werden. Das Ende einer solchen Kette muss dabei von Urteilen gebildet werden, in denen ein Begriff auf eine Anschauung des Gegenstandes bezogen wird, die diesen individuiert. Die Anschauung sichert den Gegenstandsbezug der ganzen Kette, indem sie und sie allein sich unmittelbar auf den Gegenstand bezieht. Solche vermittelnden Ketten von Urteilen lassen sich auch so beschreiben, dass sie relative Stufenfolgen von Arten und Gattungen abbilden, die durch die Einführung spezifischer Differenzen immer weiter bestimmt und auf diese Weise in immer niedrigere Arten eingeteilt werden können. Die auf diese Weise immer weitergehend mögliche begriffliche Spezifikation von Arten in der Beziehung auf Gegenstände kann zuletzt nur durch den individuierenden Bezug auf einen Einzelgegenstand beendet werden. Dieser Bezug ist uns aber nur durch sinnliche Anschauung möglich. Die Urteile einer Kette stehen dabei in einem Verhältnis der Präsupposition zueinander: Urteile, in denen lediglich Begriffe vorkommen, sind in ihrem Bezug auf Gegenstände und damit auch in ihrer Wahrheitsfähigkeit immer von weiteren möglichen Urteilen abhängig, d. h. von deren Bezug und Wahrheitsfähigkeit. Nur Urteile, in denen ein Begriff auf eine Anschauung bezogen wird, weisen ihren Bezug und ihre Wahrheitsfähigkeit selbständig auf und können sie anderen Urteilen verleihen, ohne selbst wiederum von weiteren Urteilen abhängig zu sein. Das lässt sich nun wie folgt darstellen, wobei ‚A‘ ein Gattungsbegriff des Artbegriffs ‚B‘ ist, ‚B‘ ein Gattungsbegriff des Artbegriffs ‚C‘ usw. und ‚Dieses D‘ schließlich die Anschauung eines D-Gegenstandes, die als logisches Subjekt des letzten Urteils der Kette fungiert. Lies von rechts nach links:255 ,Dieses D ist ein Cʻ
,Alle D sind Cʻ
,Alle C sind Bʻ
,Alle B sind Aʻ
D-Gegenstand
Orientiert an den Beispielurteilen im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ könnte das dann z. B. so aussehen:256 ,Dieses Eisen ist ein Metallʻ
,Eisen sind Metalleʻ
,Metalle sind Körperʻ
,Körper sind teilbarʻ
Eisen
255 Vgl. die Darstellungen in Piper (1994): 244 und Rosenberg (2005): 99 f. 256 Siehe die entsprechende Reihe subordinierter Begriffe in Log, AA IX: 97. Vgl. Broad (1978): 75 f.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Das ist wie folgt zu verstehen: Der Begriff der Teilbarkeit in ‚Körper sind teilbar‘ bezieht sich vermittelt über den Begriff des Körpers auf Körper, d. h. als Prädikatbegriff des Subjektbegriffs des Körpers. Der Begriff des Körpers in ‚Körper sind teilbar‘ wiederum bezieht sich als der Prädikatbegriff des weiteren möglichen Urteils ‚Metalle sind Körper‘ auf Gegenstände. Er bezieht sich dort vermittelt über den Begriff des Metalls auf Metalle und damit auf Körper. Auf diese Weise ist die Wahrheitsfähigkeit des Urteils ‚Körper sind teilbar‘ hier abhängig von der Wahrheitsfähigkeit des Urteils ‚Metalle sind Körper‘. Der Begriff des Metalls in ‚Metalle sind Körper‘ wiederum bezieht sich als Prädikatbegriff des weiteren möglichen Urteils ‚Eisen sind Metalle‘ auf Gegenstände: er bezieht sich dort vermittelt über den Begriff des Eisens auf Eisen und damit auf Metalle und damit auf Körper. Auf diese Weise ist die Wahrheitsfähigkeit des Urteils ‚Metalle sind Körper‘ hier abhängig von der Wahrheitsfähigkeit des Urteils ‚Eisen sind Metalle‘ usw. Durch weitergehende begriffliche Spezifikation könnte diese Kette beliebig lang fortgesetzt werden. Wenn also immer nur Begriffe an der Subjektstelle unserer Urteile stünden, dann könnte nie endgültig gesichert werden, dass die in der Kette prädizierten Begriffe sich auch auf Gegenstände beziehen. In dem Urteil ‚Eisen sind Metalle‘, das die obige Urteilskette fortsetzt, bezieht sich der Begriff des Metalls wiederum nur als das Prädikat eines weiteren möglichen Urteils auf den Gegenstand. Dieses weitere mögliche Urteil ist hier nun aber das Urteil ‚Dieses Eisen ist ein Metall‘, in dem der Begriff von Metall von einer Anschauung von Eisen prädiziert wird, die das logische Subjekt des Urteils bildet.257 Als Anschauung ist sie dazu in der Lage, den Gegenstand des Urteils (Eisen) zu individuieren und so zum Gegenstand der Prädikation zu machen, ohne selbst wiederum der Vermittlung durch eine weitere Repräsentation des Gegenstandes zu bedürfen. Die Kette der Vermittlung von Urteilen endet auf diese Weise mit dem Bezug auf die sinnliche Anschauung des Gegenstandes. Sinnliche Anschauung sichert so den Gegenstandsbezug der in den Urteilen prädizierten Begriffe und damit auch die Wahrheitsfähigkeit der in der Kette verknüpften Urteile. Wie kann die Prädikationsthese nun die Zurückführbarkeitsthese begründen? Wie also begründet die Auffassung, dass Begriffe Prädikate möglicher Urteile sind, die Behauptung, dass sich alle Akte des Verstandes auf Urteile zurückführen lassen und der Verstand als ein Vermögen zu urteilen anzusehen ist? Der Verstand, so Kant in [17] und [18] (und unter Rückbezug auf [1] bis [5]), 257 Das Urteil kann gemäß der oben eingeführten Notation auch als ‚Dieses x, das Eisen ist, ist auch Metall‘ dargestellt werden, wo ‚Dieses x‘ die Anschauung von Eisen ausdrückt, deren Gegenstand unter den Begriff von Eisen und unter den Begriff von Metall gebracht werden kann.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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ist das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe können nun aber, so Kant in [19] bis [22] (und unter Rückbezug auf [9] bis [11]), nur in Urteilen und vermittelt über andere Repräsentationen zur Erkenntnis von Gegenständen gebraucht werden. Dann ist die Erkenntnis durch Begriffe, die die Aufgabe des Verstandes bildet, also nur möglich, wenn Begriffe als Prädikate möglicher Urteile gebraucht werden. Damit ist der Verstand aber nur dann ein Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe, wenn er ein Vermögen zu urteilen ist ([16]). Allein in Urteilen erfüllt der Verstand so seinen Zweck einer Erkenntnis durch Begriffe. In einer erhellenden Passage aus der Metaphysik Arnoldt (K3) (1794/5) heißt es denn auch: Um nun etwas uns unter einen Begriff zu bringen, ist jedes Mal ein Urteil notwendig, mithin laufen alle Handlungen des Verstandes auf ein Urteilen hinaus.258 (AA XXIX: 984)
Hier wird deutlich, wie die Zurückführbarkeitsthese in [16] genauer zu verstehen ist. Alle Akte des Verstandes, die zur Erfüllung des Zwecks des Verstandes erforderlich sind, d. h. für die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände, laufen zuletzt auf Urteile hinaus. Der Bezug von Begriffen auf Gegenstände ist nur in Urteilen möglich, so dass die Aufgabe einer Erkenntnis durch Begriffe nur in Urteilen erfüllt werden kann. Daher kann und muss der Verstand, als das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe, als ein Vermögen zu urteilen verstanden werden. Alle anderen Akte des Verstandes, wie etwa die Akte der Begriffsbildung und der Synthesis, leisten zwar jeweils unverzichtbare Beiträge zur Erkenntnis durch Begriffe: die Begriffsbildung liefert Begriffe, die Synthesis liefert Anschauungen. Der Zweck des Verstandes jedoch, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, kann zuletzt nur in Urteilen erfüllt werden. In genau diesem Sinne können alle Akte des Verstandes auf Urteile zurückgeführt werden, als ihren gemeinsamen Zweck: alle Akte des Verstandes laufen auf Urteile hinaus, da erst in ihnen Begriffe auf Gegenstände bezogen und so die Aufgabe des Verstandes erfüllt werden kann.259 Die Zurückführbarkeitsthese kann dann genauer so formuliert werden: ZURÜCKFÜHRBARKEITSTHESE2: Da alle Akte des Verstandes auf Urteile hinauslaufen, indem nur dort die Aufgabe des Verstandes erfüllbar ist, durch Begriffe zu erkennen, kann der Verstand als ein Vermögen zu urteilen verstanden werden.
258 „Alle unsere Erkenntnis besteht eben darin, dass sie immer auf ein mögliches Urteil kann bezogen werden. Also werden alle Handlungen des Verstandes auf Urteile hinauslaufen.“ (V-MP/ Schön, AA XXVIII: 472) 259 „Der Verstand ist das Vermögen zu Urteilen und selbst alle unsere Begriffe sind nur zum Behuf möglicher Urteile.“ (V-MP/Schön, AA XXVIII: 480)
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Vor diesem Hintergrund folgert Kant am Ende des ersten Abschnitts des „Leitfadens“ in [23] (‚also‘) schließlich, dass wir mit der Darstellung der „Funktionen der Einheit in den Urteilen“ alle „Funktionen des Verstandes“ finden können. Wenn der Verstand als das Vermögen zu urteilen zu verstehen ist, weil eine Erkenntnis durch Begriffe nur in Urteilen möglich ist, dann sind die logischen Funktionen des Urteils auch mit den logischen Funktionen des Verstandes zu identifizieren.260 So erweist sich auch Kants rückblickende Feststellung als gerechtfertigt, dass der Verstand durch die Funktionen des Urteils „völlig erschöpft und sein Vermögen dadurch gänzlich ausgemessen“ (A 79/B 105) ist.261
260 Wenn in [16] von „allen Handlungen des Verstandes“ die Rede ist, dann muss es Kant dort also um die in der Erkenntnis durch Begriffe ausgeübten und für diese erforderlichen Akte des Verstandes in Urteilen gehen, nicht um die in der Logiktradition der Neuzeit unterschiedenen mentalen Operationen (operationes mentis) des Begreifens, des Urteilens und des Schließens, wie Brandt (1991): 53–56 und Wolff (1995): 88–94 meinen. Das zeigt sich schon daran, dass an keiner der angeführten Parallelstellen neben dem Urteilen noch von einem anderen Akt des Verstandes oder der Vernunft die Rede ist. Siehe V-MP/Schön, AA XXVIII: 472, 480 (auszugsweise zitiert in Fn. 258, 259) und V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 984. In den Prolegomena beschreibt Kant das Urteilen in genau demselben Zusammenhang entsprechend als eine „Verstandeshandlung [...], die alle übrige enthält und sich nur durch verschiedene Modifikationen oder Momente unterscheidet“ (AA IV: 323). Das lässt sich problemlos auf Akte oder Funktionen in Urteilen, nicht jedoch auf andere operationes mentis beziehen. Wenn Kant in [16] von allen Akten des Verstandes spricht, dann korrespondiert das vielmehr der Rede von den logischen Funktionen des Verstandes in [23], die „insgesamt gefunden werden [können]“, und die, wie gezeigt, identisch sind mit den logischen Funktionen im Urteil. Schließlich setzt die Deutung von Brandt und Wolff voraus, dass Kant den Verstand im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ im weiteren Sinne des gesamten oberen Erkenntnisvermögens behandelt, der den Verstand im engeren Sinne, die Urteilskraft und die Vernunft umfasst. Wie in Fn. 39 ausgeführt kann aber auch diese Auffassung nicht überzeugen. 261 Siehe Thöle (2001): 483 f. Es ist vor diesem Hintergrund nicht nur ‚ziemlich willkürlich‘ (siehe Thöle (2001): 483), sondern sogar völlig unnötig, mit Wolff (1995): 40–42 die darzustellenden Funktionen des Urteils und die zu findenden Funktionen des Verstandes in [23] auseinanderfallen zu lassen, um auf diese Weise einen Zirkel zu vermeiden. Die Identität der Funktionen des Verstandes und des Urteils wird auch durch ihre Austauschbarkeit an Parallelstellen deutlich. Siehe Refl 5932, 1983/4, AA XVIII: 392; V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 577; V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 985. Darüber hinaus ist die Deutung, die Wolff (1995): 111–13 von [23] gibt, von der nicht aufrechtzuerhaltenden Unterscheidung zwischen Funktionen und Akten des Verstandes abhängig. Siehe an und in Fn. 192 und 195.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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2.3.5 Die Tafel logischer Funktionen: Die Titel In den Sätzen [9] bis [11] hat Kant die vier grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen aus der Mittelbarkeit von Begriffen gerechtfertigt; in [12] bis [15] hat er sie vor diesem Hintergrund erstmals aufgezählt und anhand eines Beispielurteils illustriert; in [16] bis [24] hat er diese logischen Funktionen des Urteils schließlich als die Funktionen des Verstandes identifiziert, indem er den Verstand als das Vermögen zu urteilen ausgewiesen hat. Die vier Titel der Tafel der logischen Funktionen des Verstandes, d. h. die Titel der Quantität, Qualität, Relation und Modalität, können nun, wie ich zeigen will, durch die bereits gerechtfertigten und aufgezählten vier grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen erklärt werden. Diese sind, so habe ich in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt, i) die vermittelte Repräsentation (Prädikatbegriff), ii) die vermittelnde Repräsentation (Subjektrepräsentation), iii) die Vermittlung (Verbindung der Repräsentationen im Urteil) und iv) der Bezug auf eine unvermittelte Repräsentation des Gegenstandes (sinnliche Anschauung). ‚Quantität‘, ‚Qualität‘, ‚Relation‘ und ‚Modalität‘ sind dabei die Namen, die Kant den vier grundlegenden logischen Funktionen in der Tafel der logischen Funktionen des Denkens gibt. Die vier Titel der Tafel sind mit den vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils zu identifizieren, die Kant im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ bereits gerechtfertigt und aufgezählt hat. So zählt Kant in [12] bis [15] vier Charakteristika des Urteils auf (siehe 2.3.2) und enthält die Tafel der logischen Funktionen dann auch vier Titel. Zudem spricht Kant rückblickend von „vier Funktionen aller Urteile“ (A 406/B 432) und von „vier logischen Funktionen aller Urteile des Verstandes“ (Prol, AA IV: 330). Schließlich belegen Passagen wie die folgenden Aufzeichnungen zu Kants Logik-Vorlesungen um 1780, dass Kant die vier Titel der Tafel mit den vier grundlegenden logischen Funktionen im Urteil identifiziert: Wir kommen jetzt zu den Verstandeshandlungen, die bei jedem Urteil sind. Sie können auf folgende 4 reduziert werden. Die Urteile können betrachtet werden: 1.) Der Qualität nach sind sie affirmantes, negantes und infinitae. 2.) Der Quantität nach universales, particulares et singulares. 3.) Der Relation nach kategorische, hypothetische und disjunktive. 4.) Der Modalität nach problematische, assertorische und apodiktische. [...] Jede dieser 4 Funktionen des Verstandes geben einen Unterschied der Urteile. (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 577)
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Alle Verstandeshandlungen, die in einem Urteile vorkommen, reduzieren sich auf 4 und danach werden alle Urteile betrachtet. [Es folgt eine Aufzählung der Titel der Qualität, Quantität, Relation und Modalität mit ihren jeweils drei Momenten.] Jede dieser 4 Funktionen gibt also eine besondere Art von Urteilen ab.262 (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 929)
Aus diesen Nachschriften geht u. a. hervor, dass es nach Kant vier grundlegende Akte oder (logische) Funktionen des Verstandes gibt, die in jedem Urteil ausgeübt werden müssen; dass Qualität, Quantität, Relation und Modalität diese vier grundlegenden Akte oder Funktionen sind; und dass Urteile sich anhand der Ausübung dieser Funktionen unterscheiden und in Arten einteilen lassen.263 Qualität, Quantität, Relation und Modalität sind damit die vier grundlegenden logischen Funktionen, die in jedem Urteil vorkommen müssen, mit dem wir Begriffe auf Gegenstände beziehen können. Um nun nachzuvollziehen, warum die Tafel der logischen Funktionen des Verstandes die vier Titel enthält, die sie enthält, und wie Kant diese Titel genauer versteht, sind sie daher den in [9] bis [11] gerechtfertigten und in [12] bis [15] aufgezählten vier grundlegenden logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen zuzuordnen. Ich möchte hier die folgende Zuordnung vorschlagen:
Q Vermittlung (Verbindung): RELATION
Q
(sinnliche Anschauung): M
Quantität und Qualität. In jedem Urteil, als einer Erkenntnis durch Begriffe, wird ein Begriff auf den Gegenstand oder die Gegenstände des Urteils bezogen. Da Begriffe als allgemeine Repräsentationen von Arten oder Eigenschaften nur mittelbar, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen, auf Gegenstände bezogen werden können, sind sie vermittelte Repräsentationen von Gegenständen oder
262 „Alle Urteile werden unter vier Titel gebracht und eingeteilt nach vier Funktionen, nämlich: a) Die Quantität. b) Die Qualität. c) Die Relation. d) Die Modalität.“ (V-Lo/Busolt, AA XXIV: 661) 263 Schulthess (1981): 277 f. und Wolff (1995): 19 haben darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Tafel auf A 70/B 95 in diesem Sinne vorrangig um eine Tafel logischer Funktionen im Urteil handelt und erst nachrangig um eine Tafel von Urteilsarten.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Prädikate in Urteilen. Daher muss in jedem Urteil, als einer Erkenntnis durch Begriffe, auch eine weitere Repräsentation vorkommen, die den Bezug des Prädikats vermittelt, d. h. eine vermittelnde oder Subjektrepräsentation, die den Bezug des Prädikatbegriffs spezifiziert. Ich schlage vor, die Funktion des Prädikatbegriffs dem Titel der Quantität und die Funktion der Subjektrepräsentation dem Titel der Qualität in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes zuzuordnen. Die Titel der Quantität und der Qualität betreffen dabei jeweils Weisen, wie Prädikatbegriff und Subjektrepräsentation sich im Urteil zueinander verhalten. Durch den Prädikatbegriff, d. h. durch die vermittelte Repräsentation, werden Arten oder Eigenschaften der Gegenstände oder des Gegenstandes der Subjektrepräsentation repräsentiert. Die Funktion des Prädikatbegriffs ist in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes dem Titel der Quantität zuzuordnen, da sich in Hinsicht auf diese Funktion Weisen unterscheiden lassen, die Subjektrepräsentation durch den Prädikatbegriff zu quantifizieren. Die elementaren Weisen, das zu tun, die Kant in der Tafel aufzählt, d. h. die elementaren Weisen, die grundlegende logische Funktion der Quantität in entsprechenden Arten von Urteilen auszuüben, will ich hier zunächst nur nennen. So kann die Quantifikation der Subjektrepräsentation durch den Prädikatbegriff allgemein (‚Alle S sind P‘), besonders (‚Einige S sind P‘) oder einzeln (‚Dieses/Ein S ist P‘) vorgenommen werden. In besonderen Urteilen, so Kant, wird „das Prädikat [...] bloß auf einiges dessen, was unter dem Begriff des Subjekts enthalten ist, gezogen“ (A 71/B 96). In allgemeinen Urteilen wird das Prädikat entsprechend auf alles bezogen, was unter den Subjektbegriff fällt: dieser hat dann „einen Umfang [...], von dessen ganzer Bedeutung das Prädikat [gilt].“ (A 71/B 96) In einzelnen Urteilen schließlich wird der Prädikatbegriff auf genau einen Einzelgegenstand bezogen, der durch die Subjektrepräsentation vertreten wird. Durch die Subjektrepräsentation, d. h. durch die vermittelnde Repräsentation, wird der Gegenstand oder die Art von Gegenstand repräsentiert, auf die der Prädikatbegriff bezogen ist. Die Funktion der Subjektrepräsentation ist in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes dem Titel der Qualität zuzuordnen, da sich in Hinsicht auf diese Funktion Weisen unterscheiden lassen, den Prädikatbegriff durch die Subjektrepräsentation zu spezifizieren. Die elementaren Weisen, das zu tun, die Kant in der Tafel aufzählt, d. h. die elementaren Weisen, die grundlegende logische Funktion der Qualität in entsprechenden Arten von Urteilen auszuüben, will ich hier ebenfalls zunächst nur nennen. So kann die Spezifikation des Prädikatbegriffs durch die Subjektrepräsentation positiv (‚S ist P‘), negativ (‚S ist nicht P‘) oder unendlich (‚S ist nicht-P‘) vorgenommen werden. Die Unterscheidung bejahender und verneinender Urteile, so Kant, betrifft die Frage, „ob dasselbe [das Prädikat] dem Subjekt beigelegt oder ihm entgegengesetzt werde.“ (A 72/B 97) In unendlichen Urteilen schließlich wird die Subjektrepräsentation
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(bzw. das, wofür sie steht) „vermittels eines bloß verneinenden Prädikats“ (A 72/B 97) positiv gedacht. Relation. Der Prädikatbegriff und die Subjektrepräsentation ergeben für sich genommen, d. h. wenn sie einfach nur nebeneinander stehen, noch kein Urteil. Darüber hinaus muss ein Urteil, als eine Erkenntnis durch Begriffe, einen Akt der Verbindung der Repräsentationen des Urteils enthalten, durch den diese Repräsentationen gemeinsam auf Gegenstände bezogen und von diesen wahr oder falsch sind. Im einfachsten Fall besteht dieser Akt der Verbindung im Akt der Prädikation, d. h. in der Vermittlung des logischen Prädikats durch das logische Subjekt. Dieser Akt der Prädikation wird durch die Kopula ausgedrückt.264 Es ist der Akt der Verbindung, der Urteile sowohl von komplexen Begriffen oder Listen als auch von bloß subjektiven, assoziativen Verknüpfungen unterscheidet. Erst durch ihn, so Kant in § 19 der B-Deduktion, wird eine „objektive Einheit gegebener Vorstellungen“ (B 142) hergestellt und damit eine Verbindung „im Objekt“ (B 142) repräsentiert, der die Verbindung der Repräsentationen im Urteil dann entspricht oder eben nicht. Der Akt der Verbindung von Repräsentationen ist in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes dem Titel der Relation zuzuordnen. Durch die Relation der Urteile sind „[d]ie gegebenen Vorstellungen im Urteile [...] eine der anderen zur Einheit des Bewusstseins untergeordnet“ (Log, AA IX: 104).265 Im bereits genannten § 19 fragt Kant aber gerade in Bezug auf das „Verhältnis von Begriffen“ in Urteilen, „worin dieses Verhältnis bestehe“ (B 141). Er antwortet, es bestehe in der „Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“ (B 141), und es sei „das Verhältniswörtchen ist“ (B 141), das diese objektive Einheit ausdrückt. Kant bringt hier also ausdrücklich die Einheit von Repräsentationen im Urteil mit der Relation, mit dem Verhältnis im Urteil, in Verbindung. So heißt es denn auch in der Wiener Logik (1780): Urteil ist generaliter die Vorstellung der Einheit in einem Verhältnisse vieler Erkenntnisse. [...] Wenn man sich zwei Vorstellungen denkt, wie sie als Erkenntnisse zusammen verbunden sind und zusammen Eine Erkenntnis ausmachen: so ist es ein Urteil. In jedem Urteil ist also ein gewisses Verhältnis verschiedener Vorstellungen, sofern sie zu einer Erkenntnis gehören. (AA XXIV: 928)
Die logische Funktion der Verbindung von Repräsentationen entspricht also der Relation des Urteils. Entsprechend lassen sich in Hinsicht auf diese Funktion Weisen unterscheiden, die Repräsentationen im Urteil miteinander zu einer wahrheitsfähigen Einheit zu verbinden. Die elementaren Weisen, das zu tun, die Kant
264 Siehe in Fn. 145. 265 Vgl. Refl 5854, 1783/4, AA XVIII: 369 („Einheit betrifft eigentlich nur das Verhältnis“).
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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in der Tafel aufzählt, d. h. die elementaren Weisen, die grundlegende logische Funktion der Relation in entsprechenden Arten von Urteilen auszuüben, will ich hier erneut zunächst nur nennen. So kann die Verbindung der Repräsentationen im Urteil kategorisch vorgenommen werden, als die Verbindung von Subjektund Prädikatbegriff in der Prädikation (‚S ist P‘); hypothetisch, als die konditionale Verbindung zweier Prädikationen (‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘); oder disjunktiv, als die disjunktive Verbindung mehrerer Prädikationen (‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘). „In der ersteren Art der Urteile“, so Kant, „sind nur zwei Begriffe, in der zweiten zwei Urteile, in der dritten mehrere Urteile im Verhältnis gegeneinander betrachtet.“ (A 73/B 98) Modalität. Um Begriffe in Urteilen auf Gegenstände beziehen zu können und nicht immer nur auf weitere Repräsentationen, müssen Begriffe zuletzt auf sinnliche Anschauungen beziehbar sein, d. h. auf unvermittelte Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne. Ohne diese Beziehbarkeit auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen entsteht ein infiniter Regress rein begrifflicher Bezugnahme, da Begriffe sich letztlich allein vermittels ihrer Beziehung auf sinnliche Anschauungen auf einzelne Gegenstände beziehen können. Erst mit der Beziehung auf sinnliche Anschauungen besteht damit ein Verhältnis von Urteil und Gegenstand. Ich schlage vor, das Verhältnis von Urteil und Gegenstand dem Titel der Modalität in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes zuzuordnen. Die Modalität des Urteils betrifft dann die Weise, wie ein Urteil sich zu seinem Gegenstand verhält. Mit dem für die Beziehung auf Gegenstände in Urteilen grundlegenden Unterschied zwischen allgemeinen Begriffen und sinnlichen Anschauungen ist nämlich auch der Unterschied zwischen dem bloßen Denken eines Gegenstandes und dem Denken eines Gegenstandes gegeben, dem auch tatsächlich sinnliche Anschauungen des Gegenstandes entsprechen. Vor diesem Hintergrund kann in Bezug auf den Gegenstand eines Urteils die Frage gestellt werden, und ist die Frage zu stellen, „ob er bloß möglich oder auch wirklich“ (A 219/B 266) ist. Durch den Unterschied zwischen dem bloßen Denken eines Gegenstandes durch Begriffe, d. h. der Repräsentation seiner bloßen Möglichkeit, und der tatsächlichen Anschauung des so gedachten Gegenstandes, d. h. der Repräsentation seiner Wirklichkeit, erhalten Urteile somit modale Status.266 Zu Beginn des
266 „In dem bloßen Begriffe eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden. [...] so hat das Dasein [...] nur mit der Frage [zu tun]: ob ein solches Ding uns gegeben sei, so, dass die Wahrnehmung desselben vor dem Begriffe allenfalls vorhergehen könne. Denn, dass der Begriff vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen bloße Möglichkeit; die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit.“ (A 225/B 272 f.) – Siehe Leech (2014).
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ersten Abschnitts des „Leitfadens“ hat Kant uns als repräsentierende Subjekte mit einem diskursiven Verstand und sinnlichen Anschauungen beschrieben, für die das Denken und Anschauen von Gegenständen wesentlich auseinanderfallen (siehe 2.1). Damit fallen aber auch, so entwickelt Kant diesen Gedanken weiter, die Möglichkeit und Wirklichkeit der Gegenstände unserer Urteile auseinander. Für Wesen mit einem intuitiven Verstand und intellektuellen Anschauungen würden die Möglichkeit und Wirklichkeit von Gegenständen hingegen wesentlich zusammenfallen. Einen besonders deutlichen Ausdruck findet dieser Gedanke in der folgenden Notiz: Die Ursache unserer Unterscheidung des Möglichen vom Wirklichen ist diese: weil wir die Dinge nicht durch Verstandesanschauungen erkennen, also sie erst respektiv auf unser Denkungsvermögen, nachher auf Anschauung betrachten. (Refl 5718, 1776–89, AA XVIII: 334)
Da intellektuelle und anschauliche Repräsentationen für uns also nicht in intellektuellen Anschauungen zusammenfallen, können und müssen wir das Denken von Gegenständen durch Begriffe und ihre Anschauung durch die Sinne voneinander unterscheiden. Dieser Unterschied wiederum begründet und erfordert die Unterscheidung zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit der Gegenstände unserer Erkenntnis. In der Kritik der Urteilskraft erläutert Kant diesen Zusammenhang dann noch etwas ausführlicher: Es ist dem menschlichen Verstande unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden. Der Grund davon liegt im Subjekt und der Natur seiner Erkenntnisvermögen. Denn wären zu dieser ihrer Ausübung nicht zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren, erforderlich: so würde es keine solche Unterscheidung (zwischen dem Möglichen und Wirklichen) geben. Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. Begriffe (die bloß auf die Möglichkeit eines Gegenstandes gehen) und sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es uns dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen) würden beide wegfallen. (AA V: 401 f.)
Die Modalität ist also deshalb eine grundlegende logische Funktion des Urteils, weil unser Denken von Gegenständen nicht einfach mit ihrer Anschauung zusammenfällt und die Fähigkeit einer Erkenntnis durch Begriffe damit zuletzt immer auch von sinnlichen Anschauungen ihrer Gegenstände abhängig ist. Die grundlegende logische Funktion der Modalität des Urteils ist auf diese Weise in der für unser Denken wesentlichen Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung begründet, d. h. in der Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und daher mittelbaren Bezug von Begriffen auf der einen und dem unmittelbaren Bezug auf einzelne Gegenstände durch sinnliche Anschauungen auf der anderen Seite.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Die Modalität des Urteils ist eine besondere logische Funktion, so Kant, die sich in einer wichtigen Hinsicht von Quantität, Qualität und Relation unterscheidet. Den Bestimmungen im Urteil wird nämlich durch die für unsere Bezugnahme auf den Gegenstand erforderlichen sinnlichen Anschauungen nichts mehr hinzugefügt. Mit der grundlegenden logischen Funktion der Relation ist der so verstandene Inhalt des Urteils vielmehr vollständig erschöpft. Die Repräsentationen eines Urteils werden in ihrer Verbindung auf Gegenstände bezogen und repräsentieren sie so auf eine bestimmte Weise. Im Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ z. B. werden der Begriff der Teilbarkeit und der Begriff des Körpers so miteinander verbunden, dass sie gemeinsam Körper als teilbar repräsentieren. Der Inhalt des Urteils, durch den der Gegenstand gedacht wird – im Beispiel also: dass Körper teilbar sind –, d. h. die Gesamtheit der Bestimmungen, die von ihm prädiziert werden, ist mit der Quantität (Prädikatbegriff), der Qualität (Subjektrepräsentation) und der Relation des Urteils (Verbindung) bereits vollständig gegeben. In diesem Sinne, so Kant, ist „die Modalität im Urteile kein besonderes Prädikat“ (Prol, AA IV: 325 Anm.). Sie „betrifft [...] nur das Urteil selbst, keineswegs die Sache, worüber geurteilt wird.“ (Log, AA IX: 109) Durch die Modalität des Urteils wird den Bestimmungen des Gegenstandes nichts mehr hinzugefügt. Modalität betrifft vielmehr den Status des Urteils im Verhältnis zum Gegenstand.267 In diesem Sinne charakterisiert Kant die grundlegende logische Funktion der Modalität nun auch im „Leitfaden“: Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte), sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt[268] angeht.269 (A 74/B 99 f.)
267 „Die Modalität ist ganz was Besonderes; ich sehe da bloß auf die Art, wie ich etwas setze“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 547). Siehe Sellars (1967): 54: „Kant’s thesis is that the modalities are [...] meta-conceptual. [...] modal attributes are attributes of propositional representables (judgeables) as such, and not of things or events.“ [268] Mit der „Beziehung auf das Denken überhaupt“ meint Kant die Beziehung auf das Denken eines diskursiven Verstandes, ein Denken also, das auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen angewiesen ist (siehe 2.1). Die Kopula eines Urteils hat einen Wert, d. h. einen modalen Status, weil die Erkenntnis durch Begriffe von sinnlichen Anschauungen abhängig ist. 269 „Die Relation macht den Inhalt aus.“ (Refl 3040, 1773–79, AA XVI: 628) Parallelstellen wie die gerade im Fließtext zitierten Passagen aus den Prolegomena und der Logik machen übrigens deutlich, dass der von der Modalität abgegrenzte ‚Inhalt des Urteils‘ auf A 74/B 100. im Sinne des Denkens von Gegenständen und der Bestimmung von Gegenständen durch Quantität, Qualität und Relation zu verstehen ist, und nicht etwa im Sinne dessen, was an Urteilsformen sichtbar und ablesbar ist, wie Brandt (1991): 62 und Allison (2004): 139 meinen. Die
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Die Modalität der Urteile, so Kant auch hier, fügt den Bestimmungen des Gegenstandes durch Quantität, Qualität und Relation nichts mehr hinzu. Die Verbindung der Repräsentationen des Urteils drückt sich in ihrem einfachsten Fall, in der Prädikation, durch die Kopula (‚ist‘) aus. Mit dem Akt der Verbindung, d. h. mit der logischen Funktion der Relation, werden die Repräsentationen des Urteils gemeinsam auf den Gegenstand bezogen. So bestimmen die Repräsentationen des Urteils den Gegenstand. Diese wahrheitsfähige Beziehung auf und Bestimmung von Gegenständen durch die Verbindung der Repräsentationen im Urteil, wie sie sich in der Kopula ausdrückt, hat nun darüber hinaus, so Kant, einen Wert. Einen solchen Wert aber hat die Verbindung von Repräsentationen im Urteil gerade deshalb, weil für das Verhältnis unserer Urteile zu Gegenständen, d. h. für unsere Erkenntnis durch Begriffe, zuletzt immer auch sinnliche Anschauungen der Gegenstände erforderlich sind. Das Verhältnis von Urteil und Gegenstand, in der Beziehung von Begriffen auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen, entspricht also der Modalität des Urteils. So lassen sich in Hinsicht auf diese Funktion Weisen unterscheiden, die wahrheitsfähige Verbindung im Urteil in ihrem Verhältnis zu Gegenständen zu bewerten. Die elementaren Weisen, die Verbindung im Urteil zu bewerten, die Kant in der Tafel aufzählt, d. h. die elementaren Weisen, die grundlegende logische Funktion der Modalität in entsprechenden Arten von Urteilen auszuüben, will ich hier erneut zunächst nur nennen. In der Logik Dohna-Wundlacken (1792) heißt es: Modalität (Bestimmung des Verbindungsbegriffs). Die 3 Bestimmungen der Kopula (oder des Verbindungsbegriffs) [...] sind: a) problematische Urteile, enthalten die logische Möglichkeit, b) assertorische Urteile, enthalten die logische Wirklichkeit (Wahrheit), c) apodiktische Urteile, enthalten die logische Notwendigkeit. (AA XXIV: 766)
Die Verbindung im Urteil kann also problematisch gewertet werden (‚Es ist möglich, dass S ist P‘), assertorisch (‚Es ist wirklich/wahr, dass S ist P‘) oder apodiktisch (‚Es ist notwendig, dass S ist P‘). Bei der grundlegenden logischen Funktion
ersten drei Titel erschöpfen den Inhalt des Urteils im Sinne der Bestimmung des Gegenstandes. Die Modalität des Urteils betrifft dann das Verhältnis von Urteil und Gegenstand. – Brandt (1991): 5 fordert vor dem Hintergrund von A 74/B 99 f. zu Recht, dass ein Prinzip anzugeben ist, „gemäß dem die Vollständigkeit der Urteilstafel mit den ersten drei Titeln gegeben ist“: „Wer nicht zeigt, in welcher Weise Quantität, Qualität und Relation den Inhalt eines Urteils ausmachen, zu dem dann aus bestimmten Gründen noch die Modalität hinzutritt, kann den zentralen Gedanken nicht getroffen haben.“ Meine Rekonstruktion erfüllt diese Forderung.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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der Modalität handelt es sich damit um die „Bestimmung der bloß möglichen oder wirklichen oder notwendigen Wahrheit“ (Log, AA IX: 109) eines Urteils.
2.3.6 Die Tafel logischer Funktionen: Die Momente Um nun nachzuvollziehen, wie Kant vor dem Hintergrund der Argumentation für die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils und die ihnen entsprechenden vier Titel in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes zu den jeweils drei elementaren Ausübungen dieser grundlegenden Funktionen gelangt, um auf diese Weise den ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion abzuschließen, ist der Übergang vom ersten zum zweiten Abschnitt des „Leitfadens“ zu verstehen, den er unmittelbar vor der Darstellung der Tafel in [23] bis [26] vollzieht. Die Passage lautet ([23] und [24] zitiere ich hier erneut): [23] Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann. [24] Dass dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen. Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen [25] Wenn wir von allem Inhalte eines Urteils überhaupt abstrahieren und nur auf die bloße Verstandesform darin achtgeben, so finden wir, dass die Funktion des Denkens in demselben unter vier Titel gebracht werden könne, deren jeder drei Momente unter sich enthält. [26] Sie können füglich in folgender Tafel vorgestellt werden.
1. . Allgemeine Besondere Einzelne 2.
3. Relation. Kategorische Hypothetische Disjunktive
. Bejahende Verneinende Unendliche 4. . Problematische Assertorische Apodiktische
(A 69 f./B 94f.)
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Der vorliegende Abschnitt zerfällt in zwei Teile. Zunächst werde ich erläutern, was Kant mit der Darstellung logischer Funktionen des Verstandes meint (a). Dann werde ich rekonstruieren, wie Kant zu den jeweils drei elementaren logischen Funktionen im Urteil gelangt (b). a. Die Darstellung der logischen Funktionen des Verstandes In [23] behauptet Kant, durch die ‚Darstellung‘ der im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ ausgewiesenen „Funktionen der Einheit in den Urteilen“ die „Funktionen des Verstandes“ finden zu können (siehe 2.3.4). Als die vier grundlegenden logischen Funktionen der Einheit in Urteilen haben sich in den Sätzen [9] bis [15] des ersten Abschnitts des „Leitfadens“ herausgestellt: eine Subjektrepräsentation, ein Prädikatbegriff, die Verbindung der Repräsentationen im Urteil und schließlich das Verhältnis von Urteil und Gegenstand in der Beziehung auf sinnliche Anschauung. Diese vier grundlegenden logischen Funktionen der Einheit in Urteilen lassen sich, wie gerade gezeigt, den Titeln der Quantität, Qualität, Relation und Modalität des Urteils in der Tafel logischer Funktionen des Verstandes zuordnen. Die vier grundlegenden Charakteristika von Urteilen sind dabei insofern Funktionen der Einheit, als sie jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend für die objektive und wahrheitsfähige Einheit des Urteils sind, d. h. für die logische Form, die Urteile charakterisiert, in denen Begriffe auf Gegenstände bezogen werden. Da die Aufgabe des Verstandes nun aber genau darin besteht, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, und diese Aufgabe nur durch Urteile erfüllt werden kann, ist der Verstand als das Vermögen zu urteilen anzusehen und sind die logischen Funktionen in Urteilen entsprechend die im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion gesuchten logischen Funktionen des Verstandes (siehe 2.3.4). Das ist das Ergebnis der Sätze [16] bis [22]. Im Anschluss daran beschreibt Kant in den Sätzen [23] bis [26] dann, wie er vor diesem Hintergrund zur Tafel logischer Funktionen mit ihren vier Titeln und jeweils drei Momenten gelangen will. Das, was hier gefunden werden soll, nennt er in [23] „[d]ie Funktionen des Verstandes“ und in [25] ‚die Titel und Momente der Funktion des Denkens‘. Gefunden werden sollen hier nun also die logischen Funktionen des Denkens, die nach B 159 im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion anzugeben sind. Das, wodurch sie gefunden werden sollen, beschreibt Kant in [23] als ‚die Darstellung der Funktionen der Einheit in den Urteilen‘ und in [25] bis [26] als die ‚Vorstellung‘ ([26]) der ‚Titel und Momente der Funktion des Denkens‘ auf der Grundlage einer ‚Abstraktion von allem Inhalt eines Urteils überhaupt‘ und des ‚Achtgebens auf seine bloße Verstandesform‘ ([25]). Um das besser zu verstehen, wende ich mich zunächst dem
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Begriff der Darstellung und dann dem Begriff der Verstandesform zu. Auf dieser Grundlage erläutere ich schließlich die elementaren Momente in Kants Tafel logischer Funktionen des Verstandes in Urteilen. Mit dem Begriff der Darstellung bezeichnet Kant in der Kritik regelmäßig die Rechtfertigung der Erfülltheit von Begriffen durch die Zuordnung von Anschauungen.270 Dabei werden Begriffe in der reinen271 oder empirischen Anschauung272 dargestellt und so ihre Objektivität oder Realität nachgewiesen.273 In den Fortschritten versteht Kant die „Darstellung (exhibitio) des Objekts“ entsprechend als „die Handlung der Hinzufügung der Anschauung zum Begriffe“ (AA XX: 325) durch die Konstruktion in der reinen oder das Geben eines Beispiels in der empirischen Anschauung, „ohne welche [...] es gar keine Erkenntnis geben kann.“ (AA XX: 325) Es handelt sich hier um den „Beweis der objektiven Realität des Begriffs [...] durch Darstellung des dem Begriffe korrespondierenden Objekts“ (AA XX: 325), ohne den es ungewiss wäre, „ob ihm irgendein Gegenstand korrespondiere oder ob er leer sei“ (AA XX: 326). In [23] kann Kant den Begriff der Darstellung nun aber nicht in genau diesem Sinne verwenden, da logische Funktionen des Urteils gerade nicht in der Anschauung darstellbar sind, weder in der reinen Anschauung durch Konstruktion, wie mathematische Gegenstände, noch in der empirischen Anschauung durch Beispiele, wie empirische Einzelgegenstände. Das wird deutlich, wenn man sich klarmacht, wovon genau hier eine Darstellung gegeben werden soll. Die darzustellenden logischen Funktionen des Urteils sind Akte des Verstandes, d. h. Ausübungen grundlegender repräsentationaler Fähigkeiten dieses Vermögens. Ihre Darstellung ist damit als eine Darstellung des Verstandes aufzufassen. Der Begriff, der hier dargestellt werden soll, ist dann der Begriff des Verstandes als das Vermögen zu urteilen, d. h. die regulative Idee, die Kants Untersuchung im „Leitfaden“ leitet (siehe 1.2.2). Die Darstellung, die Kant hier im Sinn hat, kann damit aber gar keine Darstellung durch Anschauung sein, sondern nur eine, wie er sie in späteren Schriften nennen wird, symbolische Darstellung. Eine Idee ist nämlich ein Begriff, so Kant, „der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt“ (A 320/B 377). Ideen können dann aber nur symbolisch dargestellt werden, als „Nothilfe für Begriffe des Übersinnlichen, die [...] in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden können“
270 Siehe Wolff (1995): 114. 271 Siehe A 4/B 8, B 147, B 156, A 713/B 741, A 715 f./B 743 f., A 720/B 748. 272 Siehe A 155 f./B 194 f., A 468f./B 496 f., A 562/B 590, A 573/B 601, A 714 f./B 742 f., A 715/B 743, A 720 f./B 748 f., A 750/B 778. 273 Auch die Metaphysischen Erörterungen von Raum und Zeit und die Transzendentale Deduktion der Kategorien werden als Darstellungen der Apriorität bzw. der Objektivität von Begriffen beschrieben. Siehe B 38 und B 168 f.
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(FM, AA XX: 279 f.). Eine symbolische Darstellung ist damit von der gerade beschriebenen schematischen Darstellung zu unterscheiden, in der einem Begriff eine reine oder empirische Anschauung des Gegenstandes zugeordnet werden kann. Die Darstellung eines Begriffs, so Kant in den Fortschritten, wenn die objektive Realität dem Begriff geradezu (directe) durch die demselben korrespondierende Anschauung zugeteilt, d. i. dieser unmittelbar dargestellt wird, heißt der Schematism[us]; kann er aber nicht unmittelbar, sondern nur in seinen Folgen (indirecte) dargestellt werden, so kann sie die Symbolisierung des Begriffs genannt werden. (AA XX: 279)
Eine symbolische Darstellung ist eine Darstellung anhand von Zeichen. „Die Erkenntnis ist symbolisch, wo der Gegenstand in dem Zeichen erkannt wird“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 238). Zeichen zeigen ihren Gegenstand an, wie z. B. der Rauch das Feuer.274 Ein Zeichen ist damit eine „Vorstellung, die bloß als ein Mittel gilt, eine andere hervorzubringen“ (Refl 334, 1772–78, AA XV: 132), wie die Repräsentation von Rauch ein Mittel ist, die Repräsentation von Feuer hervorzubringen. Ein Zeichen kann einem Begriff vor diesem Hintergrund als die Folge seines Gegenstandes zugeordnet werden. „Wirkungen sind Zeichen von ihren Ursachen“ (Anth, AA VII: 403), d. h. der Rauch, als Wirkung, ist ein Zeichen seiner Ursache, des Feuers. Ein Symbol kann auf diese Weise auch als „eine indirekte Anschauung“ (Refl 1486, 1774–79, AA XV: 710) seines Gegenstandes aufgefasst werden, so dass die Anschauung von Rauch im Beispiel ein Zeichen und als solches eine indirekte Anschauung von Feuer ist. Bisher hat Kant lediglich den Begriff des Verstandes entwickelt und noch keine Gründe dafür gegeben, zu glauben, dass das so analysierte Vermögen auch real und wirksam und sein Begriff also erfüllt und nicht leer ist.275 Durch die Darstellung der logischen Funktionen des Urteils soll nun aber genau das getan werden, d. h. es soll die Realität und Wirksamkeit des Vermögens des Verstandes nachgewiesen werden. Weil der Verstand aber kein Gegenstand der Anschauung ist, kann das nur durch symbolische Darstellung anhand von Zeichen geschehen, d. h. anhand von Wirkungen des Verstandes, in denen er sich ausdrückt und in denen seine Ausübungen sich auf diese Weise zeigen. Als ein Vermögen ist der Verstand nämlich der „Grund der Möglichkeit einer Handlung“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 824), als die entsprechende Kraft aber der „Grund der Wirklichkeit
274 Siehe Anth, AA VII: 193. 275 Ihm muss noch ‚Sinn und Bedeutung‘ verschafft werden. Siehe A 84/B 116, A 155 f./B 194 f., B 148 f., A 240/B 299; Br, Anm. Brief an Tieftrunk 11. Dezember 1797, AA XIII: 470.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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einer Handlung“ (AA XXIX: 824), durch die er eine Wirkung hat.276 Wenn der Verstand also tatsächlich das Vermögen zu urteilen und für Urteile verantwortlich ist, dann wird sich das auch auf Urteile auswirken und in ihnen ausdrücken. „Der Verstand zeigt sein Vermögen lediglich in Urteilen“ (FM, AA XX: 271). Der Verstand zeigt sein Vermögen nur in Urteilen, d. h. in den tatsächlichen Ausübungen repräsentationaler Fähigkeiten in der Erkenntnis durch Begriffe. Bisher wurden allein die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils und damit die Möglichkeit des Urteils thematisiert (die ‚Möglichkeit einer Handlung‘). Nun geht es um die Wirklichkeit des Verstandes in seiner Ausübung, d. h. in Akten des Urteilens, in denen die grundlegenden logischen Funktionen gemeinsam ausgeübt werden und auf diese Weise überhaupt erst vollwertige Urteile ergeben, die sich objektiv und wahrheitsfähig auf Gegenstände beziehen (die ‚Wirklichkeit einer Handlung‘). Um das besser zu verstehen und um nachzuvollziehen, an welche Zeichen Kant bei der symbolischen Darstellung der logischen Funktionen des Verstandes genau denkt, wende ich mich nun der Rede von der ‚bloßen Verstandesform‘ in [25] zu.277
276 „Die innere Möglichkeit einer Kraft (des Handelns) ist das Vermögen.“ (Refl 3582, 1766– 77, AA XVII: 72) „Die Möglichkeit der Handlung ist das Vermögen. Der innerlich zureichende Grund der Handlung ist die Kraft.“ (Refl 3586, 1769–75, AA XVII: 74) Vgl. V-MP/Schön, AA XXVIII: 515. „Die Kraft, sinnliche Vorstellungen hervorzubringen, ist das sinnliche Erkenntnisvermögen, und die Kraft, intellektuelle [Vorstellungen] hervorzubringen, ist das intellektuelle Erkenntnisvermögen.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 881) Die Begriffe von Kraft und Handlung sind Prädikabilien der Kategorie der Kausalität, siehe A 82/B 108. 277 Wolff (1995): 114 hat bereits darauf hingewiesen, dass „darstellen“ in [23] im technischen Sinne der Darstellung anhand von Anschauungen verstanden werden kann. Darüber hinaus bringt auch er diese Darstellung mit Formen von Urteilen in Verbindung, glaubt dabei allerdings, es seien „Urteile in dieser und jener Form“ (Wolff (1995): 115), anhand derer die grundlegenden Urteilsfunktionen dargestellt werden, als „etwas in der menschlichen Sprache, in menschlichen Sprechhandlungen (in Sätzen) Vorfindliches“ (Wolff (1995): 115), als „die vielen (in Raum und Zeit vorhandenen und herstellbaren) Einzelfälle sprachlicher Gebilde“ (Wolff (1995): 115). Zwar ist es richtig, dass die in [25] beschriebene Abstraktion sich auf konkrete Urteile und ihre spezifischen Formen richten wird. Die auf diese Weise herausgehobenen Verstandesformen im Sinne spezifischer Urteilsformen wie ‚S ist P‘, ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ usw. sind aber als Abstrakta zu betrachten, da sie Formen sind, die verschiedenen konkreten Urteilen gemeinsam sein können. In der Darstellung der Urteilsfunktionen anhand von Urteilsformen soll ja gerade vom Inhalt von Urteilen abgesehen werden und damit eben auch von konkreten Urteilen, die immer Form und Inhalt aufweisen. So wird die Abstraktion zwar in Bezug auf konkrete Urteile vollzogen, dargestellt werden Urteilsfunktionen aber anhand abstrakter, d. h. durch Abstraktion gebildeter, Formen. Wolff scheint die Darstellung in [23] hingegen als eine schematische Darstellung verstehen zu wollen, indem es räumlich und zeitlich lokalisierbare sprachliche Akte oder Entitäten (‚Gebilde‘) sein sollen, anhand derer die Urteilsfunktionen dargestellt werden (für die in späteren Schriften eingeführte Unterscheidung zwischen
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Wird vom gesamten Inhalt eines Urteils278 abgesehen, so Kant in [25], und die Aufmerksamkeit allein auf „die bloße Verstandesform“ im Urteil gerichtet, dann kann die dort ausgeübte logische Funktion des Denkens unter vier Titel gebracht werden, die jeweils drei Momente unter sich haben. Eine Parallelstelle der Kritik hilft, die Rede von der ‚bloßen Verstandesform‘ an dieser Stelle zu verstehen: Die allgemeine Logik abstrahiert [...] von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d. i. die Form des Denkens überhaupt. [...] [Von der allgemeinen Logik gilt, dass sie] die Vorstellungen, sie mögen uranfänglich a priori in uns selbst oder nur empirisch gegeben sein, bloß nach den Gesetzen betrachtet, nach welchen der Verstand sie im Verhältnis gegeneinander braucht, wenn er denkt, und also nur von der Verstandesform handelt, die den Vorstellungen verschafft werden kann, woher sie auch sonst entsprungen sein mögen.279 (A 55 f./B 79 f.)
In der Allgemeinen Logik, so Kant, wird allein die logische Form von Erkenntnissen betrachtet, unabhängig von ihrem Inhalt (siehe 1.2). In ihr wird so von der Beziehung der Erkenntnis auf den Gegenstand abstrahiert, sowie davon, woher Erkenntnisse ihre Inhalte haben, und allein auf das Verhältnis der Erkenntnisse untereinander geachtet. Hier ist nun nicht einfach an die logische
schematischer und symbolischer Darstellung siehe KU, AA V: 351 f. und Anth, AA VII: 191). Nun sind Darstellungen in der Anschauung für Kant aber von der Art, dass die Anschauungen Repräsentationen der Gegenstände sein sollen, die oder deren Begriffe dargestellt werden. Man wird von konkreten sprachlichen Akten oder Entitäten aber wohl kaum behaupten können, dass sie Repräsentationen von Urteilsfunktionen sind, während Urteilsformen im Sinne von Abstrakta sehr wohl für Urteilsfunktionen stehen können, und zwar indem sie als deren Symbole (Zeichen) verstanden werden. Wir haben keine Anschauungen von Urteilsfunktionen, so dass wir von ihnen auch nur eine symbolische Darstellung durch Zeichen geben können. Schließlich scheinen die sprachlichen Ausdrücke, anhand derer die Urteilsfunktionen nach Wolff darzustellen sind, dem zu entsprechen, was Kant später als „bloße Charakterismen“ ansieht, „d. i. Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der Anschauung des Objekts Gehöriges enthalten“ (KU, AA V: 352), die er in diesem Sinne eben gerade von Symbolen abgrenzt, die das zumindest indirekt tun (siehe Anth, AA VII: 191). Während Symbole dem durch sie Dargestellten zumindest der Form nach entsprechen, muss bei sprachlichen Akten oder Entitäten noch nicht einmal das der Fall sein. Ist eine schematische Darstellung, die Wolff im Sinn zu haben scheint, also stärker, als eine Darstellung für Kant in diesem Zusammenhang sein kann, so scheinen die Mittel der Darstellung in Wolffs Sinne zu schwach zu sein, um nach Kant auch nur symbolische Darstellungen sein zu können. 278 Mit Brandt (1991): 24 f. (und gegen Reich (2001): 20) gehe ich davon aus, dass ‚überhaupt‘ an dieser Stelle ‚Inhalt‘ (und nicht ‚Urteil‘) bestimmt. 279 „[Die Logik] handelt nicht von Erkenntnissen dem Inhalt nach (Objekt), sondern bloß von der Verstandesform, d. i. dem Denken in denselben.“ (Refl 1721, 1760–75, AA XVI: 92)
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Form zu denken, die Urteile grundsätzlich charakterisiert, d. h. an ihre objektive und wahrheitsfähige Einheit, sondern vielmehr an spezifische Weisen, diese Einheit herzustellen und auszudrücken, wie durch ‚S ist P‘, ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ usw. Wird z. B. das Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ nur hinsichtlich seiner Form und unabhängig von seinem Inhalt betrachtet, so wird von den inhaltlich bestimmten Repräsentationen (Begriffen) von Körpern und Teilbarkeit abgesehen und nur auf die Form des Urteils geachtet, die durch ‚Alle S sind P‘ darstellbar ist.280 Diese Form bildet lediglich das Verhältnis von Subjekt- und Prädikatbegriff ab, unabhängig davon, was als Subjekt- und was als Prädikatbegriff fungiert. Dieses Vorgehen kann als die Formalisierung von Urteilen bezeichnet werden. Da es nun verschiedene spezifische Formen von Urteilen gibt, können Urteile darüber hinaus anhand ihrer Formen geordnet werden. Dieses Vorgehen kann als die Klassifikation von Urteilen bezeichnet werden. Zum Beispiel unterscheiden sich ein Urteil der Form ‚Alle S sind P‘ (ein allgemeines Urteil) und ein Urteil der Form ‚Einige S sind P‘ (ein besonderes Urteil) dadurch, dass der Prädikatbegriff dort von allen Gegenständen ausgesagt wird, die unter den Subjektbegriff fallen, hier aber nur von einigen dieser Gegenstände. Das macht Urteile dieser Formen zu verschiedenen Ausübungen einer grundlegenden logischen Funktion (der allgemeinen und der besonderen Ausübung). Gemeinsam unterscheiden Urteile beider Formen sich in dieser Betrachtung hingegen von anderen Urteilen, indem sie jeweils Weisen ausdrücken, den Subjektbegriff durch den Prädikatbegriff zu quantifizieren. Das macht sie zu verschiedenen Ausübungen einer grundlegenden logischen Funktion (der Funktion der Quantität). Die „Technik der Logiker“ (A 70/B 96), auf die Kant sich mit [23] und [25] bis [26] bezieht, ist eine solche Klassifikation von Urteilen anhand ihrer Formen, ein Vorgehen, das in der Logik seiner Zeit weit verbreitet war.281 Nach Kants Auskunft in den Prolegomena ist es diese „Arbeit der Logiker“, d. h. die Formalisierung von Urteilen und ihre Klassifikation anhand ihrer Formen, mithilfe derer er in die Lage versetzt wurde, „eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen [...] darzustellen.“ (AA IV: 323 f.) Vor diesem Hintergrund ist nun davon auszugehen, dass Kant in [23] bis [26] eine symbolische Darstellung der logischen Funktionen des Denkens anhand von Urteilsformen im Sinn hat. Die elementaren Ausübungen der im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ bereits bestimmten grundlegenden logischen Funktionen sollen demnach anhand von Urteilsformen dargestellt werden können, wie sie auch in der zeitgenössischen
280 Siehe Brandt (1991): 6, 56. 281 Diese Tradition wurde von Tonelli (1966) untersucht.
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Logik verwendet wurden.282 Damit sind Formen von Urteilen als die Zeichen anzusehen, durch die der Verstand und seine logischen Funktionen symbolisch in der Tafel dargestellt werden. In Formen von Urteilen, so die Idee, zeigen sich die elementaren logischen Funktionen des Urteils. Zum Beispiel ist die Kopula ‚ist‘ das Zeichen der logischen Funktion des Verhältnisses oder der Verbindung von Subjekt und Prädikat in kategorischen Urteilen,283 während ‚nicht‘ das Zeichen der Negation in verneinenden Urteilen ist usw.284 Kant bezieht sich damit allein zum Zweck einer symbolischen Darstellung logischer Funktionen des Urteils auf die Logik seiner Zeit, d. h. er bezieht sich lediglich auf die dort praktizierte Formalisierung und Klassifikation von Urteilen, um die in Urteilen ausgeübten logischen Funktionen anhand von Urteilsformen darzustellen. In der Kritik bemerkt Kant dazu, dass die „Einteilung“ der Tafel logischer Funktionen „in einigen, obgleich nicht wesentlichen Stücken von der gewohnten Technik der Logiker abzuweichen scheint“ (A 70 f./B 96).285 Und in den Prolegomena schreibt er, zur Darstellung der Tafel logischer Funktionen wäre er durch die „schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker“ (AA IV: 323) in der Lage gewesen. Das ist so zu verstehen, dass Kant die Praxis der Klassifikation von Urteilsformen im „Leitfaden“ auf der Grundlage seiner Überlegungen zu den logischen Funktionen des Urteils systematisiert und vor diesem Hintergrund beansprucht, alle der für das Urteil erforderlichen logischen Funktionen aufzählen und einteilen zu können. Kant erhebt damit den Anspruch, das vollständige System logischer Funktionen anzugeben, um so auch die in der Logik seiner Zeit klassifizierten Urteilsformen zu systematisieren, die auf diesen Funktionen beruhen.286 So sagt er in den Fortschritten, dass er in der Kritik „das, was die Logik von dem Mannigfaltigen in
282 Wolff (2004): 120–23 behält also damit Recht gegen Thöle (2001): 483 f., dass die darzustellenden Funktionen des Urteils schon bekannt sein müssen, wenn sie dargestellt werden, während Thöle damit Recht behält gegen Wolff, dass die Funktionen des Urteils mit den Funktionen des Verstandes identisch sind. Beides ist möglich, wenn die Bestimmung der Funktionen des Verstandes in Urteilen im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ von ihrer symbolischen Darstellung im zweiten Abschnitt dieses Kapitels unterschieden wird. 283 Siehe in Fn. 145. 284 Siehe V-Lo/Dohna, AA XXIV: 764, wo „die Negation“ mit dem „Zeichen der Verneinung [‚nicht‘]“ in Verbindung gebracht wird. 285 Stellen wie diese werden oft zu Unrecht als ein Beleg dafür gelesen, dass Kant seine Tafel schlicht der Logik seiner Zeit entnommen habe und selbst keinen Nachweis der Vollständigkeit liefere. Siehe stellvertretend für viele Förster (2011): 35 f. 286 So auch Reich (2001): 9 f. Siehe auch Schulthess (1981): 277 f. und Wolff (1995): 19. Schulthess (1981): 259 weist zu Recht darauf hin, dass Kants Transzendentale Logik als „Logik der Funktionen [...] eigentlich Grundlagenreflexion der formalen Logik ist“.
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der Form der Urteile lehrt, vorher in dem Zusammenhange eines Systems [...] aufgeführt“ (AA XX: 271) habe. Kant beansprucht so die Systematizität und Vollständigkeit der Tafel logischer Funktionen und der sie ausdrückenden Formen. Ein solcher Anspruch konnte mit der Formalisierung und Klassifikation von Urteilen in der Logik seiner Zeit weder sinnvoll erhoben noch erfüllt werden, da eine solche Praxis, anders als Kants Vorgehen im Argument des „transzendentalen Leitfadens“ (A 67/B 92), keinem Prinzip der Aufzählung, d. h. keiner regulativen Idee, folgt. Kants Untersuchung ist hingegen eine, die von der Idee des Verstandes als dem „Vermögen zu urteilen“ ([16], A 81/B 106) angeleitet ist (siehe 1.2.2). Allein vor einem solchen Hintergrund aber kann Kant auch auf seine im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ entwickelte Auffassung der logischen Funktionen zurückgreifen, die für eine „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], [18]) im Urteil erforderlich sind.287 Während Urteilsformen logische Funktionen des Urteils also symbolisch darstellen sollen, werden Urteilsformen, so die Idee, durch ihre Zuordnung zu den logischen Funktionen des Urteils systematisch geordnet. Systematisch geordnet werden Urteilsformen dabei, indem sie den grundlegenden logischen Funktionen des Urteils aufgrund von Charakteristika ihrer Form – d. h. aufgrund der in ihnen enthaltenen Zeichen – zugeordnet werden. Als diese grundlegenden logischen Funktionen haben sich im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ bereits die Funktionen des Prädikatbegriffs (Quantität), der Subjektrepräsentation (Qualität), der Verbindung von Repräsentationen im Urteil (Relation) und des Verhältnisses von Urteil und Gegenstand in der Beziehung auf sinnliche Anschauungen (Modalität) herausgestellt (siehe 2.3.1–3). Diesen grundlegenden logischen Funktionen sind nun Urteilsformen wie ‚S ist P‘, ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘, ‚Es ist möglich, dass S ist P‘ usw. zuzuordnen. Wenn diese Urteilsformen nun Formen von Urteilen sind, in denen Begriffe wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen werden, dann drücken sie anhand ihrer Zeichen (mindestens) eine Subjektrepräsentation (‚S‘, ‚T‘), (mindestens) einen Prädikatbegriff (‚P‘, ‚Q‘), eine Verbindung der Repräsentationen im Urteil (z. B. ‚ist‘, ‚Wenn..., dann...‘) und das Verhältnis von Urteil und Gegenstand in der Beziehung auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen aus (z. B. ‚möglich‘). Die Form ‚Alle S sind P‘ z. B. kann allen vier grundlegenden logischen Funktionen zugeordnet werden, da sie quantitativ (allgemein), qualitativ (bejahend), relational
287 Kant hat die Tafel in ihrer spezifischen Besetzung dementsprechend auch nicht einfach aus der Logik seiner Zeit entnommen. So hat Tonelli (1966): 147–58 gezeigt, dass Kants Tafel ihrer spezifischen Systematik und Besetzung nach eine Neuerung darstellt, auch wenn es für die meisten Titel und Momente Vorläufer gibt. (Heimsoeth (1956): 6 hat festgestellt, dass das auch für die Kategorientafel gilt.)
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(kategorisch) und modal (assertorisch) bestimmt ist.288 Sie ist also eine Form von Urteilen, in denen Begriffe wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen werden, da sie eine Ausübung jeder der vier grundlegenden logischen Funktionen ausdrückt. Auf diese Weise also können Formen von Urteilen, in denen Begriffe wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen sind, identifiziert und den vier Titeln der Tafel zugeordnet werden. b. Die elementaren logischen Funktionen des Urteils Jeder Titel der Tafel logischer Funktionen enthält genau drei Momente unter sich. Von jeder der vier grundlegenden logischen Funktionen des Verstandes im Urteil soll es also drei elementare, d. h. einfachste und allgemeinste, Ausübungen geben (siehe 1.2.1.iii). Um das plausibel zu machen, benötigt Kant allerdings zusätzliche Gründe, die er bisher noch nicht gegeben hat. Warum also sind jeweils genau die drei in der Tafel aufgezählten logischen Funktionen als die elementaren Ausübungen eines Titels anzusehen? Kant deutet seine Gründe im „Leitfaden“ lediglich an, und zwar in den Anmerkungen, die er auf die Darstellung der Tafel logischer Funktionen des Urteils folgen lässt.289 Bei den Titeln der Quantität und der Qualität, so Kant dort, sind die jeweils ersten und dritten Momente, d. h. die elementaren logischen Funktionen allgemeiner und einzelner, bejahender und unendlicher Urteile, nicht voneinander zu unterscheiden, wenn sie aus der Perspektive der Allgemeinen Logik als einer „bloß auf den Gebrauch der Urteile untereinander [in Schlüssen] eingeschränkten Logik“ (A 71/B 96 f.) betrachtet werden. Aus der Perspektive „einer transzendentalen Logik“ (A 71/B 97) hingegen ist die logische Funktion einzelner Urteile von der allgemeiner und die unendlicher Urteile von der bejahender zu unterscheiden und „in einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt“ (A 71/B 96) separat aufzuführen. Kants Beschreibungen in den Anmerkungen legen nahe, dass das jeweilige dritte Moment von Quantität und Qualität zu berücksichtigen ist, da Urteile im Rahmen einer Transzendentalen Logik als Erkenntnisse betrachtet werden, d. h. als Weisen der Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände.290
288 Die assertorische Modalität findet keinen expliziten Ausdruck in der Formulierung des Urteils. 289 Siehe A 70/B 96–A 76/B 102. 290 Siehe A 71/B 96 („ein einzelnes Urteil [...], bloß als Erkenntnis, der Größe nach“) und A 72/B 97 („was diese [die logische Bejahung vermittels eines bloß verneinenden Prädikats in unendlichen Urteilen] in Ansehung der gesamten Erkenntnis für einen Gewinn verschafft“). Auch beim Titel der Relation wird das dritte Moment, die elementare logische Funktion disjunktiver Urteile, von Kant als Erkenntnis beschrieben, wiewohl sie bereits in der Allgemeinen
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In der Allgemeinen Logik wird allein die logische Form von Erkenntnissen betrachtet, unabhängig von ihrem Inhalt (siehe 2.3.6.a). In ihr wird von der Beziehung der Erkenntnis auf den Gegenstand abstrahiert, sowie davon, woher Erkenntnisse ihre Inhalte haben. Auf diese Weise wird allein auf das Verhältnis von Erkenntnissen untereinander geachtet. Die Allgemeine Logik ist eine Logik der Form des Denkens, die Begriffe und Urteile lediglich in ihrer Beziehung untereinander betrachtet. Im Unterschied dazu ist die Transzendentale Logik eine Logik der Inhalte des Denkens,291 die Begriffe und Urteile als Erkenntnisse und damit in ihrer Beziehung auf Gegenstände thematisiert. Die Allgemeine Logik ist auf diese Weise eine Logik bloßer Begriffsverhältnisse, eine Logik, in der Begriffe lediglich im Verhältnis zu anderen Begriffen (in Urteilen oder Schlüssen) betrachtet werden. Die Transzendentale Logik ist im Unterschied dazu eine Logik des Bezugs auf Gegenstände, die Begriffe in ihrem Verhältnis zu Gegenständen thematisiert. Über die Anmerkungen im Anschluss an die Tafel logischer Funktionen hinaus gibt es eine Notiz, in der Kant die Einteilung eines Titels in drei Momente allgemein begründet.292 Sie lautet: Es sind darum drei logische Funktionen unter einem gewissen Titel, mithin auch drei Kategorien: Weil zwei derselben die Einheit des Bewusstseins an zwei oppositis zeigen, die dritte aber beiderseits Bewusstsein wiederum verbindet. Mehr Arten der Einheit des Bewusstseins lassen sich nicht denken. Denn es sei a ein Bewusstsein, welches ein Mannigfaltiges verknüpft, b ein anderes, welches auf entgegengesetzte Art verknüpft: so ist c die Verknüpfung von a und b. (Refl 5854, 1783/4, AA XVIII: 370)
In einer weiteren Notiz zum Thema nennt Kant eine solche Einteilung eine logische Dekomposition und erläutert:293 decompositio logica: da erstlich etwas gesetzt, zweitens etwas anderes überdem gesetzt oder aufgehoben, drittens die Komposition von beiden vorgestellt wird. [...] Ich verbinde nämlich A mit dem Bewusstsein. Dann B (entweder bloß als non A vorgestellt oder auch als etwas, was dazu kommt). Drittens die Einheit beiderlei distributiven Bewusstseins in ein kollektives, d. i. in den Begriff eines Dinges. (Refl 3030, 1780–89, AA XVI: 623)
Logik Berücksichtigung finden soll. Siehe A 74/B 99 (von disjunktiven Urteilen gilt, dass sie „im Ganzen die wahre Erkenntnis bestimmen“). 291 So auch Longuenesse (1998b): 136, 145. Siehe an und in Fn. 67 und 72. 292 Siehe Reich (2001): 106–11. 293 Zu einer systematischen Rekonstruktion dieser Methode der Einteilung siehe Wolff (1995): 160–74. Zu einer systematischen Kritik an dieser Methode in Wolffs Rekonstruktion siehe Thöle (2001): 487 f. Zu Wolffs Replik siehe Wolff (2004): 113–15.
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Diesen beiden Notizen zufolge, wenn sie gemeinsam zugrunde gelegt werden, bilden die zweiten Momente eines Titels entweder das kontradiktorische Gegenteil des ersten Moments, gebildet durch dessen Negation, oder aber eine Hinzufügung zum ersten Moment (nur laut Refl 3030). Das dritte Moment soll dann auf einer Verbindung der ersten beiden Momente beruhen, genauer (nur laut Refl 3030): auf einer Verbindung der ersten beiden Momente, die ‚distributive Einheiten‘ bilden, in der ‚kollektiven Einheit‘ des Begriffs eines Dinges. Es liegt nahe, dass das erste Moment eines Titels in der einfachsten Ausübung der entsprechenden grundlegenden logischen Funktion besteht.294 Das zweite Moment eines Titels wird dann durch die dieser entgegengesetzte Ausübung gebildet, oder aber dadurch, dass dem ersten Moment etwas hinzugefügt wird. Das dritte Moment schließlich wird durch eine Verbindung der ersten beiden Momente gebildet. Dabei sind (laut Refl 3030) die ersten beiden Momente distributive Einheiten, während das dritte Moment eine kollektive Einheit bildet. Eine kollektive Einheit ist allgemein eine komplexe Einheit oder ein Ganzes von Teilen (siehe 2.2.4). Sie ist die Einheit von Vielem in Einem, die z. B. auch Gegenstände und Anschauungen charakterisiert. Eine distributive Einheit hingegen ist allgemein die Einheit von Einem in Vielem, die z. B. Begriffe als allgemeine Repräsentationen charakterisiert, indem diese etwas repräsentieren, das von vielen verschiedenen Gegenständen gelten kann (etwas also, das sich auf verschiedene Gegenstände verteilt). Zum einen sind dabei Anschauungen selbst kollektive Einheiten, kollektive Einheiten intuitiver Merkmale nämlich; zum anderen repräsentieren sie Gegenstände der Sinne, die auch wiederum einzelne kollektive Einheiten von Eigenschaften und Teilen bilden. Anschauungen sind und repräsentieren jeweils Eines – ein Ganzes –, in dem Vieles – viele verschiedene einzelne Eigenschaften oder Teile – miteinander verbunden ist. Begriffe hingegen repräsentieren eine distributive oder allgemeine Einheit, d. h. Eines – Arten oder allgemeine
294 Dass Kant die ersten Momente der Titel als die einfachsten Ausübungen der grundlegenden logischen Funktionen verstanden wissen wollte, zeigt sich nicht nur daran, dass er sie an erster Stelle aufzählt, sondern auch daran, dass die zwei Beispielurteile im „Leitfaden“ – ‚Alle Körper sind teilbar‘ ([13]) und ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ ([22]) – jeweils allgemeine, bejahende und kategorische Urteile sind, also den ersten Momenten zumindest der ersten drei Titel zuzuordnen sind. Kant gibt damit im Falle der ersten drei Titel die einfachsten Ausübungen der grundlegenden Funktionen des Denkens an die Hand, vor deren Hintergrund sich die anderen, komplexeren Ausübungen dann bestimmen lassen. Die zweiten Momente enthalten im Unterschied zu den ersten zusätzlich eine Negation oder Hinzufügung, so dass sie als entsprechend komplexer anzusehen sind.
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Eigenschaften von Gegenständen –, das Vielem – vielen verschiedenen Unterarten oder Gegenständen – gemeinsam ist.295 Die beiden Notizen zur Methode der Einteilung der Titel passen gut zu den Anmerkungen, die Kant im Anschluss an die Darstellung der Tafel logischer Funktionen des Urteils über deren Momente macht, und erlauben es, diese besser zu verstehen. Dass die ersten beiden Momente eines Titels nämlich mit der distributiven Einheit von Begriffen zusammenhängen sollen, entspricht dem Umstand, dass er die ersten beiden Momente von Quantität und Qualität dort den Anforderungen schon einer Allgemeinen Logik zuordnet, die Begriffe und Urteile lediglich hinsichtlich ihrer Form und ihrer Verhältnisse untereinander betrachtet (siehe 1.2, 2.3.6.a). So ist distributive Einheit eine Eigenschaft, die Begriffe schon allein aufgrund ihrer allgemeinen Form haben, und unabhängig davon, welchen Inhalt sie aufweisen, d. h. auf welche Gegenstände sie sich beziehen und wodurch sie das tun. Auch dass die zweiten Momente eines Titels das kontradiktorische Gegenteil des ersten Moments bilden sollen, geformt durch die Negation des ersten Moments, kann bereits mit den Anforderungen einer Allgemeinen Logik verständlich gemacht werden. So ist der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch – „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“ (A 151/B 190) – das Prinzip, dem Urteile schon ihrer Form nach unterworfen sind. Es ist, so Kant, „die allgemeine, obzwar nur negative Bedingung aller unserer Urteile überhaupt, dass sie sich nicht selbst widersprechen“ (A 150/B 189). Auf diesem Prinzip beruht wiederum das, wie Kant es in einer Notiz nennt, „Prinzip der Bestimmung“ (Refl 3063, 1770–80, AA XVI: 638): „unter zwei entgegengesetzten Urteilen ist eines wahr.“ (Refl 3063, AA XVI: 638) So sind wir in der Lage, einander entgegengesetzte Urteile hervorzubringen, die sich durch ihre Form ausschließen und von denen nur eines wahr sein kann, wie etwa ein bejahendes Urteil der Form ‚S ist P‘
295 Zur distributiven Einheit von Begriffen und zur kollektiven Einheit von Anschauungen und Gegenständen siehe B 136 Anm.: Anschauungen (wie Raum und Zeit), so Kant dort, sind „nicht bloße Begriffe, durch die eben dasselbe Bewusstsein, als in vielen Vorstellungen, sondern viele Vorstellungen als in einer, und deren Bewusstsein, enthalten, mithin als zusammengesetzt, folglich die Einheit des Bewusstseins, als synthetisch [...] angetroffen wird.“ Siehe auch Refl 6248, 1785–88, AA XVIII: 528: distributive Einheit oder ‚logische Universalität‘ repräsentiert „eines in allem“, kollektive Einheit repräsentiert oder ist „vieles, was eines ausmacht“ oder „synthetische Einheit“. Vgl. OP, AA XXII: 342: „Die diskursive Allgemeinheit (Einheit in Vielem) ist von der intuitiven (Vieles in Einem) zu unterscheiden. Die letztere ist ein Akt des Zusammensetzens u. kollektiv, jene des Auffassens und distributiv“. OP, AA XXII: 549: „Es gibt [...] nur Eine Erfahrung und wenn von Erfahrungen gesprochen wird, so bedeutet das nur die distributive Einheit mannigfaltiger Wahrnehmungen, nicht die kollektive ihres Objekts selbst in seiner durchgängigen Bestimmung“.
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wie z. B. ‚Körper sind teilbar‘ und ein verneinendes Urteil der Form ‚S ist nicht P‘ wie z. B. ‚Körper sind nicht teilbar‘ es tun. Hierfür muss allein das Verhältnis von Begriffen und Urteilen untereinander betrachtet werden: die Urteile widersprechen durch ihre Form einander bzw. sich selbst, nicht dem Gegenstand. Damit muss es aber auch einander entgegengesetzte Ausübungen der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils geben, auf denen solche einander ausschließenden Formen von Urteilen beruhen. Dass das jeweils dritte Moment mit der kollektiven Einheit zu tun hat, die Gegenstände und Anschauungen charakterisiert, entspricht schließlich Kants Begründung der dritten Momente von Quantität und Qualität mit den Anforderungen einer Transzendentalen Logik (siehe 1.2). In einer Transzendentalen Logik werden Begriffe und Urteile nämlich als Erkenntnisse betrachtet, d. h. in Hinsicht auf ihren Inhalt, ihre Beziehung auf Gegenstände.296 An dieser Stelle wird nun der Unterschied zwischen einer Betrachtung des Verhältnisses von Begriffen und Urteilen untereinander und einer Betrachtung des Verhältnisses von Begriffen und Urteilen zu Gegenständen relevant. Dieser Unterschied wird zuletzt daran hängen, wodurch Gegenstände sich von Begriffen und Urteilen unterscheiden. Begriffe, so Kant, sind als allgemeine Repräsentationen unbestimmt in Bezug auf alle Merkmale, die sie nicht selbst als Teilbegriffe enthalten: Ein jeder Begriff ist in Ansehung dessen, was in ihm selbst nicht enthalten ist, unbestimmt, und steht unter dem Grundsatze der Bestimmbarkeit: dass nur eines von jeden zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten ihm zukommen könne […]. (A 571/B 599) Ein allgemeiner Begriff ist an sich nicht bestimmt, z. E. ein Mensch ist entweder gelehrt oder ungelehrt, ist unbestimmt. (V-MP/Mron, AA XXIX: 819)
Der Begriff des Menschen z. B. ist, als allgemeine Repräsentation, unbestimmt hinsichtlich des Paars der einander entgegengesetzten Prädikate ‚gelehrt‘ und ‚ungelehrt‘ und so hinsichtlich aller möglichen Merkmale, die er nicht selbst als Teilbegriffe in sich enthält. Im Unterschied dazu sind Gegenstände durchgängig bestimmt: Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muss. (A 571 f./B 599 f.)
296 Darüber hinaus beschreibt Kant das dritte Moment der Titel der Quantität, Qualität und Relation in den Anmerkungen nach der Tafel logischer Funktionen jeweils auf eine Weise, die mit Ganzheiten in der Erkenntnis von Gegenständen zu tun hat. Siehe A 71/B 96–A 74/B 99. So auch Brandt (1991): 74 f., 78.
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Von jedem Paar einander entgegengesetzter Prädikate von Gegenständen kommt jedem Gegenstand also genau ein Prädikat zu. Für jeden möglichen Gegenstand gilt damit, dass er ein Körper ist oder nicht, teilbar oder nicht usw. für alle möglichen Prädikate von Gegenständen. Einfacher heißt es in Kants Handexemplar der Kritik: Der Satz der durchgängigen Bestimmung sagt, dass jedes Ding [...] in Ansehung aller möglichen Prädikate bestimmt sei. (HE, A 577, AA XXIII: 42)
Gegenstände unterscheiden sich also dadurch von Begriffen, dass an ihnen alles bestimmt und nichts unbestimmt ist. Die Idee der durchgängigen Bestimmung von Gegenständen, so Kant, ist damit die Idee „der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen“ (A 572/B 600), den Begriff also, durch den alle Bestimmungen des Gegenstandes repräsentiert werden. Wenn wir nun in Urteilen, in einer Erkenntnis durch Begriffe, Gegenstände denken sollen, dann müssen wir auch dem Umstand gerecht werden, dass sie in diesem Sinne durchgängig bestimmt sind. Da wir als endliche Subjekte nun aber nicht dazu in der Lage sind, Gegenstände vollständig zu bestimmen – dafür müssten wir nämlich alle möglichen Prädikate von Gegenständen kennen –, und also auch keinen vollständigen Begriff von ihnen bilden können, haben wir ihrer durchgängigen Bestimmtheit stattdessen durch die Ausübung besonderer logischer Funktionen des Urteils Rechnung zu tragen. Das ist, in erster Annäherung, die Aufgabe der jeweils dritten Momente von Quantität, Qualität und Relation in der Tafel logischer Funktionen. Da wir die durchgängige Bestimmtheit von Gegenständen nicht vollständig repräsentieren können, so scheint Kants Überlegung zu sein, sind die Momente einzelner, unendlicher und disjunktiver Urteile erforderlich, um Gegenstände überhaupt als durchgängig bestimmt denken zu können. Vor dem Hintergrund dieser Andeutungen will ich nun die jeweils drei elementaren Ausübungen der Titel in Kants Tafel erläutern und im Zuge dessen symbolisch durch Urteilsformen darstellen. Die vier grundlegenden logischen Funktionen einer Erkenntnis durch Begriffe im Urteil sind, wie bereits wiederholt ausgeführt, i) ein Prädikatbegriff (Quantität), ii) eine Subjektrepräsentation (Qualität), iii) eine Verbindung der Repräsentationen im Urteil (Relation) und iv) das Verhältnis von Urteil und Gegenstand in der Beziehung auf sinnliche Anschauungen (Modalität). Ich werde diese vier Titel des Denkens nun Moment für Moment durchgehen. 1) Quantität: Durch den Prädikatbegriff eines Urteils werden in einer Erkenntnis durch Begriffe Arten oder Eigenschaften der Gegenstände oder des Gegen-
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standes der Subjektrepräsentation repräsentiert. In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion, so Kant, lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die Subjektrepräsentation durch den Prädikatbegriff zu quantifizieren: die allgemeine, die besondere und die einzelne Weise. i) Allgemeine Urteile: Da Begriffe wesentlich allgemein sind, ist die einfachste Ausübung der grundlegenden logischen Funktion der Quantität in einer Erkenntnis durch Begriffe diejenige, durch die der Prädikatbegriff auf alle Gegenstände der Subjektrepräsentation des Urteils bezogen wird.297 Diese elementare logische Funktion der Quantität drückt sich in allgemeinen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Alle S sind P‘ dargestellt werden.298 ii) Besondere Urteile: Wird nun ausgegangen von der Bezugnahme des Prädikatbegriffs auf alle Gegenstände der Subjektrepräsentation des Urteils im ersten Moment und durch Negation die entgegengesetzte Art der Ausübung der grundlegenden logischen Funktion der Quantität gebildet, dann ergibt sich der Bezug des Prädikatbegriffs auf nicht alle, d. h. auf einige, Gegenstände der Subjektrepräsentation.299 Diese elementare logische Funktion der Quantität drückt sich in besonderen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Einige S sind P‘ dargestellt werden. iii) Einzelne Urteile: Werden die elementaren logischen Funktionen allgemeiner und besonderer Urteile nun miteinander verbunden, so Kant, dann ergibt sich eine besondere logische Funktion der Quantität. Diese Funktion bildet insofern eine Verbindung der ersten beiden Momente, als sie mit der logischen Funktion allgemeiner Urteile gemeinsam hat, dass ihr Prädikatbegriff auf die Gesamtheit dessen bezogen wird, wofür ihre Subjektrepräsentation steht (er gilt von ihr ohne Ausnahme),300 und mit der logischen Funktion besonderer Urteile, dass ihr Prädikatbegriff nicht auf alle Gegenstände einer Art bezogen wird. Diese besondere logische Funktion der Quantität drückt sich in einzelnen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Ein/Dieses S ist P‘ dargestellt werden. In
297 „Erkenntnis ist zweifach, entweder Anschauung oder Begriff. Jene ist einzeln, diese allgemein. Denn der Begriff kommt Allen zu.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 805) – Vgl. Wolff (1995): 143, der die Quantität ebenfalls der grundlegenden logischen Funktion des Prädikatbegriffs zuordnet. Vgl. auch Allison (2004): 138. 298 Allgemeine Urteile werden „ausgedrückt durch alles“ (V-Lo/Dohna, AA XXIV: 765). 299 In Prol, AA IV: 302 Anm. beschreibt Kant die Eigenart besonderer Urteile entsprechend so, „dass sie nicht allgemein sind.“ 300 Das Prädikat gilt „ohne Ausnahme“ (A 71/B 96), wie im Falle allgemeiner Urteile. „Bei universales und singulares gilt das Prädikat vom Subjekt ohne Ausnahme.“ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 578) Vgl. V-Lo/Wiener, AA XXIV: 931.
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einzelnen Urteilen wird der Prädikatbegriff auf genau einen Gegenstand der Subjektrepräsentation bezogen. Diese logische Funktion ist dabei nicht auf die ersten beiden Momente der Quantität reduzierbar, da nur sie uns den Bezug auf genau einen Einzelgegenstand ermöglicht. Als die Bezugnahme allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände ist die Erkenntnis durch Begriffe auch von dieser Möglichkeit abhängig. Um nämlich auf die Quantität durchgängig bestimmter Gegenstände Bezug zu nehmen, müssen wir Einzelgegenstände denken können. Was durchgängig bestimmt ist, das ist auch einzeln: die Einzelheit eines Gegenstandes besteht genau darin, dass er in jeder möglichen Hinsicht bestimmt ist.301 Auf durchgängig bestimmte Einzelgegenstände beziehen wir uns aber, so Kant, durch die elementare logische Funktion einzelner Urteile, d. h. durch Urteile der Form ‚Ein/ Dieses S ist P‘. Weil die Gegenstände einer Erkenntnis durch Begriffe also quantitativ einzeln sind, ist auch die Möglichkeit eines Bezugs auf die Einzelheit solcher Gegenstände erforderlich. Mit der logischen Funktion einzelner Urteile ist diese Möglichkeit gegeben. Genau in diesem Sinne kann Kant sagen, dass „ein einzelnes Urteil [...] als Erkenntnis überhaupt, nach der Größe, die es in Vergleichung mit anderen Erkenntnissen hat, [...] in einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt [...] eine besondere Stelle [verdient].“ (A 71/B 96 f.) Oben hat sich gezeigt, dass wir Gegenstände durch Begriffe allein, d. h. nur mithilfe allgemeiner Repräsentationen, nicht individuieren können (siehe 2.3.1). Begriffe sind wesentlich Prädikate, d. h. sie beziehen sich immer vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände. Wir können uns daher zuletzt nur vermittelt über sinnliche Anschauungen auf Einzelgegenstände beziehen. Das kann nun auch anhand der durchgängigen Bestimmtheit von Gegenständen gezeigt werden: nur Anschauungen können direkt für durchgängig bestimmte Gegenstände stehen und diese abbilden, da sie selbst, anders als Begriffe, durchgängig bestimmt und damit einzeln sind. So heißt es in der Logik: Da nur einzelne Dinge oder Individuen durchgängig bestimmt sind: so kann es auch nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als Anschauungen, nicht aber als Begriffe, geben; in Ansehung der letzteren kann die logische Bestimmung nie als beendet angesehen werden […]. (AA IX: 99)
301 „Ein Individuum oder ens singulare ist das, insofern es an sich durchgängig bestimmt ist.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 560) Die „durchgängige Bestimmung“ der Anschauung besagt: „sie ist die Vorstellung des Einzelnen gegebenen.“ (Br, Brief an Beck, 3. Juli 1792, AA XI: 347)
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Nur Anschauungen, als Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne, sind in der Lage, für durchgängig bestimmte, einzelne Gegenstände zu stehen. Auch Anschauungen sind nämlich, wie ihre Gegenstände, durchgängig bestimmt. Zwar können wir auch durchgängig bestimmte Anschauungen, ebenso wenig wie ihre Gegenstände, durchgängig bestimmen, da wir dafür einer unendlichen Bestimmung fähig sein müssten. So betont Kant, dass die durchgängige Bestimmung hier [bei Anschauungen] objektiv und nicht als im Subjekt befindlich verstanden werden müsse (weil wir alle Bestimmungen des Gegenstandes einer empirischen Anschauung unmöglich kennen können) […]. (Br, Brief an Beck, 3. Juli 1792, AA XI: 347)
Dennoch können sinnliche Anschauungen, als durchgängig bestimmte und damit einzelne Repräsentationen, für durchgängig bestimmte und einzelne Gegenstände stehen und sie abbilden. Da das, was durchgängig bestimmt ist, auch einzeln ist, macht die durchgängige Bestimmtheit sinnlicher Anschauungen sie nämlich zu Repräsentationen, die selbst einzeln sind, d. h. zu nicht-wiederholbaren und nicht-teilbaren Akten und Zuständen bestimmter repräsentierender Subjekte. Als solche aber sind sie und nur sie dazu in der Lage, direkt für Einzelgegenstände zu stehen und diese abzubilden. Für die Bezugnahme auf durchgängig bestimmte, einzelne Gegenstände sind also sinnliche Anschauungen erforderlich, da nur diese einen drohenden infiniten Regress begrifflicher Bezugnahme auf Gegenstände stoppen und unseren Urteilen damit überhaupt erst Bezug auf Gegenstände verleihen können. Das heißt aber auch, dass es neben einzelnen Urteilen der deskriptiven Form ‚Ein S ist P‘ auch einzelne Urteile der demonstrativen Form ‚Dieses S ist P‘ geben muss, deren Subjektrepräsentation nicht durch einen Begriff, sondern durch die sinnliche Anschauung eines Gegenstandes gebildet wird.302 Oben 302 Dafür, dass es im Falle einzelner Urteile diese zwei Formen gibt, sprechen die verschiedenen Arten von Beispielen, die Kant für einzelne Urteile gibt. Zum einen nennt er demonstrative Urteile wie „die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch ein Geschmacksurteil für schön“ (KU, AA V: 215), in denen der Prädikatbegriff auf eine Anschauung als logisches Subjekt und dadurch auf einen Einzelgegenstand bezogen wird. Solche Urteile, so Kant dort, sind „einzelne Urteile“, die eine „einzelne Vorstellung des Objekts“ als logisches Subjekt enthalten (AA V: 215). Zum anderen nennt er rein begriffliche Urteile über Einzelgegenstände wie z. B. ‚Caesar ist sterblich‘ (siehe V-Lo/Wiener, AA XXIV: 931; Log, AA IX: 102). Wenn es z. B. heißt, dass „der Begriff Caesar ein einzelner Begriff ist, der nicht eine Menge unter sich fasst, sondern nur ein einzelnes Ding ist“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 931), dann ist wohl an Urteile zu denken, in denen Namen an der Subjektstelle durch definite Beschreibungen ersetzt sind. Die Möglichkeit einzelner Urteile der demonstrativen Form, in denen eine Anschauung das logische Subjekt bildet, ist der Möglichkeit einzelner Urteile der rein begrifflichen, deskriptiven Form jedoch vorausgesetzt, da wir Begriffe nie vollständig bestimmen und sie daher auch nicht als Reprä-
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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habe ich in diesem Sinne bereits gezeigt, dass die Möglichkeit von Urteilen, in denen der Prädikatbegriff auf eine sinnliche Anschauung des Gegenstandes des Urteils bezogen wird, eine Konsequenz der von Kant vertretenen Behauptungen in der Urteils- und Anschauungsthese ist: eine Konsequenz der Behauptungen also, dass Begriffe nur in Urteilen und zuletzt nur vermittelt durch Anschauungen auf Gegenstände bezogen werden können. In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant denn auch über „einzelne Urteile“, dass sie „ihr Prädikat [...] nicht mit einem Begriffe, sondern mit einer gegebenen einzelnen empirischen Vorstellung [mit einer empirischen Anschauung] verbinden.“ (AA V: 289) 2) Qualität: Durch die Subjektrepräsentation eines Urteils wird in einer Erkenntnis durch Begriffe der Gegenstand oder die Art von Gegenstand repräsentiert, auf die der Prädikatbegriff bezogen ist. In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion, so Kant, lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, den Prädikatbegriff durch die Subjektrepräsentation zu spezifizieren: die positive, die negative und die unendliche Weise. i) Bejahende Urteile: Da Subjektrepräsentationen in einer Erkenntnis durch Begriffe wesentlich in Verhältnissen der Unterordnung zu Begriffen stehen, ist die einfachste Ausübung der grundlegenden logischen Funktion der Qualität diejenige, in der die Subjektrepräsentation den Prädikatbegriff positiv spezifiziert. Diese elementare logische Funktion der Qualität drückt sich in bejahenden Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚S ist P‘ dargestellt werden. ii) Verneinende Urteile: Wird nun ausgegangen von der positiven Spezifikation des Prädikatbegriffs durch die Subjektrepräsentation im ersten Moment und durch Negation die entgegengesetzte Art der Ausübung der grundlegenden logischen Funktion der Qualität gebildet, dann ergibt sich die negative Spezifikation des Prädikatbegriffs durch die Subjektrepräsentation.303 Diese elementare
sentationen eines einzelnen Gegenstandes ansehen können. Allein sinnliche Anschauung, als durchgängig bestimmt, kann einen einzelnen Gegenstand repräsentieren und so zum Gegenstand der Prädikation im Urteil machen. Siehe V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 569: „Conceptus infimus wäre ein solcher, unter dem kein anderer mehr enthalten ist oder dessen man sich bei einem individuo bedient, z. E. der Philosoph Wolff: hier ist der Begriff Philosoph auf das Individuum Wolff angewandt. Ein solcher Begriff ist unmöglich zu bestimmen, denn wenn wir auch einen solchen Begriff haben, den wir unmittelbar auf die individua anwenden, so können doch noch Unterschiede sein, die wir nicht bemerken oder die wir negligieren.“ Siehe an und in Fn. 227. 303 Das Prädikat wird „dem Subjekt beigelegt oder demselben entgegengesetzt“ (A 72/B 97).
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
logische Funktion der Qualität drückt sich in verneinenden Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚S ist nicht P‘ dargestellt werden. iii) Unendliche Urteile: Werden die elementaren logischen Funktionen bejahender und verneinender Urteile nun miteinander verbunden, so Kant, dann ergibt sich eine besondere logische Funktion der Qualität. Diese Funktion bildet insofern eine Verbindung der ersten beiden Momente, als sie mit der Funktion bejahender Urteile gemeinsam hat, dass ihre Subjektrepräsentation den Prädikatbegriff positiv spezifiziert, und mit der Funktion verneinender Urteile, dass sie eine Negation enthält, allerdings eine Negation nicht der Verbindung im Urteil, sondern des Prädikatbegriffs.304 Diese besondere logische Funktion der Qualität drückt sich in unendlichen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚S ist nicht-P‘ dargestellt werden. In unendlichen Urteilen wird der Gegenstand oder werden die Gegenstände der Subjektrepräsentation unter einen negierten Prädikatbegriff gebracht. Auf diese Weise wird der unendliche Bereich möglicher Gegenstände eingeschränkt und wird der Gegenstand oder werden die Gegenstände der Subjektrepräsentation dem beschränkten unendlichen Bereich von Gegenständen zugeordnet, die nicht-P sind.305 Zum Beispiel wird in dem Urteil ‚Die Seele ist unsterblich‘ die Seele dem unendlichen Bereich der unsterblichen Gegenstände zugeordnet.306 Die logische Funktion unendlicher Urteile ist dabei nicht auf die ersten beiden Momente der Qualität reduzierbar, da nur sie uns den Bezug auf die Unendlichkeit möglicher Gegenstände und ihrer Bestimmungen ermöglicht. Als die Bezugnahme auf unendlich spezifizierbare Gegenstände ist die Erkenntnis durch Begriffe auch von dieser Möglichkeit abhängig. Um nämlich auf die Qualität durchgängig bestimmter Gegenstände Bezug zu nehmen, müssen wir unendlich spezifizierbare Gegenstände denken können. Geschuldet ist das „der durchgängigen Determination, welche unendlich ist.“
304 Kant spricht von einer „logischen Bejahung vermittels eines bloß verneinenden Prädikats“ (A 72/B 97). 305 So wird „die unendliche Sphäre alles Möglichen [...] beschränkt“ (A 72/B 97). „Das unendliche Urteil zeigt nicht bloß an, dass ein Subjekt unter der Sphäre eines Prädikats nicht enthalten ist, sondern dass es außer der Sphäre desselben in dem Unendlichen irgendwo sei; folglich stellt es die Sphäre des Prädikats als beschränkt vor.“ (Refl 3065, 1776–89, AA XVI: 639) Siehe de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 56. Wir repräsentieren Unendlichkeit also, indem wir einen Teilbereich der Unendlichkeit repräsentieren. Siehe Sellars (2002a): 37 f. 306 „ich [setze] die Seele in den unbeschränkten Umfang der nichtsterbenden Wesen“ (A 72/B 97).
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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(Refl 3063, 1770–80, AA XVI: 638)307 Dass Gegenstände unendlich bestimmbar sind, zeigt sich u. a. daran, dass wir immer spezifischere Begriffe von Gegenständen bilden und auf diese Weise immer weitere Unterarten von Gegenständen einführen können (siehe 2.3.1). Da die Bestimmungen von Gegenständen also unendlich, Begriffe aber wesentlich allgemein und unbestimmt sind, so dass sie uns keine durchgängige Bestimmung von Gegenständen erlauben, findet diese begriffliche Spezifikation kein Ende. So gilt, wie Kant in der Kritik sagt, dass keine Art als die unterste an sich selbst angesehen werde, weil, da sie doch immer ein Begriff ist, der nur das, was verschiedenen Dingen gemein ist, in sich enthält, dieser nicht durchgängig bestimmt, mithin auch nicht zunächst auf ein Individuum bezogen sein könne, folglich jederzeit andere Begriffe, d. i. Unterarten, unter sich enthalten müsse. [...] Die Erkenntnis der Erscheinungen in ihrer durchgängigen Bestimmung [...] fordert eine unaufhörlich fortzusetzende Spezifikation seiner Begriffe und einen Fortgang zu immer noch verbleibenden Verschiedenheiten [...].308 (A 655 f./B 683 f.)
Eine der durchgängigen Bestimmtheit und unendlichen Spezifizierbarkeit von Gegenständen entsprechende unendliche begriffliche Bestimmung können wir, als endliche Subjekte, nun aber nicht vornehmen.309 Vor diesem Hintergrund ist die logische Funktion unendlicher Urteile erforderlich für die Bezugnahme auf die Qualität durchgängig bestimmter Gegenstände, so Kant, da wir uns allein durch die Einschränkung vermittels eines negierten Prädikats auf die Realität unendlich spezifizierbarer Gegenstände beziehen können.310
307 „[...] gedachte durchgängige Bestimmung kann nicht gegeben werden; denn sie geht ins Unendliche empirischer Bestimmungen.“ (OP, AA XXI: 603) 308 „Die höchste vollendete Determination würde einen durchgängig bestimmten Begriff (conceptum omnimode determinatum), d. i. einen solchen geben, zu dem sich keine weitere Bestimmung mehr hinzudenken ließe.“ (Log, AA IX: 99) 309 „Sie heißen judicia infinita, weil sie unbegrenzt sind. Sie sagen nur immer, was nicht ist, und solcher Prädikate kann ich unzählige machen, denn die sphaera der Prädikate, die mit non affiziert vom Subjekt gesagt werden können, ist unendlich. Das Prinzip von allen möglichen praedicatis contrarie oppositis muss aus der Sache kommen. Dieses ist das Prinzip der durchgängigen Bestimmung. Diese durchgängige Bestimmung eines Dinges aber ist unmöglich, weil eine unendliche Erkenntnis dazu gehört, alle die Prädikate aufzusuchen, die einem Dinge zukommen, und ich kann daher ins Unendliche fortgehen und doch das Ding nicht durchgängig bestimmen.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 930 f.) – Siehe Smyth (2014), der u. a. vor diesem Hintergrund zeigt, dass wir unendlicher Komplexität für Kant nie begrifflich gerecht werden können, sondern sie uns nur in der sinnlichen Anschauung gegeben werden kann. 310 Friedman (1992): 58 f, 63 f., 68 f., 121 f. führt die Unmöglichkeit einer adäquaten begrifflichen Repräsentation von Unendlichkeit für Kant auf den Umstand zurück, dass die zu Kants Zeiten vorherrschende Logik eine monadische (syllogistische) Logik war und keine polyadische, in der Quantoren voneinander abhängig gemacht werden können. Vor diesem Hinter-
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
In unendlichen Urteilen, so fährt Kant in der eben schon zitierten Notiz fort, verfahren wir also nach dem Prinzip der durchgängigen Bestimmung, welches in Ansehung eines Dinges überhaupt [...], nur in Ansehung [...] der Realität bestimmt und außer der Sphäre eines Begriffs [des Prädikatbegriffs] eine unendliche Sphäre der Bestimmung aller Dinge, nämlich der [...] Realität, hinzuzieht. (Refl 3063, AA XVI: 638)
Auf unendlich spezifizierbare Gegenstände beziehen wir uns damit durch die elementare logische Funktion unendlicher Urteile, durch Urteile der Form ‚S ist nicht-P‘. Weil die Gegenstände einer Erkenntnis durch Begriffe qualitativ unendlich sind, ist auch die Möglichkeit des Bezugs auf die Unendlichkeit möglicher Gegenstände und ihrer Bestimmungen erforderlich. Mit der logischen Funktion unendlicher Urteile ist diese Möglichkeit gegeben. Genau deshalb kann Kant sagen, dass die logische Funktion unendlicher Urteile „in Ansehung der gesamten Erkenntnis [...] einen Gewinn verschafft“ (A 72/B 97) und unendliche Urteile daher „in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden [müssen]“ (A 73/B 98).311 3) Relation: Durch die Verbindung von Repräsentationen im Urteil wird in einer Erkenntnis durch Begriffe die objektive und wahrheitsfähige Einheit des Urteils hervorgebracht. In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion, so Kant, lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die Repräsentationen im Urteil zu einer objektiven und wahrheitsfähigen Einheit zu verbinden: die kategorische, die hypothetische und die disjunktive Weise. i) Kategorische Urteile: Da Begriffe in einer Erkenntnis durch Begriffe wesentlich Prädikate sind, ist die einfachste Ausübung dieser grundlegenden logischen Funktion diejenige der Prädikation, in der der Prädikatbegriff unabhängig von einer vorausgesetzten Bedingung, d. h. unabhängig von der Wahrheit einer weiteren Prädikation, mit der Subjektrepräsentation des Urteils verbunden wird.312
grund kann Unendlichkeit nur durch Einschränkung repräsentiert werden, zuletzt durch die Einschränkung der Anschauung. 311 Auch die Grenzbegriffe eines intuitiven Verstandes und intellektueller Anschauungen (siehe 2.1) handeln übrigens von denkbaren, d. h. logisch möglichen Gegenständen, die wir allein durch die Einschränkung in unendlichen Urteilen denken können. Diese Einschränkung denken wir durch die Negation der Prädikate, die uns selbst als endlichen Subjekten zukommen, um so die andere Seite der Grenze unserer Erkenntnisfähigkeit zu denken, d. h. einen nicht-diskursiven Verstand und nicht-sinnliche Anschauungen. 312 So auch Allison (2004): 145. ‚Kategorisch‘ meint also ‚unbedingt‘. Ein kategorisches Urteil enthält das Verhältnis „des Prädikats zum Subjekt“ (A 73/B 98).
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Diese elementare logische Funktion der Relation drückt sich in kategorischen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚S ist P‘ dargestellt werden.313 ii) Hypothetische Urteile: Wird nun ausgegangen von der unbedingten Verbindung des Prädikatbegriffs mit der Subjektrepräsentation des Urteils im ersten Moment und durch Negation die entgegengesetzte Art der Ausübung der grundlegenden logischen Funktion der Relation gebildet, dann ergibt sich die bedingte Verbindung eines Prädikatbegriffs mit einer Subjektrepräsentation, d. h. das konditionale Verhältnis von Grund und Folge, in dem die Wahrheit einer Prädikation die hinreichende Bedingung der Wahrheit einer weiteren Prädikation bildet.314 Diese elementare logische Funktion der Relation drückt sich in hypothetischen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ dargestellt werden. iii) Disjunktive Urteile: Werden die elementaren logischen Funktionen kategorischer und hypothetischer Urteile nun miteinander verbunden, so Kant, dann ergibt sich eine besondere logische Funktion der Relation. Diese Funktion bildet insofern eine Verbindung der ersten beiden Momente, als sie mit der logischen Funktion kategorischer Urteile gemeinsam hat, dass durch sie nur eine Prädikation als wahr behandelt wird, und mit der logischen Funktion hypothetischer Urteile, dass in ihr ein Verhältnis verschiedener Prädikationen gedacht wird. Aus der Wahrheit einer Prädikation kann die Wahrheit anderer Prädikationen nämlich nicht nur folgen, sie kann die Wahrheit anderer Prädikationen auch ausschließen. Diese besondere logische Funktion der Relation drückt sich in disjunktiven Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘ dargestellt werden.
313 Das einfachste, unbedingte Verhältnis in Urteilen, d. h. das von Subjekt und Prädikat, liegt den anderen elementaren Verhältnissen im Urteil zugrunde, deren Glieder selbst wiederum Prädikationen sind. Siehe in Fn. 246. Hypothetische und disjunktive Urteile sind aber dennoch nicht auf den Akt der Prädikation reduzierbar, da die spezifischen Verbindungen ihrer Glieder selbst keine Prädikationen mehr sind: „Die kategorischen Urteile machen zwar die Materie der übrigen Urteile aus, aber darum muss man doch nicht, wie mehrere Logiker, glauben, dass die hypothetischen sowohl als die disjunktiven Urteile weiter nichts als verschiedene Einkleidungen der kategorischen seien und sich daher insgesamt auf die letzteren zurückführen ließen. Alle drei Arten von Urteilen beruhen auf wesentlich verschiedenen logischen Funktionen des Verstandes und müssen daher nach ihrer spezifischen Verschiedenheit erwogen werden.“ (Log, AA IX: 105) 314 So auch Allison (2004): 145. ‚Hypothetisch‘ meint also ‚bedingt‘. Siehe Prol, AA IV: 312, wo Kant die Form des hypothetischen Urteils als „die Form eines bedingten Urteils überhaupt, nämlich eine gegebene Erkenntnis als Grund und die andere als Folge zu gebrauchen“, beschreibt. „Es ist nur die Konsequenz, die durch dieses Urteil gedacht wird.“ (A 73/B 98) In hypothetischen Urteilen kommt es also allein auf „die Form der Konsequenz an, worauf die logische Wahrheit dieser Urteile beruht.“ (Log, AA IX: 106.) Siehe Longuenesse (2001): 176 f., 176 f. Fn. 9.
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
In disjunktiven Urteilen werden mehrere Prädikationen so in Bezug auf denselben Gegenstand verknüpft, dass sie einander wechselseitig ausschließen und immer nur eine von ihnen wahr sein kann. Auf diese Weise wird eine Gemeinschaft einander wechselseitig ausschließender Bestimmungen des Gegenstandes gedacht. Zum Beispiel in dem Urteil ‚Die Welt existiert entweder zufällig oder notwendig oder verursacht‘, über das Kant sagt: „Jeder dieser Sätze nimmt einen Teil der Sphäre der möglichen Erkenntnis über das Dasein einer Welt überhaupt ein, alle zusammen die ganze Sphäre.“ (A 74/B 99)315 Hier wird die Gemeinschaft möglicher, einander ausschließender Erkenntnisse über das Dasein der Welt gedacht. Die logische Funktion disjunktiver Urteile ist dabei nicht auf die ersten beiden Momente der Relation reduzierbar, da nur sie uns den Bezug auf die Gemeinschaft der Bestimmungen eines Gegenstandes ermöglicht. In der Bezugnahme auf das Verhältnis der Bestimmungen durchgängig bestimmter Gegenstände ist die Erkenntnis durch Begriffe auch von dieser Möglichkeit abhängig. Um nämlich auf das Verhältnis der Bestimmungen eines durchgängig bestimmten Gegenstandes Bezug zu nehmen, müssen wir die Gemeinschaft seiner Bestimmungen denken können, d. h. die Weise, wie seine Bestimmungen sich zueinander verhalten. Nun sind wir aber nicht dazu in der Lage, alle möglichen Bestimmungen eines durchgängig bestimmten Gegenstandes zu denken, da wir diese nicht alle kennen können. Wir können aber jeweils einen Begriff herausgreifen, über den wir verfügen, z. B. den Begriff des Daseins der Welt, und die Gemeinschaft möglicher Bestimmungen des Gegenstandes in Bezug auf diesen Begriff denken, wie im Beispiel das Dasein der Welt als zufällig oder notwendig oder verursacht gedacht wird. Genau das tun wir in disjunktiven Urteilen: Im disjunktiven Urteile betrachten wir alle Möglichkeit respektiv auf einen gewissen Begriff als eingeteilt. Das ontologische Prinzip der durchgängigen Bestimmung eines Dinges überhaupt (von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten kommt jedem Dinge eines zu), welches zugleich das Prinzip aller disjunktiven Urteile ist, legt den Inbegriff aller Möglichkeit zum Grunde, in welchem die Möglichkeit jedes Dinges überhaupt als bestimmbar angesehen wird. (Prol, AA IV: 330 Anm.)
Durchgängig bestimmte Gegenstände sind in jeder möglichen Hinsicht bestimmt und damit auch grundsätzlich in jeder Hinsicht bestimmbar. Durch disjunktive Urteile greifen wir nun jeweils einen Begriff heraus und nehmen eine
315 Siehe V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 579, wo es von den Erkenntnissen in einem disjunktiven Urteil heißt, dass, „wenn sie zusammengenommen werden, sie alles ausmachen, was von einem Gegenstand gedacht werden kann.“ Siehe Longuenesse (2001): 177, 177 f. Fn. 10.
2.3 Die logischen Funktionen des Denkens
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Einteilung dieses Begriffs hinsichtlich der möglichen Bestimmungen seines Gegenstandes vor. Dadurch denken wir alle möglichen, einander ausschließenden Erkenntnisse in Bezug auf den Gegenstand dieses Begriffs. Im Beispiel greifen wir so den Begriff des Daseins der Welt heraus und denken das Dasein der Welt als entweder zufällig oder notwendig oder verursacht. Auf die Gemeinschaft möglicher Erkenntnisse eines Gegenstandes beziehen wir uns damit, so Kant, durch die elementare logische Funktion disjunktiver Urteile, durch Urteile der Form ‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘. Genau in diesem Sinne kann Kant sagen, dass die logische Funktion disjunktiver Urteile „ein Verhältnis [...] der Gemeinschaft [enthält], insofern sie [mehrere Sätze] zusammen die Sphäre der eigentlichen Erkenntnis ausfüllen“ (A 73/B 99), so dass „in einem disjunktiven Urteile eine gewisse Gemeinschaft der Erkenntnisse [ist], die darin besteht, dass sie sich wechselseitig einander ausschließen, aber dadurch doch im Ganzen die wahre Erkenntnis bestimmen, indem sie zusammengenommen den ganzen Inhalt einer einzigen gegebenen Erkenntnis ausmachen.“ (A 74/B 99) 4) Modalität: Durch die Beziehung auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen wird in einer Erkenntnis durch Begriffe ein Verhältnis von Urteil und Gegenstand hergestellt. In Hinsicht auf diese besondere grundlegende logische Funktion, so Kant, lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die wahrheitsfähige Verbindung im Urteil in ihrem Verhältnis zu Gegenständen zu bewerten: die problematische, die assertorische und die apodiktische Weise. i) Problematische Urteile: Da durch Begriffe wesentlich die bloße Möglichkeit ihrer Gegenstände gedacht wird, ist die einfachste Ausübung dieser grundlegenden logischen Funktion in einer Erkenntnis durch Begriffe diejenige, in der das entsprechende Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als bloß möglich bestimmt wird.316 Sie besteht im Denken des Gegenstandes nur durch den Begriff.317 Diese elementare logische Funktion der Modalität drückt sich in problematischen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Es ist möglich, dass S ist P‘ dargestellt werden. ii) Assertorische Urteile: Wird nun ausgegangen vom bloß möglichen Verhältnis der Übereinstimmung von Urteilen mit ihren Gegenständen im ersten Moment und durch Negation die entgegengesetzte Art dieses Verhältnisses gebildet, dann
316 Es wird als „bloß möglich (beliebig)“ (A 74/B 100) angenommen. 317 Siehe in Fn. 266. Hier geht es um das Ding „in meinem Begriff, da ich es mir als bloß möglich dachte“ (V-Th/Volckmann, AA XXVIII: 1176).
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
ergibt sich das nicht bloß mögliche Verhältnis der Übereinstimmung von Urteilen mit ihren Gegenständen. Hier ist der Übergang vom ersten zum zweiten Moment aber wohl eher oder zusätzlich im Sinne der Hinzufügung der Wirklichkeit zur Möglichkeit zu verstehen, d. h. im Sinne der Hinzufügung der tatsächlich gegebenen sinnlichen Anschauung zum Begriff.318 So ergibt sich das wirkliche Verhältnis der Übereinstimmung von Urteilen mit ihren Gegenständen.319 Diese elementare logische Funktion der Modalität drückt sich in assertorischen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Es ist wirklich, dass S ist P‘ dargestellt werden.320 iii) Apodiktische Urteile: Werden die elementaren logischen Funktionen problematischer und assertorischer Urteile nun miteinander verbunden, so Kant, dann ergibt sich das notwendige Verhältnis der Übereinstimmung von Urteilen mit ihren Gegenständen. Diese Funktion bildet insofern eine Verbindung der ersten beiden Momente der Modalität, als sie mit der Funktion problematischer Urteile gemeinsam hat, dass in ihr Möglichkeit, und mit der Funktion assertorischer Urteile, dass in ihr Wirklichkeit gedacht wird, indem die Notwendigkeit als die Wirklichkeit verstanden werden kann, die schon mit ihrer Möglichkeit gegeben ist (zu der also nichts mehr hinzukommen muss).321 Diese elementare logische Funktion der Modalität drückt sich in apodiktischen Urteilen aus und kann symbolisch anhand der Form ‚Es ist notwendig, dass S ist P‘ dargestellt werden. Die logische Funktion apodiktischer Urteile ist dabei nicht auf die ersten beiden Momente der Modalität reduzierbar, da allein sie den Bezug auf Notwendigkeit erlaubt, d. h. darauf, wie Kant es ausdrückt, was „unzertrennlich mit dem Verstande verbunden“ (A 76/B 101) und in einer Erkenntnis durch Begriffe nicht anders möglich ist. Wenn Kant in der Metaphysischen Deduktion nachweisen will, dass die Kategorien in der Natur des Verstandes begründete Begriffe von Gegenständen überhaupt sind, ohne die uns das Denken von Gegenständen nicht möglich wäre
318 Siehe in Fn. 266. „Nun ist aber der angeführte Satz [‚Die Luft bewegt sich nach Osten‘] ein Erfahrungssatz, folglich nicht bloß problematisch gedacht, sondern als assertorisch gegründet und zwar in der Erfahrung als einer Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen.“ (Br, Brief an Reinhold, 19. Mai 1789, AA XI: 44) 319 Sie sind „wirklich (wahr)“ (A 74/B 100). 320 In Bezug auf einen Gegenstand kann man fragen, „ob er bloß möglich oder auch wirklich“ (A 219/B 266) ist. 321 „Ist etwas nur gedacht, so ist es möglich. Ist etwas darum gedacht, weil es schon gegeben ist, so ist es wirklich. Und ist etwas darum gegeben, weil es gedacht ist, so ist es notwendig.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 554)
2.4 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff
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(siehe 1.1.1), so will er sie in diesem Sinne als „unzertrennlich mit dem Verstande verbunden“ ausweisen, d. h. als notwendig für das Vermögen einer Erkenntnis durch Begriffe. Dasselbe gilt für die logischen Funktionen des Verstandes im Urteil, deren Rekonstruktion ich hiermit abschließe.
2.4 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff (und ihrer Kritik durch Bernhard Thöle) Zusammenfassung. Der Verstand, so Kants Arbeitsbegriff, ist das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe, d. h. der Beziehung von allgemeinen Begriffen auf einzelne Gegenstände. Zu Beginn des ersten Abschnitts des „Leitfadens“ rechtfertigt Kant diesen Begriff des Verstandes nun auch inhaltlich. Ausgehend von der Beobachtung, dass Gegenstände uns nicht schon dadurch gegeben sind, dass wir sie denken, beschreibt er unseren Verstand als einen diskursiven Verstand – im Unterschied zu einem denkbaren intuitiven Verstand –, d. h. als ein Vermögen der Hervorbringung von und der Erkenntnis durch allgemeine Begriffe, das in der Beziehung auf Gegenstände von sinnlichen Anschauungen abhängig ist. In seiner Bearbeitung des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion, die er in den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ unternimmt, betrachtet Kant den Verstand dann als ein Vermögen mit einem logischen Gebrauch, durch den die logische Form von Begriffen und Urteilen erklärt wird, d. h. die allgemeine Form von Begriffen und die wahrheitsfähige Form von Urteilen. Dieser logische Gebrauch besteht allgemein darin, Repräsentationen von Gegenständen durch die Ausübung logischer Funktionen in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen zu analysieren, um sie auf dieser Grundlage allgemeinen Begriffen unterzuordnen. In der Begriffsbildung werden Begriffe, als Repräsentationen mit einer allgemeinen Form, auf der Grundlage sinnlicher Anschauungen durch die Akte der Komparation, Reflexion und Abstraktion hervorgebracht. Diese Akte transformieren die einzelnen Inhalte sinnlicher Anschauungen, durch die Anschauungen einzelne Gegenstände der Sinne repräsentieren, in allgemeine Inhalte von Begriffen, durch die Begriffe Arten und allgemeine Eigenschaften von Gegenständen repräsentieren, so dass ihnen entsprechende Gegenstände sinnlicher Anschauungen untergeordnet werden können. Im Urteil können Begriffe auf dieser Grundlage dann als Prädikate verwendet und wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen werden. So argumentiert Kant im Zuge seiner
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
Analyse des Urteils im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ u. a. für die folgenden Thesen: DIE URTEILSTHESE: Begriffe sind nur im Urteil auf Gegenstände beziehbar, da sie nur dort mit anderen Repräsentationen verbunden sind, über die vermittelt sie auf Gegenstände bezogen werden können. DIE ANSCHAUUNGSTHESE: Begriffe können zuletzt nur vermittelt über sinnliche Anschauungen auf Gegenstände bezogen werden, die als die logischen Subjekte von Urteilen fungieren. DIE PRÄDIKATIONSTHESE: Begriffe sind wesentlich Prädikate, da sie nur vermittelt über andere Repräsentationen in Urteilen auf Gegenstände bezogen werden können, und zwar auch dann, wenn sie an der Subjektstelle der Urteile stehen.
Eine Erkenntnis durch Begriffe ist demnach möglich nur in Urteilen (Urteilsthese), nur in Beziehung auf sinnliche Anschauungen (Anschauungsthese) und nur durch die Prädikation von Begriffen (Prädikationsthese). Diese Überlegungen zum Urteil zeigen u. a., dass der Verstand seine Aufgabe, durch Begriffe zu erkennen, nur im Urteil erfüllen kann, und zwar durch die Prädikation von Begriffen in der Bezugnahme auf Gegenstände sinnlicher Anschauungen. Damit kann der Verstand aber als das Vermögen zu urteilen verstanden werden: der Arbeitsbegriff des Verstandes, demzufolge er ein Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe ist, kann als der Begriff des Vermögens zu urteilen entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund kann Kant die logischen Funktionen des Denkens dann aber dadurch angeben, dass er die logischen Funktionen des Urteils identifiziert. Die entscheidende Aufgabe des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion besteht so darin, die logischen Funktionen anzugeben, die jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend für die objektive und wahrheitsfähige logische Form eines Urteils sind. Den Ausgangspunkt von Kants Analyse der logischen Funktionen des Urteils bildet nun die Allgemeinheit von Begriffen, der Umstand also, dass Begriffe Gegenstände wesentlich als Mitglieder einer Art oder als Fälle allgemeiner Eigenschaften repräsentieren. Dieser Umstand drückt sich darin aus, so Kant, dass Begriffe nie unmittelbar, sondern immer nur vermittelt über andere Repräsentationen auf Gegenstände bezogen werden können. Es ist diese Mittelbarkeit von Begriffen, die den Überlegungen zum Urteil in der Urteilsthese, der Anschauungsthese und der Prädikationsthese zugrunde liegt. Darüber hinaus ergeben sich nun auch die vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils aus der Charakterisierung von Begriffen als immer nur mittelbar auf Gegenstände beziehbare Repräsentationen. Ein Urteil, in dem ein mittelbarer Bezug allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände vollzogen wird, hat nämlich, so
2.4 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff
163
Kant, genau vier für die Erfüllung dieser Aufgabe jeweils notwendige und nur gemeinsam hinreichende Charakteristika: i) die vermittelte Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die vermittelt über eine andere auf den Gegenstand bezogen ist, oder ein Prädikatbegriff; ii) die vermittelnde Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die den Bezug des Prädikats vermittelt, oder eine Subjektrepräsentation; iii) die Vermittlung der Repräsentation des Gegenstandes: die Vermittlung des Bezugs des Prädikatbegriffs durch die Subjektrepräsentation oder deren Verbindung im Urteil; und iv) die unvermittelte Repräsentation des Gegenstandes: eine Repräsentation, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen ist und den Bezug aller an der Bezugnahme beteiligten und nur mittelbar auf den Gegenstand bezogenen Repräsentationen (Begriffe) vermittelt, oder eine sinnliche Anschauung. Diese vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils können den vier Titeln der Tafel logischer Funktionen des Verstandes dann wie folgt zugeordnet werden:
Q Vermittlung (Verbindung): RELATION
Q
(sinnliche Anschauung): M
Auf dieser Grundlage kann schließlich auch Kants Tafel logischer Funktionen des Verstandes mit ihren jeweils drei elementaren Ausübungen der vier grundlegenden logischen Funktionen wie folgt dargestellt und so der erste Schritt der Metaphysischen Deduktion abgeschlossen werden:
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2 Der erste Schritt: Der logische Begriff des Verstandes
allgemeine Quantifikation
besondere Quantifikation
einzelne Quantifikation
Relation (Vermittlung):
positive Spezifikation
negative Spezifikation
unendliche Spezifikation -P
unbedingte Verbindung
bedingte Verbindung dann T ist Q disjunktive Verbindung
Gegenstand
assertorische Bewertung als auch in der Anschauung gegeben s S ist P apodiktische Bewertung als unzertrennlich mit dem Verstand verbunden
2.4 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff
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Zur Interpretation von Michael Wolff (und ihrer Kritik durch Bernhard Thöle). Michael Wolff hat die bisher detaillierteste und umfassendste Rekonstruktion der im „Leitfaden“ angestellten Überlegungen zu den grundlegenden logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen vorgelegt, eine Rekonstruktion, die ich hier nun ausführlich diskutieren will. Die grundlegenden logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen bestehen nach Wolff in verschiedenen Arten des Begriffsgebrauchs in Urteilen. Diese sind, so Wolff, ein prädikativer Begriffsgebrauch (i) und zwei Arten eines nicht-prädikativen Begriffsgebrauchs, der unmittelbar gegenstandsbezogene (ii) und der mittelbar gegenstandsbezogene nicht-prädikative Begriffsgebrauch (iii). Schließlich gebe es noch, fügt Wolff hinzu, das Urteilen selbst.322 Ich werde mich hier auf die drei von Wolff unterschiedenen Arten des Begriffsgebrauchs in Urteilen konzentrieren und sie zunächst anhand ihrer Charakterisierung und ihrer textlichen Verortung einführen. Im Anschluss will ich Wolffs Interpretation einer eingehenden Kritik unterziehen. (Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich dabei auf Wolffs Untersuchung über Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel.323) i) Der prädikative Begriffsgebrauch: Den prädikativen Begriffsgebrauch, der nach Wolff im ersten Teilsatz von [12]324 eingeführt wird, charakterisiert er wie folgt: In jedem Urteil gibt es einen Begriff X, dem viele andere Begriffe (Y, Z usw.) untergeordnet werden können. X kommt daher den Gegenständen, die unter Y, Z usw. fallen, als ein Prädikat zu. In keinem Urteil wird aber X auf alle Unterbegriffe bezogen. Vielmehr wird in jedem Urteil ein einziger Unterbegriff ausgesondert, zum Beispiel Y [...] (79).
X wird hier „nur mittelbar, nämlich vermittelt durch Y“ (79) auf den Gegenstand des Urteils bezogen. Begriffe werden dabei in Urteilen „als Prädikate von Gegenständen vorgestellt“ (76), indem sie „als Teilvorstellungen von Vorstellungen“ (76) gebraucht werden.325 In dem von Kant in [13] vorgebrachten Beispielurteil 322 Siehe Wolff (1995): 96, 112. Das Urteilen selbst auf diese Weise als eine der vier grundlegenden „Funktionen der Einheit in den Urteilen“ ([23]) anzusehen scheint mir nicht nur abwegig – das Urteil selbst ist keine Funktion im Urteil –, sondern erweist sich auch als unnötig, da Kant in [12] und [15], wie oben gesehen (siehe 2.3.2), bereits vier grundlegende logische Funktionen nennt, die „[i]n jedem Urteil“ bzw. in ‚allen Urteilen‘ vorkommen. 323 Siehe Wolff (1995). Zu den grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, die Wolff durch verschiedene Arten des Begriffsgebrauchs im Urteil erklären will, siehe Wolff (1995): 73–105, (2017): 87–95. 324 Die in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene Nummerierung der Sätze des ersten Abschnitts des „Leitfadens“ stimmt mit der bei Wolff überein. 325 Das Urteilen beschreibt Wolff zuvor (anhand der Bestimmung des Funktionsbegriffs in [7]) entsprechend als einen ‚mentalen Vorgang‘, „bei dem eine bestimmte Vorstellung als gemeinschaftliches Merkmal oder gemeinschaftliche Teilvorstellung verschiedener anderer Vorstellungen
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‚Alle Körper sind teilbar‘ ist es der Begriff der Teilbarkeit, der in diesem Sinne prädikativ gebraucht wird.326 ii) Der unmittelbar gegenstandsbezogene nicht-prädikative Begriffsgebrauch: Den unmittelbar gegenstandsbezogenen nicht-prädikativen Begriffsgebrauch, der nach Wolff im zweiten Teilsatz von [12] eingeführt wird, charakterisiert er wie folgt: In keinem Urteil wird [ein prädikativ gebrauchter Begriff] X auf alle Unterbegriffe bezogen. Vielmehr wird in jedem Urteil ein einziger Unterbegriff ausgesondert, zum Beispiel Y, und dieser auf „den Gegenstand“ des Urteils „unmittelbar bezogen“. (79)
Wolff behauptet damit, dass Kant „nun [im zweiten Teilsatz von [12]] die Aufmerksamkeit darauf lenkt, daß es in Urteilen auch Begriffe in nicht-prädikativer Stellung gibt und daß diese es sind, die auf Gegenstände ‚unmittelbar bezogen‘ ([12]) werden“ (80), so dass es nahe liege, „diesen propositionalen Begriffsgebrauch als nicht-prädikativen Begriffsgebrauch zu kennzeichnen.“ (80) In [15] entspreche dieser Gebrauch der ‚höheren Vorstellung‘, durch die „viele mögliche Erkenntnisse [...] in einer zusammengezogen werden“ (vgl. 82). Durch den unmittelbar gegenstandsbezogenen nicht-prädikativen Begriffsgebrauch mache „jedes Urteil einen Begriff zum Stellvertreter für Anschauungen, die ihn als Teilvorstellung enthalten“ (83); auf diese Weise „vermitteln sie [derart gebrauchte Begriffe] die Beziehung der Urteilsprädikate auf Gegenstände.“ (83) Darauf beruhe „die numerische Einheit der Erkenntnis, die durch das Urteil zum Ausdruck gebracht wird“ (83), indem „das Urteilsprädikat jeweils auf nur eine [...] Vorstellung bezogen“ (83) wird. In dem von Kant in [13] vorgebrachten Beispielurteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ ist es der Begriff des Körpers, der in diesem Sinne stellvertretend gebraucht wird.327 iii) Der mittelbar gegenstandsbezogene nicht-prädikative Begriffsgebrauch: Den mittelbar gegenstandsbezogenen nicht-prädikativen Begriffsgebrauch, der nach Wolff in [19]–[22] eingeführt wird, charakterisiert er wie folgt: Das mittelbare Beziehen [von Begriffen auf Gegenstände] besteht [...] darin, dem nichtprädikativ gebrauchten Begriff eine Vorstellung unterzuordnen, und zwar so, daß sich der nicht-prädikativ gebrauchte Begriff im Rahmen eines implizit mitgedachten möglichen Urteils als dessen Prädikat auf diese Vorstellung bezieht. (106)
ausgezeichnet wird. Gemeinschaftlich ist dabei eine Vorstellung insofern, als ihr Inhalt identisch ist mit dem Inhalt von Teilvorstellungen anderer Vorstellungen.“ (66) 326 Wolff wird dieser Art des Begriffsgebrauchs in Urteilen später den Titel der Quantität zuordnen (siehe 143 f.). 327 Wolff wird dieser Art des Begriffsgebrauchs in Urteilen später den Titel der Qualität zuordnen (siehe 144 f.).
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So soll sich der nicht-prädikativ gebrauchte Begriff des Körpers in dem Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ in [13] als Prädikat auf den Begriff des Metalls im Urteil ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ in [22] beziehen, indem jenes Urteil als Obersatz eines Syllogismus fungiert, in dem dieses den Untersatz bildet (siehe 96–100).328 Es lassen sich nun mindestens die folgenden Einwände gegen Wolffs Interpretation vorbringen, von denen einige bereits von Bernhard Thöle erhoben wurden.329 Diese Einwände sollten auch dazu in der Lage sein, deutlich zu machen, inwiefern die von mir vorgeschlagene Deutung eher überzeugen kann (siehe 2.3.1–5). a) Eine zentrale Behauptung des „Leitfadens“ lautet, dass Begriffe wesentlich Prädikate von Urteilen sind (siehe [16] bis [22]). Das ist die Prädikationsthese (siehe 2.3.4). Begriffe können sich nur als Prädikate auf Gegenstände beziehen, da sie sich immer, auch an der Subjektstelle von Urteilen, vermittelt durch andere Repräsentationen auf Gegenstände beziehen. Diese These allein schließt das Vorgehen Wolffs aus, die Funktionen des Verstandes anhand verschiedener Arten des Begriffsgebrauchs in Urteilen zu bestimmen. Es gibt nach Kant nur eine Art des Gebrauchs von Begriffen in Urteilen und zwar ihren Gebrauch als Prädikate.330 Damit kann es einen nicht-prädikativen Begriffsgebrauch für ihn aber nicht geben.331 Eine weitere zentrale Behauptung des „Leitfadens“ lautet, dass nur Anschauungen sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen können; der Gegenstandsbezug von Begriffen hingegen ist wesentlich mittelbar (siehe [10]).332 Das ist der Hintergrund der Anschauungsthese und die Voraussetzung
328 Wolff wird dieser Art des Begriffsgebrauchs in Urteilen später den Titel der Relation zuordnen (siehe 145–47). Dem Urteilen selbst ordnet er schließlich den Titel der Modalität zu (siehe 147–52). 329 Siehe Thöle (2001). Es gibt eine in die folgenden Überlegungen einbezogene Replik Wolffs (siehe Wolff (2004)). 330 Siehe Thöle (2001): 486. Thöles weitergehender Behauptung, es sei „in dem ersten Leitfadenabschnitt nur von einer einzigen Grundfunktion die Rede: nämlich dem prädikativen Begriffsgebrauch, der mit dem Urteilen identifiziert wird“ (Thöle (2001): 486), kann ich jedoch nicht zustimmen. Kant unterscheidet in [12] und [15] ausdrücklich verschiedene logische Funktionen in Urteilen, von denen eine die Funktion des Prädikatbegriffs ist (siehe 2.3.1–3). 331 Auch Wolff (siehe 100) nimmt erstaunlicherweise an, dass die oben diskutierte Refl 4634 (zitiert im Absatz von Fn. 254) eine Parallelstelle der Thesen über Begriffe als Prädikate in [16] bis [22] darstellt. Er scheint dabei nicht zu sehen, dass diese Notiz die für seine Position entscheidende Annahme der Möglichkeit eines nicht-prädikativen Begriffsgebrauchs ausdrücklich ausschließt, indem in ihr nämlich behauptet wird, dass Begriffe wesentlich Prädikate sind und damit eben auch immer nur als Prädikate gebraucht werden können. 332 Siehe Thöle (2001): 486 f.
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der Urteilsthese (siehe 2.3.1).333 Damit ist ein unmittelbar gegenstandsbezogener nicht-prädikativer Begriffsgebrauch nicht nur als ein nicht-prädikativer, sondern auch als ein unmittelbar gegenstandsbezogener Gebrauch von Begriffen ausgeschlossen.334 Wie die Zuschreibung eines nicht-prädikativen wird auch die eines unmittelbaren Begriffsgebrauchs ausdrücklich durch Kants Text selbst widerlegt.335 b) Damit komme ich zu einer genaueren Betrachtung der Textgrundlage, die Wolff für die Einführung des unmittelbar gegenstandsbezogenen (nicht-prädikativen) Begriffsgebrauchs heranzieht. Wolff versteht die „gegebene Vorstellung“ in [12], ‚die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘, im Sinne eines nicht-prädikativ gebrauchten Subjektbegriffs eines Urteils.336 Dass diese unmittelbar auf den Gegenstand bezogene Repräsentation jedoch eine Anschauung sein muss, ist aus den folgenden Gründen alternativlos: i) In [10] sagt Kant, dass ‚Begriffe niemals unmittelbar auf einen Gegenstand bezogen werden‘, und benutzt dabei genau dieselbe Formulierung, durch die er lediglich zwei Sätze später, in [12], auch die „gegebene Vorstellung“ charakterisiert, ‚die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird‘337; die Wahl genau derselben Ausdrücke macht deutlich, dass er an beiden Stellen auch genau dieselbe Relation zwischen Repräsentation und Gegenstand bezeichnet: die Relation eines unmittelbaren Gegenstandsbezugs nämlich, in der allein Anschauungen, aber niemals Begriffe stehen können.338 ii) Die beiden Charakterisierungen von Urteilen, die Kant in [12] und [15] gibt, verhalten sich so zueinander, dass der ‚gegebenen Vorstellung‘ in [12] nur die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15] zugeordnet werden kann. Da die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15] aber ohne Zweifel – und auch für Wolff – nur eine Anschauung meinen kann,339 muss das auch für die „gegebene Vorstellung“ in [12] gelten. Dass die in [12] und [15] genannten Aspekte von Urteilen einander
333 Siehe Thöle (2001): 487 Fn. 18. 334 Siehe Thöle (2001): 487. 335 Siehe Thöle (2001): 487. 336 Diese Interpretation wurde im Ansatz auch schon von Paton (1936), Bd. 1: 252 f. und de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 40 vertreten. 337 Siehe Thöle (2001): 487 Fn. 18. 338 Wolffs Versuch, „[d]as unmittelbare Bezogenwerden eines Begriffs auf Gegenstände“ von „einem unmittelbaren Vorstellen (= Anschauen) dieser Gegenstände“ (80) zu unterscheiden und diese Unterscheidung in [10] und [12] hineinzulesen, wirkt vor diesem Hintergrund ein wenig künstlich. 339 Nicht jedoch für Longuenesse (1998a): 88 Fn. 15, die sogar die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15] im Sinne eines Subjektbegriffs versteht. Dass das nicht überzeugen kann, braucht hier nicht mehr eigens ausgeführt zu werden.
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zuzuordnen sind, wird durch den Umstand deutlich, dass [15] aus [12] gefolgert wird (‚demnach‘) (aus dem Beispiel in [13] und [14] kann keine Behauptung über ‚alle Urteile‘ gefolgert werden).340 c) Wolff meint, aus dem in [13] und [14] diskutierten Beispielurteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ ergebe „sich eindeutig, daß mit dem Ausdruck ‚gegebene Vorstellung‘ in [12] nicht Anschauungen, sondern Subjektbegriffe in Urteilen gemeint sind“ (80 Fn. 79). Dass jedoch aus der Diskussion eines Beispielurteils gefolgert werden können soll, wie die allgemeine Charakterisierung des Urteils zu lesen ist, ist nicht einzusehen.341 Zwar muss das Beispielurteil ein Fall der in der allgemeinen Charakterisierung beschriebenen Charakteristika sein, wenn es denn die Rolle einer Erläuterung dieser Charakterisierung spielen können soll. Das kann es aber auch dann, wenn mit der ‚gegebenen Vorstellung‘ eine Anschauung gemeint ist. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn man in [12] fälschlicherweise die Behauptung hineinlesen würde, dass die Subjektstelle von Urteilen immer von Anschauungen einzunehmen ist. [12] und [15] besagen in diesem Zusammenhang aber nur, dass für jedes Urteil gilt, dass es einen Bezug auf Anschauungen enthalten muss, um sich auf Gegenstände beziehen zu können, sei es nun als Subjektrepräsentation dieses Urteils selbst oder aber als Subjektrepräsentation eines weiteren möglichen Urteils, das der Beziehung auf Gegenstände durch jenes Urteil vorausgesetzt ist (siehe 2.3.4).342 Es ist
340 Wolff will Kant nicht die unplausible Position zuschreiben, dass jedes Urteil sich immer auch auf eine „gegebene (und nicht etwa unter Umständen nur mögliche) Anschauung“ (82) bezieht. Das muss er auch nicht, da ‚gegebene Vorstellung‘ nicht als ‚wirkliche Vorstellung‘ zu verstehen ist, sondern sowohl bloß mögliche als auch wirkliche Anschauungen meinen kann. So weist Wolff selbst (siehe 81 f. Fn. 79) darauf hin, dass Kant teilweise auch von ‚gegebenen Begriffen‘ spricht, was offensichtlich nicht so gelesen werden kann, dass es in diesen Fällen um ‚wirkliche Begriffe‘ gehen soll. 341 Wolff selbst sagt, er wolle „[12] als eine Verallgemeinerung dessen auslegen, was in [13] und [14] behauptet wird.“ (78) Dieses Vorgehen ist eher überraschend, hat ein Beispiel zwar der allgemeinen Sachlage, diese aber doch nicht in jeder Hinsicht dem Beispiel (als einer besonderen Ausformung der allgemeinen Sachlage) zu entsprechen. Auch Guyer (2001): 320 missversteht die Rolle des Beispiels auf diese Weise. – Auch ist es falsch, wenn Wolff meint, Kant unterstelle „mit dem in [13] und [14] diskutierten Beispiel, dass es nicht Anschauungen, sondern Begriffe sind, die in Urteilen auf Gegenstände unmittelbar bezogen werden.“ (82) Das wird nämlich nur dann unterstellt, wenn Wolffs Zuordnung der Aspekte in [12] und [13] vorausgesetzt und die Ersetzung von ‚Erscheinungen‘ durch ‚Anschauungen‘ nicht übernommen wird. Beides ist zurückzuweisen. 342 Wolffs Position an dieser Stelle hängt eng mit seiner Auffassung zusammen, Kant habe im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ nur solche Urteile im Sinn, die allein Begriffe (bzw. generelle Terme) enthalten (siehe 84–87). Auch dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden. [10] enthält sogar explizit die Behauptung, dass Begriffe in Urteilen nicht nur auf Begriffe, son-
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der zweite und wohl häufiger auftretende Fall, der durch das Beispiel in [13] illustriert wird. Dem entspricht übrigens auch erneut die in Kants Handexemplar der Kritik vorgenommene Ersetzung von ‚Erscheinungen‘ durch ‚Anschauungen‘.343 d) Wolff hat nun versucht, auf von Thöle vorgebrachte Einwände dieser Art dadurch zu reagieren, dass er behauptet, dass es „nur ein scheinbarer Widerspruch ist, wenn Kant einerseits explizit sagt, ein Begriff werde niemals auf einen Gegenstand unmittelbar bezogen, andererseits wenig später behauptet, der Begriff des Körpers werde im Urteil ‚Alle Körper sind teilbar‘ auf einen Gegenstand unmittelbar bezogen.“344 Die vermeintliche Auflösung dieses Widerspruchs lautet: „Ohne Vermittlung durch Anschauung kann sich ein Begriff tatsächlich niemals auf Gegenstände beziehen; aber dies bedeutet selbstverständlich nicht, es sei ausgeschlossen, dass ein Begriff auf einen Gegenstand bezogen werden kann, ohne der Vermittlung durch einen Begriff zu bedürfen.“345 Wolff versucht, den besagten Widerspruch aufzulösen, indem er erneut eine Unterscheidung in Kants Text hineinliest, die sich in diesem nicht nur nicht findet, sondern von diesem sogar explizit ausgeschlossen wird. In der nun betonten Hinsicht soll es einen in diesem Zusammenhang relevanten Unterschied zwischen der Vermittlung durch Anschauungen und der Vermittlung durch Begriffe geben. Nun wurde aber die Mittelbarkeit der Bezugnahme in [10] als eine eingeführt, die zustande kommen kann, indem ein Begriff auf eine Anschauung oder einen weiteren Begriff bezogen wird, und die Unmittelbarkeit der Bezugnahme entsprechend als eine, die weder durch eine Anschauung noch durch einen Begriff vermittelt ist. Wenn Kant nun zwei Sätze später die gerade eingeführte Unmittelbarkeit der Bezugnahme mit genau denselben Worten wieder aufnimmt, meint er damit zweifellos auch genau dasselbe: dass die Unmittelbarkeit der Bezugnahme nämlich eine solche ist, die durch keine wei-
dern auch auf Anschauungen bezogen werden können. Eine weitere Textstelle, in der nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit der Möglichkeit von Anschauungen als logischen Subjekten von Urteilen behauptet wird, findet sich in den Fortschritten: „Damit eine Vorstellung Erkenntnis sei [...], dazu gehört Begriff und Anschauung von einem Gegenstande in derselben Vorstellung [das kann nur heißen: in demselben Urteil] verbunden, so dass der erstere [Begriff], so wie er die letztere [Anschauung] unter sich enthält, vorgestellt wird.“ (FM, AA XX: 273) Es ist bemerkenswert, dass Wolff selbst diese Stelle genau so liest, wie ich es tue (siehe 76 Fn. 75), und dennoch die Möglichkeit von Anschauungen als logischen Subjekten von Urteilen leugnet. 343 Nicht diese Ersetzung selbst ist inkonsequent, wie Wolff meint (siehe 79 Fn. 78), sondern ihre Durchführung in Kants Handexemplar. Natürlich hätten bei einer gründlichen Einarbeitung dieser Verbesserung durch Kant weitere Anpassungen vorgenommen werden müssen. 344 Wolff (2004): 134. 345 Wolff (2004): 134.
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tere Repräsentation vermittelt ist, sei diese nun eine Anschauung oder ein Begriff. e) Darüber hinaus verbindet Wolff seine Replik auf Thöle mit der von ihm offenbar für unerfüllbar gehaltenen Forderung an eine alternative Lesart, die Vereinbarkeit der allgemeinen Charakterisierung des Urteils in [12] und des Beispielurteils in [13] und [14] aufzuzeigen. Diese Forderung kann durch die von mir vorgeschlagene Deutung aber sehr wohl erfüllt werden: Dem „Begriff, der für viele gilt“ entspricht im Beispiel der Begriff der Teilbarkeit; den vielen Repräsentationen, für die dieser Prädikatbegriff gilt, entsprechen im Beispiel der Begriff des Körpers samt den Repräsentationen, die unter ihn fallen346; und der ‚gegebenen Vorstellung‘, die zu den Repräsentationen gehört, die unter den Prädikatbegriff fallen, entsprechen im Beispiel laut Handexemplar schließlich Anschauungen, auf die der Begriff des Körpers zuletzt bezogen sein muss, wenn er denn überhaupt auf Gegenstände bezogen sein soll. Es ist also falsch, wenn Wolff behauptet, „dass der Begriff des Körpers die einzige in Kants Beispiel auftretende Vorstellung ist, für die es in Frage kommt anzunehmen, der Begriff des Teilbaren ‚begreife‘ sie unter dem Vielen, auf das er sich bezieht, und sie selbst werde auf den Gegenstand (des Urteils) ‚unmittelbar bezogen‘.“347 So kann er denn auch nur fragen, „an welcher Stelle des von Kant angeführten Beispielsatzes denn eine Anschauung vorkommen soll, von der es sinnvoll wäre zu sagen, sie werde auf den Gegenstand unmittelbar bezogen“‚348 indem er die Ersetzung in Kants Handexemplar an dieser Stelle außer Acht lässt. Die Antwort lautet nämlich: im Beispiel kommen genau dort Anschauungen vor, wo Kant in seinem Handexemplar ‚Anschauungen‘ für ‚Erscheinungen‘ eingesetzt hat, vielleicht sogar, um einem Missverständnis wie dem von Wolff vorzubeugen.349
346 Das ist die im Rahmen der von mir vorgelegten Interpretation wohl am wenigsten ins Auge fallende Zuordnung. Da die anderen Zuordnungen aber keine Alternative haben, ist auch sie alternativlos. Die prima facie naheliegende (und von Wolff – siehe 78 f. – gewählte) Möglichkeit, den ‚vielen Vorstellungen‘ in [12] (und den ‚mehreren Vorstellungen‘ in [15]) die ‚verschiedenen anderen Begriffe‘ im Beispiel in [13] zuzuordnen, ist nämlich dadurch ausgeschlossen, dass zu den ‚vielen Vorstellungen‘ in [12] (und den ‚mehreren Vorstellungen‘ in [15]) mindestens eine Anschauung gehört: die „gegebene Vorstellung“ in [12] (und die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15]), die nicht einer von ‚verschiedenen anderen Begriffen‘ sein kann. 347 Wolff (2004): 135. 348 Wolff (2004): 135. 349 Siehe Thöle (2001): 487 Fn. 19. Auch hatte ‚Erscheinung‘ in den siebziger Jahren – in denen der „Leitfaden“ wohl geschrieben wurde – zeitweise noch eine Bedeutung, die der von ‚Anschauung‘ in der Kritik sehr nah ist. Siehe Refl 4723, 1773–75, AA XVII: 688: „Erscheinungen sind Vorstellungen, sofern wir affiziert werden.“ Zu Beginn des „Leitfadens“ heißt es dann entsprechend in [6]: „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen“. – Ein weite-
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f) Wolff versteht auch die ‚höhere Vorstellung‘ in [15] im Sinne eines nichtprädikativ gebrauchten Subjektbegriffs eines Urteils. Dass es sich dabei aber vielmehr um die Charakterisierung eines Prädikatbegriffs handeln muss,350 wird dadurch deutlich, dass der ‚höheren Vorstellung‘ in [15] nur der „Begriff, der für viele gilt“ in [12] zugeordnet werden kann, der ohne Zweifel – und auch für Wolff – als Prädikatbegriff zu verstehen ist.351 Auch die Zuordnung des Beispiels in [13] und [14] und der darauffolgenden allgemeinen Charakterisierung des Urteils in [15] ist nur möglich, wenn dort die ‚höhere Vorstellung‘ dem Prädikatbegriff der Teilbarkeit korrespondiert. So entspricht der in [13] und vor allem [14] thematisierten Mittelbarkeit des Begriffs der Teilbarkeit in der darauffolgenden allgemeinen Charakterisierung des Urteils durch [15] allein die ‚höhere Vorstellung‘, die andere Repräsentationen unter sich begreift und damit „zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht“ wird. Eine andere ernstzunehmende Kandidatin, die einen mittelbaren Bezug auf Gegenstände aufweisen könnte, gibt es in [15] schlicht und einfach nicht.352 Das Beispiel erläutert dabei nicht nur die Bestimmung des Urteils in [12], sondern leitet auch zu der daraus gefolgerten Charakterisierung des Urteils in [15] über. Dort kommt nun die Behauptung hinzu, dass Urteile Funktionen der Einheit sind, die durch eine ‚höhere Vorstellung‘ verschiedene Repräsentation ‚in einer Erkenntnis zusammenziehen‘. Dieser einheitsstiftenden Rolle entspricht im Beispiel davor aber nur die mittelbare Repräsentation von Gegenständen durch die Prädika-
res Problem für eine solche alternative Lesart sieht Wolff in seiner Auffassung begründet, der „Begriff, der für viele gilt“ in [12] sei zu ‚Begriff, der für viele Begriffe gilt‘ zu ergänzen, „da kein anderes Wort im Kontext vorkommt, das näher läge“ (Wolff (2004): 135; siehe auch schon in Wolffs Buch, 78 f.). Dann aber könnten nur Begriffe zu diesem Vielen gehören, so dass die „gegebene Vorstellung“, die zu diesem Vielen gehören soll, ein Begriff sein müsste. Nun stimmt es aber auch nicht, dass kein Wort ‚näher läge‘: es liegt nämlich das Wort am nächsten, das Kant selbst in ebendiesem Satz benutzt, um eines von diesen Vielen zu kennzeichnen, das Wort ‚Vorstellung‘ nämlich. Damit aber können sowohl Begriffe als auch Anschauungen zu dem Vielen gehören, für das der Prädikatbegriff gilt. 350 Siehe Thöle (2001): 485 Fn. 13. 351 Dem „Begriff, der für viele gilt“ und der ‚höheren Vorstellung‘ ist entsprechend gemeinsam, dass sie jeweils verschiedene Repräsentationen unter sich ‚begreifen‘. Auch Wolff (siehe 82 Fn. 81) geht überraschenderweise davon aus, dass der Ausdruck ‚begreifen‘ in beiden Fällen dieselbe Bedeutung hat. 352 Weder die ‚unmittelbare Vorstellung‘ noch die ‚mehreren Vorstellungen‘ können hier ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Mehr Kandidatinnen aber gibt es nicht.
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tion des Begriffs der Teilbarkeit, d. h. durch die Beziehung des Begriffs der Teilbarkeit auf den (bzw. seine Verbindung mit dem) Begriff des Körpers.353 g) Abschließend komme ich nun noch zu der Textgrundlage, die Wolff für die Einführung des mittelbar gegenstandsbezogenen (nicht-prädikativen) Begriffsgebrauchs heranzieht. Er meint, dass das Demonstrativpronomen ‚jenen‘ in [20] – „So bedeutet der Begriff des Körpers etwas, z. B. Metall, was durch jenen Begriff erkannt werden kann“ – auf den von dieser Stelle aus vorletzten Begriff zurückzubeziehen ist. Das ist zweifellos korrekt. Er meint dann aber, dass es sich bei diesem vorletzten Begriff um den Begriff der Teilbarkeit in [14] handelt. Dieser an sich schon äußerst unwahrscheinliche Rückbezug über ganze sechs Sätze ist jedoch völlig unnötig, da sich der vorletzte Begriff mit dem Begriff des Körpers in [20] selbst findet: der Begriff des Metalls in [20] ist der letzte und der Begriff des Körpers ebendort damit der vorletzte Begriff, wenn von der Stelle ausgegangen wird, an der Kant den Ausdruck ‚jenen‘ gebraucht.354 Damit ist ein mittelbar gegenstandsbezogener nicht-prädikativer Begriffsgebrauch nicht erst als nicht-prädikativer Begriffsgebrauch, sondern schon wegen seiner fehlenden Grundlage im Text des „Leitfadens“ ausgeschlossen. Die oben von mir vorgeschlagene Interpretation der Argumentation für die grundlegenden logischen Funktionen des Verstandes im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ hat gegenüber der von Wolff vertretenen Deutung zunächst einmal den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sie nichts in Kants Text hineinlesen muss, das nicht in diesem steht oder sogar ausdrücklich durch ihn ausgeschlossen wird. Darüber hinaus wird meine Interpretation, anders als Wolffs Deutung, dem Verhältnis der Sätze [12] und [15] gerecht, in denen Kant beschreibt, was wahrheitsfähige, objektive Urteile ganz allgemein auszeichnet (‚jedes Urteil‘, ‚alle Urteile‘), indem sie die Zuordenbarkeit der in diesen beiden Sätzen angegebenen logischen
353 Der Versuch von Wolff (siehe 84 Fn. 83), das Verhältnis der ‚höheren Vorstellung‘ zu den unter dieser begriffenen Repräsentationen mit dem im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ beschriebenen Akt in Verbindung zu bringen, eine Synthesis von Vorstellungen „auf Begriffe zu bringen“ (A 78/B 104), um auf diese Weise dem nicht-prädikativen Begriffsgebrauch einen Ort im Rahmen von Kants Urteilsbegriff zu verschaffen, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil diese ‚höhere Vorstellung‘ die weiteren Vorstellungen eben gerade „unter sich begreift“, so dass auf diese Weise „verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff gebracht“ (A 78/B 104) werden, und dieser Akt der Subordination unter einen Begriff im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ ausgerechnet den Kontrastbegriff zum Akt des Auf-Begriffe-Bringens bildet. 354 Dass es sich bei ‚Metall‘ in [20] um einen Begriff handelt und damit um eine Repräsentation und nicht, wie Wolff zu glauben scheint, um einen Gegenstand, wird dadurch deutlich, dass i) die Entsprechung von ‚Metall‘ in [19], dessen Erläuterung [20] bildet, „eine Vorstellung von einem [durch das Prädikat] noch unbestimmten Gegenstande“ ist, ii) ‚Metall‘ in [21] als ‚Vorstellung‘ bestimmt wird und iii) in [22] qua Subjekt des Urteils ‚Jedes Metall ist ein Körper‘ als Begriff.
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Funktionen in Urteilen erhält. Schließlich liefert meine Interpretation, im Unterschied zu Wolffs Deutung, eine Beschreibung der grundlegenden Funktionen in Urteilen anhand von Charakteristika, die Kant in [12] und [15] explizit nennt und dort nicht nur implizit anzudeuten scheint. In seiner Auseinandersetzung mit Wolffs Position schreibt Thöle: „Wenn Wolffs Annahme zuträfe, dass Kant im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ tatsächlich jene [von Wolff genannten] vier Grundfunktionen herleiten wollte, dann wird man wohl sagen müssen, dass er sich besondere Mühe gegeben hat, diese Absicht zu verbergen. Der Text enthält keine entsprechenden Ankündigungen. Von Grundfunktionen ist an keiner Stelle des Textes die Rede. Keine der von Wolff benannten Grundfunktionen wird explizit erwähnt.“355 Der ersten, polemischen Behauptung Thöles stimme ich hier uneingeschränkt zu. Den letzten drei Behauptungen muss ich aber zumindest zum Teil widersprechen. Indem Kant Satz [12] mit ‚In jedem Urteil ...‘ und Satz [15] mit ‚Alle Urteile ...‘ beginnt, kündigt er sehr wohl die Aufzählung von logischen Funktionen an, die Urteile ganz allgemein charakterisieren. Kant zählt in [12] und [15] dann auch grundlegende logische Funktionen des Urteils auf, von denen er in [12] drei nennt (Prädikatbegriff, Subjektrepräsentation, Beziehung auf sinnliche Anschauung) und in [15] erneut diese drei sowie zusätzlich eine vierte (die Einheit der Repräsentationen des Urteils).356 Schließlich ist in beiden Sätzen auch zumindest von einer der grundlegenden Funktionen die Rede, die Wolff im Sinn hat, von dem Gebrauch von Begriffen als Prädikaten von Urteilen nämlich. Die anderen von Wolff aufgezählten Funktionen erwähnt Kant aber tatsächlich nicht und kann das auch nicht tun, da er auf diese Weise, wie gezeigt, zentralen Behauptungen des „Leitfadens“ selbst widersprechen würde.357 In meiner eigenen Rekonstruktion habe ich argumentiert, dass Kants Angabe der vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils in einer Analyse des mittelbaren Bezugs von Begriffen auf Gegenstände begründet ist (siehe 2.3.1–3). Vor diesem Hintergrund ist es dann auch leicht, zu sehen, wodurch
355 Thöle (2001): 484. 356 Mit Wolff (2004): 112 kann man sagen, dass die grundlegenden Funktionen in Urteilen im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ „durch eine Beschreibung voneinander unterschieden, allerdings noch nicht benannt werden“. Das geschieht erst im zweiten Abschnitt des „Leitfadens“ mit der Darstellung in der Tafel logischer Funktionen. 357 Dass sich auch dann, wenn man Wolffs Lesart von [12] und [15] folgen würde, nur zwei der von Wolff genannten logischen Funktionen in diesen Sätzen finden, die durch ‚In jedem Urteil ...‘ und ‚Alle Urteile ...‘ die Ankündigung einer Aufzählung der Funktionen in allen Urteilen enthalten, ist ein weiterer Grund, Wolffs Rekonstruktion zurückzuweisen.
2.4 Zusammenfassung. Zur Interpretation von Michael Wolff
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die Vollständigkeit der vier grundlegenden logischen Funktionen erreicht ist. Wenn das zu lösende Problem nämlich ein zu vermeidender infiniter Regress begrifflicher Bezugnahme auf Gegenstände ist, so sind die angegebenen grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen genau dann vollständig, wenn der drohende infinite Regress gestoppt ist und die logischen Funktionen gemeinsam die Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände ermöglichen. Die Aufzählung der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils ist also genau dann vollständig, wenn die Erklärung der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände abgeschlossen ist. Die nach meiner Interpretation im „Leitfaden“ begründeten und genannten vier grundlegenden logischen Funktionen des Urteils tun nun aber genau das. Jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend für die mittelbare Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände sind demnach: eine vermittelte Repräsentation (ein Prädikatbegriff), eine vermittelnde Repräsentation (eine Subjektrepräsentation), eine Vermittlung der Repräsentationen des Urteils (ein Akt der Verbindung) und schließlich die Möglichkeit einer unmittelbaren Repräsentation des Gegenstandes (einer sinnlichen Anschauung). Zuletzt ist es dabei die Möglichkeit sinnlicher Anschauung, als der unmittelbaren Repräsentation eines Gegenstandes, die einen Regress bloß begrifflicher Bezugnahme stoppt, indem sie sich direkt auf den Gegenstand des Urteils bezieht und so den Gegenstandsbezug auch der an der Bezugnahme beteiligten Begriffe sichert. Vor diesem Hintergrund ist dann allerdings nicht zu sehen, warum die von Wolff genannten grundlegenden Funktionen vollständig sein sollen. Wenn das Problem nämlich tatsächlich durch die wesentliche Mittelbarkeit der Bezugnahme von Begriffen auf Gegenstände generiert wird, dann kann es eben gerade nicht durch eine Aufzählung verschiedener Arten des Gebrauchs von Begriffen gelöst werden. Und indem Wolff die Beziehung auf sinnliche Anschauungen nicht als eine der grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen anzusehen bereit ist, sind die von ihm aufgezählten logischen Funktionen des Urteils letztlich auch nicht dazu in der Lage, ihre gemeinsame Beziehung von Begriffen auf Gegenstände zu sichern. Sie müssten so zuletzt, um es mit Kant zu sagen, immer bloße ‚Vorstellungen von Vorstellungen‘ ([11]) bleiben, die den Gegenstand des Urteils nie erreichen können. Wolff verfehlt auf diese Weise also auch das Problem, das durch die Aufzählung der vier grundlegenden logischen Funktionen in Urteilen gelöst werden soll.
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes, die Einheit der Anschauung und die Inhalte der Kategorien Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion besteht darin, den „Ursprung der Kategorien a priori“ (B 159) nachzuweisen. Dieser Nachweis, dass die Inhalte der Kategorien nämlich aus dem Verstand, aus dem Vermögen zu denken selbst stammen, soll dabei zuletzt dadurch geführt werden, dass „ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) aufgezeigt wird. Dafür benötigt Kant, so habe ich anhand von B 159 unterschieden (siehe 1.1, 1.1.2): i) einen Begriff der logischen Funktionen des Denkens, ii) einen Begriff der nicht-empirischen Inhalte der Kategorien und iii) die exakte Zuordnung beider, wodurch der apriorische Ursprung der Kategorien nachgewiesen wird. In den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ hat Kant den Begriff der allgemeinen logischen Funktionen des Denkens als den Begriff logischer Funktionen im Urteil entwickelt und auf diese Weise den ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion abgeschlossen. Die verbleibenden zwei Schritte finden sich nun im dritten Abschnitt des „Leitfadens“, der überschrieben ist mit „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien“ (A 76/B 102). Im zweiten Schritt der Metaphysischen Deduktion behandelt Kant dort zunächst die Inhalte der Kategorien, um dann, im dritten und letzten Schritt des Arguments, die Apriorität dieser Inhalte zu rechtfertigen (ab A 79/B 104 f.). Im zweiten Schritt, mit dem ich mich im vorliegenden Kapitel beschäftigen will, ist ein Begriff der Kategorien zu entwickeln, der verständlich macht, woher genau sie ihre repräsentationalen Inhalte haben. Hierfür müssen repräsentationale Fähigkeiten und Akte identifiziert und beschrieben werden, die dazu in der Lage sind, diese Inhalte zu erklären. Im dritten und letzten Schritt wird es dann darum gehen, zu zeigen, dass die betreffenden Fähigkeiten und Akte auch dem Vermögen des Verstandes zuzuschreiben sind.
https://doi.org/10.1515/9783110557374-003
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung Kant versteht die Kategorien als „Begriffe von Gegenständen überhaupt“ (A 93/ B 126).358 Kategorien, wie z. B. die Begriffe der Einheit, der Realität, der Substanz oder der Ursache, sollen Begriffe der allgemeinsten Charakteristika von Gegenständen des Denkens sein, ohne die uns das Denken von Gegenständen nicht möglich wäre. Da die Kategorien uns aber, im Unterschied zu empirischen Begriffen, nicht durch sinnliche Anschauungen gegeben werden können, indem ihnen nämlich keine wahrnehmbaren Eigenschaften an Gegenständen der Erfahrung entsprechen, auf die sie zurückgeführt werden könnten,359 muss ihr Inhalt, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, stattdessen auf der Natur unserer eigenen Fähigkeiten und Akte der Bezugnahme auf Gegenstände beruhen (siehe 1.1.1). Die Kategorien, so Kant, sind nicht a posteriori, sondern vielmehr a priori gegebene Begriffe, die „ohne von der Erfahrung abgeleitet zu sein, mithin a priori, im reinen Verstande ihren Ursprung haben“ (FM, AA XX: 318).360 Die Kategorien sollen uns durch Bestimmungen in der Natur unseres Denkens selbst gegeben sein, durch Bestimmungen also, die unser Vermögen des Denkens von Gegenständen ganz grundsätzlich charakterisieren. Sie müssen also durch repräsentationale Fähigkeiten und Akte erklärt werden, die dafür erforderlich sind, dass wir uns überhaupt auf Gegenstände beziehen können. Da die Kategorien nämlich einen Inhalt haben sollen, der „nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann“ (A 56/B 80), wie Kant es ausdrückt, müssen sie stattdessen Begriffe sein, die „nur das Denken eines Gegenstandes überhaupt enthalten“ (Prol, AA IV: 282).361 Es muss hier nun also darum gehen, zu verstehen, was es überhaupt heißt, einen Gegenstand zu denken. Anhand der im Ausgang von A 64/B 89 erläuterten vier Charakteristika der Kategorien lässt sich das noch genauer fassen (siehe 1.2.1, 1.2.2). Diesen Charakterisierungen zufolge sind die Kategorien nämlich reine Begriffe, die ihrer allgemeinen Form nach durch die Reflexion auf grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte des Verstandes gebildet werden (i.); sie sind intellektuelle Begriffe, deren Inhalte, d. h. deren Beziehung auf den Gegenstand, wir mit dem Verstand durch Akte der Verbindung selbst hervorbringen (ii.); sie sind elementare Begriffe, d. h. die allgemeinsten und einfachsten Begriffe des Denkens von Gegenständen (iii.); und schließlich sind die Kategorien vollständig genau 358 Siehe an und in Fn. 56. 359 Siehe in Fn. 8. 360 Siehe in Fn. 9. 361 Siehe an und in Fn. 88.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
dann, wenn sie es möglich machen, die Aufgabe des Verstandes zu erfüllen, Begriffe in Urteilen auf Gegenstände zu beziehen, die von den Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig sind (iv.). Vor diesem Hintergrund müssen die zu identifizierenden Fähigkeiten und Akte der Repräsentation von Gegenständen, die den Kategorien zugrunde liegen, also die folgenden Charakteristika aufweisen: i) Sie sind die Fähigkeiten und Akte, auf die unsere Reflexion bei der Bildung der Kategorien gerichtet ist. ii) Sie sind Fähigkeiten und Akte der Verbindung, durch die wir die Inhalte der Kategorien selbst hervorbringen. iii) Sie sind elementare, d. h. die allgemeinsten und einfachsten, Fähigkeiten und Akte der Repräsentation von Gegenständen. iv) Sie sind Fähigkeiten und Akte, die gemeinsam erforderlich sind, um die Aufgabe erfüllen zu können, Begriffe in Urteilen auf Gegenstände zu beziehen. Was sind diese grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Verbindung, durch die wir uns überhaupt erst auf Gegenstände beziehen? Welche Fähigkeiten und Akte sind dafür verantwortlich, dass unsere Repräsentationen ihre Inhalte aufweisen, insbesondere aber die Kategorien, die in allen Begriffen von Gegenständen enthalten sind? Die allgemeine Richtung der Beantwortung dieser Frage, dass sie nämlich Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sind, habe ich bereits angedeutet. Vor dem Hintergrund der im vorhergehenden Kapitel bereits rekonstruierten Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes kann diese Antwort nun auch begründet werden.
3.1.1 Vom logischen zum realen Gebrauch des Verstandes Wie im Ausgang von A 299/B 355 f. erläutert, arbeitet Kant in der Metaphysischen Deduktion mit der Unterscheidung zwischen einem realen und einem logischen Gebrauch des Verstandes (siehe 1.1.2). Er unterscheidet zwischen einem „bloß formalen, d. i. logischen Gebrauch“ (A 299/B 355), in dem „von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert“ (A 299/B 355) wird, auf der einen Seite, und einem „realen [Gebrauch]“ (A 299/B 355), der „den Ursprung gewisser Begriffe“ (A 299/B 355) bildet, auf der anderen. Während der logische Gebrauch des Verstandes für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist, d. h. für die allgemeine Form von Begriffen und für die objektive und wahrheitsfähige Form von Urteilen, soll der Inhalt unserer Repräsentationen, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, nun durch einen realen Gebrauch dieses Vermögens erklärt werden. Mit dem Übergang vom logischen zum realen Gebrauch des Verstandes geht Kant auf diese
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Weise von einer Betrachtung und Erklärung der logischen Form unserer Repräsentationen zu einer Betrachtung und Erklärung ihrer repräsentationalen Inhalte über, vom logischen zum transzendentalen Begriff des Verstandes.362 Sowohl Begriffe, als allgemeine Repräsentationen von Arten oder Eigenschaften von Gegenständen, als auch Urteile, als objektive und wahrheitsfähige Akte der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände, müssen nämlich neben ihrer logischen Form – d. h. neben der Weise, wie sie sich auf Gegenstände beziehen –, auch einen repräsentationalen Inhalt aufweisen, der in dieser Form auftritt, einen Inhalt also, durch den sie sich auf die Gegenstände beziehen, auf die sie sich beziehen (siehe 1.2.1).363 Diese Angewiesenheit der allgemeinen und wahrheitsfähigen logischen Form auf Inhalte, die diese Formen aufweisen, kommt darin zum Ausdruck, dass Begriffe und Urteile jeweils von sinnlichen Anschauungen abhängig sind. So kann als ein Resultat des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion gelten, dass der logische Gebrauch des Verstandes insofern nicht für sich allein bestehen kann, als er in seiner Ausübung zuletzt auf sinnliche Anschauungen angewiesen ist. Die Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes erfordert so den Übergang zu einem realen Gebrauch dieses Vermögens. Im Zuge meiner Rekonstruktion des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion habe ich die logischen Funktionen der Begriffsbildung und des Urteils angegeben und beschrieben (siehe 2.2.3, 2.3.1–6). In der Begriffsbildung erklären die logischen Akte der Komparation, der Reflexion und der Abstraktion die logische Form von Begriffen, d. h. die Allgemeinheit, durch die Begriffe von verschiedenen Gegenständen gelten können, und tun dies auf der Grundlage sinnlicher Anschauungen. Im Urteil erklären die grundlegenden logischen Funktionen des Urteils die logische Form des Urteils, d. h. die Objektivität und Wahrheitsfähigkeit, mit der Begriffe im Urteil auf Gegenstände bezogen werden. Die logischen Funktionen des Prädikatbegriffs, der Subjektrepräsentation und der Verbindung der Repräsentationen im Urteil können sich dabei aber zuletzt nur durch ihren Bezug auf sinnliche Anschauungen auch auf den Gegenstand des Urteils beziehen. Der logische Gebrauch des Verstandes in den Akten der Begriffsbildung und des Urteils ist damit insofern unselbständig, als er in seiner Ausübung von sinnlichen Anschauungen von Gegenständen abhängig ist. So ist ein empirischer Begriff nur dadurch der Begriff einer Art oder allgemeiner Eigenschaften von Gegenständen der Erfahrung, dass seine Bildung auf
362 Siehe in den Absätzen von Fn. 38 und 47. 363 Siehe an und in Fn. 3.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
empirischen Anschauungen von Gegenständen dieser Art bzw. mit diesen Eigenschaften beruht. Der Begriff des Baumes z. B. handelt nur dadurch allgemein von Bäumen, dass seine Bildung auf sinnlichen Anschauungen beruht, die selbst wiederum von einzelnen Bäumen handeln. So gilt, wie gesagt, dass empirische Begriffe etwas enthalten „was in der Sinnenanschauung schon begriffen war und nur der logischen Form, nämlich der Gemeingültigkeit nach, sich von der Anschauung der Sinne unterscheidet“ (FM, AA XX: 273 f.).364 In Begriffen treten also dieselben Inhalte in allgemeiner Form auf. Die Inhalte von Begriffen verhalten sich damit derivativ zu den Inhalten der Repräsentationen, auf deren Grundlage sie gebildet werden. Auf diese Weise ist der allgemeine Inhalt von Begriffen grundsätzlich abhängig vom einzelnen Inhalt sinnlicher Anschauungen. Auch im Urteil erkennen wir nur dann durch Begriffe, d. h. wir beziehen Begriffe nur dann wahrheitsfähig auf Gegenstände, wenn diese Begriffe auch auf sinnliche Anschauungen dieser Gegenstände bezogen werden können. Der Begriff der Teilbarkeit im Urteil ‚Körper sind teilbar‘ z. B. bezieht sich nur dann wahrheitsfähig auf Körper als teilbare Gegenstände, wenn es auch möglich ist, ihn auf sinnliche Anschauungen von Körpern zu beziehen. Schließlich gilt, wie oben ausgeführt, dass „keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als bloß die Anschauung“ ([10]), so dass „ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar [...] bezogen [ist]“ ([10]) und „[d]as Urteil [...] also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes [ist]“ ([11]).365 Der Bezug, den Begriffe auf Gegenstände haben, kann ihnen zuletzt nur durch sinnliche Anschauungen dieser Gegenstände verliehen werden. Auf diese Weise ist der mittelbare Bezug von Begriffen auf Gegenstände, wie wir ihn im Urteil vollziehen, grundsätzlich abhängig vom unmittelbaren Bezug auf Gegenstände, den allein sinnliche Anschauungen aufweisen können. Wenn also die Aufgabe des Verstandes erfüllbar sein soll, durch Begriffe zu erkennen, dann muss es neben dem logischen noch einen weiteren Gebrauch dieses Vermögens geben. Kant versteht diesen weiteren Gebrauch, der dem logischen Gebrauch seiner Möglichkeit nach vorausgeht, als einen realen Gebrauch, der durch reale Funktionen für den Inhalt von Repräsentationen verantwortlich ist, d. h. für ihre Beziehung auf Gegenstände.366 Die reale Ausübung des Verstandes
364 Siehe in Fn. 82. 365 „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.“ (A 19/B 33) „Alle unsere Erkenntnis bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen“ (A 719/B 747). 366 Die realen Funktionen sind das, „woraus die logischen [Funktionen] möglich sind“ (Refl 4631, 1772–75, AA XVII: 615). Vgl. Refl 4629, 1772–75, AA XVII: 614 („die sensitive Funktion
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hat damit die spezifische Aufgabe, die Möglichkeit sinnlicher Anschauungen als unmittelbarer Repräsentationen von Einzelgegenständen zu erklären, auf deren Grundlage wir überhaupt erst dazu in der Lage sind, allgemeine Begriffe von Gegenständen zu bilden und sie in wahrheitsfähigen Urteilen auf Gegenstände zu beziehen. Dabei ist leicht zu sehen, warum der reale Gebrauch ein weiterer Gebrauch des Verstandes sein muss. Wenn es nämlich der Verstand selbst sein soll, der seinen Zweck erfüllt, durch Begriffe zu erkennen, dann muss der weitere, reale Gebrauch offenbar ein anderer Gebrauch eben desselben Vermögens sein, durch das wir auch Begriffe hervorbringen und sie in Urteilen verwenden. Das nachzuweisen ist allerdings erst die Aufgabe des dritten Schrittes der Metaphysischen Deduktion, in dem Kant argumentieren wird, um mit A 299/B 355 f. zu sprechen, dass „ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden [muss], welcher beide Begriffe [den logischen und den transzendentalen] unter sich befasst“ (A 299/B 356). Vor dem Hintergrund, dass der logische Gebrauch des Verstandes in den Akten der Begriffsbildung und des Urteilens von sinnlichen Anschauungen abhängig ist, verortet Kant den weiteren, realen Gebrauch des Verstandes nun in den Fähigkeiten und Akten, durch die wir sinnliche Anschauungen haben. Wenn sinnliche Anschauungen nämlich die einzigen Repräsentationen sind, durch die wir uns unmittelbar auf einzelne Gegenstände beziehen können, dann wird der reale Gebrauch des Verstandes, der für den Inhalt unserer Repräsentationen, d. h. für unsere Beziehung auf Gegenstände, erforderlich ist, eben gerade in den Fähigkeiten und Akten zu suchen sein, durch die wir sinnliche Anschauungen haben. Diese Fähigkeiten und Akte sind, wie Kant nun im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ argumentieren wird, die Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung. Sie sollen die Fähigkeiten und Akte sein, die dafür verantwortlich sind, dass Anschauungen sich unmittelbar auf einzelne Gegenstände der Sinne beziehen und auf diese Weise die Grundlage sowohl für die Bildung empirischer Begriffe als auch für die Beziehung von Begriffen auf Gegenstände bilden können. So entwickelt Kant den auf A 299/B 355 f. so genannten transzendentalen Begriff des Verstandes im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ als den Begriff eines Vermögens, das durch reale Funktionen der Synthesis für die Einheit der Anschauung und damit für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist. „[D]ie Synthesis ist [...] dasjenige“, so Kant dort, „was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ (A 77 f./B 103). Insbesondere sollen die Fähigkeiten und Akte der Synthesis dadurch auch den
[ist] der Grund der intellectualen“). Zur Unterscheidung logischer und realer Funktionen siehe in den Absätzen von Fn. 38 und 47.
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Inhalt der Kategorien erklären und es Kant so erlauben, den zweiten Schritt der Metaphysischen Deduktion zu machen. Die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis, durch die wir sinnliche Anschauungen haben, sollen nämlich zugleich diejenigen Bestimmungen unseres Verstandes sein, auf denen die a priori gegebenen Inhalte der Kategorien beruhen. Wenn die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung nämlich dafür verantwortlich sind, dass wir überhaupt Gegenstände repräsentieren können, dann werden es auch genau diese Fähigkeiten und Akte sein, die den Inhalten unserer Begriffe von Gegenständen überhaupt zugrunde liegen. Kant entwickelt auf diese Weise einen Begriff der Kategorien als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106), wie er es ausdrücken wird. Damit sollen es also die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sein, von denen nach meiner Rekonstruktion von A 64/B 89 gilt, was ich zu Beginn dieses Kapitels (3.1) bereits aufgezählt habe: i) Sie sind die Fähigkeiten und Akte, auf die unsere Reflexion bei der Bildung der Kategorien gerichtet ist. ii) Sie sind Fähigkeiten und Akte der Verbindung, durch die wir die Inhalte der Kategorien selbst hervorbringen. iii) Sie sind elementare, d. h. die allgemeinsten und einfachsten, Fähigkeiten und Akte der Repräsentation von Gegenständen. iv) Sie sind Fähigkeiten und Akte, die gemeinsam erforderlich sind, um die Aufgabe erfüllen zu können, Begriffe in Urteilen auf Gegenstände zu beziehen.
3.1.2 Die Rezeptivität des realen Gebrauchs: Die Gegebenheitsthese Der reale Gebrauch des Verstandes ist für unsere Beziehung auf Gegenstände verantwortlich (siehe 1.1.2, 3.1.1). Da wir Gegenstände nicht einfach durch Denken hervorbringen können, müssen sie uns über unsere Sinne gegeben werden (siehe 2.1). Der reale Gebrauch des Verstandes ist damit für die Beziehung auf Gegenstände verantwortlich, die uns nur sinnlich gegeben werden können. Neben einer aktiven Weise, sich zu Repräsentationen zu verhalten, durch die wir Repräsentationen von Gegenständen selbst hervorbringen (Verstand), ist unsere Erkenntnisfähigkeit auch durch eine passive Weise charakterisiert, sich zu Repräsentationen zu verhalten, durch die wir Repräsentationen aufgrund des Einflusses von Gegenständen empfangen (Sinnlichkeit) (siehe 1.2.1.ii).367
367 „Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen Vorstellungen selbst hervorzubringen oder die Spontaneität der Erkenntnis der Verstand.“ (A 51/B 75)
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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Im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ beginnt Kant seine Analyse des realen Gebrauchs des Verstandes nun zunächst mit einer Charakterisierung unserer Rezeptivität. (Ich setze die Nummerierung der Sätze der argumentativen Abschnitte des „Leitfadens“ an dieser Stelle fort.) Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien [27] Die allgemeine Logik abstrahiert, wie mehrmals schon gesagt worden, von allem Inhalt der Erkenntnis und erwartet, dass ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht. [28] Dagegen hat die transzendentale Logik ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würde. [29] Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen. (A 76 f./B 102)
In der Allgemeinen Logik werden Repräsentationen anhand ihrer logischen Form und in ihren Verhältnissen untereinander betrachtet, unter Absehung von ihrem Inhalt.368 Die logische Form von Repräsentationen, die in der Allgemeinen Logik behandelt wird, beruht dabei auf dem logischen Gebrauch des Verstandes, der in der Begriffsbildung die allgemeine Form von Begriffen und in der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände die wahrheitsfähige Form von Urteilen hervorbringt. Zunächst gilt von diesem logischen Gebrauch, was Kant in [27] über die Allgemeine Logik sagt, dass ihm nämlich „anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden [müssen], um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht.“ Durch den logischen Gebrauch des Verstandes bringen wir Begriffe als allgemeine Repräsentationen von Gegenständen hervor.369 Da der logische Gebrauch aber für die logische Form von Repräsentationen verantwortlich ist, die dann in der Allgemeinen Logik behandelt wird, gilt zumindest die Abhängigkeit von gegebenen Repräsentationen mittelbar auch für die Allgemeine Logik. Die dort praktizierte Formalisierung und Klassifikation von Repräsentationen, auf die Kant sich wie gesehen bei der symbolischen Darstellung der Tafel logischer Funktionen bezogen hat (siehe 2.3.6.a), ist offenbar auf Repräsentationen angewiesen, die einen Inhalt aufweisen, von dem dann abgesehen werden kann.
368 Wenn Kant in [27] sagt, es sei „mehrmals schon gesagt worden“, dass die Allgemeine Logik „von allem Inhalt der Erkenntnis [abstrahiert]“, dann bezieht er sich auf oben bereits besprochene Charakterisierungen zurück. Siehe in den Absätzen von Fn. 279 und 290. 369 Dass wir Begriffe durch den logischen Gebrauch des Verstandes bilden und nicht etwa durch die Allgemeine Logik, betont auch Longuenesse (1998b): 150.
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Kant beginnt in [27] also damit, den logischen Gebrauch des Verstandes als Analysis zu charakterisieren. Den Verstand logisch zu gebrauchen, d. h. logische Funktionen auszuüben, besteht allgemein darin, Repräsentationen in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen zu analysieren und auf dieser Grundlage Begriffen unterzuordnen (siehe 2.2.1).370 In der Begriffsbildung werden Begriffe auf diese Weise zuerst als allgemeine Repräsentationen hervorgebracht, im Urteil werden sie dann wahrheitsfähig auf Gegenstände bezogen. Die Beschreibung als Analysis macht dabei besonders deutlich, inwiefern der logische Gebrauch bereits Repräsentationen voraussetzt, die Einheit aufweisen. Um in Bezug auf Teilrepräsentationen analysiert werden zu können, müssen Repräsentationen nämlich bereits analysierbare Einheiten von Teilrepräsentationen bilden, z. B. muss die Anschauung eines Baumes eine Verbindung u. a. der intuitiven Merkmale eines Stammes, von Blättern und Ästen enthalten. In § 16 der B-Deduktion beschreibt Kant das so: Die analytische Einheit des Bewusstseins hängt allen gemeinsamen Begriffen als solchen an, z. B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgendworan angetroffen oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen.371 (B 133 Anm.)
Wir können Repräsentationen von Gegenständen also nur in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen analysieren, wie z. B. in Bezug auf die Teilrepräsentation roter Farbe, und sie auf dieser Grundlage unter Begriffe bringen, z. B. unter den Begriff eines roten Gegenstandes, wenn die zu analysierenden Repräsentationen bereits zu Einheiten von Teilrepräsentationen verbunden sind. Unter anderem diese der Analysis vorausgesetzte Einheit ist es, die durch den realen Gebrauch des Verstandes in der Synthesis der Anschauung erklärt werden soll.
370 Siehe an und in Fn. 184. 371 Siehe die Passage auf B 133, zu der B 133 f. Anm. die Anmerkung ist: „[...] nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.“ Die im Fließtext zitierte Anmerkung selbst geht so weiter: „Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben; folglich muss sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenngleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewusstseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.“ (B 133 f. Anm.)
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In [27] ist nun zunächst vom Akt der Analysis die Rede, „Vorstellungen [...] zuerst in Begriffe zu verwandeln“, d. h. von der Begriffsbildung im Sinne der Hervorbringung von Repräsentationen mit einer allgemeinen Form. In meiner Rekonstruktion der Begriffsbildung hat sich gezeigt, dass dieser Akt bei der Bildung empirischer Begriffe auf sinnliche Anschauungen angewiesen ist, die in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen analysiert werden, d. h. in Bezug auf geteilte intuitive Merkmale (siehe 2.2.3). Wie im vorhergenden Abschnitt bereits wiederholt übertragen sich die einzelnen Inhalte der auf diese Weise analysierten Anschauungen dabei auf die so gebildeten Begriffe, so dass dieselben Inhalte dort nun mit einer allgemeinen Form auftreten. Die Inhalte empirischer Begriffe verhalten sich damit derivativ zu den Inhalten, auf deren Grundlage sie gebildet werden. Das ist nun auch bei den Inhalten der Kategorien so, die ja ebenfalls ‚gegebene‘ Begriffe sein sollen, Begriffe also, deren Inhalte auf Bestimmungen zurückgehen, die wir nicht willentlich hervorbringen (‚machen‘) (siehe 1.1.1). Allerdings sind die Inhalte der Kategorien uns nicht a posteriori gegeben, d. h. durch Bestimmungen in der Erfahrung, wie die Inhalte empirischer Begriffe es sind, sondern vielmehr a priori durch Bestimmungen im Vermögen des Verstandes selbst.372 Die Bestimmungen unseres Verstandes, mit denen sie uns gegeben sind, sollen dabei die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sein (siehe 1.2.1, 3.1.1). Dass Inhalte gegeben werden müssen, „um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln“ ([27]), d. h. um sie zu allgemeinen Repräsentationen von Gegenständen zu machen, gilt so nicht nur von empirischen Begriffen. Kant hat mit der ‚Verwandlung‘ gegebener Repräsentationen in Begriffe, von der er in [27] spricht, also nicht nur empirische Begriffe im Sinn, sondern auch die Kategorien. Das ist auch nicht weiter überraschend, geht es ihm im dritten Abschnitt doch gerade um die Erklärung der a priori gegebenen Inhalte der Kategorien. Kant selbst macht das an dieser Stelle dadurch deutlich, dass er von den gegebenen Repräsentationen sagt, dass sie „anderwärts, woher es auch sei“ ([27]) gegeben werden, und das heißt eben: ob repräsentationale Inhalte uns nun mit der Erfahrung gegeben sind, wie bei empirischen Begriffen, oder aber mit dem Verstand, wie bei den Kategorien. Vor diesem Hintergrund grenzt Kant nun in [28] und [29] die Transzendentale Logik von der Allgemeinen Logik ab. In der Allgemeinen Logik sehen wir ganz und gar vom Inhalt unserer Repräsentationen ab (siehe 1.2, 2.3.6). Das heißt nun mindestens zweierlei: Die Allgemeine Logik
372 Siehe in Fn. 20.
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ist ein Kanon des Verstandes und der Vernunft, aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle (empirisch oder transzendental)373 (A 53/B 77); abstrahiert [...] von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun.374 (A 54/B 78)
Die Abstraktion von allem Inhalt ist also erstens die Abstraktion von der Verschiedenheit repräsentationaler Inhalte, so dass die Prinzipien der Allgemeinen Logik – vornehmlich das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – in Bezug auf alle Arten von Inhalt gelten, seien diese nun empirische Inhalte, wie z. B. der Inhalt des Begriffs des Baumes, oder transzendentale Inhalte, wie z. B. der Inhalt des Begriffs der Substanz.375 Die Allgemeine Logik handelt „nur von der Verstandesform [...], die den Vorstellungen verschafft werden kann, woher sie auch sonst entsprungen sein mögen“ (A 56/B 80), „sie mögen uranfänglich a priori in uns selbst oder nur empirisch gegeben sein“ (A 56/B 80). Die in der Allgemeinen Logik vorgenommene Abstraktion von allem Inhalt ist also376 zweitens auch die Abstraktion von der Verschiedenheit von Gegenständen, so dass die Prinzipien der Allgemeinen Logik in Bezug auf das Denken aller Arten von Gegenständen gelten, seien diese nun Gegenstände der Erfahrung (wie z. B. Bäume oder allgemein Substanzen) oder nicht (wie z. B. Gott). Nicht so die Transzendentale Logik, die eine Logik des Inhalts von Repräsentationen ist, d. h. ihrer Beziehung auf Gegenstände. Genauer gesagt ist sie eine Logik einer bestimmten Art von Inhalt, nämlich transzendentaler oder reiner Inhalte, die aus dem Verstand selbst stammen, wie z. B. der Inhalt des Begriffs der Substanz, und unter Absehung von empirischen Inhalten, wie z. B. vom Inhalt des Begriffs des Baumes. Kant entwirft so die Idee einer Logik, in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahierte; denn diejenige [Logik], welche bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes enthielte, würde alle diejenigen Erkenntnisse ausschließen, welche von empirischem Inhalte wären. Sie würde
373 Siehe auch A 131/B 170, wo Kant bemerkt, dass die „bloß formale Logik von allem Inhalte der Erkenntnis (ob sie rein oder empirisch sei) abstrahiert und sich bloß mit der Form des Denkens (der diskursiven Erkenntnis) überhaupt beschäftigt“. 374 „Die Wissenschaft, die vom Denken überhaupt ohne Ansehen des Objekts handelt, heißt die Logik.“ (PhilEnz, AA XXIX: 13) „Die allgemeine Logik handelt aber ohne Unterschied der Objekte.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 794) 375 Nach A 79/B 105 haben „reine Verstandesbegriffe“ einen „transzendentalen Inhalt“. 376 „Logik abstrahiert von allem Inhalt, also auch von der Sache selbst.“ (Refl 2324, 1780–89, AA XVI: 315)
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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auch auf den Ursprung unserer Erkenntnisse von Gegenständen gehen, sofern er nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann [...].377 (A 55 f./B 80)
Die Aufgabe einer Transzendentalen Logik ist damit die Untersuchung und Erklärung der repräsentationalen Inhalte, die auf Bestimmungen unseres Vermögens zu denken zurückgehen, d. h. auf grundlegende Fähigkeiten und Akte des Verstandes selbst. Diese Inhalte sind die Inhalte der Kategorien; die Bestimmungen des Verstandes, auf denen sie beruhen, so wird Kant zu zeigen versuchen, sind die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung im realen Gebrauch des Verstandes. Schließlich sollen die Kategorien Begriffe sein, wie er es in der Einleitung zur „Transzendentalen Logik“ beschrieben hat, „die sich a priori auf Gegenstände beziehen“, und zwar „bloß als Handlungen des reinen Denkens“ (A 57/B 81). Darüber hinaus, darauf weist Kant nun in [28] und [29] hin, ist die Transzendentale Logik im Unterschied zur Allgemeinen Logik auch auf eine bestimmte Art von Gegenständen gerichtet, und zwar auf die Gegenstände, die uns durch unsere Sinne gegeben werden können. Wenn die Transzendentale Logik nämlich vom Inhalt unserer Repräsentationen handelt, d. h. von ihrer Beziehung auf Gegenstände, und wenn uns Gegenstände nur über die Sinne gegeben werden (bzw. wenn wir uns nur durch sinnliche Anschauung auf sie beziehen können), dann muss die Transzendentale Logik auch von der Beziehung auf Gegenstände sinnlicher Anschauungen handeln. Die Kategorien oder Begriffe von Gegenständen überhaupt, um die es jetzt gehen soll, müssen damit zuletzt auf die einzelnen Gegenstände unserer Sinne beziehbar sein. In der Einleitung der Transzendentalen Logik sagt Kant das so: In einer transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserer Erkenntnis heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat [= die Kategorien]. Der Gebrauch dieser reinen Erkenntnis[se] aber beruht darauf, als ihrer Bedingung: dass uns Gegenstände in der Anschauung gegeben seien, worauf jene angewandt werden können. Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer Erkenntnis an Objekten und sie bleibt alsdann völlig leer. (A 62/B 87)
Die Transzendentale Logik hat denn auch, so Kant in [28], „ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben“. Bei uns Menschen sind es Raum und Zeit, fährt Kant in [29] fort, die „ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori“ enthalten. Raum und Zeit bilden laut der
377 Siehe auch A 131/B 170, wo Kant schreibt, dass „[d]ie transzendentale Logik [...] auf einen bestimmten Inhalt, nämlich bloß der reinen Erkenntnisse a priori, eingeschränkt ist“.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
„Transzendentalen Ästhetik“ die Form unserer Sinne oder die reinen Anschauungen, durch die allein uns Gegenstände gegeben werden können, und enthalten Stellen und Verhältnisse (‚ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit/reinen Anschauung a priori‘), die die Gegenstände unserer Sinne einnehmen und in denen sie stehen können (siehe 1.2.1.ii).378 Die Einzelgegenstände, die uns sinnlich gegeben werden und auf die wir die Kategorien in ihrem Gebrauch beziehen – d. h., wie Kant es in [28] sagt, ihr „Stoff“ –, sind damit Gegenstände einer bestimmten Art, nämlich eben räumliche und zeitliche Gegenstände.379 So muss ebenso wohl a priori ein Mannigfaltiges für jene Begriffe a priori [Begriffe von Objekten überhaupt] gegeben sein, und zwar [...] in der bloßen Form der Anschauung [...] (Raum und Zeit) (Br, Brief an Beck, 20. Januar 1792, AA XI: 316),
damit uns überhaupt Gegenstände gegeben werden können, die der Repräsentation durch die Kategorien entsprechen.380 Als Repräsentationen, die „ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori“ enthalten, so Kant in [29], sind Raum und Zeit nun auch „Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen“. Es sind sinnliche Eindrücke, die wir ‚von Gegenständen 378 Zum Raum: „die bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, [...] gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einer möglichen Erkenntnis.“ (B 137) Zur Zeit: „Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung.“ (A 138/B 177) 379 Das Problem der Transzendentalen Deduktion stellt sich vor diesem Hintergrund eben gerade in Bezug auf räumliche und zeitliche Gegenstände. Die Weise, wie Kant die Aufgabe des zweiten Schrittes der B-Deduktion versteht, nämlich die objektive Gültigkeit der Kategorien nachzuweisen in Bezug auf „Gegenstände, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen“ (B 159), macht das besonders deutlich. Wenn Kant in [28] sagt, dass die Transzendentale Logik ohne das ‚Mannigfaltige der Sinnlichkeit a priori‘, d. h. ohne räumliche und zeitliche Stellen und Verhältnisse, die Einzelgegenstände einnehmen und in denen sie stehen können, „ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würde“, dann verwendet er den Begriff der Leere (und des Inhalts) so wie in der oben bereits an Fn. 58 zitierten Beschreibung des Problems der Transzendentalen Deduktion, wo es hieß, es sei „zweifelhaft, ob ein solcher Begriff [eine Kategorie wie z. B. der Begriff der Ursache] nicht etwa gar leer sei und überall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe.“ (A 90/B 122) Siehe dazu Hoeppner (2021). 380 Die Passage lautet ausführlicher: „Weil [...] Begriffe, denen gar kein Objekt korrespondierend gegeben werden könnte, mithin ohne alles Objekt nicht einmal Begriffe sein würden (Gedanken, durch die ich gar nichts denke), so muss ebenso wohl a priori ein Mannigfaltiges für jene Begriffe a priori [Begriffe von Objekten überhaupt] gegeben sein, und zwar, weil es a priori gegeben ist, in einer Anschauung ohne Ding als Gegenstand, d. i. in der bloßen Form der Anschauung, die bloß subjektiv ist (Raum und Zeit)“ (Br, AA XI: 316).
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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empfangen‘, und durch die uns, wenn wir sie für sich betrachten, einfache sinnliche Qualitäten wie Farbe, Geräusch usw. gegeben werden;381 Raum und Zeit hingegen sind de facto die Weise, wie sinnliche Eindrücke uns gegeben werden, und bilden so auch die Systeme von Verhältnissen und Stellen, in und an denen wir auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke die Gegenstände unserer Sinne und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren (siehe 1.2.1.ii).382 Unsere Begriffe der Gegenstände, mit denen wir in unserer Erfahrung umgehen und auf die wir die Kategorien zuletzt beziehen müssen, sind vor diesem Hintergrund Begriffe räumlicher und zeitlicher Gegenstände mit wahrnehmbaren Eigenschaften. Dass Raum und Zeit die Form unserer Sinne bilden, durch die allein wir sinnliche Eindrücke von Gegenständen erhalten können, ‚affiziert‘ so auch unseren Begriff von Gegenständen, wie Kant es in [29] ausdrückt. Sinnliche Eindrücke und die Form sinnlicher Anschauung sind damit die zwei grundlegenden Hinsichten, mit denen Rezeptivität in unseren Begriff von Gegenständen eingeht. Im ersten Satz der B-Deduktion, in § 15, fasst Kant diese Hinsichten so zusammen: Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori in unserem Vorstellungsvermögen liegen, ohne doch etwas anderes als die Art zu sein, wie das Subjekt affiziert wird. (B 129)
Sinnliche Eindrücke, die das passiv ‚gegebene Mannigfaltige der Vorstellungen‘ in einer Anschauung ausmachen, sind nun in [29] als die ‚von Gegenständen empfangenen Vorstellungen‘ angesprochen. Aus ihnen besteht „das Mannigfaltige“ (B 145), von dem Kant in § 21 der B-Deduktion mit besonderer Deutlichkeit gesagt hat, dass es „für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse“ (B 145).383 Ich möchte diese Behauptung, die am Anfang von Kants Entwicklung des Begriffs der Synthesis steht, nun die Gegebenheitsthese nennen. Sie kann zunächst so formuliert werden: GEGEBENHEITSTHESE1: Die sinnliche Anschauung enthält ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke in sich, das unabhängig von repräsentationalen Akten durch den Einfluss von Gegenständen gegeben ist.
381 Siehe in Fn. 98. 382 Siehe an und in Fn. 105. Zum Raum z. B. siehe A 23/B 38: „damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer- und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muss die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen.“ 383 Siehe in Fn. 101.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Den Hintergrund dieser Behauptung bilden zwei eng verknüpfte Überlegungen. Die erste dieser Überlegungen geht vom Begriff des Gegenstandes einer Erkenntnis durch Begriffe aus (a), die zweite vom Begriff des Vermögens einer solchen Erkenntnis (b). a) Kant versteht die Erkenntnis durch Begriffe, deren Möglichkeit er im „Leitfaden“ untersucht, als die Bezugnahme von Begriffen auf von Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschiedene und unabhängige Gegenstände (siehe 2.2). Untersucht wird dabei, so drückt Kant das in § 19 der B-Deduktion aus, die Möglichkeit der Repräsentation einer Verbindung „im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts“ (B 142).384 Es geht darum, dass eine Repräsentation „auf etwas [...] von den Subjekten Unterschiedenes, d. i. auf ein Objekt bezogen wird.“ (Br, Brief an Beck, 1. Juli 1794, AA XI: 515) Die Analyse des Urteils, d. h. die Analyse des Aktes, durch den wir Begriffe in diesem Sinne auf Gegenstände beziehen, hat gezeigt, dass es zuletzt allein sinnliche Anschauungen sind, die sich unmittelbar, d. h. nicht wieder vermittelt über andere Repräsentationen, auf Gegenstände beziehen (siehe 2.3.1).385 Dann muss es aber auch etwas in den auf diese Weise unmittelbar auf Gegenstände bezogenen Anschauungen geben, das mit Gegenständen zu tun hat, die von unseren Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig sind. Sinnliche Eindrücke sollen nun genau diese Rolle spielen: sie sollen das sein, was in der Anschauung auf den Einfluss von Gegenständen zurückgeht386 und auf diese Weise im geforderten Sinne ein Verhältnis zu Gegenständen herstellt, die von unseren Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und ihrer Existenz nach unabhängig sind (siehe 1.2.1.ii).387 Ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke, das uns unabhängig von repräsentationalen Akten durch Gegenstände gegeben wird, ist so der Möglichkeit von Objektivität vorausgesetzt, wie Kant sie im „Leitfaden“ untersucht. Die Gegebenheit sinnlicher Eindrücke trägt dazu bei, verständlich zu machen, wie unsere Repräsentationen objektiverweise von Gegenständen handeln können.388 So gilt nämlich: „die 384 Siehe in Fn. 146. 385 Siehe [10], wo Kant die Anschauungsthese einführt, indem er bemerkt, dass „keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als bloß die Anschauung“. Siehe in Fn. 365. 386 Siehe an und in Fn. 99. „Das, wodurch die Dinge gegeben sind, ist Empfindung“ (Refl 4629, 1772–75, AA XVII: 614). 387 Siehe an und in Fn. 116. 388 Dafür braucht es nämlich eine ‚Führung von außerhalb‘ repräsentationaler Akte, die durch sinnliche Eindrücke geleistet wird. Siehe Sellars (1967): 15 (§ 21: „a manifold of representations characterized by ‚receptivity‘ [...] as providing the [...] constraining element of perceptual experience“; § 22: „its existence is postulated on [...] transcendental grounds [...] after reflection on the concept of human knowledge as based on, though not constituted by, the
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Erkenntnisse sind nur möglich, sofern die Gegenstände einen Einfluss auf unsere Sinne machen“ (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 235). b) Die Beobachtung, von der Kant im „Leitfaden“ (in [1] bis [5]) ausgegangen war, lautete: Wir sind nicht dazu in der Lage, allein durch Denken Anschauungen hervorzubringen; wir haben Anschauungen von Gegenständen nur dadurch, dass unseren Sinnen Gegenstände gegeben werden (siehe 2.1).389 In sinnlicher Anschauung verhalten wir uns also zumindest teilweise passiv zu den Gegenständen, von denen wir Anschauungen haben. Vor diesem Hintergrund muss es aber auch etwas in empirischen Anschauungen geben, das unabhängig von der Ausübung repräsentationaler Akte ist. So ist insbesondere der Umstand, welche wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen wir durch Anschauungen repräsentieren, als unabhängig davon anzusehen, was wir über diese Gegenstände denken. Dass wir durch empirische Anschauungen die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die wir repräsentieren, ist vielmehr durch Bestimmungen zu erklären, die uns in einem genauer zu beschreibenden Sinne durch Gegenstände der Erfahrung gegeben sind. Die in Anschauungen enthaltenen Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften sind durch Gegenstände gegebene Bestimmungen unserer Erfahrung. Es handelt sich hierbei um die ‚a posteriori gegebenen‘ Bestimmungen, auf denen die Inhalte empirischer Begriffe beruhen.390 Die Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften sind damit weder Bestimmungen, die wir willentlich hervorbringen (‚machen‘), noch ‚a priori gegebene‘ Bestimmungen, die auf der Natur unseres Vermögens zu denken beruhen. Sie sind vielmehr genau das an der Erfahrung von Gegenständen, was auf ihre Gegenstände zurückgeht. So ist denn auch die Repräsentation bestimmter wahrnehmbarer Eigenschaften etwas, das eine sinnliche Anschauung von anderen unterscheidet: dass eine Anschauung bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften repräsentiert und nicht andere, kann dann nämlich nicht mehr damit erklärt werden, dass die Teilrepräsentationen, durch die sie das tut, überhaupt zu einer Anschauung gehören; es muss
impact of independent reality“), 21 („the manifold is an independent factor which has a strong voice in the outcome“; „it can only guide ‚from without‘ [...] conceptual activity“), 34. Siehe Haag (2007): 33, 36, 94 f., 156–58. Die von sinnlichen Eindrücken geleistete Führung von außen bestimmt darüber, dass wir in sinnlichen Anschauungen die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die wir repräsentieren (und nicht andere). Siehe dazu nun Überlegung b). 389 Siehe [2], wo Kant bemerkt hat, dass „wir unabhängig von der Sinnlichkeit keiner Anschauung teilhaftig werden [können].“ Siehe in Fn. 175. 390 Siehe in Fn. 13 und 20.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
vielmehr auf den Einfluss der Gegenstände der Anschauung zurückzuführen sein, die, so Kant, sinnliche Eindrücke in uns hervorbringen. Denn „Empfindungen [...] sind es, wodurch etwas Bestimmtes gegeben wird“ (Refl 4636, 1771–76, AA XVII: 620). Das, was uns in der Anschauung durch Gegenstände gegeben wird, so behauptet Kant also mit der Gegebenheitsthese, ist ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke, in [29] beschrieben als die ‚von Gegenständen empfangenen Vorstellungen‘. Sinnliche Eindrücke sollen dabei genau das in Anschauungen sein, zu dem wir uns passiv verhalten, das uns also unabhängig von der Ausübung repräsentationaler Akte gegeben wird; sie sollen damit auch das sein, was in Anschauungen auf den Einfluss von Gegenständen zurückgeht; und sie sollen vor diesem Hintergrund schließlich das sein, was erklärt, dass wir in Anschauungen die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die wir repräsentieren. Die Gegebenheitsthese kann damit ausführlicher so formuliert werden: GEGEBENHEITSTHESE2: Die sinnliche Anschauung enthält ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke in sich, das unabhängig von repräsentationalen Akten durch den Einfluss von Gegenständen gegeben und zuletzt dafür verantwortlich ist, dass eine sinnliche Anschauung die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentiert, die sie repräsentiert.
In § 16 der B-Deduktion begründet nun auch Kant die Gegebenheitsthese vor dem Hintergrund, dass uns Gegenstände, da wir sie ja nicht einfach durch Denken hervorbringen können, sinnlich gegeben werden müssen (siehe 2.1). Er schreibt dort: durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewusstsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewusstsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muss in den Sinnen die Anschauung suchen.391 (B 135)
Unser Denken ist auf die Gegebenheit von Gegenständen in der Anschauung angewiesen, da es sie nicht, wie etwa ein möglicher intuitiver Verstand, aus sich selbst hervorbringen kann. Damit ist unser Denken nun aber auch und gerade auf die Gegebenheit von Bestimmungen angewiesen, die Gegenstände unabhängig davon aufweisen, dass wir sie denken, auf Bestimmungen also, die uns
391 Kant fährt wenig später in diesem Sinne fort, dass für uns durch „reine Apperzeption in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist“ (B 138), während „[d]erjenige Verstand, durch dessen Selbstbewusstsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand [ist], durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten“ (B 138 f.). Siehe Reich (2001): 32, 37 f.
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
193
mit der Erfahrung von Gegenständen gegeben sind. Da wir Gegenstände nicht dadurch hervorbringen können, dass wir sie denken, so führt Kant das aus, ist unser Denken als solches, d. h. unabhängig von der Erfahrung von Gegenständen, völlig einfach und leer. Als solches ist es aber eben gerade auf die Gegebenheit mannigfaltiger Bestimmungen in der Erfahrung angewiesen, um überhaupt etwas denken zu können. Vor diesem Hintergrund ist unsere Fähigkeit der Repräsentation bestimmter wahrnehmbarer Eigenschaften von einem Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke abhängig, das uns unabhängig von repräsentationalen Akten und allein durch den Einfluss von Gegenständen in der Anschauung gegeben wird. Wie Kant später in der Kritik bemerken wird, hat unser Denken die allgemeine Form Ich denke (das Mannigfaltige in einer Vorstellung).
(A 354)
Hier steht der Akt des Denkens einem Inhalt gegenüber, der in diesem Akt gedacht wird. Ohne einen solchen Inhalt wäre der an sich einfache Akt des Denkens völlig leer, d. h., er wäre bloße logische Form, die immer dieselbe ist.392 Das ist nun bereits darin enthalten, dass unser Denken in der Hervorbringung und Verwendung von Begriffen seinem Inhalt nach, d. h. in seiner bestimmten Beziehung auf Gegenstände, ganz grundsätzlich von sinnlichen Anschauungen abhängig ist. Die Bestimmtheit unseres Denkens, die in ihrer Beziehung auf Gegenstände auf der Bestimmtheit von Anschauungen beruht, wird mit der Gegebenheitsthese nun wiederum auf ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke in der Anschauung zurückgeführt, von dem gelten soll, dass es uns unabhängig von repräsentationalen Akten und allein durch den Einfluss von Gegenständen gegeben wird. Dieses Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke, so die Idee, ist zuletzt dafür verantwortlich, dass wir in der Anschauung bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften repräsentieren, dass unsere sinnlichen Anschauungen also genau die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die sie repräsentieren, und keine anderen. Es ist eine der Aufgaben von Kants Begriff der Synthesis, genauer verständlich zu machen, wie wir Gegenstände der Sinne und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke durch sinnliche Anschauungen repräsentieren. Ich wende mich nun Kants Einführung und Entwicklung dieses Begriffs zu.
392 „Das Ich der Reflexion [ent]hält kein Mannigfaltiges in sich und ist in allen Urteilen immer ein und dasselbe, weil es bloß dies Förmliche des Bewusstseins [...] enthält.“ (Anth, AA VII: 141 f.)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
3.1.3 Die Spontaneität des realen Gebrauchs: Die Synthesisthese Der reale Gebrauch des Verstandes ist für unsere Beziehung auf Gegenstände verantwortlich (siehe 1.1.2, 3.1.1). Da wir Gegenstände nun nicht selbst durch Denken hervorbringen können, müssen sie uns vielmehr über die Sinne gegeben werden. Der reale Gebrauch des Verstandes ist dann der Gebrauch, der für unsere Beziehung auf die Gegenstände sinnlicher Anschauungen verantwortlich ist. Nachdem Kant zu Beginn des dritten Abschnitts des „Leitfadens“, in [27] bis [29], die Rezeptivität des realen Gebrauchs des Verstandes beschrieben hat, die durch die Gegebenheit eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke in einer bestimmten Form charakterisiert ist, wendet er sich ausführlicher der Spontaneität dieses Gebrauchs in der Synthesis der Anschauung zu: [30] Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, dass dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. [31] Diese Handlung nenne ich Synthesis. [32] Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. [33] Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit). [34] Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein und es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen. [35] Die Synthesis eines Mannigfaltigen aber (es sei empirisch oder a priori gegeben) bringt zuerst eine Erkenntnis hervor, die zwar anfänglich noch roh und verworren sein kann und also der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir achtzugeben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen. [36] Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele [in Kants Handexemplar: einer Funktion des Verstandes],[393] ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind. (A 77 f./B 103)
Mit den Sätzen [30] bis [36] führt Kant den Begriff der Synthesis in die Kritik ein. Ich will hier zunächst ein erstes Verständnis der Aufgabe erarbeiten, die dieser Akt erfüllen soll. In [30] beschreibt Kant diese Aufgabe so, dass es in der Synthesis darum geht, aus einem ‚Mannigfaltigen‘ von Repräsentationen „eine Erkenntnis zu machen“. In den Worten von [32] ist es die Aufgabe der Synthesis, die ‚Mannigfaltigkeit verschiedener Vorstellungen‘ „in einer Erkenntnis zu begreifen“. Aus [34] geht hervor, dass „Begriffe dem Inhalte nach“ der Synthesis entspringen (und nicht der Analysis). In [35] sagt Kant über die Synthesis, dass sie „zuerst eine Erkenntnis hervor[bringt]“, die „Elemente [...] zu einem gewis[393] Siehe HE, A 78, AA XXIII: 45.
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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sen Inhalte vereinigt“ und so den „ersten Ursprung unserer Erkenntnis“ bildet. Und in [36] bemerkt Kant schließlich, dass wir ohne die Synthesis „überall gar keine Erkenntnis haben würden“. Die Synthesis soll also dafür verantwortlich sein, so lässt sich das zusammenfassen, dass wir überhaupt Erkenntnisse haben, da es der Akt der Synthesis ist, durch den unsere Begriffe und Erkenntnisse überhaupt erst einen Inhalt erhalten. Da Kant unter einer Erkenntnis die „Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt“ (B 137) versteht,394 und unter dem „Inhalt der Erkenntnis“ (A 58/ B 83) die „Beziehung auf ihr Objekt“ (A 58/B 83),395 laufen die genannten Beschreibungen letztlich auf dasselbe hinaus. So ist es die Aufgabe der Synthesis, Repräsentationen dadurch zu Erkenntnissen zu machen, dass sie ihre Inhalte hervorbringt, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände. Der Inhalt einer Erkenntnis oder Repräsentation, z. B. eines Urteils oder eines Begriffs, ist nämlich das, was sie zu der Erkenntnis oder Repräsentation macht, die sie ist, während sie ihre wahrheitsfähige oder allgemeine Form mit anderen Erkenntnissen oder Repräsentationen teilt (siehe 1.2.1). Zum Beispiel ist das Urteil ‚Körper sind teilbar‘ dadurch das wahrheitsfähige Urteil, das es ist, dass es sich durch die Begriffe des Körpers und der Teilbarkeit auf Körper als teilbare Gegenstände bezieht; und der Begriff des Baumes ist dadurch der allgemeine Begriff, der er ist, dass er von Bäumen handelt. Vor diesem Hintergrund bringen wir durch den Akt der Synthesis Erkenntnisse hervor, indem wir ihre Inhalte hervorbringen. Die Synthesis soll dabei, wie es der Name schon sagt (von altgr. σύνθεσις: Zusammensetzung, Verknüpfung), in der Hervorbringung von Einheit bestehen. Nach [30] wird in der Synthesis aus mannigfaltigen Repräsentationen ‚eine Erkenntnis gemacht‘. In [32] sagt Kant, dass wir durch die Synthesis mannigfaltige Repräsentationen ‚in einer Erkenntnis begreifen‘. Und in [35] beschreibt er, wie die Synthesis dadurch ‚zuerst eine Erkenntnis hervorbringt‘, dass sie die „Elemente [...] zu einem gewissen Inhalte vereinigt“.396 Das Mannigfaltige von Repräsentationen, dessen Einheit durch den Akt der Synthesis hervorgebracht wird, ist dabei das Mannigfaltige der Anschauung, sei es nun das Mannigfaltige der empirischen oder der reinen Anschauung, sei es also das durch Gegenstände gegebene Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke oder das mit der Form der Anschauung gegebene Mannigfaltige (bei uns:) räumlicher und zeitlicher Stel-
394 Siehe in Fn. 130. 395 Siehe an und in Fn. 3. 396 Meine Hervorhebung. – Dass Kant die Synthesis der Anschauung einführt, um die Inhalte unserer Begriffe zu erklären, bemerkt auch Young (1994): 347 („Kant seeks to explicate [...] the representational content of our concepts“), 350 f., 354.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
len und Verhältnisse. So bezieht Kant sich mit „dieses Mannigfaltige“ in [30] sowohl auf ‚das Mannigfaltige der reinen Anschauung a priori‘ als auch auf die ‚von Gegenständen empfangenen Vorstellungen‘ (das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke) in [29] zurück; in [35] sagt er entsprechend, dass das Mannigfaltige der Synthesis „empirisch oder a priori gegeben“ sein könne. Der in [30] bis [35] eingeführte Akt der Synthesis ist also dadurch für den Inhalt unserer Erkenntnisse und Repräsentationen verantwortlich, d. h. für ihre Beziehung auf Gegenstände, dass er die Einheit der Anschauung hervorbringt. So ist die „Einheit der Anschauung“ das, wie Kant in der B-Deduktion erläutert hat, „dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt“ (B 144 Anm.). Sie ist also, wie Kant es in der A-Deduktion beschrieben hat, „diejenige Einheit [...], die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muss, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht.“ (A 109) Es ist die Einheit sinnlicher Anschauung, durch die sinnliche Anschauung sich auf ihren Gegenstand bezieht, durch die uns also überhaupt erst einzelne Gegenstände der sinnlichen Anschauung gegeben werden (siehe 1.2.1.ii). So ist es z. B. die Einheit der Anschauung eines Baumes, u. a. die Einheit der intuitiven Merkmale eines Stammes, von Ästen und Blättern, die macht, dass die Anschauung sich auf diesen Baum bezieht, dass dem Subjekt, das die Anschauung hat, also sinnlich ein einzelner Baum gegeben ist. Da zudem der Inhalt, den Begriffe und Urteile aufweisen, ihre Beziehung auf Gegenstände also, ganz grundsätzlich von der Beziehung auf Gegenstände abhängig ist, die nur sinnliche Anschauungen haben, erklärt der Akt der Synthesis mit der Einheit der Anschauung auch den ursprünglichen Inhalt unserer Repräsentationen und Erkenntnisse. Ich will diese Behauptung nun die Synthesisthese nennen. Sie kann zunächst so formuliert werden: SYNTHESISTHESE1: Die Einheit sinnlicher Anschauung, durch die eine Anschauung sich auf ihren Gegenstand bezieht, und damit auch die ursprünglichen Inhalte von Begriffen, beruhen auf einem Akt der Synthesis der Anschauung.
Auch den Hintergrund der Synthesisthese bilden vornehmlich zwei Überlegungen. Die erste betrifft die Unterscheidung zwischen dem, was uns in der Repräsentation von Gegenständen durch Gegenstände gegeben werden kann, und dem, was wir selbst durch repräsentationale Akte hervorbringen müssen (a); die zweite betrifft das Verhältnis von Synthesis und Analysis, in dem die Synthesis der Analysis vorausgesetzt ist (b). a) In [30], bei der Einführung des Begriffs der Synthesis, bemerkt Kant, dass „die Spontaneität unseres Denkens“ eine Synthesis „erfordert“. Die Spontaneität unseres Denkens besteht darin, dass wir selbst Repräsentationen hervorbringen
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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können (siehe 1.2.1.ii, 2.1).397 So bringen wir durch die Ausübung von Akten des Verstandes in seinem logischen Gebrauch allgemeine Begriffe und wahrheitsfähige Urteile hervor. In der Synthesisthese geht es nun aber um die Spontaneität des Verstandes in seinem realen Gebrauch. Hier sollen wir mit dem Verstand durch die Ausübung von Akten der Synthesis und auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke die Einheit der Anschauung hervorbringen, durch die sinnliche Anschauungen überhaupt erst einzelne Gegenstände der Sinne repräsentieren. Während die Gegebenheitsthese das betraf, was an sinnlichen Anschauungen durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht wird, geht es in der Synthesisthese nun darum, was an sinnlichen Anschauungen wir selbst durch die Ausübung repräsentationaler Akte hervorbringen. (Alles an Anschauungen hervorbringen zu können hieße, wie oben – in 2.1 – beschrieben, über einen intuitiven Verstand zu verfügen, durch den intellektuelle Anschauungen und damit auch ihre Gegenstände hervorgebracht werden könnten.398) Was durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht wird sind sinnliche Eindrücke, die zuletzt dafür verantwortlich sind, dass wir durch Anschauungen die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren, die wir repräsentieren (und nicht andere), wie z. B. die braune Farbe eines Stammes oder die grüne Farbe von Blättern (siehe 3.1.2). Was wir durch die Ausübung repräsentationaler Akte hingegen selbst hervorbringen und hervorbringen müssen, so Kant, ist die (nicht-wahrnehmbare) Einheit der Anschauung, durch die Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften überhaupt erst in der Repräsentation eines Gegenstandes miteinander zusammenhängen, wie z. B. die braune Farbe des Stammes und die grüne Farbe der Blätter in der Repräsentation eines Baumes zusammenhängen (oder aber die Repräsentationen verschiedener Braunschattierungen in der Repräsentation des Stammes usw.): Bei der Anschauung werden mir eine Menge Vorstellungen gegeben, hier habe ich bloße Rezeptivität, die Verbindung muss sich doch ein jeder durch seinen Verstand machen und dies ist eben die Synthesis, die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung in [der Vorstellung von] einem Objekt [...].399 (V-MP/Schön, AA XXVIII: 482)
397 Siehe an und in Fn. 173. 398 Siehe an und in Fn. 391. Vgl. in Fn. 174. 399 „Die Sinne können uns wohl Empfindungen, folglich das Mannigfaltige geben; aber nur der Verstand allein kann es in einer Vorstellung vereinigen und erst durch diese Vereinigung erhalte ich den Begriff vom Objekt.“ (V-MP/Schön, AA XXVIII: 482)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Es sollen Akte der Verbindung erforderlich sein, um auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke überhaupt wahrnehmbare Eigenschaften eines Gegenstandes repräsentieren zu können. Für sich betrachtet, d. h. unabhängig von der Einheit der sinnlichen Anschauung, zu der sie gehören, sind sinnliche Eindrücke oder Empfindungen nämlich bloß subjektive Repräsentationen, die nicht mehr ausdrücken als einen Zustand des repräsentierenden Subjekts (siehe 1.2.1.ii). So gilt von den „Empfindungen der Farben, Töne und Wärme“, dass sie, „weil sie bloß Empfindungen und nicht Anschauungen sind, an sich kein Objekt [...] erkennen lassen“ (B 44). Erst sinnliche Anschauungen, die als solche die Einheit der Anschauung aufweisen, sind im Unterschied dazu objektive Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne, die von etwas handeln, das von unseren repräsentationalen Zuständen und Akten verschieden und unabhängig ist.400 Damit sind aber auch sinnliche Eindrücke, die einfache sinnliche Qualitäten wie Farbe, Geräusch, Gewicht usw. enthalten,401 nur dadurch Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen, dass sie zu sinnlichen Anschauungen von Gegenständen gehören, zu Repräsentationen also, die die Einheit der Anschauung aufweisen. (Wie bereits angedeutet gilt dasselbe auch für die formalen – bei uns: räumlichen und zeitlichen – Eigenschaften in der reinen Anschauung.) Die Verbindung, die erforderlich ist, um nun auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke durch Anschauungen wahrnehmbare Eigenschaften eines Gegenstandes zu repräsentieren, so Kant, kann uns nicht gegeben, kann also durch ein bloß sinnliches Verhältnis zu Gegenständen allein nicht erklärt werden, sondern muss vielmehr von uns selbst durch die Ausübung repräsentationaler Akte hervorgebracht werden: Meinem Urteile nach kommt alles darauf an: dass [...] die Zusammensetzung nicht vermittels der bloßen Anschauung und deren Apprehension, sondern nur durch die selbsttätige Verbindung des Mannigfaltigen in der Anschauung gegeben [...] werden kann [...]. Nach dem gemeinen Begriffe kommt die Vorstellung des Zusammengesetzten als solchen mit unter den Vorstellungen des Mannigfaltigen, welches apprehendiert wird, als gegeben vor, und sie gehört sonach nicht, wie es doch sein muss, gänzlich zur Spontaneität [...]. (Br, Brief an Beck, 16. Oktober 1792, AA XI: 376)
400 Eine Empfindung ist eine Repräsentation, „die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes, bezieht“ (A 320/B 376). Eine Anschauung hingegen ist eine „objektive Perzeption“ bzw. „Erkenntnis (cognitio)“ und „bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln“ (A 320/B 376 f.). Siehe an und in Fn. 75 und 115. Zur Unterscheidung von sinnlichen Eindrücken und Anschauungen siehe Sellars (1967): 9–15; Haag (2007): 152, 154. 401 Siehe in Fn. 98.
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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Dem „gemeinen Begriffe“, der alltäglichen Auffassung zufolge, so Kant hier, ist die Repräsentation der Verbindung oder Zusammensetzung eine, die mit zu den mannigfaltigen Repräsentationen gehört, die über die Sinne gegeben werden. Repräsentationen von Gegenständen werden uns nach dieser Auffassung also bereits durch die Sinne mitsamt der Einheit gegeben, die sie zu Repräsentationen von Gegenständen macht. Die Repräsentationen der braunen Farbe des Stammes und der grünen Farbe der Blätter z. B. werden uns demnach bereits sinnlich als in der Einheit der Repräsentation eines Baumes verbunden gegeben. In einer Anmerkung der A-Deduktion beschreibt und kritisiert Kant eine solche Auffassung wie folgt: [M]an glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben [der Eindrücke], erfordert wird. (A 120 Anm.)
Im Unterschied zur alltäglichen, überlieferten Auffassung glaubt Kant nun, dass die Einheit von Anschauungen, d. h. die Einheit der ‚Bilder von Gegenständen‘,402 wie er sie in der Anmerkung nennt, „eine Funktion der Synthesis [der Eindrücke]“ voraussetzt. Oben habe ich bereits erwähnt, dass Kant die Repräsentation der Verbindung als die einzige Repräsentation ansieht, die uns nicht durch den Einfluss von Gegenständen auf unsere Sinne gegeben werden kann (siehe 1.2.1.ii). In den Fortschritten sagt er das so: Alle Vorstellungen, die eine Erfahrung ausmachen, können zur Sinnlichkeit gezählt werden, eine einzige ausgenommen, d. i. die des Zusammengesetzten als eines solchen.403 (AA XX: 275)
Zu Beginn der B-Deduktion führt Kant diesen Gedanken wie folgt aus: Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist [...]. Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch die Sinne in uns kommen [...]; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft und da man diese zum Unterschiede von der Sinnlichkeit Verstand nennen muss, so ist alle Verbindung [...] eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, dass wir uns nichts als im Objekt verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist. (B 129 f.)
402 Zu Anschauungen als Bildern oder Abbildern von Gegenständen siehe in Fn. 228. 403 Für ein ausführlicheres Zitat siehe in Fn. 97.
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Die Begründung, mit der Kant von der alltäglichen Auffassung abweicht, der zufolge uns auch die Repräsentation der Verbindung sinnlich gegeben ist, die Begründung seiner Auffassung also, dass ‚die Repräsentation der Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben werden kann‘, lautet hier: „dass wir uns nichts als im Objekt verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben“ (B 130). Eine Verbindung mannigfaltiger Repräsentationen zu repräsentieren heißt demnach, so die Überlegung, diese Verbindung selbst vorzunehmen. Die Repräsentation einer Verbindung ist nichts anderes als der Akt dieser Verbindung selbst. Wenn ich z. B. die Repräsentationen der braunen Farbe des Stammes und der grünen Farbe der Blätter als miteinander verbunden repräsentiere, dann tue ich das eben genau dadurch, dass ich ihre Repräsentationen miteinander verbinde. Die Repräsentation einer Verbindung von Repräsentationen ist demnach zu analysieren als der Akt der Verbindung dieser Repräsentationen. Um eine Verbindung zu repräsentieren, müssen wir sie also selbst vornehmen: „wir müssen zusammensetzen, wenn wir uns etwas als zusammengesetzt vorstellen sollen“ (Br, Brief an Beck, 1. Juli 1794, AA XI: 515). Wenn es nun darüber hinaus so ist, dass eine solche Verbindung uns nicht auch durch den Einfluss von Gegenständen auf die Sinne gegeben ist oder gegeben werden kann,404 dann gilt, dass wir sie selbst hervorbringen müssen. „Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann“, bemerkt Kant in den Fortschritten, werden „wir sie selbst machen müssen“ (AA XX: 275 f.).405 Das, was uns durch den Einfluss von Gegenständen über die Sinne gegeben wird, argumentiert Kant, findet sich auch in der Anschauung wieder, in Repräsentationen wahrnehmbarer Charakteristika nämlich. So treten die durch Gegenstände gegebenen sinnlichen Eindrücke innerhalb von Anschauungen, wenn sie in diese aufgenommen sind, eben gerade als die Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften auf. Der Verbindung in der Anschauung entspricht hingegen kein wahrnehmbares Charakteristikum in diesem Sinne. Die Verbindung des Mannigfaltigen, so Kants Beobachtung, nehmen wir nicht wahr. 404 So Kant in der eben schon zitierten Passage: „die Verbindung [...] eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch die Sinne in uns kommen“ (B 129). Und nach A 120 ist eine Verbindung mannigfaltiger Repräsentationen der Sinne erforderlich, „welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.“ Vgl. V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 984: „Alle Gegenstände [...] lassen sich allerdings wahrnehmen, nie aber deren Zusammensetzung. Diese muss der Verstand zur Vorstellung hinzutun und sie ist also allein ein Actus des Verstandes, nämlich die Zusammensetzung, um sich das Zusammengesetzte dahin vorzustellen damit es eins werde.“ 405 Für ein ausführlicheres Zitat siehe in Fn. 97. – Die gerade zitierte Briefstelle lautet ausführlicher: „Die Zusammensetzung können wir nicht als gegeben wahrnehmen, sondern wir müssen sie selbst machen: wir müssen zusammensetzen, wenn wir uns etwas als zusammengesetzt vorstellen sollen“ (Br, Brief an Beck, 1. Juli 1794, AA XI: 515).
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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„Das Zusammengesetzte nämlich kann, als ein solches, nicht angeschaut werden“ (Br, Brief an Tieftrunk, 11. Dezember 1797, AA XII: 222). Dann ist die Verbindung uns aber auch nicht durch den Einfluss von Gegenständen auf unsere Sinne gegeben, da sie uns in diesem Fall nämlich sinnlich zugänglich wäre. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Einheit der Anschauung also selbst durch Akte der Verbindung hervorbringen. „[D]as Bewusstsein des Zusammensetzens [...] muss vorhergehen, um das mannigfaltige der Anschauung Gegebene sich in einem Bewusstsein verbunden, d. i. das Objekt sich als etwas Zusammengesetztes zu denken“ (Br, AA XII: 222). Wenn es also so ist, dass eine Verbindung zu repräsentieren heißt, sie selbst vorzunehmen, und wenn es zudem so ist, dass uns die Verbindung in der Anschauung nicht auch sinnlich, d. h. als wahrnehmbare Eigenschaft, gegeben ist oder gegeben werden kann, dann bringen wir die Einheit der Anschauung selbst durch Akte der Verbindung hervor. b) In [27] hat Kant die Begriffsbildung bereits als einen Akt der Analysis beschrieben, der ‚gegebene Vorstellungen‘ erfordert, „um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln, welches analytisch zugeht.“ Wie gesehen bezog er sich dabei auf ‚gegebene‘ Begriffe ganz allgemein, seien diese nun empirische Begriffe oder die Kategorien. In [34] und [35] nimmt er diese Beschreibung nun wieder auf. In [34] bemerkt er erneut: „[v]or aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein“, und fügt hinzu: „es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen.“ Durch den Akt der Analysis bringen wir Begriffe ihrer Form nach hervor, d. h. als allgemeine Repräsentationen, als Repräsentationen also, die von verschiedenen Gegenständen gelten können. Das tun wir dadurch, dass wir verschiedene Anschauungen von Gegenständen in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen analysieren, um sie auf dieser Grundlage unter einen Begriff zu bringen (siehe 2.2.1, 2.2.3).406 Das setzt wie schon gesagt voraus, dass die analysierten Repräsentationen bereits analysierbare Einheiten verschiedener Teilrepräsentationen bilden. Wie Kant in der B-Deduktion anmerkt: Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muss sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenngleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewusstseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.407 (B 133 f. Anm.)
Im Akt der Begriffsbildung übertragen sich die Inhalte der durch Analyse herausgehobenen Teilrepräsentationen, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, dann auf
406 Siehe an und in Fn. 184. 407 Für den Beginn dieser Anmerkung siehe an Fn. 371.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
die so gebildeten Begriffe (siehe 1.2.1, 3.1.1). Da sich die Inhalte der auf diese Weise gebildeten Begriffe in diesem Sinne derivativ zu den Inhalten der Repräsentationen verhalten, auf deren Grundlage sie gebildet werden, können die Inhalte von Begriffen ‚nicht analytisch entspringen‘, wie Kant es in [34] ausdrückt. Die Inhalte von Begriffen müssen vielmehr einen anderen Ursprung haben, einen Ursprung, der unabhängig von Akten der Analysis und diesen vorausgesetzt ist. Es muss also bereits inhaltlich bestimmte Repräsentationen geben, deren Inhalte sich dann im Zuge der Begriffsbildung auf allgemeine Begriffe übertragen und dort eine allgemeine Form erhalten können.408 Es ist die Aufgabe des Begriffs der Synthesis der Anschauung, diese Repräsentationen und ihre Inhalte zu erklären. Das sagt Kant nun wie gesagt in [35]. Die „Synthesis eines Mannigfaltigen“, so behauptet er dort, „bringt zuerst eine Erkenntnis hervor“; die Synthesis ist das, „was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“; und dadurch bildet sie „den ersten Ursprung unserer Erkenntnis“. Durch den Akt der Synthesis, so Kant, bringen wir unsere Erkenntnisse ihrem Inhalt nach, d. h. in ihrer Beziehung auf Gegenstände hervor.409 In [32] charakterisiert Kant die Synthesis nun wie folgt: Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.
Zunächst ist auffällig, dass diese Einführung und Charakterisierung des Begriffs der Synthesis eng mit der im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ vorgenommenen Einführung und Charakterisierung des Begriffs der Funktion verwandt ist (siehe 2.2.1, 2.2.2). So hat Kant den Begriff der Funktion in [7] wie folgt charakterisiert: Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.
Zunächst weist Kant durch die Verwendung genau desselben Satzanfanges – ‚Ich verstehe aber unter...‘ – auf die parallele Rolle hin, die diese beiden Begriffe in der Metaphysischen Deduktion spielen. Der Begriff der Funktion, wie er in [7] charakterisiert wird, hat sich oben als der Begriff einer logischen Funktion herausgestellt, die in Akten der Analysis (in Begriffsbildung und Urteil) ausgeübt wird. Er ist der Begriff desjenigen Aktes des Verstandes, durch den dieses Vermögen in seinem logischen Gebrauch die logische Form von Repräsentationen hervorbringt,
408 Siehe an und in Fn. 82. 409 Siehe an und in Fn. 3.
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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d. h. die Allgemeinheit von Begriffen und die Wahrheitsfähigkeit von Urteilen. Er ist der zentrale Begriff des ersten Schrittes der Metaphysischen Deduktion. Die parallele Konstruktion der Einführung und Charakterisierung des Begriffs der Synthesis legt nun nahe, dass die Synthesis die dazu parallele Rolle im realen Gebrauch des Verstandes spielt. Der Begriff der Synthesis ist dann der Begriff einer realen Funktion, die in Akten der Synthesis der Anschauung ausgeübt wird.410 Er ist der Begriff desjenigen Aktes des Verstandes, durch den dieses Vermögen in seinem realen Gebrauch den Inhalt von Repräsentationen hervorbringt, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände. Er ist, so vermittelt Kant hier, der zentrale Begriff des nun folgenden, zweiten Schrittes der Metaphysischen Deduktion. Darüber hinaus weisen auch die genaueren Charakterisierungen beider Akte, d. h. die Charakterisierung der logischen Funktion in [7] und der Synthesis in [32], auffallende Gemeinsamkeiten auf. So haben beide Akte es jeweils mit ‚verschiedenen Vorstellungen‘ zu tun, unter denen sie auf verschiedene Weisen Einheit hervorbringen. Später wird Kant die Einheiten, die im Urteil und in der Synthesis hervorgebracht werden, als die Einheit „in einem Urteile“ (A 79/B 104) und als die Einheit „in einer Anschauung“ (A 79/B 105) bezeichnen und unterscheiden. Durch die logische Funktion werden dabei allgemein ‚verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen geordnet‘. Durch die Synthesis der Anschauung hingegen werden ‚verschiedene Vorstellungen zueinander hinzugetan und wird ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis begriffen‘. Hier kommen nun die Unterschiede beider Akte zum Ausdruck. Während es sich bei logischen Funktionen wie gesehen um Akte handelt, durch die verschiedene Repräsentationen unter Begriffe gebracht werden, sind Akte der Synthesis in erster Annäherung solche, durch die verschiedene Repräsentationen in einer Anschauung verbunden werden, d. h. in der Repräsentation eines einzelnen Gegenstandes der Sinne. Dementsprechend unterscheiden sich auch die betreffenden ‚verschiedenen Vorstellungen‘, mit denen logische Funktionen und Akte der Synthesis es jeweils zu tun haben: im Falle logischer Funktionen werden verschiedene Repräsentationen von Gegenständen, d. h. Anschauungen oder Begriffe, unter (allgemeinere) Begriffe gebracht; im Falle der Synthesis der Anschauung hingegen werden die verschiedenen Repräsentationen, die in einem Mannigfaltigen der Anschauung enthalten sind, in einer Anschauung verbunden (d. h. in der Synthesis der empirischen Anschauung: sinnliche Eindrücke; in der Synthesis der reinen Anschauung: formale – bei uns: räumliche und zeitliche – Stellen und Verhältnisse).
410 Zu Funktionen der Synthesis siehe in Fn. 221.
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Akte der Analysis repräsentieren also Eines in Vielem, d. h. den Inhalt eines Begriffs als enthalten in verschiedenen Repräsentationen, die unter ihn fallen; Akte der Synthesis hingegen repräsentieren Vieles in Einem, d. h. verschiedene Repräsentationen als verbunden in einer Anschauung. Das habe ich bereits in Hinsicht auf die Unterscheidung zwischen der kollektiven Einheit von Anschauungen und der distributiven Einheit von Begriffen erläutert (siehe 2.3.6.b): Anschauungen sind und repräsentieren jeweils Eines – ein einzelnes Ganzes –, in dem Vieles – viele verschiedene einzelne Eigenschaften oder Teile – miteinander verbunden ist. Begriffe hingegen repräsentieren eine distributive oder allgemeine Einheit, d. h. Eines – Arten oder allgemeine Eigenschaften von Gegenständen –, das Vielem – vielen verschiedenen Unterarten oder Gegenständen – gemeinsam ist.411 Dabei können wir nur dann durch Begriffe Eines in Vielem denken, wenn wir durch Anschauungen auch Vieles in Einem repräsentieren können: „nur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen“ (B 133 Anm.), wie Kant es in § 16 der B-Deduktion sagt. Die Synthesisthese kann vor diesem Hintergrund wie folgt ausführlicher formuliert werden: SYNTHESISTHESE2: Die Einheit sinnlicher Anschauung, durch die eine Anschauung sich auf ihren Gegenstand bezieht, und damit auch der ursprüngliche Inhalt von Begriffen sowie die Möglichkeit ihrer Bildung und ihrer Verwendung in Urteilen, beruhen auf einem Akt der Synthesis der Anschauung, auf einer Verbindung, die uns nicht sinnlich gegeben, sondern nur von uns selbst hervorgebracht werden kann.
Bei der Charakterisierung der logischen Funktion in [7] und der Synthesis in [32] verwendet Kant verschiedene Präpositionen, ‚unter‘ und ‚in‘, um das jeweils relevante Verhältnis der zur Einheit gebrachten Repräsentationen zur so hervorgebrachten Einheit zu bezeichnen: durch eine logische Funktion werden ‚verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen geordnet‘; durch die Synthesis werden ‚verschiedene Vorstellungen zueinander hinzugetan und in einer Erkenntnis begriffen‘. Damit weist Kant auf einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen Begriffen und Anschauungen hin und so auch auf einen Unterschied zwischen den Akten, sie hervorzubringen und durch sie zu repräsentieren: enthalten Begriffe andere Begriffe als ihre Arten unter sich, so enthalten Anschauungen hingegen andere Anschauungen als ihre Teile in sich.412 Anschauungen und Begriffe, wie auch ihre jeweiligen Teilreprä-
411 Siehe in Fn. 295. 412 Siehe Young (1994): 347 Fn. 38, Friedman (1992): 69.
3.1 Der reale Gebrauch des Verstandes: Die Synthesis der Anschauung
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sentationen, d. h. intuitive und diskursive Merkmale, stehen in verschiedenen Arten von Verhältnissen zu anderen Repräsentationen ihrer Art.413 Als allgemeine Repräsentationen, die von etwas handeln, das verschiedenen Gegenständen gemeinsam ist, enthalten Begriffe und ihre diskursiven Merkmale andere Begriffe und diskursive Merkmale grundsätzlich unter oder über sich, sind ihnen also über- oder untergeordnet. Begriffe stehen in Verhältnissen der Subordination zueinander und bilden auf diese Weise Art-GattungsVerhältnisse.414 So sind dem Begriff des Baumes z. B. u. a. die Begriffe der Fichte, der Weide und der Linde untergeordnet; übergeordnet ist dem Begriff des Baumes u. a. der Begriff der Pflanze. Die Akte der Hervorbringung von Begriffen und der Repräsentation durch Begriffe bestehen denn auch darin, als Akte der Analysis, dass sie verschiedene Repräsentationen unter einen gemeinsamen Begriff bringen. Als einzelne Repräsentationen, die von Einzelnem handeln und selbst einzeln sind, enthalten sinnliche Anschauungen und ihre intuitiven Merkmale grundsätzlich andere Anschauungen oder intuitive Merkmale als ihre Teile in sich, sind in ihnen als deren Teile enthalten oder sind ihnen in einem Ganzen beigeordnet oder koordiniert. Anschauungen stehen in Verhältnissen der Koordination zueinander und bilden auf diese Weise Teil-Ganzes-Verhältnisse.415 So sind z. B. die intuitiven Merkmale eines braunen Stammes und grüner Blätter gemeinsam in der Anschauung eines Baumes als deren Teile enthalten und einander beigeordnet, z. B. treten sie im Falle einer räumlichen Form der Anschauung nebeneinander auf. Und von einer reinen Anschauung wie der des Raumes gilt z. B.: „wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes“ (A 25/B 39), und nicht etwa verschiedene Arten von Räumen, die durch verschiedene Begriffe zu denken sind. Die Akte der Hervorbringung von und der Repräsentation durch An-
413 Zum Folgenden siehe die Notiz Refl 4675, 1775, AA XVII: 651, in der Kant die Subordination als die „Verknüpfung nach einer Regel“ beschreibt und die Koordination als die „Verknüpfung [...] in einem Ganzen“. Siehe Refl 683, 1769/70, AA XV: 304: „Damit die Sinnlichkeit in unserer Vorstellung eine bestimmte Form habe, so wird dazu die Zusammenordnung erfordert [...]. Diese Zusammenordnung ist eine Verknüpfung der Koordination und nicht Unterordnung oder Subordination, dergleichen die Vernunft verrichtet. Der Grund aller Koordination, mithin der Form der Sinnlichkeit, ist Raum und Zeit.“ 414 Siehe in Fn. 77. 415 Im Unterschied zu Begriffen enthalten sinnliche Anschauungen „eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich“ (B 40). „Koordiniert sind Erkenntnisse, wenn sie sich untereinander wie Teile zu einem gemeinschaftlichen Ganzen verhalten“ (V-MP/Heinze, AA XXVIII: 171). „Durch die Koordination verknüpfe ich meine Erkenntnis wie Teile eines Ganzen.“ (V-MP/ Schön, AA XXVIII: 463)
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schauungen werden denn auch darin bestehen, als Akte der Synthesis, dass sie verschiedene Repräsentationen in einer Anschauung verbinden. Das zu Beginn dieser Untersuchung anhand von B 159 und A 299/B 355 f. erarbeitete Bild der drei Schritte der Metaphysischen Deduktion kann vor diesem Hintergrund nun um den Akt des Verstandes in seinem logischen bzw. realen Gebrauch ergänzt werden: Metaphysische Deduktion
Erster Schritt
Zweiter Schritt
Dritter Schritt
Begriff des Verstandes
Logischer Begriff des Verstandes
Transzendentaler Begriff des Verstandes
Höherer Begriff des Verstandes
Gebrauch des Verstandes
Logischer Gebrauch: Ausübung logischer Funktionen des Urteils
Realer Gebrauch: Ausübung realer Funktionen der Synthesis der Anschauung
–
Akt des Verstandes
Analysis/ Subordination: Repräsentationen von Gegenständen unter Begriffe bringen
Synthesis/Koordination: Repräsentationen eines Mannigfaltigen der Anschauung in einer Anschauung verbinden
–
Explanandum
Logische Form oder Einheit des Urteils
Einheit der Anschauung/ Inhalt der Kategorien
Ursprung a priori der Kategorien
Explanans
Logische Funktionen des Urteils
Reale Funktionen der Synthesis der Anschauung
Exakte Zuordnung realer und logischer Funktionen
Vor dem Hintergrund, was ich über Begriffe und über die logischen Funktionen ihrer Bildung und ihrer Verwendung im Urteil gesagt habe (siehe 1.1.1, 1.2.1, 2.2.3, 2.3.1–3), lassen sich nun in erster Annäherung noch spezifischere Anforderungen angeben, die sinnliche Anschauungen erfüllen müssen, um als die Grundlage der Bildung von Begriffen und ihrer Beziehung auf einzelne Gegenstände fungieren zu können, die von den Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig sind. Die Charakteristika, die es der Anschauung erlauben, diese Anforderungen zu erfüllen, werden dann durch den Akt der Synthesis der Anschauung zu erklären sein. Zunächst müssen Anschauungen intuitive Merkmale enthalten, d. h. Teilrepräsentationen, die von wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände der An-
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schauung handeln, wie z. B. von der grünen Farbe der Blätter eines Baumes und von der braunen Farbe seines Stammes. Nicht nur setzen die Repräsentationen bestimmter wahrnehmbarer Eigenschaften in Anschauungen uns überhaupt erst in ein Verhältnis zu Gegenständen, die von den Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig sind, indem diese Teilrepräsentationen zuletzt auf sinnlichen Eindrücken beruhen, die durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden, wie die Diskussion der Gegebenheitsthese (unter a)) gezeigt hat (siehe 3.1.2). Wie bereits angedeutet sind die Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften in Anschauungen zudem die Voraussetzung a posteriori gegebener Begriffe, durch die wir Gegenstände eben anhand ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften charakterisieren und in Arten einteilen.416 In der Bildung solcher Begriffe, genauer in den Teilakten der Komparation und der Reflexion, fassen wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sinnlicher Anschauungen und ihrer Gegenstände nämlich gerade anhand der in Anschauungen enthaltenen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften auf.417 Empirische Begriffe sind, wie Kant es ausdrückt, von der Erfahrung von Gegenständen abgezogene Begriffe.418 Mittelbar sind intuitive Merkmale im Sinne von Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften dann auch die Voraussetzung a posteriori gemachter, d. h. theoretisch eingeführter Begriffe, werden diese Begriffe doch genau dafür eingeführt, die wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung zu erklären.419 Wenn die Bildung a posteriori gegebener und a posteriori gemachter Begriffe nun aber auf diese Weise in Anschauungen enthaltene Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften erfordert, dann gilt das offenbar auch für ihre Verwendung in Urteilen, die ohne ein Verfügen über die entsprechenden Begriffe nicht möglich wäre. Da uns die Gegenstände der Anschauung sinnlich zudem allein anhand intuitiver Merkmale zugänglich sind und eine Erkenntnis durch Begriffe im Urteil, wie oben gesehen, grundsätzlich die Möglichkeit sinnlicher Anschauungen voraussetzt,420 hängt die Verwendung von Begriffen in 416 Ein empirischer Begriff enthält „einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der Sinne“ (A 727/B 755). 417 „Begriffe setzen ja schon Vorstellungen von Objekten voraus und sind von den [intuitiven] Merkmalen abstrahiert“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 949). Siehe an und in Fn. 208. 418 Siehe in Fn. 85. 419 Siehe in Fn. 18 und 19. 420 Schließlich gilt, dass „keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als bloß die Anschauung“ ([10]), so dass „ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar [...] bezogen [ist]“ ([10]) und „[d]as Urteil [...] also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes [ist]“ ([11]). Siehe in Fn. 365.
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Urteilen auch ganz allgemein davon ab, dass Anschauungen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten. Um nun in Akten der Analysis, d. h. in den Akten der Begriffsbildung und des Urteils, in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen analysiert und auf dieser Grundlage unter Begriffe gebracht werden zu können, müssen sinnliche Anschauungen darüber hinaus verschiedene Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten, aus denen dann durch Analyse bestimmte herausgehoben werden können.421 Dafür müssen die gemeinsam in Anschauungen enthaltenen Teilrepräsentationen aber in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen, d. h., sie müssen bestimmte Stellen in der Anschauung einnehmen, zu der sie gehören.422 Zum Beispiel müssen Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften dazu in der Lage sein, verschiedene Stellen in der Anschauung einzunehmen, um auch dann numerisch voneinander unterschieden werden zu können, wenn sie qualitativ ununterscheidbar sind.423 Sinnliche Anschauungen müssen also eine Form aufweisen, in der ihre intuitiven Merkmale sich auf eine bestimmte Weise zueinander verhalten und bestimmte Stellen einnehmen können. Um das gerade Gesagte wieder aufzunehmen: wahrnehmbare Eigenschaften müssen innerhalb von Teil-Ganzes-Verhältnissen koordinierbar sein. Im Fall einer räumlichen Form der Anschauung z. B. müssen die braune Farbe des Stammes und die grüne Farbe der Blätter an verschiedenen Stellen in der räumlichen Gestalt des Baumes vorkommen können. Um schließlich in Akten der Analysis, d. h. in den Akten der Begriffsbildung und des Urteils, Begriffe von Gegenständen bilden und sie im Urteil auf Gegenstände beziehen zu können, müssen sinnliche Anschauungen von Gegenständen handeln. Sie müssen eine Einheit aufweisen, die sie überhaupt erst zu Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne macht. Allein durch eine solche Einheit repräsentieren Anschauungen auch eine Verbindung, die Gegenstände als etwas charakterisiert, das von den Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig ist.424 Wenn die in sinnlichen Anschauungen enthaltenen Repräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften, 421 Siehe in Fn. 371. 422 Wie die Gegenstände der Anschauung benötigen so auch ihre wahrnehmbaren Eigenschaften eine „Stelle in der Anschauung” (A 271/B 327). 423 Wie für qualitativ ununterscheidbare Gegenstände gilt so auch für ihre wahrnehmbaren Eigenschaften, dass „die Verschiedenheit der Örter [...] zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der numerischen Verschiedenheit“ (A 263/B 319) ist. 424 So geht es in einer Erkenntnis durch Begriffe um die Möglichkeit der Repräsentation einer Verbindung „im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts“ (B 142), bzw. darum, dass eine Repräsentation „auf etwas [...] von den Subjekten Unterschiedenes, d. i. auf ein Objekt, bezogen wird.“ (Br, Brief an Beck, 1. Juli 1794, AA XI: 515) Siehe in Fn. 145 und 146.
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ihrer Verhältnisse und Stellen nämlich Charakteristika von Gegenständen repräsentieren sollen, dann müssen sie jeweils so miteinander verbunden sein, dass sie die betreffenden qualitativen und formalen Eigenschaften als die Eigenschaften eines Gegenstandes repräsentieren. So müssen z. B. die braune Farbe des Stammes, die grüne Farbe der Blätter und die Stellen, die diese Eigenschaften innerhalb der räumlichen Gestalt eines Baumes einnehmen, so miteinander verbunden sein, dass sie verschiedene Charakteristika eines Baumes repräsentieren. Um als Grundlage der Analysis in Begriffsbildung und Urteil fungieren zu können, müssen sinnliche Anschauungen also zumindest die folgenden Charakteristika aufweisen: – sie müssen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten, die zuletzt auf sinnlichen Eindrücken beruhen, die wiederum durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden; – sie müssen ein Ganzes von Verhältnissen und Stellen bilden, in denen die Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften zueinander stehen und an denen sie vorkommen können; – sie müssen eine Einheit der in ihnen enthaltenen Repräsentationen qualitativer und formaler Eigenschaften aufweisen, die diese Teilrepräsentationen gemeinsam zu der Repräsentation eines Gegenstandes macht. Es ist die Aufgabe des Begriffs der Synthesis der Anschauung, genauer verständlich zu machen, wie sinnliche Anschauungen diese Charakteristika aufweisen können. Bevor ich mich Kants genauerer Beschreibung des Aktes der Synthesis zuwende, möchte ich noch einen Blick auf die Voraussetzungsverhältnisse werfen, die nach dem bisher Gesagten zwischen den verschiedenen Arten von Repräsentationen, repräsentationalen Fähigkeiten und Akten in Kants Auffassung einer Erkenntnis durch Begriffe bestehen. In der Abbildung unten gehen die Voraussetzungsverhältnisse – von der Bedingung zum Bedingten – dabei in den Zeilen jeweils von links nach rechts (und nicht umgekehrt) und in den Spalten von unten nach oben (und nicht umgekehrt):
Repräsentation (Explanandum)
Sinnliche Anschauungen
Begriffe
Urteile
Akt (Explanans)
Akt der Synthesis
Akt der Begriffsbildung
Akt des Urteilens
Anwendungsbereich des Aktes
Sinnliche Eindrücke Sinnliche Anschauungen
Begriffe (und Anschauungen)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Ohne Anschauungen können wir keine Begriffe haben und ohne Begriffe keine Urteile fällen (erste Zeile). Wie Kant selbst es in einer Notiz aufgeschrieben hat: „Zum Urteilen werden Begriffe und zu den Begriffen Anschauungen erfordert.“ (Refl 5642, 1780–83, AA XVIII: 280) Anschauungen, Begriffe und Urteile werden dabei jeweils durch bestimmte repräsentationale Akte erklärt: durch die Akte der Synthesis, der Begriffsbildung und des Urteilens (zweite Zeile). Diese Akte erfordern wiederum jeweils einen spezifischen Bereich ihrer Anwendung: sinnliche Eindrücke, Anschauungen und Begriffe (und, in einzelnen Urteilen, Anschauungen) (dritte Zeile). Auf diese Weise ist jeweils ein Bereich der Anwendung erforderlich, der Repräsentationen einer bestimmten Art enthält, um einen Akt ausüben zu können, der dann einer weiteren Art von Repräsentation zugrunde liegt. Das ist jeweils in den Spalten abgebildet. Diese Verhältnisse ergeben nun eine vollständige Bedingungsfolge der an einer Erkenntnis durch Begriffe beteiligten Repräsentationen: Von den Urteilen, durch die allein die Aufgabe einer Erkenntnis durch Begriffe erfüllt werden kann, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen; zu den Begriffen, die als die logischen Prädikate der Urteile erforderlich sind; zu den sinnlichen Anschauungen, die als die letzten logischen Subjekte der Urteile fungieren und die in einer nicht wieder durch andere Repräsentationen von Gegenständen vermittelten Beziehung auf den Gegenstand stehen. Das war die erste Zeile von rechts nach links. In der ersten Spalte geht es dann von oben nach unten weiter: von den sinnlichen Anschauungen über den für sie erforderlichen Akt der Synthesis zu den sinnlichen Eindrücken, die in der Synthesis der Anschauung auf eine genauer zu beschreibende Weise verbunden werden und die das in Anschauungen sind, was auf dem Einfluss von Gegenständen beruht, wodurch auch sie es sind, die zuletzt unser tatsächliches Verhältnis zu Gegenständen herstellen. Das heißt dann übrigens auch, dass die Synthesis der Anschauung weder als ein Urteilen noch anhand der Verwendung von Begriffen verstanden werden kann.425 Wenn Begriffe und Urteile nämlich jeweils sinnliche Anschauungen 425 Stefanie Grüne hat Interpretationen, in denen solche Aufassungen vertreten werden, in Grüne (2009): 19–21 als Urteilstheorie bzw. als Konzeptualismus bezeichnet. Mit der Urteilstheorie wird vertreten, dass die Synthesis der Anschauung selbst ein Urteilen ist oder zumindest eines enthält. Diese Auffassung vertreten laut Grüne z. B. Abela, Allison, van Cleve, Ginsborg, McDowell, Pippin und Strawson. Mit dem Konzeptualismus hingegen wird vertreten, dass die Synthesis der Anschauung die Verwendung von Begriffen voraussetzt oder enthält, ohne jedoch selbst ein Urteilen zu sein. Diese Auffassung vertreten laut Grüne z. B. Haag, Longuenesse und Sellars. – Neben den im Fließtext abgebildeten Voraussetzungsverhältnissen gibt es weitere Gründe, die genannten Interpretationen nicht für überzeugend zu halten. So ist die Urteilstheorie nicht dazu in der Lage, den soeben oben angedeuteten Unterschieden zwischen den Akten des Urteils und der Synthesis der Anschauung Rechnung zu tragen: die Synthesis kann nicht als
3.2 Die realen Funktionen der Synthesis der Anschauung
211
voraussetzen, dann können weder Begriffe noch Urteile in die Erklärung von Anschauungen eingehen. Mit diesem Hinweis wende ich mich nun Kants genauerer Beschreibung des Aktes der Synthesis zu.
3.2 Die realen Funktionen der Synthesis der Anschauung In [30] beschreibt Kant die Synthesis der Anschauung erstmals als einen komplexen Akt aus Teilakten, durch den das Mannigfaltige der Anschauung „auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ wird. Diese Beschreibung verweist auf seine Entwicklung des Begriffs einer „dreifachen Synthesis“ (A 97) in der A-Deduktion, wo er die Synthesis der Anschauung als einen komplexen Akt auffasst, der aus den drei Teilakten der so genannten Apprehension, Reproduktion und Rekognition besteht. In [36] verweist Kant denn auch ausdrücklich auf diese Ausarbeitung seines Begriffs der Synthesis („wie wir künftig sehen werden“). Ihr wende ich mich nun zu, um Kants Hinweis zu folgen und auf diese Weise die Andeutungen im „Leitfaden“ genauer nachzuvollziehen.
3.2.1 Die Aufgabe der Synthesis der Anschauung Zu Beginn der A-Deduktion bereitet Kant seine genauere Beschreibung des Aktes der Synthesis dadurch vor, dass er das Problem, zu dessen Lösung diese Beschreibung beitragen soll, wie folgt charakterisiert: „[w]enn es [...] reine Begriffe a priori gibt“ (A 95), so bemerkt er dort, von denen zwar gilt, dass sie „nichts Empirisches enthalten“ (A 95), dann „müssen [sie] aber gleichwohl lauter Bedingungen a priori zu einer möglichen Erfahrung sein“ (A 95). Wenn es also reine Begriffe von Gegenständen gibt, dann gibt es sie nicht als Begriffe, die aus der Erfahrung von Gegenständen stammen, sondern
ein Urteilen verstanden werden, da in ihr keine Unterordnung unter Begriffe stattfindet. Siehe in Fn. 295. Der Konzeptualismus hingegen kann dem Umstand nicht gerecht werden, dass Kant mit der Urteilsthese in [9] ausdrücklich behauptet, dass Begriffe allein in Urteilen gebraucht werden können. Auch scheint die Idee, dass Begriffe eine Rolle in der Synthesis der Anschauung spielen (z. B. als Regeln der Synthesis), nur schwer damit vereinbar zu sein, dass die Beziehung von Anschauungen auf Gegenstände nach [10] eine unmittelbare Beziehung sein soll, eine also, die eben gerade nicht durch weitere Repräsentationen von Gegenständen vermittelt ist.
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vielmehr als die Bedingungen einer solchen Erfahrung. In diesem Sinne erläutert Kant anschließend: Will man daher wissen, wie reine Verstandesbegriffe möglich seien, so muss man untersuchen, welches die Bedingungen a priori seien, worauf die Möglichkeit der Erfahrung ankommt und die ihr zum Grunde liegen, wenn man gleich von allem Empirischen der Erscheinungen abstrahiert. (A 95 f.)
Um also nachzuweisen, dass es Kategorien gibt, und um zu erklären, wie sie möglich sind, müssen Bedingungen der Erfahrung von Gegenständen identifiziert werden, die ihr a priori zugrunde liegen. Das ist offenbar auf das Problem der Metaphysischen Deduktion beziehbar (siehe 1.1.1–3).426 So geht es Kant dort um Begriffe, die uns mit der Natur unseres Vermögens zu denken gegeben sind, d. h. mit den repräsentationalen Fähigkeiten und Akten, die dieses Vermögen ganz grundlegend charakterisieren. Die Metaphysische Deduktion behandelt die Möglichkeit von Begriffen, die es uns überhaupt erst erlauben, Gegenstände zu denken, oder, wie Kant sie auch nennt, Begriffe von Gegenständen überhaupt.427 So fährt er in der A-Deduktion denn auch fort, indem er bemerkt, dass die Kategorien „a priori das reine Denken bei jeder Erfahrung enthalten“ (A 96) und dass sie eben genau solche Begriffe sein sollen, von denen gilt, „dass vermittels ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann.“ (A 97)428 In genau diesem Sinne spricht Kant aber beim Übergang zur Transzendentalen und im Rückblick auf die Metaphysische Deduktion von den Kategorien als den „Bedingungen, unter denen allein etwas [...] als Gegenstand überhaupt gedacht wird“ (A 93/B 125), und fasst das Problem der Transzendentalen Deduktion in der Frage, „wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben“ (A 89/B 122). Die Passagen der A-Deduktion, in denen die dreifache Synthesis beschrieben wird, sollen nun helfen, besser verständlich zu machen, worin diese subjektiven Bedingungen des Denkens von Gegenständen genauer bestehen. Dafür ist es erforderlich, die Fähigkeiten und Akte zu identifizieren und zu analysieren, die es uns – den repräsentierenden Subjekten – überhaupt erst erlauben, Gegenstände zu denken, und die als solche zu den Bedingungen unserer Erfah-
426 Dabei ist allerdings darauf zu achten, hier nur die Aspekte der A-Deduktion heranzuziehen, die sich auch unmittelbar auf das durch die Metaphysische Deduktion zu lösende Problem beziehen lassen, d. h. auf die Erklärung der repräsentationalen Inhalte bzw. des repräsentationalen Anspruchs von Repräsentationen im Allgemeinen und der Kategorien im Besonderen (siehe 1.1.1–3). 427 Siehe an und in Fn. 56. 428 Siehe an und in Fn. 88.
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rung von Gegenständen gehören. Es ist, mit anderen Worten, eine subjektive Deduktion der Kategorien erforderlich:429 Weil aber in einem solchen Gedanken [im Gedanken von einem Gegenstand] mehr als das einzige Vermögen zu denken, nämlich der Verstand, beschäftigt ist, und dieser selbst, als ein Erkenntnisvermögen, das sich auf Objekte beziehen soll, ebenso wohl einer Erläuterung wegen der Möglichkeit dieser Beziehung bedarf: so müssen wir die subjektiven Quellen, welche die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen, nicht nach ihrer empirischen, sondern transzendentalen Beschaffenheit zuvor erwägen. (A 97)
Kant gibt hier zwei Gründe dafür an, in der Folge „die subjektiven Quellen, welche die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“, untersuchen zu müssen: erstens, dass am Gedanken eines Gegenstandes nicht der Verstand allein beteiligt ist, sondern vielmehr, wie bereits angedeutet, der Verstand in seiner Beziehung auf Gegenstände, die uns über die Sinne gegeben sind, d. h. der Verstand in seinem realen Gebrauch; und zweitens, dass auch der Verstand selbst, „als ein Erkenntnisvermögen, das sich auf Objekte beziehen soll, [...] einer Erläuterung wegen der Möglichkeit dieser Beziehung bedarf“, dass also auch die Fähigkeiten und Akte unseres Vermögens zu denken zu untersuchen sind, durch die wir uns von Seiten des Verstandes auf Gegenstände beziehen, die Fähigkeiten und Akte also, durch die unser Denken überhaupt erst repräsentationale Inhalte enthält. Vor diesem Hintergrund, durch den wie schon zu Beginn des dritten Abschnitts des „Leitfadens“ das Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität betont wird, leitet Kant dann schließlich vermittels einer Fassung der Gegebenheits- und Synthesisthese zum Begriff einer Synthesis der Anschauung über: Wenn eine jede einzelne Vorstellung der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist. Wenn ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege, so korrespondiert dieser jederzeit eine Synthesis, und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen. Diese ist nun der Grund einer dreifachen Synthesis, die notwendigerweise in aller Erkenntnis vorkommt: nämlich der Apprehension der Vorstellungen als Modifikationen des Gemüts in der Anschauung, der Reproduktion dersel-
429 Die subjektive Seite der Transzendentalen Deduktion, wie Kant sie in der A-Vorrede beschreibt, „geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten“ (A XVI f.). Die subjektive Deduktion der A-Deduktion, auf die Kant in [36] ausdrücklich verweist, d. h. seine Auffassung einer dreifachen Synthesis, ist unverzichtbar für ein angemessenes und umfassendes Verständnis der Metaphysischen Deduktion, wie sich hier zeigt und in der Folge zeigen wird.
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ben in der Einbildung und ihrer Rekognition im Begriffe. Diese geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und durch diesen alle Erfahrung als ein empirisches Produkt des Verstandes möglich machen.430 (A 97 f.)
Erkenntnis, so Kant hier, ist „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen“. Die Sinne geben uns aber, wenn wir sie für sich betrachten, lediglich ein Mannigfaltiges isolierter und getrennter einzelner Repräsentationen, d. h. unverbundener sinnlicher Eindrücke. Das ist die Gegebenheitsthese (siehe 3.1.2).431 Die dafür verantwortliche Fähigkeit der Rezeptivität, die Fähigkeit also, sinnliche Eindrücke in einer bestimmten (bei uns: räumlichen und zeitlichen) Form zu empfangen, bezeichnet Kant hier auch als Synopsis.432 Erkenntnis, d. h. die Beziehung auf Gegenstände,433 ergibt sich erst im Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität: der Synopsis muss also, wie Kant es hier sagt, eine Synthesis korrespondieren, um Erkenntnis möglich zu machen. Das ist die Synthesisthese (siehe 3.1.3).434 Dann gibt er eine erste zusammenfassende Beschreibung der drei Teilakte, die er in [30] erstmals als die Akte genannt hat, durch die das Mannigfaltige der Anschauung „zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ wird. Auf A 97 bezeichnet er den komplexen Akt der Synthesis nun als eine ‚dreifache Synthesis‘, und sagt von ihr, dass sie „notwendigerweise in aller Erkenntnis vorkommt“. Die drei Teilakte, die die dreifache Synthesis ausmachen, müssen demnach in jeder Erkenntnis, d. h. in jeder repräsentationalen Beziehung auf einen Gegenstand, enthalten sein. Diese drei Teilakte beschreibt Kant nun auf A 97 als die Akte der „Apprehension der Vorstellungen als Modifikationen des Gemüts in der Anschauung, der Reproduktion derselben in der Einbildung und ihrer Rekognition im Begriffe“. Alle drei Akte richten sich demnach auf dieselben „Vorstellungen als
430 „Der Rezeptivität derselben [der Vorstellungen als Modifikationen des inneren Sinnes] korrespondiert eine Spontaneität der Synthesis. Entweder der Apprehension als Empfindungen oder der Reproduktion als Einbildungen oder der Rekognition als Begriffe.“ (Refl 5636, 1780–83, AA XVIII: 267 f.) 431 Siehe an und in Fn. 101. 432 Auf A 94 spricht Kant von der „Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn“ und betont damit die Form sinnlicher Anschauung (bei uns: Raum und Zeit). Siehe Haag (2007): 155 f. 433 Siehe in Fn. 130. 434 „Die Synthesis eines Mannigfaltigen [...] bringt zuerst eine Erkenntnis hervor“ ([35]). Siehe in Fn. 52. „[M]an glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben, erfordert wird.“ (A 120 Anm.)
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Modifikationen des Gemüts“, d. h. auf dieselben Zustände des repräsentierenden Subjekts. Diese Repräsentationen werden, so Kant, i) in der Anschauung apprehendiert, ii) in der Einbildung reproduziert und schließlich iii) im Begriffe rekognosziert. In der Synthesis empirischer Anschauung handelt es sich bei den betreffenden Repräsentationen um sinnliche Eindrücke, in der Synthesis reiner Anschauung hingegen um formale (bei uns: räumliche und zeitliche) Stellen und Verhältnisse. Ich werde mich, wie auch Kant, vornehmlich auf Anschauungen von Gegenständen, d. h. auf die Synthesis empirischer Anschauungen konzentrieren, da es diese ist, die für die Erklärung der Inhalte der Kategorien als der Begriffe von Gegenständen überhaupt entscheidend ist. Auch die gerade zusammengefasste Beschreibung der Aufgabe der Synthesis, die Kant zu Beginn der A-Deduktion gibt, entspricht der Beschreibung, die er bereits im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ gegeben hat. Während Kant auf A 97 von der ‚Möglichkeit der Beziehung auf Objekte‘ spricht, von der „Möglichkeit der Erfahrung“, sowie davon, dass die Synthesis ‚Erkenntnisse möglich macht‘ bzw. „alle Erfahrung“, hat er die Synthesis in [35] als das beschrieben, „was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“, d. h. als das, was unsere Beziehung auf Gegenstände erklärt und so „den ersten Ursprung unserer Erkenntnis“ bildet. Der Akt der Synthesis soll damit, wie schon wiederholt bemerkt, den Inhalt unserer Repräsentationen, d. h. unsere repräsentationale Beziehung auf Gegenstände erklären,435 ohne die es keine Erkenntnis gäbe. Wenn Kant auf A 97 und A 103 schließlich den dritten Teilakt der dreifachen Synthesis, in dem die Synthesis endet, als eine „Rekognition im Begriffe“ bezeichnet, dann entspricht das wiederum der Beschreibung des Resultats der Synthesis in [32], wo es hieß, dass die Synthesis darin besteht, „verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ Die Ausdrücke ‚Rekognition im Begriffe‘ und ‚in einer Erkenntnis begreifen‘ meinen hier genau dasselbe, und zwar, in erster Annäherung: dass es die Verbindung des Mannigfaltigen sinnlicher Anschauung im Inhalt eines Begriffs ist, durch den dieser sich überhaupt erst auf Gegenstände bezieht. Genau darum geht es Kant nämlich mit dem Begriff einer Synthesis der Anschauung: der Akt der Synthesis der Anschauung hat die Aufgabe, die repräsentationalen Inhalte unserer Begriffe, d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, zu erklären, insbesondere aber die Inhalte der Kategorien. Ich wende mich nun Kants Beschreibung der dreifachen Synthesis zu, die genau das leisten soll.
435 Siehe an und in Fn. 3.
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3.2.2 Die Akte der Synthesis der Anschauung: Apprehension, Reproduktion und Rekognition sinnlicher Eindrücke In [30] hat Kant die Synthesis der Anschauung als einen Akt beschrieben, durch den das Mannigfaltige der Anschauung „zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ wird. Diese Beschreibung führt er nun in der A-Deduktion im Sinne einer „dreifachen Synthesis“ (A 97) aus. Dabei handelt es sich um einen komplexen Akt, der die drei Teilakte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition enthält. Oben habe ich bereits angedeutet, dass sinnliche Anschauungen zumindest die folgenden Charakteristika aufweisen müssen, um Gegenstände der Sinne repräsentieren zu können: – sie müssen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten, die zuletzt auf sinnlichen Eindrücken beruhen, die wiederum durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden; – sie müssen ein Ganzes von Verhältnissen und Stellen bilden, in denen die Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften zueinander stehen und an denen sie vorkommen können; – sie müssen eine Einheit der in ihnen enthaltenen Repräsentationen qualitativer und formaler Eigenschaften aufweisen, die diese Teilrepräsentationen gemeinsam zu der Repräsentation eines Gegenstandes macht. Um es bereits vorwegzunehmen: es ist die Aufgabe des Begriffs einer dreifachen Synthesis der Anschauung, wie Kant ihn in der A-Deduktion entwickelt, genauer zu erklären, wodurch sinnliche Anschauungen die so beschriebenen Charakteristika aufweisen. a) Apprehension. Die zentrale Passage zur „Synthesis der Apprehension in der Anschauung“ (A 98) lautet wie folgt: Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten kann jede Vorstellung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein. Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches und zwar in einer Vorstellung enthalten niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann. (A 99)
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Am Anfang von Kants Erörterung der Synthesis der Apprehension steht eine Fassung der Gegebenheitsthese (siehe 3.1.3).436 „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich“, so Kant dort, d. h., jede sinnliche Anschauung enthält ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke, das auf den Einfluss von Gegenständen zurückgeht.437 Darüber hinaus muss dieses Mannigfaltige nun auch, wie Kant es in der Überschrift des Abschnitts ausdrückt, ‚in der Anschauung apprehendiert‘ werden. Kant beginnt seine Beschreibung des Aktes der Apprehension damit, dass er vom Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke sagt, dass es „nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede“. Mit der Rede davon, dass ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke ‚als ein solches vorzustellen‘ ist, unterscheidet Kant zwischen einem Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke und der Repräsentation des Mannigfaltigen als eines solchen. Allgemein ist das der Unterschied zwischen einer Mannigfaltigkeit von Repräsentationen und der Repräsentation einer Mannigfaltigkeit. Über mannigfaltige Repräsentationen zu verfügen ist nämlich nicht gleichbedeutend damit, eine Mannigfaltigkeit zu repräsentieren, wie etwa Hume das geglaubt zu haben scheint.438 So ist z. B. das Haben verschiedener Farbeindrücke nicht gleichbedeutend damit, die verschiedenen Farben eines Gegenstandes zu repräsentieren. (Wie auch das Verfügen über verschiedene Begriffe nicht gleichbedeutend damit ist, über Gegenstände und ihre verschiedenen Charakteristika zu urteilen.) Daran, sich ein Mannigfaltiges ‚als ein solches vorzustellen‘, können nun erst einmal zwei Aspekte unterschieden werden: so geht es hier zum einen darum, das Mannigfaltige ‚als ein Mannigfaltiges vorzustellen‘, d. h. sinnliche Eindrücke in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen;439
436 Wie auch am Anfang der B-Deduktion: „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist“ (B 129). 437 „[E]in Mannigfaltiges“ (A 120) für sich betrachtet, das sind „verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln“ (A 120). 438 Siehe Sellars (1967): 14: „Thus (A 99 ff.) we find a principle to the effect that sensibility provides us with a manifold of representations, but not with a representation of a manifold“. – Hume bringt seine Position z. B. in den folgenden Passagen zum Ausdruck: „Thus when a globe of white marble is presented, we receive only the impression of a white colour dispos’d in a certain form“ (Hume (1739/40), 1.1.7: 21 f.). „When both the objects are present to the senses along with the relation, we call this perception rather than reasoning; nor is there in this case any exercise of the thought, or any action, properly speaking, but a mere passive admission of the impressions thro’ the organs of sensation.“ (Hume (1739/40), 1.3.2: 52) „When I view this table and that chimney, nothing is present to me but particular perceptions, which are of a like nature with all the other perceptions.“ (Hume (1739/40), Appendix: 399) 439 Siehe Paton (1936), Bd. 1: 357 f., Longuenesse (1998a): 37.
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zum anderen geht es darum, das Mannigfaltige ‚als ein Mannigfaltiges vorzustellen‘, d. h. auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke mannigfaltige wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen zu repräsentieren. Um ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke nun ‚als ein Mannigfaltiges vorzustellen‘, um sie also in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen, so bemerkt Kant zunächst, müssen die Eindrücke in ihrer zeitlichen Folge, d. h. anhand ihrer zeitlichen Stellen und Verhältnisse, voneinander unterschieden werden. „[D]enn als in einem Augenblick enthalten“, so argumentiert er, „kann jede Vorstellung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein.“ (A 99) Wenn wir es nur mit einzelnen sinnlichen Eindrücken zu tun hätten, die sich nicht anhand ihrer Stellen und Verhältnisse voneinander unterscheiden ließen – bei uns also: anhand von ‚Augenblicken‘ (Zeitpunkten) –, dann wäre ein jeder dieser Eindrücke für uns nichts als absolute Einheit, d. h., er wäre absolut einfach und ununterscheidbar von jedem anderen.440 Jeder sinnliche Eindruck wäre auf diese Weise so einfach und ununterscheidbar für uns wie der Zeitpunkt, den er einnimmt, wenn er nur für sich betrachtet wird. Wie Kant später in der Kritik, in den „Antizipationen der Wahrnehmung“, bemerken wird: „Die Apprehension, bloß vermittels der Empfindung, erfüllt nur einen Augenblick (wenn ich nämlich nicht die Sukzession vieler Empfindungen in Betracht ziehe).“ (A 167/B 209) Um hingegen verschiedene sinnliche Eindrücke aufnehmen und voneinander unterscheiden zu können, um sie also in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen,441 so die Überlegung, müssen wir dazu in der Lage sein, sie an verschiedenen Stellen der Anschauung aufzufassen, d. h. im Falle einer zeitlichen Form der Anschauung z. B. in ihrer zeitlichen Folge (Sukzession). So gilt von „allen einfachen Vorstellungen“, wie es in der Logik heißt, dass „in ihnen kein Mannigfaltiges anzutreffen ist“ (AA IX: 35), was wiederum der Grund dafür ist, dass sie „nie deutlich werden“ (AA IX: 35), im Unterschied zu „zusammengesetzten Vorstellungen, in denen sich ein Mannigfaltiges von Merkmalen unterscheiden lässt“ (AA IX: 35).442 Für sich betrachtet wären einzelne Eindrücke damit nichts als einfache und unverbundene Repräsentationen sinnlicher Qualitäten wie Farbe, Geräusch usw., d. h., „jede einzelne Vorstel-
440 Absolute Einheit ist Einfachheit. Siehe B 419 („die absolute Einheit der Apperzeption, das einfache Ich“); Refl 4762, 1773–79, AA XVII: 719 („ob sie [Teile] einfach sind, absolute Einheit“); Refl 5309, 1773–78, AA XVIII: 150 („das Einfache, absolute Einheit“). Vgl. A 784/B 812. 441 Siehe Sellars (1967): 14: „Kant attributes to the representations of sensibility as such [impressions] [...] the character of not being ‘of’ anything complex“, vgl. 33; Grüne (2009): 158. 442 So ist es auch „das darum so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Mannigfaltiges hat“ (A 381). Siehe auch B 135: „durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben“.
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lung [wäre] der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert und von dieser getrennt“ (A 97), wie Kant es ausgedrückt hat.443 Als solche aber könnten wir sie uns nie deutlich machen, sie also nie von anderen unterscheiden.444 Damit wir mannigfaltige sinnliche Eindrücke nun voneinander unterscheiden können, müssen wir sie als eine zusammengesetzte Mannigfaltigkeit auffassen, in der sie in Verhältnissen zueinander stehen und verschiedene Stellen einnehmen, im Falle einer zeitlichen Form der Anschauung z. B. verschiedene Zeitpunkte. In genau diesem Sinne müssen wir, wie Kant es auf A 99 sagt, ‚die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterscheiden‘. Damit ist zunächst einmal beschrieben, was es heißt, das Mannigfaltige ‚als ein Mannigfaltiges vorzustellen‘, was es also heißt, sinnliche Eindrücke in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen. Was genau wir aber tun müssen, um sie so aufzufassen, und wie wir sie auf diese Weise auch ‚als ein Mannigfaltiges vorstellen‘ können, ist damit noch nicht gesagt. Wie also repräsentieren wir auf der Grundlage eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke die mannigfaltigen wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung? Damit aus dem Mannigfaltigen nun „Einheit der Anschauung werde“, so führt Kant das aus, „ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig“ (A 99). Die Einheit der Anschauung ist das, wodurch eine Anschauung überhaupt erst von ihrem Gegenstand handelt (siehe 1.2.1.ii, 3.1.3).445 Sinnlichen Eindrücken oder ‚Empfindungen‘ kommt dabei innerhalb der Anschauung die Aufgabe zu, die verschiedenen wahrnehmbaren Eigenschaften des Gegenstandes der Anschauung zu repräsentieren, d. h. ihre ‚Realitäten‘ (positive Eigenschaften).446 Das gegebene Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke ist demnach durch einen Akt der Apprehension zur Einheit der Anschauung zu bringen, um auf diese Weise die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung zu repräsentieren. Das soll nun genauer dadurch geschehen, dass wir das Mannigfaltige sowohl ‚durchlaufen‘ als auch ‚zusammennehmen‘. Dadurch, dass wir das Mannigfaltige durchlaufen, die Eindrücke also einen nach dem anderen auffassen – dadurch,
443 Das Mannigfaltige enthielte „verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln“ (A 120). 444 Zum Begriff anschaulicher Deutlichkeit siehe an und in Fn. 204. 445 Siehe in Fn. 52. 446 „Was nun in der empirischen Anschauung der Empfindung korrespondiert, ist Realität (realitas phaenomenon)“ (A 168/B 209). „Realität ist [...] das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt.“ (A 143/B 182) Vgl. A 175/B 217 („das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert“), A 581/B 609 (Realität als das, „was der Empfindung entspricht“).
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dass wir das Mannigfaltige ‚durchgehen‘, wie Kant es in [30] nennt –, repräsentieren wir es ‚als ein Mannigfaltiges‘, das verschiedene und voneinander unterscheidbare Eindrücke in sich enthält. Indem wir das Mannigfaltige durchlaufen, sind wir also dazu in der Lage, die Eindrücke in der Anschauung anhand ihrer Stellen und Verhältnisse voneinander zu unterscheiden. Im Fall einer zeitlichen Form der Anschauung etwa fassen wir im Durchlaufen sinnlicher Eindrücke ihre zeitliche Folge auf. Darüber hinaus kann an dem Ausdruck ‚als ein Mannigfaltiges‘ nun noch ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden. Dadurch, dass wir das Mannigfaltige nämlich auch zusammennehmen, fassen wir es zudem ‚als ein Mannigfaltiges‘ auf, d. h. als ein bestimmtes Mannigfaltiges, das aus bestimmten sinnlichen Eindrücken zusammengesetzt und von anderen solchen Zusammensetzungen verschieden ist.447 Unser Durchlaufen eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke findet auf diese Weise darin seinen Abschluss, dass wir es als eines zusammennehmen. Vom Akt der Synthesis der Apprehension gilt nämlich, so fährt Kant fort, dass er „geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches und zwar in einer Vorstellung enthalten niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann.“ (A 99) Indem wir ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke nun ‚als ein Mannigfaltiges‘ zusammennehmen, als ein bestimmtes Mannigfaltiges also, fassen wir es auch als eines auf, das „in einer Vorstellung“, d. h. in einer Anschauung, enthalten ist. Wenn wir ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke also durchlaufen und zusammennehmen, dann fassen wir es eben auch als eines auf, das in einer bestimmten Anschauung enthalten und damit von anderen Mannigfaltigen in anderen Anschauungen verschieden ist. Indem wir mannigfaltige sinnliche Eindrücke auf diese Weise also in einer Anschauung zusammennehmen, bringen wir sie in der Einheit einer Anschauung zusammen, in der schließlich auch die sinnlichen Eindrücke ihre Aufgabe erfüllen können, die wahrnehmbaren Eigenschaften des Gegenstandes der Anschauung zu repräsentieren, wie z. B. die grüne Farbe der Blätter des Baumes und die braune Farbe seines Stammes.448 447 „[Die] Synthesis der Apprehension [ist] die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung“ (B 160). So ist die „Zusammennehmung“ (A 99) mit Kant der Synthesis der Apprehension zuzuordnen und nicht der Synthesis der Reproduktion, wie Haag (2007): 214 dies tut. Der „Zusammenhang der Eindrücke“ (A 121) ist davon noch zu unterscheiden und betrifft die Koordination und Reproduktion sinnlicher Eindrücke. Siehe in Fn. 413. Vgl. Allison (2015): 207. 448 Siehe Longuenesse (1998a): 38. – Auf A 99 nennt Kant bereits die „Vorstellung des Raumes“ als ein Beispiel dafür, dass die „Einheit der Anschauung“ die „Synthesis der Apprehension“ erfordert. Zum Abschluss seiner Beschreibung dieser Synthesis bemerkt Kant nun in diesem Sinne, dass sie „auch a priori, d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch
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Kants Beschreibung der Synthesis der Apprehension empirischer Anschauungen lässt sich so zusammenfassen, dass sich am Ausdruck ‚als ein Mannigfaltiges vorstellen‘, durch den dieser Akt charakterisiert wird, drei Aspekte unterscheiden lassen. Im Akt der Apprehension fassen wir ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke demnach i) ‚als ein Mannigfaltiges‘ auf, indem wir es durchlaufen und seine verschiedenen Eindrücke anhand ihrer – bei uns: zeitlichen – Stellen und Verhältnisse voneinander unterscheiden. Wir fassen es dabei ii) ‚als ein Mannigfaltiges‘ auf, indem wir es als ein bestimmtes Mannigfaltiges zusammennehmen und damit zur Einheit einer bestimmten Anschauung bringen. Durch die so in die Einheit einer Anschauung aufgenommenen sinnlichen Eindrücke können wir das Mannigfaltige schließlich iii) ‚als ein Mannigfaltiges vorstellen‘, indem wir nämlich, auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke, die mannigfaltigen wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung repräsentieren. Auf diese Weise ist der Akt der Synthesis der Apprehension dafür verantwortlich, dass sinnliche Anschauungen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten, die zuletzt auf sinnlichen Eindrücken beruhen, die wiederum durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden. Allerdings, so wird Kant nun argumentieren, ist der Akt der Apprehension nicht selbständig: seine Ausübung ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Einheit der Anschauung. Die „Apprehension des Mannigfaltigen“ bringt nämlich „allein noch kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke“ hervor (A 121), d. h., sie ist noch nicht hinreichend dafür, auf der Grundlage sinnlicher Eindrücke einen Gegenstand der Anschauung und den Zusammenhang seiner wahrnehmbaren Eigenschaften zu repräsentieren. Warum das so ist, macht Kants Beschreibung eines der Apprehension noch vorausgesetzten Aktes der Synthesis deutlich, dem ich mich nun zuwende. b) Reproduktion. Der für meine Zwecke entscheidende Abschnitt zur „Synthesis der Reproduktion in der Einbildung“ (A 100) lautet wie folgt: Nun ist offenbar, dass, wenn ich eine Linie in Gedanken ziehe oder die Zeit von einem Mittag zum anderen denken oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der anderen in Gedanken
sind, ausgeübt werden [muss]“ (A 99), da wir ohne sie „weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit a priori haben können“ (A 99). Auch die Teilrepräsentationen der reinen Anschauungen von Raum und Zeit, d. h. auf Stellen und Verhältnissen in der Anschauung beruhende Teilräume und Teilzeiten, müssen durchlaufen und zusammengenommen werden, um die Einheit der Anschauung von Raum und Zeit ergeben zu können. Das ist ein wichtiger Teil von Kants Lösung des Problems der Transzendentalen Deduktion. Siehe die Andeutungen im letzten Abschnitt von Hoeppner (2021).
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fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende [Vorstellung] (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit oder die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können. Die Synthesis der Apprehension ist also mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden. (A 102)
Zum Abschluss dieser Passage folgert Kant, dass der Akt der Apprehension ‚also‘ von dem der Reproduktion abhängig ist. Im Akt der Apprehension einer empirischen Anschauung durchlaufen wir ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke und nehmen es als eines zusammen. Wenn ich ein Mannigfaltiges von Repräsentationen nun in diesem Sinne durchlaufe und zusammennehme, dann gilt allgemein – d. h. unabhängig davon, um welche Art von Repräsentationen es sich handelt –, wie Kant es auf A 102 ausdrückt, dass ich „eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der anderen in Gedanken fassen“ muss. Damit ist zunächst einmal erneut beschrieben, was es heißt, ein Mannigfaltiges von Repräsentationen zu durchlaufen und die durchlaufenen Repräsentationen anhand ihrer Stellen und Verhältnisse in der Anschauung voneinander zu unterscheiden. Das könnte ich nun aber nicht tun, so fährt Kant hier fort, würde ich beim Durchlaufen mannigfaltiger Repräsentationen „die vorhergehende [Vorstellung] [...] immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe“ (A 102). Dann nämlich, so die Überlegung, „würde niemals eine ganze Vorstellung [...] entspringen können“ (A 102). Um mannigfaltige Repräsentationen durchlaufen und in einer Repräsentation zusammennehmen zu können, muss ich die im Zuge dieses Aktes bereits durchlaufenen Repräsentationen also jeweils in Gedanken behalten, wenn ich zu den weiteren Repräsentationen übergehe, um sie auf diese Weise gemeinsam innerhalb eines Ganzen von Teilen – in ‚einer ganzen Vorstellung‘ – aufzufassen. Da es sich hierbei um eine „Reproduktion derselben“ (A 97) Repräsentationen handelt, die auch apprehendiert werden, geht es in der Synthesis der Reproduktion empirischer Anschauungen nun darum, die durchlaufenen und zusammengenommenen sinnlichen Eindrücke auch innerhalb eines Ganzen von Teilen zu reproduzieren und sie dort miteinander zu koordinieren. Wenn Kant also in [30] sagt, ein Mannigfaltiges müsse „aufgenommen“ werden, dann heißt das für empirische Anschauungen, dass das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke, das sie enthalten, auch jeweils in ein Ganzes von Teilen aufzunehmen ist. Um nun also Anschauungen von Gegenständen als Repräsentationen zu thematisieren, in denen sinnliche Eindrücke in ein Ganzes von Teilen aufgenommen sind, nennt Kant auf A 102 drei Beispiele, die jeweils mit der reinen Anschauung eines Gegenstandes zusammenhängen: die Repräsentation einer
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Linie, einer bestimmten Zeit („von einem Mittag zum anderen“) und einer Zahl. Diesen Repräsentationen ist sowohl gemeinsam, dass sie jeweils ein Ganzes homogener Teile bilden, als auch, dass sie jeweils zur Beschreibung der Charakteristika eines Gegenstandes dienen, die durch seine reine Anschauung repräsentiert werden,449 wie z. B. die zeitliche Ausdehnung eines Gegenstandes, die durch eine Linie dargestellt werden kann.450 Ziehe ich eine Linie oder denke ich eine bestimmte Zeit oder Zahl, so Kant nun auf A 102, dann muss ich die bereits durch Teilrepräsentationen gedachten Teile der Linie und der Zeit, oder die bereits gezählten Einheiten, jeweils reproduzieren, d. h. ich muss sie in Gedanken behalten, wenn ich die Linie, die Zeit oder die Zahl durch „eine ganze Vorstellung“ (A 102) denken soll, d. h. durch ein Ganzes von Teilrepräsentationen. Um also die Teilrepräsentationen der Linie, der Zeit oder der Zahl, die durchlaufen werden, in der ganzen Repräsentation einer Linie, einer Zeit oder einer Zahl zusammenzunehmen, ist es erforderlich, sie jeweils als die Teile eines Ganzen, einer ganzen Repräsentation, aufzufassen. Später in der Kritik, in den „Axiomen der Anschauung“, nimmt Kant die Beispiele der Repräsentation einer Linie und einer bestimmten Zeit wieder auf und beschreibt den produktiven Aspekt der Repräsentation eines Ganzen homogener Teile etwas genauer – d. h. das Ziehen einer Linie oder das Denken einer Zeit –, der in der Beschreibung auf A 102 zwar enthalten, dort aber lediglich als der Ausgangspunkt und Hintergrund der Reproduktion angedeutet ist: Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen. Ebenso ist es auch mit jeder, auch der kleinsten, Zeit bewandt. Ich denke mir darin nur den sukzessiven Fortgang von einem Augenblick zum anderen, wo durch alle Zeitteile und deren Hinzutun endlich eine bestimmte Zeitgröße erzeugt wird.451 (A 162 f./B 203)
449 Durch reine Anschauung repräsentieren wir die „Ausdehnung und Gestalt“ (A 21/B 35) von Gegenständen der Anschauung. Siehe an und in Fn. 108. 450 Zur Repräsentation der Zeit durch eine Linie siehe B 156, wo Kant bemerkt, „dass wir die Zeit [...] uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen“. Siehe auch A 33/B 50: „[wir] stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist“. 451 „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie [...] bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in demselben, achthaben.“ (B 154)
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Ich muss die gleichartigen Teile einer Anschauung demzufolge ‚nach und nach [sukzessiv] erzeugen‘, wie z. B. die Teile der Repräsentation einer Linie oder einer Zeit im Ausgang von Punkten oder Augenblicken zu erzeugen sind, da nur so auch ein Ganzes solcher homogener Teile, d. h. die ganze Repräsentation einer bestimmten Größe, erzeugt wird, wie etwa die Repräsentation einer Linie oder einer Zeit.452 Die Repräsentation einer bestimmten Größe ist nämlich in erster Annäherung ein auf diese Weise erzeugtes Ganzes gleichartiger Teilrepräsentationen: Der bestimmte Begriff von einer Größe ist der Begriff der Erzeugung der Vorstellung eines Gegenstandes durch die Zusammensetzung des Gleichartigen.453 (MAN, AA IV: 489)
In der Repräsentation eines Gegenstandes erzeugen wir demnach durch die Zusammensetzung gleichartiger Teilrepräsentationen ein Ganzes solcher Teile, das auf diese Weise die Repräsentation einer bestimmten Größe ergibt, wie z. B. die Repräsentation einer Linie, einer Zeit oder einer Zahl. In seiner Beschreibung der Synthesis der Reproduktion, wie er sie in der A-Deduktion gibt, betont Kant nun vor allem, dass die auf diese Weise erzeugten Teile der Anschauung dafür auch jeweils in Gedanken zu behalten, d. h. zu reproduzieren sind, um so „eine ganze Vorstellung“ (A 102) erzeugen zu können. Um beim Auffassen homogener Teilrepräsentationen zu einer ganzen Repräsentation zu gelangen, zu einer Repräsentation also, die ein Ganzes ebendieser Teile bildet, müssen die Teile auch jeweils als die Teile eines Ganzen aufgefasst und reproduziert werden. Da auch das Zählen bis zu einer bestimmten Zahl, genau wie das Ziehen einer Linie, für uns eine Synthesis in der Zeit ist, liegt allen drei Repräsentationen, die Kant auf A 102 nennt, die reine Anschauung der Zeit zugrunde, d. h. die Repräsentation der zeitlichen Ausdehnung von Gegenständen.454 Vor dem Hintergrund der Beschreibung, die Kant zuvor – auf A 99 – vom Akt der Apprehen-
452 „Das Ganze, sofern in ihm die Teile homogen sind, ist eine Größe“ (Refl 4047, 1769–76, AA XVII: 397). „[...] bei allen Größen [müssen] das Ganze und der Teil immer homogen sein“ (Refl 4822, 1775–79, AA XVII: 738). 453 „[D]er Begriff einer Größe (quanti)“ ist „das Bewusstsein des mannigfaltigen Gleichartigen in der Anschauung überhaupt“ (B 203). „Alle Größe ist Erzeugung in der Zeit durch wiederholte Position eben desselben.“ (Refl 13, 1790, AA XIV: 54) 454 Durch die reine Anschauung der Zeit repräsentieren wir „das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“ (A 30/B 46) von Gegenständen der Anschauung. Zu Linie und Zeit siehe FM, AA XX: 337: „Das Konstruieren [a priori in der Anschauung] aber erfordert immer für die Zeit die Beschreibung einer Linie, deren Teile doch zugleich sind, und für die Linie eine Zeit, deren Teile nacheinander sind.“ Vgl. Br, Brief an Rehberg, 25. September 1790, AA XI: 209, wo Kant bemerkt, „dass die Zeit [...] als eine Linie vorgestellt werden muss, um sie als Quantum zu erkennen, so wie umgekehrt eine Linie nur dadurch, dass sie in der Zeit konstruiert werden muss, als Quantum gedacht werden kann“. Zu Zahl und Zeit siehe dort Br, AA XI: 209,
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sion gegeben hat, lässt sich auch verstehen, warum das so ist. Da sinnliche Eindrücke im Falle einer zeitlichen Form der Anschauung nämlich anhand von Zeitpunkten, d. h. anhand von Stellen und Verhältnissen in der Zeit, durchlaufen und zusammengenommen werden, müssen sie auch anhand dieser Stellen und Verhältnisse in Gedanken behalten und miteinander koordiniert werden.455 Da wir sinnliche Eindrücke also anhand von Stellen und Verhältnissen in der Anschauung apprehendieren, müssen wir sie auch anhand ebendieser Stellen und Verhältnisse reproduzieren und miteinander koordinieren.456 Im Falle einer räumlichen Form der Anschauung kann das zudem, so lässt sich hier hinzufügen, anhand räumlicher Stellen und Verhältnisse geschehen, d. h. anhand von Orten, die es uns z. B. erlauben, verschiedene sinnliche Eindrücke und auf ihrer Grundlage repräsentierte wahrnehmbare Eigenschaften auch dann voneinander zu unterscheiden, wenn sie gleichzeitig auftreten und also nicht anhand der Zeit auseinandergehalten werden können.457 Es sind ihre Stellen und Verhältnisse in der Anschauung, durch die Gegenstände der Anschauung und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften bestimmte Ausdehnungs- und Gestalteigenschaften aufweisen, durch die sie sich in unserem Fall also z. B. über die Zeit erstrecken und eine bestimmte räumliche Gestalt haben (siehe 1.2.1.ii).458 So erstreckt sich die Existenz eines Baumes über die Zeit und machen die Verhältnisse der Stellen seiner wahrnehmbaren Eigenschaften gemeinsam eine bestimmte räumliche Gestalt aus.459 Die Verhältnisse
wo Kant erklärt, dass „eine Synthesis in der Zeit, als einer reinen Anschauung, dem Begriffe [...] einer bestimmten Zahl [...] zum Grunde gelegt werden müsse“. 455 Zur grundlegenden Rolle der Zeit für die Synthesis unserer sinnlichen Anschauung macht Kant zu Beginn der Darstellung der dreifachen Synthesis denn auch „eine allgemeine Anmerkung, die man bei dem Folgenden durchaus zum Grunde legen muss.“ (A 99) Sie lautet: „Unsere Vorstellungen mögen entspringen, woher sie wollen, ob sie durch den Einfluss äußerer Dinge oder durch innere Ursachen gewirkt seien, sie mögen a priori oder empirisch als Erscheinungen entstanden sein: so gehören sie doch als Modifikationen des Gemüts zum inneren Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des inneren Sinnes, nämlich der Zeit, unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen.“ (A 98 f.) 456 Allgemein gibt eine solche Form einzelnen Gegenständen und ihren wahrnehmbaren Eigenschaften „ihre Stelle in der Anschauung“ (A 271/B 327). Siehe an und in Fn. 105. 457 Siehe in Fn. 106. In Bezug auf qualitativ ununterscheidbare Gegenstände bemerkt Kant, dass „die Verschiedenheit der Örter [...] zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes“ (A 263/B 319) ist. 458 Auf B 66 erklärt Kant „Ausdehnung“ entsprechend durch „Verhältnisse [...] der Örter in einer Anschauung“. „Ausdehnung und Gestalt [...] gehören zur reinen Anschauung [...] als eine[r] bloße[n] Form der Sinnlichkeit“ (A 21/B 35). 459 Ausdehnung und Gestalt sind wesentliche Eigenschaften von Körpern. Siehe in Fn. 108.
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von Stellen in der Anschauung bilden nämlich, so lässt sich hier nun hinzufügen, die gleichartigen Teile eines Ganzen, der jeweiligen Form der Anschauung gemäß. In einer Vorlesungsnachschrift heißt es in diesem Sinne: Alle Augenblicke sind Stellen in der Zeit, so wie Punkte [Orte] Stellen im Raume. Alle Teile zwischen den Punkten [Orten] sind selber Raum und alle Teile zwischen den Augenblicken sind selber Teile der Zeit. (V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 201)
Die Verhältnisse von Stellen in der Anschauung bilden demnach gemeinsam homogene Teile der Anschauung: die Verhältnisse von Zeitpunkten ergeben Teile der Zeit, die Verhältnisse von Orten Teile des Raumes. Indem ein Gegenstand der Anschauung nun aber an solchen Stellen vorkommt und in den entsprechenden Verhältnissen steht, nimmt er auch die dadurch gebildeten homogenen Teile der Anschauung ein, in unserem Fall also bestimmte Teile der Zeit und des Raumes, wodurch er selbst wiederum ein Ganzes homogener Teile bildet, bei uns also ein Ganzes zeitlicher und räumlicher Teile. Durch seine Stellen und Verhältnisse in der Anschauung nimmt z. B. ein Baum die durch diese Stellen und Verhältnisse gebildeten homogenen Teile der Zeit und des Raumes ein, wodurch er selbst wiederum bestimmte zeitliche und räumliche Teile aufweist. Mit seiner Beschreibung der Synthesis der Reproduktion in der A-Deduktion begründet Kant nun auch, dass Gegenstände der Anschauung auf diese Weise zu repräsentieren sind, indem er die Möglichkeit der Apprehension an die Möglichkeit der Reproduktion knüpft. Demnach müssen wir Stellen, Verhältnisse und die durch sie gebildeten homogenen Teile in der Anschauung reproduzieren, d. h. sie als Stellen und Verhältnisse der Teile eines Ganzen denken, um sinnliche Eindrücke und die auf ihnen beruhenden Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften überhaupt in einem Ganzen durchlaufen, zusammennehmen und miteinander koordinieren zu können. Nur dadurch also, dass wir zeitliche und räumliche Stellen, Verhältnisse und die durch sie gebildeten homogenen Teile der Zeit und des Raumes reproduzieren, repräsentieren wir einen Gegenstand der Anschauung so, dass er bestimmte Teile der Zeit und des Raumes einnimmt und damit auch selbst bestimmte zeitliche und räumliche Teile aufweist. Nur dadurch wiederum, dass wir einen Gegenstand unserer Anschauung auf diese Weise als ein Ganzes zeitlicher und räumlicher Teile repräsentieren, sind wir auch dazu in der Lage, die wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung anhand ihrer Stellen und Verhältnisse innerhalb eines solchen Ganzen zu apprehendieren, in Gedanken zu behalten und miteinander zu koordinieren, d. h. sie einander als nach- und nebeneinander
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beizuordnen.460 Später in der Kritik, erneut in den „Axiomen der Anschauung“, wird Kant das Verhältnis von Apprehension und Reproduktion denn auch wie folgt beschreiben. Gegenstände der Anschauung können [...] nicht anders apprehendiert, d. i. ins empirische Bewusstsein aufgenommen werden, als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder [einer bestimmten] Zeit erzeugt werden, d. i. durch die Zusammensetzung des Gleichartigen und das Bewusstsein der synthetischen Einheit dieses Mannigfaltigen (Gleichartigen).461 (B 202 f.)
Um Gegenstände der Anschauung und ihre wahrnehmbaren Eigenschaften also dadurch ins Bewusstsein aufzunehmen, dass wir sinnliche Eindrücke apprehendieren, die auf dem Einfluss dieser Gegenstände beruhen, müssen wir durch Synthesis auch die Repräsentationen der bestimmten Räume und Zeiten miterzeugen, in denen diese Eindrücke vorkommen, Stellen einnehmen und in Verhältnissen zueinander stehen. Die Synthesis, durch die wir das tun, beschreibt Kant dabei erneut als eine „Zusammensetzung des Gleichartigen“ (B 202). Durch den Akt der Reproduktion repräsentieren wir nämlich, wie bereits bemerkt, gleichartige Teile der Anschauung, wie z. B. die homogenen Teile der Zeit, als die Teile eines homogenen Ganzen, z. B. als die Teile der bestimmten Zeit ‚von einem Mittag zum anderen‘. Wir müssen demnach, der jeweiligen Form unserer sinnlichen An schauung gemäß, bestimmte Stellen, Verhältnisse und die durch sie gebildeten homogenen Teile der Anschauung als die gleichartigen Teile eines Ganzen repräsentieren, um sinnliche Eindrücke überhaupt anhand dieser Stellen und
460 Die Abhängigkeit der Koordination sinnlicher Eindrücke von einer Reproduktion der Repräsentationen von Raum und Zeit kommt auch darin zum Ausdruck, wie Kant die Überlegung auf A 102 motiviert, indem er nämlich die Möglichkeit einer empirischen Synthesis der Reproduktion wahrnehmbarer Eigenschaften, d. h. die Möglichkeit ihrer Assoziation, an die Möglichkeit einer transzendentalen Synthesis der Reproduktion reiner Anschauungen knüpft: „Wenn wir nun dartun können, dass selbst unsere reinsten Anschauungen a priori keine Erkenntnis verschaffen, außer sofern sie eine solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, die eine durchgängige [empirische] Synthesis der Reproduktion möglich macht, so ist diese Synthesis der Einbildungskraft auch vor aller Erfahrung auf Prinzipien a priori gegründet und man muss eine reine transzendentale Synthesis derselben annehmen, die selbst der Möglichkeit aller Erfahrung [...] zum Grunde liegt.“ (A 101 f.) Dass die reinen Anschauungen von Raum und Zeit also nicht nur, wie in Fn. 448 angedeutet, zu apprehendieren sind, sondern auch zu reproduzieren, ist ebenfalls ein wichtiger Teil von Kants Lösung des Problems der Transzendentalen Deduktion. Siehe die Andeutungen im letzten Abschnitt von Hoeppner (2021). 461 „Die Synthesis der Räume und Zeiten, als der wesentlichen Form aller Anschauung, ist das, was zugleich die Apprehension der Erscheinung, mithin jede äußere Erfahrung, folglich auch alle Erkenntnis der Gegenstände derselben, möglich macht“ (A 165 f./B 206).
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Verhältnisse durchlaufen, zusammennehmen und miteinander in einem Ganzen koordinieren zu können. Kant stellt die gerade beschriebene Verbindung zwischen der Apprehension sinnlicher Eindrücke und den Repräsentationen von Raum und Zeit nun auch in einer Notiz seines Handexemplars der Kritik her. Anhand dieser Notiz wird auch verständlich, inwiefern die Synthesis der Reproduktion als eine Synthesis von Repräsentationen „in der Einbildung“ (A 97, A 100) anzusehen und was an der Synthesis „die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist, wie Kant es in [36] sagt (die selbst allerdings eine „Funktion des Verstandes“ ist, wie er ebenfalls in seinem Handexemplar der Kritik klarstellt).462 Die Notiz lautet: Wir können niemals ein Mannigfaltiges als ein solches in der Wahrnehmung zusammennehmen, ohne es im Raum und [in der] Zeit zu tun.463 Da wir aber diese nicht für sich anschauen, so müssen wir das mannigfaltige Gleichartige überhaupt zusammennehmen nach Begriffen der Größe. (HE, A 163, AA XXIII: 29)
Um ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke als ein solches zusammenzunehmen, müssen wir es anhand von Stellen und Verhältnissen in der Anschauung zusammennehmen, im Falle einer räumlichen und zeitlichen Form der Anschauung also in Raum und Zeit. Da wir die Form der Anschauung aber, in unserem Fall also räumliche und zeitliche Stellen, Verhältnisse und die durch sie gebildeten homogenen Teile von Raum und Zeit, „nicht für sich anschauen“ können – im Unterschied zu den wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen, denen in Anschauungen sinnliche Eindrücke entsprechen –, müssen wir ihre Teile nach und nach durch Einbildung in einem homogenen Ganzen zusammennehmen, d. h. als eine bestimmte Größe. Während die Apprehension, wie Kant es auf A 99 ausgedrückt hat, „geradezu auf die Anschauung gerichtet ist“, d. h. auf das in ihr gegebene Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke, nehmen wir in der Reproduktion formale Stellen, Verhältnisse und Teile der Repräsentation des Gegenstandes durch Einbildung in einem Ganzen zusammen.464 Demnach müssen wir die homogenen Teile
462 HE, A 78, AA XXIII: 45. 463 „Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit und diesen muss die Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann.“ (B 160) 464 „Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.“ (B 151) Während die in der Anschauung apprehendierten sinnlichen Eindrücke von der Gegenwart des Gegenstandes abhängig sind, ist die Einbildung von dieser Gegenwart unabhängig. Dass wir die wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung repräsentieren, die wir repräsentieren (und nicht andere), geht wie
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einer Anschauung, ihrer Form gemäß, durch sukzessive Hinzufügung in der Einbildung selbst erzeugen und als die Teile eines Ganzen reproduzieren, um auf diese Weise überhaupt erst eine Anschauung als „eine ganze Vorstellung“ (A 102) hervorzubringen. Die „Zusammenfassung eines gegebenen Gegenstandes in ein Ganzes der Anschauung“ (AA V: 257) ist so die Aufgabe der Einbildungskraft, wie Kant auch in der Kritik der Urteilskraft bemerkt. Das so beschriebene Verhältnis der Akte der Apprehension und der Reproduktion in der sinnlichen Anschauung eines Gegenstandes lässt sich anhand der Unterscheidung von Materie und Form zusammenfassen. So wird zum einen die durch den Einfluss des Gegenstandes gegebene Materie der empirischen Anschauung apprehendiert, d. h., ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke wird als ein bestimmtes Mannigfaltiges in einer bestimmten Anschauung aufgefasst, wodurch wiederum die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung repräsentiert werden. Zum anderen wird in der Einbildung die Form der empirischen Anschauung eines Gegenstandes erzeugt und reproduziert, d. h. die reine Anschauung seiner Ausdehnung und Gestalt.465 Im
gesehen zuletzt auf den Einfluss von Gegenständen auf unsere Sinne zurück (siehe 3.1.2); die nicht-wahrnehmbaren, formalen Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung, d. h. ihre Stellen, Verhältnisse und homogenen Teile, müssen wir im Unterschied dazu durch Einbildung erzeugen: „Sinnlichkeit ist das Vermögen der Anschauungen, entweder der Gegenstände in der Gegenwart = Sinn oder auch ohne Gegenwart: Einbildungskraft.“ (Refl 225, 1783/4, AA XV: 86) „Sinnlichkeit ist das Vermögen der Anschauung: a) Sinn, Vermögen der Anschauung in der Gegenwart, b) Einbildungskraft, Vermögen der Anschauung in der Abwesenheit des Gegenstandes.“ (V-Lo/Dohna, AA XXIV: 705) Vgl. V-MP/Dohna, AA XXVIII: 672. Es handelt sich hierbei um die Unterscheidung zwischen Charakteristika der Anschauung, die von der Gegenwart des Gegenstandes abhängig sind, und solchen, die von ihr unabhängig sind, d. h. zwischen sinnlichen Eindrücken auf der einen und formalen Charakteristika der Anschauung auf der anderen Seite. So gilt von der „reinen Anschauung“, dass sie „a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.“ (A 21/B 35) Als die bestimmte Form des Ganzen einer Anschauung geht sie auf die Einbildungskraft zurück. Wie Kant in einer Notiz über die „Auffassung“ und „Zusammenfassung“ durch die Einbildungskraft bemerkt: „ich fasse das Mannigfaltige zusammen in eine ganze Vorstellung und so bekommt sie eine gewisse Form.“ (Refl 5661, 1778–83, AA XVIII: 320) 465 Zur Unterscheidung von „Materie und Form“ siehe allgemein A 266/B 322: „Der erstere [Begriff] bedeutet das Bestimmbare überhaupt, der zweite dessen Bestimmung“. In Bezug auf empirische Anschauungen ist das die Unterscheidung zwischen den durch den Einfluss des Gegenstandes gegebenen sinnlichen Eindrücken (als der bestimmbaren Materie) und der reinen Anschauung des Gegenstandes (als der bestimmenden Form). Sie sind „in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden, als Materie und Form derselben“ (A 429/B 457 Anm.). „Die empirische Anschauung hat zwei Stücke: Materie und Form [...]. Die Materie [...] der empirischen Anschauung ist Empfindung, die Form ist die Gestalt. [...] Die Materie aller Vorstellungen
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Fall einer räumlichen und zeitlichen Form der Anschauung werden dabei die räumlichen und zeitlichen Stellen, Verhältnisse und die durch sie gebildeten homogenen Teile der Anschauung erzeugt und reproduziert, anhand derer die sinnlichen Eindrücke des Mannigfaltigen und die auf ihnen beruhenden Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften aufgefasst und miteinander im Ganzen eines Gegenstandes koordiniert werden können. Bei aller Art, wie wir affiziert werden, sind zwei Stücke: Materie, d. i. Empfindungseindruck, und Form, d. i. die Art, wie die Eindrücke in meinem Gemüt vereinigt sind. Sonst hätte ich Millionen Eindrücke, aber keine Anschauung von einem ganzen Objekt. (V-MP/Mron, AA XXIX: 800)
Mit der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke geht, wie bereits bemerkt, eine Weise einher, wie sie uns gegeben sind.466 Diese Weise der Gegebenheit ist allgemein „das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können“ (A 20/B 34).467 Mit den Akten der Apprehension und der Reproduktion hat Kant nun die Akte der Synthesis beschrieben, durch die wir sinnliche Eindrücke zum einen als die Materie sinnlicher Anschauung auffassen und zum anderen in die bestimmte Form eines ganzen Gegenstandes aufnehmen. Auf diese Weise ist der Akt der Synthesis der Reproduktion dafür verantwortlich, dass sinnliche Anschauungen ein Ganzes von Verhältnissen und Stellen bilden, in denen die apprehendierten Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften zueinander stehen und an denen sie vorkommen können. Allerdings ist auch der Akt der Reproduktion wieder nicht selbständig: auch seine Ausübung ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Einheit der Anschauung. Warum das so ist, macht Kants Beschreibung eines der Reproduktion noch vorausgesetzten Aktes deutlich, der die dreifache Synthesis dann abschließt und dem ich mich nun zuwende.
ist die Empfindung und uns a posteriori gegeben. Lasse ich alles aus der Anschauung weg, so behalte ich doch noch die Form, d. i. die Gestalt. [...] Ich werde also das von ausgedehnten Wesen, was übrig bleibt, wenn ich alle Materie der Wahrnehmung weglasse, die Form der Anschauung nennen. Beim Körper denke ich mir nichts als Raum und Gestalt, d. h. die Form der Anschauung.“ (V-MP/Mron, XXIX: 795 f.) „Eine Anschauung a priori ist aber verschieden von der empirischen Anschauung, wie Form und Materie, d. i. nämlich, wenn nicht bloß die Form, sondern auch das Objekt der Empfindung bei der Anschauung zum Grunde liegt, so ist die Anschauung empirisch, fehlt dagegen bei der Anschauung die Materie, d. i. das Objekt der Anschauung, und ist bloß die Form vorhanden und das Objekt möglich, so ist die Anschauung rein.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 969) 466 Siehe in Fn. 103. 467 Siehe in Fn. 105.
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c) Rekognition. Kant beginnt seine Beschreibung der „Rekognition im Begriffe“ (A 97, A 103) wie folgt: Ohne Bewusstsein, dass das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewusstsein verschaffen kann. Vergesse ich im Zählen, dass die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewusstsein dieser Einheit der Synthesis. Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewusstsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproduzierte in eine Vorstellung vereinigt. (A 103)
Kant beschreibt den Akt der Rekognition als ein Bewusstsein.468 Die Rekognition ist das Bewusstsein, so Kant hier, „dass das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“, ein Bewusstsein, ohne das „alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich“ wäre (A 103). Damit wird zunächst einmal beschrieben, worauf das Bewusstsein in der Rekognition gerichtet und wofür es erforderlich ist (a)). Zudem ist der Akt der Rekognition dasjenige Bewusstsein, so fährt Kant fort, „was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproduzierte in eine Vorstellung vereinigt“ (A 103). Damit wird dann beschrieben, worin das Bewusstsein in der Rekognition genauer besteht (b)). Wie Kant beginne auch ich mit a), damit also, worauf das Bewusstsein in der Rekognition gerichtet und wofür es erforderlich ist. „[D]as, was wir denken“ (A 103), ist der einzelne Gegenstand unseres Denkens, das also, wovon unser jeweiliger Akt des Denkens handelt. Das Bewusstsein, um das es in der Rekognition geht, ist das Bewusstsein vom Gegenstand. Es ist dieses Bewusstsein vom Gegenstand, das sich als eine Voraussetzung durch Kants gesamte bisherige Analyse einer Erkenntnis durch Begriffe gezogen hat, indem es jeweils enthalten war in seiner Beschreibung von Urteilen, Begriffen und Anschauungen als den wahrheitsfähigen, allgemeinen und einzelnen Repräsentationen von Gegenständen, ohne jedoch eigens erklärt worden zu sein. Das Bewusstsein vom Gegenstand meint nämlich nichts anderes als die repräsentationale Beziehung auf den Gegenstand, die wir in sinnlichen Anschauungen haben,
468 Bewusstsein ist ein Charakteristikum von Repräsentationen, deren Subjekte auch repräsentieren können, dass sie sie haben. „Eigentlich ist das Bewusstsein eine Vorstellung, dass eine andere Vorstellung in mir ist.“ (Log, AA IX: 33) Vgl. V-Lo/Dohna, AA XXIV: 701 („Bewusstsein (Vorstellung unserer Vorstellung)“).
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oder ihren Inhalt, das also, was sich dann in Begriffsbildung und Urteil auch auf Begriffe überträgt. Wie Kant selbst einige Seiten später betont, ist die Einheit der Anschauung „diejenige Einheit [...], die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muss, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht“ (A 109), und ist wiederum diese „Beziehung auf einen Gegenstand [...] nichts anderes als die notwendige Einheit des Bewusstseins“ (A 109) in der Anschauung; und in der B-Deduktion sagt er in diesem Sinne von der „Einheit des Bewusstseins in der Synthesis derselben“ (B 137), sie sei „dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand [...] ausmacht“ (B 137). Dieses Bewusstsein vom Gegenstand, d. h. die ursprüngliche und unmittelbare Beziehung auf einen einzelnen Gegenstand, die wir nur durch die Einheit der Anschauung haben, soll nun mit der Beschreibung des Aktes der Rekognition endlich eingeholt und erklärt werden. Die Aufgabe einer „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], [18]) besteht darin, Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, die von den Subjekten, Akten und Zuständen der Repräsentation verschieden und unabhängig sind (siehe 1.2.2).469 Die wesentlich mittelbare Beziehung von Begriffen auf Gegenstände ist dabei letztlich auf sinnliche Anschauungen angewiesen, die allein sich unmittelbar auf einzelne Gegenstände der Sinne beziehen (siehe 2.3.1).470 So gilt, wie Kant es in der B-Deduktion sagt, dass ich „zur Erkenntnis eines von mir verschiedenen Objekts, außer dem Denken eines Objekts [...] noch einer Anschauung bedarf, dadurch ich jenen allgemeinen Begriff bestimme“ (B 158). Dieses unmittelbare Bewusstsein vom Gegenstand in sinnlichen Anschauungen, das zugleich den ursprünglichen Inhalt aller unserer Repräsentationen von Gegenständen bildet, ohne den auch Begriffe und Urteile sich nicht auf Gegenstände beziehen könnten, will Kant nun mit seiner Beschreibung des Aktes der Rekognition einfangen.471 Hier soll es also endlich darum gehen, was es überhaupt heißt, einen Gegenstand zu denken.472
469 Siehe in Fn. 424. 470 „Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen.“ ([10]) Siehe in Fn. 365. 471 Kant analysiert die Synthesis hier nun also als „dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“, und so „den ersten Ursprung unserer Erkenntnis“ bildet ([35]). 472 Siehe im Brief an Herz vom 26. Mai 1789, wo Kant den „Begriff von einem Objekte“ (Br, AA XI: 50) durch die Einheit des Bewusstseins erklärt, „durch welche allein das Mannigfaltige der Anschauung [...] in ein vereinigtes Bewusstsein zur Vorstellung eines Objekts überhaupt“ (Br, AA XI: 50) gebracht wird.
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Kant argumentiert auf A 103, dass das, was wir denken – der Gegenstand unseres Denkens –, ‚dasselbe sein‘ muss wie das, „was wir einen Augenblick zuvor dachten“, da sonst „alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich“ wäre. Die verschiedenen, einander folgenden Teilrepräsentationen in der Reproduktion müssen demnach als Repräsentationen numerisch desselben Gegenstandes aufgefasst werden, damit sie überhaupt, wie Kant es hier sagt, eine „Reihe“ bilden und ‚ein Ganzes ausmachen‘. Ohne ein Bewusstsein des einen Gegenstandes unserer verschiedenen Teilrepräsentationen, so Kant, könnten wir sie auch nicht reproduzieren. Wie gesehen besteht der Akt der Reproduktion darin, dass wir homogene Teilrepräsentationen in Gedanken behalten, wie z. B. die Teilrepräsentationen einer Linie, einer Zeit oder einer Zahl, dass wir sie also als die Teile eines Ganzen reproduzieren, z. B. als die Teile der Repräsentation einer Linie, einer Zeit oder einer Zahl. Würden wir die Teile beim Durchlaufen nämlich „immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduzieren“ , dann „würde niemals eine ganze Vorstellung [...] entspringen können.“ (A 102) Das können wir aber nur dann tun, so ergänzt er nun auf A 103, wenn wir die auf diese Weise reproduzierten homogenen Teile nicht einfach nur als homogene Teile, sondern auch als die homogenen Teile ein und desselben Gegenstandes auffassen. Würde ich z. B. einfach nur homogene Teile von Linien denken, ohne sie auch als die Teile ein und derselben Linie aufzufassen, dann könnte ich so nie die ganze Repräsentation einer Linie erzeugen. Nur dadurch also, dass ich die verschiedenen homogenen Teilrepräsentationen, die einander in der Reproduktion folgen, auch als die Repräsentationen ein und desselben Gegenstandes auffasse, halten sie überhaupt als die Teilrepräsentationen einer ganzen Repräsentation zusammen.473 Wie aber fasse ich verschiedene Repräsentationen in diesem Sinne als die Repräsentationen ein und desselben Gegenstandes auf? Diese Frage verweist auf b), darauf also, worin das so beschriebene Bewusstsein in der Rekognition genauer besteht. Das Bewusstsein der Identität des Gegenstandes unseres Denkens, das Bewusstsein also, dass wir durch die verschiedenen Teilrepräsentationen in der
473 Siehe Carl (1992): 163 f. – Auch die reinen Anschauungen von Raum und Zeit selbst sind von der Einheit des Bewusstseins abhängig. So wird Kant wenige Seiten später sagen, „dass selbst die reinste objektive Einheit, nämlich die der Begriffe a priori (Raum und Zeit), nur durch Beziehung der Anschauungen auf sie möglich sei.“ (A 107) Dass die reinen Anschauungen von Raum und Zeit also nicht nur, wie in Fn. 448 und 460 angedeutet, zu apprehendieren und zu reproduzieren, sondern auch zu rekognoszieren sind, ist ein weiterer wichtiger Teil von Kants Lösung des Problems der Transzendentalen Deduktion. Siehe die Andeutungen im letzten Abschnitt von Hoeppner (2021).
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Reproduktion ein und dasselbe denken, wird von Kant nun an das Bewusstsein der Identität des Aktes geknüpft, durch den wir den Gegenstand denken. Nur wenn ich die verschiedenen Akte meines Denkens als die Teilakte ein und desselben Aktes auffasse, so die Überlegung, kann ich den Gegenstand dieser Akte auch als ein und denselben Gegenstand verstehen. „[E]s wäre“, beschreibt Kant die Alternative, „eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte“ (A 103). Immer wieder neue Akte der Repräsentation in diesem Sinne könnten aber, so die Überlegung, auch nie zu der Repräsentation eines Gegenstandes führen. Zur Veranschaulichung kommt Kant hier auf den Akt des Zählens bis zu einer bestimmten Zahl zurück. „Vergesse ich im Zählen“, so führt er dieses Beispiel fort, „dass die Einheiten [...] nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen“ (A 103). Das lässt sich auch so beschreiben, dass der Akt des Zählens auf diese Weise immer nur die Form ‚eins, eins, eins ...‘ hätte, in der die eine Einheit einfach nur unzusammenhängend auf die vorherige folgt, statt die Form einer Reihe aufzuweisen, d. h. die Form ‚eins, zwei, drei ...‘, in der die Einheiten eben gerade so miteinander zusammenhängen, dass sie gemeinsam eine bestimmte Menge und schließlich eine bestimmte Zahl ergeben.474 Wenn ich zähle, dann muss ich die einander folgenden Repräsentationen von Einheiten also auch als die Teilakte ein und desselben Aktes auffassen, denn nur so repräsentiere ich durch sie auch ein und denselben Gegenstand und kann „die Zahl erkennen“ (A 103).475 Nur dadurch also, dass ich die verschiedenen Repräsentationen in der Reproduktion als die Teilakte ein und desselben Aktes auffasse, verstehe ich sie auch
474 In einer Vorlesung soll Kant das auch durch die Einheit des Bewusstseins erläutert haben, mit der ein ganzer Satz über einen Gegenstand gedacht wird, im Unterschied zum Denken der verschiedenen Begriffe (oder Ausdrücke), die in ihm enthalten sind: „Alle Vorstellungen beziehen sich auf ein Objekt vermöge der Bestimmung im Gemüt vermöge deren wir überhaupt uns nur etwas vorzustellen fähig sind. Der Gegenstand muss aber schlechthin eine Einheit sein, wozu das Bewusstsein des Mannigfaltigen verbunden ist; denn sonst müsste der Satz z. E. a) didicisse b) fideliter c) artes d) mollit f) mores etc. so in seinem Ganzen gedacht werden können, dass verschiedene Kräfte a. b. c. d. e. f. etc. sich jede einen Begriff dächte und dennoch sie sich gemeinschaftlich des ganzen Satzes bewusst sein könnten.“ (V-MP-K3/Arnoldt, AA XXVIII: 830) Sich auf diese Weise einen Satz zu denken ist aber „unmöglich“ (AA XXVIII: 830). Die Einheit des Satzes muss so der Einheit des in ihm gedachten Gegenstandes entsprechen. Vgl. V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 1025. 475 „In der Einheit des Gemüts ist ein Ganzes nur dadurch möglich, dass das Gemüt wechselweise aus einer Teilvorstellung die andere bestimmt und alle insgesamt in einer Handlung begriffen sind, die von allen gilt.“ (Refl 4679, 1773–75, AA XVII: 663)
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als Repräsentationen ein und desselben Gegenstandes. „[D]enn dieser Begriff“ – d. h. der Begriff eines Gegenstandes –, so formuliert Kant diesen Gedanken nun ganz allgemein, „besteht lediglich in dem Bewusstsein dieser Einheit der Synthesis.“ (A 103) Der Begriff eines Gegenstandes – genauer: der Inhalt des Begriffs, durch den er sich auf seinen Gegenstand bezieht –,476 ist das Bewusstsein der Einheit der Synthesis, durch die wir den Gegenstand repräsentieren. Der Begriff eines Gegenstandes ist nichts anderes als das Bewusstsein der Identität seiner Synthesis. Dem einen Gegenstand der Repräsentation entspricht auf diese Weise der eine Akt, ihn zu repräsentieren. Einen Gegenstand zu repräsentieren wird von Kant also allgemein dadurch erklärt, dass wir uns, durch die verschiedenen Teilakte seiner Repräsentation hindurch, der Identität der Synthesis bewusst sind, durch die wir ihn repräsentieren. Einen Gegenstand zu repräsentieren heißt dann, in erster Annäherung, durch den einen Akt und seine verschiedenen Teilakte ein und denselben Träger verschiedener Eigenschaften zu repräsentieren – d. h. die eine ‚Substanz‘ verschiedener ‚Akzidentien‘ –,477 wobei dem einen Akt der eine Gegenstand entspricht und den verschiedenen Teilakten seine verschiedenen Eigenschaften. Demzufolge denken wir also verschiedene Eigenschaften als die Eigenschaften ein und desselben Gegenstandes, gerade indem wir die verschiedenen Akte ihrer Repräsentation als die Teilakte ein und desselben repräsentationalen Aktes auffassen. Das Bewusstsein vom Akt, durch den ein Gegenstand repräsentiert wird, erklärt auf diese Weise das Bewusstsein vom Gegenstand, der durch den Akt repräsentiert wird. Die Begründung dafür, dass das Bewusstsein vom Gegenstand im beschriebenen Sinne anhand des Bewusstseins vom Akt seiner Repräsentation zu verstehen ist, gibt Kant dann wenig später: Es ist aber klar, dass, da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, für uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anderes sein könne, als die formale Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen.478 (A 105)
476 Siehe an und in Fn. 3. 477 Die Substanz ist der „Gegenstand selbst“, ein Akzidens „dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert“ (A 182): „der Gegenstand selbst, d. i. die Substanz“ als unterschieden von „der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existieren“, d. h. von „ihren Bestimmungen“ (A 183 f./B 227). Vgl. V-MP-L1/Pölitz, AA XXVIII: 239: „Das Beständige ist nun der reine Begriff der Substanz und das Mannigfaltige [der reine Begriff] des Accidens.“ 478 „Die Elemente unserer Erkenntnisse bestehen in den Vorstellungen, die uns gegeben sind, und deswegen müssen diese Vorstellungen auf ein Objekt bezogen werden. Alles, was wir nun Erkenntnis nennen, kommt darin überein, dass es eine Einheit und Verbindung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen sei. D. h. viele Vorstellungen müssen in einem Bewusstsein verbun-
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Zum einen haben wir es in der Repräsentation von Gegenständen also allein mit unseren repräsentationalen Zuständen und Akten zu tun („nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen“); zum anderen soll unsere Erkenntnis sich aber eben gerade auf Gegenstände beziehen, d. h. auf etwas, das von den Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschieden und unabhängig ist („etwas von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes“). Vor diesem Hintergrund muss es das Bewusstsein der Identität der Synthesis mannigfaltiger Repräsentationen sein – von Kant hier beschrieben als „die formale Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ –, das es uns erlaubt, anhand seiner auch das Bewusstsein vom Gegenstand zu verstehen. Wenn der Gegenstand der Synthesis der Anschauung nämlich das ist, was durch die verschiedenen Teilakte der Repräsentation hindurch ‚dasselbe ist‘, wie es auf A 103 hieß, wenn wir es in der Repräsentation des Gegenstandes aber immer nur mit repräsentationalen Zuständen und Akten zu tun haben, dann kann der Gegenstand der Repräsentation auch nur anhand dessen aufgefasst werden, was in der Repräsentation dasselbe ist. Numerisch dasselbe in der Repräsentation eines einzelnen Gegenstandes ist aber der eine Akt, durch den er gedacht wird, und als dessen Teilakte die an der Apprehension und der Reproduktion beteiligten Teilrepräsentationen anzusehen sind. Vor eben diesem Hintergrund ist die Identität des Gegenstandes anhand der Identität des Aktes aufzufassen, durch den wir ihn denken. In der obigen Passage, auf A 105, ist die Rede von der „Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht“, von einer Einheit, die Kant dann wie gesehen anhand der Identität der Synthesis erklären will, durch die wir ihn repräsentieren. Kurz zuvor erläutert er bereits, was es mit dieser Einheit genauer auf sich hat, die vom Gegenstand ‚notwendig gemacht‘ wird, und zwar in Beantwortung der für die Synthesis der Rekognition entscheidenden Frage, „was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meine.“ (A 104) Kant fragt dort genauer: „Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand redet?“ (A 104) Und er antwortet, dass unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig, sondern a priori
den werden. Die Allgemeingültigkeit muss die Einheit des Bewusstseins in der Synthesis betreffen und dies ist denn der Gedanke von einem Objekt, denn denken kann ich nur dadurch, dass ich Einheit des Bewusstseins in das Mannigfaltige meiner Vorstellungen bringe“ (V-MP/Schön, AA XXVIII: 471).
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auf gewisse Weise bestimmt sind: weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendigerweise in Beziehung auf diesen untereinander übereinstimmen, d. i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht. (A 104 f.)
Der „Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand“ (A 104) enthält zunächst einmal die Unterscheidung zwischen einer Repräsentation und ihrem Gegenstand. Diese sind dabei zudem unterschieden als das, was repräsentiert, und das, was repräsentiert wird, wobei das, was repräsentiert, d. h. die Repräsentation, dem entsprechen soll, was repräsentiert wird, d. h. dem Gegenstand. Darin wiederum ist die Idee enthalten, dass eine Repräsentation genau dann erfolgreich ist, wenn sie ihrem Gegenstand entspricht. Das ist die von Kant auf A 104 so genannte „Notwendigkeit“ oder ‚Nicht-Beliebigkeit‘ in der Beziehung auf den Gegenstand: dass Repräsentationen nämlich mit ihrem Gegenstand übereinstimmen müssen, wenn sie sich erfolgreich auf ihn beziehen sollen. Den zu diesem Zweck erhobenen Anspruch, überhaupt einen Gegenstand zu repräsentieren, mit dem sie dann eben erfolgreich sind oder nicht, erheben Repräsentationen allerdings nur dann, so die Überlegung, wenn sie auch die Einheit aufweisen, durch die sie sich überhaupt auf einen Gegenstand beziehen („diejenige Einheit [...], welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht“, A 105). Wie gesehen weisen sie diese Einheit aber genau dann auf, wenn sie als die Teilakte ein und desselben Aktes der Repräsentation aufgefasst werden, eines Aktes nämlich, durch den sie alle ein und denselben Gegenstand repräsentieren. Ein Gegenstand ist so genau das, womit seine Repräsentationen übereinstimmen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Auf diese Weise ist der Gegenstand des Denkens aber nichts anderes als die andere Seite des Aktes, ihn zu denken. Vor eben diesem Hintergrund ist es Kant auch möglich, das Bewusstsein vom Gegenstand anhand des Bewusstseins vom Akt seiner Repräsentation zu erklären. Das Bewusstsein des Aktes, einen Gegenstand zu repräsentieren, enthält das Bewusstsein seines Gegenstandes nämlich bereits in sich – und umgekehrt –, indem dieser als das gedacht wird, wovon der Akt gelten soll. Das lässt sich auch so beschreiben, dass mit der Synthesis der Rekognition das grundlegende Bewusstsein der Unterscheidung zwischen Repräsentation und Gegenstand eingeholt wird, das es uns überhaupt erst erlaubt, unsere Zustände, Fähigkeiten und Akte als Repräsentationen von Gegenständen zu verstehen.479 Im Bewusstsein des Aktes, durch den wir einen Gegenstand denken, haben wir auch ein Bewusstsein des Gegenstandes, den wir in diesem Akt denken, indem wir ihn vom
479 Es handelt sich hier also um das ursprüngliche Bewusstsein, ohne das „es unmöglich wäre, zu unseren Anschauungen irgendeinen Gegenstand zu denken“ (A 106).
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Akt seines Denkens unterscheiden. Oder, wie sich das auch sagen lässt: im Bewusstsein des Aktes, durch den wir einen Gegenstand denken, hat dieser Akt einen repräsentationalen Inhalt, eine Beziehung auf den Gegenstand. Wenige Seiten später formuliert Kant den Gedanken, dass das Bewusstsein vom Gegenstand anhand des Bewusstseins vom Akt seiner Repräsentation zu verstehen ist, dann so, dass er von der „Einheit des Bewusstseins“ vom Gegenstand sagt, sie wäre unmöglich, wenn nicht das Gemüt in der Erkenntnis des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewusst werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Erkenntnis verbindet. (A 108)
Und kurz darauf bemerkt Kant in genau diesem Sinne über die „Einheit des Bewusstseins“ in der Anschauung, sie bestehe in der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden. (A 109)
Diese beiden Passagen machen deutlich, dass wir verschiedene repräsentationale Akte eben gerade dadurch als die Teilakte ein und derselben Repräsentation auffassen, dass wir sie selbst in ihr verbinden.480 Verschiedene repräsentationale Akte als die Teilakte ein und desselben Aktes aufzufassen heißt dann nichts anderes, als die Teilrepräsentationen einer Repräsentation selbst zusammenzusetzen. Hier kommt erneut der bereits im Zusammenhang der allgemeinen Synthesisthese besprochene Gedanke zum Ausdruck, dass wir eine Verbindung, um sie zu repräsentieren, selbst vornehmen müssen (siehe 3.1.3).481 In der anhand der Synthesis der Rekognition ausgeführten Fassung lautet dieser Gedanke nun: Um die Einheit eines Gegenstandes zu repräsentieren, der ein und derselbe ist durch unsere verschiedenen Akte der Repräsentation hindurch, müssen wir uns auch der Einheit des Aktes bewusst sein, durch den wir ihn denken, d. h., wir müssen unsere verschiedenen Akte als die Teilakte ein und desselben Aktes der Repräsentation auffassen. Um unsere verschiedenen repräsentationalen Akte nun aber in diesem Sinne als die Teilakte ein und desselben Aktes aufzufassen und auf diese Weise die Einheit eines Gegenstandes zu repräsentieren, müssen wir sie selbst zusammensetzen. Wie Kant es im „Leitfaden“, in Satz [30] sagt, muss das Mannigfaltige der Anschauung nämlich nicht nur „durchgegangen“ und „aufgenommen“, sondern es muss auch „verbunden“ werden, um eine Erkenntnis im Sinne der Repräsenta480 Wir müssen „eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zustande bringen, so dass die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewusstseins [...] ist und dadurch allererst ein Objekt [...] erkannt wird.“ (B 138) 481 Siehe an und in Fn. 97.
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tion eines Gegenstandes zustande zu bringen. Entsprechend führt Kant die Synthesis in Satz [32] auch anhand der Aufgabe ein, „verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ Auf den Ausdruck des ‚Begreifens‘ der Mannigfaltigkeit von Repräsentationen in einer Erkenntnis bezieht Kant sich nun offenbar auch zu Beginn der Beschreibung der Rekognition in der A-Deduktion. Dort bemerkt er nämlich, nachdem er den Begriff des Gegenstandes durch das Bewusstsein der Identität der Synthesis erklärt hat, „[d]as Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben.“ (A 103) „[D]enn“, so erläutert er, „dieses eine Bewusstsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproduzierte in eine Vorstellung vereinigt.“ (A 103) Der Ausdruck des Begriffs (von mhd. begrif: begreifen) soll hier wohl auf den ihm verwandten Ausdruck des Begreifens (von mhd. begrîfen: greifen) verweisen, der wiederum auf einen Ausdruck für die körperliche Handlung des Greifens zurückgeht. Analog dazu, so lässt sich das verstehen, begreifen wir durch den Akt der Synthesis verschiedene Repräsentationen in der Erkenntnis eines Gegenstandes, indem wir sie in einer Repräsentation miteinander verbinden.482 Kants Hinweis auf das Wort ‚Begriff‘ an dieser Stelle ist so zu lesen, dass er auf Begriffe im Sinne ihrer Inhalte verweist. Durch den Akt der Synthesis nehmen wir verschiedene Repräsentationen in einer Anschauung zusammen, d. h. wir bringen sie zur Einheit der Anschauung und begreifen so auch das, was in einem Begriff enthalten ist oder seinen Inhalt, wodurch er sich dann auf seine Gegenstände bezieht. Damit diskursive Merkmale nämlich im Begriff eines Gegenstandes zusammenhalten, müssen sie zunächst als intuitive Merkmale in Anschauungen zusammengenommen werden, auf deren Grundlage der Begriff dann gebildet werden kann. Neben ihrer allgemeinen Form, durch die sie von verschiedenen Gegenständen gelten, haben Begriffe auch einen repräsentationalen Inhalt, durch den sie sich auf die Gegenstände beziehen, auf die sie sich beziehen (siehe 1.2.1, 2.2.3, 3.1.1). Im Begriff des Baumes etwa sind z. B. die allgemeinen Merkmale eines Stammes, von Ästen und Blättern miteinander verbunden, durch die er sich auf Bäume bezieht, d. h. auf Gegenstände u. a. mit Stamm, Ästen und Blättern.
482 Darauf weist auch Longuenesse (1998a): 46 hin. Longuenesse (1998a): 46 f., 69 unterscheidet hier ebenfalls einen zweiten Sinn von ‚Begriff‘ – neben dem als allgemeine Repräsentation –, der in dem Bewusstsein der Einheit des Aktes der Synthesis besteht, ohne sich dabei jedoch ausdrücklich auf den ursprünglichen repräsentationalen Inhalt von Begriffen zu beziehen.
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Der Inhalt eines Begriffs, d. h. die diskursiven Merkmale, die er in sich enthält und durch die er sich auf die Gegenstände bezieht, auf die er sich bezieht, kann nun aber nicht auch durch die Akte der Begriffsbildung erklärt werden. Diese Akte setzen nämlich bereits sinnliche Anschauungen voraus, in denen verschiedene intuitive Merkmale miteinander verbunden sind, wie etwa die Merkmale eines einzelnen Stammes, einzelner Äste und Blätter in der Anschauung eines Baumes. Nur solche Verbindungen intuitiver Merkmale können dann in der Begriffsbildung auch in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen analysiert werden und sich so, in der Form allgemeiner Merkmale, auf Begriffe übertragen.483 Da es sich hierbei aber jeweils um dieselben Inhalte handelt, die lediglich in eine andere Form gebracht werden,484 erklärt das, was die Verbindungen von Merkmalen in Anschauungen erklärt, auch die Inhalte von Begriffen. Auf diese Weise erklärt die Synthesis der Anschauung auch den repräsentationalen Inhalt von Begriffen. Der Teilakt der Apprehension erklärt dabei, auf der Grundlage der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke, dass sinnliche Anschauungen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthalten, wie etwa Repräsentationen der braunen Farbe eines Stammes und der grünen Farbe von Blättern. Der Teilakt der Reproduktion erklärt, dass Anschauungen ein homogenes Ganzes von Stellen und Verhältnissen repräsentieren, an denen die wahrnehmbaren Eigenschaften vorkommen und in denen sie zueinander stehen können, wie etwa eine räumliche Gestalt, die von den Verhältnissen der wahrnehmbaren Eigenschaften gebildet wird. Auf diese Weise ist bisher aber lediglich beschrieben, wie einzelne wahrnehmbare Eigenschaften an Stellen und in Verhältnissen untereinander repräsentiert werden, und noch nicht, wie in der Anschauung auch ein Gegenstand repräsentiert wird, der diese qualitativen und formalen Eigenschaften aufweist. So haben sich Apprehension und Reproduktion jeweils als unselbständige Teilakte herausgestellt, als Akte also, die in ihrer Ausübung abhängig sind. Sowohl die Teilaufgabe der Apprehension, das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke „in einer Vorstellung“ (A 99) aufzufassen, als auch die Teilaufgabe der Reproduktion, „eine ganze Vorstellung“ (A 102) zustande zu bringen, sind nur im Zusammenspiel mit der Rekognition erfüllbar: erst hier wird das Mannigfaltige „in eine Vorstellung vereinigt“ (A 103) und kann es ein „Ganzes ausmachen“ (A 103). So hat sich gezeigt, dass wir Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften nur dann apprehendieren können, wenn wir sie auch anhand von Ver-
483 Siehe an und in Fn. 371. 484 Siehe an und in Fn. 82.
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hältnissen und Stellen innerhalb eines homogenen Ganzen reproduzieren, was wir wiederum nur dann können, wenn wir sie auch als die Repräsentationen ein und desselben Gegenstandes auffassen. Erst mit dem Teilakt der Rekognition fassen wir die verschiedenen an der Apprehension und Reproduktion beteiligten Teilrepräsentationen als die Repräsentationen ein und desselben Gegenstandes auf, indem wir uns ihrer als der Teilakte ein und desselben Aktes der Repräsentation bewusst sind. Und erst auf diese Weise erhalten sinnliche Anschauungen auch die Einheit der Anschauung, d. h. diejenige Einheit ihrer Teilrepräsentationen qualitativer und formaler Eigenschaften, die sie gemeinsam überhaupt erst zur Repräsentation eines Gegenstandes macht. So hängen die verschiedenen Teilrepräsentationen, die apprehendiert und reproduziert werden, wie etwa die Repräsentationen der braunen Farbe eines Stammes, der grünen Farbe von Blättern sowie der Stellen und Verhältnisse im homogenen Ganzen einer räumlichen Gestalt, allererst in ein und derselben Repräsentation ein und desselben Baumes miteinander zusammen. Die Teilakte der von Kant so genannten „dreifachen Synthesis“ (A 97) lassen sich nun, wie bereits angekündigt, auf eine Weise zusammenfassen, die den jeweiligen Beitrag jedes der drei Teilakte zur Einheit einer sinnlichen Anschauung zum Ausdruck bringt: i) durch die Synthesis der Apprehension, die im Durchlaufen und Zusammennehmen eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke besteht, repräsentiert eine sinnliche Anschauung wahrnehmbare Eigenschaften des Gegenstandes der Anschauung; ii) durch die Synthesis der Reproduktion, die in der Erzeugung und Reproduktion homogener Teile einer Anschauung als der Teile eines Ganzen besteht, innerhalb dessen die apprehendierten wahrnehmbaren Eigenschaften an Stellen vorkommen und in Verhältnissen stehen können, repräsentiert eine sinnliche Anschauung den Gegenstand der Anschauung als ein Ganzes homogener Teile; iii) durch die Synthesis der Rekognition, die in dem Bewusstsein besteht, dass die verschiedenen Teilakte der Apprehension und der Reproduktion zu ein und demselben Akt des Denkens eines Gegenstandes gehören, repräsentiert eine sinnliche Anschauung ein und denselben Gegenstand dieser verschiedenen Teilakte.485
485 Für die Skizze einer ähnlichen Beschreibung der dreifachen Synthesis siehe de Vleeschauwer (1934–37), Bd. 2: 86. Vgl. Broad (1978): 89 f.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Die Zusammenhänge von Akt der Synthesis, repräsentionalem Inhalt, den dieser Akt erklärt, und dem, was auf diese Weise repräsentiert wird, lassen sich dann wie folgt darstellen:
Akt der Synthesis, Akt der Repräsentation (Explanans)
Inhalt, repräsentationale Beziehung (Explanandum)
Gegenstand, repräsentiertes Charakteristikum
Apprehension
Repräsentation Qualitative Eigenschaften wahrnehmbarer Eigenschaften
Reproduktion
Repräsentation von Stellen und Verhältnissen
Formale Eigenschaften
Rekognition
Repräsentation des Gegenstandes
Träger der Eigenschaften
Wie oben mit der Gegebenheitsthese zum Ausdruck gebracht setzt die Ausübung dieser drei Teilakte schließlich voraus: iv) die Rezeptivität und Gegebenheit sinnlicher Eindrücke, die durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden. Kants Auffassung einer dreifachen Synthesis der Anschauung lässt sich auch so beschreiben, dass er sinnliche Anschauungen als Akte der Synthesis sinnlicher Eindrücke analysiert. Er erklärt also im Allgemeinen, was sinnliche Anschauungen sind, indem er sie mit Akten der Synthesis sinnlicher Eindrücke identifiziert. Sinnliche Anschauungen sind demzufolge nichts anderes als die Akte der Synthesis in ihrer Ausübung anhand eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke. Die sinnliche Anschauung eines Baumes z. B. ist nichts anderes als die (erfolgreiche) Ausübung der Akte der Synthesis anhand eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke, das im repräsentierenden Subjekt durch einen Baum hervorgebracht wird. Anschauungen sind Akte der Synthesis sinnlicher Eindrücke. Im Besonderen analysiert Kant dabei i) die Repräsentation wahrnehmbarer Eigenschaften als Akt der Apprehension sinnlicher Eindrücke; ii) die Repräsentation der Stellen und Verhältnisse wahrnehmbarer Eigenschaften als Akt der Reproduktion sinnlicher Eindrücke; und iii) die Repräsentation des einen Gegenstandes der verschiedenen qualitativen und formalen Eigenschaften als Akt der Rekognition sinnlicher Eindrücke. Durch die Verbindung verschiedener Teilrepräsentationen in der sinnlichen Anschauung eines Gegenstandes werden so die ursprünglichen Inhalte von
3.2 Die realen Funktionen der Synthesis der Anschauung
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Begriffen festgelegt, durch die sie sich überhaupt erst auf ihre Gegenstände beziehen. Wie Kant es auf A 105 sagt: „wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben“, und genau das ist es, wie er hinzufügt, was „einen Begriff, in welchem dieses [Mannigfaltige der Anschauung] sich vereinigt, möglich macht.“ (A 105)486 Begriffe von Gegenständen haben also Inhalte, die auf der Einheit der Anschauung beruhen. Besonders deutlich macht Kant diese Zusammenhänge auch in einer Passage der B-Deduktion, die er damit beginnt, den Begriff des Objekts zu erläutern. Sie lautet: Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun erfordert aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewusstseins in der Synthesis derselben. Folglich ist die Einheit des Bewusstseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, dass sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht. (B 137)
Objekt wird hier als das erklärt, was der Gegenstand eines Begriffs ist, wobei vom Begriff des Gegenstandes wiederum gilt, dass in ihm „das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“. Ein Objekt ist dann der Gegenstand genau eines solchen Begriffs, der die Verbindung eines Mannigfaltigen der Anschauung als seinen Inhalt enthält. So ist die Synthesis der Rekognition wortwörtlich als eine „Rekognition im Begriffe“ (A 97, A 103) zu verstehen (und nicht etwa unter einem Begriff487): als ein Bewusstsein vom Gegenstand, das in einem Begriff enthalten ist, d. h. als sein repräsentationaler Inhalt, seine Beziehung auf den Gegenstand. Wie Kant es bereits in der ersten Auflage der Kritik sagt, mit nahezu derselben Formulierung wie dann auf B 137, ist es die „Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung [...], vermittels deren der Verstand dasselbe in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt.“ (A 250)488 Mit dem Akt der Rekognition legen wir also die Inhalte un-
486 Siehe auch kurz zuvor, wo er über „dieses eine Bewusstsein“ (A 103) in der Rekognition sagt: „ohne dasselbe sind Begriffe und mit ihnen Erkenntnis von Gegenständen ganz unmöglich.“ (A 104) Ohne das Bewusstsein vom Gegenstand, das ihren Inhalt bildet, wären Begriffe, als allgemeine Repräsentationen von Gegenständen, nicht möglich. 487 Wie das, stellvertretend für viele, Förster (2011): 39 meint. 488 „Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird.“ (B 139)
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serer Begriffe fest, d. h. ihre repräsentationale Beziehung auf Gegenstände, indem wir die Einheit der Anschauung hervorbringen. Kant beschreibt allgemein, was es heißt, ein Gegenstand zu sein, anhand dessen, was es heißt, einen Gegenstand zu repräsentieren. Einen Gegenstand zu repräsentieren heißt aber, „Einheit des Bewusstseins in der Synthesis“ (B 137) zu haben, sich also wie beschrieben der Identität des Aktes der Repräsentation bewusst zu sein, wodurch die verschiedenen Teilakte der Synthesis sich wiederum auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Ein Gegenstand zu sein heißt dann entsprechend: i) durch Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften repräsentiert werden zu können (Apprehension); ii) durch Teilrepräsentationen von Stellen und Verhältnissen innerhalb eines homogenen Ganzen repräsentiert werden zu können (Reproduktion); und iii) durch diese verschiedenen Teilakte hindurch als ein und dasselbe aufgefasst werden zu können, was die so repräsentierten qualitativen und formalen Eigenschaften aufweist (Rekognition). Auf diese Weise ist allgemein beschrieben, was es heißt, einen Gegenstand zu denken, und damit auch, was es heißt, ein Gegenstand des Denkens zu sein. Ein Gegenstand des Denkens ist demnach, in erster Annäherung, der identische Träger verschiedener qualitativer und formaler Eigenschaften. Wie Begriffe sich erst in Verbindung mit den anderen Repräsentationen eines Urteils, d. h. innerhalb der Einheit eines Urteils, wahrheitsfähig auf Gegenstände beziehen, so handeln auch die verschiedenen Teilrepräsentationen einer Anschauung nur in Verbindung mit den anderen Teilakten der Synthesis, d. h. innerhalb der Einheit einer Anschauung, von einem einzelnen Gegenstand der Sinne. Wie die Beziehung eines Begriffs auf Gegenstände also nur durch die Vermittlung mit anderen Repräsentationen in einem Urteil möglich ist, so kann auch der Gegenstand sinnlicher Anschauung nur im Zusammenspiel der verschiedenen Teilakte der Synthesis repräsentiert werden. Dabei ist die Repräsentation des einzelnen Gegenstandes der Anschauung der Möglichkeit der Erkenntnis durch Begriffe im Urteil vorausgesetzt. Vor diesem Hintergrund kann die Darstellung des mittelbaren Bezugs von Begriffen auf Gegenstände, die ich oben gegeben habe (siehe 2.3.3), wie folgt um die Synthesis
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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der Anschauung erweitert und so zu einer Darstellung der gesamten Erkenntnis durch Begriffe ergänzt werden:
DIE ERKENNTNIS DURCH BEGRIFFE Vermittlung der Repräsentation (Verbindung) / \ vermittelte Repräsentation vermittelnde Repräsentation (Prädikatbegriff) (Subjektrepräsentation) \ unvermittelte Repräsentation Rekognition (Anschauung) Reproduktion | Apprehension Gegenstand der Anschauung \ / Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke
Um Begriffe auf Gegenstände zu beziehen, müssen sie als die Prädikate von Urteilen, d. h. vermittelt über andere Repräsentationen, auf Gegenstände bezogen werden, zuletzt vermittelt über sinnliche Anschauungen, die als die letzten logischen Subjekte unserer Urteile fungieren. Allein sinnliche Anschauungen beziehen sich unmittelbar auf einzelne Gegenstände der Sinne. Dass sie das aber tun, dass sie also dazu in der Lage sind, die Möglichkeit der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände einzuholen, wird wiederum durch die dreifache Synthesis eines Mannigfaltigen der Sinne erklärt. Durch die Akte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition von durch den Gegenstand gegebenen sinnlichen Eindrücken wird dabei diejenige Einheit hervorgebracht, durch die eine sinnliche Anschauung sich unmittelbar auf ihren Gegenstand bezieht, was sie wiederum in die Lage versetzt, die Rolle eines letzten logischen Subjekts unserer Urteile über Gegenstände zu spielen. Auf diese Weise bringt die „Rekognition im Begriffe“ (A 97, A 103) nicht nur die Synthesis der Anschauung, sondern mit ihr auch die gesamte „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], [18]) zu ihrem Abschluss, indem sie es überhaupt erst möglich macht, allgemeine Begriffe auf einzelne Gegenstände zu beziehen.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien 3.3.1 Die Synthesis der Anschauung als der Inhalt der Kategorien Nachdem Kant den Begriff der Synthesis in [30] bis [35] zur Erklärung des ursprünglichen Inhalts von Begriffen eingeführt und in [36] auf die Ausarbeitung
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dieses Begriffs in der A-Deduktion verwiesen hat, wendet er sich vor diesem Hintergrund nun der Erklärung der repräsentationalen Inhalte der Kategorien und damit der entscheidenden Aufgabe des zweiten Schrittes der Metaphysischen Deduktion zu. Zu diesem Zweck fährt er fort: [37] Allein diese Synthesis [die Synthesis überhaupt als die Wirkung der Einbildungskraft] auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft. [38] Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen Verstandesbegriff. [39] Ich verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht: so ist unser Zählen (vornehmlich ist es in größeren Zahlen merklicher) eine Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht (z. E. der Dekadik). [40] Unter diesem Begriffe wird also die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig. [41] Analytisch werden verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff gebracht (ein Geschäfte, wovon die allgemeine Logik handelt). [42] Aber nicht die Vorstellungen, sondern die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe zu bringen, lehrt die transz[endentale] Logik. [43] Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muss, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. [44] Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte zur Erkenntnis eines vorkommenden Gegenstandes und beruhen auf dem Verstande. (A 78 f./B 103 f.)
Kant unterscheidet hier nun den Akt der Analysis, durch den „verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff gebracht [werden]“ ([41]) – den Akt also, verschiedene Repräsentationen auf der Grundlage einer Analyse in Bezug auf gemeinsame Teilrepräsentationen einem Begriff unterzuordnen (siehe 2.2.1)–, von einem ihm noch vorausgesetzten Akt, der darin besteht, die Synthesis der Anschauung „auf Begriffe zu bringen“ ([37], [42]). Er ordnet das Unter-Begriffe-Bringen dabei der Allgemeinen und das Auf-Begriffe-Bringen der Transzendentalen Logik zu. Das ist erneut – wie schon zu Beginn des dritten Abschnitts des „Leitfadens“ in [27] und [28] – vor dem Hintergrund der Unterscheidung eines logischen und eines realen Gebrauchs des Verstandes zu verstehen. Der logische Gebrauch des Verstandes, ausgeübt in Begriffsbildung und Urteil, ist für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich, für die allgemeine Form von Begriffen und für die wahrheitsfähige Form von Urteilen also, anhand derer Repräsentationen dann, unter Absehung von ihrem Inhalt, in der Allgemeinen Logik betrachtet werden können. Der reale Gebrauch des Verstandes hingegen, ausgeübt in der Synthesis der Anschauung, ist für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich, für ihre
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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repräsentationale Beziehung auf Gegenstände also, deren Erklärung sich als die Aufgabe einer Transzendentalen Logik herausgestellt hat (siehe 1.1.2, 3.1.2/3).489 Da es Kant im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ um die Entwicklung eines Begriffs der Kategorien geht – er handelt „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien“ (A 76/B 102) –, ist der Unterschied zwischen den Akten des Auf- und des Unter-Begriffe-Bringens entsprechend auf den Unterschied zwischen dem repräsentationalen Inhalt und der logischen Form von Begriffen im Allgemeinen und der Kategorien im Besonderen zu beziehen. Der Akt des AufBegriffe-Bringens in der Synthesis der Anschauung ist dann als der Akt der Festlegung des repräsentationalen Inhalts von Begriffen anzusehen, d. h. ihrer Beziehung auf Gegenstände, durch die sie die Begriffe sind, die sie sind.490 Der Akt des Unter-Begriffe-Bringens von Repräsentationen ist hingegen der Akt der Hervorbringung der logischen Form von Begriffen, der ihre Allgemeinheit erklärt und sie so überhaupt erst zu Begriffen macht, zu Repräsentationen also, mit denen wir verschiedene Gegenstände als Mitglieder einer Art oder als Fälle allgemeiner Eigenschaften klassifizieren können. Dass Anschauungen unter Begriffe gebracht werden können ist offenbar gleichbedeutend damit, dass sie in Begriffe als deren ursprüngliche Inhalte eingehen können, durch die diese Begriffe sich auf ihre Gegenstände beziehen. So überträgt sich der Inhalt verschiedener Anschauungen eben gerade dadurch auf einen Begriff, dass die Anschauungen im Zuge der Begriffsbildung unter den so gebildeten Begriff gebracht werden (siehe 1.2.1, 2.2.3). Den Akt, der erklärt, dass Anschauungen dazu in der Lage sind, unter Begriffe gebracht zu werden und so die ursprünglichen Inhalte allgemeiner Begriffe zu bilden – den Akt also, der die Einheit der Anschauung erklärt, durch die eine Anschauung überhaupt erst die Repräsentation eines Gegenstandes ist –,491 beschreibt Kant hier nun als den Akt, die Synthesis der Anschauung auf Begriffe zu bringen. Die Rede davon, die Synthesis der Anschauung „auf Begriffe zu bringen“ ([37], [42]), ist denn auch lediglich eine andere Beschreibung des Aktes der „Re489 „[I]hr [der Analytik] kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne dass sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt“ (A 62 f./B 87). „Die transzendentale Logik handelt von Erkenntnissen des Verstandes dem Inhalte nach“ (Refl 4675, 1775, AA XVII: 651). Siehe an und in Fn. 66. Zum logischen und realen Gebrauch siehe in den Absätzen von Fn. 38 und 47. 490 In der Kritik der Urteilskraft erläutert Kant diesen Ausdruck so, dass „eine Vorstellung der Einbildungskraft auf Begriffe bringen so viel heißt, als sie exponieren“ (AA V: 343). Eine Exposition ist aber eine „deutliche [...] Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört“ (B 38), d. h. also seines Inhalts. Auch das deutet darauf hin, dass das Auf-Begriffe-Bringen als die Festlegung des Inhalts von Begriffen zu verstehen ist. 491 Siehe in Fn. 52.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
kognition im Begriffe“ (A 97, A 103), mit dem Kant in der A-Deduktion, wie im vorherigen Abschnitt gesehen, die Einheit der Anschauung und mit ihr den repräsentationalen Inhalt von Begriffen erklärt. So vollendet auch das Auf-Begriffe-Bringen, das Kant nun in [37] und [42] nennt, eine Synthesis der Anschauung, die als ein Akt der Einbildungskraft beschrieben wird, genau wie es in der A-Deduktion der Akt der Rekognition tut, der dort der „Reproduktion in der Einbildung“ (A 100) vorausgesetzt ist, die dreifache Synthesis abschließt und so zuerst den ursprünglichen Inhalt – die Beziehung auf den Gegenstand – eines Begriffs hervorbringt.492 Zudem illustriert Kant in [39] den Akt, die Synthesis auf Begriffe zu bringen, genau wie in der A-Deduktion den Akt der Rekognition, durch das Zählen bis zu einer bestimmten Zahl. Dafür gibt er hier nun das Beispiel der Dekadik, d. h. des Dezimalsystems, das auf dem Zählen bis zur Zahl zehn beruht (10, 20, 30 usw.).493 Dieser Akt des Zählens ist dabei „eine Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht“ ([39]), wie Kant es hier ausdrückt. Weil er also ein zusammenhängender Akt ist, führt er überhaupt erst zu der Repräsentation eines bestimmten Gegenstandes, d. h. zum ursprünglichen Inhalt eines Begriffs, im Beispiel also zu der Repräsentation der Zahl zehn.494 Auch hier, wie in der A-Deduktion, ist es das Bewusstsein der Identität des Aktes der Repräsentation, im Beispiel des Zählens, das es uns er-
492 In diesem Sinne bemerkt Kant hier nun auch, dass der Verstand erst dadurch, dass er die Synthesis auf Begriffe bringt, „die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung“ ([37]) bzw. „eines vorkommenden Gegenstandes“ ([44]) hervorbringt – d. h. die Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand sinnlicher Anschauung –, genau wie es in der A-Deduktion die Synthesis der Rekognition tut, ohne die, wie es dort heißt, „Begriffe und mit ihnen Erkenntnis von Gegenständen ganz unmöglich“ (A 104) sind. 493 Auch an einer Parallelstelle aus der Kritik der Urteilskraft (siehe AA V: 253 f.) beschreibt Kant die Dekadik so, dass sie auf dem Zählen bis zur Zahl 10 beruht (im Unterschied z. B. zur Tetraktik, dem Zählen bis zur Zahl 4). An dieser Stelle geht es ebenfalls um die Synthesis der Anschauung, d. h. um die „Zusammenfassung des Vielen in eine Anschauung“ (AA V: 254), deren Beispiele „die Zusammenfassung der Einheiten bis zur Zahl 10 (in der Dekadik) oder nur bis 4 (in der Tetraktik)“ (AA V: 254) sind. 494 Unser Zählen ist dabei insofern „eine Synthesis nach Begriffen“, als sie auf Begriffe führt, genauer: auf ihre repräsentationalen Inhalte. Nun könnte man meinen, dass eine andere Lesart näher liegt, der zufolge es in [39] und [40] nicht um die Festlegung des Inhalts von Begriffen durch die Synthesis der Anschauung, sondern vielmehr um Begriffe als Regeln geht, die die Synthesis der Anschauung leiten. Siehe Paton (1936), Bd. 1: 271–73. Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion besteht jedoch wie gesehen darin, die Inhalte von Begriffen im Allgemeinen und der Kategorien im Besonderen überhaupt erst zu erklären (siehe 1.1.1, 1.2.1.i, 3.1.3, 3.2.1). Eine solche Erklärung kann aber offenbar nicht anhand einer Synthesis gegeben werden, die bereits von den zu erklärenden Begriffen geleitet wird. Siehe dazu an und in Fn. 425.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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laubt, ein und denselben Gegenstand der verschiedenen Teilrepräsentationen zu denken, im Beispiel also die Zahl zehn. In der A-Deduktion beschreibt Kant das wie gesehen so, dass ich, wenn ich „eine gewisse Zahl mir vorstellen will“ (A 102), „die nacheinander vorgestellten Einheiten“ (A 102) nicht „aus den Gedanken verlieren“ (A 102) darf. Ich muss sie vielmehr „reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe“, um „eine ganze Vorstellung [hier: der Zahl]“ (A 102) zustande zu bringen. Diese Reproduktion wiederum ist nur möglich, wenn ich „im Zählen“ (A 103) nicht vergesse, „dass die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind“ (A 103), und nur so kann ich „die Zahl erkennen“ (A 103). Ich habe das so beschrieben, dass der Akt des Zählens die Form ‚eins, zwei, drei ...‘ aufweisen muss, in der die Einheiten so miteinander zusammenhängen, dass sie eine bestimmte Zahl ergeben, und nicht die Form ‚eins, eins, eins ...‘, in der die eine Einheit einfach nur unzusammenhängend auf die vorherige folgt. Im Beispiel des „Leitfadens“ muss der Akt des Zählens also die Form ‚eins, zwei, drei, ... zehn‘ aufweisen, so dass durch ihn auch der eine Gegenstand der verschiedenen Teilakte, d. h. die Zahl zehn, gedacht wird. Ich muss ein Bewusstsein des einen Aktes haben, im Beispiel des Zählens, um ein Bewusstsein des einen Gegenstandes der Repräsentation haben zu können, im Beispiel also der Zahl: „denn dieser Begriff“, d. h. der Begriff des Gegenstandes, „besteht lediglich in dem Bewusstsein dieser Einheit der Synthesis“ (A 103), d. h. in dem Bewusstsein der Identität des Aktes, durch den der Gegenstand gedacht wird. Dieses Bewusstsein ist es, so Kant weiter, worauf bereits „[d]as Wort Begriff“ (A 103) verweist, da es „das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproduzierte in eine Vorstellung vereinigt.“ (A 103) Damit meint er aber eben, so habe ich das gelesen, Begriffe im Sinne ihrer Inhalte, d. h. im Sinne ihres Bewusstseins vom bzw. ihrer Beziehung auf den Gegenstand. Auf diese Weise also wird die Synthesis auf den Begriff gebracht, wie Kant es nun im „Leitfaden“ ausdrückt, und der repräsentationale Inhalt des Begriffs wird festgelegt. In [40] geht Kant nun vom so verstandenen Akt, die Synthesis der Anschauung auf Begriffe zu bringen, durch den wir den einen Gegenstand der verschiedenen Teilrepräsentationen der Synthesis denken, zu dem Akt über, die so hervorgebrachte Anschauung unter Begriffe zu bringen, indem er bemerkt: „Unter diesem Begriffe“, d. h. unter dem Begriff des Gegenstandes, im Beispiel also unter dem Begriff einer Menge von zehn Einheiten, „wird [...] die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig.“ Wenn Anschauungen unter einen Begriff gebracht, d. h. als die Anschauungen eines Gegenstandes einer bestimmten Art aufgefasst werden, dann wird die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen insofern notwendig, als die Anschauungen, die unter den Begriff eines Gegenstandes fallen sollen, eine bestimmte Einheit aufweisen müssen, um das tun zu können.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Anschauungen von Bäumen z. B. müssen eine bestimmte Einheit von intuitiven Merkmalen u. a. eines Stammes, von Ästen und Blättern bilden, um unter den Begriff des Baumes fallen zu können. Oder, anhand des von Kant verwendeten Beispiels: die Synthesis des Zählens bis zur Zahl zehn muss die Einheit ‚eins, zwei, drei, ... zehn‘ aufweisen, um unter den Begriff von zehn Einheiten fallen zu können. Die Synthesis einer Anschauung muss demnach zunächst auf den Begriff gebracht werden, so dass sie die Einheit der Synthesis eines bestimmten Gegenstandes aufweist, wie z. B. die Einheit der Anschauung eines Baumes oder des Zählens bis zehn, damit die so hervorgebrachte Anschauung des Gegenstandes auch unter den Begriff gebracht werden kann, d. h. unter den Begriff einer Art von Gegenstand, z. B. unter den Begriff des Baumes oder den Begriff von zehn Einheiten (als der für die Dekadik grundlegenden Menge). In der A-Deduktion führt Kant diese Zusammenhänge nun noch etwas genauer aus: Alle Erkenntnis erfordert einen Begriff, dieser mag nun so unvollkommen oder so dunkel sein, wie er wolle; dieser aber ist seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines und was zur Regel dient. So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauungen kann er aber nur dadurch sein, dass er bei gegebenen Erscheinung die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, mithin die synthetische Einheit in ihrem Bewusstsein vorstellt. So macht der Begriff des Körpers bei der Wahrnehmung von Etwas außer uns die Vorstellung der Ausdehnung und mit ihr die der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. notwendig. Aller Notwendigkeit liegt jederzeit eine transzendentale Bedingung zum Grunde. Also muss ein transzendentaler Grund der Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen, mithin auch der Begriffe der Objekte überhaupt, folglich auch aller Gegenstände der Erfahrung angetroffen werden, ohne welchen es unmöglich wäre, zu unseren Anschauungen irgendeinen Gegenstand zu denken: denn dieser ist nichts mehr als das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdrückt. (A 106)
Die von Kant untersuchte Erkenntnis ist die „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], [18]), d. h. die Beziehung von Begriffen auf Gegenstände, die als solche ‚einen Begriff erfordert‘, wie er hier auf A 106 bemerkt. Ein Begriff „aber ist seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines und was zur Regel dient“ (A 106): Begriffe haben allgemeine Form, d. h. sie können von verschiedenen Gegenständen gelten, und als Repräsentationen mit einer allgemeinen Form können sie als Regeln gebraucht werden, um Gegenstände als Mitglieder einer Art oder Fälle allgemeiner Eigenschaften zu klassifizieren. Zum Beispiel „dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel“ (A 106): wir erkennen Gegenstände als Körper anhand der Einheit von Merkmalen, die im Begriff des Körpers enthalten sind.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Um also als Körper erkannt werden zu können, müssen Gegenstände der Wahrnehmung die Eigenschaften aufweisen, die durch die diskursiven Merkmale repräsentiert werden, die im Begriff des Körpers enthalten sind, d. h. Gegenstände müssen die Eigenschaften der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt usw. aufweisen, um als Körper klassifiziert werden zu können.495 „Unter diesem Begriffe“, wie Kant es in [40] ausdrückt, d. h. hier also unter dem Begriff des Körpers, „wird [...] die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig.“ Um als Anschauungen von Körpern erkannt werden zu können, müssen Anschauungen also eine Einheit intuitiver Merkmale enthalten, die der im Begriff des Körpers enthaltenen Einheit diskursiver Merkmale entspricht. Ein Begriff ist also in diesem Sinne „[e]ine Regel der Anschauungen“ (A 106): eine Regel, nach der Anschauungen als die Anschauungen von Gegenständen bestimmter Arten erkannt werden können, indem sie unter den Begriff gebracht werden. Eine solche Regel kann ein Begriff aber nur dadurch sein, „dass er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, mithin die synthetische Einheit in ihrem Bewusstsein vorstellt.“ (A 106) Ein Begriff muss also eine bestimmte Einheit von Merkmalen enthalten – z. B. die diskursiven Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt usw. –, die ihn zur Repräsentation einer bestimmten Art von Gegenstand macht, im Beispiel eines Körpers. Das tut er aber nur durch die Einheit der Anschauungen, auf denen seine Bildung beruht, d. h. durch die Einheit intuitiver Merkmale – z. B. der intuitiven Merkmale einer Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Gestalt usw. –, die sich im Zuge der Begriffsbildung als die Einheit diskursiver Merkmale auf den Begriff überträgt. Dafür muss der Begriff nun aber sowohl „die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen“ (A 106) von Gegenständen repräsentieren, d. h. die homogenen Teile ihrer Ausdehnung und Gestalt, als auch „die synthetische Einheit in ihrem Bewusstsein“ (A 106) aufweisen, durch die er überhaupt erst Gegenstände wie z. B. Körper als Einheiten bestimmter qualitativer und formaler Eigenschaften repräsentiert. Jeder Begriff eines Gegenstandes hängt damit aber von einem „Grund der Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen“ ab, „ohne welchen es unmöglich wäre, zu unseren Anschauungen irgendeinen Gegenstand zu denken“ (A 106): jeder Begriff hängt letztlich vom Bewusstsein des Gegenstandes in der Rekognition ab, das die Einheit der Anschauung und so eben auch den Inhalt von Begriffen, d. h. die Beziehung auf Gegenstände, nicht nur von Anschauungen, sondern auch der auf ihnen beruhenden Begriffe ausmacht. Jeder Begriff eines Gegenstandes enthält
495 Ausdehnung und Gestalt sind wesentliche Eigenschaften von Körpern. Siehe in Fn. 108.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
auf diese Weise die dreifache Synthesis der Anschauung eines Mannigfaltigen der Sinne als seinen ursprünglichen Inhalt. Damit stehen nun alle wesentlichen Bausteine zur Verfügung, die in Kants Erklärung der Form und des Inhalts von (gegebenen) Begriffen im Allgemeinen und der Kategorien im Besonderen eingehen: die Fähigkeiten und Akte der Begriffsbildung und der Synthesis der Anschauung, die derivative Festlegung begrifflicher Inhalte im Zuge der Begriffsbildung sowie schließlich der Unterschied zwischen empirischen und reinen Begriffen. a) Die allgemeine Form von Begriffen, der Umstand also, dass sie von verschiedenen Gegenständen gelten, wird durch die Ausübung der Begriffsbildung erklärt, d. h. durch die Teilakte der Komparation, der Reflexion und der Abstraktion in Bezug auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen (siehe 2.2.3). In [27], zu Beginn des dritten Abschnitts des „Leitfadens“, beschreibt Kant diesen Akt der Begriffsbildung als den Akt der Analysis, „Vorstellungen [...] zuerst in Begriffe zu verwandeln“. In [41] beschreibt er ihn als den Akt der Analysis, „verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff“ zu bringen. b) Sinnliche Anschauungen wiederum, als die unmittelbaren Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne, werden durch die Ausübung der Synthesis der Anschauung erklärt, d. h. durch die Teilakte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke (siehe 3.2.2). In [30] beschreibt Kant diesen Akt der Synthesis als den Akt, durch den „[das] Mannigfaltige [der Anschauung] zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen.“ c) Die repräsentationalen Inhalte von (gegebenen) Begriffen verhalten sich dabei derivativ zu den Repräsentationen, auf deren Grundlage sie gebildet werden, so dass die Ausübung der Synthesis der Anschauung mit sinnlichen Anschauungen auch die ursprünglichen Inhalte von Begriffen erklärt. So wird bei der Hervorbringung der allgemeinen Form eines Begriffs auch sein repräsentationaler Inhalt festgelegt, durch den er sich auf Gegenstände bezieht, und zwar abhängig davon, worauf die Akte seiner Bildung jeweils gerichtet sind (siehe 1.2.1, 3.1.1, 3.1.3). So gilt, wie Kant es in [34] beschreibt, dass „keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen [können]“, und, wie er das dann in [35] fortführt, dass es erst „[d]ie Synthesis eines Mannigfaltigen“ ist, die „eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“. In [37] und [42] beschreibt Kant die Festlegung des ursprünglichen Inhalts von Begriffen durch die Ausübung der Synthesis der Anschauung als den Akt, die Synthesis „auf Begriffe zu bringen“.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
d)
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Empirische Begriffe, d. h. Begriffe spezifischer Arten von Gegenständen der Sinne wie z. B. der Begriff des Baumes, werden dabei durch die Ausübung der Begriffsbildung in Bezug auf empirische Anschauungen von Gegenständen gebildet, wie z. B. in Bezug auf Anschauungen von Bäumen. Im Unterschied dazu werden reine Begriffe wie die Kategorien, d. h. die Begriffe von Gegenständen überhaupt wie z. B. der Begriff der Substanz, durch die Ausübung der Begriffsbildung in Bezug auf die Fähigkeiten und Akte der Synthesis selbst gebildet, wie z. B in Bezug auf den Teilakt der Rekognition (siehe 1.1.1, 1.2.1.i, 3.1.1). In [38] drückt Kant das so aus: „Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen Verstandesbegriff.“496
Das sind die wesentlichen Bausteine, die erforderlich sind, um mit Kant den Inhalt und die Form von Begriffen im Allgemeinen und der Kategorien im Besonderen zu erklären. Um diese Erklärung nun anhand der Position zu geben, wie Kant sie im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ formuliert, ist genauer zu verstehen, was Kant im Sinn hat, wenn er in [38] sagt, dass ‚die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, den reinen Verstandesbegriff gibt‘. Zu diesem Zweck beginne ich mit einer Erläuterung dessen, was es heißen soll, dass die Synthesis einen Begriff „gibt“, wenn sie „allgemein vorgestellt“ wird (i)); dann untersuche ich, was genau Kant hier mit einer ‚reinen Synthesis‘ meint (ii)). i) Da ich ihre Bildung bereits ausführlich besprochen habe (siehe 1.2.1, 2.2.3), will ich Kants Formulierung in [38] zunächst in Bezug auf empirische Begriffe erläutern, um mich vor diesem Hintergrund dann der Erklärung der Kategorien zu nähern. In Anlehnung an die Formulierung in [38] kann die Festlegung des Inhalts empirischer Begriffe wie folgt beschrieben werden: die Synthesis empirischer Anschauungen, ‚allgemein vorgestellt‘, ‚gibt‘ den empirischen Begriff eines Gegenstandes.
Empirische Anschauungen beziehen sich auf einzelne Gegenstände der Sinne, wie z. B. auf einzelne Bäume. Empirische Begriffe hingegen beziehen sich, als Repräsentationen mit einer allgemeinen Form, auf Eigenschaften oder Arten von Gegenständen der Sinne, wie z. B. auf den Baum. Eine sinnliche Anschauung ist dabei nichts anderes als die Ausübung der Teilakte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition anhand eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke (siehe 3.2.2.a). Die Anschauung eines Baumes zu haben heißt z. B.,
496 Wenige Sätze später wiederholt Kant diese Überlegung dann in fast derselben Formulierung, wenn er sagt, dass ‚die bloße Synthesis der Anschauung‘, „allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.“ (A 79/B 105)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
die Synthesis der Anschauung (erfolgreich) anhand eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke auszuüben, das auf einen Baum zurückgeht. Empirische Begriffe erwerben wir hingegen durch die Ausübung der Teilakte der Komparation, Reflexion und Abstraktion in Bezug auf verschiedene sinnliche Anschauungen, d. h. in Bezug auf verschiedene Synthesen sinnlicher Eindrücke. So erwerben wir z. B. den Begriff des Baumes durch eine Reflexion auf verschiedene Anschauungen von Bäumen, d. h. durch eine Reflexion auf verschiedene Synthesen sinnlicher Eindrücke, die auf Bäume zurückgehen. Dabei übertragen sich die Inhalte der Anschauungen auf den Begriff, der sie dann mit einer allgemeinen Form enthält, als einen wiederhol- und teilbaren Inhalt also, der von verschiedenen Gegenständen gelten kann. Dass sich ihr Inhalt auf diese Weise derivativ zu den Synthesen empirischer Anschauungen verhält, in Bezug auf die sie gebildet werden, macht empirische Begriffe zu gegebenen Begriffen, deren Inhalte uns a posteriori gegeben sind, d. h. durch Bestimmungen in der Erfahrung. In genau diesem Sinne ‚gibt‘ die Synthesis empirischer Anschauungen den Inhalt eines empirischen Begriffs, wenn sie durch die Akte der Begriffsbildung ‚allgemein vorgestellt‘ wird. Diese Erklärung empirischer Begriffe kann nun, durch die Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, als das Modell zur Erklärung der Kategorien verwendet werden. So ist empirischen Begriffen und Kategorien gemeinsam, dass sie Begriffe sind und eine allgemeine Form aufweisen, die durch die Teilakte der Komparation, der Reflexion und der Abstraktion zu erklären ist. Allgemeinheit bringen wir nämlich grundsätzlich dadurch hervor, dass wir verschiedene Repräsentationen miteinander vergleichen, darauf achten, was sie gemeinsam haben, und davon absehen, was sie voneinander unterscheidet.497 Zudem sind die Kategorien, genau wie auch empirische Begriffe, gegebene Begriffe, deren Inhalte wir nicht willentlich zusammensetzen, sondern die darauf beruhen, worauf die Akte ihrer Bildung jeweils gerichtet sind.498 In beiden Fällen übertragen sich also die Inhalte, auf die reflektiert wird, auf die so gebildeten Begriffe, in denen sie dann mit einer allgemeinen Form auftreten. Sowohl die Inhalte empirischer Begriffe als auch die Inhalte der Kategorien verhalten sich derivativ dazu, in Bezug worauf sie gebildet werden. Das, in Bezug worauf sie gebildet werden, und damit auch der so festgelegte repräsentationale Inhalt, ist es nun aber, wodurch empirische Begriffe und Kategorien sich voneinander unterscheiden.
497 Siehe in Fn. 198. Komparation, Reflexion und Abstraktion sind „[d]ie logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden“ (Log, AA IX: 94). 498 Siehe in Fn. 20.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Empirische Begriffe repräsentieren spezifische Eigenschaften und Arten von Gegenständen der Sinne, wie z. B. den Baum, d. h. sie haben empirische Inhalte, die auf spezifische empirische Anschauungen einzelner Gegenstände der Sinne zurückgehen, wie z. B. auf Anschauungen von Bäumen. Im Unterschied dazu repräsentieren die Kategorien Gegenstände überhaupt, d. h. sie repräsentieren Gegenstände sinnlicher Anschauung ganz allgemein und unabhängig davon, von welcher spezifischen Art sie sind.499 Kategorien, wie z. B. der Begriff der Substanz, sollen denn auch reine oder transzendentale Inhalte enthalten, die allgemeinste Charakteristika von Gegenständen sinnlicher Anschauung repräsentieren, wie z. B. ihre Substantialität (siehe 1.1.1, 1.2.1.i).500 Vor diesem Hintergrund können sie aber auch nicht durch eine Reflexion darauf gebildet werden, was spezifischen (Mengen von) empirischen Anschauungen gemeinsam ist, wie empirische Begriffe. Sie müssen vielmehr, so die Überlegung, in Bezug darauf gebildet werden, was sinnlichen Anschauungen als solchen gemeinsam ist, d. h. unabhängig davon, welche spezifischen Gegenstände sie jeweils repräsentieren. Die Kategorien sind durch eine Reflexion darauf zu bilden, was eine Anschauung als solche ausmacht, d. h. schon als die Anschauung eines Gegenstandes. Eine sinnliche Anschauung als solche ist nun aber durch nichts weiter charakterisiert, als dass sie auf den grundlegenden Fähigkeiten und Akten der Synthesis der Anschauung beruht. Die Kategorien sind dann, so ergibt sich auch hier, durch eine Reflexion auf die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke selbst zu bilden, und zwar unabhängig davon, um welches spezifische Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke es sich dabei jeweils handelt. Genau das meint Kant auch, um das hier bereits anzudeuten, wenn er in [38] von der ‚reinen Synthesis‘ spricht. Damit sind nun offenbar auch die Reflexionsweisen voneinander zu unterscheiden, auf denen die Bildung empirischer Begriffe und der Kategorien jeweils beruhen. Während wir nämlich empirische Begriffe, wie z. B. den Begriff des Baumes, im alltäglichen Umgang mit empirischen Anschauungen hervorbringen, bilden wir hingegen die Kategorien, wie z. B. den Begriff der Substanz, im Zuge der philosophischen Untersuchung der Möglichkeit sinnlicher Anschauungen. Diese philosophische und von Kant so genannte transzendentale Reflexion (siehe 1.2.1.i/ii),501 durch die wir die Kategorien bilden, wie Kant sie dann in der
499 Siehe an und in Fn. 56. 500 „[R]eine Verstandesbegriffe“ haben einen „transzendentalen Inhalt“ (A 79/B 105). Vgl. A 53/B 77. Sie sind reine Begriffe, von denen gilt, dass sie „auch dem Inhalte nach aus dem Verstande“ (Log, AA IX: 92) stammen. 501 Siehe A 260 ff./B 316 ff.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Tafel der Kategorien darstellen wird, findet ihren Ausdruck in der Beschreibung der Synthesis sinnlicher Anschauung, die Kant in der A-Deduktion und im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ gibt (siehe 3.2.2, 3.3.1). Dort analysiert er wie gesehen grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte, die wir haben und ausüben müssen, um überhaupt sinnliche Anschauungen von Gegenständen haben zu können. Wenn wir nun auf diese grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung reflektieren und sie auf diese Weise als die Inhalte allgemeiner Begriffe denken, so Kants Überlegung – wenn wir sie also ‚allgemein vorstellen‘, wie er es in [38] sagt –, dann bilden wir auf diese Weise die Kategorien als die Begriffe von Gegenständen überhaupt. Dass sich ihr Inhalt dabei derivativ zu den Fähigkeiten und Akten der Synthesis überhaupt verhält, in Bezug auf die sie gebildet werden, macht auch sie zu gegebenen Begriffen, deren Inhalte uns allerdings a priori gegeben sind, d. h. durch Bestimmungen in der Natur unseres Verstandes selbst. In genau diesem Sinne ‚gibt‘ die reine Synthesis den Inhalt der Kategorien, wenn sie durch die Akte der Begriffsbildung ‚allgemein vorgestellt‘ wird. Die Unterschiede zwischen den Erklärungen empirischer Begriffe und der Kategorien können nun in dem folgenden Überblick zusammengefasst werden: Art gegebener Begriffe
Empirische Begriffe (a posteriori gegeben)
Inhalt/Beziehung auf empirische Inhalte: Beziehung auf den Gegenstand spezifische Arten von Gegenständen
Kategorien, reine Begriffe (a priori gegeben) transzendentale, reine Inhalte: Beziehung auf Gegenstände überhaupt
Gegenstandsbereich der Begriffsbildung
empirische Anschauungen (Bestimmungen in der Erfahrung)
reine Synthesis (Bestimmungen des Verstandes)
Reflexionsweise der Begriffsbildung
empirische, alltägliche Reflexion
transzendentale, philosophische Reflexion
ii) Dem Begriff einer reinen Synthesis in [38] – oder der „Synthesis überhaupt“, wie Kant sie in [36] nennt, oder der „bloßen Synthesis“ (A 79/B 105), wie er sie wenige Sätze später nennen wird – kann man sich nun wie folgt nähern: es handelt sich hier insofern um eine reine Synthesis sinnlicher Anschauung, als sie unter Absehung von empirischen und sinnlichen Spezifika thematisiert wird. Der Begriff einer reinen Synthesis ist demnach analog der Weise zu bilden, wie Kant auf A 20 f./B 34 f. den Begriff einer reinen Anschauung bildet. Eine reine Anschauung ist das, so Kant dort, was übrig bleibt, wenn wir hinsichtlich der Repräsentation eines Gegenstandes der Anschauung davon abstrahieren, was durch
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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sinnliche Eindrücke gegeben und was durch den Verstand gedacht wird (siehe 1.2.1.ii). Demgegenüber ist eine reine Synthesis das, was übrig bleibt, wenn wir hinsichtlich der Repräsentation eines Gegenstandes der Anschauung auch hier davon abstrahieren, was durch sinnliche Eindrücke gegeben wird, d. h. von wahrnehmbaren Eigenschaften wie z. B. einer bestimmten Farbe, zusätzlich nun aber auch davon, in welchen sinnlichen Formen wir diese Eindrücke ordnen, d. h. von den reinen Anschauungen von Raum und Zeit, die de facto und kontingenterweise die Formen unserer Sinne bilden.502 Auf diese Weise bleibt allein das übrig, was durch den Verstand gedacht wird, d. h. die Beziehung auf Charakteristika wie z. B. die Substantialität eines Gegenstandes in der Rekognition.503 Vor dem Hintergrund der dreifachen Synthesis der A-Deduktion besteht nämlich das, was bleibt, wenn wir auf diese Weise abstrahieren, aus den Fähigkeiten und Akten der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Anschauung, wenn sie unabhängig von Raum und Zeit als den spezifischen Formen unserer Sinne betrachtet werden. Wie Kant selbst es gegen Ende der „Analytik“ sagt: „Lasse ich [...] alle Anschauung weg“ (A 253/B 309) – genauer: „die besondere Art (der Sinnlichkeit) [...], in der sie [Objekte überhaupt] gegeben werden mögen“ (A 254/B 309) –, „so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen.“ (A 254/B 309) Sehen wir also von Raum und Zeit ab, in denen uns die Gegenstände der Sinne gegeben werden, so bleiben dennoch die Fähigkeiten und Akte der Repräsentation durch den Verstand übrig – die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung –, die erforderlich sind, um einen Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken. Kants eigene Erläuterung des Begriffs einer reinen Synthesis, wie er ihn in [38] verwendet, bestätigt diese Lesart. Nachdem er dort nämlich bemerkt, dass „[d]ie reine Synthesis, allgemein vorgestellt, [...] den reinen Verstandesbegriff [gibt]“, erklärt er gleich in [39]: „Ich verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht“ bzw. die Synthesis, die „nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht“. Mit Gründen
502 Siehe an und in Fn. 105. 503 Kant beschreibt genau diese Abstraktion zu Beginn von Was heißt: Sich im Denken orientieren?: „Wenn wir hernach von dieser konkreten Verstandeshandlung [einer empirischen Anschauung] die Beimischung des Bildes, zuerst der zufälligen Wahrnehmung durch Sinne, dann sogar die reine sinnliche Anschauung überhaupt weglassen: so bleibt jener reine Verstandesbegriff übrig, dessen Umfang nun erweitert ist und eine Regel des Denkens überhaupt enthält.“ (AA VIII: 133)
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synthetischer Einheit sind hier aber erneut grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte der Synthesis gemeint, auf denen die Einheit der Anschauung beruht. So ist der oben bereits rekonstruierte Abschnitt der A-Deduktion, in dem Kant die dreifache Synthesis behandelt (siehe 3.2.2), überschrieben mit „Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“ (A 95), und behandelt Kant dort die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis, die er ankündigt als „subjektive Quellen, welche die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“ (A 97). Bei Gründen synthetischer Einheit ist also offenbar an die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke zu denken, oder, in den Worten des „Leitfadens“: an die Fähigkeiten und Akte, durch die ein solches Mannigfaltiges „durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ ([30]) wird. Die reine Synthesis besteht, so bestätigt sich hier, aus den grundlegenden Fähigkeiten und Akten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition eines Mannigfaltigen der Sinne. Und übertragen auf [38] heißt das dann eben: die Fähigkeiten und Akte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Anschauung geben uns die Inhalte der Kategorien, wenn sie allgemein repräsentiert werden, d. h. also: wenn sie als die Inhalte von Begriffen aufgefasst werden. Wenn die Inhalte der Kategorien also auf der reinen Synthesis beruhen sollen und der Begriff dieser Synthesis der Begriff der Synthesis sinnlicher Anschauung unter Absehung von ihren empirischen und sinnlichen Spezifika ist, dann enthält er also eine zweifache Abgrenzung, und zwar sowohl von empirischen als auch von reinen Anschauungen als der Grundlage des Inhalts von Begriffen. Besonders deutlich sagt Kant das an einer Stelle der „Methodenlehre“: [W]enn mir der transzendentale Begriff einer Realität, Substanz, Kraft etc. gegeben ist, so bezeichnet er weder eine empirische noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen [...]. (A 722/B 750)
Die Kategorien (und ihre Prädikabilien) beruhen also weder auf spezifischen empirischen Anschauungen, wie empirische Begriffe (wie z. B. der Begriff des Baumes) es tun, noch auf reiner Anschauung, wie etwa mathematische Begriffe (wie z. B. der Begriff einer Linie), sondern allein auf der „Synthesis der empirischen Anschauungen“ (A 722/B 750), wie Kant es hier sagt. Die Inhalte der Kategorien (und ihrer Prädikabilien) haben ihre Grundlage allein in der
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Synthesis empirischer Anschauungen. Wie Kant es bereits kurz zuvor sagt: die Kategorien [enthalten] nichts als die Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind [...].504 (A 719/B 747)
Die Inhalte der Kategorien beruhen also allein darauf, so die Überlegung, was die Synthesis empirischer Anschauungen ganz allgemein charakterisiert, d. h. unabhängig davon, welches spezifische (empirische) Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke und welches spezifische (reine) Mannigfaltige formaler Stellen und Verhältnisse ihnen jeweils zugrunde liegt. Sie beruhen damit aber auf nichts anderem, so zeigt sich auch hier, als auf den repräsentationalen Fähigkeiten und Akten der Synthesis eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke selbst, d. h. auf denjenigen Fähigkeiten und Akten, die in jede empirische Anschauung schon als die unmittelbare Repräsentation eines Gegenstandes der Sinne eingehen. In genau diesem Sinne, so lässt sich das nun verstehen, sind die Kategorien dann die „reinen Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106), wie Kant sie gegen Ende des „Leitfadens“ nennen wird, oder ausführlicher die „Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen“ (A 723/B 751), als die er sie in der „Methodenlehre“ der Kritik beschreibt.505 Die Kategorien sind Begriffe, deren Inhalte allein auf der Synthesis empirischer Anschauungen beruhen, d. h. auf einer Reflexion auf die Synthesis eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke zur Anschauung eines Gegenstandes, unabhängig davon, um welches Mannigfaltige es sich dabei handelt und in welcher Form es gegeben ist. Die Abgrenzung von empirischen Anschauungen bringt zum Ausdruck, dass die Kategorien keine empirischen Begriffe sind, die spezifische Arten von Gegenständen der Sinne anhand ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentieren. Um es mit Charakteristikum i) aus A 64/B 89 zu sagen: die Kategorien sind keine empirischen Begriffe, die auf einer Reflexion auf empirische Anschauungen beruhen, sondern vielmehr reine Begriffe, die auf einer Reflexion auf den Verstand selbst beruhen (siehe 1.2.1.i). Die Abgrenzung von reinen Anschauungen bringt hingegen zum Ausdruck, dass die Kategorien keine anschaulichen oder sinnlichen Repräsentationen sind, die bereits spezifische sinnliche Formen wie in unserem Fall z. B. eine zeitliche und räumliche Form aufweisen. Um es mit Charakteristikum ii) aus A 64/B 89 zu sagen: die Kategorien sind keine anschaulichen oder sinnlichen Repräsentationen, mit deren Form, zu der wir
504 Das charakterisiert eine Kategorie im Unterschied zu einem mathematischen Begriff, der „schon eine reine Anschauung in sich [enthält]“ (A 719/B 747). 505 Sie sind „Begriffe der Synthesis des Mannigfaltigen möglicher Anschauungen“ (Refl 5643, 1780–88, AA XVIII: 283). – Vgl. Sellars (2002b): 406 (§ 10): „[...] intuitions of manifolds contain the very categories which can be found in the general concepts which we apply to these intuitions“.
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uns passiv verhalten, wir de facto und kontingenterweise ausgestattet sind, sondern sie sind vielmehr intellektuelle Repräsentationen, die wir durch Akte der Verbindung selbst hervorbringen (siehe 1.2.1.ii). In der Transzendentalen Logik will Kant den Verstand denn auch zunächst noch isolieren, um so ausschließlich das zu betrachten, was auf den Verstand als das Vermögen einer Erkenntnis durch Begriffe zurückgeht.506 Die Kategorien dürfen vor diesem Hintergrund aber nichts weiter enthalten, als was aus der Natur des Verstandes selbst stammt, so dass hier eben zunächst noch von der Art abzusehen ist, wie die Gegenstände der Sinne uns Menschen de facto und kontingenterweise gegeben werden. Wie Kant es in einer Notiz von 1775 formuliert: Die transzendentale Logik handelt von Erkenntnissen des Verstandes dem Inhalte nach, aber unbestimmt in Ansehung der Art, wie Objekte gegeben sind. (Refl 4675, AA XVII: 651)
Und in Bezug auf die „Kategorien“ heißt das dann, wie Kant in einer späteren Notiz bemerkt, dass sie nicht die Art, wie uns ein Mannigfaltiges gegeben werden mag, enthalten. (Refl 6443, 1780–88, AA XVIII: 719)
Diese Art, wie Gegenstände (bzw. ein Mannigfaltiges der Sinne) uns Menschen gegeben werden – die Art also, die eine Transzendentale Logik zunächst noch unbestimmt lässt und die nicht bereits in den Kategorien enthalten ist –, ist die spezifische Form unserer sinnlichen Anschauung, bestehend aus räumlichen und zeitlichen Stellen und Verhältnissen, an denen die Gegenstände unserer Sinne vorkommen und in denen sie stehen können (siehe 1.2.1.ii). Wie bereits angedeutet spielt die Abstraktion von dieser Art, wie uns ein Mannigfaltiges der Sinne durch Gegenstände gegeben wird, eine wichtige Rolle für Kants Unterscheidung der beiden Schritte der B-Deduktion. Für den ersten Schritt dieses Arguments gilt nämlich, so Kant, dass man dort, da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen, noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahieren muss, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittels der Kategorie hinzukommt, zu sehen. (B 144)
Wenn nun aber für den ersten Schritt der B-Deduktion gilt, dass wir von unserer spezifischen Art der Sinnlichkeit absehen müssen, und wenn es für diesen Schritt gilt, „da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entsprin-
506 Siehe A 62/B 87. Wenn er das nämlich nicht täte, so würde Kant selbst sich der Vermischung von Begriffen des Verstandes und der Sinnlichkeit schuldig machen, die er u. a. auf A 81/B 106 f. und Prol, AA IV: 323 Aristoteles vorwirft.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
261
gen“, dann muss es offenbar auch für die Metaphysische Deduktion gelten, die der Transzendentalen Deduktion noch vorhergeht und deren Aufgabe ja gerade darin besteht, den Ursprung der Kategorien im Vermögen des Verstandes selbst nachzuweisen (siehe 1.1.1). Die Kategorien sind so auch hier unabhängig von unserer spezifischen Art der Sinnlichkeit zu betrachten, und zwar eben deshalb, weil die Kategorien im reinen Verstande unabhängig und vor aller Anschauung, lediglich als dem Vermögen zu denken, ihren Sitz und Ursprung haben, und sie immer nur ein Objekt überhaupt bedeuten, auf welche Art es uns auch immer gegeben werden mag. (KpV, AA V: 136)
Nun könnte man dennoch meinen, mit der reinen Synthesis in [38] sei die Synthesis des reinen Mannigfaltigen bloßer Stellen und Verhältnisse der Anschauung gemeint, das in unserem Fall a priori in Raum und Zeit gegeben ist. Schließlich hat Kant den Ausdruck einer reinen Synthesis in [33] in genau diesem Sinne eingeführt: „Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit).“507 Die Bedeutung des Ausdrucks dort lässt sich aber nicht auf die Rede von der reinen Synthesis in [38] übertragen. So gilt das, was Kant gleich in [39] über den Begriff der reinen Synthesis sagt, dass sie also „auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht“ bzw. „nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht“, sowohl für die empirische als auch für die reine Anschauung. Die Gründe synthetischer Einheit, d. h. die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis, sind nämlich sowohl bei einem empirischen als auch bei einem reinen Mannigfaltigen erforderlich, um die Einheit empirischer bzw. reiner Anschauung zustande zu bringen. Der Ausdruck einer reinen Synthesis in [38] kann vor diesem Hintergrund also nicht so gelesen werden, dass er auf die Synthesis eines reinen Mannigfaltigen beschränkt ist. Zudem könnten die Kategorien dann, wenn ihr Inhalt auf einer Synthesis reiner Anschauung, auf einer Synthesis bloßer Stellen und Verhältnisse in Raum und Zeit beruhte, auch lediglich Begriffe von Raum und Zeit sein, d. h. Begriffe spezifischer formaler Charakteristika wie zeitlicher und räumlicher Ausdehnung und Gestalt. Vor diesem Hintergrund ist die Synthesis der reinen Anschauungen von Raum und Zeit aber in zwei Hinsichten zu eng, um den repräsentationalen Inhalt der Kategorien zu erklären.
507 So lesen es Paton (1936), Bd. 1: 275 und Broad (1978): 84–86. Auch der Umstand, dass Kant in [43] „das Mannigfaltige der reinen Anschauung“ nennt, und „die Synthesis dieses Mannigfaltigen“, um in [44] dann die Kategorien als „Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben“, zu beschreiben, scheint in diese Richtung zu verweisen. Siehe aber die nun im Fließtext genannten zwei Gründe dafür, dass das nicht das sein kann, was Kant im Sinn hat.
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Erstens müssen die Kategorien, als die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt, dazu in der Lage sein, sich auf empirische Gegenstände zu beziehen, so dass sie nicht auf einer Synthesis bloß reiner Anschauungen beruhen können. Die Kategorien dürfen nicht nur von Raum und Zeit und formalen Charakteristika wie räumlicher Gestalt und zeitlicher Ausdehnung handeln, sondern sie müssen auch und gerade auf einzelne empirische Gegenstände beziehbar sein, die uns in Raum und Zeit gegeben werden.508 Genau das aber könnten die Kategorien grundsätzlich nicht leisten, wenn ihre Inhalte lediglich auf der Verbindung formaler Stellen und Verhältnisse z. B. in Raum und Zeit beruhten. So kann die Verbindung eines reinen Mannigfaltigen formaler, räumlicher und zeitlicher Stellen und Verhältnisse auch zu nichts anderem führen als zu den reinen Anschauungen von Raum und Zeit, d. h. zu Repräsentationen bloß formaler Charakteristika wie räumlicher Gestalt und zeitlicher Ausdehnung.509 Repräsentationen von Gegenständen kommen auf diese Weise nicht zustande, repräsentieren diese neben bloß formalen doch immer auch qualitative Eigenschaften und nicht zuletzt eben Gegenstände als die Träger der verschiedenen Eigenschaften.510 So ist z. B. nicht zu sehen, wie es möglich sein soll, sich allein auf der Grundlage formaler Stellen und Verhältnisse auf eine Substanz als den gemeinsamen Träger verschiedener, u. a. wahrnehmbarer Eigenschaften zu beziehen. Nur empirische Anschauungen sind Anschauungen von Gegenständen.511 Daher muss es die Synthesis empirischer Anschauungen sein, die zugrunde liegt, wenn die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen gebildet werden.
508 Schließlich geht es in der Transzendentalen Deduktion zuletzt um „die Möglichkeit, durch Kategorien die Gegenstände, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen, [...] zu erkennen“ (B 159). 509 Auch dann, wenn man den generischen Begriff einer reinen Anschauung bildet, d. h. den Begriff einer reinen Anschauung überhaupt, der enthält, was reinen Anschauungen als solchen gemeinsam sein muss, unabhängig davon, durch welche Form sie dabei jeweils charakterisiert sind – so etwas wie ein Raum und Zeit funktional äquivalentes System der Repräsentation von Stellen und Verhältnissen, an denen Einzelgegenstände der Sinne vorkommen und in denen sie stehen können –, ist nicht zu sehen, wie allein auf dieser Grundlage Begriffe von Gegenständen erklärt werden könnten. Die Synthesis eines Mannigfaltigen reiner Anschauung kann auch nur reine Anschauungen hervorbringen. – Strawson (1959): Kap. 1, 2, 4 entwickelt einen solchen Begriff der Form jedes möglichen Begriffsschemas, durch das Gegenstände individuiert werden können. Siehe in Fn. 229. Siehe Hoeppner (2020), Teil 33.2. 510 Das hat Kants Beschreibung und Analyse einer „dreifachen Synthesis“ (A 97) deutlich gemacht (siehe 3.2.2). 511 So „liefern uns die Kategorien [...] keine Erkenntnis von Dingen, als nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung“ (B 147). Zu qualitativen Eigenschaften siehe A 714 f./B 742 f.: „[...] Qualitäten aber lassen sich in keiner anderen als empirischen Anschauung darstellen.“
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
263
Zweitens müssen die Kategorien, als die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt, dazu in der Lage sein, sich auf die Gegenstände einer sinnlichen Anschauung überhaupt zu beziehen, d. h. unabhängig davon, durch welche spezifischen Formen sie angeschaut werden, so dass sie nicht auf einer Synthesis spezifisch räumlicher und zeitlicher reiner Anschauungen beruhen können. Die Kategorien dürfen nicht bereits bei der Entwicklung ihres Begriffs auf bestimmte Formen sinnlicher Anschauung spezifiziert sein, wie etwa auf Raum und Zeit als die Formen, die wir von uns selbst kennen.512 So sollen die Kategorien die Erkenntnis durch Begriffe ganz allgemein charakterisieren, d. h. als die Erkenntnis jedes möglichen Wesens, das diskursiv denkt und sinnlich anschaut, und damit eben unabhängig von den formalen Spezifika einer sinnlichen Anschauung.513 Die reinen Anschauungen von Raum und Zeit sind für Kant aber genau das: die Spezifika der menschlichen Sinnlichkeit, die diese de facto und kontingenterweise auszeichnen, ohne jedoch wesentlich zum Begriff einer sinnlichen Anschauung zu gehören.514 Würden die repräsentationalen Inhalte der Kategorien nun auf der Synthesis reiner Anschauung, d. h. auf der Synthesis eines reinen Mannigfaltigen von in unserem Fall spezifisch räumlichen und zeitlichen Stellen und Verhältnissen beruhen – oder etwa auf der Synthesis eines anhand solcher spezifisch räumlicher und zeitlicher Stellen und Verhältnisse gegebenen Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke zu empirischen Anschauungen –, dann wären infolgedessen auch die Kategorien auf uns Menschen und damit auf die Gegenstände einer räumlichen und zeitlichen Sinnlichkeit eingeschränkt. Der für die Erklärung der Inhalte der Kategorien in der Metaphysischen Deduktion relevante Begriff sinnlicher Anschauung ist denn auch der Begriff der Anschauung überhaupt, d. h. der generische Begriff einer sinnlichen Anschauung, unabhängig von der spezifischen Weise, wie Gegenstände in ihr gegeben werden.515
512 Würden die Kategorien bereits mit einem gemäß unserer Sinnlichkeit interpretierten Inhalt eingeführt, z. B. also in einer zeitlichen Interpretation, dann wäre zudem ihr Schematismus überflüssig, den Kant jedoch auf A 137 ff./B 176 ff. gibt. So auch Strawson (1966): 77. Vgl. Tolley (2012): 431 f., 439. 513 „[W]ollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschaute [...], so würden die Kategorien in Ansehung einer solchen Erkenntnis gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen“ (B 145). Vgl. B 138 f. „Die reinen Verstandesbegriffe [...] erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist.“ (B 148) Vgl. B 150. 514 Siehe in Fn. 76. Vgl. B 139. 515 Die Kategorien sind „Begriffe von Anschauungen überhaupt“ (Prol, AA IV: 302). Von einer Kategorie kann allgemein gesprochen werden als „einem Begriffe der Zusammensetzung des
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So erklärt Kant dort den „transzendentalen Inhalt“ (A 79/B 105) der Kategorien „vermittels der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt“ (A 79/B 105),516 wie er es gegen Ende des „Leitfadens“ ausdrücken wird, und er erklärt ihn damit eben als den Inhalt von Begriffen, „welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen“ (A 79/B 105).517 Die Kategorien haben Inhalte, die auf der Synthesis der sinnlichen Anschauung überhaupt beruhen, d. h. auf einer Reflexion auf die Synthesis der sinnlichen Anschauung unabhängig von ihrer spezifischen Form, und durch diese Inhalte beziehen sie sich auf die Gegenstände einer sinnlichen Anschauung überhaupt. In der B-Deduktion spricht Kant von der „Verstandesverbindung (synthesis intellectualis)“ (B 151), die er zuvor als die Synthesis beschreibt, „welche in Ansehung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in der bloßen Kategorie gedacht würde“ (B 151).518 Die Kategorien sind demnach die allgemeinsten Begriffe der Gegenstände einer Anschauung überhaupt, durch welche Formen auch immer sie gegeben werden, so lange sie nur die Gegenstände einer sinnlichen Anschauung sind (und nicht etwa die einer intellektuellen). Auch das sagt Kant mit besonderer Deutlichkeit in der B-Deduktion: Die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgendeine andere, doch sinnliche, sei [...].519 (B 150)
Eine ausdrückliche Formulierung dieser Position gibt Kant dann auch in den Fortschritten: Es ist aber wohl zu merken, dass diese Kategorien [...] keine bestimmte Art der Anschauung (wie etwa die uns Menschen allein mögliche) wie Raum und Zeit [...] voraussetzen, sondern nur Denkformen sind für den Begriff von einem Gegenstande der Anschauung überhaupt, welcher Art diese auch sei […].520 (AA XX: 272)
Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt“ (Br, Anm. Brief an Tieftrunk 11. Dezember 1797, AA XIII: 472). Eine Kategorie ist „[d]as Bewusstsein von der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 984). 516 Meine Hervorhebung. 517 Meine Hervorhebung. 518 Meine Hervorhebung. Sie ist die Synthesis einer Anschauung überhaupt durch den Verstand allein, im Unterschied zur „Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist [...] (synthesis speciosa)“ (B 151), d. h. der Synthesis unserer reinen Anschauungen von Raum und Zeit. 519 Siehe in Fn. 513. 520 Dann fährt Kant mit der folgenden Begründung fort: „Denn wir müssen uns immer einen Begriff von einem Gegenstande durch den reinen Verstand machen, von dem wir etwas a priori urteilen wollen, wenn wir auch nachher finden, dass er überschwenglich sei und ihm keine objektive
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
265
So ergibt sich die folgende Zuordnung empirischer Begriffe, mathematischer Begriffe und der Kategorien sowohl zur jeweiligen Synthesis der Anschauung, die der Anwendungsbereich ihrer Bildung ist, als auch zum jeweiligen Mannigfaltigen, das den Anwendungsbereich dieser Synthesis bildet: Art von Begriff
Empirische Begriffe
Mathematische Begriffe
Synthesis (Anwendungsbereich der Begriffsbildung)
Synthesis spezifischer Synthesis spezifischer empirischer (räumlicher und zeitlicher) Anschauungen reiner Anschauungen
Synthesis empirischer Anschauungen
Mannigfaltiges der Anschauung (Anwendungsbereich der Synthesis)
spezifische sinnliche Eindrücke
Mannigfaltiges der Anschauung überhaupt
spezifische (räumliche und zeitliche) Stellen und Verhältnisse
Kategorien
Vor diesem Hintergrund bin ich nun in der Lage, zu sagen, worin genau die „reine Synthesis“ ([38]) bzw. die „Synthesis überhaupt“ ([36]) besteht, auf der die Inhalte der Kategorien beruhen. Die reine Synthesis, auf die wir nach [38] reflektieren und die wir ‚allgemein vorstellen‘, um auf diese Weise die Kategorien als die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt zu bilden, ist die Synthesis einer sinnlichen Anschauung überhaupt, betrachtet unabhängig nicht nur von den empirischen Spezifika sinnlicher Eindrücke, sondern auch von den sinnlichen Spezifika der Formen, in denen diese Eindrücke gegeben werden. Sie besteht damit allein aus den grundlegenden Fähigkeiten und Akten der Synthesis, die in jede empirische Anschauung eines Gegenstandes eingehen müssen. Die reine Synthesis, die den repräsentationalen Inhalten der Kategorien zugrunde liegt, ist dann nichts anderes, so zeigt sich auch hier, als die Synthesis sinnlicher Anschauung selbst, die aus den grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akten der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke besteht, oder, in den Worten des „Leitfadens“: aus den Fähigkeiten und Akten der Synthesis, durch die ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke „durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ ([30]) wird.
Realität verschafft werden könne, so dass die Kategorie für sich von den Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, nicht abhängig ist, sondern auch andere für uns gar nicht denkbare Formen zur Unterlage haben mag, wenn diese nur das Subjektive betreffen, was a priori vor aller Erkenntnis vorhergeht und synthetische Urteile a priori möglich macht.“ (FM, AA XX: 272)
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Die Kategorien sind damit „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106, A 723/B 751), Begriffe also, die wir durch eine Reflexion auf die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis empirischer Anschauungen bilden und deren Inhalte entsprechend auf diesen Fähigkeiten und Akten der Synthesis beruhen. Indem wir in der philosophischen Untersuchung auf die „reine Synthesis“ ([38]) reflektieren, so die Überlegung, d. h. auf die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis, die in jede empirische Anschauung eines Gegenstandes unabhängig von ihren empirischen und sinnlichen Spezifika eingehen, wird diese Synthesis der Anschauung überhaupt „allgemein vorgestellt“ und „gibt“ ([38]) uns den repräsentationalen Inhalt der Kategorien. Durch Reflexion auf die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis empirischer Anschauungen werden so die Inhalte der Kategorien festgelegt, indem sich die Inhalte der Fähigkeiten und Akte der Synthesis, d. h. ihre Beziehung auf den Gegenstand, im Zuge dessen auf die so gebildeten Kategorien übertragen. So wird die Synthesis, wie Kant es in der B-Deduktion sagt, „in Ansehung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in der bloßen Kategorie gedacht“ (B 151), als der Inhalt der Kategorie also.521 Oder, wie er es in der „Methodenlehre“ der Kritik ausdrückt: die Kategorien enthalten – und das heißt eben: sie haben zum Inhalt – „die Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind“ (A 719/B 747). Allgemein formuliert Kant die Auffassung, dass die Synthesis sinnlicher Anschauung in den Kategorien als ihr repräsentationaler Inhalt enthalten ist, z. B. so: Der Begriff des Zusammengesetzten überhaupt ist keine besondere Kategorie, sondern in allen Kategorien (als synthetische Einheit der Apperzeption) enthalten.522 (Br, Brief an Tieftrunk, 11. Dezember 1797, AA XII: 222)
Synthesis bzw. synthetische Einheit ist also in den Kategorien als ihr Inhalt enthalten. Und das heißt eben, wie Kant eigens in einer Notiz hinzufügt: Jede Kategorie ist Zusammensetzung (Synthesis) oder die synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt wird in der Kategorie gedacht.523 (Br, AA XIII: 468)
521 Meine Hervorhebung. 522 „Begriffe können auch a priori gedacht werden, wenn sie nichts, als den Begriff von Synthesis, d. i. Zusammensetzung des Mannigfaltigen in der Vorstellung, um eine Erkenntnis auszumachen, enthalten“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 978). 523 Siehe in Fn. 515. „Das Bewusstsein von der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt oder (welches = ) das Bewusstsein von dem Begriffe, der die synthetische Einheit enthält, ist = Kategorie.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 984) So gilt, „dass alle reinen Verstandesbegriffe nichts anderes sind, als Begriffe von der Vereinigung des Mannigfaltigen in einem Bewusstsein“ (V-MP/Schön, AA XXVIII: 482).
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Die Synthesis der Anschauung als das, was in den Kategorien als ihr repräsentationaler Inhalt enthalten ist, und damit als das, wodurch sie sich auf die allgemeinsten Charakteristika der Gegenstände einer Anschauung überhaupt beziehen, macht die Kategorien zu den Begriffen, die sie sind. Eine Kategorie ist dann nichts anderes als eine Synthesis, die in einem Begriff gedacht wird.524 In genau diesem Sinne sind die Kategorien eben, um das noch einmal zu wiederholen, „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106, A 723/B 751). Wie Kant es in [44] sagt, um auf diese Weise den hier rekonstruierten Gedankengang zum Abschluss zu bringen, mit dem die Inhalte der Kategorien allgemein erklärt werden sollen: die Kategorien sind Begriffe, die „lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen“ und allererst „zur Erkenntnis eines vorkommenden Gegenstandes“ führen. Die Kategorien bestehen ihrem Inhalt nach aus nichts anderem als der Synthesis der Anschauung bzw. der synthetischen Einheit, die ausgeübt bzw. hervorgebracht werden muss, um einen Gegenstand der Sinne zu repräsentieren.525 Gerade als die Begriffe der Synthesis sind die Kategorien demnach die Begriffe von Gegenständen überhaupt. Indem wir also auf die Synthesis der Anschauung überhaupt reflektieren, bilden wir die Kategorien als die Begriffe von Gegenständen überhaupt.526 Die verschiedenen Kategorien, die in Kants „Tafel der Kategorien“ (A 80/B 106) vorkommen, müssen dann entsprechend auf verschiedenen Fähigkeiten und Akten der Synthesis sinnlicher Anschauung beruhen. In den Fortschritten führt Kant seine Position denn auch in genau diesem Sinne aus, indem er bemerkt, dass
524 „[R]eine Kategorien“ sind nichts anderes „als Funktionen der synthetischen Einheit“ (A 349) eines Mannigfaltigen der Anschauung. – Siehe Maier (1930): 45: „Die reinen Kategorien, wie sie sich aus der subjektiven Deduktion ergeben, sind lediglich Funktionen der Synthesis eines in einer sinnlichen Anschauung gegebenen Mannigfaltigen“. Und Förster (2011): 36 deutet treffend an: „so sind die Kategorien [...] diejenigen reinen Synthesen auf Begriffe gebracht, die ein wie auch immer gegebenes Mannigfaltiges so zusammenfassen, dass ein Objekt desselben gedacht und folglich Urteile hierüber möglich werden. Sie sind [...] die reine Synthesis, allgemein vorgestellt“. 525 Von dieser Notwendigkeit spricht Kant auch am Ende des ersten Schrittes der B-Deduktion: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist [...].“ (B 143) 526 „Der Verstand hat allein das Mannigfaltige in der Vorstellung verbunden und durch das Bewusstsein von der Verbindung entstand der Begriff. Hierauf beruht der reine Verstandesbegriff oder Begriff a priori.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 978) – Dass die Synthesis der Anschauung als der Anwendungsbereich der Begriffsbildung der Kategorien anzusehen ist, wird in einem zumindest verwandten Sinne auch von Grüne (2009): 141–43 und Schlösser (2013): 194 f. Fn. 34 angedeutet.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
so viele Begriffe a priori im Verstande liegen, worunter die Gegenstände, die den Sinnen gegeben werden, stehen müssen, als es Arten der Zusammensetzung (Synthesis) mit Bewusstsein, d. i. als es Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen gibt.527 (AA XX: 271)
Um nun also zu verstehen, warum die Tafel der Kategorien genau die Kategorien enthält, die sie enthält, sind entsprechende „Arten der Zusammensetzung (Synthesis)“ zu identifizieren, d. h. verschiedene Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, die für die Anschauung eines Gegenstandes erforderlich sind, um diese Fähigkeiten und Akte dann den verschiedenen Kategorien in Kants Tafel als deren repräsentationale Inhalte zuzuordnen. Dieser Aufgabe will ich mich nun zuwenden, um so meine Rekonstruktion des zweiten Schrittes der Metaphysischen Deduktion abzuschließen.
3.3.2 Die Tafel der Kategorien: Die Titel Die Aufgabe des zweiten Schrittes der Metaphysischen Deduktion besteht darin, die Inhalte der Kategorien anzugeben (siehe 1.1.2). In Satz [30] hat Kant erstmals die grundlegenden Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung genannt, durch die ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke „durchgegangen, aufgenommen und verbunden“ wird, und auf diese Weise skizziert, was er auf A 95–110 der A-Deduktion – auf die er in [36] verweist – als die dreifache Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke ausarbeitet. In den Sätzen [31] bis [36] hat er dann eine Beschreibung der Aufgabe der Synthesis sinnlicher Anschauung gegeben, der zufolge diese allgemein darin besteht, den repräsentationalen Inhalt von Begriffen zu erklären. Schließlich hat er in [37] bis [44] die Auffassung entwickelt, dass es die Synthesis der Anschauung selbst ist – die „reine Synthesis“ ([38]) –, die den ursprünglichen Inhalt der Kategorien bildet. Ich will nun zeigen, dass vor diesem Hintergrund, d. h. anhand der oben beschriebenen grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung, die repräsentationalen Inhalte der Kategorien angegeben werden können, die Kant in der Tafel der Kategorien aufzählt, und dass so der zweite Schritt der Metaphysischen Deduktion abgeschlossen werden kann.
527 „Die bloßen Kategorien (von Substanz, Ursache, Gemeinschaft) geben bloße Arten, uns überhaupt Begriffe von Dingen zu machen, d. i. der synthetischen Einheit eines Mannigfaltigen, das uns gegeben werden mag, in einem Bewusstsein“ (Refl 6443, 1780–88, AA XVIII: 718). – Siehe Wolff (1995): 68: „Jede der zwölf Kategorien ist nichts anderes als eine „Vorstellung“ der „synthetischen Einheit“ [(A 79/B 104)], die durch Ausübung einer der zwölf Funktionen in der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung erzeugt wird.“
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Noch nicht behandelt habe ich damit lediglich Kants Begründung dafür, dass die Kategorien auch Begriffe a priori sind, die im Vermögen des Verstandes entspringen. Diese Begründung, in der die Aufgabe des dritten Schrittes der Metaphysischen Deduktion besteht, gibt Kant in den Sätzen [45] bis [47] auf A 79/B 104 f., mit denen er die Metaphysische Deduktion der Kategorien argumentativ zum Abschluss bringt. Um sie wird es im abschließenden Kapitel dieser Untersuchung gehen. Da ich an dieser Stelle aber nun schon sagen kann, worin die Inhalte der Kategorien bestehen – wenn auch noch nicht, dass sie Inhalte des Verstandes sind – werde ich Kants Darstellung der Tafel der Kategorien, die er selbst erst am Ende des Arguments der Metaphysischen Deduktion gibt, hier vorziehen, um die dort aufgezählten repräsentationalen Inhalte der Kategorien anhand der Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung zu erklären und so den zweiten Schritt der Metaphysischen Deduktion abzuschließen. Kant stellt die Tafel der Kategorien wie folgt dar: Tafel der Kategorien 1. Einheit Vielheit Allheit. 2.
Negation Limitation.
3. Der Relation: der und Subsistenz (substantia et accidens) der und Dependenz (Ursache und Wirkung) der Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden). 4.
Dasein Nichtsein Notwendigkeit (A 80/B 106)
Wie die Tafel logischer Funktionen enthält also auch die Tafel der Kategorien vier Titel mit jeweils drei Momenten. Das kann nur verständlich werden, wenn die Tafel der Kategorien in der Folge auch in ihrem Verhältnis zur Tafel logischer Funktionen betrachtet wird. Im Anschluss an die Weise, wie ich die Tafel logi-
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scher Funktionen beschrieben habe, will ich die vier Titel der Kategorientafel – die Begriffe der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität – als grundlegende Kategorien bezeichnen und ihre jeweils drei Momente (Einheit, Vielheit, Allheit usw.) als elementare Kategorien.528 Wie die Titel der Tafel logischer Funktionen stehen auch die Titel der Kategorientafel für grundlegende repräsentationale Fähigkeiten und Akte, die Momente hingegen für ihre elementaren Ausübungen. Während die Tafel logischer Funktionen jedoch Fähigkeiten und Akte des Urteils darstellt, stellt die Tafel der Kategorien, wie ich zeigen will, Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung dar, die in den Kategorien als ihre ursprünglichen Inhalte enthalten sind. Ist die Tafel logischer Funktionen damit eine Tafel des Urteilens, so ist die Tafel der Kategorien eine Tafel der Synthesis der Anschauung. Wurden die elementaren Ausübungen der grundlegenden Fähigkeiten und Akte des Urteils in der Tafel logischer Funktionen dabei anhand logischer Formen von Urteilen dargestellt (siehe 2.3.6. a), so werden die Fähigkeiten und Akte der Synthesis in der Tafel der Kategorien nun anhand der allgemeinen Begriffe dargestellt, deren ursprüngliche repräsentationale Inhalte sie bilden.529 Wie schon in der Tafel logischer Funktionen des Urteils gibt Kant nun auch den vier Titeln in der Kategorientafel die Namen ‚Quantität‘, ‚Qualität‘, ‚Relation‘ und ‚Modalität‘. Auch bringt er die Titel der Tafel der Kategorien in dieselbe Ordnung wie die Titel der Tafel logischer Funktionen. Zudem entspricht jedem Moment der Tafel logischer Funktionen genau ein Moment in der Tafel
528 Zu den vier grundlegenden Kategorien siehe A 529/B 557, wo Kant bemerkt, dass „nach unserer obigen Tafel der Kategorien zwei derselben mathematische, die zwei übrigen aber eine dynamische Synthesis der Erscheinungen bedeuten.“ Vgl. Refl 5553, 1778–83, AA XVIII: 229, wo Kant von den „vier Kategorien“ spricht. Vgl. auch die indirekten Nachweise, wenn Kant etwa sagt, dass „die Kategorien ihr logisches Schema in den vier Funktionen aller Urteile antreffen“ (A 406/B 432) oder wenn er vom „Ursprung der Kategorien in den vier logischen Funktionen aller Urteile des Verstandes“ (Prol, AA IV: 330) spricht. Vgl. V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 985. „Alle Kategorien gehen auf etwas a priori Zusammengesetztes [...]: die Kategorie der extensiven Größe betrifft: Eines in Vielen; was die Qualität oder intensive Größe betrifft Vieles in Einem. [...] Was aber die dynamische angeht, die Zusammensetzung des Mannigfaltigen, sofern es entweder einander im Dasein untergeordnet ist [...] oder eine der anderen zur Einheit der Erfahrung beigeordnet ist“ (Br, Brief an Tieftrunk, 11. Dezember 1797, AA XII: 223). Vgl. Refl 6359, 1797, AA XVIII: 687. 529 Rückblickend spricht Kant so auch von der „Darstellung der Tafel der Kategorien“ (A 241). Wenn es sich auch hier – wie in [23] bei der Darstellung der logischen Funktionen – um eine Darstellung im technischen Sinne handelt, dann ist sie ebenfalls eine symbolische Darstellung durch Zeichen, in der nun aber die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung anhand der Kategorien dargestellt werden. (In diesem Fall scheinen die Zeichen allerdings, anders als Formen von Urteilen, lediglich sprachliche Zeichen sein zu können.) Zum Begriff der Darstellung siehe in Fn. 277.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
271
der Kategorien. Dass die Kategorien auf diese Weise den logischen Funktionen des Urteils entsprechen, ist allgemein darin begründet, dass der logische Gebrauch des Verstandes im Urteil einen Übergang zu einem realen Gebrauch in der Synthesis der Anschauung erforderlich macht, da die Ausübung des logischen Gebrauchs, wie er im Urteil stattfindet, abhängig ist von der Möglichkeit des realen Gebrauchs in der Synthesis der Anschauung (siehe 3.1.1). Diese Abhängigkeit drückt sich nun spezifisch darin aus, dass die Titel und Momente beider Tafeln einander exakt zuordenbar sind, indem die Fähigkeiten und Akte der Synthesis eben jeweils den Fähigkeiten und Akten des Urteils zugeordnet werden können, denen sie vorausgesetzt sind. Der reale Gebrauch in der Synthesis der Anschauung ist nämlich, in erster Annäherung, vorrangig in der Ordnung der Ausübung repräsentationaler Fähigkeiten und Akte. Der reale Gebrauch ist so der Seinsgrund (ratio essendi) des logischen Gebrauchs. Umgekehrt ist der logische Gebrauch, erneut in erster Annäherung, vorrangig in der Ordnung der Entdeckung repräsentationaler Fähigkeiten und Akte. Der logische Gebrauch ist der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) des realen Gebrauchs.530 So entdecken wir die repräsentationalen Fähigkeiten und Akte, die den realen Gebrauch in der Synthesis der Anschauung charakterisieren, und damit auch, wie ich zeigen will, die Inhalte der Kategorien, eben gerade als das, was für die Ausübung des logischen Gebrauchs im Urteil vorausgesetzt ist. Auf das Verhältnis der Kategorien zu den logischen Funktionen und wie es genauer zu verstehen ist komme ich jeweils zurück, wenn ich die Titel und Momente der Tafel der Kategorien in der Folge genauer unterscheide und erläutere. Ich beginne mit der Diskussion der vier Titel. Die jeweils drei Momente dieser Titel diskutiere ich dann im darauffolgenden Abschnitt. Zunächst will ich auf eine Unterscheidung zweier Abteilungen der Titel hinweisen, die Kant in § 11 vornimmt, einem zusätzlichen Paragrafen der zweiten Auflage der Kritik, in dem er drei „artige Betrachtungen“ (B 109) über die Tafel der Kategorien anstellt, wie er sie nennt. Die erste dieser Anmerkungen, in der es um die Titel der Kategorientafel geht, lautet: dass sich diese Tafel, welche vier Klassen von Verstandesbegriffen enthält, zuerst in zwei Abteilungen zerfällen lasse, deren erstere auf Gegenstände der Anschauung (der reinen sowohl als empirischen), die zweite aber auf die Existenz dieser Gegenstände (entweder
530 Zu Kants Verwendung dieser Unterscheidung in anderem Zusammenhang siehe KpV, AA V: 4 Anm., wo er bemerkt, „dass die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist [...], anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand) gerichtet sind. Die erste Klasse würde ich die der mathematischen, die zweite der dynamischen Kategorien nennen. (B 110)
Kant unterscheidet hier zwei Abteilungen der Tafel der Kategorien, die Titel der Quantität und Qualität auf der einen und der Relation und Modalität auf der anderen Seite. Quantität und Qualität betreffen demnach die Gegenstände der Anschauung, Relation und Modalität hingegen ihre Existenz. Zudem unterscheidet Kant in den Klammerzusätzen noch einmal die jeweils zwei Titel voneinander, die gemeinsam in einer Abteilung vorkommen. So betrifft die Quantität die reine Anschauung, die Qualität hingegen die empirische Anschauung von Gegenständen, die Relation die Existenz von Gegenständen in Beziehung aufeinander, die Modalität hingegen in Beziehung auf den Verstand. In einer verwandten Passage der „Grundsätze“ sagt er über den „Gebrauch ihrer [der reinen Verstandesbegriffe] Synthesis“ (A 160/B 199), dieser Gebrauch sei entweder mathematisch oder dynamisch: denn sie [die Synthesis] geht teils bloß auf die Anschauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt.531 (A 160/B 199)
Die Unterscheidung der beiden Abteilungen der Kategorien beruht also auf verschiedenen Arten der Synthesis. Die Synthesis, auf der die Titel der Quantität und der Qualität beruhen, betrifft die Anschauung von Gegenständen, die Synthesis, auf der die Titel der Relation und der Modalität beruhen, hingegen ihr Dasein. Während die Synthesis bei Quantität und Qualität ein Mannigfaltiges der Anschauung verbindet, so gilt für die Synthesis bei Relation und Modalität, dass sie vielmehr „die Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen betrifft“ (B 201 Anm.).532 Auch auf diese Unterscheidung und wie sie genauer zu verstehen ist
531 Siehe auch A 529/B 557, wo Kant bemerkt, dass „nach unserer obigen Tafel der Kategorien zwei derselben mathematische, die zwei übrigen aber eine dynamische Synthesis der Erscheinungen bedeuten.“ Kurz darauf führt er aus: „der Verstandesbegriff [...] enthält entweder lediglich eine Synthesis des Gleichartigen (welches bei jeder Größe, in der Zusammensetzung sowohl als Teilung derselben, vorausgesetzt wird) oder auch des Ungleichartigen, welches in der dynamischen Synthesis, der Kausalverbindung sowohl als der des Notwendigen mit dem Zufälligen, wenigstens zugelassen werden kann.“ (A 530/B 558) Vgl. Refl 4758, 1775–77, AA XVII: 706: „Mathematische und dynamische Grundsätze der Möglichkeit der Erfahrungen: jene der Anschauungen, diese des Verhältnisses zur Apperzeption, d. i. dem Dasein.“ 532 Wie diese beiden Arten der Synthesis genauer voneinander zu unterscheiden sind, führt Kant aus, indem er sie unterscheidet als „die Synthesis des Mannigfaltigen, was nicht notwendig zueinander gehört, wie z. B. die zwei Triangel, darin ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird, für sich nicht notwendig zueinander gehören“ (B 201 Anm.), und als „die Synthesis des Mannigfaltigen, sofern es notwendig zueinander gehört, wie z. B. das Akzidens zu irgendeiner Substanz oder die Wirkung zu der Ursache“ (B 201 Anm.). Quantität und Qualität beruhen auf der Synthesis eines Mannigfaltigen, das „willkürlich“ (B 201 Anm.) zueinander gehört,
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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komme ich zurück, wenn ich die vier Titel der Tafel der Kategorien nun genauer unterscheide und erläutere. Damit komme ich zur Erklärung der vier Titel der Kategorientafel durch die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung. Die Titel der Kategorientafel sind, so die Überlegung, grundlegenden Fähigkeiten und Akten der Synthesis sinnlicher Anschauung zuzuordnen. Wenn wir die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung als die Inhalte von Begriffen denken – wenn sie also in philosophischer Reflexion „allgemein vorgestellt“ ([38]) werden –, so die Idee, dann erhalten wir dadurch die Kategorien als die allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt, wie Kant sie in der Tafel der Kategorien aufzählt. Die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung sollen die Inhalte der Kategorien dabei genau dadurch erklären, dass sie ihre repräsentationalen Inhalte, d. h. ihre repräsentationale Beziehung, auf die Kategorien übertragen. Ich möchte hier die folgende Zuordnung vorschlagen: Akt der Reproduktion: QUA Akt der Apprehension:
Akt der Rekognition:
Q
RELATION
M
Neben den Akten der dreifachen Synthesis, mit deren Beschreibung Kant seine allgemeine Synthesisthese ausarbeitet, ist so auch die in der Gegebenheitsthese angesprochene Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke einzubeziehen, die der Möglichkeit vorausgesetzt ist, die dreifache Synthesis der Anschauung anhand sinnlicher Eindrücke auszuüben.533 Die Ausübung von drei grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten, die, wie ich nun zeigen will, den ersten drei
wie z. B. bei Konstruktionen in der Geometrie, Relation und Modalität hingegen auf der Synthesis eines Mannigfaltigen, das notwendig zueinander gehört, wie z. B. eine Wirkung zu ihrer Ursache. 533 Während es im Urteil die Beziehung auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen war, die eine Ausübung der anderen drei grundlegenden Fähigkeiten des Urteils allererst möglich machte, so ist es in der Synthesis der Anschauung nun die Gegebenheit sinnlicher Eindrücke durch Gegenstände, die überhaupt erst eine Ausübung der anderen drei grundlegenden Fähigkeiten der Synthesis ermöglicht.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Titeln der Tafel entsprechen, erfordert also auch hier eine vierte Fähigkeit, die, wie ich ebenfalls zeigen will, erneut dem vierten Titel, der Modalität, entspricht. a) Quantität und Qualität. Um einen Gegenstand sinnlicher Anschauung zu repräsentieren, muss ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke apprehendiert, d. h. durchlaufen und zusammengenommen werden, um auf diese Weise als ein bestimmtes Mannigfaltiges voneinander unterschiedener Eindrücke aufgefasst zu werden (siehe 3.2.2.a). Um einander in ihren Verhältnissen zugeordnet werden zu können, müssen diese sinnlichen Eindrücke zudem anhand formaler Stellen in einem Ganzen homogener Teile aufgefasst werden, so dass diese Stellen, Verhältnisse und Teile in einem homogenen Ganzen reproduziert werden müssen, innerhalb dessen die sinnlichen Eindrücke aufgefasst werden können (siehe 3.2.2.b). Ich schlage nun vor, den Akt der Apprehension dem Titel der Qualität und den Akt der Reproduktion dem Titel der Quantität in der Tafel der Kategorien zuzuordnen. Der Begriff der Qualität ergibt sich dadurch, so die Überlegung, dass wir auf den Akt der Apprehension reflektieren, während der Begriff der Quantität durch die Reflexion auf den Akt der Reproduktion gebildet wird. Durch den Akt der Apprehension repräsentieren wir nämlich die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung, und so eben genau das, was auf allgemeine Weise durch den Begriff der Qualität repräsentiert wird. Durch den Akt der Reproduktion hingegen repräsentieren wir die Teile eines Gegenstandes als die homogenen Teile eines Ganzen, was wiederum genau das ist, was auf allgemeine Weise durch den Begriff der Quantität repräsentiert wird. Vor diesem Hintergrund ist der Akt der Apprehension als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Qualität anzusehen und der Akt der Reproduktion als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Quantität. In einer Notiz gibt Kant denn auch die folgende allgemeine Beschreibung von Quantität und Qualität: Der Unterschied eines Dinges vom anderen durch die Vielheit des Gleichartigen, was in beiden enthalten ist, ist die Größe [Quantität]. Der Unterschied des Ungleichartigen ist die Qualität. (Refl 3539, 1776–89, AA XVII: 42)
Durch die Quantität und die Qualität von Gegenständen unterscheiden wir Gegenstände auf grundlegend verschiedene Weisen voneinander. Die Begriffe von Quantität und Qualität repräsentieren dabei das allgemein, wodurch wir Gegenstände auf diese Weisen voneinander unterscheiden. Mit dem Begriff der Quantität beziehen wir uns auf die in Gegenständen enthaltene „Vielheit des Gleichartigen“, durch die wir sie ihrer Quantität nach unterscheiden, wie z. B. durch eine Zahl,
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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eine Linie usw.534 Mit dem Begriff der Qualität beziehen wir uns hingegen auf den „Unterschied des Ungleichartigen“ an Gegenständen, durch den wir sie ihrer Qualität nach unterscheiden, wie z. B. als Körper, als Baum usw.535 Wenn wir uns also auf die Qualität von Gegenständen beziehen, dann beziehen wir uns darauf, so Kant, wodurch sie ungleichartig oder spezifisch verschieden sind, d. h., wir beziehen uns darauf, wodurch sie der Art nach voneinander unterschieden werden können. Wenn wir uns hingegen auf die Quantität von Gegenständen beziehen, dann beziehen wir uns darauf, was und wie viel an ihnen gleichartig oder homogen ist, d. h., wir beziehen uns darauf, wodurch sie der Größe nach voneinander unterschieden werden können. Kants Entwicklung des Begriffs des Urteils im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ hat gezeigt, dass wir Begriffe allein vermittelt über sinnliche Anschauungen auf Gegenstände beziehen können (siehe 2.3.1). Der Art nach unterscheiden wir Gegenstände der Anschauung dabei anhand der wahrnehmbaren Eigenschaften, die sie aufweisen, und damit eben anhand von Eigenschaften, die wir durch den Akt der Apprehension sinnlicher Eindrücke repräsentieren. Zum Beispiel können wir anhand der Eigenschaft der Undurchdringlichkeit, die wir durch die Apprehension sinnlicher Eindrücke repräsentieren, die uns mit dem Einfluss von Körpern gegeben sind, Körper der Art nach von anderen Gegenständen unterscheiden. Der Größe nach unterscheiden wir Gegenstände der Anschauung hingegen anhand der homogenen Teile, die sie enthalten, und damit eben anhand von Eigenschaften, die wir durch den Akt der Reproduktion der Teile ihrer Anschauung als der Teile eines Ganzen repräsentieren, innerhalb dessen die sinnlichen Eindrücke Stellen einnehmen und in Verhältnissen zueinander stehen können. Zum Beispiel können wir Körper, die wir durch das Ziehen von Linien, d. h. durch die Erzeugung und Reproduktion ihrer homogenen Teile als der Teile eines Ganzen repräsentieren, der Größe nach von anderen Gegenständen unterscheiden. So zeigt sich, dass der Akt der Apprehension den ursprünglichen Inhalt des Begriffs der Qualität bildet, der Akt der Reproduktion hingegen den ursprünglichen Inhalt des Begriffs der Quantität.
534 „Den Begriff der Größe überhaupt kann niemand erklären als etwa so: dass sie die Bestimmung eines Dinges sei, dadurch wievielmal Eines in ihm gesetzt ist gedacht werden kann. Allein dieses Wievielmal gründet sich auf die sukzessive Wiederholung, mithin auf die Zeit und die Synthesis (des Gleichartigen) in derselben.“ (A 242/B 300) „Ein Vieles gleichartige verbunden macht Quantität an sich aus.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 989) Siehe in Fn. 452 und 453. 535 „Daher ist qualitas diejenige Bestimmung eines Dinges, nach welcher sich dasjenige, was spezifisch verschieden ist, unter gleicher Gattung findet und davon unterschieden werden kann.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 992) Vgl. V-Th/Volckmann, AA XXVIII: 1158 („obgleich unser Verstand mit dem göttlichen der Qualität nach unterschieden ist und daher ungleichartig ist“).
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Das passt nun auch dazu und erklärt genauer, was Kant auf B 110 mit der ersten Anmerkung über die Tafel der Kategorien sagt. Dort und an verwandten Stellen beschreibt Kant die Titel der Quantität und Qualität wie gesehen als solche, die „Gegenstände der Anschauung“ (B 110) bzw. die „Anschauung“ (A 160/B 199) von Gegenständen betreffen, im Unterschied zur „Existenz dieser Gegenstände“ (B 110) bzw. zu ihrem „Dasein“ (A 160/B 199). Die Quantität ordnet er dabei zudem der „reinen“ (B 110) und die Qualität der „empirischen“ (B 110) Anschauung zu. So gilt, wie Kant in einer Notiz bemerkt, dass „die Kategorien der Quantität und Qualität [...] bloß die Apprehension der Anschauung enthalten und sie synthetisch hervorbringen“ (Refl 5697, 1785–89, AA XVIII: 329). Dem entspricht, dass die Synthesis der Apprehension und der Reproduktion jeweils Synthesen der sinnlichen Anschauung von Gegenständen sind. So ist die Apprehension die Synthesis der empirischen Materie sinnlicher Eindrücke, die Reproduktion hingegen die Synthesis der reinen Form homogener Teile der Anschauung. Das, was in den Akten der Apprehension und der Reproduktion verbunden wird, ist das Mannigfaltige empirischer und reiner Anschauung; das, wozu es verbunden wird, ist die Einheit der empirischen und der reinen Anschauung eines Gegenstandes; und das, was auf diese Weise repräsentiert wird, sind die wahrnehmbaren Eigenschaften des Gegenstandes der Anschauung auf der einen Seite und seine formalen Eigenschaften der Ausdehnung und Gestalt auf der anderen. Über die Existenz des Gegenstandes und seiner Eigenschaften ist damit aber jeweils noch nichts gesagt. Kant beschreibt das auch so, dass Quantität und Qualität die „inneren Bestimmungen“ (FM, AA XX: 280, 282)536 von Gegenständen sind, die ihnen schon als solchen zukommen und noch nicht das Verhältnis ihrer Existenz zur Existenz von etwas anderem betreffen, seien es nun andere Gegenstände und ihre Eigenschaften oder sei es unser Verstand. Ich will mir die Erklärung der Inhalte der Begriffe von Qualität und Quantität durch die Akte der Apprehension und der Reproduktion sinnlicher Anschauung nun noch etwas genauer anschauen und sie dabei auch in ihrem Verhältnis zu den entsprechenden Titeln der Tafel logischer Funktionen des Urteils betrachten (siehe 2.3.5). So will ich jeweils vom Titel der Tafel logischer Funktionen als dem Erkenntnisgrund des entsprechenden Titels der Tafel der Kategorien anfangen, um von der betreffenden grundlegenden logischen Funktion des Urteils zu ihrem Seinsgrund überzugehen, d. h. zu der grundlegenden realen Funktion der Syn-
536 Siehe auch A 263 f./B 319, wo Kant „von aller inneren Verschiedenheit (der Qualität und Quantität)“ spricht. „Die inneren Bestimmungen eines Dinges sind qualitas und quantitas.“ (V-MP-L2/Pölitz, AA XXVIII: 569)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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thesis der Anschauung, deren Möglichkeit der Ausübung der logischen Funktion vorausgesetzt ist. Der Begriff der Qualität. Es ist eine der grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, durch die Subjektrepräsentation die Gegenstände oder den Gegenstand des Urteils zu spezifizieren, auf die dann ein Prädikatbegriff bezogen werden kann. Diese Funktion ist die Qualität des Urteils (siehe 2.3.5). Die Subjektrepräsentation spezifiziert die Gegenstände oder den Gegenstand des Urteils dabei jeweils anhand der Merkmale (Teilrepräsentationen), die in ihr enthalten sind. Handelt es sich bei dieser Subjektrepräsentation um eine Anschauung, so spezifiziert sie den Gegenstand des Urteils anhand der in ihr enthaltenen intuitiven Merkmale. Handelt es sich bei der Subjektrepräsentation hingegen um einen Begriff, so beruhen die im Begriff enthaltenen diskursiven Merkmale wiederum auf sinnlichen Anschauungen und den in ihnen enthaltenen intuitiven Merkmalen (siehe 1.2.1). Im Fall empirisch gegebener Begriffe, wie z. B. dem Begriff von Metall, übertragen sich die Inhalte intuitiver Merkmale nämlich auf die Begriffe, die auf ihrer Grundlage gebildet werden. Und im Fall empirisch gemachter Begriffe, wie z. B. einem theoretisch eingeführten Begriff der Natur von Metall, setzen wir die Inhalte dieser Begriffe zwar selbst willentlich zusammen, aber eben gerade um dadurch die in den Anschauungen enthaltenen intuitiven Merkmale und die durch sie repräsentierten wahrnehmbaren Eigenschaften ihrer Gegenstände zu erklären (siehe 1.1.1).537 So hängen die diskursiven Merkmale, durch die wir die Gegenstände des Urteils spezifizieren, in beiden Fällen von anschaulichen Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften der Gegenstände der Anschauung ab, ob diese intuitiven Merkmale nun den Ursprung oder das Explanandum der diskursiven Merkmale bilden. In beiden Fällen ist es die Repräsentation spezifischer wahrnehmbarer Eigenschaften durch sinnliche Anschauungen, die grundlegend ist für die Repräsentation einer Art von Gegenstand durch einen Begriff. Die Spezifikation im Urteil ist damit von der Spezifizität von Anschauungen abhängig, d. h. von spezifischen intuitiven Merkmalen, durch die wir in sinnlichen Anschauungen spezifische wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen repräsentieren. Diese Spezifizität sinnlicher Anschauung beruht wiederum auf dem spezifischen Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke, das apprehendiert wird, d. h. auf der durch die Gegenstände gegebenen, bestimmten Materie sinnlicher Anschauung (siehe 3.1.2). Die Repräsentation spezifischer wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen durch sinnliche Anschauungen besteht so genau darin, spezifische sinnliche Eindrücke, die uns gegeben sind, zu apprehendieren, d. h. sie zu durchlaufen und zusammenzunehmen, und ihr Mannigfaltiges
537 Siehe in Fn. 18.
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auf diese Weise als ein bestimmtes Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke aufzufassen (siehe 3.2.2.a). Die Synthesis der Apprehension ist der grundlegende Akt der Repräsentation wahrnehmbarer Eigenschaften. Der Begriff der Qualität ist der allgemeinste Begriff der durch diesen Akt repräsentierten Eigenschaften. Wie bereits angedeutet sind die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung allgemein der Seinsgrund der logischen Funktionen des Urteils, während diese umgekehrt den Erkenntnisgrund von jenen bilden. Der Akt der Apprehension ist dabei als der spezifische Seinsgrund des grundlegenden logischen Aktes der Spezifikation der Gegenstände des Urteils anzusehen. Durch den Akt der Apprehension repräsentieren wir wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen, was es uns wiederum ermöglicht, Gegenstände der Anschauung auch durch Begriffe zu spezifizieren. Umgekehrt ist die grundlegende logische Funktion der Subjektrepräsentation als der spezifische Erkenntnisgrund des Aktes der Apprehension anzusehen. So kann, wie gerade angedeutet, im Ausgang von der grundlegenden logischen Funktion der Spezifikation im Urteil begründet werden, dass die Synthesis der Apprehension sinnlicher Eindrücke für eine Erkenntnis durch Begriffe erforderlich ist. Dass der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Qualität nun wie beschrieben im Akt der Apprehension sinnlicher Eindrücke besteht, das bringt auch Kant selbst in einer Passage der „Antizipationen der Wahrnehmung“ zum Ausdruck. Dort sagt er nämlich über den Begriff der Qualität, genauer: über den Begriff der Realität als den einfachsten Begriff einer Qualität: Die Qualität der Empfindung ist jederzeit bloß empirisch und kann a priori gar nicht vorgestellt werden (z. B. Farben, Geschmack usw.). Aber das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert [...], stellt nur etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein enthält und [dieser Begriff] bedeutet nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein überhaupt.538 (A 175 f./B 217)
Die spezifische „Qualität der Empfindung“, wie sie in einer bestimmten sinnlichen Anschauung enthalten ist, wie z. B. die spezifische Empfindung einer Farbe, hängt offenbar davon ab, welche sinnlichen Eindrücke uns durch den Gegenstand gegeben sind, und kann daher nicht das sein, was a priori durch den Begriff der Qualität repräsentiert wird. Das, was a priori durch den Begriff der Qualität repräsentiert wird, ist vielmehr „das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert“,539 d. h. unabhängig davon, welchen spezifischen
538 „Die Qualität eines Dinges, die es als ein Etwas von der bloßen Form unterscheidet, ist Realität und ihr korrespondiert Empfindung.“ (Refl 6338a, 1794/5, AA XVIII: 663) Siehe in Fn. 446. 539 Meine Hervorhebung.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Empfindungen es korrespondiert, so dass dieser „Begriff an sich ein Sein enthält“, d. h. unabhängig davon, um welches spezifische Sein, um welche spezifische Realität es sich dabei handelt. Der Begriff der Qualität ist dann der allgemeinste Begriff wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen, der allgemeinste Begriff von Eigenschaften also, die in der Anschauung durch sinnliche Eindrücke bzw. Empfindungen repräsentiert werden.540 Dieser Begriff ist er aber nur dadurch, so fährt Kant nun fort, dass er „nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein überhaupt [bedeutet]“.541 Der Begriff der Qualität, so Kant hier ausdrücklich, enthält nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein, d. h. nichts als die Synthesis der Apprehension sinnlicher Eindrücke. Die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein ist nämlich nichts anderes als die Synthesis der Apprehension sinnlicher Eindrücke.542 Dadurch, dass der Begriff der Qualität nun allein die Synthesis der Apprehension sinnlicher Eindrücke selbst zum Inhalt hat, und zwar unabhängig davon, welche spezifischen Eindrücke apprehendiert werden, repräsentiert er auch keine spezifische Qualität, sondern vielmehr Qualität überhaupt.543 Wie also von den Kategorien im Allgemeinen gilt, dass sie „lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen [bezeichnen]“ (A 722/B 750), wie Kant es in der „Methodenlehre“ sagt, so gilt vom Begriff der Qualität im Besonderen, dass er, wie Kant es in den „Antizipationen“ ausdrückt, „nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein überhaupt [bedeutet]“ (A 175 f./B 217). Die
540 Kant versteht demnach die „Empfindung als die Qualität der empirischen Anschauung“ (Prol, AA IV: 309). Es sind „Empfindungen, welche die eigentliche Qualität der empirischen Vorstellungen [...] ausmachen“ (Prol, AA IV: 307). „Die Qualität [steht] für den Unterschied der Empfindung überhaupt.“ (Refl 4646, 1772–75, AA XVII: 624) 541 Dass ein Begriff eine Synthesis bedeutet ist so zu verstehen, dass er sie als seinen repräsentationalen Inhalt enthält. So sagt Kant z. B. auch über den Begriff der Ursache, dass er ein Begriff ist, „welcher eine besondere Art der Synthesis bedeutet, da auf etwas A was ganz verschiedenes B nach einer Regel gesetzt wird“ (A 90/B 122), und meint damit, dass der Begriff der Ursache diese Synthesis als seinen repräsentationalen Inhalt enthält. Siehe auch A 529/B 557, wo Kant bemerkt, dass „nach unserer obigen Tafel der Kategorien zwei derselben mathematische, die zwei übrigen aber eine dynamische Synthesis der Erscheinungen bedeuten.“ 542 „Zuvörderst merke ich an, dass ich unter der Synthesis der Apprehension die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung verstehe, dadurch Wahrnehmung, d. i. empirisches Bewusstsein derselben [...], möglich wird.“ (B 160) 543 Die Realität an Gegenständen ist „das Empfindbare überhaupt [...]. – Man könnte das letztere [das Empfindbare überhaupt] auch apprehensibile, das Ergreifliche, -bare der Sinnenanschauung, die sonst leer wäre, nennen.“ (Refl 6324, 1792/3, AA XVIII: 647) Siehe Maier (1930): 56 f.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Synthesis der Apprehension sinnlicher Eindrücke ist der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Qualität und kann in der Tafel der Kategorien dem Titel der Qualität zugeordnet werden. Der Begriff der Quantität. Es ist eine der grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, durch den Prädikatbegriff Arten oder Eigenschaften der Gegenstände oder des Gegenstandes der Subjektrepräsentation zu repräsentieren. Diese Funktion ist die Quantität des Urteils (siehe 2.3.5). Der Prädikatbegriff wird dabei vermittelt über die Subjektrepräsentation und die Merkmale (Teilrepräsentationen), die in ihr enthalten sind, auf die Gegenstände oder den Gegenstand des Urteils bezogen. Handelt es sich auch bei der Subjektrepräsentation um einen Begriff, dann ist sein Bezug erneut über die Subjektrepräsentation eines weiteren möglichen Urteils vermittelt, so dass der Bezug von Begriffen auf Gegenstände zuletzt allein von sinnlichen Anschauungen gesichert werden kann, da nur diese sich auch auf genau einen Einzelgegenstand beziehen (siehe 2.3.1). Handelt es sich bei der Subjektrepräsentation schließlich um eine Anschauung und bei den Merkmalen, die in ihr enthalten sind, um intuitive Merkmale, dann repräsentieren wir den Gegenstand der Anschauung nun dadurch als das Mitglied einer Art oder als den Träger einer allgemeinen Eigenschaft, dass wir die Anschauung und die in ihr enthaltenen intuitiven Merkmale unter den Prädikatbegriff bringen. Um die Anschauung aber auf diese Weise unter den Prädikatbegriff zu bringen, müssen wir die Anschauung hinsichtlich ihrer intuitiven Teilrepräsentationen analysieren können. Die Anschauung muss dann aber ein Ganzes von Teilrepräsentationen bilden, das hinsichtlich anschaulicher Merkmale analysiert werden kann. Sollen Prädikatbegriffe nämlich einzelne anschauliche Teilrepräsentationen einer Anschauung herausgreifen können, dann muss die Anschauung viele verschiedene Merkmale enthalten, die gemeinsam ein Ganzes von Teilrepräsentationen ausmachen (siehe 3.1.3).544 Sind die Prädikatbegriffe des Urteils dabei nun Begriffe homogener Teile oder eines Ganzen solcher Teile, wie z. B. der Begriff einer Linie, dann muss die Anschauung des Gegenstandes offenbar entsprechende homogene Teile aufweisen oder ein Ganzes solcher Teile bilden, um unter den betreffenden Begriff gebracht werden zu können.545 Aber auch dann, wenn die Prädikatbegriffe Begriffe wahrnehmbarer Eigenschaften des Gegenstandes sind, wie z. B. der Begriff der Undurchdringlichkeit eines Körpers, muss die Anschauung des Gegenstandes ein Ganzes homogener Teile bilden, das die entsprechenden Teilrepräsentationen
544 Siehe in Fn. 371. 545 Siehe in Fn. 574.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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wahrnehmbarer Eigenschaften an bestimmten Stellen und in bestimmten Verhältnissen enthalten kann, um überhaupt unter den Begriff einer Art von Gegenstand oder allgemeiner Eigenschaften von Gegenständen gebracht werden zu können. Jede sinnliche Anschauung muss ein Ganzes intuitiver Teilrepräsentationen mit bestimmten Stellen und in bestimmten Verhältnissen bilden, um durch Analyse unter einen Begriff gebracht werden zu können. Ein solches Ganzes von Teilrepräsentationen, das in Hinsicht auf Teilrepräsentationen sowohl homogener Teile als auch wahrnehmbarer Eigenschaften analysiert werden kann, sind sinnliche Anschauungen nun aber gerade durch die Erzeugung und Reproduktion homogener Teile der Anschauung als der Teile eines Ganzen, d. h. durch die Erzeugung und Reproduktion einer bestimmten Form der Anschauung, in der auch die apprehendierten Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften Stellen einnehmen und zueinander in Verhältnissen stehen können. Die Repräsentation des Ganzen und der Teile von Gegenständen durch sinnliche Anschauungen besteht so genau darin, homogene Teile der Anschauung als die Teile eines Ganzen zu erzeugen und zu reproduzieren (siehe 3.2.2.b). Die Synthesis der Reproduktion ist der grundlegende Akt der Repräsentation homogener Teile und eines Ganzen solcher Teile. Der Begriff der Quantität ist der allgemeinste Begriff der durch diesen Akt repräsentierten Eigenschaften. Die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sind allgemein der Seinsgrund der logischen Funktionen des Urteils, während diese umgekehrt den Erkenntnisgrund von jenen bilden. Der Akt der Reproduktion ist dabei als der spezifische Seinsgrund des grundlegenden logischen Aktes der Verwendung des Prädikatbegriffs im Urteil anzusehen. Durch den Akt der Reproduktion repräsentieren wir homogene Teile und ein Ganzes solcher Teile, innerhalb dessen zudem wahrnehmbare Eigenschaften Stellen einnehmen und in Verhältnissen zueinander stehen können, was es uns wiederum ermöglicht, die Teilrepräsentationen der Anschauung auch durch Prädikatbegriffe zu denken, seien diese nun Begriffe homogener Teile oder wahrnehmbarer Eigenschaften. Umgekehrt ist die grundlegende logische Funktion des Prädikatbegriffs als der spezifische Erkenntnisgrund des Aktes der Reproduktion anzusehen. So kann, wie gerade angedeutet, im Ausgang von der grundlegenden logischen Funktion der Verwendung des Prädikatbegriffs im Urteil begründet werden, dass die Synthesis der Reproduktion für eine Erkenntnis durch Begriffe erforderlich ist. Dass der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Quantität nun wie beschrieben im Akt der Reproduktion homogener Teile als der Teile eines Ganzen besteht, das sagt Kant selbst ausdrücklich in der Notiz 6338a von
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
1794/5,546 einer der ausführlichsten Beschreibungen der Inhalte der Kategorien, die wir von ihm haben. Über den Inhalt des Begriffs der Quantität notiert er dort: Nun enthält der Begriff der Größe [Quantität] nur das, was der Verstand für sich selbst tut, nämlich durch die Synthesis der wiederholten Hinzusetzung eine ganze Vorstellung hervorzubringen [...].547 (Refl 6338a, AA XVIII: 661)
Der Begriff der Quantität enthält demnach – d. h.: er hat zum Inhalt – „das, was der Verstand für sich selbst tut“, nämlich „die Synthesis der wiederholten Hinzusetzung“, durch die „eine ganze Vorstellung“ hervorgebracht wird. Der Begriff der Quantität, so Kant hier ausdrücklich, enthält nichts als die Synthesis der Reproduktion eines Ganzen homogener Teile der Anschauung. In der „Methodenlehre“ erläutert Kant die Quantität entsprechend als „die bloße Synthesis des gleichartig Mannigfaltigen“ (A 720/B 748). Und in der B-Deduktion sagt er in eben diesem Sinne, dass „die Kategorie der Größe“ nichts anderes sei als „die Kategorie der Synthesis des Gleichartigen in einer Anschauung überhaupt“ (B 162). Die Synthesis des Gleichartigen, die hier jeweils als der Inhalt der Kategorie der Quantität beschrieben wird, ist aber nichts anderes als die Synthesis der Reproduktion. Wie also von den Kategorien im Allgemeinen gilt, um das hier erneut zu wiederholen, dass sie „lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen [bezeichnen]“ (A 722/B 750), wie Kant es in der „Methodenlehre“ sagt, so gilt vom Begriff der Quantität im Besonderen, dass er, wie Kant es in Notiz 6338a ausdrückt, „nur [...] die Synthesis der wiederholten Hinzusetzung [enthält]“ (AA XVIII: 661), d. h. also den Akt der Reproduktion. Die Synthesis der Reproduktion homogener Teile in einem Ganzen der Anschauung ist der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Quantität und kann in der Tafel der Kategorien dem Titel der Quantität zugeordnet werden. b) Relation und Modalität. Um einen Gegenstand sinnlicher Anschauung zu repräsentieren, muss ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke nicht nur apprehendiert und anhand von Stellen, Verhältnissen und homogenen Teilen in einem Ganzen reproduziert werden, sondern es muss auch rekognosziert werden, d. h., die verschiedenen qualitativen und formalen Eigenschaften, die in den Akten der Apprehension und Reproduktion durch verschiedene Teilrepräsentationen repräsentiert werden, müssen zudem als die verschiedenen Eigenschaften eines Gegenstandes gedacht werden (siehe 3.2.2.c). Schließlich müssen, um die Fähigkeiten der Synthesis überhaupt ausüben zu können, sinnliche Eindrücke gegeben werden können, so dass neben den Akten der dreifachen
546 Siehe AA XVIII: 659–64. 547 Siehe an und in Fn. 453.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
283
Synthesis auch die Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke erforderlich ist, um sinnliche Anschauungen von Gegenständen haben zu können (siehe 3.1.2). Ich schlage nun vor, den Akt der Rekognition dem Titel der Relation und die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke dem Titel der Modalität in der Tafel der Kategorien zuzuordnen. Der Begriff der Relation ergibt sich dadurch, so die Überlegung, dass wir auf den Akt der Rekognition reflektieren, während der Begriff der Modalität durch die Reflexion auf die Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke gebildet wird. Durch den Akt der Rekognition repräsentieren wir nämlich die Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften, und so eben genau das, was auf allgemeine Weise durch den Begriff der Relation repräsentiert wird. In der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke hingegen drückt sich das Verhältnis der Synthesis sinnlicher Anschauung zur Existenz von Gegenständen aus, was wiederum genau das ist, was auf allgemeine Weise durch den Begriff der Modalität repräsentiert wird. Vor diesem Hintergrund ist der Akt der Rekognition als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Relation anzusehen und das Denken des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand, das zuletzt auf der Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke beruht, als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Modalität. Im Unterschied zur Quantität und Qualität von Gegenständen der Anschauung, durch die sie sich schon als solche unterscheiden, d. h. unangesehen des Verhältnisses ihrer Existenz zur Existenz von etwas anderem, sind Relation und Modalität hingegen auf die Existenz dieser Gegenstände [der Gegenstände der Anschauung] (entweder in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand) gerichtet [...]. (B 110)
Um diesen Unterschied zu Quantität und Qualität geht es auch in der bereits genannten Notiz 5697, wo Kant über die „Kategorien [...] der Relation und Modalität“ (AA XVIII: 329) sagt, dass sie Verhältnis-Begriffe entweder der Objekte untereinander oder zum Erkenntnisvermögen sind.548 (AA XVIII: 329)
Relation und Modalität sind grundlegend verschiedene Verhältnisse, in denen Gegenstände ihrer Existenz nach stehen können. Die Begriffe von Relation und Modalität repräsentieren diese Verhältnisse auf allgemeine Weise. Mit dem Be-
548 „Die Kategorien der Relation besonders haben die Erkenntnis der Dinge selbst in ihrem Verhältnis zum Gegenstande, die Kategorien der Modalität dagegen gehen nur auf die Erkenntnis des Begriffs des Dinges [im Verhältnis] zu dem ganzen Erkenntnisvermögen.“ (V-MP/ Arnoldt, AA XXIX: 1002)
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griff der Relation beziehen wir uns auf die Existenz von Gegenständen „in Beziehung aufeinander“ (B 110) bzw. auf das Verhältnis „der Objekte untereinander“ (AA XVIII: 329). Mit dem Begriff der Modalität beziehen wir uns hingegen auf die Existenz von Gegenständen „in Beziehung [...] auf den Verstand“ (B 110) bzw. auf ihr Verhältnis „zum Erkenntnisvermögen“ (AA XVIII: 329). Wenn wir uns also auf die Relation von Gegenständen beziehen, dann beziehen wir uns darauf, so Kant, wie sie sich zueinander verhalten, d. h., wir beziehen uns darauf, in welchen Verhältnissen, ihrer Existenz nach, Gegenstände und ihre Eigenschaften stehen. Wenn wir uns hingegen auf die Modalität von Gegenständen beziehen, dann beziehen wir uns darauf, wie sie sich zu unserem Verstand verhalten, d. h., wir beziehen uns darauf, in welchen Verhältnissen, ihrer Existenz nach, Gegenstände zu unserem Verstand, zu unserem Vermögen der Repräsentation von Gegenständen stehen. Das passt nun auch gut zu der von mir vorgeschlagenen Zuordnung der Relation zur Synthesis der Rekognition und der Modalität zur Rezeptivität sinnlicher Eindrücke, die zudem hilft, diese Charakterisierungen etwas genauer zu erklären: Im Akt der Rekognition beziehen wir uns auf das Verhältnis von Gegenständen und ihren Eigenschaften, wie sie vom Subjekt, von den Akten und Zuständen der Repräsentation verschieden und unabhängig sind, so dass es hier nicht mehr nur um die Anschauung von Gegenständen, sondern um die Existenz dieser Gegenstände und ihrer Eigenschaften geht. So repräsentieren wir durch den Akt der Rekognition den einen Gegenstand der verschiedenen Teilakte der Synthesis in seinem Verhältnis zu seinen verschiedenen qualitativen und formalen Eigenschaften, d. h., wir repräsentieren den gemeinsamen Träger dieser verschiedenen Eigenschaften und damit eben genau das, was durch den Begriff der Substanz als den einfachsten Begriff einer Relation repräsentiert wird. Die Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke hingegen drückt das Verhältnis des Verstandes zu Gegenständen aus, deren Einfluss sinnliche Eindrücke in uns hervorbringt, d. h., wir stehen durch unsere Rezeptivität in einem tatsächlichen Verhältnis zur Existenz dieser Gegenstände. So verhalten wir uns durch die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke zu Gegenständen als etwas, das nicht wiederum ein repräsentationaler Akt oder Zustand ist, so dass diese Fähigkeit das Verhältnis unseres Verstandes zur Existenz von Gegenständen betrifft und damit eben genau das, was durch den Begriff der Modalität repräsentiert wird. Ich will mir die Erklärung der Inhalte der Begriffe von Relation und Modalität durch den Akt der Rekognition und, vor dem Hintergrund der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke, durch das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand nun noch etwas genauer anschauen und sie dabei auch in ihrem Verhältnis zu den entsprechenden Titeln der Tafel logischer Funktionen des Urteils betrachten
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
285
(siehe 2.3.5). So will ich erneut jeweils vom Titel der Tafel logischer Funktionen als dem Erkenntnisgrund des entsprechenden Titels der Tafel der Kategorien anfangen, um von der betreffenden grundlegenden logischen Funktion des Urteils zu ihrem Seinsgrund überzugehen, d. h. zu dem grundlegenden Akt oder der Fähigkeit der Synthesis der Anschauung, deren Möglichkeit der Ausübung der logischen Funktion vorausgesetzt ist. Der Begriff der Relation. Es ist eine der grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, die Repräsentationen des Urteils durch einen Akt der Verbindung wahrheitsfähig auf Gegenstände zu beziehen. Diese Funktion ist die Relation des Urteils (siehe 2.3.5). Dabei werden die Repräsentationen des Urteils so miteinander verbunden, dass sie die Verbindung im Gegenstand repräsentieren und von dieser wahr oder falsch sind. Durch den Akt der Verbindung, wie Kant es in § 19 der B-Deduktion sagt, wird eine „objektive Einheit gegebener Vorstellungen“ hergestellt und damit eine Verbindung „im Objekt“ (B 142) repräsentiert, der die Verbindung der Repräsentationen im Urteil dann entspricht oder eben nicht. Kants Entwicklung des Begriffs des Urteils im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ beinhaltete, dass allein sinnliche Anschauungen unmittelbar von Gegenständen handeln und so die einzigen selbständigen Repräsentationen von Gegenständen sind, die wir haben können (siehe 2.3.1). Um die Verbindung im Gegenstand repräsentieren zu können, müssen Urteile dann aber der Einheit in Anschauungen entsprechen, d. h. der Einheit unserer Repräsentationen von Gegenständen. Besonders deutlich führt Kant auch diesen Gedanken in § 19 der B-Deduktion aus. Nachdem er dort bemerkt hat, dass „das Verhältniswörtchen ist [...] die objektive Einheit gegebener Vorstellungen“ (B 141 f.) in einem Urteil ausdrückt – z. B. in ‚Körper sind schwer‘ –, führt er aus: diese Vorstellungen [die Vorstellungen im Urteil] [...] gehören vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander, d. i. nach Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Vorstellungen, sofern daraus Erkenntnis werden kann [...]. Dadurch allein wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist [...]. (B 142)
Die Verbindung der Repräsentationen im Urteil muss, so Kant hier also, der „Synthesis der Anschauungen“ entsprechen, um überhaupt die Einheit aufzuweisen, die sie zu einer Repräsentation der Verbindung im Gegenstand bzw. „objektiv gültig“ macht. Die „Prinzipien der objektiven Bestimmung aller Vorstellungen“, denen demzufolge nun auch die Verbindung der Repräsentationen im Urteil entsprechen muss, sind dann aber nichts anderes als die Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung. Allgemein gesprochen, und in erster Annäherung, muss die Einheit der Repräsentationen im Urteil der Einheit sinnlicher Anschauung entsprechen, um sich wahrheitsfähig auf Gegenstände
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
der Anschauung beziehen zu können. Die Repräsentationen im Urteil gehören demnach so zueinander, wie die Teilrepräsentationen in Anschauungen es tun. Die Weise, wie wir im Urteil durch die logische Funktion der Verbindung Einheit unter den Repräsentationen des Urteils herstellen, muss damit allgemein der Weise entsprechen, wie wir in der Anschauung durch die Synthesis der Rekognition Einheit in die apprehendierten und reproduzierten Teilrepräsentationen sinnlicher Anschauung bringen, so dass sie gemeinsam die Repräsentation eines Gegenstandes bilden. Insbesondere, wenn auch immer noch in erster Annäherung, müssen z. B. die Begriffe des Körpers und der Schwere so im Urteil miteinander verbunden werden, dass der Begriff des Körpers dort die Subjektrepräsentation, der Begriff der Schwere hingegen den Prädikatbegriff des Urteils bildet, um auf diese Weise dem Umstand zu entsprechen, dass es in der Synthesis der Rekognition eines schweren Körpers die Repräsentation des Körpers ist, die für die Substanz steht, d. h. für den Träger verschiedener Eigenschaften, die Repräsentation der Schwere hingegen, die für ein Akzidens dieser Substanz steht, d. h. also für eine der Eigenschaften des Gegenstandes. Die Einheit im Urteil ist somit von der Einheit von Anschauungen abhängig, d. h. von der Weise, wie wir die Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften durch sinnliche Anschauungen repräsentieren. Diese Einheit sinnlicher Anschauung beruht aber wiederum auf dem Akt der Rekognition, durch den die Einheit des Gegenstandes der verschiedenen Teilrepräsentationen der Synthesis gedacht wird. Diese Repräsentation der Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften durch sinnliche Anschauungen besteht dabei genau darin, in der Rekognition die verschiedenen Teilakte der Repräsentation als die Teile ein und desselben Aktes der Repräsentation eines Gegenstandes zu denken. Die Synthesis der Rekognition ist der grundlegende Akt der Repräsentation der Einheit von Gegenständen. Der Begriff der Relation ist der allgemeinste Begriff der durch diesen Akt repräsentierten Einheit. Die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sind allgemein der Seinsgrund der logischen Funktionen des Urteils, während diese umgekehrt den Erkenntnisgrund von jenen bilden. Der Akt der Rekognition ist dabei als der spezifische Seinsgrund des grundlegenden logischen Aktes der Verbindung der Repräsentationen des Urteils anzusehen, durch die im Urteil die Einheit im Gegenstand repräsentiert wird. Durch den Akt der Rekognition repräsentieren wir die Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften, was es uns wiederum ermöglicht, die entsprechende Einheit auch in Urteilen zu repräsentieren. Umgekehrt ist die grundlegende logische Funktion der Verbindung der Repräsentationen des Urteils als der spezifische Erkenntnisgrund des Aktes der Rekognition anzusehen. So kann, wie gerade angedeutet, im Ausgang von der grundlegenden logischen Funktion der Verbindung der Repräsentatio-
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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nen im Urteil begründet werden, dass die Synthesis der Rekognition für eine Erkenntnis durch Begriffe erforderlich ist. Dass der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Relation nun wie beschrieben im Akt der Rekognition besteht, das bringt auch Kant selbst in einer Notiz zum Ausdruck: Die Kategorie des Verhältnisses (der Einheit des Bewusstseins) ist die Vornehmste unter allen. Denn Einheit betrifft eigentlich nur das Verhältnis […]. (Refl 5854, 1783/4, AA XVIII: 369)
Kant beschreibt die grundlegende Kategorie der Relation hier ausdrücklich als „[d]ie Kategorie [...] der Einheit des Bewusstseins“ und er fügt hinzu, dass diese Einheit „eigentlich nur das Verhältnis [betrifft]“. Die Einheit des Bewusstseins vom Gegenstand ist nun aber genau das, worin die Synthesis der Rekognition besteht. Durch den Akt der Rekognition denken wir nämlich die in den Teilakten der Apprehension und Reproduktion repräsentierten qualitativen und formalen Eigenschaften als in einem Gegenstand verbunden, als verbunden in der Einheit eines Gegenstandes, was wir wiederum gerade dadurch tun, dass wir die Einheit des Aktes der Repräsentation des Gegenstandes durch diese verschiedenen Teilakte hindurch denken. Genau so wird nun aber im Fall des einfachsten Begriffs einer Relation, dem Begriff der Substanz, das Verhältnis von Gegenständen und ihren Eigenschaften gedacht. So bemerkt Kant in der bereits genannten ausführlichen Notiz zu den Inhalten der Kategorien denn auch über die Relation: Sie ist die reale Beziehung eines Dinges auf etwas anderes, was entweder sein eigenes Prädikat oder an anderen Dingen ist. [...] Eine reale Beziehung wird der bloß formalen entgegengesetzt, da jene eine Beziehung der Realität auf andere Realität ist.549 (Refl 6338a, AA XVIII: 662)
Der Begriff der Relation ist der allgemeinste Begriff realer Beziehungen von Gegenständen – im Unterschied zu den bloß logischen Beziehungen zwischen Begriffen oder Urteilen –, der allgemeinste Begriff von Verhältnissen also, in denen Gegenstände und ihre Realitäten ihrer Existenz nach zueinander stehen. Dieser Begriff ist er aber nur dadurch, wie die zuvor zitierte Notiz deutlich macht, dass er die „Einheit des Bewusstseins“ (AA XVIII: 369) enthält. Der Begriff der Relation, so Kant also, enthält nichts als die Einheit des Bewusstseins vom Gegenstand in der Synthesis der Rekognition.
549 „Bei den Kategorien der Relation besonders also werden die Realitäten gegeneinander als Verhältnisse betrachtet, d. i. die Verhältnisse der Dinge in Ansehung ihrer Existenz“ (V-MP/ Arnoldt, AA XXIX: 1002).
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Wie von den Kategorien im Allgemeinen gilt, um das auch hier erneut zu wiederholen, dass sie „lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen [bezeichnen]“ (A 722/B 750), wie Kant es in der „Methodenlehre“ sagt, so gilt vom Begriff der Relation im Besonderen, dass er, wie Kant es in Notiz 5854 ausdrückt, „[d]ie Kategorie [...] der Einheit des Bewusstseins“ (AA XVIII: 369) ist. Die Synthesis der Rekognition ist der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Relation und kann in der Tafel der Kategorien dem Titel der Relation zugeordnet werden. Der Begriff der Modalität. Es ist eine der grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, Begriffe auf sinnliche Anschauungen und vermittelt über diese auf Gegenstände zu beziehen. Erst mit der Beziehung auf sinnliche Anschauungen, die allein einzelne Gegenstände abbilden können, besteht ein Verhältnis von Urteil und Gegenstand (siehe 2.3.5). Dieses Verhältnis ist aber dann, wenn es von sinnlichen Anschauungen abhängt, nur möglich durch ein Verhältnis von Synthesis und Gegenstand. Dieses Verhältnis wiederum ist abhängig davon, was in der Synthesis sinnlicher Anschauung in einem Verhältnis zur Existenz des Gegenstandes steht. So ist es abhängig von dem durch den Einfluss von Gegenständen gegebenen Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke, das wir in der Synthesis verbinden. Die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke ist die grundlegende Fähigkeit, sinnliche Eindrücke von Gegenständen zu empfangen, und liegt so dem Verhältnis von Synthesis der Anschauung und Existenz des Gegenstandes zugrunde. Der Begriff der Modalität ist der allgemeinste Begriff dieses Verhältnisses. Wie die Modalität des Urteils also ihren Grund darin hat, dass wir von der Gegebenheit von Gegenständen durch sinnliche Anschauungen abhängig sind – dass wir Gegenstände also nicht etwa selbst durch intellektuelle Anschauungen hervorbringen können –, so ist die Modalität der Kategorien darin begründet, dass wir in der Synthesis der Anschauung von durch den Einfluss von Gegenständen gegebenen sinnlichen Eindrücken abhängig sind. Dass wir auf die Gegebenheit eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke angewiesen sind, ist dabei das, was eine Synthesis der Anschauung und damit die Kategorien überhaupt erst erforderlich macht. Auch diesen Zusammenhang bringt Kant mit besonderer Deutlichkeit in der B-Deduktion, in § 21, zum Ausdruck. Nachdem er dort bemerkt hat, „dass das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse“ (B 145), erläutert er den Hintergrund dieser Behauptung – der Gegebenheitsthese – wie folgt: Denn wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschaute (wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in Ansehung einer solchen Erkenntnis gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zur Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muss, verbindet und ordnet. (B 145)
Es ist die Abhängigkeit von der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke durch Gegenstände, d. h. die Rezeptivität unserer sinnlichen Anschauung, die eine Synthesis und damit die Kategorien erforderlich macht. Wäre unsere Anschauung spontan und nicht rezeptiv, dann würden uns weder sinnliche Eindrücke durch Gegenstände gegeben werden noch müssten wir sie durch Akte der Synthesis verbinden. Unser Verstand wäre dann vielmehr ein solcher, „in welchem durch das Selbstbewusstsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde“, d. h., er „würde anschauen“ (B 135). Durch einen solchen intuitiven Verstand und seine intellektuellen Anschauungen könnten Gegenstände selbst hervorgebracht werden (siehe 2.1), so dass sich die Frage des Verhältnisses von Repräsentation und Gegenstand dort, anders als für einen diskursiven Verstand wie den unsrigen, gar nicht erst stellen würde. Dass sich diese Frage bei uns aber sehr wohl stellt, drückt sich nun gerade darin aus, dass das Verhältnis unserer Repräsentationen zu Gegenständen modal charakterisierbar ist. Dass wir Gegenstände durch Begriffe denken und auf sinnliche Anschauungen von ihnen angewiesen sind, ist für Kant nämlich, wie ich bereits ausgeführt habe, „[d]ie Ursache unserer Unterscheidung des Möglichen vom Wirklichen“ (Refl 5718, AA XVIII: 334). Es ist, so führt Kant diesen Gedanken wie gesehen in der Kritik der Urteilskraft aus, „dem menschlichen Verstande unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden“ (AA V: 401), da für unsere Erkenntnis eben „zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren, erforderlich [sind]“ (AA V: 401) (siehe 2.3.5). Genau wie die Modalität des Urteils hat die Modalität der Synthesis und der Kategorien ihren Grund in dem Umstand, dass unsere Anschauungen sinnliche, dass sie also rezeptive Anschauungen sind, in denen wir sinnliche Eindrücke, die uns nur durch den Einfluss von Gegenständen gegeben werden können, zu Repräsentationen von Gegenständen verbinden. Wie Urteile also deshalb modale Status haben, weil sie von sinnlichen Anschauungen von Gegenständen abhängig sind, so hat auch unser Verhältnis zur Existenz von Gegenständen, die wir durch die Synthesis der Anschauung und die Kategorien repräsentieren, eben genau deshalb modale Status, weil die Synthesis ihrer Anschauung von der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke abhängig ist. Vor diesem Hintergrund gilt dann auch, dass, wie die Modalität des Urteils nichts mehr zum Inhalt des Urteils beiträgt, so auch die Modalität der Kategorien dem repräsentationalen Inhalt, d. h. der Beziehung auf den Gegenstand
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
durch die Synthesis der Anschauung, nichts mehr hinzufügt. So erläutert Kant in den Prolegomena, dass so wie die Modalität im Urteile kein besonderes Prädikat ist, so auch die Modalbegriffe keine Bestimmung zu Dingen hinzutun [...]. (AA IV: 325 Anm.)
Die Modalität der Kategorien fügt den inhaltlichen Bestimmungen des Gegenstandes, wie wir sie durch die grundlegenden Begriffe der Quantität, der Qualität und der Relation vornehmen, nichts mehr hinzu. Sie repräsentiert allein das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand, das zuletzt auf der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke beruht. Das passt nun wiederum gut dazu, dass auch die Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke dem Inhalt unserer Repräsentationen von Gegenständen, wie er durch die Synthesen der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition festgelegt wird, nichts mehr hinzufügt, indem sie nicht mehr tut, als sinnliche Eindrücke zu empfangen und so das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand herzustellen. Die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung sind allgemein der Seinsgrund der logischen Funktionen des Urteils, während diese umgekehrt den Erkenntnisgrund von jenen bilden. Das Denken des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand, das zuletzt auf der Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke beruht, ist dabei als der spezifische Seinsgrund der grundlegenden logischen Funktion der Bewertung des Verhältnisses von Urteil und Gegenstand anzusehen, das zuletzt auf der Beziehung auf sinnliche Anschauungen beruht, durch die wir uns auf den Gegenstand des Urteils beziehen. Entsprechend können wir durch die Fähigkeit der Rezeptivität überhaupt erst sinnliche Eindrücke von Gegenständen erhalten, was es uns wiederum ermöglicht, sinnliche Anschauungen von Gegenständen zu haben, indem diese eben gerade in einer Synthesis sinnlicher Eindrücke bestehen. Umgekehrt ist die grundlegende logische Funktion der Bewertung des Verhältnisses von Urteil und Gegenstand als der spezifische Erkenntnisgrund des Denkens des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand anzusehen. So kann, wie gerade angedeutet, im Ausgang von der grundlegenden logischen Funktion der Beziehung auf Anschauungen und der Bewertung des Verhältnisses von Urteil und Gegenstand begründet werden, dass die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke und das Denken des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand für eine Erkenntnis durch Begriffe erforderlich sind. Dass der ursprüngliche repräsentationale Inhalt des Begriffs der Modalität nun wie beschrieben mit der Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke zusammenhängt, indem er das Verhältnis von Synthesis der Anschauung und Existenz des Gegenstandes repräsentiert, das auf eben diese Rezeptivität zurückgeht, das bringt auch Kant selbst zu Beginn der „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ zum Ausdruck, wo er bemerkt, dass
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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[d]ie Kategorien der Modalität [...] den Begriff, dem sie als Prädikate beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. (A 219/B 266)
Auch am Ende der „Postulate“, die er so einführt, dass sie „nichts weiter [sind], als Erklärungen der Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit in ihrem empirischen Gebrauche“ (A 219/B 266), sagt Kant über „[d]ie Grundsätze der Modalität“ (A 233/B 286), d. h. also über „die Prädikate der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit“ (A 233/B 286), dass sie den Begriff, von dem sie gesagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch, dass sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzusetzten. Da sie aber gleichwohl doch immer synthetisch sind, so sind sie es nur subjektiv, d. i. sie fügen zu dem Begriffe eines Dinges (Realen), von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat [...]. Die Grundsätze der Modalität also sagen von einem Begriffe nichts anderes, als die Handlung des Erkenntnisvermögens, dadurch er erzeugt wird.550 (A 233 f./B 286 f.)
Kant beschreibt die Begriffe und Grundsätze der Modalität hier ausdrücklich als etwas, das zur Bestimmung eines Gegenstandes überhaupt, wie wir sie durch die Begriffe der Quantität, der Qualität und der Relation vornehmen, nur noch „die Erkenntniskraft“ bzw. „die Handlung des Erkenntnisvermögens“ hinzufügt. Die Kategorien der Modalität repräsentieren keine Bestimmungen an Gegenständen der Anschauung, sondern lediglich ihr Verhältnis zur Synthesis der Anschauung. Die Modalität der Kategorien betrifft so die Weise, wie die Synthesis der Anschauung sich zu ihrem Gegenstand verhält.551 Der Begriff der Modalität ist der allgemeinste Begriff des Verhältnisses von Synthesis der Anschauung und Existenz des Gegenstandes, der allgemeinste Begriff des Verhältnisses also, das zuletzt von der Gegebenheit sinnlicher Eindrücke abhängig ist. Der Begriff der Modalität, so lässt sich Kant also verstehen, repräsentiert nichts als das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand, das zuletzt auf der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke beruht.
550 Am Ende des Absatzes heißt es in diesem Sinne dann noch einmal, dass „sie [die Grundsätze der Modalität] ihren Begriff von Dingen überhaupt nicht vemehren, sondern nur die Art anzeigen, wie er überhaupt mit der Erkenntniskraft verbunden wird.“ (A 234 f./B 287) Vgl. V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 398, wo es heißt, dass „ich [dem Objekt] in der Modalität nichts hinzusetze, sondern nur die Art des Denkens vorstelle.“ Vgl. A 234 f./B 287; Refl 5228, 1773–78, AA XVIII: 125. – Siehe Leech (2014). 551 Siehe in Fn. 267. So ist es auch zu verstehen, wenn Kant auf A 598/B 626 bemerkt: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könn[t]e. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Wie von den Kategorien im Allgemeinen gilt, um das hier ein letztes Mal zu wiederholen, dass sie „lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen [bezeichnen]“ (A 722/B 750), wie Kant es in der „Methodenlehre“ sagt, so gilt vom Begriff der Modalität im Besonderen, dass er, wie Kant es in den „Postulaten“ beschreibt, lediglich die „Erkenntniskraft“ (A 234/B 286, A 235/B 287) repräsentiert, die das Verhältnis der Synthesis empirischer Anschauungen zu ihren Gegenständen charakterisiert. Zuletzt liegt dabei die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke dem Verhältnis von Synthesis der Anschauung und Existenz des Gegenstandes zugrunde, und damit eben auch dem ursprünglichen Inhalt des Begriffs der Modalität, und kann in der Tafel der Kategorien dem Titel der Modalität zugeordnet werden.
3.3.3 Die Tafel der Kategorien: Die Momente Jeder Titel der Tafel der Kategorien enthält genau drei Momente unter sich. Von jeder der vier grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, auf denen die repräsentationalen Inhalte der vier grundlegenden Kategorien beruhen, soll es also drei elementare, d. h. einfachste und allgemeinste, Ausübungen geben, auf denen wiederum die repräsentationalen Inhalte der jeweils drei elementaren Kategorien eines Titels beruhen. Um das plausibel zu machen, benötigt Kant allerdings auch hier zusätzliche Gründe, die er bisher noch nicht gegeben hat. Warum also sind jeweils genau die drei in der Tafel aufgezählten Kategorien als die elementaren Ausübungen eines Titels anzusehen? Die zweite und dritte der drei Anmerkungen, die Kant in der zweiten Auflage der Kritik zur Tafel der Kategorien macht, geben der Beantwortung dieser Frage ihre Richtung vor. Sie lauten: 2te Anmerk[ung]. Dass allerwärts eine gleiche Zahl der Kategorien jeder Klasse, nämlich drei sind, welches eben sowohl zum Nachdenken auffordert, da sonst alle Einteilung a priori durch Begriffe Dichtomie sein muss. Dazu kommt aber noch, dass die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt. [...] 3te Anmerk[ung]. Von einer einzigen Kategorie, nämlich der der Gemeinschaft, die unter dem dritten Titel befindlich ist, ist die Übereinstimmung mit der in der Tafel der logischen Funktionen ihr korrespondierenden Form eines disjunktiven Urteils nicht so in die Augen fallend als bei den übrigen. (B 110–12)
In der zweiten Anmerkung notiert Kant, dass jeder Titel der Tafel drei elementare Kategorien enthält, und fügt hinzu, „dass die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt.“
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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(B 110)552 Dieser Zusatz deutet darauf hin, dass die Methode der Einteilung der Titel der Kategorientafel in drei Momente genau dieselbe ist, wie bei den logischen Funktionen. Auch gemäß dieser Methode, die ich oben anhand der Notizen 5854 und 3030 rekonstruiert habe, ergeben sich die dritten Momente nämlich aus einer Verbindung der ersten beiden Momente eines Titels (siehe 2.3.6.b).553 Diesen beiden Notizen zufolge bilden die zweiten Momente eines Titels entweder das kontradiktorische Gegenteil des ersten Moments, gebildet durch dessen Negation, oder aber eine Hinzufügung zum ersten Moment. Das dritte Moment soll dann, wie Kant in der zweiten Anmerkung auf B 110 nun auch ausdrücklich für die Kategorien feststellt, auf einer Verbindung der ersten beiden Momente beruhen. Es liegt dabei auch bei den Kategorien nahe, dass das erste Moment eines Titels jeweils in der einfachsten Ausübung der entsprechenden grundlegenden Fähigkeit der Synthesis der Anschauung besteht. Das zweite Moment eines Titels wird dann erneut durch die dieser entgegengesetzte Ausübung gebildet oder aber dadurch, dass dem ersten Moment etwas hinzugefügt wird. Das dritte Moment wird schließlich durch eine Verbindung der ersten beiden Momente gebildet. Ich werde diese Methode also auch zur Erklärung der jeweils drei Momente der Titel der Tafel der Kategorien heranziehen können. In Notiz 5854, die ausdrücklich von den Momenten beider Tafeln handelt, leitet Kant die Erläuterung seiner Methode der Einteilung zudem so ein: „Es sind darum drei logische Funktionen unter einem gewissen Titel, mithin auch drei Kategorien: [...]“ (AA XVIII: 370).554 Dieser Zusatz weist darauf hin, dass die Momente der Titel der Kategorientafel nicht nur auf dieselbe Weise eingeteilt werden wie die logischen Funktionen des Urteils, sondern dass sie zudem genau deshalb in ihre drei elementaren Momente eingeteilt sind, weil diese den elementaren logischen Funktionen des Urteils entsprechen. Die Momente der Kategorien korrespondieren den Momenten des Urteils, jede elementare Kategorie genau einer elementaren logischen Funktion des Urteils. Das verweist nun auch auf die dritte Anmerkung zur Tafel der Kategorien, in der Kant bemerkt, dass jede elementare Kategorie in „Übereinstimmung mit der in der Tafel der logischen Funktionen ihr korrespondierenden Form“ (B 111 f.) steht. Zum Beispiel entspricht die Kategorie der Realität der logischen Funktion bejahender Urteile, die Kategorie der Negation der logischen Funktion verneinender Urteile usw.
552 Siehe auch Prol, AA IV: 325 Anm., wo Kant ebenfalls „artige Anmerkungen“ über die Kategorien macht, u. a., „1) dass die dritte aus der ersten und zweiten in einen Begriff verbunden entspringe“. 553 Siehe jeweils im Anschluss an Fn. 292 und 293. 554 Meine Hervorhebung.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Das ist erneut allgemein darin begründet, dass der logische Gebrauch des Verstandes, wie wir ihn im Urteil ausüben, nur unter Voraussetzung des realen Gebrauchs in der Synthesis der Anschauung möglich ist, so dass dieser allgemein als der Seinsgrund von jenem anzusehen ist (siehe 3.1.1). Im vorherigen Abschnitt habe ich zudem gezeigt, dass auch spezifisch für die vier Titel der Tafel der Kategorien gilt, dass sie – genauer: die grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, die ihnen zugrunde liegen – die Seinsgründe der vier Titel der Tafel logischer Funktionen bilden, d. h. der ihnen entsprechenden grundlegenden logischen Funktionen im Urteil, sowie dass umgekehrt die logischen Funktionen als die Erkenntnisgründe der entsprechenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis anzusehen sind, die ihrer Ausübung vorausgesetzt sind. Dasselbe Verhältnis, d. h. wie beschrieben Seins- und Erkenntnisgrund voneinander zu sein, wird nun aber auch für die elementaren Kategorien bzw. für die ihnen zugrunde liegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis auf der einen und für die entsprechenden elementaren Ausübungen der logischen Funktionen im Urteil auf der anderen Seite gelten. In den Prolegomena beschreibt Kant sein Verfahren der Darstellung der Kategorientafel vor dem Hintergrund der Tafel logischer Funktionen denn auch rückblickend wie folgt: Ich bezog endlich diese Funktionen zu urteilen auf Objekte überhaupt oder vielmehr auf die Bedingung, Urteile als objektiv gültig zu bestimmen, und es entsprangen reine Verstandesbegriffe [...]. (AA IV: 324)
Gegeben also die elementaren Ausübungen der logischen Funktionen des Urteils, wie sie in der Tafel logischer Funktionen aufgezählt sind, so Kant hier, lassen sich die elementaren Kategorien genau dann angeben, wenn die logischen Funktionen „auf Objekte überhaupt oder vielmehr auf die Bedingung, Urteile als objektiv gültig zu bestimmen“, bezogen werden. Kant beschreibt die logischen Funktionen im Urteil hier ausdrücklich als den Erkenntnisgrund der Kategorien und die Kategorien umgekehrt als den Seinsgrund der logischen Funktionen. Die elementaren logischen Funktionen im Urteil sind, als der Erkenntnisgrund der Kategorien, auf die Bedingung ihrer objektiven Ausübung als auf ihren Seinsgrund zu beziehen, wodurch eben gerade die Kategorien angegeben werden sollen. Die Bedingung, Urteile als objektiv gültig zu bestimmen, besteht nun aber wie gesehen in nichts anderem als der Synthesis der Anschauung (siehe 3.3.2.b). So hieß es in § 19 der B-Deduktion, die Repräsentationen im Urteil „gehören vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander“ (B 142) und nur so werde „aus diesem Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist“ (B 142). Die Einheit des Urteils muss also, um objektiv gültig sein zu können, der Einheit der
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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Anschauung entsprechen, wie sie durch die Synthesis der Anschauung hervorgebracht wird, da sie nur so die Verbindung „im Objekt“ (B 142) repräsentiert. Dass der Weg von der Tafel logischer Funktionen zur Tafel der Kategorien über die Synthesis der Anschauung läuft, das sagt nun auch Kant selbst in einer weiteren rückblickenden Beschreibung dieses Übergangs, einer Passage aus der Kritik selbst: [d]ie Form der Urteile (in einen Begriff von der Synthesis der Anschauungen verwandelt) brachte Kategorien hervor [...]. (A 321/B 378)
Von der Tafel logischer Funktionen zur Tafel der Kategorien gelangt man also, so Kant hier, über einen „Begriff von der Synthesis der Anschauungen“, in den „die Form der Urteile [...] verwandelt“ wird. Die Verwandlung, von der Kant hier spricht, ist erneut vorzunehmen anhand der Beziehung elementarer logischer Funktionen des Urteils auf die Bedingung, Urteile als objektiv gültig zu bestimmen, d. h. anhand der Beziehung auf die ihnen entsprechenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, die ihnen als ihr Seinsgrund, als die Bedingung ihrer objektiven Ausübung, zugrunde liegen. Wir gelangen demzufolge genau dadurch zu den elementaren Kategorien, dass wir uns jeweils fragen, welche Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung der objektiven Ausübung der elementaren logischen Funktionen des Urteils vorausgesetzt sind, die in der Tafel logischer Funktionen anhand spezifischer Urteilsformen (wie ‚S ist P‘ usw.) dargestellt werden. Auf diese Weise geben wir dann, indem wir die betreffenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung angeben, die elementaren Kategorien an, deren Inhalte von den Fähigkeiten und Akten der Synthesis gebildet werden. Die Beschreibung elementarer Kategorien als der Seinsgünde der entsprechenden elementaren logischen Funktionen, als der Voraussetzungen ihrer objektiven Ausübung also, kommt mit besonderer Deutlichkeit auch in Kants „Erklärung der Kategorien“ (B 128) zum Ausdruck, die er der B-Deduktion als ein Ergebnis der Metaphysischen Deduktion voranstellt und dort auch anhand des ersten Beispielurteils des „Leitfadens“ erläutert, d. h. anhand von ‚Alle Körper sind teilbar‘ (aus [13] und [14]). Sie lautet: Sie [die Kategorien] sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird. So war die Funktion des kategorischen Urteils die des Verhältnisses des Subjekts zum Prädikat, z. B. alle Körper sind teilbar. Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes blieb es unbestimmt, welchem von beiden Begriffen die Funktion des Subjekts und welchem die des Prädikats man geben wolle. Denn man kann auch sagen: Einiges Teilbare ist ein Körper. Durch die Kategorie der Substanz aber, wenn ich
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
den Begriff eines Körpers darunter bringe, wird es bestimmt: dass seine empirische Anschauung in der Erfahrung immer nur als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden müsse; und so in allen übrigen Kategorien. (B 128 f.)
Die Kategorien sind „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt“, d. h. Begriffe der allgemeinsten Charakteristika, die Gegenstände des Denkens als solche charakterisieren (siehe 1.1.1). Durch diese Begriffe soll nun die Anschauung eines Gegenstandes „in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen“ werden können. Dadurch, dass wir also die Anschauung eines Gegenstandes unter eine elementare Kategorie bringen, so Kant hier, soll festgelegt werden können, durch welche elementare logische Funktion des Urteils der Gegenstand der Anschauung zu denken ist, wenn das betreffende Urteil objektiv gültig sein soll, wenn es also wahrheitsfähig eine Verbindung im Gegenstand repräsentieren soll.555 Um z. B. aus den Begriffen des Körpers und der Teilbarkeit ein objektiv gültiges Urteil zu bilden, das eine Verbindung im Gegenstand repräsentiert, sind entsprechende Anschauungen unter elementare Kategorien zu bringen, um so die Art der Verbindung der Begriffe im Urteil festzulegen. Da die Merkmale des Körpers und der Teilbarkeit nun nur so in Anschauungen verbunden sein können, dass das Merkmal des Körpers für den Träger, das Merkmal der Teilbarkeit hingegen für eine Eigenschaft des Trägers steht – so dass wir also Anschauungen teilbarer Körper haben –, sind auch ihre Begriffe unter die entsprechenden Kategorien zu bringen: der Begriff des Körpers unter den Begriff der Substanz, der Begriff der Teilbarkeit unter den Begriff eines Akzidens. Dadurch ist bestimmt, dass in einem objektiven Urteil aus den Begriffen des Körpers und der Teilbarkeit der Begriff des Körpers an der Stelle der logischen Funktion der Subjektrepräsentation und der Begriff der Teilbarkeit an der Stelle der logischen Funktion des Prädikatbegriffs auftreten muss, um die Verbindung im Gegenstand repräsentieren zu können. Auf diese Weise wird der logische Gebrauch des Verstandes, wie wir ihn im Urteil ausüben, durch den realen Gebrauch anhand der Kategorien bestimmt. Die elementaren Ausübungen des logischen Gebrauchs müssen sich nach denen des realen Gebrauchs richten, um überhaupt objektiv gültig sein, d. h. um wahrheitsfähig Verbindungen im Gegenstand repräsentieren zu können. Zwei Parallelstellen der „Erklärung der Kategorien“ (B 128) machen deutlich, dass Kant auch hier die Position vertritt, die er wie gesehen auf B 142 in § 19 der B-Deduktion zum Ausdruck bringt, dass nämlich die Einheit des Urteils
555 „Die Kategorien stellen jene objektive Einheit des Bewusstseins als Begriffe von Dingen überhaupt vor, weil wirklich dadurch allein Dinge als unseren Vorstellungen korrespondierende Objekte gedacht werden.“ (Refl 3054, 1776–1804, AA XVI: 633 f.)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
297
sich nach der Einheit der Anschauung zu richten hat, wie sie durch die Synthesis der Anschauung hervorgebracht wird, um objektiv gültig sein zu können. Schließlich ist es auch die Synthesis sinnlicher Anschauung, die den Inhalten der Kategorien als den Begriffen von Gegenständen überhaupt zugrunde liegt, indem sie nämlich der Akt ist, durch den wir allererst Repräsentationen von Gegenständen hervorbringen. Die beiden Parallelstellen bestätigen zudem, dass es Kant auf B 128 f. genau darum geht, wie anhand der elementaren Kategorien festgelegt wird, durch welche elementaren logischen Funktionen des Urteils Gegenstände der Anschauung gedacht werden müssen, wenn sie objektiv gedacht werden sollen. Die erste dieser Stellen ist eine Notiz aus Kants Handexemplar der Kritik, die zweite stammt aus Notiz 5854, wo sie unmittelbar vor der bereits besprochenen Begründung der Einteilung der drei Momente eines Titels steht. Die beiden Parallelstellen lauten: Kategorien sind Begriffe, durch welche gewisse Anschauungen in Ansehung der synthetischen Einheit ihres Bewusstseins als unter einer dieser Funktionen enthalten bestimmt werden; e. g. was als Subjekt gedacht werden muss und nicht als Prädikat. (HE, A 80, AA XXIII: 25). Kategorie ist der Begriff, durch den ein Objekt überhaupt in Ansehung einer logischen Funktion der Urteile überhaupt (d. i. der objektiven Einheit im Bewusstsein des Mannigfaltigen) als bestimmt angesehen wird, d. i. dass ich das Mannigfaltige seiner Anschauung durch eines dieser Momente des Verstandes denken müsse. (Refl 5854, AA XVIII: 369 f.)
Indem wir Anschauungen von Gegenständen unter bestimmte elementare Kategorien bringen, legen wir fest, dass diese Gegenstände in Urteilen durch die entsprechenden elementaren logischen Funktionen gedacht werden müssen. Dass wir Anschauungen aber auf diese Weise unter bestimmte elementare Kategorien bringen können, ist wiederum in der „synthetischen Einheit ihres Bewusstseins“ bzw. in der „objektiven Einheit im Bewusstsein des Mannigfaltigen“ dieser Anschauungen begründet, durch die sie ihre Gegenstände repräsentieren. Da z. B. die Merkmale des Körpers und der Teilbarkeit in einer Anschauung durch die Synthesis der Rekognition nur als die Repräsentation eines teilbaren Körpers rekognosziert werden können, ist die so verbundene Anschauung des Körpers unter den Begriff der Substanz zu bringen, das Merkmal der Teilbarkeit hingegen unter den Begriff des Akzidens, und der Gegenstand der Anschauung ist entsprechend durch Urteile zu denken, in denen der Begriff des Körpers an der Stelle der logischen Funktion der Subjektrepräsentation und der Begriff der Teilbarkeit an der Stelle der logischen Funktion des Prädikatbegriffs steht. Die Einheit der Repräsentationen in einer Anschauung legt so fest, wie die Repräsentationen in einem Urteil zusammengehören, wenn sie objektiv gültig sein, d. h. eine Verbindung im Gegenstand repräsentieren sollen.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
So wird durch die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung also jeweils festgelegt, durch welche elementaren logischen Funktionen im Urteil die Gegenstände der Anschauung gedacht werden müssen, wenn sie objektiv gedacht werden sollen. Diese Festlegung kommt darin zum Ausdruck, dass Anschauungen unter die elementaren Kategorien gebracht werden, als die Begriffe, in denen die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung als ihre ursprünglichen repräentationalen Inhalte enthalten sind. Ein Gegenstand, dessen Anschauung unter die Kategorie der Realität gebracht werden kann, ist z. B. durch die logische Funktion bejahender Urteile zu denken; ein Gegenstand, dessen Anschauung unter die Kategorie der Ursache gebracht werden kann, ist durch die logische Funktion des Antecedens in hypothetischen Urteilen zu denken usw. Mit besonderer Deutlichkeit bringt Kant diese Position auch in zwei Passagen der Prolegomena zum Ausdruck, die ich hier zum Abschluss noch zitieren will, bevor ich mich dann auf dieser Grundlage der Erklärung der Momente der Kategorientafel zuwende. Sie lauten: Die gegebene Anschauung muss unter einem Begriff subsumiert werden, der die Form des Urteilens überhaupt in Ansehung der Anschauung bestimmt [...]; dergleichen Begriff ist ein reiner Verstandesbegriff a priori, welcher nichts tut, als bloß einer Anschauung die Art überhaupt zu bestimmen, wie sie zu Urteilen dienen kann.556 (AA IV: 300)
So gilt also, dass die reinen Verstandesbegriffe [...] nichts weiter sind als Begriffe von Anschauungen überhaupt, sofern diese in Ansehung eines oder des anderen dieser Momente zu Urteilen [...] bestimmt sind [...].557 (AA IV: 302)
Vor dem Hintergrund der Methode der Einteilung der drei elementaren Momente eines Titels in eine einfachste Ausübung, ihre Entgegensetzung oder Hinzufügung
556 „Der Begriff der Ursache ist [...] ein reiner Verstandesbegriff, der [...] nur dazu dient, diejenige Vorstellung, die unter ihm enthalten ist, in Ansehung des Urteilens überhaupt zu bestimmen, mithin ein allgemeingültiges Urteil möglich zu machen.“ (Prol, AA V: 300) 557 Ein reiner Verstandesbegriff ist „derjenige Begriff, der die Anschauung in Ansehung einer Form des Urteils vielmehr als der anderen als an sich bestimmt vorstellt, d. i. ein Begriff von derjenigen synthetischen Einheit der Anschauungen, die nur durch eine gegebene logische Funktion der Urteile vorgestellt werden kann.“ (Prol, AA IV: 304) „Die Vorstellung, wodurch wir einem Objekt seine eigentümliche logische Stelle anweisen, ist der reale Verstandesbegriff und rein: z. E. etwas, was ich jederzeit nur als Subjekt brauchen kann; etwas, wovon ich hypothetisch auf ein consequens schließen muss etc. etc. [...] Durch die Bestimmung der logischen Stelle bekommt die Vorstellung eine Funktion unter den Begriffen. e. g. antecedens, consequens.“ (Refl 4629, 1772–75, AA XVII: 614)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
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und die Verbindung der ersten beiden Ausübungen, sowie mit einem allgemeinen Verständnis, demzufolge sich logische Funktionen im Urteil und Kategorien als Erkenntnis- und Seinsgrund zueinander verhalten, bin ich nun dazu in der Lage, ausgehend von den elementaren logischen Funktionen des Urteils (siehe 2.3.6.b) die vier mal drei elementaren Kategorien zu begründen, anzugeben und zu erläutern, wie Kant sie in der Kategorientafel aufzählt. Die vier grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, die wie gesehen die ursprünglichen Inhalte der vier grundlegenden Kategorien bilden, sind i) die Synthesis der Apprehension (Qualität), ii) die Synthesis der Reproduktion (Quantität), iii) die Synthesis der Rekognition (Relation) und iv) das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand durch die Rezeptivität sinnlicher Eindrücke (Modalität). Ich werde diese vier Titel der Kategorien nun Moment für Moment durchgehen. 1) Qualität: Durch die Subjektrepräsentation eines Urteils wird in einer Erkenntnis durch Begriffe der Gegenstand oder die Art von Gegenstand repräsentiert, auf die der Prädikatbegriff bezogen ist (siehe 2.3.5). In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, den Prädikatbegriff durch die Subjektrepräsentation zu spezifizieren: die positive (‚S ist P‘), die negative (‚S ist nicht P‘) und die unendliche Weise (‚S ist nicht-P‘) (siehe 2.3.6). Der grundlegende Akt der Synthesis der Anschauung, der dieser Spezifikation im Urteil seiner Möglichkeit nach vorausgesetzt ist und den ursprünglichen repräsentationalen Inhalt des Begriffs der Qualität bildet, ist die Synthesis der Apprehension (siehe 3.2.2.a, 3.3.2.a). Um nun die elementaren Ausübungen dieses Aktes anzugeben, sind die elementaren logischen Funktionen der Qualität jeweils auf diejenige Ausübung des Aktes der Apprehension zu beziehen, deren Möglichkeit ihrer eigenen objektiven Ausübung vorausgesetzt ist. Die einfachste Ausübung, ihre Entgegensetzung und schließlich die Verbindung der ersten beiden Ausübungen der Synthesis der Apprehension bilden dann die repräsentationalen Inhalte der elementaren Kategorien der Realität, der Negation und der Limitation. Da die Synthesis der Apprehension, als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Qualität, für die Aufnahme der Materie sinnlicher Eindrücke in die Form einer sinnlichen Anschauung verantwortlich ist, bestehen die elementaren Ausübungen dieses Aktes, d. h. die Inhalte der elementaren Kategorien der Qualität, in elementaren Weisen, die Erfülltheit der Form sinnlicher Anschauung durch sinnliche
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Eindrücke aufzufassen. Im „Schematismus“ erläutert Kant Realität und Negation denn auch in diesem Sinne für den Fall unserer zeitlichen Form der Anschauung: Die Entgegensetzung beider geschieht also in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfü̈llten oder leeren Zeit.558 (A 143/B 182)
Und in der ausführlichen Notiz zu den Inhalten der Kategorien, aus der ich bereits wiederholt zitiert habe, bemerkt Kant über den Titel und die Momente der Qualität: Qualität. Bei der ist die Empfindung mit der Anschauung zur (empirischen) Apperzeption verbunden oder nicht verbunden, d. i. die Anschauung ist leer oder zum Teil leer, zum Teil empfindbar. (Refl 6338a, AA XVIII: 660 f.) Die Qualität eines Dinges, die es als ein Etwas von der bloßen Form unterscheidet, ist Realität und ihr korrespondiert Empfindung. (Refl 6338a, AA XVIII: 663).
Die Unterscheidung zwischen den elementaren Kategorien der Qualität wird also allgemein auf dem Unterschied und dem Verhältnis zwischen der Verbindung sinnlicher Eindrücke oder Empfindungen in sinnlichen Anschauungen und der Leere ihrer bloßen Form beruhen. Vor diesem Hintergrund kann ich die drei elementaren Kategorien der Qualität nun Moment für Moment durchgehen. i) Realität: Die einfachste elementare logische Funktion der Qualität drückt sich in bejahenden Urteilen der Form ‚S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige bejahende Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff positiv durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, muss die ihnen entsprechende, einfachste Ausübung der Synthesis der Apprehension möglich sein. Diese Ausübung besteht nun darin, dass die Form sinnlicher Anschauung von sinnlichen Eindrücken erfüllt ist, durch deren Apprehension wir Realitäten repräsentieren, d. h. positive wahrnehmbare Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. Licht. Die Kategorie der Realität, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Apprehension gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung.
558 „Realität kann man im Gegensatze mit der Negation nur alsdann erklären, wenn man sich eine Zeit (als den Inbegriff von allem Sein) gedenkt, die entweder womit erfüllt oder leer ist.“ (A 242/B 300) – Vgl. Longuenesse (1998a): 298–310, wo die Kategorien der Qualität ebenfalls anhand der Synthesis der Apprehension beschrieben werden. Siehe auch Maier (1930): 56 f.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
301
So erläutert Kant die Kategorie der Realität im „Schematismus“ wie folgt: Realität ist im reinen Verstandesbegriffe das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert, dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein [...] anzeigt.559 (A 143/B 182)
Die Kategorie der Realität, als der allgemeinste Begriff positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung, beruht also auf dem Akt der Apprehension gegebener sinnlicher Eindrücke.560 Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Realität gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende bejahende Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff positiv durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie positive Eigenschaften im Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung meines erleuchteten Zimmers unter den Begriff der Realität bringe, da sie intuitive Teilrepräsentationen wahrnehmbarer Eigenschaften enthält, dann kann und muss ich mein Zimmer auch durch das entsprechende bejahende Urteil ‚Mein Zimmer ist erleuchtet‘ denken. Die erste und einfachste Ausübung der Synthesis der Apprehension, auf der die Kategorie der Realität beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion bejahender Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. ii) Negation: Die elementare logische Funktion der Qualität, die der einfachsten entgegengesetzt ist, drückt sich in verneinenden Urteilen der Form ‚S ist nicht P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige verneinende Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff negativ durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, muss die ihnen entsprechende, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Apprehension möglich sein.561 Diese Ausübung besteht nun darin, dass die Form sinnlicher Anschauung nicht von sinnlichen Eindrücken erfüllt, d. h. leer ist, durch deren Apprehension wir Negationen repräsentieren, d. h. Abwesenheiten positiver wahrnehmbarer Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. Dunkelheit als die Abwesenheit von
559 Siehe in Fn. 446. „An Gegenständen der Sinne ist realitas (phaenomenon), das der Empfindung korrespondiert.“ (Refl 6324, 1792/3, AA XVIII: 647) Vgl. V-MP-K2/Heinze, AA XXVIII: 737 („Empfindung bezeichnet etwas Reales im Objekt“); V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 998 („das Reale ist etwas Empfindbares in der Anschauung“). 560 „Dieser Titel [realitas] bedeutet immer eine Bedingung der Apprehension nach irgendeinem Moment der Sinnlichkeit.“ (Refl 1608, 1773–75, AA XVI: 34 f.) 561 Auf A 143/B 182 spricht Kant in Bezug auf Realität und Negation denn auch von der „Entgegensetzung beider“, auf A 242/B 300 von „Realität [...] im Gegensatze mit der Negation“.
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Licht. Die Kategorie der Negation, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Apprehension gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff der Abwesenheiten positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung. So lässt sich die Stelle aus dem „Schematismus“ für die Kategorie der Negation wie folgt vervollständigen: Negation [ist im reinen Verstandesbegriffe das, was dem Mangel einer Empfindung überhaupt korrespondiert, dasjenige also], dessen Begriff ein Nichtsein [...] vorstellt.562 (A 143/B 182)
Die Kategorie der Negation, als der allgemeinste Begriff der Abwesenheit positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung, beruht also auf dem Akt der Apprehension der leeren Form einer Anschauung. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Negation gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende verneinende Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff negativ durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie Abwesenheiten im Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung meines dunklen (nicht erleuchteten) Zimmers unter den Begriff der Negation bringe, da sie intuitive Teilrepräsentationen formaler Eigenschaften (homogener Teile) ohne solche wahrnehmbarer Eigenschaften enthält, dann kann und muss ich mein Zimmer auch durch das entsprechende verneinende Urteil ‚Mein Zimmer ist dunkel/ nicht erleuchtet‘ denken. Die zweite, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Apprehension, auf der die Kategorie der Negation beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion verneinender Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. iii) Limitation: Die elementare logische Funktion der Qualität, die auf einer Verbindung der ersten beiden beruht, drückt sich in unendlichen Urteilen der Form ‚S ist nicht-P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige unendliche Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff unendlich durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, muss die ihnen entsprechende, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Apprehension möglich sein. Diese Ausübung der Synthesis der Apprehension besteht nun darin,
562 „Was nun in der empirischen Anschauung [...] dem Mangel derselben [der Empfindung] entspricht, Negation = 0.“ (A 168/B 209)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
303
dass die Form sinnlicher Anschauung von sinnlichen Eindrücken zum Teil erfüllt und zum Teil leer ist, durch deren Apprehension wir Limitationen repräsentieren, d. h. Einschränkungen positiver wahrnehmbarer Eigenschaften eines Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. Schatten als die Einschränkung von Licht.563 Die Kategorie der Limitation, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Apprehension gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff der Einschränkungen positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung. In der ausführlichen Notiz zu den Kategorien bemerkt Kant über die Limitation, bei ihr sei die Anschauung [...] zum Teil leer, zum Teil empfindbar.
(Refl 6338a, AA XVIII: 660 f.)
Auf diese Weise bildet der Begriff der Limitation eine Verbindung der ersten beiden Kategorien der Qualität und ist, wie Kant es in der zweiten Anmerkung zur Tafel der Kategorien sagt, die Einschränkung nichts anderes als Realität mit Negation verbunden.
(B 111)
Die Kategorie der Limitation, als der allgemeinste Begriff der Einschränkung positiver wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung, beruht also auf dem Akt der Apprehension der teilweise durch sinnliche Eindrücke erfüllten und teilweise von ihnen leeren Form einer Anschauung. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Limitation gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende unendliche Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff unendlich durch eine Subjektrepräsentation spezifiziert wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie Einschränkungen im Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung meines nur zum Teil erleuchteten Zimmers
563 Zu den drei elementaren Kategorien der Qualität und dem Beispiel des Lichts vgl. V-MP/ Arnoldt, AA XXIX: 998: „Kategorie der Qualität [...] [1.) Realität,] d. i. die Vorstellung eines Dinges [als etwas, das ein] Sein involviert 2.) Negation, d. i. die Vorstellung eines Dinges als etwas, so ein Nichtsein enthält. 3) Limitation, d. i. die Vorstellung eines Dinges, dessen Sein durch das Nichtsein desselben affiziert wird, mithin dessen Begriff ein Sein und Nichtsein verbunden enthält. Z. E. Licht ist Realität; Finsternis ist Negation; Schatten ist Limitation, denn es ist eine Finsternis, die vom Licht begrenzt wird.“ Insbesondere zur Limitation vgl. auch V-PhilTh/Pölitz, AA XXVIII: 1015: „Wenn [...] ein Ding neben dem Realen etwas Negatives hat, z. E. ein verfinstertes Zimmer etc.; so ist hier nicht eine Zumischung der Negation, sondern vielmehr eine Einschränkung der Realität. So konnte ich im angeführten Falle nicht die Finsternis als eine Negation zu dem Lichte, als dem Realen, herzumischen, sondern das Negative, die Finsternis, entstand, als ich die Realität, das Licht, verminderte und einschränkte.“
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
unter den Begriff der Limitation bringe, da sie intuitive Teilrepräsentationen eingeschränkter wahrnehmbarer Eigenschaften enthält, dann kann und muss ich mein Zimmer auch durch das entsprechende unendliche Urteil ‚Mein Zimmer ist nicht-erleuchtet‘ denken, wodurch ich mich auf die unendlich spezifizierbaren Grade beziehe, mit denen etwas zum Teil nicht-erleuchtet sein kann.564 Die dritte, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Apprehension, auf der die Kategorie der Limitation beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion unendlicher Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. 2) Quantität: Durch den Prädikatbegriff eines Urteils werden in einer Erkenntnis durch Begriffe Arten oder Eigenschaften der Gegenstände oder des Gegenstandes der Subjektrepräsentation repräsentiert (siehe 2.3.5). In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die Subjektrepräsentation durch den Prädikatbegriff zu quantifizieren: die allgemeine (‚Alle S sind P‘), die besondere (‚Einige S sind P‘) und die einzelne Weise (‚Ein/Dieses S ist P‘) (siehe 2.3.6). Der grundlegende Akt der Synthesis der Anschauung, der dieser Quantifikation im Urteil seiner Möglichkeit nach vorausgesetzt ist und den ursprünglichen repräsentationalen Inhalt des Begriffs der Quantität bildet, ist die Synthesis der Reproduktion (siehe 3.2.2.b, 3.3.2.a). Um nun die elementaren Ausübungen dieses Aktes anzugeben, sind die elementaren logischen Funktionen der Quantität jeweils auf diejenige elementare Ausübung des Aktes der Reproduktion zu beziehen, deren Möglichkeit ihrer eigenen objektiven Ausübung vorausgesetzt ist. Die einfachste Ausübung, ihre Entgegensetzung und schließlich die Verbindung der ersten beiden Ausübungen der Synthesis der Reproduktion bilden dann die repräsentationalen Inhalte der elementaren Kategorien der Einheit, der Vielheit und der Allheit. Da die Synthesis der Reproduktion, als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Quantität, für die Erzeugung und Reproduktion homogener Teile der Anschauung als der Teile eines Ganzen verantwortlich ist, bestehen die elementaren Ausübungen dieses Aktes, d. h. die Inhalte der elementaren Kategorien der Quantität, in elementaren Weisen, homogene Teile der Anschauung eines Gegenstandes aufzufassen. So erklärt Kant den Begriff einer Größe in den „Axiomen
564 „Bei den Limitationen denke ich etwas Positives, aber nicht bloß, sondern auch Negatives, und es ist etwas eingeschränktes Positives. – Sie heißen judicia infinita, weil sie unbegrenzt sind. Sie sagen nur immer, was nicht ist, und solcher Prädikate kann ich unzählige machen, denn die sphaera der Prädikate, die mit non affiziert vom Subjekt gesagt werden können, ist unendlich.“ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 930 f.)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
305
der Anschauung“ anhand des Auffassens des homogenen Mannigfaltigen der Anschauung eines Gegenstandes: Nun ist das Bewusstsein des mannigfaltigen Gleichartigen in der Anschauung überhaupt, sofern dadurch die Vorstellung eines Objekts zuerst möglich wird, der Begriff einer Größe (quanti).565 (B 203)
Die Größe, so Kant ebenfalls in den „Axiomen“, betrifft nämlich die Synthesis des Gleichartigen (der Einheiten).566
(A 164/B 205)
Die Unterscheidung zwischen den elementaren Kategorien der Quantität wird also allgemein auf dem Unterschied und dem Verhältnis zwischen der Verbindung einzelner und vieler homogener Teile oder Einheiten der Anschauung eines Gegenstandes beruhen.567 Vor diesem Hintergrund kann ich die drei elementaren Kategorien der Quantität nun Moment für Moment durchgehen. i) Einheit: Die einfachste elementare logische Funktion der Quantität drückt sich in allgemeinen Urteilen der Form ‚Alle S sind P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige allgemeine Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff auf alle Gegenstände der Subjektrepräsentation bezogen wird, muss, so meint Kant auch hier, die ihnen entsprechende, einfachste Ausübung der Synthesis der Reproduktion möglich sein. Diese Ausübung besteht nun darin, dass ein homogener Teil der Anschauung aufgefasst wird – als das Maß bzw. als „[d]as, woraus etwas zusammengesetzt wird“ (Refl 5726, 1785–89, AA XVIII: 337) –,568 durch dessen Reproduktion wir Einheit repräsentieren, d. h. einen homogenen Teil eines Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. einen Teil einer Linie. Die Kategorie der Einheit, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Reproduktion gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff eines homogenen Teils von Gegenständen der Anschauung.
565 Dabei ist es die „synthetische Einheit des Mannigfaltigen der gegebenen sinnlichen Anschauung [...], wodurch die Einheit der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen im Begriffe einer Größe gedacht wird“ (B 203). Siehe an und in Fn. 461. 566 Ein Ausdruck dieser Synthesis ist „die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen)“ (A 142/B 182). 567 „In jeder Größe ist der Begriff von vielem enthalten, was verbunden betrachtet sich als ein Eins darstellt. Ein Vieles gleichartige verbunden macht Quantität an sich aus. Es liegt also im Begriff von Größe die Vorstellung von Eins und Vielem.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 989) 568 In der Tafel der Kategorien der Prolegomena erläutert Kant Einheit als „das Maß“ (AA IV: 303). Siehe auch KU, AA V: 248 („die Größe der Einheit (des Maßes)“); Refl 6266, 1783/4, AA XVIII: 537 („die Einheit als Maß“); Refl 6338a, AA XVIII: 660 („ein Teil [...] zum Maße anderer Größen gebracht“).
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
So erläutert Kant quantitative Einheit in Notizen als [...] homogener Teil einer Größe [...].
(Refl 5838, 1785–88, AA XVIII: 366)
[...] ein Teil des Ganzen [...].
(Refl 5663, 1788–90, AA XVIII: 322)
[...] ein Teil [...].
(Refl 6338a, AA XVIII: 660)
Die Kategorie der Einheit, als der allgemeinste Begriff eines homogenen Teils von Gegenständen der Anschauung, beruht also auf dem Akt der Reproduktion eines homogenen Teils einer Anschauung. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Einheit gebracht werden, so Kant auch an dieser Stelle, dann müssen ihre Gegenstände durch entsprechende allgemeine Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff auf alle Gegenstände der Subjektrepräsentation bezogen wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie Eigenschaften im Gegenstand repräsentieren sollen. Diese „Übereinstimmung mit der in der Tafel der logischen Funktionen ihr [der Kategorie] korrespondierenden Form“ (B 111 f.) ist allerdings nicht so „in die Augen fallend“ (B 112), wie Kant meint.569 So gilt zwar, dass Gegenstände von Anschauungen, die unter den Begriff der Einheit gebracht werden können, da ihre Anschauungen alle eine homogene Teilrepräsentation enthalten – wie z. B. die Repräsentation des Teils einer Linie –, durch die sie gemeinsam unter den Begriff einer Art von Gegenstand fallen – wie z. B. unter den Begriff einer Linie –, dass solche Gegenstände auch durch entsprechende allgemeine Urteile gedacht werden müssen, wie z. B. durch ‚Alle Linien sind teilbar‘. Handelt es sich bei dem betreffenden Begriff nämlich um den Begriff eines homogenen Teils bzw. einer homogenen Größe, dann muss die Anschauung des Gegenstandes offenbar eine entsprechende homogene Teilrepräsentation enthalten, so dass sie auch unter den Begriff der Einheit gebracht werden kann und ihr Gegenstand durch entsprechende allgemeine Urteile gedacht werden muss. In diesem Fall gilt nämlich, was Kant in einer Notiz sogar als allgemeines Prinzip für alle Begriffe und Arten von Gegenständen zu formulieren scheint: Ein Objekt von gewisser Art ist in derselben Art gleichförmig, z. E. Raum. (Refl 5726, 1785–89, AA XVIII: 337)
569 Das hat Frede/Krüger (1970) dazu bewogen, die Darstellung der Kritik und der Prolegomena anzuzweifeln und die Zuordnung der ersten und dritten Momente umzukehren. So auch Longuenesse (1998a): 248 f. Thompson (1989) und Friedman (2000): 205–7 verteidigen die offizielle Zuordnung, die auch ich beibehalte, auf überzeugende Weise. Auch Longuenesse (2005): 45 f. hat diese Zuordnung mittlerweile anerkannt.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
307
Gälte dieses Prinzip tatsächlich für alle Begriffe und Arten von Gegenständen, dann wäre auch die Entsprechung von Kategorie der Einheit und allgemeinen Urteilen so in die Augen fallend, wie Kant meint. Es scheint aber streng genommen nur für homogene Größen zu gelten, wie ja auch das Beispiel des Raumes nahelegt, dessen Teile alle wiederum selbst Räume sind. Die Teile eines Baumes z. B., wie etwa Stamm und Krone, sind nicht in demselben Sinne homogen wie die Teile eines Raumes.570 Um den Akt der Reproduktion eines homogenen Teils der Anschauung eines Gegenstandes also allgemein als den Seinsgrund objektiv gültiger allgemeiner Urteile ansehen zu können, scheint hier noch zusätzlich angenommen werden zu müssen, dass für jede Teilrepräsentation einer Eigenschaft eines Gegenstandes der Anschauung gilt – auch wenn diese Eigenschaft selbst kein homogener Teil ist, sondern etwa eine wahrnehmbare Eigenschaft –, dass sie zuletzt nur anhand eines homogenen Teils der Anschauung des Gegenstandes aufgefasst werden kann (siehe 3.1.3, 3.2.2.b, 3.3.2.a).571 Dann gilt nämlich ganz allgemein, dass Anschauungen eines Gegenstandes eine homogene Teilrepräsentation enthalten und also unter die Kategorie der Einheit fallen müssen, um unter einen gemeinsamen Begriff gebracht werden zu können. Die erste und einfachste Ausübung der Synthesis der Reproduktion, auf der die Kategorie der Einheit beruht, kann auf diese Weise als der Seinsgrund der logischen Funktion allgemeiner Urteile angesehen werden, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. ii) Vielheit: Die elementare logische Funktion der Quantität, die der einfachsten entgegengesetzt ist, drückt sich in besonderen Urteilen der Form ‚Einige S sind P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige 570 Longuenesse (1998a): 250 Fn. 16 scheint das in Notiz 5726 enthaltene Prinzip für alle Begriffe zu akzeptieren, nicht nur für Begriffe homogener Größen, wenn sie schreibt: „I take ‘homogeneous’ to mean ‘thought under the same concept’.“ In diesem Sinne ist nämlich alles homogen, was zu einer Art gehört (bzw. unter einen Begriff fällt). Vgl. Longuenesse (1998a): 250 f., 265. Der Sinn von Homogenität, den Kant mit den Kategorien der Quantität und der Synthesis der Reproduktion verbindet, ist jedoch enger und betrifft allein homogene Größen wie Raum und Zeit, deren Teile erneut Räume und Zeiten sind. Siehe Friedman (2000): 206. 571 Dabei scheint es sowohl nahe zu liegen, dass die Teilrepräsentation einer wahrnehmbaren Eigenschaft, die in einem homogenen Teil der Anschauung enthalten ist, wie z. B. die Repräsentation der Farbe eines bestimmten (z. B. räumlichen) Teils, nur anhand dieses Teils, d. h. also anhand ihrer Stellen und Verhältnisse innerhalb der Form der Anschauung aufgefasst werden kann, als auch, dass die Teilrepräsentation einer wahrnehmbaren Eigenschaft, die in jedem homogenen Teil der Anschauung enthalten ist, wie z. B. die Repräsentation der Undurchdringlichkeit des Gegenstandes, zuletzt immer anhand jeweils eines homogenen Teils aufgefasst wird. — Friedman (2000): 206 f., 214 f. führt Spannungen wie die zwischen den logischen Funktionen und den Kategorien der Quantität auf Kants Versuch zurück, eine aristotelisch-abstraktionistische Auffassung von Begriffsbildung mit einem newtonisch-mathematischen Naturverständnis zu verbinden.
308
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
besondere Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff auf einige Gegenstände der Subjektrepräsentation bezogen wird, so meint Kant auch hier, muss die ihnen entsprechende, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Reproduktion möglich sein.572 Diese Ausübung besteht nun darin, dass nicht nur ein homogener Teil, sondern viele homogene Teile der Anschauung aufgefasst werden – eine Menge solcher Teile –,573 durch deren Reproduktion wir Vielheit repräsentieren, d. h. viele homogene Teile eines Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. viele Teile einer Linie. Die Kategorie der Vielheit, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Reproduktion gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff einer Menge vieler homogener Teile von Gegenständen der Anschauung. So erläutert Kant quantitative Vielheit in Notizen als [...] Inbegriff des vielen Gleichartigen [...]. [...] Menge [...].
(Refl 5929, 1783/4, AA XVIII: 390) (Refl 6338a, AA XVIII: 660)
Die Kategorie der Vielheit, als der allgemeinste Begriff einer Menge vieler homogener Teile von Gegenständen der Anschauung, beruht also auf dem Akt der Reproduktion vieler homogener Teile einer Anschauung. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Vielheit gebracht werden, so Kant auch an dieser Stelle, dann müssen ihre Gegenstände durch entsprechende besondere Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff auf einige Gegenstände der Subjektrepräsentation bezogen wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie Eigenschaften im Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. Anschauungen von Linien unter den Begriff der Vielheit bringe, da sie viele homogene Teilrepräsentationen enthalten, die allerdings auf jeweils verschiedene Weisen zusammengesetzt sind, dann kann und muss ich die Linien auch durch entsprechende besondere Urteile wie ‚Einige Linien sind gerade‘ denken.574 Dasselbe gilt für Begriffe nicht nur homogener 572 „Eines und Viel sind nur als correlata denkbar und können nur in opposito gedacht werden“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 989). 573 „Etwas kann nun entweder bloß gesetzt oder wiederholentlich (iterative) gesetzt werden, um die Vorstellung des Objekts zustande zu bringen; im letzteren Falle ist es Vielheit, im ersten Eines. Alle Vielheit ist also gleichartig und die wiederholte Setzung ist Hinzutuung.“ (Refl 5726, 1785–89, AA XVIII: 337) 574 In Prol, AA IV: 301 f. gibt Kant selbst das Beispiel eines besonderen Urteils über Linien unter Voraussetzung der Kategorie der Vielheit: „Der Grundsatz: die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten, setzt voraus, dass die Linie unter den Begriff der Größe subsumiert werde, welcher [...] lediglich im Verstande seinen Sitz hat und dazu dient, die Anschauung (der Linie) in Absicht auf Urteile, die von ihr gefällt werden mögen, in Ansehung
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
309
Teile, sondern etwa auch wahrnehmbarer Eigenschaften, wenn erneut angenommen wird, dass Teilrepräsentationen auch wahrnehmbarer Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung zuletzt nur anhand homogener Teile der Anschauungen von Gegenständen aufgefasst werden können. Die zweite, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Reproduktion, auf der die Kategorie der Vielheit beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion besonderer Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. iii) Allheit: Die elementare logische Funktion der Quantität, die auf einer Verbindung der ersten beiden beruht, drückt sich in einzelnen Urteilen der Form ‚Ein/Dieses S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige einzelne Urteile denken zu können, in denen ein Prädikatbegriff auf genau einen Gegenstand der Subjektrepräsentation bezogen wird, muss die ihnen entsprechende, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Reproduktion möglich sein. Diese Ausübung der Synthesis der Reproduktion besteht nun darin, dass ein Ganzes vieler homogener Teile der Anschauung aufgefasst wird, durch dessen Reproduktion wir Allheit repräsentieren, d. h. das Ganze der homogenen Teile eines einzelnen Gegenstandes der Anschauung, wie z. B. eine Linie oder einen Körper.575 Die Kategorie der Allheit, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Reproduktion gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff eines einzelnen Gegenstandes der Anschauung als eines Ganzen homogener Teile. So erläutert Kant den Begriff quantitativer Allheit in der Metaphysik der Sitten als den Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein Ding ausmacht [...].576 (AA VI: 386)
Auf diese Weise bildet der Begriff der Allheit eine Verbindung der ersten beiden Kategorien der Quantität, und ist, wie Kant es in der zweiten Anmerkung zur Tafel der Kategorien sagt,
der Quantität derselben, nämlich der Vielheit [...] zu bestimmen, indem unter ihnen verstanden wird, dass in einer gegebenen Anschauung vieles Gleichartige enthalten sei.“ 575 In der Tafel der Kategorien der Prolegomena erläutert Kant Allheit als „das Ganze“ (AA IV: 303). 576 „Dass etwas eine Größe (quantum) sei, lässt sich aus dem Dinge selbst ohne alle Vergleichung mit anderen erkennen: wenn nämlich Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht.“ (KU, AA V: 248) „Sie [die Größe eines Dinges] ist die Bestimmung, durch welche vieles Gleichartige zusammen eines ausmacht.“ (Refl 6338a, AA XVIII: 659)
310
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
die Allheit (Totalität) nichts anderes, als die Vielheit als Einheit betrachtet [...].577
(B 111)
Die Kategorie der Allheit, als der allgemeinste Begriff eines einzelnen Gegenstandes der Anschauung als eines Ganzen homogener Teile, beruht also auf dem Akt der Reproduktion des homogenen Ganzen einer Anschauung. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Allheit gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende einzelne Urteile gedacht werden, in denen ein Prädikatbegriff auf genau einen Gegenstand der Subjektrepräsentation bezogen wird, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie einen einzelnen Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung einer Linie oder eines Körpers unter den Begriff der Allheit bringe, da sie sich auf genau eine Linie oder genau einen Körper bezieht, dann kann und muss ich die Linie oder den Körper auch durch entsprechende einzelne Urteile wie ‚Eine/Diese Linie ist teilbar‘ oder ‚Ein/Dieser Körper ist teilbar‘ denken. Die dritte, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Reproduktion, auf der die Kategorie der Allheit beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion einzelner Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. 3) Relation: Durch die Verbindung von Repräsentationen im Urteil wird in einer Erkenntnis durch Begriffe die wahrheitsfähige und objektive Einheit des Urteils hevorgebracht (siehe 2.3.5). In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die Repräsentationen im Urteil zu einer wahrheitsfähigen und objektiven Einheit zu verbinden: die kategorische (‚S ist P‘), die hypothetische (‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘) und die disjunktive Weise (‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘) (siehe 2.3.6). Der grundlegende Akt der Synthesis der Anschauung, der dieser Verbindung im Urteil seiner Möglichkeit nach vorausgesetzt ist und den ursprünglichen repräsentationalen Inhalt des Begriffs der Relation bildet, ist die Synthesis der Rekognition (siehe 3.2.2.c, 3.3.2.b). Um nun die elementaren Ausübungen dieses Aktes anzugeben, sind die elementaren logischen Funktionen der Relation jeweils auf diejenige elementare Ausübung
577 Sie ist „die Vollständigkeit eines jeden Dinges in seiner Art, [...] ein bloßer Größenbegriff (der Allheit)“ (KU, AA V: 227). „Vollkommenheit, als bloße Vollständigkeit des Vielen, sofern es zusammen Eines ausmacht, ist ein ontologischer Begriff, der mit dem der Totalität (Allheit) eines Zusammengesetzten [...] einerlei ist“ (EEKU, AA XX: 228). So ist denn auch „die [durchgängige] Bestimmung [...] eines Dinges der Allheit (universitas) oder dem Inbegriffe aller möglichen Prädikate untergeordnet.“ (A 572/B 600 Anm.) Damit sind allerdings, indem die durchgängige Bestimmung eines Einzelgegenstandes alle seine möglichen Pradikate betrifft (siehe 2.3.6.b), die für die Quantität relevanten Prädikate auch hier wieder nicht auf Begriffe homogener Größen beschränkt.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
311
des Aktes der Rekognition zu beziehen, deren Möglichkeit ihrer eigenen objektiven Ausübung vorausgesetzt ist. Die einfachste Ausübung, ihre Entgegensetzung und schließlich die Verbindung der ersten beiden Ausübungen der Synthesis der Rekognition bilden dann die repräsentationalen Inhalte der elementaren Kategorien von Substanz und Akzidens, Ursache und Wirkung und Gemeinschaft. Da die Synthesis der Rekognition, als der ursprüngliche Inhalt des Begriffs der Relation, für die Repräsentation der Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften verantwortlich ist, bestehen die elementaren Ausübungen dieses Aktes, d. h. die Inhalte der elementaren Kategorien der Relation, in elementaren Weisen, die Einheit von Gegenständen und ihren Eigenschaften zu denken. In der zweiten Auflage der Kritik, zum Ende der „Analytik der Grundsätze“, fasst Kant „die Kategorien der Relation“ (B 288) so zusammen, dass ihnen zufolge 1) etwas nur als Subjekt, nicht als bloße Bestimmung anderer Dinge existieren, d. i. Substanz sein könne, [...] 2) darum, weil etwas ist, etwas anderes sein müsse, mithin [...] etwas überhaupt Ursache sein könne, [...] 3) [...] wenn mehrere Dinge da sind, daraus, dass eines derselben da ist, etwas auf die übrigen und so wechselseitig folge und auf diese Art eine Gemeinschaft von Substanzen statthaben könne [...].578 (B 288)
Die Unterscheidung zwischen den elementaren Kategorien der Relation wird also allgemein auf dem Unterschied und dem Verhältnis zwischen der Existenz der Einheit eines und vieler Gegenstände und ihrer Eigenschaften beruhen. Vor diesem Hintergrund kann ich die drei elementaren Kategorien der Relation nun Moment für Moment durchgehen. i) Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens): Die einfachste elementare logische Funktion der Relation drückt sich in kategorischen Urteilen der Form ‚S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige kategorische Urteile denken zu können, in denen der Prädikatbegriff unabhängig von einer vorausgesetzten Bedingung, d. h. unabhängig von der Wahrheit einer weiteren Prädikation, mit der Subjektrepräsentation des Urteils verbunden wird, muss die ihnen entsprechende, einfachste Ausübung der Synthesis der Rekognition möglich sein. Diese unbedingte Ausübung besteht nun darin, dass der Akt des Denkens der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften aufgefasst wird, durch dessen Rekognition wir Substanz und Akzidens repräsentieren, d. h.
578 „Mithin legt man bei der Relation die Betrachtung eines Dinges zum Grund, teils als Subjekt und insofern es nicht ein Prädikat eines anderen sein kann, teils als Grund eines anderen Dinges, teils insofern es mit einem anderen Dinge wechselweise bestimmt wird.“ (V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 1003)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
einen Gegenstand der Anschauung als den Träger von Eigenschaften, wie z. B. einen Stein als warm. Die Kategorie der Substanz, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Rekognition gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff von Gegenständen der Anschauung als Trägern von Eigenschaften. So erläutert Kant die Kategorie der Substanz zum Ende der „Analytik der Grundsätze“ als den Begriff von etwas, was nur als Subjekt und nicht als bloßes Prädikat existieren kann [...].579
(B 289)
Und in der Entdeckung bemerkt er, der Begriff der Substanz sei der Begriff eines Etwas, dessen Existenz nur als die eines Subjekts, nicht aber eines bloßen Prädikats von einem anderen gedacht werden muss [...].580 (AA VIII: 225)
Die Kategorie der Substanz, als der allgemeinste Begriff von Gegenständen der Anschauung als den Trägern von Eigenschaften – „als ein Begriff vom Dinge selbst“ (Prol, AA IV: 307)581 –, beruht also auf dem Akt der Rekognition des Denkens der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Substanz gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende kategorische Urteile gedacht werden, in denen der Prädikatbegriff unabhängig von einer vorausgesetzten Bedingung, d. h. unabhängig von der Wahrheit einer weiteren Prädikation, mit der Subjektrepräsentation des Urteils verbunden wird, und in denen das Verhältnis von logischem Subjekt und Prädikat dem von Substanz und Akzidens entspricht, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie eine Verbindung im Gegenstand repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung eines warmen Steins unter den Begriff von Substanz und Akzidens bringe, indem ich den Stein als den Träger der Wärme denke und nicht umgekehrt, dann kann und muss ich den Stein auch durch das entsprechende kategorische Urteil ‚Der Stein ist warm‘ denken, in dem der Begriff des Steins die Rolle des logischen Subjekts spielt und der Begriff der Wärme die des logischen Prädikats.582
579 Der „Begriff der Substanz“ besteht darin, „dass ich mir Etwas vorstelle, welches bloß als Subjekt (ohne wovon ein Prädikat zu sein) stattfinden kann.“ (A 242 f./B 300 f.) 580 Der Begriff der Substanz ist der Begriff eines Dinges, „was bloß als Subjekt und nicht immer wiederum als Prädikat von einem Anderen existieren [kann]“ (ÜE, AA VIII: 225). 581 Die „Kategorie der Substanz“ ist der Begriff, „dadurch ein Ding an sich selbst vorgestellt wird“ (A 344/B 402). „Im Begriff der Substanz liegt nichts, als dass sie keine Eigenschaft eines anderen Dinges, sondern ein Ding selbst ist.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 794) Siehe in Fn. 477. 582 Auf B 128 f. gibt Kant wie gesehen das Beispiel teilbarer Körper.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
313
Die erste und einfachste Ausübung der Synthesis der Rekognition, auf der die Kategorie der Substanz beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion kategorischer Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. ii) Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung): Die elementare logische Funktion der Relation, die der einfachsten entgegengesetzt ist, drückt sich in hypothetischen Urteilen der Form ‚Wenn S ist P, dann T ist Q‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige hypothetische Urteile denken zu können, in denen die Wahrheit einer Prädikation als Grund die hinreichende Bedingung der Wahrheit einer weiteren Prädikation als Folge bildet, muss die ihnen entsprechende, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Rekognition möglich sein. Diese nicht mehr unbedingte, sondern bedingte Ausübung besteht nun darin, dass der Akt des Denkens der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften als die hinreichende Bedingung des Denkens der Einheit eines anderen Gegenstandes und seiner Eigenschaften aufgefasst wird, durch dessen Rekognition wir die Ursache einer Wirkung repräsentieren, d. h. die Existenz eines Gegenstandes der Anschauung und seiner Eigenschaften als die hinreichende Bedingung der Existenz eines anderen Gegenstandes und seiner Eigenschaften, wie z. B. das Licht der Sonne als die Ursache der Wärme eines Steins. Die Kategorie der Ursache, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Rekognition gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff von Gegenständen der Anschauung und ihren Eigenschaften als den hinreichenden Bedingungen der Existenz anderer Gegenstände der Anschauung und ihrer Eigenschaften, demzufolge (in erster Annäherung) diese – die Wirkungen – existieren müssen, wenn jene – die Ursachen – es tun. So erläutert Kant die Kategorie der Ursache in „Phaenomena und Noumena“ als den Begriff von etwas [...], woraus sich auf das Dasein eines anderen schließen lässt [...].583 (A 243/B 301)
583 Eine Wirkung ist „etwas, das nur als Folge von einem anderen existieren kann“ (B 290). „Ursache und Wirkung sind Dinge. Ursache ist das, woraus die Existenz eines anderen folgt.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 809)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Und in der Entdeckung bemerkt er, der Begriff der Ursache sei der Begriff eines Verhältnisses von Etwas zu etwas Anderem im Dasein, nach welchem, wenn ich das erstere setze, das andere auch bestimmt und notwendig gesetzt wird.584 (AA VIII: 225)
Die Kategorie der Ursache, als der allgemeinste Begriff von Gegenständen der Anschauung und ihren Eigenschaften als den hinreichenden Bedingungen der Existenz eines anderen Gegenstandes und seiner Eigenschaften, beruht also auf dem Akt der Rekognition des Denkens der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften als der hinreichenden Bedingung des Denkens der Einheit eines anderen Gegenstandes und seiner Eigenschaften. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie von Ursache und Wirkung gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende hypothetische Urteile gedacht werden, in denen die Wahrheit einer Prädikation die hinreichende Bedingung der Wahrheit einer weiteren Prädikation bildet und das Verhältnis von Antecedens und Consequens dem von Ursache und Wirkung entspricht, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie eine Verbindung in Gegenständen repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauungen des Lichts der Sonne und der Wärme eines Steins unter den Begriff von Ursache und Wirkung bringe, indem ich das Licht der Sonne als die Ursache der Wärme des Steins denke und nicht umgekehrt, dann kann und muss ich die Sonne und den Stein auch durch das entsprechende hypothetische Urteil ‚Wenn das Licht der Sonne den Stein bescheint, dann erwärmt sie den Stein‘ denken, in dem das Urteil, dass das Licht der Sonne den Stein bescheint, die Rolle des logischen Antecedens spielt, und das Urteil, dass dadurch der Stein erwärmt wird, die des logischen Consequens.585 Die zweite, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung der Synthesis der Rekognition, auf der die Kategorie der Ursache beruht, ist auf diese Weise der Seins-
584 Eine Ursache zu sein ist die „Eigenschaft, in Ansehung der Existenz Anderer das Verhältnis des Grundes, nicht umgekehrt das der Folge von eben denselben zu haben“ (ÜE, AA VIII: 225). Kausalität ist die „Beziehung des Daseins eines Dinges auf das Dasein von irgendetwas anderem, was durch jenes notwendig gesetzt werde“ (Prol, AA IV: 310). Vgl. Br, Anm. Brief an Tieftrunk 11. Dezember 1797, AA XIII: 470 („dass, wenn etwas Reales ist etwas anderes nach einer Regel a priori damit als Folge verbunden sein müsse (Kausalität in der Relation) [...]. Das Reale, dessen Dasein der Grund vom Dasein eines von ihm Verschiedenen ist.“) 585 „[W]enn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urteil [...] enthält keine Notwendigkeit, ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme notwendig verknüpft und das synthetische Urteil wird notwendig allgemeingültig, folglich objektiv“ (Prol, AA IV: 301 Anm.). Vgl. Prol, AA IV: 305 Anm., 312.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
315
grund der logischen Funktion hypothetischer Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. iii) Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden): Die elementare logische Funktion der Relation, die auf einer Verbindung der ersten beiden beruht, drückt sich in disjunktiven Urteilen der Form ‚Entweder S ist P oder S ist Q ...‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige disjunktive Urteile denken zu können, in denen mehrere Prädikationen so in Bezug auf denselben Gegenstand verknüpft sind, dass sie einander wechselseitig ausschließen und immer nur eine von ihnen wahr sein kann, muss die ihnen entsprechende, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Rekognition möglich sein. Diese Ausübung der Synthesis der Rekognition besteht nun darin, dass Akte des Denkens von Einheiten verschiedener Gegenstände und ihrer Eigenschaften als wechselseitige Bedingungen voneinander aufgefasst werden, durch deren Rekognition wir eine Gemeinschaft der Wechselwirkung von Substanzen repräsentieren, d. h. die Existenz verschiedener Gegenstände der Anschauung und ihrer Eigenschaften als wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander, wie z. B. einander wechselseitig anziehende und abstoßende Körper oder Teile von Körpern. Die Kategorie der Gemeinschaft, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt von dieser Ausübung der Synthesis der Rekognition gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff der Wechselwirkung von Substanzen. So beschreibt Kant in „Phaenomena und Noumena“ das, was durch die Kategorie der Gemeinschaft repräsentiert wird, als die wechselseitige Kausalität in der Beziehung der Substanzen aufeinander (commercium) [...]. (A 244/B 302)
Auf diese Weise bildet der Begriff der Gemeinschaft eine Verbindung der ersten beiden Kategorien der Relation und ist, wie Kant es in der zweiten Anmerkung zur Tafel der Kategorien sagt, die Gemeinschaft [...] die Kausalität einer Substanz in Bestimmung der anderen wechselseitig [...]. (B 111)
Die Kategorie der Gemeinschaft, als der allgemeinste Begriff der Wechselwirkung von Substanzen, beruht also auf dem Akt der Rekognition von Akten des Denkens von Einheiten verschiedener Gegenstände und ihrer Eigenschaften als wechselseitiger Bedingungen voneinander. Können Anschauungen nun unter die so bestimmte Kategorie der Gemeinschaft gebracht werden, dann müssen ihre Gegenstände auch durch entsprechende disjunktive Urteile gedacht werden, in denen mehrere Prädikationen so in Bezug auf denselben Gegenstand verknüpft werden, dass sie einander wechselseitig ausschließen und immer nur eine von
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
ihnen wahr sein kann, wenn diese Urteile denn objektiv gültig sein sollen, d. h. wenn sie eine Verbindung in Gegenständen repräsentieren sollen. Wenn ich z. B. die Anschauung eines Körpers oder eines Teils eines Körpers mit den Anschauungen anderer Körper oder anderer Teile des Körpers unter den Begriff der Gemeinschaft bringe, indem ich die Körper oder Teile des Körpers als sich wechselseitig anziehend und abstoßend denke, dann kann und muss ich den Körper oder den Teil des Körpers auch durch das entsprechende disjunktive Urteil denken: ‚Entweder der Körper/der Teil des Körpers wird von anderen nur angezogen oder nur abgestoßen oder sowohl angezogen als auch abgestoßen‘.586 Die dritte, die ersten beiden verbindende Ausübung der Synthesis der Rekognition, auf der die Kategorie der Gemeinschaft beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion disjunktiver Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. 4) Modalität: Durch die Beziehung auf sinnliche Anschauungen von Gegenständen wird in einer Erkenntnis durch Begriffe ein Verhältnis von Urteil und Gegenstand hergestellt (siehe 2.3.5). In Hinsicht auf diese grundlegende logische Funktion lassen sich drei elementare Weisen unterscheiden, die wahrheitsfähige Verbindung im Urteil in ihrem Verhältnis zu Gegenständen zu bewerten: die problematische (‚Es ist möglich, dass S ist P‘), die assertorische (‚Es ist wirklich, dass S ist P‘) und die apodiktische Weise (‚Es ist notwendig, dass S ist P‘) (siehe 2.3.6). Das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand, das diesem Verhältnis im Urteil vorausgesetzt ist und das zu denken den ursprünglichen repräsentationalen Inhalt des Begriffs der Modalität bildet, beruht zuletzt auf der grundlegenden Fähigkeit der Rezeptivität sinnlicher Eindrücke (siehe 3.1.2, 3.3.2.b). Um nun die elementaren Weisen anzugeben, dieses Verhältnis von Synthesis und Gegenstand zu denken, sind die elementaren Verhältnisse von Urteil und Gegenstand jeweils auf dasjenige elementare Verhältnis von Synthesis und Gegenstand zu beziehen, das ihnen vorausgesetzt ist. Die einfachste Ausübung, eine Entgegensetzung bzw. Hinzufügung und schließlich die Verbindung der ersten beiden Ausübungen des Denkens dieses Verhältnisses bilden dann die repräsentationalen Inhalte der elementaren Kategorien der Möglichkeit, des Daseins und der Notwendigkeit. Da das Denken des Verhältnisses von Synthesis der Anschauung und Gegenstand den ursprünglichen Inhalt des Begriffs der Modalität bildet, bestehen
586 Auch Kant gibt das Beispiel von „einem Körper, dessen Teile einander wechselseitig ziehen und auch widerstehen“ (B 112). Vgl. OP, AA XXII: 178. – Zur Kategorie der Gemeinschaft und der ihr entsprechenden logischen Funktion disjunktiver Urteile vgl. die Auseinandersetzung von Longuenesse (2001): 180–86 und Wolff (2001): 194–99.
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
317
die Inhalte der elementaren Kategorien der Modalität in elementaren Weisen, das Verhältnis von Synthesis und Gegenstand zu denken. In einer Passage der „Postulate“, deren Anfang ich oben bereits zitiert habe, beschreibt Kant diese Momente wie folgt: die Prädikate der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit [...] fügen zu dem Begriffe eines Dinges [...] die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat: so dass, wenn er bloß im Verstande mit den formalen Bedingungen der Erfahrung in Verknüpfung ist, sein Gegenstand möglich heißt; ist er mit der Wahrnehmung (Empfindung als Materie der Sinne) im Zusammenhange und durch dieselbe vermittels des Verstandes bestimmt, so ist das Objekt wirklich; ist er durch den Zusammenhang der Wahrnehmungen nach Begriffen bestimmt, so heißt der Gegenstand notwendig. (A 233 f./B 286 f.)
Und in einer erhellenden Notiz beschreibt Kant die Kategorien der Modalität so: Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit sind zwar logische, aber keine realen metaphysischen Prädikate, d. i. Bestimmungen. Wir erkennen dadurch nicht die Sachen, sondern das Verhältnis ihrer Begriffe zum Vermögen des Gemüts zu setzen und aufzuheben. 1. Das Verhältnis zum Vermögen (Möglichkeit), zweitens zur Tätigkeit, drittens zur Tätigkeit, deren Gegenteil nicht in unserem Vermögen ist.587 (Refl 5228, 1773–78, AA XVIII: 125 f.)
Die Unterscheidung zwischen den elementaren Kategorien der Modalität wird also allgemein auf dem Unterschied und dem Verhältnis zwischen dem Denken der bloßen Form und der Materie der Erfahrung von Gegenständen, zwischen dem Denken des Vermögens und der Ausübung der Synthesis sinnlicher Anschauung beruhen. Vor diesem Hintergrund kann ich die drei elementaren Kategorien der Modalität nun Moment für Moment durchgehen. i) Möglichkeit: Die einfachste elementare logische Funktion der Modalität drückt sich in problematischen Urteilen der Form ‚Es ist möglich, dass S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige problematische Urteile denken zu können, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als bloß möglich bestimmt ist, muss auch das ihnen entsprechende, einfachste Verhältnis von Synthesis und Gegenstand gedacht werden. Dieses Verhältnis ist nun dasjenige, in dem ein Gegenstand der Anschauung mit den grundlegenden Fähigkeiten der Synthesis einer sinnlichen Anschauung übereinstimmt, d. h., dass er möglich ist im Verhältnis zu den Fähigkeiten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition sowie spezifischen Formen sinnlicher Anschauung (bei uns
587 „Wenn ich sage, ein Ding ist möglich, so denke ich nichts mehr hinzu. Es ist nicht ein Prädikat, das zum Dinge gehört, sondern zu der Position des Dinges, in so ferne es mit den Gesetzen des Denkens übereinstimmt. Wirklichkeit ist positio absoluta, Notwendigkeit, wenn positio absoluta so beschaffen ist, dass ihr Aufheben den Gesetzen des Denkens widerspricht.“ (V-MP/Mron, AA XXIX: 822)
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Menschen: Raum und Zeit). Die Kategorie der Möglichkeit, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt vom Denken dieses Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff eines Gegenstandes der Anschauung, der durch die Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung und anhand spezifischer Formen sinnlicher Anschauung repräsentiert werden kann. So erläutert Kant die „Möglichkeit der Dinge“ (A 220/B 267) in den „Postulaten“ dadurch, dass der Begriff derselben [der Dinge] mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zusammenstimme. Diese, nämlich die objektive Form der Erfahrung überhaupt, enthält aber alle Synthesis, welche zur Erkenntnis der Objekte erfordert wird. (A 220/B 267)
Und das entsprechende Postulat selbst lautet: Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.588 (A 218/B 265)
Die Kategorie der Möglichkeit, als der allgemeinste Begriff eines Gegenstandes der Anschauung, der durch die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung und anhand spezifischer Formen sinnlicher Anschauung repräsentiert werden kann, beruht also auf dem Denken des Verhältnisses des Gegenstandes der Anschauung zu den repräsentationalen Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung. Sie beruht, wie Kant es in der bereits zitierten Notiz sagt, auf dem „Verhältnis zum Vermögen“ (Refl 5228, AA XVIII: 126). Können Gegenstände der Anschauung nun lediglich unter die so bestimmte Kategorie der Möglichkeit gebracht werden und (noch) nicht unter die der Wirklichkeit, dann müssen sie auch durch entsprechende problematische Urteile gedacht werden, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als bloß möglich bestimmt wird. Die erste und einfachste Ausübung des Denkens des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand, auf der die Kategorie der Möglichkeit beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion problematischer Urteile,
588 „Der Verstand gibt a priori der Erfahrung überhaupt nur die Regel, nach den subjektiven und formalen Bedingungen sowohl der Sinnlichkeit als der Apperzeption, welche sie allein möglich machen.“ (A 230/B 283)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
319
während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. ii) Dasein: Die elementare logische Funktion der Modalität, die der einfachsten entgegengesetzt ist bzw. dieser hinzugefügt wird, drückt sich in assertorischen Urteilen der Form ‚Es ist wirklich, dass S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige assertorische Urteile denken zu können, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als nicht bloß möglich, sondern auch wirklich bestimmt ist, muss das ihnen entsprechende, dem einfachsten entgegengesetzte bzw. eher (oder zusätzlich) das ihm hinzugefügte Verhältnis von Synthesis und Gegenstand gedacht werden.589 Dieses Verhältnis ist nun dasjenige, in dem ein Gegenstand der Anschauung, der durch die repräsentationalen Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung und anhand spezifischer Formen sinnlicher Anschauung repräsentiert werden kann, auch mit sinnlichen Eindrücken übereinstimmt, die durch den Einfluss des Gegenstandes gegeben sind, d. h., dass er wirklich ist im Verhältnis zur Ausübung der Synthesis der Anschauung anhand sinnlicher Eindrücke. Die Kategorie des Daseins, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt vom Denken dieses Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff eines möglichen Gegenstandes der Anschauung, der auch durch sinnliche Eindrücke gegeben ist. So erläutert Kant die „Wirklichkeit der Dinge“ (A 225/B 272) in den „Postulaten“ dadurch, dass er sagt, sie fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewusst ist [...]. (A 225/B 272)
Und das entsprechende Postulat selbst lautet: Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. (A 218/B 266)
589 „Es kann [...] zu meinem Verstande etwas über die Zusammenstimmung mit den formalen Bedingungen der Erfahrung, nämlich die Verknüpfung mit irgendeiner Wahrnehmung, hinzukommen; was aber mit dieser nach empirischen Gesetzen verknüpft ist, ist wirklich“ (A 231/B 284). „Durch die Wirklichkeit eines Dinges setze ich freilich mehr, als die Möglichkeit [...]. [D]a die Möglichkeit bloß eine Position des Dinges in Beziehung auf den Verstand (dessen empirischen Gebrauch) war, so ist die Wirklichkeit zugleich eine Verknüpfung desselben mit der Wahrnehmung.“ (A 234 f./B 287 Anm.) „Wirklichkeit ist das, dem ein Objekt in der Erfahrung korrespondiert [...]. Bei der Wirklichkeit kommt das Objekt zu einem Begriff hinzu“ (V-MP/ Mron, AA XXIX: 822).
320
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Die Kategorie des Daseins oder der Wirklichkeit, als der allgemeinste Begriff eines möglichen Gegenstandes der Anschauung, der auch durch sinnliche Eindrücke gegeben ist, beruht also auf dem Denken des Verhältnisses des Gegenstandes der Anschauung zur Ausübung der repräsentationalen Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung anhand sinnlicher Eindrücke. Sie beruht, wie Kant es in der bereits zitierten Notiz sagt, auf dem „Verhältnis [...] zur Tätigkeit“ (Refl 5228, AA XVIII: 126). Können Gegenstände der Anschauung nun unter die so bestimmte Kategorie des Daseins gebracht werden, dann müssen sie auch durch entsprechende assertorische Urteile gedacht werden, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als wirklich bestimmt wird. Die zweite, der einfachsten entgegengesetzte Ausübung des Denkens des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand, auf der die Kategorie des Daseins beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion assertorischer Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet. iii) Notwendigkeit: Die elementare logische Funktion der Modalität, die auf einer Verbindung der ersten beiden beruht, drückt sich in apodiktischen Urteilen der Form ‚Es ist notwendig, dass S ist P‘ aus. Um Gegenstände der Anschauung durch objektiv gültige apodiktische Urteile denken zu können, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als notwendig bestimmt ist, muss das ihnen entsprechende, die ersten beiden verbindende Verhältnis von Synthesis und Gegenstand gedacht werden. Dieses Verhältnis ist nun dasjenige, in dem ein Gegenstand der Anschauung und seine Eigenschaften, als die Wirkungen einer Ursache, unter der Bedingung mit einer Ausübung der Synthesis der Anschauung übereinstimmen, dass ein anderer Gegenstand der Anschauung und seine Eigenschaften mit einer anderen Ausübung der Synthesis der Anschauung anhand sinnlicher Eindrücke übereinstimmen, d. h., dass der Gegenstand und seine Eigenschaften notwendig sind im Verhältnis zu einer Ausübung der Synthesis anhand sinnlicher Eindrücke, nämlich eben als die Wirkungen einer Ursache.590 Die Kategorie der Notwendigkeit, deren ursprünglicher repräsentationaler Inhalt vom Denken dieses Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand gebildet wird, ist der allgemeinste Begriff eines Gegenstandes der Anschauung und seiner Eigenschaften, die als Wirkungen repräsentiert werden müssen, weil sinnliche Eindrücke eines anderen Gegenstandes der Anschauung und seiner Eigenschaften 590 Das, was an Gegenständen der Anschauung notwendig existiert, ist die Wirkung einer Ursache: „Da ist nun kein Dasein, was unter der Bedingung anderer gegebener Erscheinungen als notwendig erkannt werden könnte, als das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nach Gesetzen der Kausalität.“ (A 227/B 279)
3.3 Die repräsentationalen Inhalte der Kategorien
321
gegeben sind, der als Ursache repräsentiert werden kann und auch als solcher repräsentiert wird. So erläutert Kant in der bereits ausführlicher zitierten Passage der „Postulate“: ist er durch den Zusammenhang der Wahrnehmungen nach Begriffen [von Ursache und Wirkung] bestimmt, so heißt der Gegenstand notwendig. (A 234/B 286 f.)
Und das entsprechende Postulat selbst lautet: Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung [nach den Begriffen von Ursache und Wirkung] bestimmt ist, ist (existiert) notwendig. (A 218/B 266)
Auf diese Weise bildet die Notwendigkeit eine Verbindung der ersten beiden Kategorien der Modalität und ist, wie Kant es in der zweiten Anmerkung zur Tafel der Kategorien sagt, die Notwendigkeit nichts anderes als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist.591 (B 111)
Die Kategorie der Notwendigkeit, als der allgemeinste Begriff eines Gegenstandes der Anschauung und seiner Eigenschaften, die als Wirkungen repräsentiert werden müssen, weil sinnliche Eindrücke eines anderen Gegenstandes der Anschauung und seiner Eigenschaften gegeben sind, der als Ursache repräsentiert werden kann und als solcher repräsentiert wird, beruht also auf dem Denken des Verhältnisses des Gegenstandes zu einer Ausübung der Synthesis der Anschauung anhand sinnlicher Eindrücke als seiner Bedingung. Sie beruht, wie Kant es in der bereits zitierten Notiz sagt, auf dem „Verhältnis [...] zur Tätigkeit, deren Gegenteil nicht in unserem Vermögen ist“ (Refl 5228, AA XVIII: 126). Können Gegenstände der Anschauung nun unter die so bestimmte Kategorie der Notwendigkeit gebracht werden, dann müssen sie auch durch entsprechende apodiktische Urteile gedacht werden, in denen das Verhältnis der Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand als notwendig bestimmt wird. Die dritte, die ersten beiden verbindende Ausübung des Denkens des Verhältnisses von Synthesis und Gegenstand, auf der die Kategorie der Notwendigkeit beruht, ist auf diese Weise der Seinsgrund der logischen Funktion apodiktischer
591 Siehe in Fn. 321. Vgl. V-MP/Mron, AA XXIX: 822 („die [Notwendigkeit ist Wirklichkeit], die aus der Möglichkeit folgt“).
322
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Urteile, während diese umgekehrt, wie sich hiermit ebenfalls gezeigt hat, den Erkenntnisgrund von jener bildet.
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung (Heimsoeth, Sellars, Engstrom) Zusammenfassung. Im „Leitfaden“ untersucht Kant den Verstand als das Vermögen einer Erkenntnis durch Begriffe, d. h. als das Vermögen der Beziehung allgemeiner Begriffe auf einzelne Gegenstände. In den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels beginnt er seine Untersuchung mit einer Betrachtung des Verstandes als logisches Vermögen, das durch einen logischen Gebrauch für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist, d. h. für die allgemeine und wahrheitsfähige Form von Begriffen und Urteilen. Nun ist diese logische Form von Begriffen und Urteilen aber jeweils auf repräsentationale Inhalte angewiesen, die diese Formen aufweisen. Die Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes erfordert auf diese Weise einen Übergang zu einem realen Gebrauch dieses Vermögens, indem sich herausstellt, dass der logische Gebrauch in Begriffsbildung und Urteil jeweils auf sinnliche Anschauungen angewiesen ist, d. h. auf unmittelbare, nicht wieder durch andere vermittelte Repräsentationen einzelner Gegenstände der Sinne. Vor diesem Hintergrund geht Kant im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ von einer Betrachtung und Erklärung der logischen Form unserer Repräsentationen zu einer Betrachtung und Erklärung ihrer repräsentationalen Inhalte über, d. h. zu einer Betrachtung und Erklärung ihrer repräsentationalen Beziehung auf Gegenstände. So beginnt Kant nun mit einer Betrachtung des Verstandes als transzendentales Vermögen, das mit der Einheit sinnlicher Anschauungen auch für den ursprünglichen Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich ist, d. h. für ihre ursprüngliche repräsentationale Beziehung auf Gegenstände. Wenn sinnliche Anschauungen nämlich die einzigen Repräsentationen sind, durch die wir uns unmittelbar auf Gegenstände beziehen können, dann wird der reale Gebrauch des Verstandes, der für den Inhalt unserer Repräsentationen verantwortlich sein soll, eben gerade in den Fähigkeiten und Akten zu suchen sein, durch die wir sinnliche Anschauungen haben. Diese Fähigkeiten und Akte, so Kant, d. h. die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung, sollen nun insbesondere auch den repräsentationalen Inhalt der Kategorien erklären können. Wenn die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung nämlich dafür erforderlich sind, dass wir überhaupt Gegenstände repräsentieren können, dann werden es auch, so Kant, genau diese Fähigkeiten und Akte sein, die den repräsentationa-
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
323
len Inhalten unserer allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt zugrunde liegen. Der reale Gebrauch des Verstandes in der Synthesis der Anschauung hat nun sowohl eine passive als auch eine aktive Seite. So argumentiert Kant im Zuge seiner Analyse der Synthesis der Anschauung im zweiten Abschnitt des „Leitfadens“ – und in verwandten Passagen der A- und B-Deduktion – u. a. für die folgenden zwei Thesen: DIE GEGEBENHEITSTHESE: Die sinnliche Anschauung enthält ein Mannigfaltiges sinnlicher Eindrücke in sich, das unabhängig von repräsentationalen Akten durch den Einfluss von Gegenständen gegeben und zuletzt dafür verantwortlich ist, dass eine sinnliche Anschauung die wahrnehmbaren Eigenschaften repräsentiert, die sie repräsentiert. DIE SYNTHESISTHESE: Die Einheit sinnlicher Anschauung, durch die eine Anschauung sich auf ihren Gegenstand bezieht, und damit auch der ursprüngliche Inhalt von Begriffen sowie die Möglichkeit ihrer Bildung und ihrer Verwendung in Urteilen, beruhen auf einem Akt der Synthesis der Anschauung, auf einer Verbindung, die uns nicht sinnlich gegeben, sondern nur von uns selbst hervorgebracht werden kann.
Den Hintergrund der Gegebenheitsthese bildet dabei u. a. die Überlegung, dass die Erkenntnis durch Begriffe, deren Möglichkeit Kant im „Leitfaden“ untersucht, in der Bezugnahme von Begriffen auf von Subjekten, Zuständen und Akten der Repräsentation verschiedene und unabhängige Gegenstände besteht. Dann, so Kant, muss es aber auch etwas in unseren sinnlichen Anschauungen von Gegenständen geben, das mit Gegenständen in diesem Sinne zu tun hat. Sinnliche Eindrücke sind nun genau das in Anschauungen, zu dem wir uns passiv verhalten, das uns also unabhängig der Ausübung repräsentationaler Akte durch den Einfluss von Gegenständen gegeben wird. Insbesondere können die auf diese Weise gegebenen sinnlichen Eindrücke erklären, dass wir durch sinnliche Anschauungen die wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen der Anschauung repräsentieren, die wir repräsentieren. Auf der Grundlage von auf diese Weise gegebenen sinnlichen Eindrücken ist es dann die Aufgabe der Synthesis, durch die Ausübung von repräsentationalen Akten die Einheit sinnlicher Anschauungen hervorzubringen, durch die wir uns überhaupt erst auf einzelne Gegenstände der Sinne beziehen. Den Hintergrund der Synthesisthese bildet dabei u. a. die Überlegung, dass eine Verbindung mannigfaltiger Repräsentationen zu repräsentieren heißt, diese Verbindung selbst vorzunehmen. Die Repräsentation einer Verbindung, so Kant, ist nämlich nichts anderes als der Akt dieser Verbindung selbst, so dass die Repräsentation einer Verbindung von Repräsentationen zu analysieren ist als der Akt der Verbindung
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
dieser Repräsentationen. Da es nun zudem so ist, dass uns diese Verbindung nicht auch durch den Einfluss von Gegenständen auf die Sinne gegeben werden kann, wir die Verbindung des Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke also nicht sinnlich wahrnehmen können, müssen wir sie vielmehr selbst hervorbringen. Kants Entwicklung des Begriffs der Synthesis sinnlicher Anschauung, wie er ihn im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ einführt und zu Beginn der A-Deduktion ausarbeitet, besteht nun darin, grundlegende Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung anzugeben und zu analysieren. Die sinnliche Anschauung eines Gegenstandes hat demnach genau vier für ihre Einheit jeweils notwendige und nur gemeinsam hinreichende Charakteristika, die sie zu der unmittelbaren Repräsentation eines einzelnen Gegenstandes der Sinne macht: i) durch die Synthesis der Apprehension, die im Durchlaufen und Zusammennehmen eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke besteht, repräsentiert eine sinnliche Anschauung wahrnehmbare Eigenschaften des Gegenstandes der Anschauung; ii) durch die Synthesis der Reproduktion, die in der Erzeugung und Reproduktion homogener Teile einer Anschauung als der Teile eines Ganzen besteht, innerhalb dessen die apprehendierten wahrnehmbaren Eigenschaften an Stellen vorkommen und in Verhältnissen stehen können, repräsentiert eine sinnliche Anschauung den Gegenstand der Anschauung als ein Ganzes homogener Teile; iii) durch die Synthesis der Rekognition, die in dem Bewusstsein besteht, dass die verschiedenen Teilakte der Apprehension und der Reproduktion zu ein und demselben Akt des Denkens eines Gegenstandes gehören, repräsentiert eine sinnliche Anschauung ein und denselben Gegenstand dieser verschiedenen Teilakte. Wie bereits mit der Gegebenheitsthese zum Ausdruck gebracht setzt die Ausübung dieser drei Teilakte schließlich voraus: iv) die Rezeptivität und Gegebenheit sinnlicher Eindrücke, die durch den Einfluss von Gegenständen in uns hervorgebracht werden. Auf diese Weise ist allgemein beschrieben, was es heißt, einen Gegenstand zu denken, und damit auch, was es heißt, ein Gegenstand des Denkens zu sein. Ein Gegenstand des Denkens ist demnach der identische Träger verschiedener qualitativer und formaler Eigenschaften. Vor diesem Hintergrund können nun die Kategorien, als die allgemeinsten Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, durch eine transzendentale Reflexion darauf gebildet werden, was eine sinnliche Anschauung als solche ausmacht, d. h. schon als die Repräsentation eines Gegenstandes. Die Kategorien sind dann solche Begriffe, deren Inhalte allein auf der Synthesis
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
325
empirischer Anschauungen selbst beruhen, d. h. auf einer Reflexion auf die grundlegenden repräsentationalen Fähigkeiten und Akte der Synthesis eines Mannigfaltigen sinnlicher Eindrücke, unabhängig davon, um welches Mannigfaltige es sich dabei handelt und in welcher spezifischen Form es gegeben ist (ob nun in Raum und Zeit, wie bei uns, oder nicht). So werden die repräsentationalen Inhalte der Kategorien festgelegt, indem sich die Inhalte der Fähigkeiten und Akte der Synthesis im Zuge dieser Reflexion auf die so gebildeten Kategorien übertragen. Die vier grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung können den vier Titeln der Tafel der Kategorien dann wie folgt zugeordnet werden: Akt der Reproduktion: QUA Akt der Apprehension:
Akt der Rekognition:
Q
RELATION
M
Der reale Gebrauch in der Synthesis der Anschauung ist nun vorrangig in der Ordnung der Ausübung repräsentationaler Fähigkeiten und Akte, er ist der Seinsgrund (ratio essendi) des logischen Gebrauchs. Umgekehrt ist der logische Gebrauch vorrangig in der Ordnung der Entdeckung repräsentationaler Fähigkeiten und Akte, er ist der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) des realen Gebrauchs. So entdecken wir die repräsentationalen Fähigkeiten und Akte, die den realen Gebrauch in der Synthesis der Anschauung charakterisieren, und damit auch die Inhalte der Kategorien als das, was für die Ausübung des logischen Gebrauchs im Urteil vorausgesetzt ist. Wir gelangen demzufolge genau dadurch zu den elementaren Kategorien, dass wir uns jeweils fragen, welche Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung der objektiven Ausübung der elementaren logischen Funktionen des Urteils vorausgesetzt sind, die in der Tafel logischer Funktionen dargestellt sind. Auf diese Weise geben wir dann, indem wir die betreffenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung angeben, die elementaren Kategorien an, deren Inhalte von den Fähigkeiten und Akten der Synthesis gebildet werden. Auf dieser Grundlage kann schließlich auch Kants Tafel der Kategorien mit ihren jeweils drei elementaren Ausübungen der vier grundlegenden Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung wie folgt dargestellt und so der zweite Schritt der Metaphysischen Deduktion abgeschlossen werden:
326
3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Einheit durch Reproduktion eines homogenen Teils der Anschauung Vielheit sentation vieler homogener Teile des Gegenstandes durch Reproduktion vieler homogener Teile der Anschauung Allheit durch Reproduktion eines Ganzen homogener Teile Relation (Rekognition):
(Apprehension):
wahrnehmbarer Eigenschaften
Negation von Abwesenheit durch Apprehension leerer Form der Anschauung
Substanz/Akzidens Rekognition der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften Ursache/Wirkung Rekognition der Einheit eines Gegenstandes und seiner Eigenschaften als Bedingung einer anderen
3. D Limitation von Ei
Gemeinschaft z. T. leerer Form
Eigenschaften als wechselseitigen Bedingungen
2. Die entgegengesetzte/hin Dasein (Wirklichkeit)
Notwendigkeit
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
327
Anmerkungen zur Forschung (Heimsoeth, Sellars, Engstrom). Heinz Heimsoeth hat zu Recht betont, dass es für ein angemessenes Verständnis der Kategorien entscheidend ist, ihre Inhalte zu verstehen, die sie zu den Begriffen machen, die sie sind, und durch die sie voneinander unterschieden werden können.592 Darüber hinaus hat er darauf hingewiesen, und auch damit hat er Recht, dass Kant die Kategorien einer reichhaltigen ontologischen Tradition entnimmt593 und dass sie auch bei ihm immer ontologische Begriffe bleiben, die von den allgemeinsten Charakteristika von Gegenständen handeln.594 Die Kategorien sind, wie Kant es manchmal ausdrücklich sagt, „ontologische Prädikate“ (Prol, AA IV: 358; KU, AA V: 181; RezEb, AA XX: 391). Damit ist aber das Neue, das Kant zum Begriff der Kategorien beiträgt, noch nicht benannt. Hier hebt Heimsoeth nun zum einen hervor, dass Kants Kategorien anhand einer Reflexion auf das Vermögen des Verstandes gefunden werden,595 und zum anderen, dass ihre objektive Gültigkeit auf Gegenstände der Anschauung eingeschränkt ist.596 Auf diese Weise werden Kants Kategorien zu Begriffen der Erkenntnis von Gegenständen allein sinnlicher Anschauung, durch die Gegenstände, die das nicht sind, nie erfolgreich erkannt, sondern lediglich – aber das schon – in Analogie zu solchen Gegenständen gedacht werden können.597
592 Siehe Heimsoeth (1963): 376, 380 f. 593 Siehe Heimsoeth (1956): 4, (1963): 377, 379. 594 Siehe Heimsoeth (1956): V, (1963): 383. 595 Siehe Heimsoeth (1956): 6. 596 Siehe Heimsoeth (1963): 381. 597 „Zu jedem Gebrauche der Vernunft in Ansehung eines Gegenstandes werden reine Verstandesbegriffe (Kategorien) erfordert, ohne die kein Gegenstand gedacht werden kann. Diese können zum theoretischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zu dergleichen Erkenntnis, nur angewandt werden, sofern ihnen zugleich Anschauung (die jederzeit sinnlich ist) untergelegt wird und also bloß, um durch sie ein Objekt möglicher Erfahrung vorzustellen.“ (KpV, AA V: 136) „Auf diese Art kann ich vom Übersinnlichen, z. B. von Gott, zwar eigentlich keine theoretische Erkenntnis, aber doch eine Erkenntnis nach der Analogie, und zwar die der Vernunft zu denken notwendig ist, haben; wobei die Kategorien zum Grunde liegen, weil sie zur Form des Denkens notwendig gehören, dieses mag auf das Sinnliche oder Übersinnliche gerichtet sein, ob sie gleich, und gerade eben darum, weil sie für sich noch keinen Gegenstand bestimmen, keine Erkenntnis ausmachen.“ (FM, AA XX: 280) „Die Nothilfe, beim höchsten und an sich notwendigen Wesen, das durch nichts in der Erfahrung (als Erkenntnis durch Erscheinungen) Gegebenes erkannt werden kann, sich doch einige Naturbegriffe, die ihre Beispiele in concreto haben können, zu machen, beruht [...] auf [...] seiner Unbegreiflichkeit. [...] Wir betrachten seine Verhältniseigenschaften nur nach der Analogie, aber tragen auf ihn das Absolute nicht über. Diese Verhaltnisse werden durch reine Kategorien gedacht; aber man kann nicht sagen: es kommt ihm das Analogon dieser Welteigenschaften zu, denn dieses würde in der Sache Beschaffenheit eine Ähnlichkeit beweisen; wir wollen aber nur sagen, dass wir nach unserer Art, uns die Möglichkeit der Dinge vorzustellen, seine Eigenschaften
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Von entscheidender Bedeutung für ein Verständnis der Inhalte der Kategorien ist nun aber, so ist hier deutlich geworden, dass und wie Kant sie durch eine Reflexion auf den Verstand gerade in seinem realen Gebrauch erklärt, durch eine Reflexion auf die Fähigkeiten und Akte der Synthesis sinnlicher Anschauung nämlich, was dann auch den Hintergrund der Einschränkung ihrer objektiven Gültigkeit auf Gegenstände der Anschauung bildet. Nicht nur ist nämlich die objektive Gültigkeit der Kategorien auf Gegenstände sinnlicher Anschauung eingeschränkt, auch schon ihre repräsentationalen Inhalte, die sie zu den Begriffen machen, die sie sind – ihre „Bedeutungsintention“,598 wie Heimsoeth sie nennt –, d. h. bereits die durch die Kategorien beanspruchte Beziehung auf Gegenstände, ist in den Fähigkeiten und Akten der Synthesis sinnlicher Anschauung begründet und kann auch nur durch sie verständlich werden. So ist z. B. der Begriff der Realität der Begriff apprehendierbarer wahrnehmbarer Eigenschaften, der Begriff der Möglichkeit der Begriff des Verhältnisses von Gegenständen zu den repräsentationalen Fähigkeiten der Synthesis sinnlicher Anschauung usw. (siehe 3.3.3) Nur durch die Synthesis sinnlicher Anschauung haben die Kategorien überhaupt die repräsentationalen Inhalte, die sie haben, sind sie also überhaupt die Begriffe, die sie sind, was dann wiederum auch den Hintergrund dafür bildet, dass ihre objektive Gültigkeit allein in Bezug auf Gegenstände sinnlicher Anschauung in Frage kommt. Wilfrid Sellars, der im Unterschied zu Heimsoeth stärker das Neue an Kants Begriff der Kategorien betont, bemerkt treffend, dass die Kategorien gemeinsam den Begriff eines Gegenstandes überhaupt ausmachen599 – sie sind „Bedingungen, unter denen allein etwas [...] als Gegenstand überhaupt gedacht wird“ (A 93/B 125) oder „Begriffe von Gegenständen überhaupt“ (A 93/B 126)600 – und hebt ebenfalls hervor, dass sie durch eine Reflexion auf kognitive Akte gebildet werden.601 Dann scheint Sellars allerdings daraus, dass Kants Kategorien durch eine Reflexion auf kognitive Akte gebildet werden, zu schließen, dass sie also auch Begriffe kognitiver Akte sind, und zwar in dem Sinne, dass sie von kognitiven Akten handeln und damit eben gerade nicht Gegenstände und ihre Charakteristika repräsentieren.602 So beschreibt Sellars Kants Kategorien als: „the most general classifications of the logical powers that a conceptual system must have in order to
nach denselben Verhältnissen denken müssen, als wir uns die in der Welt vorstellen.“ (Refl 6301, 1785–88, AA XVIII: 567 f.) 598 Heimsoeth (1963): 381. 599 Siehe Sellars (2002b): 276 f., 321. Vgl. Thompson (1983): 342, 344 f. 600 Siehe in Fn. 56. 601 Siehe Sellars (2002b): 346, zitiert in Fn. 93. 602 Siehe Sellars (2002b): 346. So auch Carl (1992): 26–30. Vgl. Conant (2016): 104.
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
329
generate empirical knowledge“;603 „the most generic functional classifications of the elements of judgments. [...] instead of being summa genera of entities which are objects ‘in the world’, [...] categories are summa genera of conceptual items“;604 „summa genera with respect to acts of thought. [...] the category of substance is really the concept of the subject of a judgment.“605 Das ist nun aber nicht nur unvereinbar damit, dass die Kategorien für Kant Begriffe von Gegenständen überhaupt sein sollen, d. h. Begriffe der allgemeinsten Charakteristika von Gegenständen der Anschauung, sowie damit, dass es in Kants Philosophie bereits eine von den Kategorien unterschiedene Klassifikation der Akte des Denkens in Urteilen gibt, die Tafel logischer Funktionen nämlich (siehe 2.3.5, 2.3.6, 2.4), in der u. a. auch der Akt des Denkens der Verbindung von logischem Subjekt und Prädikat in kategorischen Urteilen vorkommt. Dass die Kategorien Begriffe von kognitiver Aktivität sind in dem Sinne, dass sie von kognitiven Akten handeln, folgt zudem nicht aus dem Umstand, dass ihre Begriffsbildung auf kognitive Akte gerichtet ist. So handeln Begriffe nach Kant eben gerade nicht davon, in Bezug worauf sie gebildet werden. Auch empirische Begriffe handeln nicht von empirischen Anschauungen, obwohl sie in Bezug auf diese gebildet werden (siehe 1.2.1, 2.2.3). So muss vielmehr zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand von Begriffen unterschieden werden, um Kants Kategorien angemessen verstehen zu können. Es ist nämlich der repräsentationale Inhalt als das, wodurch Begriffe von ihren Gegenständen handeln, was im Fall gegebener Begriffe dadurch festgelegt wird, worauf die Akte ihrer Bildung gerichtet sind (siehe 3.3.1). So wird der Inhalt eines empirischen Begriffs durch die empirischen Anschauungen bzw. die Synthesen sinnlicher Eindrücke bestimmt, auf die seine Bildung gerichtet ist, indem er sich derivativ zu den Inhalten der (Menge von) Anschauungen verhält, in Bezug auf die er gebildet wird, die sich dann im Zuge der Begriffsbildung auf die so gebildeten Begriffe übertragen. Der Begriff des Baumes z. B. handelt deshalb von Bäumen, weil die Anschauungen es tun, in Bezug auf die er gebildet wird. Dementsprechend handeln auch die Kategorien, die ja ebenfalls gegebene Begriffe sind, gerade dadurch von den allgemeinsten Charakteristika der Gegenstände der Anschauung – und nicht etwa von Akten des Verstandes –, dass sie in Bezug auf grundlegende Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung gebildet werden, durch die wir Gegenstände sinnlicher Anschauung repräsentieren. Auch hier verhält sich der repräsentationale Inhalt von Begriffen derivativ zu den repräsentationalen Akten, auf die ihre Bil-
603 Sellars (2002b): 277. Siehe auch [Sellars 2002b]: 274. 604 Sellars (2002b): 329. 605 Sellars (2002a): 170.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
dung gerichtet ist, und überträgt sich im Zuge der Begriffsbildung auf die so gebildeten Begriffe. Der Begriff der Substanz z. B. handelt genau deshalb von einem Träger von Eigenschaften, weil der Akt der Rekognition es tut, in Bezug auf den er gebildet wird. Auf diese Weise gibt es nun auch tatsächlich einen Sinn, in dem Kants Kategorien Begriffe repräsentationaler Akte sind, allerdings nicht den, demzufolge sie die Repräsentationen solcher Akte sind. Als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106, A 723/B 751), die auf einer Reflexion auf die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung beruhen, sind sie vielmehr insofern die Begriffe repräsentationaler Akte, als sie diese Fähigkeiten und Akte als ihre ursprünglichen repräsentationalen Inhalte in sich enthalten, als das also, was sie zu den Begriffen macht, die sie sind, und damit als das, wodurch sie von den allgemeinsten Charakteristika der Gegenstände einer sinnlichen Anschauung handeln, von denen sie handeln. Gerade und allein als die Begriffe der Synthesis sinnlicher Anschauung sind die Kategorien also diejenigen Begriffe, durch die wir Gegenstände überhaupt repräsentieren. Auch Stephen Engstrom betont, dass Kant die Kategorien in der Metaphysischen Deduktion anhand einer Reflexion auf kognitive Akte identifiziert. Wie Sellars beschreibt jedoch auch Engstrom die Akte, auf die dabei reflektiert wird, lediglich als Akte des Urteils, und setzt die Kategorien dann im Zuge seiner Rekonstruktion sogar mit den entsprechenden logischen Formen des Urteils in einem durch sie möglichen realen Gebrauch gleich, wie er ihn versteht. Er fasst seine Interpretation der Kategorien, wie er sie anhand der Kategorie der Substanz ausführt, dabei wie folgt zusammen: [...] Kant identifies metaphysical concepts through logical reflection on the form of cognitive activity. He thus begins with general logic’s account of categorical judgment as an act of subordinating predicate to subject. This categorical form is then considered in transcendental logic with reference to the possibility of its real use. Transcendental reflection reveals that the categorical form, in its potential for such use, constitutes the category of substance and accident, representing a first real subject and a determination of its existence.606
Die von Engstrom entwickelte und an dieser Stelle zusammengefasste Interpretation der Metaphysischen Deduktion kann dem Text des „Leitfadens“ und so auch der Metaphysischen Deduktion, wie Kant sie versteht, nicht gerecht werden. Das betrifft nun sowohl Engstroms Verständnis des logischen als auch des realen Gebrauchs des Verstandes und damit nicht zuletzt den vor diesem Hintergrund erarbeiteten Begriff der Kategorien. Die Auseinandersetzung mit Eng-
606 Engstrom (2018): 235.
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
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stroms Interpretation gibt mir noch einmal Gelegenheit, einige Besonderheiten meiner eigenen Rekonstruktion der ersten beiden Schritte der Metaphysischen Deduktion zu betonen, in denen mir Kant den logischen und den realen Gebrauch des Verstandes in entscheidenden Hinsichten anders zu verstehen scheint, als Engstrom das tut. Zunächst ist der logische Gebrauch des Verstandes, wie Kant ihn in den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ analysiert, nicht als der Gebrauch des Verstandes in der Allgemeinen Logik zu verstehen, wie Engstrom meint.607 Vielmehr ist er derjenige Gebrauch des Verstandes, der durch die Ausübung der logischen Funktionen der Begriffsbildung und des Urteils für die allgemeine und wahrheitsfähige logische Form von Begriffen und Urteilen verantwortlich ist (siehe 1.1.2), sowie, durch die elementaren Ausübungen der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils, für spezifische Urteilsformen wie z. B. die Form ‚S ist P‘ des kategorischen Urteils, deren Verhältnisse untereinander dann in einer Allgemeinen Logik betrachtet werden können (siehe 2.3.6, 3.1.2). So gehört denn auch bereits die Analyse des logischen Gebrauchs, wie Kant sie in den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ vornimmt, zur Transzendentalen Logik. Das zeigt sich schon daran, dass Kant den gesamten „Leitfaden“ ausdrücklich als einen „transzendentalen“ (A 67/B 92) Leitfaden bezeichnet.608 Dementsprechend bildet auch die Idee des Verstandes als das „Vermögen zu urteilen“ ([16], A 81/B 106) den titelgebenden Leitfaden (siehe 1.2.2),609 der die Untersuchung im „Leitfaden“ leitet, und nicht etwa ein bereits vorausgesetztes „system of basic forms of judgment expounded in [general] logic“,610 wie Engstrom das glaubt.611 Nach einer solchen regulativen Idee zu verfahren, um anhand ihrer die Vollständigkeit sowohl der logischen Funktionen des Urteils als auch der Kategorien nachzuweisen,612 ist nämlich allein in einer Transzendentalen Logik möglich.613
607 Siehe, neben der bereits zitierten Zusammenfassung, Engstrom (2018): 244. Siehe in Fn. 49. 608 Siehe in Fn. 143. 609 Siehe an und in Fn. 127 und 134. 610 Engstrom (2018): 244. 611 Siehe an und in Fn. 135 und in 285. 612 Die „Vollständigkeit einer Wissenschaft [...] ist [...] nur vermittels einer Idee des Ganzen [...] möglich.“ (A 64 f./B 89) 613 „Die Transzendentalphilosophie hat den Vorteil, aber auch die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen“ (A 67/B 92). – Dementsprechend betreibt Kant selbst im „Leitfaden“ lediglich die von ihm so genannte transzendentale Reflexion – siehe an und in Fn. 96 – und nicht, wie Engstrom (2018): 243, 243 Fn. 17, 248 meint, auch eine „logische Reflexion“ (A 262/B 318), die nach Kant „eine bloße Komparation“ (A 262/B 318), d. h. eine „Kompa-
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Auch ist der reale Gebrauch des Verstandes, wie Kant ihn im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ analysiert, nicht als der materiale Gebrauch spezifischer logischer Formen von Urteilen zu verstehen, d. h. als der Gebrauch logischer Formen von Urteilen in synthetischen Urteilen, die sich anhand sinnlicher Anschauungen auf von ihrer Repräsentation unabhängige Gegenstände beziehen, wie Engstrom meint.614 So entwickelt Kant bereits in seiner Analyse des logischen Gebrauchs des Verstandes im ersten Abschnitt des „Leitfadens“ einen Begriff des Urteils, demzufolge Begriffe in Urteilen nur vermittelt über sinnliche Anschauungen auf von ihrer Repräsentation unabhängige Gegenstände bezogen werden können (siehe 2.3.1–3) – was im Übrigen ebenfalls etwas ist, das allein in einer Transzendentalen Logik gezeigt werden kann615 –, seien diese Urteile nun synthetische oder analytische Urteile.616 Das zeigt sich schon daran, dass das Beispiel, anhand dessen er diesen Begriff des Urteils dort illustriert, das analytische Urteil „alle Körper sind teilbar“ ([13]) ist, dessen Prädikatbegriff der Teilbarkeit eben bereits einen Teilbegriff des Subjektbegriffs des Körpers bildet. Kants Begriff des Urteils, demzufolge wir Gegenstände nur dann durch Begriffe erkennen, wenn wir sie auf sinnliche Anschauungen dieser Gegenstände beziehen können – auf die „gegebene Vorstellung“ in [12] bzw. auf die ‚unmittelbare Vorstellung‘ in [15] –, verhält sich auf diese Weise neutral zu dem Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, d. h., er trifft auf beide Arten von Urteilen zu, indem eben in beiden, als einer „Erkenntnis durch Begriffe“ ([5], [18]), Begriffe auf Gegenstände bezogen werden.617
ration der Vorstellungen untereinander“ (A 262/B 319) ist, wie sie eben in der Allgemeinen Logik betrieben wird. 614 Siehe, neben der bereits zitierten Zusammenfassung, Engstrom (2018): 247–50. 615 „Die [Allgemeine] Logik redet nur von Begriffen, nicht Anschauungen“ (Refl 1708, 1773–78, AA XVI: 89). „[Allgemeine] Logik handelt von der Erkenntnis, aber nicht als Anschauung, sondern vom Denken“ (Refl 1713, 1778–89, AA XVI: 90). 616 Zum Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen: „In allen Urteilen, worin das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird, [...] ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckterweise) enthalten ist; oder B liegt ganz außer dem Begriff A, ob es zwar mit demselben in Verküpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, im anderen synthetisch.“ (A 6 f./B 10) 617 Zum Beispiel ‚Alle Körper sind teilbar‘ als analytisches Urteil und zu analytischen Urteilen als Akten der Beziehung von Begriffen auf Gegenstände: „Ein analytisches Urteil ist ein solches, wenn ich dem Objekt ein Prädikat beilege, welches schon im Begriff dieses Objekts enthalten ist, z. E. jeder Körper ist teilbar und nimmt einen Raum ein, dieses war schon in meinem Begriff vom Körper enthalten und ich kann dieses Prädikat durch die Analysis des Subjekts finden, es ist also nur ein Erläuterungs-Begriff.“ (V-MP/Volckmann, AA XXVIII: 392) Vgl. ÜE, AA VIII: 231; V-MP/Arnoldt, AA XXIX: 967.
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
333
Der reale Gebrauch, wie Kant ihn im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ analysiert, ist denn auch vielmehr derjenige Gebrauch des Verstandes, der durch die Ausübung der realen Funktionen der Synthesis sinnlicher Anschauung für die Einheit der Anschauung und damit für die repräsentationalen Inhalte von Begriffen verantwortlich ist (siehe 1.1.2, 1.2.1.b, 3.1.2, 3.1.3). Kant versteht den Übergang vom logischen zum realen Gebrauch des Verstandes, wie er ihn im „Leitfaden“ beschreibt, damit nicht als einen Übergang von analytischen zu synthetischen Urteilen bzw. als einen Übergang von einem bloß formalen zu einem materialen Gebrauch logischer Urteilsformen, wie Engstrom meint, sondern vielmehr als einen Übergang von der Erklärung der logischen Form zur Erklärung des repräsentationalen Inhalts unserer Repräsentationen von Gegenständen, durch den sie sich auf ihre Gegenstände beziehen (siehe 3.1.1).618 So ist es die Erörterung der „Begriffe dem Inhalte nach“ ([34]) und insbesondere des „transzendentalen Inhalt[s]“ (A 79/ B 105) der Kategorien, die Kant zu den in der Tafel der Kategorien aufgezählten Begriffen führt, d. h. die Erklärung des Inhalts unserer Begriffe durch „[d]ie Synthesis eines Mannigfaltigen“ ([35]), mit der Repräsentationen allererst „zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ ([35]) werden, insbesondere die Erklärung des Inhalts der Kategorien durch „[d]ie reine Synthesis, allgemein vorgestellt“ ([38]). In genau diesem Sinne, so habe ich ausgeführt, versteht Kant die Kategorien als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106) (siehe 3.3.1–3). Dass Engstrom diese Überlegungen zur Synthesis der Anschauung, durch die Kant selbst die Inhalte der Kategorien erklärt, in seiner Interpretation der Metaphysischen Deduktion unberücksichtigt lässt, hat mit seiner Auffassung zu tun, eine Kategorie sei „a merely formal, logical representation, universal in application and empty of determinate content.“619 Diese Auffassung ist jedoch nicht nur unvereinbar mit dem dritten Abschnitt des „Leitfadens“, der „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien“ (A 76/B 102) handelt und eben gerade der Erklärung der Inhalte der Kategorien als der spezifischen Begriffe von Gegenständen überhaupt gewidmet ist, sondern würde die einzelnen 618 Siehe an und in Fn. 3. 619 Engstrom (2018): 252. – Engstrom (2018): 253 Fn. 37 schreibt den Kategorien zwar einen a priori gegebenen Inhalt zu und beschreibt diesen Inhalt sogar als einen, der in einem selbstbewussten Akt der Synthesis entspringt, er verortet diese Überlegung allerdings erst im Übergang von den Kategorien zu ihren Schemata. Vgl. Engstrom (2018): 256. Kant selbst jedoch verortet die a priori gegebenen Inhalte der Kategorien, wie er sie im dritten Abschnitt des „Leitfadens“ durch Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung erklärt, eindeutig im Übergang von den logischen Funktionen des Urteils zu den Kategorien und damit eben in der Metaphysischen Deduktion. Die Aufgabe des Schematismus auf A 137 ff./B 176 ff. ist es dann, eine der (bei uns Menschen: zeitlichen) Form unserer Anschauung entsprechende spezifische Interpretation der bereits erklärten Inhalte der Kategorien zu geben. Siehe in Fn. 512.
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3 Der zweite Schritt: Der transzendentale Begriff des Verstandes
Kategorien der Realität, der Einheit, der Substanz usw. sogar ununterscheidbar und jede von ihnen jeweils zum allgemeineren Begriff eines Gegenstandes überhaupt machen (siehe 1.2.1.iii).620 Die Kategorien sind zwar in der Tat die allgemeinsten und einfachsten Begriffe von Gegenständen überhaupt, aber eben auch die allgemeinsten und einfachsten spezifischen Begriffe von Gegenständen überhaupt, die sich, wie alle Begriffe, die als solche die allgemeine Form von Begriffen teilen, allein durch ihre jeweiligen Inhalte voneinander unterscheiden lassen (siehe 1.2.1). Schließlich sind auch die Kategorien Begriffe von Gegenständen – von der Realität, Einheit, Substanz usw. von Gegenständen – und sind sie das eben gerade durch ihre repräsentationalen Inhalte, d. h. durch ihre repräsentationale Beziehung auf die Realität, Einheit, Substanz usw. von Gegenständen. Nur so kann Kant auch eine Tafel verschiedener Kategorien aufstellen. Vor diesem Hintergrund kann nun aber auch die Erklärung von Kants Kategorien, wie Engstrom sie anhand der Kategorie der Substanz ausführt, nicht überzeugen. So beschreibt er die Kategorien, insbesondere die Kategorie der Substanz, u. a. wie folgt: „the categorical form, in its potential for such [real] use, constitutes the category of substance and accident, representing a first real subject and a determination of its existence“;621 „[t]he function that grounds the category of substance lies [...] in judgment’s most basic form, that of categorical judgment, a combination of two concepts“;622„the logical form in its potential for material and real use constitutes a category“623; „the categorical form of judgment in its potential for material use constitutes, under the name of the category of substance, theoretical cognition’s original concept of an object“.624 Engstrom zufolge sind die Kategorien durch die logischen Formen des Urteils in einem durch sie möglichen realen Gebrauch konstituiert, z. B. soll die kategorische Form des Urteils in diesem Sinne die Kategorie der Substanz konstituieren. Die logischen Formen des Urteils, so scheint Engstrom zu behaupten, sind als der Seinsgrund (ratio essendi) der Kategorien anzusehen, als das also, was sie zu den Begriffen macht, die sie sind. Nun reflektieren wir nach Engstrom aber nicht einfach nur auf das Urteil, wenn wir die Kategorien bilden, sondern vielmehr auf die logischen Formen des Urteils in einem durch sie möglichen realen Gebrauch. Da wir damit nun aber gerade auf die „Bedingung“ (Prol, AA IV: 324) reflektieren, „Urteile als objektiv gültig zu bestimmen“ (AA IV: 324), wie Kant es sagt, und diese Bedingung wiederum
620 Siehe in Fn. 121. 621 Engstrom (2018): 235. 622 Engstrom (2018): 244. 623 Engstrom (2018): 247 f. 624 Engstrom (2018): 252.
3.4 Zusammenfassung. Anmerkungen zur Forschung
335
nichts anderes ist als die Synthesis sinnlicher Anschauung selbst – schließlich gehören die Repräsentationen in einem Urteil „vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander“ (B 142) und wird aus ihnen nur so „ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist“ (B 142) –, reflektieren wir auf diese Weise eben auch auf nichts anderes als auf die Akte der Synthesis der Anschauung als auf den Seinsgrund der entsprechenden logischen Funktionen des Urteils (siehe 3.3.3). So versteht Kant die Möglichkeit der Ausübung der Akte der Synthesis offenbar gerade als die Voraussetzung der Möglichkeit einer objektiven Ausübung der entsprechenden Akte des Urteils, wie z. B. die Synthesis der Rekognition – und mit ihr den Inhalt der Kategorie der Substanz – als die Voraussetzung der objektiven Ausübung kategorischer Urteile (siehe 3.2.2, 3.3.3). Das kommt nun aber tatsächlich einer teilweisen Umkehrung der von Engstrom vorgenommenen Rekonstruktion gleich, indem dieser die logischen Formen des Urteils offenbar nicht nur für den Erkenntnis-, sondern auch für den Seinsgrund der Kategorien hält. So sieht Kant die logischen Funktionen des Urteils zwar in der Tat als den Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi), d. h. als den Grund der Entdeckung der Kategorien an. So ist es schließlich zu verstehen, dass die Idee des Verstandes als das „Vermögen zu urteilen“ ([16], A 81/B 106) den Leitfaden zur Entdeckung der Kategorien bildet. Die Kategorien selbst hingegen, wie Kant sie durch die Fähigkeiten und Akte der Synthesis der Anschauung erklärt, scheinen vielmehr umgekehrt als der Seinsgrund der logischen Funktionen des Urteils angesehen werden zu müssen, d. h. als der Grund der Möglichkeit der Ausübung der Akte des Urteils in objektiven und wahrheitsfähigen Urteilen. Demnach sind es also Akte der Synthesis und nicht des Urteils, die die Kategorien als die Begriffe konstituieren, die sie sind. Gerade als „Begriffe der Synthesis“ (A 80/B 106), so hat sich gezeigt, sind sie nämlich die Begriffe der Bedingungen, „Urteile als objektiv gültig zu bestimmen“ (Prol, AA IV: 324) (siehe 3.3.1–3).
4 Der dritte Schritt: Der höhere Begriff des Verstandes, die Identität der Funktion und der apriorische Ursprung der Kategorien Die Aufgabe der Metaphyischen Deduktion besteht in dem Nachweis des apriorischen Ursprungs der Kategorien, darin also, den Ursprung der repräsentationalen Inhalte der allgemeinsten Begriffe von Gegenständen überhaupt – wie z. B. der Begriffe der Einheit, der Realität, der Substanz oder der Ursache – in der Natur des Verstandes selbst nachzuweisen (siehe 1.1.1).625 Dass dies die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion ist, das sagt Kant uns auf B 159, in § 21 der B-Deduktion, wo er rückblickend bemerkt, „[i]n der metaphysischen Deduktion“ habe er den „Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan“. Indem der apriorische Ursprung der Kategorien durch ihre exakte Zuordnung zu den logischen Funktionen des Denkens nachgewiesen werden soll, sind für diesen Nachweis genau drei grundlegende Schritte erforderlich: i) die Angabe der logischen Funktionen des Denkens, ii) die Angabe der nicht-empirischen Inhalte der Kategorien und iii) der Nachweis des Ursprungs a priori der Inhalte der Kategorien durch ihre exakte Zuordnung zu den logischen Funktionen des Denkens (siehe 1.1.2). Dass die Metaphysische Deduktion aus diesen drei Schritten besteht, wird auch durch die rückblickende Beschreibung des Arguments deutlich, die Kant zu Beginn der „Transzendentalen Dialektik“ auf A 299/B 355 gibt, wo er, in einer Analogie der Vernunft mit dem Verstand, zurückblickt auf die Unterscheidung zwischen einem „bloß formalen, d. i. logischen, Gebrauch“, der für die logische Form unserer Repräsentationen verantwortlich ist, und einem „realen“ Gebrauch, der „den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält“, der also für die repräsentationalen Inhalte unserer Repräsentationen verantwortlich ist.626 Dann, so fährt Kant dort fort, „muss ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden“ (A 299/B 356).627 Während der logische Gebrauch des Verstandes dabei den logischen Funktionen des Denkens (in Schritt i)) entspricht
625 Siehe in Fn. 2. Siehe an und in Fn. 9. 626 Siehe an und in Fn. 38. Siehe an Fn. 47. 627 Siehe in Fn. 40. https://doi.org/10.1515/9783110557374-004
4 Der dritte Schritt: Der höhere Begriff des Verstandes
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und der reale Gebrauch den Inhalten der Kategorien (in Schritt ii)), ist der höhere Begriff des Verstandes nun in Verbindung zu bringen mit dem Nachweis des Ursprungs a priori der Inhalte der Kategorien durch ihre exakte Zuordnung zu den logischen Funktionen des Denkens (in Schritt iii)). Vor dem Hintergrund von B 159 und A 299/B 355 f. ergibt sich so das folgende Bild sowohl der Metaphysischen Deduktion als auch der vorliegenden Untersuchung (siehe 1.1.2, 1.3): Metaphysische Deduktion
Erster Schritt
Zweiter Schritt
Dritter Schritt
Begriff des Verstandes
Logischer Begriff des Verstandes
Transzendentaler Begriff des Verstandes
Höherer Begriff des Verstandes
Gebrauch des Verstandes
Logischer Gebrauch: Ausübung logischer Funktionen des Urteils
Realer Gebrauch: Ausübung realer Funktionen der Synthesis der Anschauung
–
Explanandum
Logische Form oder Einheit des Urteils
Einheit der Anschauung/Inhalt der Kategorien
Ursprung a priori der Kategorien
Explanans
Logische Funktionen des Urteils
Reale Funktionen der Synthesis der Anschauung
Exakte Zuordnung realer und logischer Funktionen
Im ersten Schritt der Metaphysischen Deduktion, den er in den ersten beiden Abschnitten des „Leitfadens“ ausführt – überschrieben mit „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt“ (A 67/B 92) und „Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95) –, entwickelt Kant den logischen Begriff des Verstandes, den Begriff des Verstandes in seinem logischen Gebrauch. Mit diesem Gebrauch bringen wir vermittels der Ausübung logischer Funktionen des Urteils die logische Form oder Einheit des Urteils hervor, durch die wir allgemeine Begriffe wahrheitsfähig und objektiv auf einzelne Gegenstände beziehen. Die Aufgabe und das Ergebnis des ersten Schrittes bestehen dabei im Wesentlichen in der Angabe der grundlegenden logischen Funktionen des Urteils, die jeweils notwendig und gemeinsam hinreichend sind für die logische Form des Urteils. Diesen ersten Schritt habe ich im zweiten Kapitel rekonstruiert (siehe v. a. 2.3: 2.3.1–6).
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4 Der dritte Schritt: Der höhere Begriff des Verstandes
Im zweiten Schritt der Metaphysischen Deduktion, den er im größeren Teil des dritten Abschnitts des „Leitfadens“ ausführt – überschrieben mit „Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien“ (A 76/B 102) –, entwickelt Kant dann den transzendentalen Begriff des Verstandes, d.