Ursprung und Gegenwart. Teil 1 - Die Fundamente der aperspektivischen Welt [3 ed.]

“Ursprung und Gegenwart”, das Hauptwerk Jean Gebsers, gehört zu den ebenso eigenwilligen wie bedeutenden Versuchen, das

181 26 13MB

German Pages 291 [331] Year 1966

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ursprung und Gegenwart. Teil 1 - Die Fundamente der aperspektivischen Welt [3 ed.]

  • Commentary
  • enhanced layout plus TOC

Table of contents :
Titelseite
Zwischentitel
Copyright
Inhalt
Verzeichnis und Quellennachweis der Abbildungen
Geleitwort von Joachim Illies
Vorwort
Vorwort zur zweiten Auflage
Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband
Erstes Kapitel: Grundlegende Betrachtungen
Zweites Kapitel: Die drei europäischen Welten
1. Die unperspektivische Welt
2. Die perspektivische Welt
3. Die aperspektivische Welt
Drittes Kapitel: Die vier Bewußtseinsmutationen
1. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation
2. Der Ursprung oder die archaische Struktur
3. Die magische Struktur
4. Die mythische Struktur
5. Die mentale Struktur
6. Die integrale Struktur
Viertes Kapitel: Zusammenfassende Zwischenbetrachtung: Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen
1. Querschnitte durch die Strukturen
2. Exkurs über die Einheit der Urwörter
3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse
4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte)
5. Abschließende Zusammenfassung: Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen
Fünftes Kapitel: Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen
1. Die Raum- Zeitlosigkeit der magischen Struktur
2. Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur
3. Die Raumbetontheit der mentalen Struktur
Sechstes Kapitel: Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist
1. Methodologische Überlegungen
2. Das Numinose, das Mana und die Seelen
3. Der Todespol der Seele
4. Der Lebenspol der Seele
5. Das Symbol der Seele
6. Zur Symbolik des Geistes
Siebentes Kapitel: Die bisherigen Realisations- und Denkformen
1. Dimensionierung und Realisation
2. Das Erleben und Erfahren
3. Das okeanische Denken
4. Das perspektivische Denken
4. Das paradoxale Denken
Achtes Kapitel: Die Fundamente der aperspektivischen Welt
1. Ursprung und Gegenwart (Ergänzende Querschnitte)
2. Zusammenfassung und Ausblick

Citation preview

JEAN GEBSER

URSPRUNG UND GEGENWART ERSTER BAND

DIE FUNDAMENTE

`

. DER APERSPEKTIVISCHE N

er

JEAN

GEBSER

URSPRUNG

UND

GEGENWART Erster Teil

Die Fundamente der aperspektivischen Welt (Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung) Zweiter Teil Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (Versuch einer Konkretion des Geistigen)

Mit 69 Abbildungen im Text und auf 24 Tafeln sowie einer synoptischen Tafel Dritte Auflage

MCMLXVI DEUTSCHE

VERLAGS-ANSTALT STUTTGART

Geschrieben: Winter 1947/48 und 1951/52; ergänzt 1964/65

18. Tausend Copyright

1949

und

1953

Monotype-Bembo-Antiqua.

by Deutsche Verlags-Anstalt Schutzumschlagentwurf:

GmbH.,

Stuttgart.

Edgar Dambacher.

Gesetzt aus der

G

Deutsche Verlags-Anstalt GmbH., Stuttgart. Printed in Germany. Titelnummer 1325

g:

INHALT

Verzeichnis und Quellennachweis der Abbildungen ....................... Vorwort

XV

1 にに に に に にに にに

XIX

Vorwort zur zweiten Auflage ......................................... Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband ERSTER

ΧΧΙ

:..-..................... XXIII

TEIL

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

(Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung)

Erstes Kapitel: Grundlegende Betrachtungen ........................,.....

I

Ursprung und Gegenwart 3 — Bewußtseinsmutationen 4 — Aperspektivität und das Ganze 5 - Individualismus und Kollektivismus 6 - Móglichkeit einer neuen Bewußtheit 8 — Das aztekisch-spanische Beispiel 9 — Die Durchsichtigkeit der Welt 10 — Methodik und Diaphanik 11

Zweites Kapitel: Die drei europäischen Welten ............................ 1. Die unperspektivische ΟΞ

13

ε΄

13

Ägypten und Griechenland 14 2. Die perspektivische Welt ..............."νννννννννννννννννννννννννννννο Die Gestaltung der Perspcktive seit Giotto 16 — Die Entdeckung der Landschaft

16

Perspektive und Raum 13 - Raumlosigkeit gleich Ichlosigkeit; Höhle und Dolmen;

durch Petrarca 17 — Der Brief Petrarcas über seine Besteigung des Mont-Ventoux

18 — Die Geschichte der Perspektive als Ausdruck ftir die BewuBtwerdung des

Raumes 22 — Die Acht und die Nacht 24 - Psychische Kettenreaktionen 25 — Posi-

tive und negative Folgen der Perspektivierung 26 — Die denkerische Verwirklichung der Perspektive durch Leonardo da Vinci 28 — Der Raum, das Thema der Renaissance 30 — Das Zeitalter seit 1500 n. Chr., das der Teilungen; Isolation

und Vermassung 31 — Zeitangst und Zeitflucht als Folge des Raumgewinnes 32 3. Die aperspektivische ΟΞ ΨᾳΨΨᾳῃ(ᾳ0.Ε

Aperspektivität und das Ganze 34 — Augenblick und Gegenwart; die Konkretion der Zeit bei Picasso und Braque 215 Temporik 36 - Die Zeitinflation im Surrealismus 37 — Der Ganzheits-Charakter des temporischen Portraits 38

Drittes Kapitel: Die vier BewuDtseinsmutationen .......................... 1. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation ...............................

Das „Neue“ ist immer „über“ der Wirklichkeit des Bisherigen 41 -- Der Entwick-

33

41 41

VI

Inhalt

lungs-Gedanke seit Duns Scotus und seit Vico 42 — Mutation statt Fortschritt; Plusund Minus-Mutationen 43 - Das Mutations- Thema in der heutigen Literatur 45 -

Mutation und Entwicklung 47 — Die psychische Inflation als Gefahr der Gegen-

wärtigung SI

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur に に に に に に に Ursprung und Anfang 51 - Identität und Androgyne; Synkretismen und Enzyklopädien; Weisheit und Wissen 52 - Der traumlose Mensch 53 - Die archaische Identität von Mensch und All 54

SI

3. Die magische Struktur ...............,...........,,.. κεν νον Die Eindimensionalität des magischen Weltgefühls 55 — Das magische „pars pro

$5

toto" s6 — Die Höhle, der magische „Raum“; die fünf Charakteristika des magischen Menschen 58 — Die magische Verflochtenheit 60 — Die Aura 67 -

Die Mundlosigkeit 68 - Magie, Tun ohne Bewußtsein 69 - Das Ohr, das magische Organ 70

4. Die mythische Struktur ......ν.ννονννννννν όν νον nero n onen hn

Die Lösung aus der vegetativen Natur und die Bewußtwerdung der Seele 71 -

71

Mythos als Schweigen und Sprache 75 - Mythologeme der BewuBtwerdung 80 - Die Rolle des Zornes in Bhagavadgita und Ilias; das „Bin Odysseus“ 83 — Die großen Nekyia-Berichte 84 — Das Leben ein Traum (Dschuang-Dsi, Sophokles, Calderón, Shakespeare, Novalis, Virginia Woolf) 85 — Das Mythologem von Athenes Geburt 86 5. Die mentale Struktur OS Ratio und Menis 87 -- Die Zerreißung des mythischen Kreises durch das gerich-



tete Denken 88 — Die etymologischen Wurzeln der mentalen Struktur 90 Das archaische Lächeln; die Richtung der Schrift als Ausdruck der Bewußtwerdung 93 - Das Recht, rechts und die Richtung; von dem „Gesetz der Erde“

94 — Die Gleichzeitigkeit der Bewußtwerdung in China, Indien und Griechen-

land os — Die Dionysien und das Drama;

Person und Maske; Einzelner und

Chor 96 — Die „orphischen Täfelchen“ 98 — Die mythische Inhaltsfülle der

Wörter und erste ontologische Aussagen 99 — Mythologem und Philosophem 101 — Das Riannodamento; die folgenschwere Identifizierung von rechts und richtig; Polarität und Dualität 192 — Trias und Trinität; Ahnenkult und Kind-

kult 103 — Herkunft des Symbols 104 - Symbol, Allegorie und Formel 106 -Quantifizierung,

Sektorierung und Atomisierung

107 — Die Integrierung der

Seele 108 — Buddhismus und Christentum; die Nordwest-Verlagerung der Kulturzentren 109 — Die Projektionslehre bei Plutarch; relegio und religio

IIO — Augustin 111 — Das vollzogene Riannodamento 112 -- Die MaBlosigkeit der

Ratio 113 — Voraussetzungen für den Weiterbestand der Erde; die drei SeinsAxiome 117

`

6. Die integrale Struktur .......,......................, nennen sen une Traditionalisten und Evolutionisten 120 — Die Konkretion der Zeit 121 - Temporische Ansátze seit Pontormo und Desargues 122

Viertes Kapitel: Zusammenfassende Zwischenbetrachtung: Die Mutationen als

II9

ganzheitliches Phänomen ........................................... 126 1. Querschnitte durch die Strukturen 0.0... ccc cece cece cece nce e en eeceeeeeeeees 126 Die Interdependenz von Dimensionierung und Bewußtsein 127 -- Das Diaphainon;

Inhalt

Signatur und Wesen der Strukturen 128 die Gesetzmäßigkeit der Mutationen 131

VII

— Die

Ursprungsgegenwirtigkeit;

2. Exkurs über die Einheit der Urwörter .. 0... ccc cc ccc ccc ccc soso. 134 Ganzheitliche Sprachbetrachtung 134 — Die Doppelwertigkeit der Wurzeln 138 -Höhle und Helle wurzelgemein 139 - Die Spiegelwurzeln; Tat und Tod wurzelgemein 140 - Das Wort „All“ 142 3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse 1 に に に に に に に に に に に ・・・・・・ ト トー トト トト トー・・・ こ ここ ・・ 143 Die vier Gesetzmäßigkeiten der Mutationen 143 — Transzendieren ist bloße Raum-Erweiterung 145 — Die Technik eine materiell-physische Projektion 146 Die Angst und Ausweglosigkeit unserer Zeit 148 - Das Sich 149 — Geheimnis und Schicksal; vom „Weg“ der Menschheit 151 — Das Ichbewußtsein 152 - Die Realisierung des Todes 155 — Blick auf eine neue „Landschaft“ 156 — Möglichkeiten einer neuen Haltung 157 4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte)

..............»-..............

Methode und Diaphanik 160 - Die magische „Empfängnis durch das Ohr“ 162 -Die mythische Sprache des Herzens 163 — Irrationalität, Rationalität, Arationali-

159

tät 164 — Götzen, Götter, Gott; Ritual, Mysterien, Methode 166 — Der Untergang des Matriarchats 168 — Das Patriarchat 169

5. Abschließende Zusammenfassung: Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen .... 171 Überlegung und Klärung 171 — Die defiziente Auswirkung der Strukturen in unserer Zeit 172

Fünftes Kapitel: Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen ........... 1. Die Raum-Zeitlosigkeit der magischen Struktur ............................ Die magische Rolle des Gebetes und die Wunderheilungen von Lourdes 178 2. Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur ................................

Das Polprinzip 181 — Die Bewegungen des Zeithaften 182 — Das Kreisen der mythischen Bilderwelt 183 - Das Kronos-Mythologem 184 - Kronos als Bild der Nachtwelt 185 — Die Entstehung der Zeithaftigkeit aus der Zeitlosigkeit 186 -

177 177 181

Der Wert der Wurzellaute K, L und R 188 - Von den Spiegelwurzeln 189

3. Die Raumbetontheit der // 1/1, । , 190 Die Wurzel der Wörter, die „Zeit“ bedeuten; die Zeit als das Teilende 191 -

Das Kronos-Opfer der Dais: die Entstehung der Zeit aus der Zeithaftigkeit 192 -

Die Pervertierung der Zeit (das Teilende wird geteilt statt zu teilen) und die De-

klassierung der Zeit in der abendländischen Philosophie 197 — Das Denken ein räumlicher Vorgang und die Raumbetontheit des Mentalen 200 — Die beginnende Veränderung des Raumes 201

Sechstes Kapitel: Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist ............ 202 1. Methodologische Überlegungen .......cccccccccucccccvcccccusacevvuceceds

Seele und Zeit, Denken und Raum 202 -- Die apsychische und amaterielle Welt-

202

möglichkeit 203 ~ Uber die ,,Darstellbarkeit der unmeßbaren Psyche 204 2. Das Numinose, das Mana und die Seelen

.................................

Bisherige Geschichts-Theorien 206 — Die Geschichte und das Numinose 208 — Das Mana 209 — Die Entstehung des Seelenbegriffes 210 — Die Seelen und die Seele; die Geister und der Geist 215 — Leben und Tod als ganzheitliche Gegenwart 217 - Das Numinose als magisches Erlebnis 220 — Die Verlagerung der numinosen

20$

VIII

Inhalt

Anlässe 221 — Die menschliche Resonanzfähigkeit 222 - Das Bewußtsein 223 一 Die Fehlschlüsse infolge der Postulierung des „Unbewußten“ 224 — Bewußtseins-

Intensivierung statt Bewußtseins-Erweiterung und Ichzentrierung 226

225 - Psychische Mächtigkeiten

3. Der Todespol der Seele .............................ννενννννννννννννννν 226 Die Symbolik der Todesseele 227 -- Der ägyptische Seelenvogel und die Engel 228 - Sirenen und Musen; Todesseele und Todestrieb 229 — Mythisierung der Psychologie und der Physik 230 — Das ägyptische Segel als Seelensymbol; der Mondcharakter der Seele in der vedischen, ägyptischen und griechischen Überliefe-

rung 231 — Die Doppeldeutigkeit jedes einzelnen Scelenpols 235 4. Der Lebenspol der Seele に 上 に に に に に に に 236 Die Symbolik der Lebensseele 237 - Die Wasser-Symbolik für den Lcbcnspol der Seele

238 — Das Wasser ein Menschheits-Trauma 241

5. Das Symbol der Seele ...............................ν.ννννενενονενννν,

Das chinesische T’ai-Ki 244 — Der prätellurische Ursprung der Ursymbole; ermessendes und lebendiges Wissen 244 — Leben und Tod sind keine Gegensätze 247

— Der geflügelte Delphin

als griechisches Seelensymbol

fahrten 249 -- Das lebendige Wissen der Seele 250

241

248 - Die Hades-

6. Zur Symbolik des Geistes に に に に に に に に に に 252 Seelen und Geister 253 — Die frühen Geist-Begriffe; Symbolik des Geistes 254 —

Geist und Intellekt 255 — Die Geister, der Geist und das Geistige 257

Siebentes Kapitel: Die bisherigen Realisations- und Denkformen ............. 262 1. Dimensionierung und Realisation .............,...................,,,..., 262 Die Abhängigkeit der Realisation von der Dimensionierung der jeweiligen Struktur 263 — Die konstitutionsmäßige Verschiedenheit der einzelnen Realisationsformen 264

2. Das Erleben und Erfahren ..........

νν cece

cnet

cee eere

Das Erleben als magische Realisationsform 265 — Das Erfahren als mythische Realisationsform 266 3. Das okeanische Denken 1 に に に に に に に に に に に に に に に に に に し にし て て に て て て て に て し て て し て て てこ し て ここ ここ ・・・ Das Kreisdenken: der Okeanos und die Welt als Insel 267 - Das okeanische Denken 268

265

267

4. Das perspektivische Denken 0.0... ccc cece νιν νιν εν εν ence cence eee κε nennen 271 Die Geburt des mentalen Denkens 271 - Der Perspektivitatsbegriff 272 — Sehdreieck und Begriffspyramide 273 - Die Raumgebundenheit des Denkens 276 5. Das paradoxale の ee に にに 277 Das Paradoxon 277 — Das Bild von den Parallelen 278 - Die Links-RechtsVcr-

tauschung 279 — Das Erwachen der Linken 280 - Die Frauen-Rechte 281 - Linke Werte in der heutigen Malerei; das Diaphane und die Weltwahrung 282

Achtes Kapitel: Die Fundamente der aperspektivischen Welt ................ 283 1. Ursprung und Gegenwart (Ergänzende Querschnitte)

Die Unvorstellbarkeit einer aperspektivischen Welt

........................ 283

— Wahrnehmen

und

Wahrgeben als aperspektivische Realisationsformen 284 — Formen der Bindung und die Proligio; die Praeligio; Ursprung als Gegenwart 288

283

2. Zusammenfassung und Ausblick

OO

Die Möglichkeiten einer neuen Mutation 289 — Die Überwindungen der psychi-

288

schen und materiellen Zertrümmerung; das menschheitliche Sich-Bewußtsein 290 — Die Befreiung aus der „Zeit“: Ursprung und Gegenwart 291

ZWEITER

TEIL

Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (Beitrag zu einer Konkretion des Geistigen)

Zwischenwort

.....................444 44e εν herren

295

Erstes Kapitel: Der Einbruch der Zeit ....................................

298

1. Die Bewußtwerdung der Zeitfreiheit ..................,..................

298

Die verschiedenen Zeitformen 299 — Die Komplexität der „Zeit“ 300 — Die Zeit

eine akategoriale „Größe“; System und Systase 301 — Die Umwertung des Zeitbegriffs zu Beginn unseres Jahrhunderts 302 -- Die Zeitangst als Symptom unserer

Epoche 304 — Die Zeitfreiheit 306

2. Die Bewußtwerdung des Ganzen ........................,...,,,,,...... 306 Die nur räumliche Wirklichkeit 306 — Die entscheidende Rolle Europas 307 --

Drei Beispiele 308 — Voraussetzungen für die Bewußtwerdung des Ganzen 310

Zweites Kapitel: Die neue Mutation

..................................... 31I

1. Das Klima der neuen Mutation ....... cc cc ccc cece cnc hh 311 Mutationszeiten sind Zeiten der Störung 312 - Die Zukunft in uns und in der Welt 313 — Der anthropozentrische Irrglaube 318 - Präsenz und Wirkung 319 2. Das Thema der neuen Mutation ................................,........

Wie kam es zur Erfindung der Maschine? 320 — Die Konsolidierung des Raumbe-

320

wußtseins ermöglicht die neue Mutation 322 — Die Zeit als Intensität 324 Züchter- und Werkzeugkulturen 325 — Verlust an Natur und Kultur 326 - Die »Zeit", das Thema der neuen Mutation 327

3. Die neue Aussageform 6... cc ccc cece cece ncn εν κεν νννν νον ehh 327 Hufelands „neue Kraft des Geistes“ 328 — Die Manifestationsformen der Zeit 329 -

Zeitliches ist räumlich nicht fixierbar 330 — Philosophem und Eteologem; Systase und Synairese 331

Drittes Kapitel: Vom Wesen des Schópferischen ...........................

335

1. Das Schöpferische als Urphänomen .......................,,..,.......... 335 Die unzulängliche psychologische Erklärung 335 -- Die Aussagen des „Buches der Wandlungen“ 336 - „Die Urtiefen des Weltgeschehens“ 338

2. Wesen und Wandel des Dichterischen ......................- eere Die Bedeutung der „Muse“ 340 - Die Muse, die Muße und das Müssen 341 — Die

Muse als Quellgottheit, Lebensmacht und schópferische Kraft 342 — Die Sirene, das

Gegenbild der Muse, bei Rilke 344 — Die Individualisierung der Dichtung durch die Lyrik 345 — Hölderlins entscheidender Schritt 348 - Die „Überwindung der Zeit“ durch Hofmannsthal und die ,,Záhmung der Musen“ durch Baudelaire 349 — Die

338

X

Inhalt „neue Pflicht" Mallarmés 350 - Die „höchstgesteigerte Bewußtheit“ Valérys 351 -

Die Überwindung der Musen und die Ichfreiheit bei T. S. Eliot 352 — Huxleys „Zeit muß enden“ 354 — Eluard und Hagen 355 - Der heutige veränderte schópferische Bezug als Ausweis der neuen BewuBtseinsstruktur 356

Viertes Kapitel: Die neuen Konzepte ............,........................

357 1. Die Ansätze des neuen Bewußtseins に に に に に に に に に に に に に に に に に に ーー に に に に に ここ に ここ こ に に ーー・ 357 Der geistige Ansatz 357 — Der physische Ansatz 358 - Der Mensch ist nicht prädikatlos; das neue Marien-Dogma 361

2. Die vierte Dimension .,........................................ 362 Die vierte Dimension ist die Zeitfreihcit 362 - Die „dimensionalen Kategorien“ N. Hartmanns; die nichteuklidische Geometrie von Gauß 363 — Zur Geschichte der vierten Dimension; Einstein 364 — Das Übersinnliche als vierte Dimension 365 — Die vierfache Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie; Gau und Petrarca 366 — Lamberts „imaginäre Kugel" 368 - Die magische Adaption der vierten Dimension 372 - Die mythische Adaption 374 - Die mentale Adaption 377 - Die „Königin der Wissenschaften" 381 - Vom Wesen der Zeitfreiheit 383

3. Die Temporik

co... ccc ccc cece cece rece nce

ses ss

Temporik ist Bemühung um die Zeit 384 — Die Nicht-Begreifbarkeit der Zeit 387 - Die heutige Zeitangst 388 - Die Übermächtigkeit der zurückgestauten Zeit 389 — Stichwörter der Aperspektive 391

Fünftes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (1): Die Naturwissenschaften .............................,............... 1. Mathematik und ΟΜ nennen une Descartes und Desargues, Galilei und Newton; Speisers Gruppentheorie Hilberts Axiomensystem 395 — Das Ende des mechanischen Weltbildes klassischen Physik 397 — Das Zeitthema in der Physik; das Wirkungsquantum

des Zeitbegriffs"; die Überwindung des Dualismus durch die neue

Physik 403 — Die (arationale) Unanschaulichkeit des heutigen physikalischen Weltbildes 404

2.

ΞΕ

ne

Die Zeit als Qualität 411 — Vitalismus und Totalitarismus 412 — Portmanns An-

erkennung der raumzeitlichen Struktur aller biologischen Lebensformen 413 -Die Überwindung des Dualismus durch die Biologie 416 -- Betonung der Zusammenhänge statt der Teilungen; die arationale Sicht des Lebens 417

Sechstes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (II): Die Geisteswissenschaften ................................,............ 1. Psychologie .....,....,.......,...... soso Die Totsagung Gottes; Fausts Wanderung „ins Leere“ und die Entdeckung der Schichten der Erde und der Seele 422 - Die Bemühungen

393

νον 393 und der 398

— Das Heisenbergsche Gesetz; das Alter des Universums 401 — Heisenbergs „Paradoxien

384

das Nicht-Räumliche,

das Seelische, zu erfassen 423 — Die Zeit im Traumgeschehen (Freud) und als „psychische Energetik“ (Jung) 426 — Die Überwindung des Dualismus durch Jungs Individuations- und Quaternitäts-Lehren 427 — Die psychologisierte Vierdimensionalität und ihre Gefahren 428 -- Die Sichtbarwerdung der arationalen Zeitfreiheit; die „Archetypen“ Jungs 431

2. Philosophie

............................. ΞΞ Ξ

Heideggers eschatologische Stimmung 434 — Der Einbezug der „Zeit“ als Eigenclement ins philosophische Denken; Pascal und Guardini 437 - Arbeit und

434

Besitz: Zeit und Raum; Bergsons „Zeit und Freiheit^ 438 — Husserls „Zeitkonstitution“ 439 — Das Eingeständnis der rationalen Unzulänglichkeit; die „dreiwertige Logik“ Reichenbachs 440 - Die „offene Philosophie“ 441 - Überwindung von Immanenz und Transzendenz durch Simmel und Szilasi 442 — Die Hinwendung zum Ganzen und zur Diaphanität 443 — Die „Kugel des Seins" 446 -

Die Selbstüberwindung der Philosophie 447

Siebentes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (III): Die Sozialwissenschaften

....................................,,,.,,..

448

1. ΜΆ νννν 448 Sitte und Gesetz 448 — Montesquieus menschheitliche Maxime 449 - Die Berücksichtigung des Zeitfaktors im neuen Rechtsgebrauch 450 — Die Meisterung der prä- und irrationalen Komponenten des Rechts (Hans Marti) 451 -- Das neue Recht auf Arbeit geht zu Lasten des Besitzes 452 - Die Überwindung des Dualismus im Recht (W. F. Bürgi und Adolf Arndt) 454 - Die Tendenz zur Arationalität im „offenen Recht“ 455 2. Soziologie und Οβοποπιίο..............................................

Höllenfahrt der Menschheit? 457 -- Die Berücksichtigung des Zeitfaktors; der Marxismus auf blindem Geleise 461 — Die neue qualitative Wertung der Arbeit

457

(L. Preller und A. Lisowsky) 462 — Zeit und Struktur in der Soziologie (W.

Tritsch) 464 - Die Überwindung des Dualismus durch Akzeptierung des Indeter-

minismus (nationalökonomisch durch Marbach, soziologisch durch Guardini und Brod, anthropologisch durch Lecomte du Noüy) 465 - Überwindung der Alternative Individuum : Kollektiv 466 — Überwindung des einsinnigen Geschichts-

ablaufes durch Toynbee und v. Salis 468 — Die Rolle der Kulturkreislehre von Frobenius 469 — Das Beachten der Zusammenhänge statt der Systematisierungen 470 — Dempfs „integraler Humanismus“ 471 — Die Offenheit der Welt 472 — Alfred Webers Hinweis auf eine „außerraumzeitliche Erfassung" 474 — Hinweise der Hirnforschung (Lecomte du Noüy und H. Spatz) auf neue Bewußtseinsmöglichkeiten 475

Achtes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (IV): Die Doppelwissenschaften

...........................................

477

Die Tatsache der Doppelwissenschaften als aperspektivische Manifestation; die Quantenbiologie 477 — Die Psychosomatik 478 — Die Parapsychologie 482

Neuntes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (V): Die Künste

2... 0. ccc

ccc

cece

cere

hh]

hh

nenn nenne

1. Musik ER Die temporischen Versuche der Musik; Strawinskys Auseinandersetzung

mit

der Zeit 486 — Busoni; Kreneks neue Zeitwertung 488 — Die Überwindung des

Dualismus von Dur und Moll 491 — Liszt, Debussy und die „offene Musik“ 492 Der Versuch der Musik die Arationalität zu realisieren 494 — Pfrogners Konzept

einer Musik vierdimensionaler Natur 495 - Die „Vergeistigung der Musik" 496 Debussys „sphärische Tonalitát" 497

485 485

XII

Inhalt

ΕΣ ΞΨΞΨΨΕ 499 Architektur, die soziologische Kunst 499 -- Die Lösung des Zeitproblems durch die neue Architektur; der „fließende Raum" 500 -- Die „organische Architektur“ Wrights 507 一 „Freier Grundriß“ und ‚freie Kurve“; der „offene Raum“ und

die Überwindung des Dualismus von Innen und Außen 502 — Die Arationalität und Diaphanität der neuen Architektur 503 3. Μαϊετεὶ

..............................ν..νονννονονεννννννννννννννννν.

Die Vorläufer der neuen Sehweise: Füßli, Géricault, Delacroix 505 — Die sphä-

$04

rische Bildfläche Cézannes 506 — Die vierte Dimension bei den Kubisten 508 -

Gleichzeitigkeit ist nicht Zeitfreiheit 310 - Die Überwindung des Dualismus, angebahnt durch den Gebrauch der Komplementärfarben 511 - fortgeführt durch

Cézanne; Klee und Gris; Verlust der Mitte ist kein Verlust, sondern Gewinnung des Ganzen $12 — Die Arationalität der neuen Malerei: Picassos Unvorsätzlichkeit und die „offenen Figuren“ Lhotes 513 — Die „geheime Struktur" der Dinge (Picasso); die „Welt ohne Gegenüber‘ kein Verlust, sondern Gewinnung des Miteinander 514 -- Impressionismus, Pointillismus, Primitivismus, Fauvismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus und Surrcalismus als temporische Versuche $15 - „Im Ursprung der Schöpfung“ (Klee) 516 - Von „den Wurzeln der Welt“ (Cézanne); die Diaphanität bei Léger, Matisse und Picasso 517 ΓΒ ehh

n

nenn

Dichtung als Geschichtsschreibung des Datenlosen 518 - Ein Aphorismus Hölder-

$18

lins 510 - Das Zeitthema in der Dichtung «21 - Die neue Wertung des Wortes seit

Hölderlin und Leopardi 522 — in der französischen, spanischen, englischen und deutschen Dichtung 523 - Das psychische Element seit der Romantik bis zu James

Joyce;

Expressionisten,

Dadaisten,

Surrealisten,

Nihilisten,

Infantilisten

und

Pseudomythiker als Zertrümmerer der starren Formen $24 — Prousts Kampf um

die Zeitfreiheit 526 - Die raumzeitliche Dichtungsweise von Joyce und Musil; Virginia Woolfs, Thomas Manns und Hermann Hesses Auseinandersetzungen mit dem Zeitproblem 528 ~ Die neuen Amerikaner und H. Broch; Musils Maxime

und die Nachkriegsgeneration 529 - Hopkins und Eliot 530 — Inversioncn und Konstruktionsbrüche bei Rilke und Mallarmé als Ausdruck der Zeitumwertung 531 — Der aperspektivische Gebrauch des Adjektivs 532 — Der neue „Denn-

Verzicht" und der „Wie-Verzicht“ als Absagen an die perspektivische Fixiertheit 533 - Der neue Gebrauch des Komparativs als aperspektivische Bezugnahme; die neuen „Und-Anfänge“ 534 -- Die neue, aperspektivische Reimung in der europä-

ischen Dichtung 535 - Die Überwindung des Dualismus und die neue Einstellung

zum Tode 537 ~ Die Arationalität der neuen Dichtung; die Diaphanität Guillens,

Eliots und Physik $40

Valérys

539

-- Aperspektivische

Dichtung

und

aperspektivische

Zehntes Kapitel: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt (VI): Zusammenfassung

...................................................

542

1. Das aperspektivische Thema ...........ονονννννννννννννν ένωνε νιν νννννν εν 542

Die notwendige neue Bewußtwerdung 542 — Dic aperspektivischen Themata; die Praeligio 543 — Die aperspektivische Wirklichkeit 544

2. Das tägliche Leben ................................,.....,,,,....... 544 Der Vollzug der Mutation durch die Allgemeinheit 544 — Fabrik und Bureau

Inhalt

XIII

von uns geschaffene Zeitverfälschungen; Freizeit und Zeitfreiheit 546 — Notwendige Leistungen des Einzelnen 547

Elftes Kapitel: Die doppelte Aufgabe .....................................

550

Spenglers Selbst-Aufgabe und unsere Aufgabe $50 - Die Gefahren unserer Übergangsepoche auf den verschiedenen Gebieten unseres Denkens und Tuus 551

Zwoólftes Kapitel: Die Konkretion des Geistigen Das mentale Denken

und das geistige Wahren;

...........................

556

das Geistige ist nicht „Geist“,

sondern Diaphanität (Transparenz); der Vollzug des concrescere, des Zusammen-

wachsens des Geistigen mit unserem Bewußtsein als Konkretion des Geistigen 557 — Das Ganze 559

Nachwort

に に に に に に に に に に に に に に に にに に に トト に に に に トト に て し て て し て て て て て し て て て て し し て て し て て て て こし こし ここ ・ 560

Βι]άταίοϊη..-..........:.-.--.-.-...-.......................««....

Synoptische Tafel

nach

Seite

564

` am Schluß des Bandes

VERZEICHNIS

UND

QUELLENNACHWEIS

ERSTER

DER ABBILDUNGEN

TEIL

Abb.

: Pablo Picasso, Zeichnung (1926) ............................... (Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis der Galerie Gasser, Zürich)

S.

35

Abb.

: Pablo Picasso, „Le chapeau de paille (Der Strohhut)“ (1938)

Tafel

ı यप ऽ.

37

Abb.

: Georges Braque, „Femme au chevalet (Frau vor der Staffelei)“ (1936) ..................................... Tafel (Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis der Galerie Rosenberg, Paris)

ı zuS.

38

Abb.

: Prähistorische Büffel-Zeichnung aus der Höhle von Niaux

Abb.

・ Fresko aus der „Tour dela Garderobe" im „Palais des Papes“

Abb.

: „Die Negerschlacht“, Gemälde auf einer Truhe im Grabe des Tut-ench-Amuns .............................. (Quellennachweis siehe Anm. S. 6447)

Abb.

: Fragment einer böotischen Vasenzeichnung

.....................

S.

64

Abb.

: „Artemis als Herrin der Tiere“; korinthische Vasenmalerei......... (Quellennachweis siehe Anm. S. 6550)

S.

65

Abb.

: Prähistorische Felszeichnung aus Australien (Quellennachweis siehe Anm. S. 6755)

(Wiedergegeben nach einer Photographie der Kunsthalle Bern)

(Quellennachweis siehe Anm. S. 5738)

(Wiedergegeben nach einer alten Reproduktion des „Palais des Papes", Avignon)

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6548)

Abb.

IO:

Abb.

II:

Abb.

I2:

........

S.

57

Tafel

2 zu S.

65

Tafel

2 zu S. 64f.

...........

Tafel

3 zu S.66f.

Irische Miniatur aus einem Psalter in Dover ...........

Tafel

3 zu S.

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6757)

Prähistorische Felszeichnung aus Nordwest-Australien (Quellennachweis siehe Anm. S. 6758)

............

67

S.

67

S.

67

Weibliches Idol; Fundort: Brassempouy, Dép. Landes (Westfrank-

reich); Elfenbein, natürliche Größe; Zeit: mittleres oder oberes Aurignacien, eine der Epochen der Jüngeren Eiszeit (Jungpaläolithikum), ca. 40000 v. Chr. 1. ccc ccc ccc cc cc eee hh] hn

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6859)

Abb. 13: Profil-Ansicht von Abb. 12 (Quellennachweis wie für Abb. 12) Abb. 14: Weibliches Idol; Fundort: Gagarino am oberen Don, Gouv. Tambow

XVI

Quellennachweis und Abbildungen im Kreise Lipezk (Rußland); Stein, natürliche Größe; Zeit: Aurignacien-Périgordien (Jungpaläolithikum) ca. 30000 v. Chr. ........

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6869)

S.

67

Abb. 15: Sumer: Idol; Museum Aleppo: 4. bis 3. Jhtsd. v. Chr...

Tafel

4 zu S.

68

Abb.

Tafel

4zuS.

68

........

Tafel

ऽ zuS.

68

........................

Tafel

5 zu 5. 68

Tafel

6zuS.

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6861)

16:

Sumer: Idol; Museum Bagdad; 4. bis 3. Jhtsd. v. Chr...

(Quellennachweis wie für Abb. 15)

Abb. 17: Chinesische

Schminkmaske

der Peking-Oper

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6862)

Abb.

18:

Bartmaske der Peking-Oper

(Quellennachweis siehe Anm. S. 6863)

Abb. 19: „Prinz mit Federkrone“; farbiges Stuckrelief aus Knossos auf Kreta .......................... te hes

(Quellennachweis siehe Anm. S. 7269) Abb.

20:

»Hermes mit Hera, Athene, Aphrodite (und sitzender Muse?)", Frühgriechische Vasenzeichnung ................,..,...............

(Quellennachweis siehe Anm. S. 7379) Abb.

21:

Die Muse „Kalliope“ von der ,,Frangoisvase* (Quellennachweis siehe Anm. S. 7476)

Abb.

22:

Kronos mit Sichel (Aus einer hellenistischen Kupferschale) (Quellennachweis siehe Anm. S. 18513)

...................

S.

72

73

S. 7$

........

S. 185

Abb. 23: Verschleierter Kronos (Nach einem pompejanischen Wandgemälde) (Quellennachweis wie für Abb. 22)

S. 185

Abb. 24: Kronos (als Schildzeichen); archaische Darstellung ................ (Quellennachweis siehe Anm. S. 18616)

S. 186

Abb. 25: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

.......................

S. 226

Abb. 26: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

.......................

S. 228

Abb. 27: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

.......................

S. 229

Abb. 28: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

.......................

S. 230

Abb. 29: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

.......................

S. 230

Abb. 30: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

(Quellennachweis für die Totenbuchvignetten siehe Anm. S. 22736 und in den jeweiligen Legenden)

..................,.....

S. 231

Abb. 31: Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus ........................

S. 233

Abb. 32: Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus ....................,...

S. 234

Abb. 33: Totenbuchvignette aus dem Nebseni-Papyrus .............,...... Abb. 34: Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus .......................

S. 236

Abb. 35: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus ....................... Abb. 36: Das chinesische T’ai-Ki ....................................... Abb. 37: Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus ..............,......... Abb. 38: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus .......................

9. 237 S. 239 S. 242

S. 246 S. 247

Quellennachweis und Abbildungen

XVII

Abb. 39: Geflügelter Delphin (Ausschnitt aus Abb. 41 auf Tafel 7) .......... (Reproduziert mit Erlaubnis des British Museum, London) Abb. 40: Geflügelter Ephebe und Delphin (Hellenistische Bronze aus Myrina) .......... ccc cess eee he Hn

(Quellennachweis siehe Anm. S. 24887)

Abb. AI: Bild einer griechischen Schale ....................... (Reproduktions-Erlaubnis wie für Abb. 39) Abb. 42: Frühchristliche Gemme ....... 00... (Quellennachweis siehe Anm. S. 25291)

ZWEITER

Abb. Abb.

Tafel

7 zuS.

Tafel

7 zu S.

cece cee cece ee teens

S . 252

.......................

S . 260

cece

Abb. 43: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

S.

TEIL

44: „Kore“, griechisch, 4. Jahrhundert v. Chr., Tanagra .... 45: "Kore", griechisch, 3. Jahrhundert v. Chr., Tanagra ....

(Die beiden Tanagrafiguren befinden sich in einer Berner Privatsammlung; reproduziert mit freundlicher Genehmigung des

Tafel

8zuS . 358

Tafel

9zuS

. 358

Besitzers.)

Abb.

Abb.

46:

47:

Mies van der Rohe, „Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona, 1929" ..............,.......

Tafel 10 zu S . $00

Wiener, ,,Brasilianischer Pavillon auf der Weltmesse in New York, 1939“ .................................

Tafel 10 zu S. $02

(Reproduziert nach E. Mock, a. a. O. [50085]; S. 10) Lucio Costa, Oscar Niemeyer Soares und Paul Lester (Reproduziert nach E. Mock, a. a. O. [50085]; S. 19)

Abb. 48: Walter Gropius, „Bauhaus Dessau"; 1925/26 .......... (Reproduziert nach E. Mock, a. a. O. [50085]; S. 11)

Abb. 49: A. und E. Roth und M. Breuer, Zwei Mehrfamilienhäuser im Doldertal, Zürich; 1935/36.......................

( Reproduziert nach Alfred Roth, a. a. O. [50295]; S. 49; mit freundlicher Erlaubnis des Autors)

Tafel 11 zu S . $03

Tafel ıı zu S . $02

Abb. so: Edward D. Stone, „Hans A. Conger Goodyaer“, Old

Westbury, Long Island (New York); 1940; Blick auf Wohnzimmer von außen .......................,..,

Tafel 12 zu S . $03

Abb. $1: Wie Abb. 50, jedoch Blick aus dem Wohnzimmer nach außen

.......... cce

e

nenne

9

en nen

( Abb. 50 u. 51 reproduziert nach E. Mock, a.a.O.[ 50085]; S. 43)

Abb. $2: Fernand Léger, „Peinture décorative" für den französischen

Pavillon auf der „Triennale“ in Mailand, 1951 ........ (Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis des Leiters der „Kunsthalle“ Bern, Herrn Arnold Rüdlinger, Bern) Abb. 53: Diagramm zu Abb. 54 ............................ (Abb.5 34.54 reproduziert nach L.Guerry,a.a.O.[ 37119]; S.19)

Tafel I2 zu S. 503

Tafel 13 zu S . $04

Tafel 14 zu 5. $06

XVIII

Quellennachweis und Abbildungen

Abb.

: Paul Cézanne, „Don Quichotte sur les rives de Barberie“

Tafel 14 zu S. $06

Abb.

: Diagramm zu Abb. 56 ..................,..........

Tafel 15 zu S. $06

Abb.

: Sandro Botticelli, „Grablegung Christi“; um 1605

.....

Tafel 15 zu S. $06

Abb.

: Pablo Picasso, „Die Arlesierin"; 1913

................

Tafel 16 zu S. $10

Abb.

: Gino Severini, „Die ruhelose Tänzerin“; um 1912/13 ...

Tafel 17 zu S. SII

Abb.

: Pablo Picasso, „Klassischer Kopf“; Lichtzeichnung; um 1949 に に に に に に に に に に に に に に に に にし に に に に に に し に に にし し し に て て に に に て てこ て ・・ こ て ・・

Tafel 18 zu S. $16

Abb.

1949 1 に に に に にに に ーー・・ に ーー・ ト トレー トレ トー トト て し て て て て し て て て て にし て こし て て て ーー (Abb. 59 und 60 sind Photographien von Gjon Mili; reprodu-

Tafel *9 zu S. $16

ziert nach „Life“, International Edition, No. February 13, 1950;

p. 3 und 4; mit freundlicher Genehmigung der Redaktion) Abb.

Abb. Abb.

61:

62: 63:

Alexander Calder, Hängende Drahtplastik („Mobile“); 1936; Collection Mrs. Meric Callery, Paris ........... ( Reproduziert nach: James Johnson Sweeney, AlexanderCalder ; The Museum of Modern Art, New York, 1943; p. 32)

Tafel 20 zu S. $16

Aufnahme der Montage von Kamera und Silberkugel für

die Photographie Abb. 63

..........................

Tafel 21 zu S. $16

Kugelphotographie von Dale Rooks und John Malloy, Grand Rapids, Mich., USA; um 1949 ................

Tafel 21 zu S. $16

Abb. 64: Stärkekörner in einer Lackeinbettung. Photo Carl Strüwe

Tafel 22 zu S. 517

(Abb. 62 u. 63 reproduziert nach „Life“, International Edition, No. August 28, 1950; p. 2; mit freundlicher Genehmigung der Redaktion) Abb.

65:

Sophie Taeuber-Arp, „Lignes d'été", 1942, Kunstmuseum [PER

Basel, Emanuel Hoffmann-Stiftung

T

..................

Tafel 22 zu S. 517

Georges Braque, „Sonnenblumen“; 1946 ............. (Reproduziert nach „Life“, International Edition, No. June 6, 1949; p. 40; mit freundlicher Genehmigung der Re-

Tafel 22 zu S. $16

Hans Haffenrichter, „Energie“, Eitempera, 1954........

Tafel 23 zu S. 517

(Quellennachweis für Abb. 64 u. 65 siehe Anm. S. 517169)

Abb.

66:

Abb.

67:

Abb.

68:

Außergalaktischer Nebel im Sternbild „Jagdhunde“ .... (Reproduziert nach: Vincent de Callatay, Goldmanns Himmelsatlas; Goldmann, München, 1959; S. 155, Abb. Nr. 5)

Abb.

69:

Pablo Picasso, „Vase mit Laub und Seeigeln“; 1946. Musée Grimaldi, Antibes ........................... ( Reproduziert nach „Cahiers d' Art", Paris; 23e année, 1948,

daktion)

(Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis von Hans Haffen-

richter)

no. 1; p. 43)

Tafel 23 zu S. 517

Tafel 24 zu S. 517

GELEITWORT von Joachim 111165

Stets bewegt den Menschen die Frage nach dem Ursprung, stets spürt

er den schicksalhaften Sog im Strom sich wandelnder zeitlicher, reli-

giöser und wissenschaftlicher Strukturen. So bleibt ihm — heute wie zu allen Zeiten — das fraglose Hinnehmen, das wissenlose Treibenlassen oder die mühevolle Rückbesinnung auf den Ursprung, das Nachtasten der Strukturen im Geiste, das Forschen und Ringen um Einsicht, die Suche nach dem Sinn und Ziel möglicher Wandlung. Und dann geschieht es — neu in jeder Epoche, in anderer Sprache für jede Generation, aber in Auslegung der gleichen ur-ewigen Wahr-

heiten -。 daß der Fragende und Suchende Antwort findet, weil einzelne Große zum Wegbereiter werden, weil einzelne, die ungeheure

Last der Bewältigung des Ganzen auf sich nehmend, die Teile sinnvoll einzufügen lehren und so das Dunkel lichten, den Weg überschaubar machen, den Ursprung aufweisen und den Wandel deuten. Jean Gebser war ein solcher Wegweisender und Sinndeuter, und er bleibt es über seinen Tod hinaus, denn jetzt erst, da sein eigenes Leben zu dem Ursprung zurückkehrte, von dem er kündete, wird der ganze Umfang seiner Botschaft einem wachsenden Kreis von Fragen-

den und Suchenden deutlich, Diese Botschaft vom Ursprung, von der Wandlung des Bewußtseins und damit zugleich der geistigen Existenz der Menschheit und des Einzelmenschen, soll hier aufgenommen und weitergetragen werden. Zugleich gilt es zu erkennen, wie sie entstand und welche konkrete Form sie im Verlauf seines Lebens annahm. Denn Wandeln und Wachsen, Reife und Vollendung, von denen er berichtet, werden auch in seinem eigenen Lebenswerk als Stufen sichtbar, als eine geistige Evolution, die doch - um einen Gedanken von ihm aufzugreifen — wie aller Fortschritt im unsichtbaren Ursprung schon beschlossen und geleistet war. Dabei ist er seiner Zeit um eine ganze Generation voraus, denn er

macht Mut, wo wir noch nicht einmal begonnen hatten, uns zu fürch-

ten, er tröstet im Vorgriff auf eine Trauer, die uns noch bevorstand. Glaubten

wir

nicht alle nach

dem

Krieg

an ein Ende

der Krisen,

war nicht der Beginn einer durch Leiden geprüften, besseren Welt

zu erwarten? Rückblickend muß uns die Zeit um 1949/50 heute fast

idyllisch erscheinen: überall Wiederaufbau und Vernarben alter Wun-

2

den, überall frische Hoffnung. Wer außer Gebser sah damals eine «globale Katastrophe» des Geistes herannahen, wer gar schon 1932,

bis wohin die ersten Wurzeln seines Werks zurückführen? Heute freilich wird uns klar, was er schon damals sah: «Grenzen des Wachstums», «stummer Frühling», Umweltkrisen, ideologische Zerreiß-

proben. Der Physiker und Theologe Klaus Müller ruft heute verzweifelt nach einer Bewußtseinsänderung als einziger Rettung (1973), der Philosoph Arnold Gehlen proklamiert das «Ende der Geschichte»

(1974)!

Nach seiner ersten Warnung, nach den von ihm erspürten Anfángen der «Abendländischen Wandlung» (1942), muß in wenigen Jahren intensiver Forscherarbeit das gewaltige Werk entstanden sein, dessen erster Teil dann im Winter 1947/48 zu Papier gebracht wird: «Ur-

sprung und Gegenwart». Wiederum ist das Hauptanliegen, vom Werden eines neuen Bewußtseins im Menschen zu berichten. Dieses wird nun aber in einer Gesamtschau von hoher ordnender Kraft als das zu erreichende Endstadium einer fünfstufigen geistigen Entfaltung gesehen. Sie bringt zugleich einen tiefen Einblick in die Schichtenfolge unseres eigenen Lebens und Erlebens, denn — so schreibt er — «wir haben immer wieder betont, daß die geschilderten Strukturen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern daß sie Wirklichkeit sind, Gegebenheiten, die uns konstituieren». Die fünf Bewußtseinsstufen, durch die die Menschheit im Laufe der

Kulturentwicklung zu gehen hatte — und die in strenger Einhaltung des biogenetischen Grundgesetzes jeder einzelne in dieser Menschheit

heute wachsend und reifend durchlaufen muß -, nennt Gebser die archaische, die magische, die mythische, die mentale und schließlich

die integrale. Diese klare Strukturierung, für die es in ihrer Eindeutigkeit und ordnenden Kraft kein Vorbild gibt, die vielmehr allein als sein Werk zu bezeichnen ist oder als Fund seiner analytischen Kraft, steht in der Tat nicht nur auf dem Papier, sondern legt ein

inhärentes Ordnungsprinzip der Wirklichkeit frei. Geschichte, Kunst, Philosophie, Religion, Sprache, Mythos und Naturwissenschaften finden

ihren

Platz, und

das

Chaos

der Fakten,

die sich aus viel-

tausendjähriger Kulturgeschichte vor uns türmen und der Bewältigung harren, lichtet sich und wird in seiner klaren Schichtenfolge überschaubar. Evidenz wird transparent, Transparenz wird evident,

um ein Wort Gebsers aufzunehmen. Wir haben uns diese fünf Existenzstufen geistiger Wirklichkeit vor Augen zu stellen, wenn wir

die Botschaft Gebsers verstehen wollen. Die archaische Struktur ist dem verborgenen Ursprung aller Dinge am nächsten, ja sie ist, wie Gebser vermutet, «anfänglich mit dem

3

Ursprung selbst identisch». Sie ist «nulldimensional», ist geheimnisvoll unbegreiflich wie jeder Ursprung und bleibt für unsere Logik so paradox wie jeder Qualitätssprung aus dem Nichts ins Sein, wie die Creatio ex nihilo der Theologen und wie der Urknall der Physiker.

Und doch lassen sich Hinweise auf diesen nulldimensionalen Zustand frühmenschlichen Bewußtseins finden: Gebsers gelehrter Spürsinn treibt gleich zwei von ihnen auf. Chinesische Weisheit berichtet von der Traumlosigkeit der Menschen der Urzeit, und gleichzeitig weiß man dort, daß Grün und Blau als Farben (Erde und Himmel als Begriffe) noch mit einem gemeinsamen Wort bezeichnet, also noch nicht unterschieden, sondern als eins empfunden wurden. Problemloser Einklang von Innen und Außen, Ungeschiedenheit (und das heißt theologisch: Sündlosigkeit) als paradiesischer, vorgeburtlicher Zustand der totalen Geborgenheit, der Identität mit dem Sein, sind hier noch gegeben, und aus dieser Sicht gelingt Gebser auch die Deutung eines dunklen Platon-Wortes, das einen späteren Zustand meint: «Die Seele ist zugleich mit dem Himmel entstanden!» Unser konkretes Wissen greift nicht in jenes Dämmern, unser Ahnen kann nur weniges ertasten von diesem archaischen Zustand, an dessen ungebrochene Harmonie uns die Sphärenklänge der Musik noch am nächsten heranführen und der in seiner Ferne und Unbegreiflichkeit doch so gewiß und so notwendig vorausgesetzt werden muß wie unser eigener vorgeburtlicher Zustand, den wir nicht verstehen, an den wir uns nicht erinnern und der doch als erste Anlage unseres Seins den Bogen unserer Existenz bis in unser Alter trägt. Aller Ur-

sprung bleibt rätselhaft für die nach ihm zurückblickende Ratio, das Archaische ist nicht das Primitive, sondern das Ferne und notwendig Komplizierte, ja Paradoxe, das von der Gipfelhöhe des Intellekts nicht mehr entziflert werden kann! Aus dieser Urschicht bricht eine Mutation heraus: die magische Be-

wußtseinsstruktur, eine neue Qualität menschlicher Existenzweisen.

Sie ist «eindimensional», setzt den Punkt erster Zentrierung im Menschen, gebiert im Inneren des Seins einen Ort, der das Licht reflek-

tiert - Handeln wird möglich, Machen, Magie. Noch ist dieser Punkt

als Monade

nur Spiegel des Seins, ohne es bewußt zu begreifen:

schlafwandlerisch,

sáuglingshaft in sich selbst ruhend, ist ihm

die

Welt noch ein schemenhaft ungeschiedenes Gegenüber, aber «er be-

ginnt zu wollen»! Ein triebhaft-vitales Bewußtsein entfaltet sich und bindet den noch Ichlosen in die Geborgenheit eines Gruppen-Ichs,

in die Blutsverwandtschaft einer Sippe, eines Clans. Mit diesem und in diesem wird er zum «Macher», zum «ersten Freigelassenen der

Natur», der ibren Bann lóst: eben mit der Magie des Wollens und

4

Machens. Er stellt Werkzeuge als materielle Wirkungsträger her: Faustkeil, Beil und Speer, Pfeil und Bogen. Aber in der noch dämmrigen Ununterschiedenheit seiner Eindimensionalität, in der Raumund Zeitlosigkeit seines Empfindens, greift er wollend, wirkend, beschwörend auch in den Bereich des Immateriellen, treibt Jagdzauber, übt magische Macht über Gesundheit und Leben und pflegt ekstatischen Umgang mit Naturkräften und Dämonen. Dabei wird das Ritual zum Inbegriff der geformten, gerichteten Handlung, zur neuen Norm und zum kulturellen Gesetz, mit dessen Hilfe er den Ausbruch

aus der Gnadenlosigkeit der Naturgesetze erzwingt. Die Zauberformel, das richtige Rezept, das geheime Zeichen, sie werden vom magischen Menschen der Natur abgelauscht; er ist noch ganz Ohr, Empfangen und Lauschen sind seine eigentlichen Umgangsformen mit der Wirklichkeit. Daher ist auch die Sprachlosigkeit — oder nennen wir es: Vor-Sprachlichkeit — das Merkmal jener Struktur. Gebser weist zum Beleg auf alte bildliche Darstellungen von mundlosen

Menschen,

wie sie sich bei australischen

Urvölkern

ebenso

wie in den steinzeitlichen Idolen Eurasiens finden lassen. Sprache ist noch nicht nötig, wo punkthafte Unität, telepathische Solidarität, die Mitglieder des Clans verbindet wie die Vögel eines Schwarms. Gewiß sind diese magischen Strukturen schwer zu beschreiben, fast mehr in dichterischer Sprache zu besingen als in nüchterner Wissenschaftlichkeit zu definieren. Aber Wissenschaftlichkeit selbst ist eben die viel spätere, die mentale Struktur, und mit ihren Mitteln kann man sich im Rückblick nicht nur der archaischen, sondern auch der

magischen Wirklichkeit kaum nähern. Der erwachsene, zum Ichbewußtsein erwachte Mensch kann auch nur schwer und nur dammrigungefähr in seinen eigenen früheren Säuglingszustand zurücktasten, und doch hat es ihn gewiß gegeben, und er ist noch heute mitten in seinem ichbewußt handelnden Selbst als Instinktives, SäuglingshaftUnreflektiertes, Magisch-Wollendes und Ritualisiertes jederzeit gegenwärtig. Die nächste Stufe, die mythische, ist unserem Intellekt schon näher, sie ist greifbar wie die Märchen der frühen Kinderjahre und kann daher deutlich und klar geschildert, ja sie kann von Gebser sogar in ihrer Entstehung historisch gefaßt werden. Denn mit ihr, mit der Mutation zur mythischen Bewußtseinsstruktur, wird Historie in unserem Sinne möglich, nun erst taucht im Begreifen des Menschen die Zeit auf. Als Jahreszeit schlägt sie den Puls und Herztakt der Vegetationsgötter, als Sternbild regiert sie die Bahnen der Himmelsgötter. Gesprochenes

Wort - eben «Mythos»

in seiner ursprüng-

lichen Bedeutung -- kündet von einer dem neuen Bewußtsein sich

3

enthüllenden zweidimensionalen Selbst zur Linie weitet und mit Kreise schließt. Hier liegt der Buytendijk ein «Ur-Sprung» ist. mit dem

Himmel»,

um

Welt, in der sich das punkthafte dem emotional begriffenen Du zum Ursprung der Sprache, der nach Die Seele ist nun geboren, «zugleich

an Platos dunkles

Wort

zu erinnern.

Die

Seele aber lebt in Bildern (das weiß heute die Tiefenpsychologie),

sie wird von Bildern genährt, und sie, der ein Gott gab «zu sagen,

was sie leidet», spricht sich in Bildern aus. Aus den Götzen der magischen Stufe werden nun die Götter, Himmel und Erde bevöl-

kern sich mit ihnen und in ihrem Wandel und Wirken gestaltet sich die Welt und entwirft sich die Seele ihr eigenes rhythmisch flutendes Leben. Das Gesetz dieses Lebens heißt Bewegung, aber es ist noch nicht die im dreidimensionalen Raum,

sondern sie verläuft in der

Ebene, im zweidimensionalen Spannungsfeld von Polaritäten. Diese sich wechselseitig tragenden und bedingenden Pole stecken die Weltenden jeder Möglichkeit und jeder Wirklichkeit ab: oben und unten, hell und dunkel, profan und heilig, männlich und weiblich. Das sind dem mythischen Bewußtsein die Signaturen der Wirklichkeit, in der der Mensch wie seine Götter wird: erkennend das Gute und das Bósel

|

Diese Welt des mythischen Bewußtseins ist uns allen vertraut, sie ist ja das Fundament unseres ihm aufruhenden, hellen Tagesbewußtseins, sie spricht in unseren Tráumen zu uns, oder anders gesagt, in sie sinken wir im Traum zurück wie in ein altes, vertrautes Heimat-

land der Seele und tauchen am Morgen erfrischt und gestárkt aus ihr wieder auf. Wo aber das allzu herrische TagesbewuBtsein die Bilder des mythischen Urgrundes bedroht und verdrángt, da ziehen sie sich

in Tiefen

zurück,

in die unsere

Sehnsucht

nach

dem

verlorenen

Paradies ihnen nachspürt und nachtrauert, bis wir uns entschlieBen, wieder herabzusteigen «zu den Müttern» wie Faust, der von dort

den verlorenen Schlüssel zur Welt heraufholte. Das Mütterliche, der

bergende und austreibende Schoß der Mutter, der ewig lockende und zugleich unheimlich bedrohende Schof der Sirene, sie sind im mythi-

schen Bewußtsein (und damit im Zeitalter der vorchristlichen Jahr-

tausende) das Zentrum des Kreises, sind Polaritát des Ausgangs und Eingangs, des Lebens und Sterbens, des Seins und Nichtseins. Der Mann empfindet sich vor dem Hintergrund der Mütter als die Nicht-

Frau, als der, der anders ist als die Mutter, entfernt vom Zentrum des schópferischen Seins und ohne Móglichkeit, selbst neues, zeugendes Zentrum zu werden. Matriarchat ist das Kennzeichen des mythischen Bewußtseins, und im Lichte dieser Erkenntnis Gebsers werden

alle früheren Entdeckungen Bachofens über die mutterrechtlichen

6

Kulturen erstmals verständlich als notwendige

zweidimensionalen

Bewußtseinslage

jener

Konsequenz

Zeiten.

In

der

einer

Tiefen-

psychologie einer Esther Harding und eines Erich Neumann werden diese Zusammenhänge

heute neu begriffen und machen so das

Mythische als das «Ewig-Weibliche» in uns allen transparent. Dies ist der geistige Boden, aus dem dann die Mutation entstehen

kann, die sich als die unmütterliche, als die asexuelle - als die wie

Athene dem Haupt des Zeus rein Entsprungene - versteht: die mentale Struktur. Ihr Entstehen hat Gebser in den geistigen Ereignissen des antiken Griechenlands um

5oo v.Chr. deutlich gemacht,

ja, von diesem Datum her entwickelte er ursprünglich das ganze Konzept des Wandels geistiger Strukturen. Was sich dort im griechischen Denken

formte, was sich vorher schon im Umbruch

des

religiösen Empfindens Israels tat und was er bei den chinesischen Weisen um 1000 v.Chr. aufspürt (etwa in der Redaktion des Orakelbuches I-Ging zum Weisheitsbuch durch den legendären König Wen), gehört zum gleichen Prozeß des Aufbruchs aus der mythischen in die mentale Struktur. Das männlich-ich-hafte Wachbewußtsein tritt nun auf, die Ebene weitet sich zum dreidimensionalen Raum,

die perspektivische Welt wird möglich. Griechische Wissenschafts-

lehre, jüdische Heilslehre und römische Staats- und Rechtslehre werden zur «Absprungbasis» einer neuen Bewußtseinshaltung. Die Ratio

beginnt ihre Herrschaft über den Menschen und über die Welt: Zählen und Messen,

Abzählen

und Bemessen,

werden

zur Grundlage

verstandesmäßiger Weltbewältigung. Aus dem Kreise der wechselndflutenden Polarität wird das starre und gleichschenklige Dreieck der Alternative: Entweder-Oder, das Gesetz der Aristotelischen Logik,

wird zur Basis des Weltbegreifens. Nicht länger gelten Hell und

Dunkel, Gut und Böse, Mann und Frau als ergänzende Pole, sondern Hell oder Dunkel, Gut oder Böse, Vater oder Mutter werden nun

Aufruf zur Entscheidung, die im Prozeß des Scheidens das eine annimmt und das andere verwirft. Das Dreieck weist mit seiner Spitze perspektivisch nach oben - eines nur kann oben sein, ein Gott nur kann sein, eine Wahrheit nur. Kein Nebeneinander von Wahrheiten

und von Göttern bleibt möglich, das Entweder-Oder des Aristoteles fegt den Götterhimmel

leer und wird sich im «Aufbruch

aus der

selbstverschuldeten Unmündigkeit», in der Aufklärung, zum allgemeinen Bildersturm entwickeln, der schließlich mit den Bildern auch die Seele des Menschen leerzufegen droht. Das andere - nicht länger mehr gleichwertiges Gegenüber einer Polarität, sondern Alternative der Dualität - ist nun das Bessere oder

Schlechtere, das Richtige oder das Falsche. Nicht länger empfindet

7

sich der Mann

als die Nicht-Frau

und Nicht-Mutter,

als dem

Ur-

sprung fernerer Pol, sondern er wird nun zum «eigentlichen» Men-

schen, zum Patriarchen. Die Frau ist nun der Nicht-Mann: «Ischa»

(Männin) nennt sie Adam, der sie aus seiner Rippe gebiert, so wie

er nun alles benennen, abzählen und beherrschen wird. Zwar kann

er nur mit Hilfe des Weibes «Gut und Böse» erkennen und wird für diese Erkenntnis die Geborgenheit des Paradieses eintauschen, aber in der mentalen Weiterentwicklung des mythischen Wissens wird er die Polarität zerbrechen und das duale «Gut oder Böse» daraus machen, das zur Entscheidung zwingt, zum Kampf, zur Ablösung, zur Sonderung (Sünde), und das zur ewigen Versuchung

wird, selbst der Gott zu sein, der Gut und Böse setzt! Der dramatische Umbruch vom Matriarchat zum Patriarchat, wie

ihn Bachofen schon in den tragischen Spannungen der Orest-Tragödie aufzeigte, ist die radikalste Revolution des Denkens, die die historische Menschheit zu durchstehen hatte — und die jeder von uns in der Krise der Pubertät neu zu durchstehen hat. Wie brennend modern die Problematik dieses Umbruchs und die revolutionäre Kraft des neuen Denkens sind, wie notwendig die Rückbesinnung auf die in diesem Umbruch und im Schlachtgetümmel des Geistes bedrohte Position des tragenden seelischen Grundes, dem der Geist hier zum «Widersacher» wird, das mag ein Zitat aus Gebsers Hauptwerk zeigen. Es gelingt hier, ein Fragment des «dunklen» Philosophen Heraklit zu erhellen und einzubringen in die von Gebser so

klar erschaute Totalität einer das Matriarchat und das Patriarchat überhöhenden integralen Weisheit: «Die fahrlässigen Propagandisten des Heraklitfragmentes, ‚Der Krieg ist der Vater aller Dinge‘, also die machtlüsternen, vaterbesessenen Militaristen und Politiker und selbst die von deren Mentalität infizierten Interpreten der Heraklitfragmente, kamen alle aus ihrer patriarchalischen Einseitigkeit heraus noch niemals auf den Gedanken, daß es sich bei jenem autoritären Satze des Heraklit um ein Bruchstück handeln könnte. Sie gaben, scheint es, sich noch nie Rechenschaft darüber, daß er, wie wohl alle Aussprüche des Heraklit,

nur vollsinnig ist, wenn er durch den ergänzenden Pol vervollständigt wird. Uns wurde nur das Bruchstück eines wahrscheinlich größeren Satzgefüges überliefert; und es ist symptomatisch, daß uns gerade

dieses

Bruchstück

überliefert wurde.

Denn

jener Halbsatz

‚Der Krieg ist der Vater aller Dinge‘ dürfte in der oder jener Fassung einstmals durch einen anderen Halbsatz ergänzt gewesen sein, dessen Sinn sich vielleicht so ausdrücken ließe: ‚Der Friede ist die Mutter

aller Dinge.‘ Und selbst wenn der ergänzte Satz in der oder jener

8

Formulierung niemals von Heraklit geschrieben worden wäre, so hat er ihn doch schweigend deutlich ausgesprochen: Denn das Buch ‚Über die Natur‘, aus dem die uns bekannten Fragmente stammen, weihte Heraklit der Artemis von Ephesos, der ‚Großen Mutter‘, derselben, deren Bild einst Orest, um

sich von den Erinnyen zu be-

freien und auf Apollons (!) Geheiß, aus dem Lande der Taurer nach Griechenland brachte.» Es bedarf keiner weiteren Beschreibung der mentalen Bewußtseins-

struktur: Es ist die unsere auf weiten Strecken unseres Denkens und Handelns, sie ist das tragende Gerüst für unsere Epoche, sie ist ihr

Glanz und ihr Elend zugleich. Aber Gebser wäre nicht, der er ist,

hätte er nur den Untergang des Abendlandes einzuläuten. Zwar weist er mit großer Eindringlichkeit auf die Risse und Sprünge unserer Welt hin, prophezeit mit hellsichtigem Spürsinn das Wanken des Tempels mentaler Strukturen, deren vier Grundsäulen in unserem Jahrhundert

endgültig zerbrechen (die Euklidische

Geometrie,

die

Aristotelische Logik, die Demokritische Atomlehre und die Aristarchische Heliozentrik), aber er erkennt in diesem Wanken

burtswehen

eines neuen,

rettenden Sprunges:

die Ge-

der Mutation zum

integralen Bewußtsein: «Da das Positive, das Aufbauende, sich stiller vollzieht als der Radau, den das in sich Zusammenstürzende macht, werden diese

Gegenströmungen leicht überhört in einer Welt der Götterdämme-

rung und einer gewissen Lust am Untergang», sagte Gebser einmal,

und seine eigentliche Botschaft liegt eben in dem Hörbarmachen

des Stillen, im Sichtbarmachen des sich erst im Dämmern des Mor-

gengrauens Gestaltenden. Im Lichte dieses integralen Bewußtseins wird der mentale Raum- und Zeitbegriff gesprengt, und eine vierdimensionale Betrachtung wird möglich. Der Raum krümmt sich in der Zeitdimension, die divergenten Linien der Perspektive wölben sich zur Kugel, die Welt wird in ihrer Unendlichkeit greifbar als Raum-Zeit-Sphäre, als in sich selbst rollendes Rad. Gebser hat die «Konkretionen der aperspektivischen Welt» in einem eigenen Band seines Hauptwerkes ausführlich dargestellt, hat ihre Spuren in Naturwissenschaft und Philosophie, in Musik, Malerei und Dichtung gefunden. Für den Naturwissenschaftler besonders wird das neue, noch

zögernd bewältigte Denken im Umgang mit dem Paradoxen notwendig - mit dem Widersprüchlichen, das am Ende atomistischer, dualistischer, alternativer Weltentzifferungsversuche auf ihn wartet. Aus dem engen Pferch der Aristotelischen Logik, die mit ihrem Entweder-Oder die Welt zu bequemer Entscheidung zurüstet und dabei

Wirklichkeit

verstümmelnd

vereinfacht,

wird

das

integrale

9 Sowohl-als-Auch,

das

komplementäre

Denken,

wie

es die Atom-

physiker Nils Bohr und Werner Heisenberg angesichts der mikrophysikalischen Paradoxe entwickeln. Materie oder Energie, Ursache

oder Wirkung, Ort oder Bewegung, Subjekt oder Objekt: die Über-

windung dieser Gegensätze unserer mentalen Begriffsschemata ist zur Erfassung physikalischer Wirklichkeit ebenso notwendig wie im Pro-

zeß der Kulturentwicklung die Überhöhung der Gegensätze von

Matriarchat oder Patriarchat zum Integrat und wie in der christlichen Religion angesichts des Paradoxons von «ganzer Mensch und ganzer Gott», von Freiheit inmitten der Knechtschaft, von Tod, der in den

Sieg verschlungen ist, die demütige Anerkenntnis der «Torheit des Kreuzes», die sich in der integralen Liebe aufhebt. Das Integrale hebt das Mentale auf, aber nicht, indem es beiseite schiebt und verdrängt, sondern indem es die niedere Stufe der Wirklichkeit umschließt, überhöht, integriert. Und so hob vorher das Mentale das Mythische auf, und das Mythische überhöhte das Magische. Dies ist der Kern der hoffnungsvollen Botschaft, die wir Gebsers Werk entnehmen dürfen: Die Wahrheit hat viele Stufen, die

starre duale Alternative ist überwunden! Aus den Götzen werden

die Götter, aus ihnen wird der eine Gott, aus ihm die Gottheit. Keine

einmal errungene Stufe muß aufgegeben und als wertlos, als überholt verworfen werden, sondern jede behält ihren Sinn und damit ihre Qualität als Wirklichkeit. Gibt es Götter, oder gibt es sie nicht? Dieser Frage kann das mentale Entweder-Oder schon im vorgegebenen Ansatz nicht gerecht werden. Die Antwort wird erst in der integralen Stufe gefunden, und sie heißt im umfassenden und verstehenden Rückblick auf niedere Stufen des Bewußtseins: Für die magische Struktur gibt es noch keine Götter, nur dämonische Kräfte, Götzen, Kultheroen, Fetische sind hier die Formen erfahrbarer Wirklichkeit,

nur sie «gibt» es. Die mythische Stufe findet dann ein klares Ja auf die Frage nach den Göttern, die wentale Stufe aber muß am Ende ihres Weges zum klaren Nein gelangen, denn sie entmythologisiert, sie lóst die Bilder mit ihrer analytischen Kraft zu «Feldern» auf. In der integralen Struktur des Bewußtseins aber wird schließlich deutlich, daß das Mentale, das Rationale, nicht die letzte mögliche Antwort war, sondern daß Mythos und rationale Entmythologisierung zu integrieren sind in eine umfassende Einsicht, in der die Götter wie-

der so lebendig sind wie die Struktur des Geistes, die sie sichtbar machte, und in der wir uns wieder zur Wirklichkeit der Wahrheiten der mythischen Stufe bekennen können, ohne die Klarheit der Ratio aufzugeben.

Fünf Stufen der Wirklichkeit, fünf sich steigernde und aufeinander

Io

aufbauende Schichten menschlich-geistiger Existenz und Weltbewäl-

tigung, die uns wachsend und reifend aus dem Ursprung in die Gegenwart führen. Ein hoffnungsvolles, ein grandioses Bild! Man möchte mit dem vom

Anblick der Harmonie

griffenen Faust ausrufen:

der Weltstruktur er-

Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt, wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen

und sich die goldnen Eimer reichen!

Kann eine solche Gesamtschau, eine solche tröstliche Botschaft, in der

die Welt transparent wird, von einem einzelnen ausgehen? Sie kann nur von einzelnen ausgehen, denn nur die höchste, die integrale Stufe der Individuation, das wache Tagesbewußtsein eines vollentwickelten Ichs, kann diese Botschaft wahrnehmen.

Solche großen einzelnen,

solche Botschafter der Harmonie und des in der Gegenwart evidenten und transparenten Ursprungs hat es zu allen Zeiten gegeben, in denen der integrale Funke im Spannungsfeld des Mentalen und in der Gewitteratmosphäre des Mythischen zündete. So hat auch Gebser Vorgänger gehabt, denn selbstverständlich ist der Gedanke der stufenweisen Entwicklung der Welt und des einzelnen in ihr nicht neu. Er ist der tragende Grund von Goethes Weltsicht, ja er ist Goethes tiefstes Credo und hat in der Legierung, die dieses Credo mit der Gnosis in Steiners Anthroposophie erfuhr, viele und detaillierte Grundeinsichten in den Schichten- und Stufenbau der Wirklichkeit proklamiert, die aber wegen ihrer diffusen Offenbarungsquellen und ihrer magisch-mythischen Irrationalität die mentalen Strukturen unserer Zeit eher abschrecken als überzeugen. So wird dort keine dem mentalen Bewußtsein verifizierbare Wissenschaft, sondern sehe-

rische Verkündigung betrieben, und gerade die ist der kritischen Skepsis der Ratio so verdächtig, daß unser Zeitalter mit irrationaler und seiner Mentalität unwürdiger, barscher Ablehnung reagiert, wo doch abwägende Prüfung angemessen wäre!

Im Grunde aber ist die Vorstellung von den Stufen des geistigen

Werdens der Welt viel älter. Sie geht auf Joachim de Fiore zurück, der um

1200 seine Lehre von den drei Reichen aufstellte: Auf das

Reich des Vaters wird in der Weltgeschichte das Reich des Sohnes folgen (das tausendjährige Reich der Chiliasten) und auf dieses das «Dritte Reich», das des Heiligen Geistes, die «Kirche des Johannes».

Den Anbruch dieses Dritten Reiches erwarteten Joachim und seine

Jünger im Blick auf Kaiser Friedrich II. für das Jahr 1260 -- den Kulminationspunkt der mentalen Struktur und damit zugleich auch

Il

die Grundlegung des Integralen hat Gebser später für exakt diese Zeit deutlich gemacht. Die Vorstellung der Abfolge dieser drei Reiche wurde vom ausgehenden Mittelalter ab zum festen Bestand europäischer Geschichtsphilosophie, Lessing, Hegel und Schelling, Dostojewski, Spengler und Ziegler haben, jeder auf seine Weise, diesen

Grundgedanken verarbeitet, und es fällt nicht schwer, seine Spuren auch in Gebsers Werk wiederzufinden. Welches Werk hätte keine Vorläufer? Aber nirgends in der Moderne - außer bei Spengler ist in systematischer Abhandlung und klarer Scheidung die Struktur dieser Schichtenfolge im Detail durchdacht und geordnet worden, noch dazu unter Berücksichtigung aller Kulturen und aller ihrer Bereiche. | Damit wären wir bei Oswald Spengler - ein Weggenosse, ein kongenialer Seher des gleichen Sachverhaltes? Nichts wäre falscher als eine solche Verkennung Gebsers; er hat sich deutlich genug dagegen gewehrt. In der «Abendländischen Wandlung» schon schildert

er den biologischen Vitalismus, der als Fehlentwicklung und Über-

interpretation zum

Biologismus entartet. Gebser warnt dann vor

dessen den Geist unterminierender Wirkung

und spricht die Hoff-

nung aus, daß Spenglers «Untergang des Abendlandes» «der erste und hoffentlich letzte Versuch einer , Volkerbiologie' bleibt, den wir über uns

haben

ergehen

lassen müssen».

Wirklich

läßt sich kein

größerer Unterschied denken als der zwischen Spenglers biologischen Alterungsphasen völkischer Kulturen - ihrem Wachsen, Reifen und Absterben — und der geistbetonten Einsicht Gebsers in das quer durch die Vólker hindurchziehende und zunehmend von den cinzelnen getragene Anwachsen des Bewußtseins von Stufe zu Stufe, von

Mutation zu Mutation. In diesem Anwachsen auf ein Endgültiges hin,

auf ein Näher und Näher zum Geist, zur «Gottheit», lebt wieder die Goethische Weltschau, der die Erde als eine «Pflanzschule für Gei-

ster» erschien. In dieser Weltschau wird von Gebser mit dem seit damals unvorstellbar angewachsenen Wissen und den völlig neuen kulturgeschichtlichen Fakten erneut ein tragendes und in sich ruhendes Gebäude errichtet. So gibt es in unserer Zeit tatsächlich nur ganz wenige

geistige

Bewegungen, die mit Jean Gebsers Botschaft vergleichbar wären. Er selbst hat sie genau erkannt: Sie gehen von Teilhard de Chardin aus und von Sri Aurobindo, sie finden sich im Ansatz, doch ohne ord-

nende Kraft, auch im Buddhismus, vor allem im japanischen Zen. Gebser selbst wies im Vorwort einer späteren Auflage seines Hauptwerkes darauf hin, welche wesentlichen Unterschiede grundsätzlicher

Art zwischen ihm und diesen Quellen bestehen. Teilhard ist Katholik,

I2

Aurobindo ist Hinduist — mit allen Konsequenzen, die eine dogmatische Bindung an ein religiöses System für eigene schöpferische Aussage bringen kann. Gebser allein weiß sich frei von allen vorwissenschaftlichen Vorentscheidungen und nimmt es auf sich, sein Weltbild als «allgemeinabendländisch» zu bezeichnen, er allein ist systematisch, gibt nicht nur Wegweisungen in die neue Richtung - die Aurobindo «supramental» nennt und Chardin den Weg zum Punkte «Omega» -, sondern entwirft als Ziel dieses Weges eine Welt, in der alle Bewußtseinslagen ihren angemessenen Ort finden. Übrigens wurden Aurobindo wie Teilhard de Chardin erst nach 1955 in Europa bekannt, Gebsers Werk aber war zu jener Zeit längst erschienen. Er allein hat die fünf Entfaltungsstufen der Menschheit und des einzelnen in einsamer Anstrengung und im unermüdlichen Studium

von Tausenden von Quellen entdeckt und beschrieben, er ist wie ein neuer Ptolemäus, der den Menschen wieder zurechtrückt, nämlich in

den Mittelpunkt eines Systems von Kugelschalen, deren Sphärenmusik

er uns

wieder

zu vernehmen

lehrt. Denn

was

sind die fünf

Bewußtseinsstufen anderes als Schichten, die sich wachsend umeinanderlegen wie Ringe um einen ins Wasser geworfenen Stein? Und Gebser läßt keinen Zweifel darüber, wer hier den Stein ins Wasser

warf: Der Mensch hat sich nicht selbst geschaffen, auch schafft er nicht (als Subjekt) die (objektive) Welt, sondern er ist von Anfang an in ihr, ist «Ursprung und Gegenwart» zugleich als Erschaffener, dem im integralen Bewufitsein die Schópfung diaphan wird und der in ihrem Grunde den Ursprung aufleuchten sicht. Fünf Stufen der Wirklichkeit, wie Gebset sie freilegte als tragende Strukturen der Welt — das ist zugleich Hoffnung wider alle Furcht

vor dem Ende der Geschichte, das bedeutet endgültige Überwindung

des gnadenlosen Entweder-Oder der zweistufigen Logik, an der unsere Zeit in ihrem Kern leidet. Aus dem Aristotelischen Trick der Ratio wird in dieser Schau die Mehrwertigkeit der Wirklichkeit als die allein angemessene Annäherung an eine Wahrheit, die unsere Mühen des Anstiegs auf den Sprossen der Jakobsleiter lohnt. Das Ziel ist die integrale Anschauung des reinen Geistes, den wir Gott

nennen. Und den Gebser Gott nennt, auch wenn er sich von Teil-

hard de Chardin systematisch abgrenzt, auch wenn er diesen Begriff der zu überwindenden mentalen Schicht zuschreibt und in der integralen Struktur lieber von der «Gottheit» sprechen möchte. Ich denke, wenn ich Gebsers behutsame und doch eindeutige Haltung der Anerkennung Gottes für die eigene Existenz — und damit seinen Glauben — transparent machen soll, an eine Bemerkung, bescheiden am Rande einer Diskussion gemacht (und durch Tonband-

15

nachschtift in die Eutiner Protokolle der Paulusgesellschaft von 1965 geraten). Sie enthielt ein Bekenntnis von großer Tiefe und Schlichtheit, und sie verdient, hier in Erinnerung gebracht zu werden: «Was

ist schlieBlich Menschsein, wenn nicht der Versuch, demütiger Mitarbeiter Gottes zu seinl» Gebser fügte damals sogleich und fast erschrocken hinzu: «Das ist eine façon de dire, gewiß. Nehme jeder das Wort Gott hier in seinem Sinnel» Aber gerade diese respektvoll einschránkende Aufforderung macht mir Mut, das Wort «Gott» hier in meinem Sinn zu nehmen: Nicht als den Gott der Philosophen, der

doch, wie Gebser sah, eine mentale Einseitigkeit und Reduktion der umfassenden Wirklichkeit ist, sondern als den Gott der Evangelien, als den Gott, der die Liebe ist, wie es in der integralen Kraft des Johannesbriefes heiBt und wie ihn Joachim von Fiore vor fast acht-

hundert Jahren für seine «Kirche des Johannes» vorausahnte. Nur durch die integrale Kraft dieser Liebe kann die Welt gerettet und können wir vor der drohenden Katastrophe einer einseitigen Rationalisierung und Dualisierung bewahrt werden. Aber diese Rettung ist möglich!

Jean

Gebser

hat ihren

Hoffnungsschimmer

im

Morgendämmern der neuen Geisteshaltung unserer Epoche erblickt. Seine Botschaft von dem Wandel, in dem diese Rettung sich anlegt,

macht uns allen Mut, auf diesen Wandel zu hoffen und selbst — so

wie er es vor uns tat — mit unserem Sein zum Werden des Neuen und Rettenden beizutragen.

VORWORT

„Our virtues lie in the interpretation of the time.“ (Shakespeare, Coriolanus, IV, 7.) „What is now proved was once only imagin’d.“ (Blake, Proverbs of Hell.)

Der Ursprung ist immer gegenwärtig. Er ist kein Anfang, denn aller Anfang ist zeitgebunden. Und die Gegenwart ist nicht das bloße Jetzt, das Heute oder der Augenblick. Sie ist nicht ein Zeitteil, sondern eine ganzheitliche Leistung, und

damit auch immer ursprünglich. Wer es vermag, Ursprung und Gegenwart als Ganzheit zu Wirkung und Wirklichkeit zu bringen, sie zu konkretisieren, der überwindet Anfang und Ende und die bloß heutige Zeit. Was wir heute erleben, ist nicht etwa eine nur europäische Krise. Sie ist auch nicht eine bloße Krise der Moral, der Wirtschaft, der Ideologien, der Politik, der

Religion. Sie herrscht nicht nur in Europa und Amerika. Auch Rußland und der

Ferne Osten sind ihr unterworfen. Sie ist eine Weltkrise und Menschheitskrise, wie sie bisher nur in Wendezeiten auftrat, die für das Leben der Erde und der jeweiligen Menschheit einschneidend und endgültig waren. Die Krise unserer

Zeit und unserer Welt bereitet einen vollständigen Umwandlungsprozeß vor, der,

vorerst noch autonom, einem Ereignis zuzueilen scheint, das von uns aus gesehen nur mit dem Ausdruck „globale Katastrophe“ umschrieben werden kann, das,

von einem nicht bloß anthropozentrischen Blickpunkt aus gewertet, sich als eine Neukonstellation planetaren Ausmaßes darstellen muß. Und wir sollten uns mit

der gebotenen Nüchternheit durchaus darüber im Klaren sein, daß uns bis zu

jenem Ereignis nur noch einige Jahrzehnte verbleiben. Diese Frist ist durch die Zunahme der technischen Möglichkeiten bestimmt, die in einem exakten Verhältnis zu der Abnahme des menschlichen Verantwortungsbewußtseins steht. Es

sei denn, es träte wirkend ein neuer Faktor in Erscheinung, der dieses bedrohliche Verhältnis überwände. Auf diesen neuen Faktor, auf diese neue Möglichkeit hinzuweisen und ihn darzustellen, ist Aufgabe dieses Werkes. Denn gelingt es nicht oder: kann und soll es nicht gelingen -, daß wir diese Kriese durch unsere eigene

Einsicht überstehen und damit der heutigen Erde und der heutigen Menschheit

durch eine Wandlung (oder Mutation) den Weiterbestand für kürzere oder lingere Zeit erwirken, so wird die Krise uns überstehen. Mit anderen Worten:

entweder überwinden wir die Krise, oder sie überwindet uns. Doch es überwindet nur, wer sich selber überwand. Entweder werden wir aufgelöst und aus-

geteilt, oder wir lösen auf und erwirken die Ganzheit. Mit anderen Worten: entweder erfüllt sich die Zeit an uns -, dann heißt das Ende und Tod für unsere

XX

Vorwort

heutige Erde und ihren Menschen; oder dann heißt das Ganzheit und Gegenwart, lichkeit der Ganzheit von Ursprung und Weiterbestand, in dem nicht der Mensch,

es gelingt uns, die Zeit zu erfüllen -, dann heißt das Erwirkung und WirkGegenwart. Und damit: gewandelter sondern die Menschheit, in dem nicht

der Geist, sondern das Geistige, in dem nicht der Anfang, sondern der Ursprung,

in dem nicht die Zeit, sondern die Gegenwart, in dem nicht der Teil, sondern das Ganze Bewußtheit und Wirklichkeit werden. Und es ist das Ganze, das im Ur-

sprung gegenwärtig und in der Gegenwart ursprünglich ist.

Was soeben gesagt wurde, ist eine Vor-Aussage, ein Vor-Wort zu dem, was in

diesem Werke ausgeführt werden wird. Dieses Werk richtet sich an jeden Men-

schen, also nicht nur an den, der Wissen schafft, sondern vor allem auch an den, der Wissen lebt. Es ist kein Monolog, kein Postulat, sondern ein Gespräch, und

der Autor sucht dem dadurch Ausdruck zu geben, daD er sich des Wir-Stils bedient

und nicht nur sich selbst, sondern zitierend auch andere zu Wort kommen läßt. Dieses Werk wurde 1932 konzipiert. Jede Konzeption ist aber eine persónliche Sicht, die nur einen persönlichen Evidenz-Charakter hat, nur für den einzelnen

gültig ist. In den seit der grundlegenden Konzeption vergangenen siebzehn Jahren hat der Autor in der Literatur der zahlreichen zu behandelnden Gebiete da und dort Äußerungen gefunden, welche Teilaspekten seiner Grundauffassung teils ähnlich, teils verwandt, teils entsprechend sind. Wenn er also diese Äußerungen in Zitaten und Hinweisen heranzieht, so geschieht es, um dem, was ursprünglich

nur einen persönlich gültigen Evidenz-Charakter trug, nunmehr den allgemeingültigen Evidenz-Charakter zu geben. Er entspricht damit der sittlichen Forde-

rung, an Stelle eines postulierenden Monologs das darlegende Gespräch zu setzen,

also nicht die subjektive Ansicht von der Richtigkeit einer Grundidee vorzutragen, sondern die wahrscheinlich auch objektive Richtigkeit dieser Grundidee mitzuteilen.

Dafür, daß diese Mitteilung erfolgen konnte, habe ich jenen meinen Dank auszusprechen, die zum Gelingen dieses Werkes beigetragen haben. Außer den Freunden, denen mein Dank gilt, richtet er sich an Frau Gertrud und Herrn Walter R. Diethelm, Zürich-Zollikon, und besonders auch an Herrn Dr. Franz Meyer, Zürich, ohne deren Hilfsbereitschaft und Vertrauen ich die jahrelange Arbeit unter wirtschaftlich äußerst schwierigen Umständen nicht hätte bewältigen können. Für die Erlaubnis, einige seltene Abbildungen reproduzieren zu dürfen, danke ich dem British Museum, London; Messrs. Kegan Paul, Trench, Trubner & Co., London; dem Hybernia-Verlag, Basel; der Galerie Rosenberg, Paris; der Galerie Gasser, Zürich, und der Kunsthalle, Bern.

Burgdorf (Kanton Bern), Pfingsten 1949

Jean Gebser

VORWORT

ZUR

ZWEITEN

AUFLAGE

Das vorliegende Werk war seit vier Jahren vergriffen, da die Arbeit an dieser

Neu-Auflage infolge anderer dringender Verpflichtungen immer wieder unterbrochen werden mußte. Im Unterschiede zur ersten Auflage, die in zwei Bänden (1949/53) erschien, wurde

für die zweite Auflage eine neue Einteilung gewählt: der Text der beiden Bände der ersten Auflage wurde, ohne ihn mit den zahlreichen Anmerkungen zu beJasten, in dem vorliegenden Textband zusammengefaßt, während alle Anmerkungen und die Register nunmehr den Inhalt des Kommentarbandes bilden. Da die Mehrzahl der Anmerkungen nicht bloße Literatur- und Quellennachweise sind, sondern wichtige und das Verständnis erleichternde Kommentare oder Exkurse enthalten, dürften sie der Klärung und Vertiefung vieler angeschnittener Themata und Probleme dienlich sein (siehe dazu den „Redaktionellen Hinweis“

auf Seite XXIII).

Der Text wurde nur dort überarbeitet, wo es stilistisch geboten schien und wo

sich infolge seiner Zusammenfassung in einen einzigen, leicht überschaubaren Band

einerseits Streichungen von Wiederholungen,

andererseits geringfügige

Umstellungen als zweckmäßig erwiesen; abgesehen davon wurde die ursprüngliche Fassung nicht verändert, aber sie wurde durch zahlreiche Ergänzungen erweitert und bereichert, wobei auch der Abbildungsteil beträchtlich vermehrt wurde.

Die Ergänzungen

sind jeweils derart abgefaßt worden, daß sie ohne

weiteres als solche erkennbar sind. Um jedoch den Umfang dieses Textbandes nicht ungebührlich zu vergrößern, wurden viele in die Anmerkungen des Kom-

mentarbandes aufgenommen. Diese Ergänzungen waren nötig, weil sich in den Jahren, die seit Erscheinen der ersten Auflage vergangen sind, viel Bedrohliches, aber auch viel Ermutigendes ereignet hat. Das Bedrohliche wird möglicherweise durch jene Einsichten und Werke ausgleichend aufgewogen, die vermöge ihrer geistigen Kraft nicht ohne

Wirkung bleiben werden. Zu diesen Werken

sind vor allem die von Sri Aurobindo und die von Pierre

Teilhard de Chardin zu zählen. Sri Aurobindos wichtigste Werke erschienen

erstmals in den Jahren 1955 und 1957 auf deutsch, diejenigen Teilhard de Chardins seit 1959. Beide entwickeln je auf ihre Weise das Konzept eines sich

XXI

Vorwort zur zweiten Auflage

neu herausbildenden Bewußtseins. Es handelt sich um jenes, das Sri Aurobindo als das ,supramentale bezeichnet hat. Wir haben es unsererseits das ,aperspektivische (arational-integrale)“ genannt und darauf erstmals 1939 in „Rilke und Spanien“, dann 1942 in unserer Schrift „Abendländische Wandlung“ hin-

gewiesen. Die Möglichkeit dieses neuen Bewußtseins sowie sein In-ErscheinungTreten ersichtlich zu machen und seine Eigenart zu beschreiben, war und ist das Hauptanliegen des vorliegenden Werkes, dem 1962 unsere Schrift „In der Bewährung; Zehn Hinweise auf das neue Bewußtsein“ sowie unsere „Asienfibel“ folgten. Es wird Sache des Lesers sein zu beurteilen, inwiefern Parallelen und

inwiefern Divergenzen zwischen den Darlegungen der genannten Autoren und den unseren bestehen, wobei die Unterschiede durch die verschiedenen Ausgangsbasen bedingt sind. Denn obwohl diese menschheitlich und universal orientiert sind, ist die Ausgangsbasis Sri Aurobindos eine reformiert hinduistische, die das westliche Denken integrierte; die Teilhard de Chardins ist katholisch,

während die des vorliegenden Werkes allgemein-abendländischer Art ist. Das aber hindert nicht, daß die Ausführungen des einen die der anderen nicht nur stützen und ergänzen, sondern bestätigen. Weitere Bestätigungen erfuhren unsere Darlegungen auch durch viele wissenschaftliche Disziplinen und durch die Künste. Ihre neuen Forschungsergebnisse,

Erkenntnisse, Einsichten und keiten eine Haltung, die der werden; wir mußten uns auf Diese Hinweise ergänzender

Gestaltungen ergaben bei zahlreichen Persönlichunseren verwandt ist. Nicht alle konnten erwähnt die uns am wichtigsten erscheinenden beschränken. Art dürften sehr wohl eine nicht zu unterschätzende

Bereicherung für die vorliegende Neu-Auflage darstellen.

Nun bleibt dem Autor noch die angenehme Pflicht, seinen Dank für Hilfen, die

zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben, abzustatten.

Mein Dank

richtet sich an die „Werner Reimers-Stiftung für Anthropogene-

tische Forschung“ und ihren Direktor, Herrn Professor Dr. Helmut de Terra, Frankfurt am Main, für eine Förderung, die es mir gestattete, mich einige Zeit ausschließlich den Abschlußarbeiten an dieser Neu-Auflage zu widmen. Und er gilt ebenso Herrn Dr. Heinz Temming, Glückstadt, für die große Hilfe, die er mir durch das Mitlesen der Korrekturen und durch die Erstellung der Register geleistet hat. Schließlich danke ich den Editions Gallimard, Paris und den Editions de Vischer, Rhode-St.-Genèse, für die Erlaubnis, einige Abbildungen reproduzieren

zu dürfen.

Bern, im Februar 1966

Jean Gebser

Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband Auf die Anmerkungen des Kommentarbandes wird im Textband durch hochgestellte Ziffern verwiesen. Da, wie bereits erwähnt wurde (siehe Seite XXI), die Anmerkungen zum allergrößten Teile nicht bloße Literaturnachweise sind, sondern zusätzliche Ausführungen bringen, wurden jene, die derartige Kommentare, Ergänzungen oder Exkurse enthalten, im vorliegenden Textband dadurch

kenntlich gemacht, daB die jeweilige (hochgestellte) Anmerkungsziffer kursiv gedruckt wurde. Der Kommentarband enthält dementsprechend: r. Anmerkungen (Literatur- und Quellennachweise, Kommentare, Ergänzungen und Exkurse); 7-212 2. fünf (umfangreichere) Anmerkungen zur Etymologie; 2143- 236 3. die Namen- und Sachregister. 237- 274 J. G.

Erster Teil

DIE DER

FUNDAMENTE

APERSPEKTIVISCHEN BEITRAG DER

ZU EINER

WELT

GESCHICHTE

BEWUSSTWERDUNG

Erstes Kapitel GRUNDLEGENDE

BETRACHTUNGEN*

Wer heute das Werden einer neuen Epoche der Menschheit als Gewißheit betrachten würde, wer die Überzeugung ausspräche, daß es infolge einer neuen

Geisteshaltung der Menschen, und infolge eines neu sich bildenden Bewußtseins, eine Errettung aus Zusammenbrüchen und Chaos geben könne, der würde ohne Zweifel weniger Glauben finden als jene, die den Untergang des Abendlandes verkündet haben. Der Zeitgenosse der totalitären Staaten, des zweiten Weltkrieges

und der Atombombe scheint eher zur Aufgabe auch seiner letzten Position geneigt als zur Einsicht in einen möglichen Übergang, in ein Neuwerden, in eine Umwandlung oder gar zur Bereitschaft für den Sprung in ein Morgen, obwohl ihm die Vorläufer dieses Morgen,die Zeugnisse dieser Umwandlung, die Spuren des Neuen

und Kommenden

nicht unbekannt

geblieben sein können.

Diese

Reaktion, diese dem Fall zugeneigte Mentalität ist kennzeichnend genug für den Menschen des Übergangs.

In diesem Buch wird nun in der Tat über das Werden einer neuen Welt, eines neuen Bewußtseins Bericht erstattet. Und zwar nicht auf Grund von Wunsch-

bildern oder von Spekulationen, sondern auf Grund von Einsichten in die Muta-

tionen der Menschheit von den Uranfängen bis heute, auf Grund von vielleicht neuen Einblicken in die Bewußtseinsarten der verschiedenen Menschheitsepochen

und in die Kräfte ihrer Verwirklichung, wie sie zwischen Ursprung und Gegenwart, wie sie in Ursprung und Gegenwart lebendig sind. Und so wie die Ganzheit des Anbeginns der vor aller Zeit liegende Ursprung ist, so ist für uns die Ganzheit alles Zeithaften und Zeitlichen die Gegenwart, die voll wirkender Wirklichkeit alle Phasen der Zeit: das Gestern, Heute und Morgen umspannt und selbst Vorzeitliches und auch das Zeitlose einschließt. Die Strukturierung, die wir gefunden haben, scheint uns die Fundamente des BewuBtseins zu erschließen, uns in die Lage zu setzen, einen Beitrag zur Geschichte

der menschlichen Bewußtwerdung zu geben. Diese Strukturierung beruht auf der Erkenntnis, daß sich im Werden nicht nur der abendländischen Menschheit

* Wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß die hochgestellten Zahlen in diesem

Textband auf die Anmerkungen im Kommentarband verweisen, wobei jene Zahlen, die Kursiv gesetzt sind, zum Ausdruck bringen, daß die derart ausgezeichneten Anmerkungen nicht nur einen Literatur-Nachweis enthalten, sondern zusätzliche Ausführungen (Kommentare, Ergänzungen oder Exkurse), worauf bereits im „Redaktionellen Hinweis

auf den Kommentarband“ (siehe vorn S. XXIIT) aufmerksam gemacht worden ist.

4

Grundlegende Betrachtungen

deutlich unterscheidbare Welten abheben, deren Entfaltung sich in Bewußtseinsmutationen vollzogen hat. Die Aufgabe, die sich damit stellt, gründet in einer geistesgeschichtlichen Analyse der verschiedenen Bewußtseinsstrukturen, so wie

sie aus den verschiedenen Mutationen hervorgingen. Wir bedienen uns dazu der Methode, die jeweilige Bewußtseinsstruktur der „Epochen“ aus ihren gültigen Zeugnissen, ihren eigentümlichen Ausdrucksformen - im Bild wie in der Sprache - aufzuzeigen. Diese Methode, die nicht nur

von dem heute vorherrschenden Bewußtseinsgrad ausgeht, versucht die verschiedenen Bewußtseinsstrukturen aus diesen selber, den ihnen zustehenden Mitteln, aus ihrer eigenen Verfassung heraus zu veranschaulichen, darzustellen, sichtbar, fühlbar, hörbar zu machen.

Indem wir zu den Wurzeln der menschlichen Entfaltung zurückgehen, um dann von dorther - uns auf unsere heutige Lage, auf unsere Gegenwart und ihr Bewußtsein zubewegend - alle Strukturen des Bewußtseins zu betrachten, wird sich

uns nicht nur unsere Vergangenheit, nicht nur der gegenwärtige Augenblick

unseres Daseins enthüllen, es wird sich uns auch der Blick in die Zukunft erschlie-

Ben, jener Blick, der uns mitten im Zerfall unserer Epoche schon die Züge einer neuen Wirklichkeit sichtbar macht. Wir glauben, die Wesensmerkmale einer neuen Epoche, dieser neuen Wirklichkeit in fast allen Ausdrucksformen unserer Zeit zu erkennen, nicht nur in den schöpferischen Werken der modernen Kunst, sondern auch in den Erkenntnissen

der modernen Naturwissenschaften sowie in denen der Geisteswissenschaften.

Und wir sind in der Lage, dieser neuen Wirklichkeit eine Bezeichnung zu geben,

die eines ihrer wichtigsten Elemente herausstellt. Es ist eine konkrete Bezeich-

nung, die sich von selbst aus der Feststellung ergibt, daß das Sich-Seinerselbst-

Bewußtwerden des Menschen mit seinem Bewußtsein von Raum und Zeit aufs innigste zusammenhängt. Eine nicht zu verkennende Neukonstellierung der Bewußtseinsstruktur erfolgte kaum ein halbes Jahrtausend zurück, in der Frührenaissance, durch die Entdekkung der Perspektive, mittels derer der Raum erschlossen wurde’. Sie ist derart untrennbar mit der gesamten Geisteshaltung der „Neuzeit“ verflochten, daß es

sich empfiehlt, diese Epoche das „perspektivische“ Zeitalter zu nennen. Damit

wird das der Renaissance unmittelbar vorausgehende Zeitalter als das „unper-

spektivische" charakterisiert. Und ist mit dieser Charakterisierung ein Fundament erkannt, so ergibt sich - und zwar sowohl auf Grund der heutigen Physik wie der bildenden Kunst und Dichtung, die mit der Einbeziehung der Zeit (als der vierten Dimension) in die Raumvorstellung dem Neuen eine erste Manifestationsbasis geschaffen haben - für das neue aufdämmernde Bewußtsein die entsprechende

Bezeichnung; wir können es aperspektivisch nennen. „Aperspektivisch“ ist nicht als Gegensatz oder als bloße Verneinung von „perspektivisch“ zu verstehen. Der

Grundlegende Betrachtungen

5

Gegensatz zu perspektivisch ist unperspektivisch; zwischen den drei Formen unperspektivisch, perspektivisch und aperspektivisch besteht dasselbe Sinnverhältnis wie beispielsweise zwischen unlogisch, logisch und alogisch, oder wie zwischen unmoralisch, moralisch und amoralisch?. Der Gebrauch dieser Bezeichnung „aperspektivisch“ läßt eines deutlich erkennen: daß es gilt, den bloßen Dualismus von

Bejahung und Verneinung zu überwinden. In den sogenannten Urworten ist der Gegensinn noch enthalten gewesen : noch im Lateinischen heißt „altus“ sowohl „hoch“ als auch „tief“, „sacer“ sowohl „heilig“ als auch „verflucht“. Solche Urworte

bildeten noch eine ununterschiedene, psychisch betonte Einheit, deren Doppelwertigkeits-Charakter dem frühen Ägypter und Griechen durchaus gegenwärtig war3. Für unser Sprachbewußtsein ist das nicht mehr der Fall. Deshalb benötigen wir einen Terminus, der sich über die Doppelwertigkeit des Urwortes, aber auch

über den Dualismus der Gegensatzbegriffe stellt. Wir bedienten uns deshalb der

griechischen Vorsilbe „a“, nicht im Sinne des Alpha negativum, sondern in dem

des Alpha privativum, und koppelten es mit dem aus dem Lateinischen abgeleiteten Wort, weil diese Vorsilbe „a“ befreienden Charakter hat (privativum von privare = befreien). In der Bezeichnung „aperspektivisch“ kommt also ein Vorgang der Befreiung zum Ausdruck, einer Befreiung von der ausschließlichen Gültigkeit sowohl der perspektivischen als auch der unsperspektivischen, selbst der praeperspektivischen Gebundenheit. Unsere Bezeichnung enthält also nicht den Versuch, das Unperspektivische und das Perspektivische, die von sich aus koexistent sind, zu einen; sie stellt nicht den Versuch einer Synthese dar, ist keine Versöhnung dessen, was defizient werdend unversöhnlich wurde. Wäre „aperspektivisch“ nur eine Synthese, so würde es nichts anderes als perspektivisch-

rational bedeuten und wäre wie jede Einigung nur begrenzt und vorübergehend gültig, weil jede Einigung von neuer Entzweiung bedroht ist. Uns kommt

es durchaus auf die Ganzheit, letztlich auf das Ganze an; und diesen Versuch einer Gänzlichung drückt auch unser Wort ,aperspektivisch" aus. Es ist die unterscheidende Bezeichnung für eine Wahrnehmung der Wirklich-

keit, die nicht perspektivisch fixiert nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit gibt oder unperspektivisch verfließend nur eine Ahnung der Wirklichkeit erfühlen läßt.

Schließlich sei noch auf die Allgemeingültigkeit des Wortes „aperspektivisch“ verwiesen, das durchaus nicht als Fortprägung kunsthistorischer Begriffe aufgefaßt werden. sollte noch aufgefaßt werden darf. Wir knüpften mit der Einführung dieses Begriffes seinerzeit (1936/39)4 an die sowohl naturwissenschaftliche wie

künstlerische Tradition des Abendlandes an. Die von Leonardo da Vinci vollendete Perspektive hat grundlegende Bedeutung sowohl für unser naturwissenschaft-

lich-technisches als auch für unser künstlerisches Weltbegreifen erhalten. Ohne die Perspektive wären weder technische Modellzeichnungen noch die dreidimen-

6

Grundlegende Betrachtungen

sionale Malerei je möglich geworden. Und Leonardo da Vinci, gleichzeitig Natur-

wissenschaftler, Ingenieur und Künstler, hat sowohl das Modellzeichnen als auch die perspektivische Malerei als erster in größter Vollkommenheit ausgeführt. In dem gleichen Sinne, nämlich sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch, hat

die Aperspektive Gültigkeit. Diese Bedeutungs-Grundlage sollte nicht übersehen werden. Der Begriff „aperspektivisch“ erhält von dorther seine Legitimation, sowohl natur- und geisteswissenschaftlich als auch künstlerisch verbindlich und anwendbar zu sein.

Wir hoffen nachzuweisen, daß uns die aperspektivische Welt, die wir entstehen sehen, von dem überständig gewordenen Erbe zweier anderer Welten befreien

kann: von dem der unperspektivischen und dem der perspektivischen Welt. Sehr verallgemeinernd dürfen wir sagen, daß die unperspektivische Welt der ratiound ego-betonten perspektivischen vorausging, die mit Leonardos Anwendung der Perspektive in Erscheinung trat (nachdem sie in der Spätantike entdeckt und vorweggenommen worden war). So betrachtet, ist die unperspektivische Welt

eine Welt der Kollektivität, die perspektivische aber eine Welt der Individualität. Mit anderen Worten: die unperspektivische Welt ist auf das anonyme „Man“ oder ,,(Sippen-) Wir bezogen, die perspektivische aber auf das Ich; die eine Welt ist im Sein zu Hause, die andere, die in der Renaissance begann, im Haben; die frühere ist vorwiegend irrational, die spätere vorwiegend rational.

Heute sind beide Formen - wenigstens im Abendland - nur noch in einer verdorbenen und deshalb fragwürdig gewordenen Spielart vorhanden. Das zeigt sich deutlich in der soziologischen und anthropologischen Fragestellung, die heute die

abendländische Diskussion beherrscht: mit solcher Heftigkeit diskutiert man nur,

was als ungelöstes Problem auf den Nägeln brennt. Die heutige Situation zeigt

einerseits einen ins Extrem gesteigerten Individualismus rein egozentrischen

Charakters, der alles haben will, andererseits einen ins Extrem gesteigerten Kollektivismus vermassenden Charakters, der alles zu sein sich anmaßt; hier

herrscht eine vollständige Geringschätzung des Individuums, das nicht einmal mehr als Nummer bewertet wird, dort eine Überwertung des Individuums, dem

alles gestattet wird, dessen es irgend fähig ist. Diese defiziente (also destruktiv sich auswirkende) duale Aufspaltung trennt nicht nur (etwa politisch oder ideologisch) die Welt in zwei einander bekämpfende Lager, sondern ist heute durchgängig

in jedem Lager nachweisbar. Es ist anzunehmen, daß auf die Dauer keine der beiden Ideologien siegen kann, da beide ihren äußersten Extremen zustreben; alles aber, was ins Extrem führt, führt von der Mitte und vom Kern fort und

geht eines Tages im Äußersten unter: die Distanz zwischen Mitte und Extrem ist zu groß geworden, so daß das verbindende Band reißt. Und es scheint, als sei es bereits gerissen, denn es wird immer deutlicher, daß das Individuum in die Iso-

lation hinausgetrieben wird und das Kollektiv in die Vermassung hineinsinkt.

Grundlegende Betrachtungen

7

Einzelung und Vermassung sind aber Zeichen für einen defizient gewordenen

Individualismus und einen defizient gewordenen Kollektivismus.

Wenn uns dieser Sachverhalt klargeworden ist, so ist damit auch deutlich gcworden, was allein zu einer Überwindung dieser gefährlichen Situation führen kann: ein Ordnen nicht nur unserer Beziehungen zum Du, wobei dieses Du für Gott, die Welt und den Mitmenschen oder den Nächsten steht, sondern auch unserer Beziehungen zum Ich. Das scheint nur möglich, wenn wir das Ganze unserer menschlichen Existenz in unser Bewußtsein aufzunehmen bereit sind, das heißt: alle Strukturen unseres Bewußtseins, die unser heutiges Bewußtsein bilden und

tragen, sollten in ein intensiveres als das bisherige integriert werden, wodurch

uns eine neue Wirklichkeit erschlossen würde. Dazu gehört die volle Tiefe unserer

Vergangenheit, die wir in einem entscheidenden Sinne immer wieder erleben und erfahren müssen. Wer seine Vergangenheit leugnet oder verdammt, begibt

sich seiner Zunkunft; das trifft für jeden einzelnen Menschen ebenso zu wie für die Menschheit. Und wenn wir für ein Ordnen, für ein Bewußtwerden unserer

Beziehungen zum Ich wie zum Du plädieren, so handelt es sich dabei in hohem

Maße um ein Ordnen und Bewußtwerden unseres Ursprungs und alles dessen, was zu unserer Gegenwart führte. Erst angesichts des ganzen Menschen werden wir den Abstand zur heutigen Situation gewinnen, den Abstand sowohl zu der nur un-

perspektivischen Bindung an das Kollektiv als auch den zu der nur perspektivischen Bindung an das Ich. Wird uns bewußt, was an den vergangenen oder vergehenden Formen der Wirklichkeitserfassung schlackenhaft ist, was erschöpft ist, so werden wir deutlicher die Zeichen des notwendig Neuen erkennen und deutlicher spüren, daß neue Quellen erschließbar sind: die Quellen der neuen, der aperspektivischen Welt, die uns von den beiden erschöpften (defizienten) Formen

befreien können, die bereits weitgehend nicht mehr gültig, in jedem Falle aber

nicht mehr allein ausschlaggebend sind.

Mit diesem Buch stellt sich für uns die Aufgabe, diese aperspektivische Basis zu er-

arbeiten. Es wird sich dabei weniger auf die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse stützen (wie es der Verfasser in seinem früheren Buch „Abendländische Wandlung“ getan hat), sondern in der Hauptsache auf geistesgeschichtliche Ge-

gebenheiten. Und unter den geistesgeschichtlichen Disziplinen wird es vornehmlich die der Sprache sein, aus der wir unsere Einsichten gewinnen; die Sprache ist das Mittel par excellence, vermöge dessen der Einzelne mit der Welt und die

Welt mit dem Einzelnen kommunizieren. Es kann sich nicht darum handeln, ein Postulat zu geben; es kann sich nur um eine Darstellung der latent in uns und in unserer Gegenwart vorhandenen Möglichkeiten handeln, die im Begriff sind, akut, also wirkend und damit Wirklichkeit zu werden. Deshalb gehen wir in den nachfolgenden Ausführungen von zwei grundsätzlichen Überlegungen aus:

8

Grundlegende Betrachtungen

1. Mit einer bloßen Interpretation unserer Zeit ist nichts getan; es bedarf des Nachweises konkreter Erscheinungen, die als Neues sichtbar werden und das Antlitz nicht nur unserer, sondern der Zeit als solcher verändern.

2. Eine Überwindung des jetzigen Zustandes der Welt, die wahrscheinlich ihren rationalistischen und technokratischen Hóhepunkt bald erreichen wird, kann weder durch die Ratio noch durch die Technokratie, aber ebensowenig durch ein Predigen und Mahnen zu Ethos und Moral oder durch ein irgendwie geartetes Zurück geschehen.

Wir können nur eins tun: In der Betrachtung aller Äußerungen unserer Zeit so weit und so tief vorzustoßen, daß uns die dämonischen und zerstörenden Aspekte nicht mehr bannen, so daß wir nicht nur sie sehen, sondern hinter und unter ihnen

die unermeßlich starken Keimlinge des Neuen wahrnehmen, für das die einstürzende Welt den Humus liefert. Diese Keime und Ansätze müssen sichtbar und einsehbar gemacht werden. Und die Einsicht in die Kräfte, die zur Entfaltung drängen, hilft ihrerseits diesen Kräften, sich zu entfalten.

Wir werden aufzuzeigen haben, daß sich Ansätze zum Neuen auf allen Gebieten der menschlichen Ausdrucksformen finden und daß ihnen allen ein gemeinsamer Charakter innewohnt. Dieser Nachweis wird jedoch nur gelingen, wenn wir über die Ausdrucksformen unserer Vergangenheit und Gegenwart genauestens Bescheid wissen. Deshalb ist die Aufgabe des ersten Teiles dieser Schrift die Erarbei-

tung der Fundamente der Vergangenheit und Gegenwart, die zugleich die Fundamente des neuen Bewußtseins sowie der diesem Bewußtsein entspringenden neuen Wirklichkeit sind. Die Aufgabe des zweiten Teiles wird es dann sein, dieses neue Bewußtsein, soweit seine Ansätze bereits sichtbar geworden sind, darzustellen.

Wir werden also von Gegebenheiten und nicht von Wunschbildern ausgehen. Wunschbilder haben angesichts der heutigen Zerstörungswaffen weniger denn je Bestand. Aber es wird sich zeigen, daß nicht nur diese Waffen und die Atomspaltung Wirklichkeiten sind, mit denen wir rechnen müssen, sondern daß auch

die geistige Wirklichkeit in einer potenzierten Form wirksam zu werden beginnt. Diese

neue geistige Wirklichkeit ist ohne jeden Zweifel die einzige Sicherheit dafür, daß

die drohende materielle Zerstörung gebannt werden kann, und allein ihre Verwirklichung scheint einen Weiterbestand der Menschheit gegen die Mächte der Technik, der Ratio und der chaotischen Seelenstimmung zu gewährleisten. Bewältigt unser Bewußtsein, und zwar die Bewußtheit und die Wachheit und die Klarheit des einzelnen es nicht, dieser neuen Wirklichkeit zum Durchbruch und zur Wirkung zu verhelfen, so würden die Untergangspropheten recht behalten. Alles andere ist Illusion. Damit sind große Forderungen an jeden von uns ge-

stellt, und jeder von uns ist mit Verantwortung beladen. Der sich eröffnende neue

Weg darf nicht nur überblickt, er muß gegangen werden. Es gibt genug historische Beispiele von Untergangskatastrophen ganzer Völker

Grundlegende Betrachtungen

9

und Kulturen; es sind Untergänge, die durch den Zusammenstoß defizient gewordener, erschöpfter, nicht mehr zum Fortbestand ausreichender Haltungen mit

neuen, kräftigeren und in gewissen Eigenschaften überlegenen Haltungen ausgelöst wurden. Wir wollen nur an ein Ereignis erinnern, das eine Vorstellung von

solchen Entscheidungen geben kann. Es spielte sich ab im Zusammenstoß der magisch-mythischen unperspektivischen Welt und Wirklichkeit der mittelamerikanischen Azteken mit der rational-technischen perspektivischen Haltung der

spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert. Eine Beschreibung dieses erschütternden Ereignisses findet sich in der aztekischen Geschichts-Chronik des Fray Bernardino

de Sahagün, die, acht Jahre nach der Eroberung Mexikos durch Fernán Cortés,

auf Grund von Berichten der Azteken niedergeschrieben wurde. Der Beginn des dreizehnten Kapitels dieses Buches, das die Eroberung der Stadt Mexiko schildert,

lautet folgendermaßen :5

„Das dreizehnte Kapitel; darin wird erzählt, wie Montecuhgoma, der mexikanische König, andere Zauberer schickt, daß sie die Spanier zu behexen suchen sollten, und was ihnen auf dem Wege geschah. Und die zweite Schar von Boten, die Wahrsager, die Zauberer

und die Räucherpriester,

gingen ebenfalls sie zu empfangen (ihnen entgegen). Aber sie taugten nichts mehr, sie konnten die Leute nicht mehr bezaubern, sie konnten ihren Zweck bei ihnen nicht mehr erreichen,

sie gelangten (sogar) nicht mehr hin.“

Es gibt kaum einen zweiten Text, in dem auf so kurzem Raum und mit so wenigen,

sich eindringlich wiederholenden Worten das Zusammenbrechen einer ganzen Welt, einer ganzen bis dahin gültigen und wirksamen menschlichen Haltung beschrieben wird: die magisch-mythische Haltung der Mexikaner wirkte „bei ihnen

(den Spaniern) nicht mehr“, sie zerbrach in dem Augenblick, da sie auf die ratio-

nal-technische traf. Dabei ist nicht — wie der kausal- und materiegläubige Europäer von heute anzunehmen geneigt sein wird - die materielle Überlegenheit des

Spaniers entscheidend gewesen, sondern die Schwäche des mexikanischen und die Stärke des spanischen Bewußtseins. Es ist der grundlegende Unterschied zwischen dem ichlosen, clan- und kollektivgebundenen Menschen und dem ichbewußten, individualisierten. Denn der Zauber, der echte, magische Zauber, der

für die Mexikaner ein tragendes Bewußtseinselement kollektiver Art war, wirkt nur auf die clanmäßig Gleichgestimmten; an nicht clanmaBig Gebundenen und

IO

Grundlegende Betrachtungen

Gleichgestimmten prallt er ab. Nicht der Besitz überlegener Waffen, nicht in

erster Linie dieser Besitz, sondern der eines Ichbewußtseins machte den damaligen Spanier den Mexikanern überlegen, und zwar derart überlegen, daß sich die

Mexikaner fast kampflos ergaben. Hätten sie aus ihrer ichlosen Haltung heraustreten können, so wäre der Sieg der Spanier zweifelhaft und gewiß nicht so leicht gewesen. Was in unserem Zusammenhang an diesem Vorgang interessiert, ist nicht die

historische Situation des Zusammenpralls verschieden mächtiger Völker, sondern die Überwindung des magischen Clanbewußtseins, dessen stärkste Waffe der magische Zauber war, durch das rationale Ichbewußtsein. Heute steht dieses rationale Ichbewußtsein, dessen stärkste Waffe die technische Atomspaltung ist, vor einer ähnlich katastrophalen Situation des Versagens — und deshalb könnte es durch ein neues Bewußtsein überwunden werden. Wir sind überzeugt, daß aus uns selber die Kräfte kommen, ja daß diese Kräfte bereits wirksam sind, um alles

Defizient- und Fragwürdig-Gewordene unseres rationalen Ichbewußtseins durch das überall schon machtvoll zur Äußerung drängende neue, eben das aperspek-

tivische Bewußtsein zu überwinden. Diese aperspektivische Bewußtheit ist ein

Ganzheitsbewußtsein, das die ganze Zeit und das die ganze Menschheit und ihre tiefe Vergangenheit und Zukunft als eine lebendige Gegenwart umfaßt. Nur

durch einsichtige Bewußtwerdung kann diese neue geistige Haltung allmählich Wurzel fassen. Sie muß aus der Verborgenheit, in der sie jetzt noch lebt, zur

Wirksamkeit gelangen. Und sie wird jene Durchsichtigkeit der Welt und des

Menschen vorbereiten, in der das Geistige in Erscheinung treten kann. Der erste Teil dieses Werkes, der den Fundamenten der aperspektivischen Welt gewidmet ist, soll den Nachweis für die Möglichkeit dieser neuen geistigen Haltung erbringen. Dieser Nachweis stützt sich auf zwei Leitsätze, deren Gültigkeit

deutlich werden wird:

I. Das Verborgene (die Latenz) ist die nachweisbare Gegenwart (Präsenz) der Zukunft.

In die Latenz einbegriffen ist sowohl, was sich noch nicht manifestiert hat, wie auch alles, was wieder in die Latenz zurückgesunken ist; da es sich hierbei vor-

nehmlich um BewuBtseins- und Integrationsphänomene handelt, werden wir auch die Probleme der Geschichte, der Seele, der Zeit, des Raumes und der

Denkformen einer Betrachtung unterziehen.

Da der zweite Teil dieses Werkes den Manifestationen des neuen Bewußtseins gewidmet ist, müssen im ersten Teil die Manifestationen der früheren und der heutigen Bewußtseinsstrukturen geklärt werden. Es wird der Nachweis für die sich anbahnende Konkretion der Zeit und des Geistigen versucht werden, welche die Voraussetzung der aperspektivischen Welt bildet, der Nachweis

für das immer stärkere Wirksamwerden jener geistigen Wirklichkeit (die nicht etwa bloß ein seelischer Zustand oder eine intellektuell-rationale Vor-

Grundlegende Betrachtungen

II

stellungsform ist). Damit wird die Gültigkeit unseres zweiten Leitsatzes deutlich werden: 2. Das Durchscheinende (das Diaphane oder die Transparenz) ist die Erscheinungsform

(Epiphanie) des Geistigen.

Es handelt sich also um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und

vor ihr Verborgenen, um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer ganzen menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält; denn auch das Zukünftige und nicht nur Gestriges und Heutiges bilden und bestimmen uns. Es handelt sich also um das Durchsichtigmachen des ganzen Menschen und nicht bloß um die Schilderung einzelner Ausschnitte, Stufen oder Ebenen, sondern der verschiedenen ineinanderspielenden und jeden Menschen konstituierenden Bewußtseinsstrukturen. Diese Diaphanie unserer Existenz wird sich besonders deutlich in allen Übergangsperioden zeigen; und aus den Erfahrungen der Übergangsmenschen, die sie mit dem Verborgenen der aufdämmernden Zukunft machten, als sie ihrer gewahr wurden, werden wir unsere Gegenwartserfahrung klären. Es erübrigt sich, nochmals darauf hinzuweisen, daß wir für eine solche Untersuchung anderer BewuBtseinsstrukturen nicht die Methoden unserer heutigen Bewußtseinsstruktur anwenden können, sondern daß wir die Methode wechseln

müssen je nach der Struktur des Bewußtseins, die wir zu untersuchen haben. Ein solches Aufgeben einer einheitlichen Methodik braucht kein Zurückfallen in das Unmethodisch-Irrationale zur Folge zu haben, das nur ein aufrufendes Beschwö-

ren oder versinkendes Schauen wäre. Die Methoden unserer Zeit sind weitgehend dualistische Verfahren, die über die bloße Subjekt-Objekt-Beziehung nicht hinausreichen.

Mit ihnen läßt sich nur erfassen, was der heutigen europäischen

Mentalität gemäß ist. Und wenn sie messend auch weitgehend auf das Maß abstellen, so ist doch jede durch den Gegensatz von Maß und Masse bedroht, wie das noch im weiteren ausgeführt werden wird. Unsere „Methode“ ist nicht nur

ein maßvolles Messen, sondern darüber hinaus auch ein Durchsichtigmachen; sie ist der Versuch einer Diaphanik. Mit Hilfe ihrer wird der neuen Subjekt-ObjektBeziehung jedoch zugänglich sein, was „hinter“ der heute herrschenden Mentalität (als vergangener) und was „vor“ ihr (als zukünftiger) liegt. Denn diese SubjektObjekt-Beziehung ist nicht mehr dualistisch, ohne daß sie deshalb den Menschen mit dem Subjektverlust oder mit der Objektidentifizierung bedrohte. Obwohl sie erst im Entstehen ist, werden wir von ihr schon Gebrauch machen müssen. Zusammenfassend sei gesagt, daß es sich bei unserer Darstellung weder um ein neues Weltbild noch um eine neue Weltanschauung oder eine neue Weltvorstellung handelt. Ein neues Weltbild wäre nichts als eine neue Mythisierung, denn allem Bildhaften eignet vornehmlich Mythencharakter; eine neue Weltanschauung wäre nur eine neue Mystik (und Irrationalisierung), denn allem Anschauen, in-

12

Grundlegende Betrachtungen

sofern es eben Schau ist, eignet vornehmlich Mystikcharakter; eine neue Weltvorstellung aber wäre nichts als eine der schon zahlreich vorhandenen Rationalisierungen, denn allem Vorgestellten eignet vornehmlich rationaler Abstraktions-

Charakter. Uns kommt es auf eine neue Wirklichkeit an, die ganzheitlich wirkende Wirklichkeit ist; in welcher Potenz und Akt als Wirkendes und Bewirktes gegenwärtig sind; in welcher der Ursprung dank der Gegenwärtigung neu aufblüht und in der die Gegenwart umfassend und ganzheitlich ist. Diese ganzheitliche Wirklichkeit ist Weltdurchsichtigkeit, eine Weltwahr-Nehmung: ein Wahr-Nehmen und Wahr-Geben der Welt und des Menschen und alles dessen, was die Welt und den

Menschen durchscheint.

Zweites Kapitel DIE

DREI

EUROPÄISCHEN

WELTEN

1. Die unperspektivische Welt Nirgends läßt sich der Wandel des europäischen Weltgefühles und der europäischen

Weltbetrachtung so deutlich ablesen wie an der Malerei und Architektur. Nur die Einsicht in diesen Wandel wird uns Wesen und Bedeutung neuer Stilarten und Ausdrucksweisen ins rechte Licht rücken. In der Fülle der Stilarten, welche die darstellende Kunst der nachchristlichen Zeit aufweist — und es soll vorerst nur von dieser Zeit die Rede sein ~, können wir

zwei große, in sich geschlossene Epochen unterscheiden und daran anschließend eine dritte, die heute erst in ihren Anfängen steht: die erste, bereits abgeschlossene

Epoche umfaßt die Zeit bis zur Renaissance, die andere, vor ihrem Abschluß

stehende, reicht bis zur Gegenwart. Das entscheidende und unterscheidende Merkmal für diese Epochen ist das Fehlen oder aber das Vorhandensein der Perspektive. Wir bezeichnen darum die erste Epoche als „unperspektivisch“, die zweite als »perspektivisch" und die neu in Erscheinung tretende Epoche als „aperspektivisch".:

Es wird sich bald zeigen, daß diese Bezeichnungen nicht nur ästhetisch und kunst-

historisch, sondern auch geistes- und seelengeschichtlich Geltung haben.

Die

realisierte Perspektive bedeutet Erschließung, also Bewußtwerdung, des Raumes. Die noch nicht realisierte Perspektive bedeutet dagegen, daB der Raum noch im Menschen schläft oder daß der Mensch noch im Raume schläft, da er zu ihm noch nicht erwacht ist. Dieser Zustand drückt weiter aus, daß der Mensch in der unperspektivischen Welt sich noch nicht selber gehórt, sondern einer Einheit, nämlich der Sippe oder einer Gemeinschaft bzw. der Gemeinde: der Akzent liegt

noch nicht auf dem Ich, sondern auf der Gemeinschaft (der qualitativen Form des Kollektivs), er liegt noch nicht auf dem Persónlichen, sondern auf dem Unper-

sönlichen. Diese unperspektivische Welt ist die der Bilderhandschriften, des Goldgrundes und der frühromanischen Malerei, in die erst die Gotik, als Ankün-

digung der Renaissance, eine Akzentverschiebung brachte, denn noch herrschten die Elemente vor, welche die mittelmeerische Antike konstituierten; der Raum ist noch nicht in unserem Sinne Tiefenraum, sondern einerseits Höhle (und damit auch Gewölbe), andererseits bloßer Zwischenraum. In beiden Fällen ist er also un-

unterschiedener Raum: ein Eingebettetsein in die Welt spricht aus diesem Sachver-

halt, eine uns kaum mehr vorstellbar dichte Verbundenheit von außen und innen,

14

Die drei europäischen Welten

eine uns kaum mehr nachfühlbare Entsprechung von Seele und Natur. Nur allmählich, durch das langsam sich ausbreitende und sich kräftigende Christentum, wird dieser Zustand zerstört; mit der Distanzierung zur Natur, die es predigt,

wird aus der Zerstörung eine befreiende Tat.

Das Fehlen eines Raumbewußtseins schließt das Fehlen eines Ichbewußtseins ein, da zur Objektivierung des Raumes und zu seiner Qualifizierung ein sich-seiner-

selbst-bewußtes Ich gehört, das sich diesem Raum gegenüberzustellen und ihn, aus der Seele entäußernd, auch darzustellen vermag. So betrachtet, sind Wor-

ringers Sätze über den Mangel jeglichen Raumbewußtseins in der ägyptischen Kunst? durchaus gültig: „Nur als Rudiment einer urzeitlichen Raum- und Höhlenmagie spielt der Raum in der ägyptischen Baukunst eine Rolle... Der Ägypter

war ... dem Raum gegenüber . . . neutral und indifferent. Das Raumhafte lebte in seinem . . . Bewußtsein gar nicht als . . . Potenz. Nicht überräumlich war seine Gesinnung, sondern vorriumlich. Raumlos war seine Oasenzuchtkultur ... Sie [diese Kultur] kannte architektonisch nur Raumbegrenzungen, Raumgehäuse, aber keine Rauminnerlichkeit. Wie ihre Reliefzeichnungen ohne Schattentiefe waren, so waren ihre Architekturen ohne Raumtiefe. Die dritte Dimension, die eigentliche Dimension der Lebensspannung, ward nur als Quantität, nicht aber

als Qualität empfunden. Wie sollte da der suchenden Ausdehnung, losgelöst von allen ins Bewußtsein kommen? ... dem Ägypter sein.“ Und nicht nur in der frühen Antike, sondern

Raum, dieses Moment der tiefenKörpern, als selbständige Qualität fehlte ... alles räumliche Bewußtauch in der Epoche vor der Renais-

sance müssen wir den gänzlichen Mangel eines qualitativen objektivierten Raum-

bewuBtseins feststellen. Und zwar trotz, ja gerade auch infolge der Euklidischen Geometrie. Indirekt hat diesen Sachverhalt v. Kaschnitz-Weinberg3 bewiesen. Er hat die zwei gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Strukturelemente der antiken Kunst und deren Heraufkunft aus dem Megalithikum (der Steinzeit) herausgearbeitet: das eine ist die vornehmlich von Nord- und Westeuropa in das Mittelmeergebiet eindringende und vor allem den griechischen Baustil beein-

flussende Dolmenarchitektur, die phallischen Charakters ist, und in der griechischen Säulenarchitektur (wie jener des Parthenon) weiterlebt. Hier ist der Raum bloßer Zwischenraum, der zwischen den aufgerichteten Säulen übrigbleibt und dessen Struktur durch die Vertikale und die Horizontale der tragenden und lastenden Steine bestimmt wird und somit dem Euklidischen „Würfelraum“ entspricht*. Das andere Strukturelement der antiken Kunst sieht v. Kaschnitz-Weinberg in der

aus dem Orient, vornehmlich aus dem Iran, in das Mittelmeergebiet eindringenden und vorallem die spátantike, römische Architektur beeinflussenden Höhlenarchitektur, die uterischen Charakters ist und die in der römischen Kuppelarchitektur (wie

jener des römischen Pantheon oder der Thermen usw.) weiterlebt. Hier wird der

1. Die unperspektivische Welt

I$

Raum bloßer Gewólberaum, den orientalischen Mutterreligionen entsprechend ein Hóhlenraum, mit dem Nachklang an die gewaltige kosmologische Konzeption, wonach das Weltall selbst nichts anderes ist als eine ungeheuere Hóhles. Und

es sei hinzugefügt, daß Platon in seinem „Höhlengleichnis“ als erster jenen Men-

schen beschrieben hat, der aus der Hóhle herausgetreten war. Wir kónnen also sagen, der „Raum“ der Antike ist ein ununterschiedener Raum, ein bloBes In-Sein, nämlich ein behütetes Im-Mutterschof)-Sein, der keine Konfrontation mit dem

tatsächlichen Außenraum ausdrückt. Und in dem konstituierenden Vorherrschen der beiden polaren Elemente des Väterlichen (Phallus - Säule) und des Mütterlichen (Uterus - Höhle), unter deren bindende Macht sich der unperspektivische Mensch stellte, spiegelt sich seine eigene Unabgelöstheit von der Elternwelt und damit seine Gebundenheit, die ein Ichbewußtsein in unserem heutigen Sinne ausschließt: er lebt noch geborgen und eingeschlossen in der distanzlosen Welt des Wir, und das Außen, der objektive Raum, ist demzufolge

noch inexistent. Erst die christliche Baukunst brachte dann jene Zusammenfassung der beiden polaren Elemente, welche die raumlosen Grundlagen des antiken

Weltbildes konstituierten; im christlichen Kirchenbau gehen zum erstenmal diese

beiden polaren Elemente (deren Symbolgehalt sich nicht durch die Akzentuierung des Sexuellen, wie wir noch sehen werden [s. S. 77], sondern des seelischmythischen Aspektes auszeichnet) jene kreative Verschmelzung ein, welcher der Menschensohn entstammt. Denn in der christlichen Kirchenarchitektur bilden Säulen und Turm mit Gewölbe und Kuppel zum erstenmal jene Dualität, welche die Trinität ermöglicht, die sich im Sohne als Menschen darstellt, dem Menschen,

der sich seinen Raum schaffen wird.

So gesehen ist es nicht verwunderlich, wenn sich um die Zeit Christi bereits inner-

halb der Welt der Spätantike deutlich ein Wandel vorbereitet, dessen tief einschneidende Wichtigkeit und dessen Kühnheit wir uns vergegenwärtigen können, wenn wir die etwa ab 1250 n. Chr. sich vorbereitende Renaissance betrachten,

jene Epoche, welche die Stilelemente aufnimmt, die sich zur Zeit Christi ans Licht wagten: wir meinen die ersten Ansätze zu einer perspektivischen Raumdarstellung

auf pompejanischen Wandmalereien®. Auf ihnen finden wir außer ersten tungen landschaftlicher Motive sogar Stilleben, eine Tatsache, in der zum mal eine Objektivierung der Natur sichtbar wird, die sich gleichzeitig römischen Gartenanlagen genauso äußert, wie sie sich in den idyllischen

Andeuerstenin den Natur-

schilderungen der späten bukolischen Poesie ankündigte, etwa in den „Eclogae“

eines Vergil. Vornehmlich an diese neuartigen Elemente der antiken Kultur knüpfte die Renaissance an und brachte ihre Ansätze zur Blüte, indem sie aus einer zweidimensionalen Welt eine dreidimensionale, aus der unperspektivischen die perspektivische Welt erstehen ließ.

2. Die perspektivische Welt

Diese perspektivische Welt, die in der spätantiken, mittelmeerischen Welt vorgeformt wurde, begann in der europäisch-christlichen Welt etwa vom Jahre 1250 n. Chr. ab ihren Ausdruck zu finden. Hatte im Gegensatz zum ägyptischen Kórpergefühl -- das hieratisch gebunden, kanonmäßig, fast schablonenhaft un-

persönlich und vorhuman, also in unserem Sinne noch inexistent war - das griechische Kórpergefühl bereits eine gewisse Individualisierung des Menschen zum Ausdruck gebracht, so wird sich jetzt im ausgehenden Mittelalter der Mensch langsam nicht nur seines Körpers, sondern er wird sich dieses Körpers als Trägers scines Ich bewußt: er ist nicht mehr nur Mensch, sondern dieser eine, bestimmte Mensch, und sein Spiegel ist nicht mehr die nur idealisierte Büste oder Miniatur des Idealtypus eines Cäsar, eines Philosophen oder Dichters’, sondern das von

Jan van Eyck geschaffene Porträts,

Der Erfassung des Menschen als Subjekt liegt eine Erfassung der Welt und der

Umwelt als Objekt zugrunde. Diese Objektivierung des Außen kommt in der Malerei zum erstenmal bei Giotto zu einem noch tastenden Ausdruck. Die frühsienesische Malerei und besonders die Welt der Miniaturmalerei ist eine unrium-

liche, in sich kommunizierende, flächenhafte Welt, die aus dem Symbolgehalt

lebt und nicht aus dem, was wir heute Realitätsgehalt nennen; diese „Bilder“ der unperspektivischen Zeit sind gleichsam in der Nacht gemalt, wo die Dinge schattenlos und flächenhaft sind, wo die Dunkelheit den Raum verschluckt hat, so daß

nur seine immaterielle psychische Komponente ausdrückbar bleibt und auch ausgedrückt wurde. Mit Giotto aber wird dann jener Raum sichtbar, der bis dahin nur latent in der Nacht des Unbewußten des kollektiv gebundenen Menschen

schlief: die ersten räumlichen Darstellungen in der Malerei entstehen und weisen

die ersten Ansätze zur Perspektive auf. Ein ganz neues seelisches Raumbewußtsein, das sich aus der Seele in die Welt entäußert, beginnt sich Bahn zu brechen; ein Raumbewußtsein, dessen Tiefe in der Perspektive sichtbar wird. Dieser seelische Innenraum kommt zum Durchbruch, da die Troubadours (seit 1250) die ersten lyrischen Ich-Gedichte schreiben, die ersten persönlichen Gedichte, die plötzlich einen Abgrund zwischen Welt (oder Natur) und dem dichtenden Men-

schen aufreißen. Gleichzeitig bringt Thomas von Aquin in der Nachfolge seines

Lehrers Albertus Magnus an der Universität von Paris Aristoteles zur Geltung und leitet damit die rationalisierende Ablösung von der noch vorwaltend psychisch-

gebundenen platonischen Welt ein, nachdem Petrus Hispanus, auch Petrus Lusi-

tanus9 genannt, der spätere Papst Johannes XXI. (gest. 1277), mit seiner großen Schrift „De Anima“:° das erste umfassende europäische Lehrbuch der Psychologie verfaßt hatte, das über die islamische Tradition und Spanien die aristotelische Seelenlehre nach Europa hineintrug. Etwas später löst dann Duns Scotus (gest.

2. Die perspektivische Welt

17

1308) die Theologie aus der hieratischen Strenge der Scholastik und lehrt den Primat des Willens und des Gefühls. Und die Zeitblindheit der Antike, die der unperspektivischen, seelisch betonten Welt entsprechend fast eine Zeitlosigkeit

war, weicht zum erstenmal einer Zeitaufgeschlossenheit und einer Sichtbarmachung

der Zeit, die meßbar räumlichen Charakter hat, als im Jahre 1283 die erste öffentliche Uhr im Palasthof von Westminster aufgestellt wird, ein Ereignis, das durch Papst Sabinus vorbereitet wurde, der im Jahre 604 befahl, durch Glockenschläge

den Stundenlauf zu künden. Wir werden noch ausführlich auf das Zeitproblem

eingehen, möchten aber bereits hier feststellen, daß ein lang vergessener, wesens-

gemeinsamer Zusammenhang zwischen Zeit und Seele besteht. Noch der Innenhimmel der Antike mit seinem Höhlencharakter ist Ausdruck der noch nicht zu einem räumlichen, die Zeit messenden Zeitbewußtsein erwachten Seele. Jener „Himmel des Herzens“ aber, von dem ein Origenes!! sprach, und der eben ein Innenhimmel war, wird in den ersten landschaftsbezogenen Himmelsdarstellungen entäußert, welche die Brüder Ambrogio und Pietro Lorenzetti!2 etwa um

1327/28 auf den Fresken in S. Francesco zu Assisi erstehen ließen. Dabei müssen wir betonen, daß diese ersten Himmels- und Landschaftsdarstellungen durchaus nicht zufällig Nachtbilder sind, in denen ein natürlicher und kein symbolhaft astral-mythischer Mond sichtbar wird. Der Himmel dieser Fresken hat im Gegensatz zu dem Höhlenhimmel der Frühzeit nicht mehr einschließenden Charakter,

er wird vom Blickpunkt des Malers aus dargestellt und ist Ausdruck nicht mehr des unperspektivischen In-Seins, sondern eines beginnenden perspektivischen Gegenüber-Seins. Der Mensch ist nicht mehr nur in der Welt, sondern er beginnt sie zu haben; aus einem, der selber Besitz (nämlich des Himmels) war, wird einer, der beginnt, wenn auch nicht den Himmel, so doch vielleicht die Erde bewußt zu

besitzen. Das ist sowohl Gewinn als Verlust.

Uns ist ein Dokument erhalten geblieben, in dem sich dieses Gefühl von Verlust

und Gewinn, von Aufgabe und Anfang auf eine ergreifende Weise spiegelt, und das uns mit wenigen Sätzen den Kampf in einem einzelnen Menschen veranschaulicht, der sich auf der Grenzscheide zweier Welten befindet. Es handelt sich

um jenen groDen Brief Francesco Petrarcas, den der ZweiunddreiDigjihrige im

Jahre 1336 an Dionigi Roberti da Borgo San Sepolcro schrieb; er steht als erster Brief im vierten Buch seiner ,,Familiari“!3 und beschreibt Petrarcas Besteigung des Mont-Ventoux. Diese Darstellung ist für die damalige Zeit ein geradezu epochales Ereignis, denn sie bedeutet nichts Geringeres als die Entdeckung der Land-

schaft, und in ihr kommt ein erstes Aufleuchten jenes Raumbewußtseins zum Durchbruch, das in der Folge grundlegend die Stellung des europäischen Menschen in und zu der Welt verändert. Der Mont-Ventoux liegt nordöstlich von Avignon, dort, wo die Rhone die französischen Alpen von dem Hügelland der Cevennen

und dem gebirgigen

18

Die drei europäischen Welten

Zentralmassiv Mittelfrankreichs scheidet. Er ist ein Berg, der sich durch seine klaren und ruhigen Linien auszeichnet, von Süden, von Avignon aus gesehen, in langsamer ununterbrochener Steigung seinen Grat in den klaren provenzalischen

Himmel zeichnet und seinen Südwesthang breit ausladend und weithin ausgedehnt mit sanft sich fangendem Schwunge talwärts sendet, bis er sich nach einem fast zweitausend Meter überbrückenden Abwätrtsfließen an der steil sich erhebenden

Platanenterrasse von Carpentras fängt, das er mit seinen Mandelbäumen vor den

Nordwinden schützt.

Eine merkwürdige Anziehungskraft geht von diesem Berge aus; der Verfasser,

und gewiß mancher andere, hat sie selber erfahren, als er vor vielen Jahren diesen Berg zum erstenmal sah, ohne damals zu wissen, welche besondere Bewandtnis es mit ihm hatte. Es ist nicht zufällig, daß Petrarca die Entdeckung der Landschaft

gerade hier, in diesem Teile Frankreichs machte, in dem die gnostische Tradition, die den Akzent auf Welterkenntnis, also mehr auf das Wissen als auf den Glauben legte, in den Troubadours, Catharern und Albigensern lebendig blieb; damit soll

Petrarca aber nicht zum Gnostiker gemacht werden, es soll nur auf das gnostische

Klima? in diesem Teil der „douce France" hingewiesen sein, von dem schon die

erste große französische Dichtung ,,,La chanson de Roland“ gleich eingangs (im 16. Verse) mit den Worten über „Liempereres Carles de France dulce“15 spricht.

Jener Brief Petrarcas hat Beichtcharakter: er ist an den Professor der Theologie gerichtet,

der

als Augustinermönch

Petrarca

die

„Bekenntnisse“

Augustins

schätzen und beherzigen lehrte; aber man beichtet oder gesteht nur, wenn man glaubt, sich gegen etwas vergangen zu haben. Der gewaltige Eindruck, den der vom Gipfel aus vor ihm ausgebreitete Raum auf Petrarca macht, die Erschütterung, diesen Raum als Wirklichkeit zu sehen, die

Sorge, ja Bestürzung, das Gesehene zu realisieren und zu akzeptieren - all dies spiegelt sich in dem Briefe dessen, der als erster in Europa aus dem transzendentalen Goldgrund der sienesischen Meister, aus dem noch in der Seele und in der Zeit gleichsam schlafenden Raume, hinaustritt in den „wirklichen“ Raum und

damit die Landschaft entdeckt: die allseitige Bindung mit Himmel und Erde, die noch eine fraglose, eine undistanzierte unperspektivische Bindung war, zerreißt in dem Augenblicke, da ein Teil der „Natur“, durch seinen persönlichen Blick

räumlich aus dem Ganzen herausgelöst, zu einem Stück Land wird, das er schafft. Es ist möglich, daß damit ein Teil des formenden (geistigen) Prinzips von Erde

und Himmel, also sowohl von der „Natur“ in ihrem umfassenden Sinne als auch vom „Göttlichen“, auf den Menschen überging; wenn dem so war, dann freilich wuchs - man ist versucht zu sagen, von jenem Tage Petrarcas an - die Verant-

wortung des Menschen in einer Weise, von der wir angesichts der Situation

unserer Zeit bezweifeln müssen, ob er ihr gewachsen war. Wie dem auch sei, die

Tatsache dieser folgenschweren Entdeckung bleibt bestehen. Und aus dem Briefe

2. Die perspektivische Welt

I9

Petrarcas darf man zumindest eine Beunruhigung über diese Entdeckung und die geahnte aus ihr entspringende Verantwortungsfülle heraushóren. „Den höchsten Berg unserer Gegend", so beginnt Petrarca seinen Brief, „habe ich gestern bestiegen, nur von dem Verlangen geleitet, die namhafte Hóhe des Ortes kennenzulernen. Durch viele Jahre hindurch war dies in meiner Seele; von Kindheit an habe ich mich nämlich, wie Du ja weißt, hier in diesen Gegenden herumgetrieben. Jener Berg, weit und breit sichtbar, stand mir fast allzeit vor Augen. Allmählich ward mein Verlangen ungestüm und ich schritt zur Ausführung, insbesondere, nachdem ich tags zuvor beim Lesen der rómischen Geschichte

im Livius auf jene Stelle gestoDen war, wo Philipp, der Kónig von Mazedonien, ... den Berg Haemus in Thessalien besteigt, von dessen Gipfel zwei Meere, das Adriatische und der Pontus Euxinus, sichtbar sein sollen.“

Daß diese Bergbesteigung Philipps nicht mit der Petrarcas in ihrer Bedeutung gleichgesetzt werden darf, geht aus der Betonung hervor, die Livius darauf legt, daß man die Meere von dort aus sah, während er das Land, das eben noch nicht

zur Landschaft geworden war, gar nicht erwähnt; diese Erwähnung der Meere

ist durchaus als ein Hinweis darauf aufzufassen, daB der antike Mensch nicht den

Raum sah, sondern die Seele, deren Bild (wie wir später sehen werden) immer das Meer war. Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß die bekannten Bergbesteigungen, die Hadrian, Strabo und Lucilius unternommen haben, von diesen Rómern

aus vorwiegend administrativen und praktischen Überlegungen erfolgten und

nicht aus „ästhetischen“ Gründen: Hadrian, ein Verwaltungsreformator, bestieg

den Ätna, um das von ihm zu verwaltende Gebiet zu sehen, und der staatsverfolgte Lucilius, ein Freund des Seneca, hatte durchaus praktische Ziele. Kehren wir jedoch zu Petrarcas Brief zurück. Nach der Erwähnung der LiviusStelle folgt die Beschreibung der mühsamen Wanderung und die einer Begegnung: „In den Schluchten trafen wir [er und sein Bruder Gerardo] einen alten

Hirten, der mit vielen Worten versuchte, uns von der Besteigung zurückzuhalten und sagte . . . er hätte niemals davon gehört, daß jemand Ähnliches gewagt habe.“ Ohne sich von den Lamentationen des Alten beeindrucken zu lassen, steigen sie weiter, „und noch im Aufstieg“, so schreibt er, „trieb ich mich selber mit diesen

Worten an: Was also heute, beim Besteigen dieses Berges du erfahren hast, das kommt gewiBlich dir und vielen! zugute, die zu einem glückseligen Leben hingelangen wollen..." Auf dem Gipfel angekommen, überstürzt sich die Beschreibung, und die Tempuswechsel zeugen von der Erschütterung, die in ihm nach-

klingt, wenn er das Gipfelerlebnis evoziert: „Erschüttert von dem ungewohnten Winde und von dem weiten und freien Schauspiel, war ich zu allererst wie vor Schreck erstarrt. Ich schaue: Die Wolken lagen unter meinen Füßen ... Ich wende meinen Blick italienwärts, wohin sich noch mehr als dieser meine Seele

wandte . . . Ich gestehe, daß ich seufzte, da ich den Himmel Italiens sah, der mehr

20

Die drei europäischen Welten

meinem Geist als meinem Auge erschien, und ein unsagbares Verlangen ergriff mich, meine Heimat wiederzusehen . .. Und dann ergriff mich ein neuer Gedanke, der mich aus dem Raum in die Zeit trug (a locis traduxit ad tempora)!7. Ich sagte zu mir selber: Zehn Jahre sind es her, daß du Bologna verlieBest . . .“; und die nachfolgenden Sätze, die sein Leid während dieses Jahrzehntes erwähnen, sind ganz dem inneren Leben zugewandt: die Sehnsucht nach der Heimat, die ihn in der heimatlosen Unvertrautheit dieses Gipfelaufenthaltes überkam, wird übermächtig; eben noch sieht er die damals neue Wirklichkeit, aber vor ihrer erschütternden Wirkung flieht er „aus dem Raum in die Zeit“ zurück, flieht aus dieser ersten Raumerfahrung zurück in den Goldgrund der Sieneser Meister. Und dann nach der Beichte seines Leides, nach dieser seelischen Befreiung, fährt er in der Schilderung des gesehenen Raumes fort: „Dann wende ich mich nach Westen;

vergeblich suche ich den Rücken der Pyrenäen, dieser Grenze zwischen Frankreich und Spanien ... Ich sehe die Berge der Lyoneser Provinz zur Rechten, und zur Linken die Fluten des Mittelmeeres, die auf der einen Seite Marseille bespülen und sich an Aigues-Mortes brechen; und obwohl die Entfernung weit war, sahen wir sehr deutlich; die Rhone selbst lag unter unserem Blick .. ..“ Doch von neuem

wendet er sich zurück, und es ereignet sich dabei etwas, das symptomatisch ist für die Sensibilität dieses Dichters, der, wie hilflos geworden vor der Weite, die vor ihm ausgebreitet ist, nach einem Halt suchend die „Bekenntnisse“ des Augustin

aufschlägt, wobei ihm die Formulierung zufällt, die aus seiner seelischen Heimat

stammt, der er sich bereits das erste Mal, seinen Blick von der Landschaft zurücknehmend, zugewandt hatte: „Gott ist mein Zeuge“, so schreibt er, nachdem er die „Bekenntnisse“ geöffnet hat, „und jener, der dabei war (sein Bruder), daß mein

Blick auf folgende Stelle fiel: ‚Und die Menschen gehen die hohen Berge bewundern und die gewaltigen Wogen des Meeres und die langen Läufe der Flüsse und die UnermeBlichkeit des Ozeans und die Bahnen der Sterne, und sie geben

sich damit selber auf (et relinquunt se ipsos)‘.“ Und wieder erschrickt er, diesmal nicht angesichts des Raumes, sondern angesichts der Seele, an die ihn diese ihm zufallenden Worte Augustins gemahnen; und er fährt fort: „Bestürzung erfaßte mich, ich gestehe es, und meinen Bruder, der diese Stelle auch zu lesen wünschte, bittend, mich nicht zu stören, schloß ich das Buch, erzürnt darüber, daß ich mich

auch jetzt noch irdischen Dingen zugewandt hatte, da doch selbst die heidnischen Philosophen es seit langem mich hätten lehren sollen, daß außer der Seele nichts bewunderungswürdig

(des Anschauens

wert)

sei (nihil praeter animum

esse

mirabile), und daß im Vergleich mit ihrer Größe nichts groß ist." Doch gleich darauf - er macht im Briefe einen pausierenden Absatz - folgen dann diese über-

raschenden Worte: „Als ich alsdann im Betrachten dieses Berges meine Augen sattsam befriedigt hatte" — also doch erst nach bewußter Kenntnisnahme und Ausschöpfung des Gesehenen -, „wandte ich meine inneren Augen in mich selber

2. Die perspektivische Welt

2I

hinein (in me ipsum interiores oculos reflexi); und von jener Stunde an war es, daß man uns nicht reden hörte . . . Und wie eine letzte Bejahung dieser Bergbesteigung und des Erlebten mutet es an, wenn er am Schluf des Briefes, versteckt

unter einem seelischen Vorbehalt, der körperlichen Mühen gedenkend, schreibt: „Soviel Schweiß und Mühe, damit der Körper dem Himmel um ein kleines

näher komme . . ., etwas Ähnliches muß die Seele erschrecken, die sich Gott annähert.“ 18

Von jenem Tage auf dem Berge Ventoux an bis zu seinem Lebensende dauert nun der Kampf in Petrarca, der durch den Einbruch des Raumes in seine Seele und man könnte mit dem gleichen Recht auch sagen: der durch den Ausbruch des Raumes aus seiner Seele — ausgelöst wurde: die alte Welt, die in dem Worte

Augustins, daß die Zeit in der Seele sei:9, ihre bündigste Formulierung fand, jene

alte Welt, in der nichts außerhalb der Seele Liegendes wunderbar und des An-

schauens für wert befunden wurde, sie beginnt zu zerbrechen. Ganz allmählich verlagert sich der Akzent immer deutlicher von der Zeit in den Raum, bis im Materialismus des 19. Jahrhunderts der seelische Schwund ein heute den meisten offensichtlicher Verlust wird, den erst die jetzigen Generationen auf eine neue Weise zu überwinden beginnen. Damals aber, vor 600 Jahren, war der Übergang,

der sich in Petrarcas Brief spiegelt, eine vorerst unerhörte Erweiterung des Weltbildes. Mit jenem Ereignis, von dem Petrarca selber fast prophetisch schreibt, daß es „gewißlich ihm und vielen zugute kommen werde“, beginnt eine neue Art der Naturbetrachtung, die realistisch, individuell und rational ist. Schon die Auflok-

kerung des Raumes und der Landschaft bei Ambrogio Lorenzetti2 und Giotto, bei dem aber das Landschaftliche, etwa die Hügelmotive, noch vorwiegend symbolische Darstellung der umbrischen Natur gewesen waren, stellte eine Ab-

wendung von der unperspektivischen Welt dar, die durch die Giotto-Schüler weitergeführt wird. Fra Angelico und Masolino, später Paolo Uccello, die Brüder Limburg in den ,, Trés riches heures du Duc de Berry“2! arbeiten das Perspektivische immer stürker heraus, und bei Masaccio wird zum ersten Male sichtbar, was sich schon bei Giotto vorbereitete: daß die Erfassung des Menschen angestrebt wird, ein Charakteristikum, das auch in den Reliefs des Andrea Pisano, vor allem in seinem ,,Astronomenrelief“ am Campanile in Florenz, und dann ganz offensicht-

lich bei Donatello zum Ausdruck kommt??. Dabei dürfen wir jedoch nicht Lorenzo Ghiberti23 vergessen, dem in seinem Jugendwerk, dem Bronzerelief „Die

Opferung Isaacs“, im Jahre 1401/02, bereits eine erstaunlich genuine Darstellung atmenden und nicht mehr einschließenden Raumes gelang; eines Raumes (soweit

ein Relief Raum evozieren kann), in dem weder das transzendentale Goldlicht

noch die ergänzende Lichtlosigkeit des einschließenden Höhlen-Alls webt, sondern eines Raumes, in dem die Lungen des Menschen atmen.

Alle diese Äußerungen, die den Wandel in der Einstellung des Menschen zur

22

Die drei europäischen Welten

Welt zum Ausdruck bringen, sind aus dem Künstlerischen genuin aufbrechende Manifestationen und noch unreflektierte direkte Aussagen. Erst in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts beginnt dann der europäische Mensch sich auch reflexiv und theoretisch, also bewußt, mit den Möglichkeiten und Ausdrucks-

formen des neuen Stiles auseinanderzusetzen.

Wenn wir in der Darstellung dessen, was man einen „Abriß der Geschichte der Perspektive“ nennen könnte, etwas ausführlich sind, so deshalb, weil auf diese

Weise anschaulich werden mag, welcher Zeiträume und welcher Intensität vieler es bedarf, damit etwas, das zuerst nur keimhafte, im Innen ruhende Anlage ist, zu blü-

hendem Ausdruck im Außen kommen kann. Und der Anschaulichmachung dieser Faktoren können wir keinesfalls entraten, wenn wir später, bei der Betrachtung unseres eigenen Zeitalters, jene Maßstäbe anlegen wollen, die uns ein gerechtes oder doch wenigstens ein um Gerechtigkeit bemühtes Urteil ermöglichen sollen.

In den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts nun verfaßt Cennino Cennini seinen berühmt gewordenen „Trattato della pittura“24, welcher die erste kunsttheoretische Abhandlung darstellt; die ihm vorausgegangenen Schriften, vor allem jene der Mönche des Berges Athos, nämlich die des Heraclius25 und die des Theophilus, waren lediglich Rezeptbücher gewesen; Cennini aber, der von der Mal-

weise Giottos ausgeht, die er verteidigt, gibt außer maltechnischen Ratschlägen auch Anweisungen über die Unterscheidung zwischen Mensch und Raum26, ferner darüber, wie man die Gebirge zu zeichnen und wie man den Raum, durch Abstufung und Abtönung der Farben, darzustellen hätte, womit er im Prinzip die „Luft- oder Farbenperspektive“ Leonardo da Vincis vorausnahm. Um die gleiche Zeit begannen die Brüder van Eyck die perspektivische Maltechnik in ihren Werken immer klarer und stärker zu realisieren, während bei

anderen Meistern eine Fülle von perspektivischen Versuchen auftaucht, die zwei Tatsachen veranschaulichen: erstens das Bedürfnis der Ráumlichung, zweitens die Schwierigkeit, diese Räumlichung darzustellen. Ungezählte Bilder dieser Kleinmeister, die heute nur allzu leicht übersehen werden, zeugen von dem unerhörten inneren Kampf, der sich in den Künstlergenerationen jenes 15. Jahrhunderts abspielte und der Meisterung des Raumes galt, wobei wir der verwirrendsten Lósungsversuche ansichtig werden, wie der umgekehrten, der verkürzten oder der teilweise angewandten Perspektive27 und anderer Fehlversuche. Gerade diese Bilder der Kleinmeister sind ein eindringliches Beispiel für den entscheidenden Vorgang der Bewußtwerdung des Raumes: einerseits ist der Raum, den der Künstler innerlich gezwungen ist darzustellen, noch im Entstehen begriffen, da er, sich nur langsam aus seiner Seele lösend, auch nur allmählich bewußt und damit klar darstellbar wird; andererseits ist aber der Künstler des Raumes, wenn auch

noch in einem merkwürdigen Zwielicht, ansichtig geworden. Und dieser neue

Fund, diese Begegnung, ist von derart überwältigendem Eindruck, der elementare

2. Die perspektivische Welt

23

Einbruch der dritten Dimension, diese Verwandlung der bloß Euklidischen Maßfläche in eine Tiefendimension, ist derart verwirrend, daß es vorerst zu einer Rauminflation, zu einem Überschwemmtwerden vom Raum kommt, eine Ver-

wirrtheit, die sich deutlich in den unzähligen perspektivischen Darstellungsver-

suchen äußert. Wir werden später noch sehen, daß sich ein ähnlicher Vorgang der Verwirrung bei der Darstellung einer neu bewußtwerdenden Dimension in unseren Tagen, in der Malerei seit etwa 1800, abspielt. Während das Anliegen der

Frührenaissance die Konkretisierung des Raumes war, betrifft es in unserer Epoche die Zeit. Unsere Grundidee, der Versuch einer Konkretisierung der Zeit und damit

der Realisierung und Bewußtwerdung der vierten Dimension, gibt uns die Hand-

habe für eine umfassende Erkenntnis unserer Epoche. Was nun die fast dramatisch zu nennenden Jahre der Frührenaissance anbetrifft, so sind im Anschluß an den Traktat des Cennini vor allem die nicht weniger epochemachenden Schriften des Leon Battista Alberti hervorzuheben, seine 1436 veröffentlichten drei Bücher „Della pittura“, die außer einer auf Vitruv fußenden Proportionslehre und Anatomie in dem Kapitel „Della prospettiva“28 einen ersten systematischen Darstellungsversuch der perspektivischen Konstruktion ent-

halten. Schon vorher hatte Brunelleschi in der von ihm erbauten Kuppel des Domes von Florenz die erste perspektivische Konstruktion realisiert, und Manetti nennt ihn zu Recht den „Begründer der perspektivischen Zeichnung“22. Alberti jedoch brachte die erste erkenntnistheoretische Formulierung für diese neue Darstellungsweise, wenn er, zwar noch summarisch, schreibt: „Die Malerei (das Bild) ist also der Schnitt, gemäß einem bestimmten Raum oder Intervall mit seinem Zentrum und seinen bestimmten Helligkeiten, durch die Sehpyramide, die durch Linien und Farben auf einer vorgegebenen Oberfläche dargestellt wird.“3o Das, was ein Vitruv in seiner „Architettura“3T noch „scenografia“ nannte, wird bei

Alberti zu der durch die Sehpyramide deutlich gemachten „prospettiva“. Von dieser Perspektive handelt etwa ein Dutzend Jahre später dann Lorenzo Ghiberti

in seinen drei ,, Commentarii32; trotz aller seiner Anstrengung, die Tradition zu

wahren, spricht er in ihnen auf eine neue und eigene Weise sowohl von der Perspektive als auch von der Anatomie und von einer Theorie der Zeichnung („Teorica del disegno“), und korrigiert dabei bezeichnenderweise sein hauptsächlichstes Vorbild Vitruv insofern, als er im Aufbau seiner Arbeit dort das Kapitel über die „Perspektive“ einsetzt, wo er nach Vitruv über die „Gesetzeskenntnis“

hätte handeln müssen: damit erhebt er auch erkenntnismäßig die Perspektive

zum Grundgesetz seiner Zeit33. Und noch einmal, bevor Leonardo Endgültiges über sie schreiben wird, befaßt

sich einer der größten Künstler jener Zeit mit diesem Thema und gibt eine tiefdringende Einführung in die Lehre von der Perspektive, der gegenüber jene von Alberti dilettantisch und empirisch anmutet34. Es ist Piero della Francesca,

24

Die drei europäischen Welten

der am Ende seines Lebens zusammen mit Luca Pacioli seine drei auf Euklid beruhenden Bücher „De perspectiva pingendi“35 schreibt, in welchen zum ersten Male die „costruzione pittorica“ als Perspektive bezeichnet wird. Er hatte sie

selber praktisch in jenen Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nach den Brüdern van Eyck56, aber neben Fouquet37 (um nur einige der Größten zu

nennen) zur Anwendung zu bringen vermocht, und damit jene Möglichkeit ihrer Vervollkommnung vorbereitet, die sie in der „Luftperspektive“ auf dem „Abend-

mahl" des Leonardo erreichte. Doch ehe wir von ihm sprechen, müssen wir zwei

Tatsachen erwähnen, die besser als viele Worte darlegen, in welchem Maße das

ausgehende r5. Jahrhundert von der „Perspektive“ fasziniert war und ihr allgemein die geradezu gesetzgebende Funktion zusprach, wie es ja schon in Ghibertis

Vitruv-Korrektur zum Ausdruck kam. Luca Pacioli nimlich, der Mitarbeiter Piero della Francescas, ein gelehrter Mathematiker und Euklidübersetzer, der auch mit Leonardo da Vinci befreundet war, feierte in einem seiner Werke, der „Divina

proporzione“, die Perspektive als achte Kunst; und etwa zehn Jahre später, in den neunziger Jahren des τς. Jahrhunderts, errichtete Antonio del Pollaiuolo auf einem der von ihm erbauten Papstgräber in St. Peter dieser „Perspektive“ ein Denkmal, indem er sie kühn ebenfalls als achte freie Kunst zu den sieben alten

gesellte3%, Diese symbolische Uberschreitung der Siebenzahl, der Heptaos, die wir zum Verdruß vieler zu erwähnen und ihrem symbolischen Gehalt gemäß symbolisch zu interpretieren wagen, ist eines der Indizien für die Durchbrechung des unperspektivischen Höhlenhimmels: mit der achten „Kunst“, die auch als achte „Muse“ aufgefaßt wird, bricht eine Welt zusammen, durch sie wird der alte siebenplanetarische Himmel zerrissen: das Nein, das in dem Nachthimmel des unperspektivischen Höhlenraumes enthalten ist, verwandelt sich zur Klarheit und

Tageshelligkeit der Acht, die das negierende N nicht besitzt: jener heptagonische Kosmos der Antike und ihrer Mysterienreligionen ist überwunden, der Mensch

ist aus ihm hinausgetreten und hat damit diesen kosmischen Raum integriert und konkretisiert. Es ist heutzutage anrüchig geworden, sprachlichen Zusammenhängen, wie diesen zwischen den Wörtern Acht und Nacht, nachzugehen und in einer Zeit der Handgreiflichkeiten subtilere Beziehungen aufzudecken; auch wenn die Sprache selbst auf derartige Zusammenhänge und Beziehungen hinweist, sperrt sich der heutige Mensch dagegen und bemüht sich, sie möglichst zu ent-

vitalisieren und zu entseelen, um sie seinem schlechten Gewissen gefügig zu machen. Aber die Dinge sagen sich trotzdem selber aus, und ihre Wurzeln bleiben; sie bleiben, solange das sie bannende Wort bleibt; und sie bleiben unwiderruflich, möge man versuchen, soviel man will, sie zu denaturieren. Über die Bedeu-

tung des Wortes „Muse“ wird im zweiten Teile zu sprechen sein39; gegen den Hintergrund der Bedeutungsfülle dieses antiken Schlüsselwortes hebt sich eine

2. Die perspektivische Welt

25

mögliche Aperspektivität am deutlichsten ab. Hier sei nur auf die Erhellung der Nachtcharakter tragenden, unperspektivischen Welt hingewiesen, die durch die Inthronisierung einer achten Kunst zum Ausdruck gelangt: es wird plötzlich der alte siebenfache, bloß planetare „Höhlenraum“ ins Tageslicht des menschlichen

Bewußtseins getaucht, er wird durchbrochen und dadurch gewissermaßen von

außen her sichtbar; diese raumvertiefende Aufhellung ist das Werk der achten

Kunst, der Perspektive. Die n-lose Acht ist in allen Sprachen unbewußter Ausdruck der Wachheit und Helligkeit, im Gegensatz zu der n-tragenden und dadurch negiert-betonten Nacht; der Beispiele sind viele: im Englischen eight-night, im Französischen huit-nuit, im Italienischen otto-notte, im Spanischen ocho-noche, im Lateinischen octo-nox (noctu), im Griechischen ὀκτώ-νύξ (νυκτο-)15. Bei der Aufdeckung von Zusammenhängen dieser Art geben wir uns durchaus keinen Spekulationen hin; wir stellen nur die einfache, im Wort enthaltene und sich

durch das Wort aussagende Tatsache fest und gehen nicht irgendwie gearteten Assoziationen nach, die sich im Anschluß an den aufgedeckten sprachlichen Tatbestand ergeben könnten. Nur bei der Verfolgung solcher Assoziationen oder bei Amplifikationen, deren sich die moderne wissenschaftliche Psychologie, besonders die „Komplexe Psychologie“, bedient, könnte man uns den Vorwurf nicht-

mentalen Denkens machen. Es ist mehr als gefährlich, sich den Kettenreaktionen assoziativer und amplifizierender Denkabläufe hinzugeben, die im Spielfeld der Psyche ad infinitum laufen können und zu einer psychischen Inflation führen, vor der sich die wenigsten Komplex-Psychologen bewahrenft. Wenn wir zu der Dunkelheit der Wurzeln vordringen, werden wir noch ófters an Zusammenhinge erinnern müssen, die vom heutigen Menschen vergessen wurden. Rührt man an diesen Bereich, so pflegt das zuerst eine meist affektive Reaktion auszulósen, weil die Einsicht ins Dunkelumhüllte keinem Menschen von heute sonderlich behagt: er wird an zuviel ihm selber innewohnende Dunkelheit

erinnert, die er nicht anzuerkennen wagt. Es ist durchaus gestattet, auch heute noch „symbolhaft“ zu denken, und für die Darlegung von Vorgängen, die sich im Symbolbereich abspielen, ist es zum Teil unerläßlich. Bei dem Wagnis, Symbol-

haftes in die Erinnerung zu rufen, muß aber eines beachtet werden: man muß das

Symbol (soweit dies möglich ist) eingesehen haben, man muß also wach und ge-

sichert von ihm sprechen können; kann man das nicht, dann ist man seiner selbst

nicht sicher, dann wird man zum Opfer des Symbols, also Opfer einer uneinge-

sehenen Macht, die dann mit einem macht, was sie will; vor dieser psychischen Vergewaltigung durch das Symbol und vor der psychischen Befangenheit, zu der

das symbolanerkennende Denken bei nicht genügender Wachheit führen kann vor ihnen soll hier gewarnt sein. Richten wir jedoch unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Perspektive. Wir

sagten, daß sie der Ausdruck par excellence für das ist, was sich im 15. Jahrhundert

26

Die drei europäischen Welten

im Bewußtwerdungsprozeß des europäischen Menschen abspielte: sie ist der vollkommen plastische Ausdruck für die Bewußtwerdung des Raumes, für seine

Objektivierung; durch sie wird nicht nur der Raum sichtbar gemacht und in das taglichtige Wachbewußtsein gehoben, durch sie wird auch der Mensch selber als

Mensch sichtbar; wir wiesen bereits darauf hin, daß in der Malerei Giottos und

Masaccios zum ersten Male diese sichtbar werdende Erfassung des Menschen zutage tritt. Die Perspektive, deren Erlernung und deren allmählicher Besitz ein Hauptanliegen des Renaissancemenschen gewesen war, bringt außer der Erweiterung des Weltbildes in der durch sie bewirkten Räumlichung gleichzeitig eine Verengerung zum Ausdruck, an deren Folgen wir heute leiden. Denn perspektivisch sehen oder denken heißt: räumlich fixiert sehen und denken. Wir wiesen schon verschiedentlich auf die jeder Perspektivierung innewohnende Gegensätzlichung hin4?; sie fixiert sowohl den Betrachter als das Betrachtete; ihre positive Folge ist: sie konkretisiert sowohl den Menschen als den Raum; die negative Folge ist: sie stellt den Menschen in einen Teilsektor, so daß er nur dieses Teilsektors ansichtig wird: er löst aus dem Ganzen nur jenes Stück heraus (wie Petrarca aus dem bloßen Land die Landschaft), das sein Blick oder sein Denken umfassen kann, und vergißt der daneben, darüber oder der möglicherweise auch hinter ihm liegenden „Sektoren“; damit ist die Anthropozentrik gegeben, welche die einstige Theozentrik, wie man sie nennen kónnte, ablóste. Der Mensch, er selbst nur ein Teil der Welt, riumt diesem Teil und damit der ihm selber nur móglichen Teilansicht die beherr-

schende Stellung ein: damit erhält der Sektor das Übergewicht über den ganzen

einschließenden Kreis; es erhält der Teil das Übergewicht über das Ganze. Das Ganze ist aber aus der perspektivischen Einstellung zur Welt heraus nicht mehr anzunähern; statt dessen verleiht man dem bloßen Sektor „Ganzheits-Charakter“, und die Folge davon ist die sattsam bekannte „Totalität“ (die nicht zufällig in ihren drei ersten Buchstaben die Ambivalenz eines Urwortes, des lateinischen „totus“, durchscheinen läßt, das in der Spätzeit „ganz“ und „alle“ bedeutete, das aber in der Frühzeit wohl auch „nichts“ bedeutet haben mag; jedenfalls ist die bloße Klangverwandtschaft zwischen „totus“ und „tot“ jedem hörbar)#3. Doch lassen wir die Totalität und ihren nefasten Charakter; sie ist nicht das Ganze. Das Ganze aber,

das von der perspektivischen Haltung aus nicht einmal mehr anzunähern ist, wird, wie wir noch sehen werden, neuartig und auf neuen Wegen von der aperspektivischen Haltung aus wieder annäherbar. In jedem Falle schließt die Perspektivierung auch eine Reduzierung ein, die unter anderem darin zum Ausdruck kommt,

daß der unperspektivische Mensch

(den man auch den hörenden Menschen

nennen kann) noch vorwiegend auditiv war, während der perspektivische Mensch (den man auch als den sehenden Menschen bezeichnen kann) vorwiegend optisch

ist. Die Grundlage des perspektivischen Weltbildes ist die Sehpyramide, jene von den Augen ausgehenden zwei Strahlen, die sich im angesehenen Objekt treffen:

2. Die perspektivische Welt

27

das Bild des herausgeschnittenen Sektors, der Subjekt und Objekt mitsamt dem dazwischenliegenden Raum erfaßt. Piero della Francesca bringt diesen Sachverhalt deutlich zum Ausdruck in einem Satz, der in der Übersetzung Dürers lautet: „Das Erst ist das Aug, das do sicht, das Ander ist der Gegenwürf, der gesehen wird, das Dritt ist die Weiten dozwischen.“4 Panofsky kommentiert diesen Satz wie

folgt: „Sie [die Perspektive] schaffte den Körpern Platz, sich plastisch zu entfalten und mimisch zu bewegen [was der Raumentdeckung gleichkommt], - aber sie schafft auch dem Lichte die Möglichkeit, im Raum sich auszubreiten [Hellwerden des Raumes ist Bewußtwerden des Raumes] und die Körper malerisch aufzulösen; sie schafft Distanz zwischen den Menschen und Dingen." Distanzierung aber ist stets ein Kennzeichen sowohl von bewußtwerdender Objektivierung als auch von der ihr voraufgegangenen, sie ermóglichenden Entäußerung und Freisetzung innerer

Gegebenheiten, die in der Außenwelt wiedergefunden und realisiert werden. Auch aus diesem Beispiel mag hervorgehen, in welchem Maße die Perspektive sinnhaftester Ausdruck für eine ganze Epoche ist. Sie ermöglicht — und das ist ihr Hauptanliegen - die „Durchsehung“ und damit die Erfassung und Rationalisierung des Raumes. Übrigens sagt das Wort Perspektive selbst diesen Sachverhalt

aus, und Dürer weist darauf hin, wenn er schreibt: „Item Perspectiva ist ein latei-

nisch Wort, bedeutt ein Durchsehung." Sie ist eine Durchsehung des Raumes und damit eine Bewußtwerdung des Raumes. Dabei tut es nichts zur Sache, ob man nun die Interpretation Dürers akzeptiert, der das lateinische Verbum perspicere, von dem sich „Perspektive“ herleitet, mit „durchsehen“ übersetzt, oder ob man

Panofsky4s folgt, der dieses Verbum mit „deutlich sehen“ wiedergibt: beide Interpretationen46 laufen auf das gleiche hinaus, weil die BewuDtwerdung des distanzierenden Raumes ein deutliches Sehen voraussetzt, wobei die Steigerung des Bewußtseins wiederum ein Anwachsen des persönlichen Ichbewußtseins mit sich bringt. Mit dieser Feststellung wären wir nochmals bei unserer These vom Doppelcharakter der Perspektive angelangt; sie fixiert sowohl den Betrachter als das Betrachtete.

Diesen Doppelcharakter, diese Gegensätzlichkeit unterstreicht auch Panofsky, wenn er schreibt: „Die Geschichte der Perspektive (läßt sich) mit gleichem Recht als ein Triumph des distanzierenden und objektivierenden Wirklichkeitssinns, und als ein Triumph des distanzverneinenden menschlichen Machtstrebens, ebensowohl als Befestigung und Systematisierung der Außenwelt wie als Erweiterung der Ichsphäre begreifen."47 Versagen wir es uns jetzt, auf das in diesem Satz gefallene Stichwort „Machtstreben“

einzugehen, das einen nicht unwesentlichen

Aspekt des perspektivischen Menschen visiert, sondern lassen wir nochmals die Quellen selbst sprechen. Dies führt uns zu Leonardo da Vinci, auf den sich Dürer indirekt gestützt hat, worauf Heinrich Wölfflin hinwies48. Mit Leonardo da Vinci erreicht die Beherrschung aller perspektivischen Mittel

28

Die drei europäischen Welten

ihre Vervollkommnung. In dem „Trattato della pittura“49, einem nach seinem Tode durch andere aus seinen Aufzeichnungen zusammengestellten Traktat, dem vor

allem eine Kompilation aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zugrunde liegt, der sogenannte „Codex Vaticanus Urbinas 1270“, findet sich die erste nicht nur theo-

retische, sondern wissenschaftliche Beschreibung aller möglichen Perspektivarten und zum ersten Male auch eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Licht als Realität unserer Augen (und nicht wie vorher als Symbol des Geistes Gottes). Diese neue Lichtwerdung hellt alle noch hinsichtlich der Perspektive bestehenden Dunkelheiten auf und macht ihren verwegenen Schöpfer zum Entdecker dessen, was man im Gegensatz zur ,,Linearperspektive“ die „Luft- oder Farbenperspektive“

nennt; verwirklicht die eine die perspektivische Täuschung auf der Bildfläche durch die perspektivische Zeichnung, so ermöglicht die andere dies durch die perspektivische Malerei; indem sie die malerischen Mittel lehrt, wie durch Gradu-

ierung der Farben, Schattengebung und farbliche Behandlung des Horizontes die raumerfassende und raumwiedergebende Darstellung zustande gebracht werden kann. Darüber hinaus war aber die Aufstellung der Perspektivgesetze durch

Leonardo insofern epochemachend, als sie die technische Zeichnung ermöglicht, die den Ausgangspunkt für die technische Entwicklung unserer Zeit darstellt5°. Mit dieser Tat fand ein Prozeß seinen Abschluß, der Jahrhunderte gebraucht hatte (und wir werden im nächsten Kapitel noch sehen, daß seine ersten sichtbar werdenden Wurzeln zwei Jahrtausende zurückliegen), um ins Bewußtsein zu treten und da-

mit die Welt des Menschen grundlegend zu ändern. Erst mit Leonardo ist die un-

perspektivische Welt ausgeträumt, erst mit ihm wird die perspektivische klar gedacht. Und hatten wir es an Hand des Petrarca-Briefes versucht, den ersten, den initialen Ruck der Raumbewußtwerdung darzustellen und uns dabei Rechen-

schaft davon gegeben, welcher Art dieser Prozeß einer schmerzhaften Ablösung

aus dem Überkommenen war, so wollen wir bei dem Vollender Petrarcas ein

Gleiches tun, um zu veranschaulichen, wie Entscheidendes sich in ihm abspielte und auf welche Weise es geschah. Es gibt unter den Tausenden von Tagebuchnotizen und Aufzeichnungen Leonardo

da Vincis mehrere, in denen sich, hält man die mutmaßlich früheren gegen die mutmaßlich späteren, der Prozeß der Raumbewußtwerdung, und damit auch der Prozeß seiner inneren Ablösung aus der überkommenen Welt, ablesen läßt. Wir

wollen zwei kurze Aufzeichnungen dieser Art herausgreifen. Indem Manuskript A des „Institut de France“ findet sich als eine der ersten generellen Perspektivdefinitionen Leonardos der Satz: „Perspektive ist ein Beweisgrund, wobei die Er-

fahrung bestätigt, daß alle Dinge ihre Bilder in Pyramidenlinien zum Auge senden"51, Abgesehen davon, daß wir hier dem wichtigen Pyramidenbegriff Albertis, nun freilich in der gültigen Ausformung Leonardos, wieder begegnen, enthält dieser Satz quintessenzartig die durchaus nicht undramatische Situation Leonardos

2. Die perspektivische Welt

29

und bringt sie zum Ausdruck: die platonische Auffassung nämlich, die aus dem

Nachsatz spricht, seine noch beinahe vorplatonisch anmutende animistische Stimmung, „daß alle Dinge ihre Bilder ... zum Auge senden“ — und daß nicht das

Auge sie wahrnimmt, sondern sie gewissermaßen erleidet, steht in seltsamer, ja erschütternder Spannung zu der ganz aristotelischen Formulierung des Satzanfanges,

der nicht nur von einem „Beweisgrund“, sondern von der frühwissenschaftlichen „Erfahrung“ ausgeht. In diesem Satze, in dem der Wissenschaftler, der die Dinge beweist, und der Künstler, der die Dinge erleidet, miteinander kimpfen, spiegelt sich im Menschen Leonardo die Übergangssituation aus der unperspektivischen

in die perspektivische Welt. Aus einer mutmaßlich späteren Notiz5? zur Perspektive ersehen wir dann den von Leonardo vollzogenen Schritt der Loslósung aus der antiken, beziehungsweise frühmittelalterlichen, unperspektivischen Bewuftseinsstruktur. Im Manuskript G des „Institut de France“ notiert er: „Die Perspek-

tive benutzt in den Entfernungen zwei entgegengesetzte Pyramiden. Eine derselben hat ihre Spitze im Auge [er nennt diese Spitze des öfteren auch „den Punkt“ ] und ihre Basis fern am Horizont; die zweite hat ihre Basis gegen das Auge zu und die Spitze am Horizont. Aber die erste betrifft das Allgemeine, da sie alle Größen der dem Auge gegenüberliegenden Körper erfaßt... Die zweite Pyramide aber

betrifft eine besondere Stelle, . . . und diese zweite Perspektive ergibt sich aus der

ersten"53, In diesen Sätzen kommt zum Ausdruck, wie die „participation inconsciente"54 sich in eine, wie wir es ausdrücken möchten, relation consciente

gewandelt hat: dem erleidenden Punkt im Auge, auf den die Dinge einströmen, hat Leonardo den überwindenden Punkt im Raume („am Horizont“) entgegenzustellen vermocht und gleichzeitig die enge Beziehung des einen zum anderen realisiert, denn er sagt: „die zweite [im Außen realisierte] Pyramide ergibt sich aus der ersten“ : der Akzent liegt nun auf dem ichhaften Auge, das den Raum realisiert hat, und das Gleichgewicht zwischen Ichwelt (Auge) und Außenwelt (Horizont) ist hergestellt. Mit diesem Satz ist die Perspektive auch denkerisch verwirklicht. Sie bestimmt seit Leonardo das abendlándische Weltbild. Sie bestimmt es in einem

derartigen Maße und entspricht ihm in so vollkommener Weise, daß bereits eine Generation später (um 1530) Agrippa von Nettesheim in seinem Alterswerk „De Incertitudine et Vanitate Scientiarum et Artium55 ein kleines Kapitel: „De

optica vel perspectiva" schreiben konnte, in dem sich der aufschluDreiche Satz

findet: „Sie (die ,,Perspectivkunst") weiset, mit was für einer Art die Ungestalt in

Bildern vermieden werden kann.“ Und um die ungefähr gleiche Zeit finden wir

bei Pietro Aretino, in seinem „Dialogo della Pittura", den er vor allem zum Preise Tizians verfaßte, immer wieder einen bestimmten Vers zitiert: „Che spesso occhio

ben san fa veder torto", womit er auf die unerlaubte Neigung zu vorurteilsbelaste-

tem Sehen hinweist, „die“, wie der zitierte Vers besagt, „oft läßt falsch seh’n selbst

gesunde Augen "30.

30

Die drei europäischen Welten

Dieser Verweis des Aretino und jene scharfe Formulierung des Agrippa, welche

die unperspektivische Welt und ihre unperspektivische Darstellungsweise als „Ungestalt“ und als „falsch gesehen“ bezeichnen, zeigen deutlicher, als irgend etwas anderes es vermöchte, daß damals, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der Raum end-

gültig bewußt geworden und damit akzeptiert worden ist. Ein Raumrausch überfällt den damaligen Menschen, nachdem er diese Bewußtwerdung geleistet und gesichert hat. Er spricht auch aus dem perspektivischen Rausch, der in Altdorfers Innenraumbildern und in den niederländischen Kirchenschiffgemälden zum beinahe jubelnden Ausdruck kommt und der jedweden Versuch jener Stimmen, die das alte Weltgefühl bewahrt wissen möchten, zum Schweigen bringt. Dies um so leichter, als jenes erste Landschafts- und Raumerlebnis Petrarcas dank der Perspektivlehre und -anwendung Leonardos zu einem Allgemeinbesitz wird, der sich deutlich in der immer stärker werdenden Landschaftsmalerei spiegelt, die sich über ganz Europa ausbreitet: Altdorfer, dann van Goyen; Poussin und Claude Lorrain; Ruysdal, dann Magnasco; Watteau, Constable, Corot, C. D. Friedrich; Millet und Courbet, Manet und Monet, schließlich Renoir, und zuletzt noch van Gogh und Rousseau sind nur einige der großen europäischen Meister, diesich immer von

neuem um die Erfassung des landschaftlichen Raumes mühten. Der Raum ist das vordringlichste Thema dieses Zeitalters. Wir stützten uns zur Darstellung dieser Tatsache einzig auf seine anschaulichste Äußerung, die Erfindung der Perspektive, die ihn darstellbar macht. Andererseits haben wir bereits darauf hingewiesen, daß in dem Moment, da Leonardo das Problem der Perspek-

tive löst und damit die Möglichkeit für die Raumentäußerung ins Bild schafft, Ereignisse stattfinden, die mit dieser Raumfindung Leonardos parallel gehen”: Kopernikus sprengt den begrenzten geozentrischen Himmel und entdeckt den heliozentrischen Raum; Kolumbus sprengt den einschlieBenden Okeanos und entdeckt den Erdraum; Vésale, der erste große Anatom, sprengt die alten Körper-

lehren Galens und entdeckt den Körperraum; Harvey sprengt die gebundene Humoralmedizin eines Hippokrates und entdeckt den Blutkreislauf; Kepler sprengt das unperspektivische, kreis- und flächenhafte Weltbild der Antike, indem er statt der Kreisbewegung der Planeten, wie sie nach Ptolemäus noch ein Kopernikus annahm, ihre Ellipsenbahn nachweist. Es ist jene Ellipse, die in der Architektur zum erstenmal Michelangelo vorbereitete, dessen Kuppel von St. Peter die überhöhte, also nicht runde (höhlen- oder gewölbemäßig betonte), sondern elliptische Form aufweist; auch hier also Raumgewinn auf Kosten des antiken okeanischen „Raum“-Gefühles. Galilei vertieft dann den Einbruch in den

Raum durch die Perfektionierung und die astronomische Anwendung des Teleskops, das zu seiner Zeit in Holland erfunden worden war, bis sich schließlich, wie Leonardo es bereits vorentworfen hatte, der Mensch auch den Raum der Luft

und den untermeerischen Raum eroberte. Wie stark das Bedürfnis um die Wende

2. Die perspektivische Welt

3I

des 15. zum 16. Jahrhundert war, Raum zu gewinnen und die Fläche, die bloße Wand - jene uralte Höhlenwand - zu durchbrechen, kommt nicht nur zum Ausdruck in der Ablósung der Malerei von der Sakralwand ins Tafelbild, also in dem Übergang von der Freskomalerei zur Ölmalerei, sondern selbst auf den kleinsten und alltiglichsten Gebieten. Um jene Zeit wurden die ersten Spitzen her-

gestellt: selbst der Stoff durfte nicht mehr nur Fläche sein; sie mußte durchbrochen werden, um den Hinter- oder Untergrund durchscheinen zu lassen>?,

Es ist kein Zufall, daß in den Jahren, da die Perspektive den Raum als solchen erschließt, die soeben angeführten Einbrüche in die verschiedenen Raumwelten erfolgen, welche die Welt endgültig in eine räumliche, aber damit auch sektorhafte umgestalten. Und im gleichen Augenblick zerbirst die bis dahin noch bewahrte Einheit, und es wird nicht nur die Welt geteilt, es beginnt nicht nur das Zeitalter der Kolonien, es beginnt auch das der anderen Teilungen: das Zeitalter der Schismen und Kirchenspaltungen, das gleichzeitig eines der Eroberungen und der Machtpolitik, der entfesselten Technik und der Emanzipationen aller Art ist. Die Überbetonung des Raumes und alles Räumlichen, die sich mit den Jahrhunderten seit 1500 nur verstärkt, ist sowohl die Größe wie die Schwäche des perspektivischen Menschen. Die Überlastung des „objektiven“ Außen bringt neben seiner Rationalisierung und Haptifizierung5?, die aus der übertrieben optischen Einstellung resultiert, notwendigerweise eine Hypertrophierung des dem Außen gegenüberstehenden Ich mit sich: das, was man die Ego-Hypertrophie nennen könnte, die Überbetonung des Ich. Dieses Ich muß immer stärker betont, eben überbetont werden, um der sich ausweitenden Raumerschließung gewachsen zu sein; andererseits muß in dem Maße, in dem das Gegenüber des Ich, der Raum, immer stärker materialisiert und greifbar (haptisch) wird, sich auch dieses Ich

selbst immer stärker verhärten. Auf der einen Seite bringt die Ausweitung des Raumes eine allmähliche Ausweitung und eine aus ihr resultierende Auflösung

des Ich mit sich — und damit die Möglichkeit zu seiner Vermassung; auf der an-

deren Seite bringt die Haptifizierung des Raumes eine Verhärtung, also eine Abkapselung des Ich mit sich - und damit die Möglichkeit zu seiner Isolation, die in der Egozentrik sichtbar wird®!.

Es dürfte hinsichtlich der perspektivischen Haltung feststehen, daß nämlich die aus der extremen Perspektivierung resultierende Raumbeherrschung mit einem Gleichgewichtsverlust, mit einer Desequilibrierung des Ich erkauft wurde. Und hinzu kommt, daß die einseitige Raumbetonung, die ihren extremsten Ausdruck im Materialismus und Naturalismus findet, ein unbewußtes, immer stärker wer-

dendes Schuldgefühl durchbrechen läßt, das der vernachlässigten Komponente unserer Erscheinungswelt, der Zeit, gilt. Heute, in der ausgehenden perspektivischen Epoche, ist neben der Raumbesessen-

heit, die sich selbst schon ad absurdum zu führen beginnt, die Zeitangst das her-

32

Die drei europäischen Welten

vorstechende Merkmal. Sie äußert sich vielfältig: als Zeitsucht, insofern all und jeder darauf aus ist, „Zeit zu gewinnen“ ~ nur wird fast immer die falsche Zeit „gewonnen“, jene, die sich greifbar in räumliche Mehrtätigkeit umsetzen läßt, oder jene, die, „hat“ man sie, „totgeschlagen“ werden muß. Diese Zeitangst äußert sich als Zeithaptifizierung (die sich in den Glockenschlägen des Papstes Sabinus ankün-

digte), sie äußert sich in dem Versuch, die Zeit durch Materialisierung festzuhalten und in die Hand zu bekommen, da mehr als einer der Überzeugung ist: „Zeit ist Geld" ~ nur daß fast immer die falsche Zeit, jene, die sich in Geld um-

setzt, nicht aber die geltende, realisiert wird. Diese Zeitangst kommt in der Hilflosigkeit des heutigen Menschen der Zeit gegenüber zum Ausdruck, in jener Zwangsvorstellung, die „Zeit ausfüllen“ zu müssen: sie ist also leer - und somit noch räumlich vorgestellt, als sei sie ein Eimer oder irgendein Gefäß -, sie entbehrt

für das Bewußtsein des heutigen Menschen noch durchaus des Qualitäts-Charakters. Zeit ist etwas in sich Erfülltes und nicht etwas, das „ausgefüllt“ werden müßte.

Die Zeitangst kommt schließlich auch in dem Fliehen vor der Zeit zum Ausdruck:

in der Hast und im Eilen und dem „Nicht-Zeit-Haben“ des heutigen Menschen. Es ist nur zu wahr: Raum hat dieser Mensch, aber Zeit hat er nicht; die Zeit hat

ihn, denn er ist sich ihrer ganzen Wirklichkeit noch nicht bewußt. Und trotzdem, ja gerade weil er „keine Zeit hat", sucht er die Zeit - aber meist erst einmal am

falschen Ort; ja, daß er sie ortet und an einem Ort sucht, ist seine Tragik. Aber die

Raumgebundenheit, die in ihrer extremen Form zu einer Raumfixiertheit ausgeartet ist, läßt ihn aus dieser Raumbefangenheit heraus auf keinen Ausweg kommen; bloße Auswege oder Wege sind hier auch illusorisch: die Zeit ist weglos.

Obwohl die Welt weiter wurde, wurde sie enger (nämlich scheuklappenmäßig

verengt), und die Betonung dessen, was am Ausgangspunkt dieser perspektivischen Weltvorstellung stand, das Sektorhafte, verstärkte sich immer mehr. Das immer deutlichere Sehen engte den Sichtsektor immer stärker ein: je „tiefer“ und „weiter“

der Mensch in den Raum sieht, desto schmaler und enger wird die Sehpyramide, der Sehsektor. Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählich herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche mit sich, das außer den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ihr resultierende Fanatismus. Der Ängstliche, der Fliehende und der Verlorene (sei

er dies in bezug auf sein Ich oder in bezug auf die Welt, ist gleichgültig, denn es

gilt gleich für beide Bezüge) ist in seiner vitalen Bedrohtheit immer intolerant und „sieht“ nur einen sich in nebelhaften Weiten verlierenden „Fluchtpunkt“ (jenen Fluchtpunkt der linearen Perspektive, worüber einst ein Leonardo schrieb), den er fanatisch glaubt verteidigen zu müssen; denn anders ginge er seiner Welt verlustig. Der europäische Mensch, als Einzelner wie als „Vermasster“, sieht heute nur noch seinen Sektor. Auf allen Gebieten hat heute dieser Satz Gültigkeit; auf

3. Die aperspektivische Welt

dem religiösen genauso wie auf dem politischen, auf dem sozialen genauso auf dem wissenschaftlichen. Das Aufkommen des Protestantismus leitete die torierung des Religiösen ein; das Aufkommen des Nationalstaates brachte die torierung des christlichen Abendlandes in sektorhafte Einzelstaaten; das

33

wie SekSekAuf-

kommen der politischen Parteien sektorierte das Volk (oder die ehemalige christliche Gemeinschaft) in parteiprogrammgebundene sektorhafte „Interessengemeinschaften“; und in der Wissenschaft führte dieser Prozeß der Sektorierung zu dem

heutigen Zustand: führte zu den Fachwissenschaften und allgemein zum Spezialistentum und den „Spitzen-Leistungen“ des Scheuklappenmenschen. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr: die re-ligio, die Rückbindung, ist fast zerrissen, der

„Schnitt der Sehpyramide“ hat sie gewissermaßen zerschnitten. Und ein bloßes Vorwärts und Weiter (das schon Fluchtcharakter angenommen hat) führt nur in weitere sektorhafte Detaillierung, letztlich zur Atomisierung. Was dann übrigbleibt, ist (wie im Trichter Hiroshimas) - amorpher Staub. Wahrscheinlich wird ein Teil der Menschheit - zumindest „geistig“, sprich: „seelisch“ — diesen Weg

gehen.

Wenn wir das Gesagte zusammenfassen, ist dies das Bild: einerseits Angst (vor der Zeit und vor der Machtlosigkeit ihr gegenüber), andererseits „Beglücktsein“

(über die materielle Raumbeherrschung und über den Machtzuwachs daraus);

und Isolation (des Einzelnen, der Gruppen und Kulturkreise) auf der einen, Vermassung (der gleichen Einzelnen in Gruppen und Interessengemeinschaften) auf

der anderen Seite: diese Spannung zwischen Angst und Beglücktsein, zwischen

Isolation und Vermassung, ist das Endergebnis einer Epoche, die sich bereits über-

blüht hat. Diese Epoche könnte jedoch gleichzeitig Gewähr dafür sein, daß ein

neues „Ziel“ erreicht wird, bedienten wir uns ihrer, so wie sich der Pfeil der über-

spannten Bogensehne bedient; doch wie jeder Pfeil, so müßte auch sie, um dies zu erreichen, sich von den Extremen lösen können, welche die Abflugsspannung

ermöglichen: sie muß, wie der Pfeil auf der Sehne, den Punkt finden, der hier bereits das dortige „Ziel“ in sich trägt: das Gleichgewicht zwischen Angst und Be-

glücktsein, zwischen Isolation und Vermassung; nur dann kann sich diese Epoche selbst aus der defizient gewordenen Unperspektivität und Perspektivität befreien: nur dann kann sie das gewinnen, was wir, auch seines befreienden Charakters wegen, die aperspektivische Welt nennen.

3. Die aperspektivische Welt

Ein Aufriß der aperspektivischen Welt kann sich nur allmählich ergeben. Er wird, wie wir hoffen, an Kontur und Dichte in dem Maße gewinnen, als wir vor allem auch die sogenannten vergangenen Hintergründe und Zusammenhänge darzu-

34

Die drei europäischen Welten

stellen Gelegenheit haben werden; denn etwas sichtbar und anschaulich machen

kann man nur, indem man das Darzustellende gegen einen Hinter- oder Untergrund hält, damit es sich klar und deutlich von ihm abhebe und nicht mit ihm verwechselt werde. Obwohl an dieser Stelle unserer Ausführungen diese Voraussetzungen noch in keiner Weise erfüllt sind, scheint es uns doch nötig, den Grundcharakter dessen zu umreißen, was wir als Aperspektivität bezeichnen. Der Versuch muß gewagt

werden, damit ein Hinweis darauf gegeben werden kann, in welcher Weise die Aperspektivität zum Ausdruck gelangt. Dieser Hinweis, mag man ihn nun als These auffassen oder als orientierenden Überblick auf unsere Grundidee, wird erst dann seine Beweiskraft erhalten kön-

nen, wenn wir gegen den noch darzustellenden Hintergrund später nicht nur die neuen Äußerungsformen der Malerei, sondern auch die der anderen Künste halten können. So sei denn aus den zahlreichen neuen Aussageformen vorerst nur eine der anschaulicheren, gerade die der Malerei, herausgegriffen, die möglicherweise unsere Ansicht deutlich zu machen vermag. In den letzten Jahrzehnten haben sowohl Picasso wie Braque einige Bilder gemalt, deren Wertung bisher, wie uns scheinen will, von einem Standpunkt aus

erfolgt ist, der ihnen nicht gerecht werden kann. Solange wir eine Zeichnung wie die hier wiedergegebene von Picasso (siehe Abb. 1) nur vom rein Ästhetischen her betrachten, wird die Vielzahl der Linien (selbst wenn die einzelnen in sich „schön“ sein mögen) uns eher verwirren als mit jenem Gefühl des Schönen erfüllen, das wir gewohnt waren, als eines der Kriterien bei

der Bildwertung anzulegen. Bilder oder Zeichnungen Picassos wie diese fordern

mehr als ein bloßes „Anschauen“, das sich nur auf die Kategorie des „Schönen“

gründet, was zumindest im Deutschen zur Genüge aus der bisher unbeachteten Wurzelgemeinschaft der Wörter

„schön“ und „schauen“ hervorgeht.

Beide

Wörter haben vorwiegend psychischen Charakter: das „Schauen“ ist die Realisationsform der Mystik, das „Schöne“ ist nur eine, die lichtere, Manifestationsform der Psyche: beide schließen, wenigstens für den Europäer, weitgehend die

Konkretisierung der Ganzheit, nicht aber die einer Einheit aus, denn sie sind nur eine partielle Aktivierung beziehungsweise cine Teilform jener Harmonie, die ihrerseits nur ein Teilaspekt der Ganzheit ist. Das bloße Schauen oder das bloße

Schönfinden können aus ihrer psychischen Befangenheit und Gebundenheit heraus die Ganzheit höchstens annähern, jedoch kaum realisieren65, Aber gerade die Ganzheit kommt in dieser Zeichnung Picassos zum Ausdruck. Sie kommt deshalb

zum Ausdruck, weil in ihr erstmals die Zeit in die Darstellung einbezogen ist. Wenn wir diese Zeichnung betrachten, so sehen wir mit einem Blick den ganzen Menschen: das heißt, wir sehen nicht nur einen seiner Aspekte oder seiner móg-

lichen Ansichten, sondern wir sehen gleichzeitig seine Frontal-, Seiten- und Rük-

P

΄ —

e

y

— απ. ο

cand

1

u

N a

4

P d

९७

=

Abb. 1:

Pablo Picasso, Zeichnung

(1926)

(Originalgröße: 31 X 46,7 cm)

en

| NEA ΜΗΝ À

kenansicht, sehen also alle diese verschiedenen Aspekte auf einmal. Um es sehr grob auszudrücken: es ist uns nicht nur das zeitliche Herumgehen um die menschliche Gestalt erspart, wobei wir in einem Nacheinander ihrer verschiedenen Teilansichten gewahr werden, sondern auch die nur in der Vorstellung realisierbare Zusammenfassung der nacheinander gesehenen Teilaspekte. Diese Bündelung der vielfältigen Sehsektoren zu einem Ganzen war bisher nur in der zusammenfassenden Erinnerung der nacheinander gesehenen Aspekte, also nur in der Vorstellung, realisierbar, und diese ,,Ganzheit" hatte demzufolge nur abstrakten Cha-

rakter. Auf dieser Zeichnung jedoch sind der Raum und der Körper durchsichtig geworden. Diese Zeichnung ist in diesem Sinne weder unperspektivisch: also nur zweidimensional eine Fläche darstellend, die in sich den Körper befangen hält; noch ist sie perspektivisch: also nur dreidimensional einen Sehsektor aus der ,, Wirklichkeit“ herausschneidend, die den Körper mit atmendem Raum umgibt; sie ist

in unserem Sinne aperspektivisch: also vierdimensional die Zeit (als Zeit und nicht in ihrer Räumlichung) aufnehmend und sie damit konkretisierend. Damit aber

macht sie das Ganze einsehbar, das nur eingesehen werden kann, weil die bisher

36

Die drei europäischen Welten

fehlende Zeitkomponente in ihrer gesteigerten und gültigen Ausdrucksform: der

Gegenwart, zum Ausdruck kommt: es ist nicht mehr der Augenblick (die, wie der

Ausdruck besagt, durch das Sehorgan erblickte, also räumliche Zeit), sondern es

ist die reine Gegenwart, die Quintessenz der Zeit, die uns aus dieser Zeichnung entgegenleuchtet.

Jeder Körper (insoweit er auch raumhaft aufgefaßt wird) ist nichts anderes als erstarrte, geronnene, dichtgewordene, materialisierte Zeit, die zu ihrer Entfaltung,

Formwerdung und Erstarrung des Raumes bedarf, der ein Spannungsfeld darstellt und infolge seiner latenten Energetik Träger der akuten Zeitenergetik ist, wobei sich die beiden energetischen Prinzipien, das latente des Raumes und das akute der Zeit, gegenseitig bedingen. Wenn wir diesen Gedanken - unseren Ausführungen vorausgreifend — schon jetzt formulierten, so geschah es im Hinblick auf die angedeutete Zentralstellung, die wir der Gegenwart einräumen; denn so-

wohl Raum als auch Zeit sind für unser Wahrnehmungsvermögen als Körper nur in der Gegenwart oder durch Gegenwärtigung existent. Die Gegenwärtigung,

die aus der Zeichnung Picassos spricht, wurde in seinem Werke erst möglich, nachdem er in den dreißig ihr voraufgegangenen Schaffensjahren alle jene Zeitstrukturen der Vergangenheit, die in ihm (wie in jedem von uns) latent waren, insofern zu aktualisieren und damit ins Bewußtsein zu heben vermochte, als er in einer

Vielfalt einstiger Stile malte. Dieser Vorgang ist bei Picasso ein- und erstmalig: er vermochte genuin Eigenstes aus seinem primitiv-magischen Erbe heraus (seine Negerkunstepocheff), aus seinem mythischen Erbe heraus (seine hellenisierendarchaische Epoche), aus seinem klassizistisch, schon rational betonten, formstrengen Erbe heraus (seine Ingres-Epoche) darzustellen ; erst diese Leistung ermöglichte die konkretisierende Temporik, wie wir seine und seiner Zeitgenossen neue Art zu malen nennen möchten; sie macht nicht nur den Grundcharakter dieser einen Zeichnung aus, sondern ist generell gültig. Erst dort, wo die Zeit nicht mehr in ihre drei Phasen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zerfällt, sondern zur

reinen Gegenwart wird, ist sie konkret geworden. In dem Maße, in dem Picasso

von Anfang an der Gegenwart vorauseilte und damit Zukünftiges in die Gegen-

wart seines Werkes hereinholte, in dem gleichen Maße hat er das Vergangene gegenwärtig zu machen vermocht: was schon wieder dem Schlaf (des Vergessens)

verfallen war und was noch im Schlafe (als einst Kommendes) lag, wurde in die

Wachheit der Gegenwart gerufen. Diese zeitliche Ganzheit, im Räumlichen verwirklicht und an einem Körper sichtbar und durchsichtig gemacht, das ist die einzigartige Leistung dieses Temporikers.

Mit dem Ausdruck ,, Temporiker“ bezeichnen wir in der Folge jene beiden großen Malergenerationen, die, auf die Klassiker, Romantiker, Naturalisten folgend, seit etwa 1880 und bisher ohne Zweifel unbewußt den Versuch unternahmen, die Zeit

zu konkretisieren. Von diesem Gesichts- oder Zeitpunkt aus erhalten alle jene Ver-

3. Die aperspektivische Welt

37

suche der verschiedenen Richtungen, der Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, neuerdings der Tachismus und so fort ihre gemeinsame

Kennzeichnung als das Ringen um die Konkretisierung und Realisierung der Zeit.

Daß diese Versuche eine Unzahl an Fehllösungen enthalten, ist nur zu erklärlich; sie wurden, wie wir gesehen haben, bei dem Suchen nach der Perspektive, der Raumrealisierung, ja auch nicht vermieden. Eine Begleiterscheinung durchaus chaotischen Charakters - und Chaos wird stets dort sichtbar, wo eine bisher geltende Welt sich umzugestalten beginnt - brachte beispielsweise der unumgängliche Versuch mit sich, das Vergangene gegenwärtig zu machen: bei diesem Versuch

wurden viele (und nicht zuletzt die Mehrzahl der Surrealisten sowie nachher die der Tachisten) von einer Zeitinflation überschwemmt, die sie verschlang : eine Unmenge abgestorbener Schlacken der Vergangenheit wurde wieder heraufgespült und „belebt“; sie überschwemmte jene, die das auferweckte Erbe nicht zu meistern

vermochten - ein Vorgang, der seine Parallele in der Inflation der bewußtwerdenden unbewußten Residuen hat, die durch Freud ausgelöst wurde. Statt der erhofften Ganzheit wurde ihnen eine Scherbenwelt beschert, statt die erhoffte geistige Beherrschung zu erlangen, wurden sie nur noch deutlicher zu Psychisten, womit wir jene Kategorie der heutigen abendländischen Menschheit bezeichnen, die sich aus der Befangenheit in der Psyche, aus der psychischen Befangenheit, nicht lösen kann. Selbst bei Picasso treffen wir auf Bilder, in denen sich dieser Prozeß der chaotisch-psychischen und psychistisch gewordenen Inflation spiegelt. Hätte

er nur Bilder und Zeichnungen dieser chaotischen Art geschaffen, so könnten wir ihn nicht mit Gewißheit als einen der größten Temporiker bezeichnen. Aber es gibt, besonders seit der Mitte der dreißiger Jahre, noch eine große Anzahl anderer Bilder Picassos, die das temporistische Bemühen einer Lösung entgegenführen. Wir wollen hier nur auf zwei Darstellungsarten eingehen: auf gewisse Porträts und auf eine Landschaft. (Inwiefern die Temporik beispielsweise in Picassos Stilleben zum Ausdruck kommt und inwiefern temporische Ansätze bereits im Impressionismus und früher [schon bei Delacroix] vorhanden sind, darüber wird

später noch Ausführliches zu berichten sein.) Bei den erwähnten Porträts von Picasso denken wir an die vielen seiner Werke

(seit etwa 1918), die unter Vernachlässigung jeglicher ästhetischen Rücksichten die

Dargestellten gleichzeitig „en face" und „en profil" zeigen66 (siehe Abb. 2 auf Tafel 1). Das, was auf den ersten Blick als Verzerrung erscheint oder als Dislozierung, beispielsweise der Augen, wird zu einer sich ergänzenden Überschneidung

zeitlicher Faktoren und räumlicher Sektoren durch das Wagnis, sie auf eine Bild-

fläche gleichzeitig und gleichräumig zu bannen. Derart erhält das Dargestellte jenen

konkreten Ganzheits- und Gegenwarts-Charakter,

der nicht aus dem seelisch

(- psychistisch -) betonten Schonheitsverlangen genährt wird, sondern der aus der Konkretisierung der Zeit lebt.

38

Die drei europäischen Welten

Sowohl auf der Zeichnung (siehe S. 35, Abb. ı) als auch auf diesen Porträts wird das Unvorstellbare und das eigentlich Undarstellbare evident: die Zeit wird an

ihrem eigensten Medium und Produkt, dem Körper (oder dem Kopf), sichtbar, da sie dessen Strukturen durchsichtig macht.

Daß diese Art des temporischen Porträts nicht etwa eine bloße, womöglich „zufällige“ Spielerei Picassos darstellt, sondern dem ganz bestimmten Ausdrucksverlangen entspricht, die zum Durchbruch drängende Temporik zu gestalten,

geht daraus hervor, daß wir bei Picasso ansatzmäßigen Lösungsversuchen dieser Art schon früh begegnen und daß auch Braque in den gleichen Jahren und unabhängig von Picasso ähnliche Porträts malte. Hinsichtlich Picassos verweisen wir auf seine beiden Bilder des „Harlekin mit

Guitarre" der Jahre 1918 und 19249, dann auf die beiden großen Gemälde von

1925, „La cage d'oiseau“ und „Nature morte à la tête de plâtre“, die Picasso selbst als zwei seiner repräsentativsten Werke dadurch hervorhob, daß sie unter den

neunzehn von ihm im Jahre 1935 ausgewählten Werken erscheinen, die in der Publikation von Sabartés abgebildet wurden; ferner verweisen wir auf die zwei Porträts des Jahres 1927, „Buste de femme en rouge" und „Femme“, sowie auf das

der „Femme au bonnet rouge“ von 1932. Was Georges Braque? angeht, der 1939 sein griechisches Erbe gestaltete7!, so finden wir erste deutliche Ansätze zu einer temporischen Porträtbehandlung in dem „Frauenkopf“ von 1930, dann in der „Sao“ von 1931; diese Art der Porträt-

darstellung kommt von dem Jahre 1936 4072 bei Braque immer stärker und gemeisterter zum Durchbruch (siehe Abb. 3 auf Tafel 1). Hinter diesen Werken steht die gesammelte Kraft der beiden stärksten Maler unserer Zeitepoche, und aus dieser bloßen Aufzählung mag hervorgehen, in

welchem Maße sowohl die Temporik als auch der Versuch, sie zu gestalten, die heutigen Äußerungsformen beherrscht. Auch auf dem erwähnten Landschaftsbild Picassos konnten wir jene Durchsichtigmachung des Zeitlichen beobachten, welche die angeführten Porträts charakterisiert. Da es von diesem Bild unserem Wissen nach nur eine, jedoch schwer zugängliche Reproduktion gibt, sei der

Versuch gewagt, es zu beschreiben.

Als ich im Herbst 1938 Picasso wiedersah, nachdem er, wenn ich mich recht er-

innere, aus der Bretagne nach Paris zurückgekehrt war, zeigte er mir die neuen Ölbilder, die er im Sommer jenes Jahres gemalt hatte. (Es war in seinem Atelier im „Quartier Latin“, in dem sein „Guernica“ entstanden war und fast den Raum

gesprengt hatte.) Unter den neuen Bildern fesselte mich besonders ein kleines Bild, das die Dächerlandschaft eines Dorfes, anscheinend von einem Fenster aus

gesehen, darstellte; es war fast flächig gemalt und von keinem zentralen Lichtpunkt beleuchtet: das ganze Bild zeigte nichts als eine Stufung fast platter Dächer vielfältigster Färbungen, die zuerst wie eine bloße Anhäufung von rechteckigen

3. Die aperspektivische Welt

39

Flächen anmuteten. Ich glaubte zunächst, dieses Bild beschäftige mich vor allem

wegen seiner Farbfülle, bis mir allmählich klar wurde, was der wirkliche Grund für mein Interesse war: die räumliche Unfixiertheit der Zeit, die Tatsache, daß

nicht der Augenblick auf ihm zur Darstellung gelangte, sondern die dauernde, ja ewige Gegenwart. Die Schatten, die dort in den Farbtönen zutage traten, hatten

ihren Grund nicht in einem Sonnenstande, der auf einen bestimmten Augenblick zeiträumlich exakt fixierbar gewesen wäre, -- so wie man etwa vor einer Landschaft Watteaus oder Poussins genau angeben könnte, daß sie in jenem Park, in

jenem Jahr, jenem Monat, an jenem Tage, zu jener Stunde gemalt und, infolge ihrer eindeutigen Schatten, exakt auf jene Sekunde hin fixiert waren: auf jenen einen bestimmten

Augenblick im Raum.

Die

Schatten auf dem

Dächerbild

Picassos dagegen spiegelten in ihrer Verschiebung und Lagerung den naturhaften Zeitablauf wider: Picasso hatte diese Landschaft gemalt, indem er es wagte, alle Beleuchtungen, alle durch den sich ändernden Sonnenstand ausgelösten zeitlichen Bewegungsmomente (die in der Verschiebung der Farbschatten sichtbar werden) mitzumalen, solange er selber an dem Bilde arbeitete: ein Einfangen der auf die Natur bezogenen Gegenwart, wie es, gerade wegen seiner Einfachheit, kühner nicht denkbar ist. Nicht der raumfixierte, zeiträumlichende Augenblick wird auf diesem einzigartigen Landschaftsbild sichtbar, sondern die in ihrer Ganzheit durchsichtig werdende Gegenwart; die Gegenwart, die in wesentlichen Akzidenzen mit dem übereinstimmt, was wir Ewigkeit nennen: denn beiden ist gemeinsam, daß sie ungreifbar und unvorstellbar sein sollen. Beide aber werden in ihrer Durchsichtigkeit in diesen Bildern Picassos präsent, evident und damit konkretisiert.

Die Aperspektivität, in der sich eine im Entstehen begriffene und daher neue Bewußtseinsstruktur ausdrückt, kann aber in allen ihren Konsequenzen, den negativen wie den positiven, nicht wahrnehmbar gemacht werden, solange nicht gewisse Begriffe, Haltungen und Denkformen, die bis anhin gültig waren und noch sind, näher betrachtet und geklärt werden. Ohne diese Klärungen würden wir in den Fehler verfallen, „Neues“ durch „alte“ Formulierungen, die dem „Neuen“

jedoch inadäquat sind, auszudrücken.

Den Nachweis dafür, daß sich die Konkretisierung der Zeit nicht nur in den bisher

erwähnten Beispielen der Malerei vollzieht, sondern außer in den Naturwissen-

schaften auch in der Literatur, Dichtung73, Musik, Plastik und auf vielen anderen

Gebieten, werden wir für alle diese Gebiete noch zu erbringen haben; dann näm-

lich, wenn wir jene für das Verständnis der Aperspektivität notwendigen neuen

Formulierungen herausgearbeitet haben werden. Allein schon die angedeutete Verquickung von Zeit und Psyche, die uneingesehen zu chaotisierender Auswirkung im Surrealismus und später dann im Tachismus kam, machte es deutlich, daß wir den arationalen Charakter der aperspektivischen

40

Die drei europäischen Welten

Welt nur dann evident machen können (um nur ein Beispiel unter vielen herauszugreifen), wenn wir Vorkehrungen treffen, daß die Aperspektivität nicht als eine bloße Regression ins Irrationale (der unperspektivischen Welt) oder als weitere Progression ins Rationale (der perspektivischen Welt) interpretiert wird. Der

Beharrungstrieb im Menschen verleitet ihn stets dazu, das tatsächlich „Neue“

oder zumindest „Neuartige“ (!) dort, wo es ihm begegnet, in die Kategorien des Bekannten einzuordnen oder es bestenfalls als dessen kuriose Spielart zu betrach-

ten. Die Etiketten der angebeteten Ismen liegen stets bereit und warten darauf, ein neues Opfer abstempeln zu können. Diesen neuen Götzendienst gilt es zu ver-

meiden. Das ist schwerer, als es auf den ersten Blick hin scheinen mag.

Nehmen wir nochmals das konkrete Beispiel, das sich aus der Zeit-Psyche-Verquicktheit ergibt: solange nur Teile der Zeit, solange nur bruchstückweise Vergangenheitsfetzen aus dem Unbewußtgewordenen ins Tageslicht heraufgeschleudert werden, führt dieser Ausbruch des Vergangenheitsaspektes der Zeit zu Chaos und Desintegration; in dem Moment aber, da es gelingt, so wie es Picasso gelungen ist, vergangene, also bereits wieder latent gewordene „Zeit“ in der

ihr sie die ten

entsprechenden Struktur und Ausdrucksform dem Vergessen zu entreißen und gestaltet von neuem sichtbar und damit gegenwärtig zu machen, erhellt sich Bedeutung, die wir für die Bildung der Aperspektivität den vergangenen Zeiund ihren verschiedenen Bewußtseinsstrukturen zuschreiben müssen. Ihr un-

eingesehenes Erbe, das jederzeit akut werden kann, droht uns, legten wir uns

nicht Rechenschaft davon ab, zu überwältigen und würde uns damit der Möglichkeit berauben, das Neue mit der notwendigen Wachheit und Selbständigkeit wahrzunehmen. Aus diesem Grunde werden wir im folgenden Kapitel jene zäsurierenden Geschehnisse betrachten, die sich, wie wir es bezeichnen wollen, als Bewußtseinsmutatio-

nen in der Menschheit ergeben haben; ihre Folgen sind in Form der verschiedenen Bewußtseinsstrukturen in jedem von uns latent und, da sie uns selber konstituieren,

noch in uns wirksam.

Hatte es bereits, wie wir hoffen, der bisherige kurze Abriß über das Wesen der unperspektivischen und der perspektivischen Welt deutlich gemacht, in welchem

Maße sich die aperspektivische Welt auf die perspektivische stützen muß, um sich von ihr befreien zu können, so wird die Grundlage für die „aperspektivische Welt“ tragfähiger und um so weiter werden, als wir ihre Fundamente „zeitlich“

vertiefen können.

Drittes Kapitel DIE VIER

BEWUSSTSEINSMUTATIONEN

1. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation Etwas Neues kann man nur finden, wenn man das Alte kennt. Der Satz, daß alles

schon einmal dagewesen sei und esnichts Neues unter der Sonne (und dem Monde) gebe, dieser Satz hat nur eine bedingte Richtigkeit: es ist alles immer schon

dagewesen, doch jeweils auf eine andere Weise, in einem anderen Lichte, in einer

anderen Bewertung, in einer anderen Verwirklichung, in einer anderen Sichtbar-

werdung. Die Ansätze zu einem heliozentrischen Weltbild bei Aristarch, zu einer Relativitätstheorie bei Zenon, einer Atomtheorie bei Demokrit, einer Raumerfassung bei

Euklid, und jene anderen ersten Durchbrüche: der zu einer entmythisierenden

Logik bei Sokrates, der zu einer Autobiographie bei Platon (in dessen „Siebentem Brief“), zu einer Geschichts-Schreibung bei Herodot: alle diese Ansätze sind Vorausnahmen späterer Blüten, sind Keimlinge, die zu ihrer Zeit aus Mangel an Nähr-

boden oder infolge fehlender Aufnahmefähigkeit der damaligen Epoche nicht sogleich wirklich, also nicht sofort sichtbar wirkend zu werden vermochten. Selbst

ein Petrarca, seiner Zeit vorauseilend, erschrickt in dem Moment, da er die Landschaft entdeckt, ob der Vermessenheit dieser Entdeckung und scheucht, zutiefst beunruhigt, diesen Gedanken fort, Gott anheimstellend, was seiner Empfindung nach Gottes und nicht des Menschen ist. Auf ähnliche Weise lehnte auch die erste

Generation unseres Jahrhunderts die neuen Entdeckungen ab - ja, durch eine

regressive Bewegung glaubte sie ihnen sogar jeden Nährboden entziehen zu können, eine Reaktion, auf die wir bereits ausführlich hingewiesen haben!. Denn das „Neue“2 anzunehmen, es sichtbar werden zu lassen, begegnet immer dem stärksten Widerstande, weil es die Überwindung von Althergebrachtem, Erworbenem

und mühselig Gesichertem erfordert. Dies aber ist gleichbedeutend mit Schmerz, Leid, Kampf, Unsicherheit und ähnlichen Begleiterscheinungen, die jeder soweit als möglich zu vermeiden trachtet.

Doch nicht nur diese Angst vor dem Leid hindert die Akzeptierung neuer Gegebenheiten, sondern auch das Gefühl der Bedrohung, das aus der Unmöglichkeit des Verstehens erwächst, weil man der alten Bewußtseinsstruktur noch zu stark verhaftet ist: so sieht denn von jenem Gesichtspunkt das „Neue“ überwirklich und übernatürlich aus. Und vor allem: es sieht nicht nur so aus, sondern von jener Bewußtseinsstruktur aus betrachtet ist es über ihrer Wirklichkeit, ist es tatsächlich

42

Die vier Bewußtseinsmutationen

über ihre Natur hinaus. Das einzige, was dann noch retten kann, ist der Versuch, das Neue dem Alten anzugleichen, aber dadurch verliert es freilich seinen Echtheits- und Wahrheits-Charakter. Bei diesen Versuchen, das Neue vom Alten her

mit den alten Begriffen erklären zu wollen, statt es in seiner Ursprünglichkeit gegen den alten Hintergrund zu halten, bei diesen unzulänglichen Versuchen setzen die Mißverständnisse ein, die Mißdeutungen und die Mißliebigkeiten. Um diese Mißlichkeiten zu vermeiden und um der Ursprünglichkeit des Neuen gerecht zu werden, müssen wir genau das tun, was ein jeder zu tun gezwungen ist, der bemerkt, daß er eine neue Situation in ihrer gänzlichen Neuartigkeit zu realisieren hat, wenn anders er nicht in einer bestimmten Lebenslage oder Lebenshaltung hoffnungslos verkümmern will. Dies aber kann nur geschehen, wenn er sich

über das Bisherige klarwurde. Und in diesem Sinne wollen wir einen Blick auf

jenes einzigartige menschheitliche Ereignis werfen, welches das Grundthema aller menschlichen Bemühung zu sein scheint: die Entfaltung des Bewußtseins3.

Wenn wir auf diese Bemühung der Menschheit zurückblicken, lassen sich als aus dem Ursprung, der archaischen Grundstruktur, hervorgehend drei Bewußtseinsstruk-

turen unterscheiden: die magische, die mythische und die mentale. Sollte es uns nun

in den folgenden Ausführungen gelingen, die Inhalte, Realisationsformen und

Lebenshaltungen, die Ausdruck dieser Strukturierungen sind, herauszuarbeiten, so wären wir fähig, feststellen zu können, in welchem Maße die eine oder die andere in uns selber (als einzelnem) nicht nur vorwiegt, sondern unser Verhalten zur Welt und unser eigenes Urteil über sie bestimmt. Dann könnten wir auch ohne die Gefahr, Altes mit Neuem zu vermischen, die neue Struktur zu erwägen, zu

beschreiben und zu beurteilen versuchen, die wir als die integrale Bewußtseinsstruktur? bezeichnen wollen, und deren im Entspringen befindliche Weltmodalität wir die „aperspektivische Welt“ nennen.

Doch bevor wir uns der Betrachtung dieser uns noch heute konstituierenden Strukturen zuwenden, müssen wir uns über den kritischen Wert der vorgeschlagenen

strukturellen Unterscheidungen klarwerden. Wenn wir es unternehmen, das, was man sich angewöhnt hat, „die Entwicklung der Menschheit“ zu nennen, in seinem

zeitlichen Ablauf darzustellen, so müssen wir uns bewußt bleiben, daß dies lediglich ein Versuch ist, Geschehenes zu strukturieren, damit wir es überschen kón-

nen. Dabei wollen wir verfälschende Begriffe, wie „Entwicklung“ und „Fortschritt“, nach Möglichkeit ausschalten: die behagliche Vorstellung von einer fortschreitenden, kontinuierlichen Entwicklung ist antiquiert. Sie war über 200 Jahre

lang Mode: seit der 1725 erfolgten Publikation von Giambattista Vicos „Principi di scienza nuova d'intorno alla comune natura delle nazioni5. Dieser Entwicklungsgedanke war vielleicht eine gute Arbeitshypothese, wurde aber mit der Zeit als eine allgemeingültige Realität genommen, während ihr nur eine beschränkte zukommt, und zeitigte im biologisierenden Spenglerismus die bekannten Kon-

I. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

43

sequenzen. Kein wirklich entscheidender Prozeß, der also mehr ist als ein bloßes

hier- und dorthin tastendes, fast spielerisches Geschehen mit seinen Vor- und Rückläufigkeiten verläuft kontinuierlich, sondern stets quantenmäßig, also in Sprüngen, oder, wenn wir es nicht physikalisch, sondern scheinbar biologisierend formulieren wollen: er verläuft mutierend, d.h. gleichfalls spontan, indetermi-

niert, also sprunghaft; und zwar insofern — und dies ist eine Einschränkung, die besonders bei der Anwendung dieses Begriffes auf psychische Vorgänge gemacht werden muß -, als wir der wahrscheinlich unsichtbar verlaufenden Prozesse erst dann ansichtig werden, wenn sie genügend stark geworden sind, um sich, infolge

der gewonnenen Virulenz, zu manifestieren. Das, was uns als Kontinuitäterscheint, ist nichts anderes als die von uns in den Geschehensablauf nachträglich hineinkonstruierte Reihe von Übergängen, mit deren Hilfe wir dem Geschehen einen logischen, kausalen, determinierten und zudem finalen, uns beruhigenden Kon-

tinuitäts-Charakter verleihen. Diese und die folgenden Ausführungen sollen unmißverständlich deutlich machen, welcher Art das von uns gemeinte Mutationsgeschehen ist: weder biologisch noch historisch, sondern geistig. Es käme einer Mißdeutung gleich, wenn der hier für das Mutationsgeschehen verwendete Mutationsbegriff assoziativ biologisch verstanden würde. Halten wir deshalb mit allem Nachdruck folgendes fest: Der biologischen und der bewußtseinsmäßigen Mutation ist zwar eines gemein-

sam: die spontane, gewissermaßen zeitfreie Schöpfung neuer Arten, Fähigkeiten oder Strukturen, die, einmal vollbracht, vererbbar bleiben. Sie unterscheiden sich

jedoch in einem wesentlichen Punkte. Die biologische Mutation führt zu Spezialisierung; als solche, als spezialisierende und reduzierende, können wir sie als MinusMutation bezeichnen. Die bewußtseinsmäßige Mutation dagegen führt zu Überdeterminierung, zu struktureller Anreicherung, zu Dimensionsgewinnen; als solche, als intensivierende und induzierende, können wir sie als Plus-Mutation

bezeichnen; dabei ist also die Minus-Zuschreibung als determinierend-restriktiv, die Plus-Zuschreibung

dagegen als überdeterminierend aufzufassen. Übrigens

findet sich der Gedanke, daß Mutationen von Plus-Charakter erwägenswert seien, auch bei C. F. v. Weizsäcker”. Möglicherweise hat unser Mutationsbegriff eine anscheinend biologische, weil gehirnanatomisch bedingte Verankerung, wobei es jedoch durchaus offen bleibt, ob es sich dabei um eine organisch eigenbedingte Weiterentwicklung oder um eine durch das geistige Prinzip „hervorgerufene“ Änderung handelt, also um eine Plus-Mutation. Diese Vermutung liegt nahe, da es stets das Übergeordnete ist,

welches anscheinend immer den Menschen dazu befähigt hat, daß er das not-

wendige und den jeweiligen Erfordernissen entsprechende Organ ausbildete. So war zuerst das Licht, dann das Auge, zuerst das Wort, dann der aussagende Mund,

44

Die vier Bewußtseinsmutationen

zuerst der Gedanke, dann das Großhirn, das den Gedanken nachdenken konnte (oder schlechthin unser mentales Denken ermöglichte)®. Diese Verankerung besteht in den anscheinend „ex nihilo“ auftretenden, dann erb-

lich werdenden Änderungen des Gehirns, deren Möglichkeit übrigens Lecomte

du Noüy mit den nötigen Vorbehalten in Erwägung gezogen 1209. Obwohl diese Gedankengänge seinerzeit (um 1950) von der Gehirnforschung abgelehnt wurden, scheint neuerdings (um 1960) Hugo Spatz sich anbahnende Änderungen

des Gehirns, die neue Rezeptionsfähigkeiten ermöglichen, gehirnanatomisch nachgewiesen zu haben!*. (Dann wäre dies gewissermaßen ein geistig bedingter mutationsmäßiger Vorgang, der parallel zu der oben erwähnten Bildung des Großhirns stünde, welches sich während der Bewußtseinsmutation aus dem magischmythischen Bereich in den mentalen herausbildete und in den höher und nach vorn gewölbten Stirnen der Griechen erstmals physischen Ausdruck angenommen hat.)

Hinsichtlich einer vom Biologischen ausgehenden Interpretation der Bewußt-

seinsmutationen sei jedoch verwahrend darauf hingewiesen, daß infolge der Definition, die wir ihr gaben, die terminologische Transponierung eines Begriffes

hier wie allenthalben statthaft ist. Oder sollte es, um ein Beispiel zu gebrauchen, das Erwin Schrödinger einmal anführte,'nur der Medizin und der Algebra erlaubt

sein, für verschiedene Gegebenheiten den gleichen Terminus zu verwenden, beispielsweise den des „Bruches“: Knochenbrüche und algebraische Brüche haben

miteinander genausoviel oder genausowenig zu tun wie einerseits biologische,

andererseits bewußtseinsmäßige

Mutationen!!.

Es besteht kein Grund, diesen

Begriff durch einen anderen zu ersetzen. Dies um so weniger, als er in der Biologie

selbst, seitdem man nicht nur zwischen Mikro- und Makro-Mutationen, sondern noch zwischen weiteren Unter- und Nebenarten von „Mutationen“ unterscheidet,

metaphorischen Charakter angenommen hat. Wir wählten diesen Begriff und behalten ihn gegen das Zwangs- und Sektorendenken perspektivischer Art bei, weil

er am besten das seit dem Ur-Sprung im Bewußtsein sprungartig sich vollziehende Geschehen umschreibt; weil er es uns außerdem ermöglicht, die heute denknot-

wendige Distanzierung zu Begriffen wie Fortschritt, Entwicklung und Entfaltung aufrechtzuerhalten. Das rationale Denkklischee des „Fort-Schrittes“, der zumeist

nur ein Fortschreiten vom Ursprung ist, der biologisierende Gedanke der Entwicklung, der botanisierende der Entfaltung sind hinsichtlich des Phänomens Bewußtsein nicht anwendbar. Dagegen unterstreicht der Begriff „Mutation“, im

Sinne eines sprunghaften, ruckhaften Geschehens, den vom Ur-Sprung her im

Bewußtsein veranlagten geistigen Gehalt und die Umlagerung ursprunghafter Gegebenheiten in das Bewußtsein. Jede Bewußtseins-Mutation ist die anschei-

nend plötzliche Akut-Werdung latenter, seit dem Ursprung vorhandener Möglichkeiten. Keine dieser Mutationen bedingt - ganz im Gegensatz zu gewissen

I. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

45

biologischen - den Verlust vorheriger Möglichkeiten und Eigenschaften, sondern deren plötzliches Einbezogenwerden in eine neue Struktur, wodurch die vorherigen Möglichkeiten und Eigenschaften überdeterminiert werden. Als ein plötzliches erscheint uns dieses Geschehen nur deshalb (wir haben bereits in „Abendländische Wandlung“ darauf hingewiesen)??, weil sich gewisse „Prozesse“ — soweit man da von Prozessen sprechen darf - anscheinend „außerhalb“ der raumzeitlichen Erfaßbarkeit und „Begreifbarkeit“ abspielen, so daß wir unsererseits den

durch Raum und Zeit gegebenen Kausalkonnex nicht herzustellen vermögen.

Dagegen wissen wir heute, daß der vor Raum und Zeit „liegende“ Ursprung sich

in den Bewußtseins-Mutationen jeweils bewußtseins-intensivierend und -integrierend gegenwärtigt. Der Zeitdauer, innerhalb derer ein solcher Prozeß jeweils statthat, entspricht die Streuungsbreite, da diese die jeweilige Menschheit als Gan-

zes betrifft; man sollte ihn deshalb wahrscheinlich nur mit größter Vorsicht als

„Groß-Mutation“ bezeichnen, wie dies Giselher Wirsing in Abänderung unserer

Terminologie

vorschlägt!3.

Auch ein anderer Korrekturvorschlag, den Ernst-

Peter Huß!4 suggeriert, ist leider nicht verwertbar, obwohl dieser Autor gleich uns die Primordialität des Geistigen anerkennt, aber dann statt des ursprungs-gebundenen, zeitfreien Mutations-Geschehens einen sogenannten Reifeprozeß postuliert und damit in die gefährliche Nähe der Botanisierung bzw. der Biologisierung des Geistes gelangt. Es sei nochmals festgestellt: Bewußtseins-Mutationen sind mit Begriffen wie Fortschritt, Entwicklung, Entfaltung bestenfalls dialektisch,

psychologisierend oder biologisierend beziehungsweise botanisierend aspektierbar; wo dies jedoch geschieht, nimmt man diesem Geschehen seinen UrsprungsCharakter, der geistiger Art ist. In den Bewußtseins-Mutationen vollzieht sich ein

Umlagerungs-Prozeß, der dem bloßen raumzeitgebundenen Geschehen entzogen ist und sich somit diskontinuierlich, also sprunghaft, manifestiert; es sind Umlage-

rungs-Prozesse, welche die Assimilation des geistig akzentuierten Ursprungs durch

das Bewußtsein des Menschen ermöglichten. Der Ur-Sprung selbst kommt mutierend, also sprunghaft, zum Bewußtsein: Bewußtseins-Mutationen sind Integrations-Vollzüge. Übrigens dürfte es aufschluBreich sein, daß die Sprache dort, wo es sich um primordiale Vorgänge handelt, von „Ur-Sprung“ spricht, also die Sprunghaftigkeit, Plötzlichkeit dieses Geschehens betont, während ihr für die zeitgebundenen InitialVorgänge Wörter wie „Anfang“ und „Beginn“ zur Verfügung stehen (worauf bereits vorn, am Anfang des Vorwortes hingewiesen worden ist). Hinsichtlich der Berechtigung, den Mutations-Begriff terminologisch zu transpo-

nieren, sei zusätzlich darauf verwiesen, daß in den letzten Jahren mancherseits

dieser Begriff in Bestätigung unseres Konzeptes desgleichen transponierend für das geistige Geschehen in Erwägung gezogen und gebraucht worden ist. So spricht Hermann Graf Keyserling in einem seiner letzten Aufsätze (1948)!5 von der sich

46

Die vier Bewußtseinsmutationen

heute vollziehenden „Welt-Mutation“. Ren& Grousset fragt sich (1950): „Finden die Gesetze von Vries und Morgan über die biologischen Mutationen auch auf die menschliche Gesellschaft Anwendung:“, wobei er an das Phänomen denkt, daß

„plötzlich das ägyptische und das sumerische Wunder (erscheinen), die in ihrer Art etwa das sind, was später das griechische Wunder sein wird^16, Julius F. Glück unterstreicht (1951 und 1952) den mutativen Charakter der Kunst-Stile und

-Phasen sowie die sprunghaft erfolgenden „Übergänge“ zu einer jeweils neuen

„Integrationsstufe“ der Menschheit!7. Hendrik de Man spricht (1951) hinsichtlich

unserer heutigen Lage von der Alternative „entweder Tod oder Mutation18,

Rudolf Pannwitz erwägt (1951) als Lösung unserer Situation die Möglichkeit einer „moralischen Mutation‘ * und stellt in Übereinstimmung mit den von uns vorgetragenen Ansichten (siehe Teil r, Kap. IV, 2: ,,Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen“) fest: „Der ganze Mensch ... ist die Synthese und Kristallisation aller seiner Schichten und Stufen . . . wir wachsen aber, unzweifelhaft, dem kom-

plexen Menschen entgegen"19, wobei hier einerseits „komplexer Mensch“ als Synonym zu dem von uns gebrauchten Begriff des „integralen Menschen“ zu betrachten ist, andererseits darauf verwiesen sei, daß wir den Begriff „komplex“ ver-

mieden haben, da er durch die Ansprüche der „Komplexen Psychologie“ zu einseitig, weil nur psychologisch, fixiert ist. Des weiteren ist auf die Ausführungen von Walther Tritsch (1954) hinzuweisen, der hinsichtlich der heute sich vollziehenden Umgestaltung

unserer Wirklichkeit feststellt: „Diese geistige Ver-

wandlung -oder Mutation -kann auch als ein plötzliches Anstrahlen eines anderen Sektors der Wirklichkeit aufgefaßt werden, wobei die Schauenden und Erblickenden immer nur einzelne sind, aber der diese Schau ermóglichende und erzwin-

gende Richtstrahl wird von der Gesellschaft ausgesandt, in der sie leben und in

deren Struktur eine entscheidende Veränderung - oder Mutation - vor sich geht.“20 Schließlich sei noch auf Pierre Teilhard de Chardin verwiesen (siehe auch vorn in unserem „Vorwort zur zweiten Auflage“), dessen Werk erst seit 1955 publiziert wurde. Er, obwohl stark an das darwinistische Entwicklungspostulat gebunden, spricht davon, daß es „keine Möglichkeit (gibt) [zumindest bei unseren augenblicklichen Denkformen], dem Problem der Diskontinuität zu entgehen“;

und er fährt fort: „Wenn der der Sachverhalt es zu fordern kritische Umbildung ist, eine Mutation einzugehen. Später

Übergang zum reflektierenden Bewußtsein - wie scheint und wie wir angenommen haben - eine Mutation ...“, um dann auf den Träger dieser präzisiert er diese zumindest „psychische Diskon-

tinuitit", in der er „das Entscheidende der Menschwerdung erblicken (muß)“, um dann zu folgern, daß „eine so grundlegende Mutation wie das Denken, die der

ganzen menschlichen Gruppe ihren spezifischen Charakter gibt . . ., oberhalb des Ursprungspunktes und Entfaltungsbeginns der Menschheit stehen muB“?!. Also

selbst er, der dem finalen, teleologischen Entwicklungsgedanken verpflichtet ist,

I. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

47

greift für die entscheidenden Vorgänge auf das Konzept des diskontinuierlichen Geschehens, also auf das der Mutation, zurück. Die Zulänglichkeit und die Berechtigung für die Anwendung unseres Begriffes „Bewußtseins-Mutation“ dürfte durch die vorstehenden und unsere Einstellung nachträglich stützenden Beispiele deutlich geworden sein.

Betrafen diese Ausführungen den nicht-biologischen Aspekt der Bewußtseins-

mutationen, so sei noch einer weiteren, der historisierenden Mißdeutung, die aus den rationalen Denkgewohnheiten resultieren könnte, vorgebeugt:

Viele sind geneigt, sich in ihrer Abwehr des geistig bestimmten Mutationsgesche-

hens dadurch Beruhigung zu verschaffen, daß sie auf den „technischen Fortschritt“

pochen und sich in eine betriebsame Hybris hineinsteigern (die wohl durch die bisherigen Anwendungen eben dieses „technischen Fortschrittes“ jedwede Berechtigung verloren haben dürfte, soweit man überhaupt von einer Berechtigung der

Hybris sprechen kann). Die von den Verfechtern des Fortschrittsgedankens vertretene Ansicht, daß unser Zeitalter und unsere Zivilisation einer Höherentwicklung

entspräche, ist ja durch ihre eigene Fortschrittsleistung, durch deren Resultate, besonders aber durch ihre Anwendungen, deutlich genug in Frage gestellt worden.

In jedem Fall zeigen diese Ergebnisse und ihre Anwendungen, daß wir uns vor jeder wie auch immer gearteten Selbsteinschätzung oder gar Überschätzung hüten müssen; vor allem vor dieser, die durch das biologisierende Postulat einer Höher-

entwicklung ausgelöst wurde. In den letzten (etwa) 232 Jahren hat sich dieses Postulat tief in die europäische Mentalität eingegraben. Es geht auf Vico zurück,

Montesquieu vertritt es mit seinen 1734 publizierten „Betrachtungen über die Größe der Römer und ihren Verfall“, Voltaire (1756) mit seinem „Versuch über die Sitten und den Geist der Völker“. Dieses Thema wurde von Bossuet, Duclos,

Volney, Condorcet in Frankreich weitergeführt; von Spencer und Darwin in England, von Buckle (1860) in seiner „Geschichte der Zivilisation in England“, von Lecky (1865) in seiner „Geschichte des Geistes der Aufklärung“, von G. E. Lessing (1780) in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“, von Herder (1784) in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, von Schelling,

Hegel und Krause in Deutschland. Dieses Postulat erhielt (1847) durch Auguste Comte?? jene Fassung, die als „Drei-Stufen-Gesetz“ oder „Drei-Stadien-Theorie“

noch vielerorts Gültigkeit genießt. Diesem „Gesetz“ zufolge lösen in Wissenschaft und Weltanschauung das theologische, metaphysische und positivistische Entwicklungsstadium einander ab, wobei ganz naiv angenommen wird, daß sich

nach der Überwindung der Theologie und der Metaphysik durch den Positivismus ein theologisches oder metaphysisches Denken nicht mehr durchsetzen könne23,

Der ausgesprochen teleologische und finale, also zweck- und zielgerichtete Charakter dieses Postulats (worin seine perspektivische Fixiertheit zutage tritt), der

48

Die vier Bewußtseinsmutationen

fast biologisierend zu nennende Blickwinkel, unter dem es konzipiert ist (wobei seine Sektorhaftigkeit sichtbar wird), und vor allem seine „Entwicklungs“-Thematik verhindern, daß diese Theorie von Comte in irgendeine Parallele zu dem gesetzt werden kann, was wir hier als die „Vier Bewußtseins-Mutationen“ bezeichnen. Ihre scheinbare Aufeinanderfolge ist weniger eine biologische „Entwicklung“ als eine „Entfaltung“, ein Begriff, der die Teilhabe einer geistigen Realität an der Mutation zuläßt. In keinem Falle ist aber diese Entfaltung als Fortschritt aufzufassen. Wir müssen diesen Begriff „Fortschritt“ für das nehmen, was er ist, und

nicht für das, wozu er, seinem ursprünglichen Wortlaut zuwider, gemacht wurde:

„Fortschritt“ ist kein Positivum, auch dann nicht, wenn Gedankenlosigkeit ihn als solches wertet; Fortschritt ist auch ein Fortschreiten, weg von etwas, also ein

Weggehen und Sichentfernen von etwas: vom Ursprung. Mit jeder neuen Bewußtseinsmutation entfaltet sich das Bewußtsein stärker, während der Entwick-

lungsbegriff den Mutations-Charakter ausschließt, da dieser im Gegensatz zur Kontinuierlichkeit der Entwicklung diskontinuierlich ist. Entfaltung istin diesem Sinne eine Anreicherung, da sie jeweils, wie wir noch sehen werden, mit einem Dimensionsgewinn verbunden ist; sie ist aber gleichzeitig auch eine Verarmung, da sich die Distanz zum Ursprung vergrößert. Freilich kann man diesen negativen Aspekt

eliminieren, dann nämlich, wenn man die Ursprungsidee selbst in die Bewußtseinsentfaltung projiziert, oder wenn man dieser Bewußtseinsentfaltung den Charakter des nachholenden Realisierens dieser Ursprungsidee durch den Menschen zubilligt und dabei synthetisierend dann von einer sich vervollkommnenden Ursprungsentfaltung im Menschen spräche. Dies ist jedoch eine Frage, die wir hier noch nicht entscheiden können, da die mögliche Antwort, solange sie nicht begründet wurde, bloße spekulative Aussage wäre, die uns höchstens zur Nach-

betung des Hegelschen Theorems von der Selbstbewußtwerdung eines dazu noch verabsolutierten „Geistes“ verführen könnte.

Und noch vor einem weiteren möglichen Fehler müssen wir uns hüten: daD wir keinen voluntaristischen (willensmäßigen) Akzent in die Bewußtseinsmutation hineintragen. Die Anthropozentrik des Voluntarismus, das will sagen: die auf den Menschen zentrierte Willenslehre mit ihrem deutlich perspektivisch-sektorenhaften Charakter hat dort kein Bürgerrecht, wo wir nicht wissen, in welchem

Maße der Mensch über die sich in ihm vollziehenden Mutationen Macht und willensbetonten Einfluß besitzt. Aus der Darstellung der Perspektivgewinnung, die wir objektiv zu halten versuchten, dürfte deutlich geworden sein, in welchem Maße die Generationen zwischen 1250 und 1500 n. Chr. von dem Bestreben, den Raum zu realisieren, besessen waren, und dieses Bestreben nicht bloß besaßen. Wir hoffen mit diesen Hinweisen nunmehr auch der historisierenden Verfälschung

oder Mißdeutung der geistigen Mutationen, welche das Bewußtsein betreffen, vorgebeugt zu haben.

I. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

49

Dieses Mutationsgeschehen, sein In-Erscheinung-Treten ist nicht etwa als bloße Aufeinanderfolge oder als Fortschritt oder historisierend als Ablauf aufzufassen, sondern als über und durch die Zeiten und Kulturen ausgeteiltes Sichtbarwerden anlagemäßig vorgegebener Bewußtseinsmöglichkeiten, welche teils mindernd, teils bereichernd, die jeweilige Wirklichkeitserfassung des Menschen bestimmen. Und es sei nochmals darauf hingewiesen: Wir haben allen Grund, sowohl den

Fortschritt zu beargwöhnen, der uns die Fehlentwicklung der Technik brachte (insofern, als wir heute noch von ihr und nicht sie von uns abhängig ist), als auch

die Lehre von der erwähnten „Höher“-Entwicklung und vom Voluntarismus, der, von Duns Scotus ausgehend, jedenfalls aber seit Vico, die Sinngebungskraft

aus einer mutmaßlich „hinter“ allem Sein liegenden Ursprünglichkeit in die Ratio

und den Willen des Menschen verlegte, und den dann Spengler und selbst ein Croce, als hoffentlich letzte Vertreter dieses hybriden Voluntarismus, endgültig vertreten haben.

Andererseits wollen wir auch nicht in die östliche Haltung verfallen, also aus der Ablehnung des Fortschrittes und des Voluntarismus uns zum bloßen Spielball

irgendwelcher Mächte oder irgendeiner Macht degradieren. Die Distanzierung

von diesen überspitzt perspektivischen Theorien sollte uns nicht zu dem östlichen Gehaltensein, zu einem bloßen Eingeflochtensein in den nichts als natürlichen Ablauf der Dinge verführen oder uns, wäre es auch nur symbolisch, zu jenem Rück-

zug in die Höhle veranlassen, wie ihn uns Buddha und die Eremiten des Ostens und des Westens weniger vorlebten als vorstarben: zu jenem Rückzug in die unperspektivische Höhlenwelt, der in der östlichen Form eindeutig den Wunsch nach Rückgängigmachung der Geburt enthältz6,

Zu dieser östlichen Haltung führt letztlich die Auffassung von Theodor Lessing zurück, der zwar mit klarem Blick den „Fortschritts“- und „Entwicklungs“Gedanken bekämpft hat (obwohl er den Fortschritt als „die fruchtbarste aller

Ideen“ Europas bezeichnet, die jedoch „zu einem realen in der Zeit verlaufenden Vorgang der Geschichte verbogen“ wurde)27, der aber, statt über das rationalperspektivische Europäertum hinauszugehen, dem der teleologische Fortschrittsund der final gerichtete Entwicklungsgedanke eignet, in die für uns nicht mehr

realisierbare östliche Haltung regrediert, also in die irrationale, unperspektivische Haltung zurückfällt. „Europa und Asien“2® sowie Paul Cohen-Portheims „Asien als Erzieher“29 sind, trotz aller in diesen Schriften enthaltenen Wahrheiten, hierfür Beweises genug.

Die bloße Regression ist so wenig ein Weg, wie es die Weiterverfolgung der Ideen

Fortschritt,

Entwicklung,

Voluntarismus,

Positivismus

usw.

wäre.

Der

Sprung, der sich in uns vorbereitet — ihn müssen wir realisieren. Und je besser die

Absprungsbasis ist, das heißt: je breiter und je sicherer sie fundiert und uns selber

bewußt ist, desto größer dürften die Aussichten auf sein Gelingen sein. Wenn er

$0

Die vier Bewuftseinsmutationen

jedoch mißlingt, dann freilich wird der Atomisierungsprozeß, der sich als Móglichkeit ankündigt, jeder weiteren Entfaltung einer bereits sich ereignenden neuen Mutation zuvorkommen.

Um jene Absprungsbasis zu gewinnen, wollen wir im Sinne einer Arbeitshypothese die vier beziehungsweise fünf Strukturen darstellen, die wir als die archaische, die magische, die mythische, die mentale und die integrale bezeichnet haben. Dabei müssen wir uns jedoch stets gegenwärtig halten, daß diese Strukturen durchaus nicht nur einen Vergangenheits-Charakter haben, sondern in mehr oder minder latenter oder

akuter Form heute noch in jedem von uns vorhanden sind. Nur mit der Herausarbeitung und der damit verbundenen Bewußtmachung dieses bisher mehr oder weniger übersehenen Tatbestandes wird uns, im Gegensatz beispielsweise zu Hegel oder

Comte, eine gänzlichende Betrachtungsweise möglich. Wir stellen also gegen die

bloße Evolutionstheorie nicht nur unsere Mutationstheorie der Bewußtwerdung; wir beziehen in unsere Betrachtung, nach der Gegenwärtigung (nach der Gegenwärtig- und damit Bewußtmachung) des Vergangenen, die Zukunft als bereits vorhanden, weil in uns latent existierend, ein. Wir lassen nicht nur die Möglichkeit einer neuen Bewußtseinsmutation offen, jene in die neue Struktur

der integralen „Bewußtheit“ der aperspektivischen Welt, sondern nähern sie uns an; das aber besagt: wir gegenwärtigen sie.

Im Lichte dieser Betonung der Gegenwart erhellen sich gleichzeitig zwei ver-

schieden geartete Tatsachen: erstens die Tatsache des Bewußtseins, das weder Wissen noch Gewissen ist, sondern das wir vorerst und im weitesten Sinne als ein waches Gegenwärtigsein werten; zweitens die Tatsache, daß ein wirkliches Gegen-

wärtigsein jede Art von zukunftsgerichteter Finalität als Widerspruch zu sich selbst ausschließt, da des Gegenwärtigseins verlustig geht, wer einseitig in bloße

Erinnerung oder in bloße, womöglich voluntaristisch geprägte Hoffnung verfällt. Diese Unvorsätzlichkeit - dieser positive Mangel an Vorsatz oder Vorsätzlichkeit,

der vor allem eine Abwendung von jedwedem Utilitarismus einschließt, scheint uns deshalb wichtig, weil dadurch rational bedingte Korrekturen des Möglichen ausgeschlossen werden, die ihrem Wesen gemäß stets perspektivischer Art sind. Demzufolge sind wir nicht wie die Positivisten der Überzeugung, daß das heutige

positivistische Stadium, beziehungsweise daß die rational-perspektivische Struktur das non plus ultra des Menschheitswerdens darstelle, sondern sind, immer

im Gegensatz zu Hegel und Comte, von der fortdauernden Wirksamkeit der „früheren“ Strukturen in uns überzeugt, und darüber hinaus auch von der be-

ginnenden, also schon gegenwärtigen Wirksamkeit der sogenannten „zukünftigen” Struktur in uns. _ Die Wirksamkeit der sogenannten Vergangenheit, die fiir Hegel und Comte ein bloBer Leichnam ist, anerkennen wir in einem viel stärkeren Maße, als es beispiels-

weise indirekt durch Georges Sorel und in seiner Nachfolge durch den zweideu-

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur

SI

tigen Vilfredo Pareto geschah, die in gewissen politischen und sozialen Theoremen säkularisierte (verweltlichte, verdiesseitigte) christliche Mythologeme wiedererkannten, welche als „mythische Residuen“ gewissen politischen und sozialen

Programmen und Ideologien zugrunde liegen. Hat uns die neue Ethnographie das Verständnis für das Weiterleben der magischen Haltung und für ihre noch fortdauernde Wirksamkeit erschlossen, so erbrachte die neue Psychologie, vor

allem die durch Sigmund Freud begonnene und von C. G. Jung erweiterte psy-

chologisierende Mythenforschung den Nachweis, daß die mythische Haltung ebenfalls noch immer und durchaus nicht nur residuenhaft in uns weiterwirkt. Leider werden diese Erkenntnisse der heutigen Tiefenpsychologie durch sie selbst in eine derartig rückwärts gerichtete perspektivische Überspitzung und auch Verallgemeinerung getrieben, daß die bereits erwähnte psychistische Inflation aus dem Unbewußten immer stärkere Ausmaße annimmt. Dagegen gibt es nur einen Schutz: das strikte wache Gegenwärtigsein und Gegenwärtigbleiben. Wir dürfen

also im folgenden nicht in die Vergangenheit zurück- und untertauchen und durch ihre Aktivierung von ihr psychisiert werden, sondern müssen uns, jederzeit gegenwärtig, das Vergangene gegenwärtig machen. Dieses Gegenwärtigmachen der Vergangenheit durch uns, und nicht das Vergänglichmachen der Gegenwart durch die Macht des Vergangenen, ist die Forderung. Wir werden sie ohne Zweifel zu leisten vermögen, wenn uns zugleich die ausbalancierende Kraft dessen gegenwärtig ist, was in der Gestalt des „Zukünftigen“ als Latenz bereits Gegen-

warts-Charakter, und damit möglichen BewuDtseins-Charakterhat. Unter diesen Gesichtspunkten des Zeitlichen, die in ihrer Art bereits einen Anflug

aperspektivischen Charakters haben, wollen wir jetzt die Fundamente der aperspektivischen Welt „zeitlich“ vertiefen, indem wir die genannten BewuBtseins-

strukturen betrachten.

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur Die dem Ursprung am nächsten „gelegene“ Struktur, die, wie zu vermuten ist,

anfänglich mit dem Ursprung selbst identisch ist, bezeichnen wir als die „archaische Struktur“. („Archaisch“ abgeleitet vom griechischen ἀρχή [arché] = Anfang,

Ursprung, wobei wir die Betonung auf das Wort „Ursprung“ legen, der seinem

Wesen nach immer gegenwärtig ist, was für den „Anfang“ nicht zutrifft.) Zur

Wahl des Wortes Struktur ist zu sagen, daß Strukturen im Unterschied beispielsweise zu „Ebenen“, die eine Räumlichung mit sich bringen und damit der nur perspektivischen Betrachtungsweise Vorschub leisten, nicht bloße Raumgefüge sind, sondern vor allem auch Gefüge raumzeitlicher, ja selbst raumzeitfreier Art sein können. Wenn wir also hier das Wort Struktur gebrauchen, so deshalb, weil

52

Die vier Bewußtseinsmutationen

andere sich anbietende Ausdrücke wie „Lage“, „Stufe“ oder „Schicht“ noch stärker raumbetont sind, als es der Ausdruck „Ebene“ wäre. Diese erste Struktur nun ist eine null-dimensionale Struktur. Damit ist nochmals

gesagt, daß sie raumzeitlicher Art ist, obwohl unsere heutige Vorstellungskraft

diesen Sachverhalt nur als Paradoxon zu realisieren imstande ist. Sie ist der Ursprung und nur terminologisch jene „erste Struktur“, die noch „vor“ (bzw. hinter) der Einheit oder der Unität steht und die selber aus der vollständigen Identi-

tät hervorgeht, welche sie in ihrem Anfangsstadium wohl noch dargestellt haben

mag. Sie ist dem biblischen paradiesischen Urzustande am nächsten, wenn nicht dieser selbst. Es ist die Zeit, da die Seele noch schläft, und so ist sie die traumlose

Zeit und die der gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und All. Wenn wir nun Ausschau halten nach Aussagen über diese Zeit, so finden wir außer generellen, vorwiegend mythischen Vorstellungen wie der Androgynität (der Zweigeschlechtigkeit) oder des sie darstellenden und sie lebenden Protan-

thropos, des Urmenschen, in den uns aus der Frühzeit überkommenen Schriften

kaum irgendwelche Hinweise, die diese Struktur prazisieren3°. Und diese Schriften berichten nur fragmentarisch, und wenn auch nicht inkorrekt, so doch zu-

mindest defizient, gleichgültig auf welche Zeit, welches Geschehnis, Ereignis, Charakteristikum oder auf welche Aussage sie sich beziehen mógen. Denn die Tatsache - und es ist wichtig, dies einmal festzustellen ~, daß etwas schriftlich fixiert wurde, besonders wenn es in früher Zeit geschah, ist vor allem ein Hinweis auf die

Lage der Zeit, in der die Überlieferung niedergeschrieben wurde: dem Zwang zur

Niederschrift muß ein Nachlassen des echten, lebendigen Wissens zugrunde liegen,

also eine Angst vor einem Wissens-Verlust. Diese Angst mag dem Gefühl der Unzulänglichkeit entspringen, die ursprüngliche Kraft und den ursprünglichen Gehalt nicht mehr substantiell bewahren und leben zu kónnen. Insofern sind alle alten Texte, trotz ihrer Weisheitsfülle, bloßer Widerschein der lebendigen Wahrheit, der in den Defizienzperioden summiert wird. In späteren Zeiten kommt hinzu, daß die - vielleicht infolge der zunehmenden Dimensionierungen -sich aufsplitternden Grunderkenntnisse zu blofer Stoff-Fülle und Stoff-Mannigfaltigkeit an-

wachsen: defizient werdende Haltungen retten sich dann in Synkretismen (in

wahllose Zusammenfassungen „esoterischer Lehren“ und „Mysterienweisheiten“

zu einer summenhaften ,,Religion“) oder in Enzyklopädien. Das erste geschah in den römischen Jahrhunderten n. Chr., das letzte seit der „Aufklärung“3?. Aus

präsenter Weisheit wird gestapeltes Wissen, das summiert und zusammengefaßt

nur eine neue Summe, aber keine „neue“ Weisheit ergibt, also nichts Qualitatives,

sondern lediglich Quantitatives, keine Weisheit, sondern nur massenmäßig akkumuliertes Wissen: nichts also, das man „sein“ könnte, nur etwas, das man zu „haben“ vermag.

Was nun die direkten, präzisen Aussagen anbetrifft — jene Art der handgreiflichen

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur

53

Feststellungen, welchen unsere Epoche den Vorzug gibt -, so fanden wir lediglich zwei, die sich auf die archaische Struktur beziehen und die sie indirekt charakterisieren; sie sind chinesischer Herkunft, stammen aber bereits aus der mythischen

Endepoche dieser wohl ältesten Überlieferung. Die eine steht bei Dschuang Dsi3?, Bei ihm findet sich der Satz: „Die wahrhaften Menschen der früheren Zeiten schliefen traumlos“, den wir wohl als Schlüsselsatz für die archaische Ebene betrachten dürfen. Denn im Hinblick auf seine eigene Zeit (um 350 v. Chr.) sagt er

ausdrücklich: „pflegt die Seele im Schlafe Verkehr“, ein Hinweis, den der Übersetzer Richard Wilhelm auf Grund alter Kommentare durch den Zusatz ergänzt: „und erzeugt so die Träume, von denen der berufene Heilige frei ist“. Traumlosigkeit aber ist Unerwachtheit der Seele, denn der Traum ist eine der Manifestationsformen der Seele. Insofern ist die Frühzeit jene Zeit, da die Seele noch schläft, wobei der Schlaf anfänglich so tief gewesen sein mag, daß die Seele,

wenn auch nicht inexistent, so doch (möglicherweise in einer geistigen Vorform), bewußtseinsfern war.

Und aus dem zitierten Satz geht weiter die betonte Gegenüberlosigkeit des archaischen Menschen hervor; denn erst eine Welt des Gegenüber, erst die der Identität verlustig gegangene Welt enthält die Möglichkeit des austauschenden Verkehrs. Wir müssen auf eine Tatsache, auf zwei aufschlußreiche Wörter in diesem Satz

besonders hinweisen: darauf, daß einer der größten Weisen Chinas die Menschen

der Frühzeit nicht etwa mit den zwei Worten „primitive Menschen“ disqualifi-

ziert, wie es ein heutiger Europäer aus einer wissenschaftlichen Hybris heraus tun

könnte, sondern sie „wahrhafte Menschen“ nennt, von denen der Kommentator als von den „berufenen Heiligen“ spricht. Wir weisen nachdrücklich auf diese Formulierung hin, denn die archaische Struktur ist in dem von uns gemeinten

Sinne durchaus nicht „primitiv“. Wer etwa die sogenannten heutigen „Primitiven“ als Repräsentanten dieser Struktur assoziiert, der beraubt sich der essentiellen Grundlage seines Menschseins. Die heutigen „Primitiven“ leben nicht mehr in der

archaischen, sondern in einer bereits mehr oder weniger defizient magischen Struktur; ihre vornehmlich magische Gestimmtheit hat sich in ihnen weitgehend

überlebt, und ihr magisches Gehaltensein wird in dem Moment defizient, da sie mit dem Europäer in Kontakt kommen.

Die zweite Aussage über die BewuBtseinslage der archaischen Struktur, die man vom heutigen Standpunkt aus unvorsichtigerweise als eine Nicht-BewuBtseins-

lage zu charakterisieren versucht ist, findet sich in einem aufschlußreichen Hin-

weise Richard Wilhelms33. In einer Anmerkung zu seiner Darstellung der Farben-

symbolik der chinesischen Frühzeit stellt er fest: „Blau und Grün sind in jener Zeit noch nicht entschieden; das gemeinsame Wort ist T’sing, das ebensowohl die Farbe des Himmels wie die Farbe der sprossenden Pflanze bedeutet.“

Wenn aus irgendeiner der äußerst spärlichen Mitteilungen über die Anfangszeit

54

Die vier Bewußtseinsmutationen

der Menschheit das Ungeschiedensein, ja das Ununterschiedensein des archaischen Menschen von Welt und Weltall hervorgeht, ein Unerwachtsein, dank dessen er noch fraglos im Ganzen ist, so dürfte dies bei den zwei zitierten Äußerungen der Fall sein: Traumlosigkeit bedeutet ohne jeden Zweifel problemlosen Einklang

und damit völlige Identität von innen und außen; sie bringt den mikrokosmischen Einklang zum Ausdruck. Gleichheit der Farbe von Erde und Himmel bedeutet ohne jeden Zweifel problemlosen Einklang und damit völlige Identität von Erde und Himmel. (Der mögliche Einwand, es könne sich hierbei um eine primitive Farbenblindheit handeln, ist nicht stichhaltig; wer diesen Begriff hier anwendet,

macht sich eines Anachronismus schuldig.) Diese Identität von Erde und Himmel bringt den makrokosmischen Einklang zum Ausdruck. Beide zusammen, mikrokosmischer und makrokosmischer Einklang, sind nichts anderes als problemlose Identität von Mensch und All. Von hier aus gesehen erhält eine Behauptung Platons, um deren Verständnis sich nicht nur Aristoteles34 und Thomas von Aquin, sondern unzählige Denker bemühten (wobei einzelne so weit gingen, eine Textänderung durch erweiternde,

interpretierende Übersetzung vorzuschlagen) eine eigene Beleuchtung. Der Satz (nach Aristoteles zitiert) lautet: „die Seele ist . . . zugleich mit dem Himmel (entstanden)".

Die beiden chinesischen Aussagen, die wir zur Charakterisierung der archaischen Struktur herangezogen haben, enthalten, was der Satz Platons behauptet: der von der Erde nicht unterschiedene Himmel ist so wenig „existent“, wie die Seele in der Traumlosigkeit „existent“ ist; das Erwachen der einen, der Seele, bringt das gleichzeitige Erwachen des Blau, des Himmels mit sich, denn „die Seele ist zu-

gleich mit dem Himmel”. Im Rückblick mag es uns wohl so scheinen, als sei dies alles nur eine im Menschen

sich vollziehende Bewußtseinsmutation in der Richtung auf uns Heutige, auf

unsere heutige Bewußtseinsstruktur hin; aber wir müssen uns davor hüten, diese Geschehnisse nur einseitig zu perspektivieren. Die heutige Denkweise würde nun

erfordern, alles von den jetzigen Gegebenheiten aus zu betrachten, also den umgekehrten „Weg“ zu gehen, den die Geschehnisse nahmen. Das jedoch würde bedeuten, daß wir von den aufgesplitterten Manifestationen aus immer nur Rückschlüsse und Folgerungen zögen, die aber nicht mehr bis zu dem kaum auffindbaren Ursprung zurückfinden, weil sie dort in die Brüche gehen müssen, wo die

Abfolge der Geschehnisse durch eine Mutation unterbrochen ist. Deshalb ver-

suchen wir es unsererseits, die rückwärtigende Betrachtungsweise zu vermeiden, und dies ist der Grund, weshalb wir unsere Ausführungen mit der ursprünglichen Struktur begonnen haben und nicht mit der heute vorherrschenden Struktur, der

rationalen perspektivischen, zumal diese schon nicht mehr unserer tatsächlichen Bewußtseinsstruktur entspricht.

3. Die magische Struktur

$5

Die von außerordentlichen Konsequenzen erfüllten und niegeschaute Hintergründe öffneten Sätze der chinesischen und des griechischen Weisen sagen mehr über die archaische Struktur aus, als retrospektive Folgerungen oder Projektionen unsererseits es vermóchten. Wer diesen Sátzen nachsinnt und ihre Gegenwirti-

gung Glanz Weltin uns

zu leisten vermag, der wird das uns noch gerade zuträgliche Maß vom des Ursprunges wahrzunehmen vermógen, jenen ersten Schimmer der und Menschwerdung, der durch diese Sätze aus urvergangenen und doch gegenwärtigen Zeiten hindurchscheint. Doch der das tut, wird schweigen. 3. Die magische Struktur

Wahrscheinlich wäre es nötig, zwischen die archaische und die magische Struktur noch eine oder womöglich zwei andere einzuschalten, etwa eine „noch-archaische“

und eine „schon vor-magische“ Struktur. Es fehlt jedoch in dem Material, soweit wir es überblicken, jeder feste Anhaltspunkt, um diese Zwischenstrukturen zu präzisieren. Demzufolge umfaßt die magische „Epoche“ für uns nicht nur einen langen „Zeitraum“, sondern auch verschiedene, sich jedoch voneinander nur un-

genau absetzende Äußerungs- und Entfaltungsformen. Der hierbei vielleicht entstehenden Unklarheit wollen wir dadurch begegnen, daß wir alle diese Formen als Äußerungen des magischen Menschen betrachten, den vor allem eines kenn-

zeichnet: er tritt aus der nulldimensionalen, archaischen Struktur der Identität in

die eindimensionale der Unität hinaus. Und wir werden noch sehen, daß hier das ideelle Symbol für die Eindimensionalität, der Punkt (das Grundelement der

Linie), als Bezugs-Charakteristikum des magischen Menschen von aufhellender Bedeutung ist; dieser Punkt, der einerseits eine erste Zentrierung im Menschen andeutet (die später zu seinem Ich führen wird), ist andererseits Ausdruck der eindimensionalen Raum- und Zeitlosigkeit, in welcher der magische Mensch lebt.

Es gibt eine Wortgruppe, die unter anderen die Wörter: machen, Mechanik,

Maschine und Macht zusammenbindet; es handelt sich dabei um Wörter der

gleichen indoeuropäischen Wurzel „mag(h)-“35s. Wir vermuten, daß das Wort

„Magie“, das auf ein persisches Lehnwort des Griechischen zurückgeht, zu der

gleichen Wortgruppe gehört, also der gleichen Wurzel ist.

In dieser magischen Struktur wird der Mensch aus dem „Einklang“, der Identität mit dem Ganzen, herausgelöst. Damit setzt ein erstes Bewußtwerden ein, das noch durchaus schlafhaft ist: der Mensch ist zum ersten Male nicht mehr nur in der Welt, sondern es beginnt ein erstes, noch schemenhaftes Gegenübersein. Und damit taucht keimhaft auch jene Notwendigkeit auf: nicht mehr nur in der Welt

zu sein, sondern die Welt haben zu müssen. Je stärker er sich aus dem Ganzen, aus

s6

Die vier Bewußtseinsmutationen

der Identität mit ihm herauslöst, in den Maße nämlich, wie ein tät ihm „bewußt“ wird, desto mehr beginnt er ein Einzelner Unität, die in der Welt vorerst noch nicht die Welt als Ganzes mag, sondern jeweils nur die Einzelheiten (oder „Punkte“), die

Teil dieser Identizu werden, eine zu erkennen versein noch schlaf-

haftes Bewußtsein treffen und die dann jeweils für das Ganze stehen. Die magische

Welt ist somit auch die Welt des „pars pro toto“, indem „der Teil für alles“ stehen kann und steht. Und die Wirklichkeit des magischen Menschen, sein

Bezugsgeflecht, sind diese in der Unität punktartig voneinander geeinzelten Ge-

genstände, Geschehnisse oder Taten, die beliebig miteinander vertauscht werden können: eine Welt des bloßen, aber sinnreichen Zufalls, nämlich eine Welt, wo

alles dem Menschen Zufallende von wirkender Gültigkeit ist, da zu allem und unter allen ein Bezug besteht: das noch nicht zentrierte Ich ist noch über die Welt

der Erscheinungen zerstreut. Alles, was noch in der Seele schläft, ist für den magischen Menschen vorerst nur spiegelmäßig im Außen wach. Dieses Außen geschieht

ihm so blind und so verworren, wie dem Schlafenden der wirkende Traum geschieht. Hier liegt die Wurzel der Seelenvielzahl, die dem magischen Menschen eine Wirklichkeit ist (jene Seelenvielzahl, die wir noch zu betrachten haben). In

einem gewissen Sinne kann man sagen, daß in dieser Struktur das Bewußtsein

noch nicht im Menschen ist, sondern noch in der Welt ruht. Die allmähliche Umlagerung dieses Bewußtseins, das auf ihn einströmt, und das er assimilieren muß, oder von ihm aus gesehen: diese erwachende Welt, der er gegenüberstehend all-

mählich bewußt wird - und in jedem Gegenüber liegt zugleich etwas Feindliches —:

beides muß er meistern. Und er antwortet auf die ihm entgegenströmenden Kräfte mit den ihnen entsprechenden eigenen: er stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu lenken, er versucht, unabhängig von ihr zu werden; er

beginnt zu wollen. Zauber und Beschwörung, Totem und Tabu sind die naturhaf-

ten Mittel, mit denen er sich von der Übermacht der Natur zu befreien, mit denen sich die Seele in ihm zu verwirklichen, sich ihrer bewußt zu werden versucht.

Trieb und Instinkt entfalten sich und bringen ein durch sie bedingtes und betontes Bewußtsein hervor, ein naturhaftes vitales Bewußstein, das es ihm trotz seiner Ichlosigkeit möglich macht, infolge seiner Hineingebundenheit ins Gruppen-Ich, das seinen Rückhalt im „Wir“, dem Clan, der Sippe oder dem Stamm hat, die

Erde und die Welt zu bestehen. Hier, in diesen Befreiungsversuchen des magischen Menschen aus der Eingeflochtenheit und der Gebanntheit in der Natur, mit der er anfänglich noch eins ist — eben eine Unitat -, hier beginnt der seit jener Zeit nicht mehr endenwollende Kampf um die Macht; hier wird der Mensch zum Macher. Und hier liegt die den mit dem Bekämpften: Beispiel zu nennen), macht macht das Tier, indem er es

Wurzel der tragischen Verflochtenheit des Kämpfenum das Tier zu bannen, das ihn bedroht (um nur ein er sich in der Verkleidung zu diesem Tier; oder er zeichnet, und erhält dergestalt Macht darüber. So ent-

3. Die magische Struktur

57

stehen die ersten Entäußerungen innerer Kräfte, die ihren Niederschlag in den vorgeschichtlichen Fels- und Höhlenzeichnungen finden36. In welchem Maße diese Zeichnungen vornehmlich bannenden, magischen Charakter haben, geht aus der Schilderung hervor, die Leo Frobenius im Jahre 1905 in seinem Werke „Un-

bekanntes Afrika" gab37. Dort beschreibt er, wie im Kongo-Urwald Leute des zwerghaften Jägerstammes der Pygmäen (es handelt sich um drei Männer und

eine Frau) vor der Antilopenjagd im Morgengrauen eine Antilope in den Sand zeichnen, um sie beim ersten Sonnenstrahl, der auf die Zeichnung fällt, zu „töten“; der erste Pfeilschuß trifft die Zeichnung in den Hals; danach brechen sie zur Jagd auf und kommen mit einer erlegten Antilope zurück: der tödliche Pfeil traf das

Tier exakt an der gleichen Stelle, wo Stunden zuvor der andere Pfeil die Zeichnung traf; dieser Pfeil nun, da er seine bannende - den Jäger sowohl wie die Anti-

lope bannende - Macht erfüllt hat, wird unter Ritualen, welche die möglichen Folgen des Mordes von den Jägern abwenden sollen, aus der Zeichnung entfernt,

worauf dann die Zeichnung selbst ausgelóscht wird. Beide Rituale vollziehen sich, sowohl das des Zeichnens wie das des Auslöschens, was festzustellen äußerst wichtig ist, unter absolutem Schweigen.

Daß diese Sandzeichnung der Pygmäen mit den erwähnten Höhlenzeichnungen

in allerengster Verbindung steht, geht aus einem Funde hervor, der in der Höhle von Niaux gemacht wurde. In ihr wurde eine prähistorische, aus dem Quartär stammende Zeichnung entdeckt, die einen von Pfeilen „getroffenen“ Büffel dar-

stellt (Abb. 4). Hugo Obermaier, der sie kommentiert3®, verweist auf ihren magi-

Abb. 4: Prähistorische Büffel-Zeichnung (in Schwarz) aus der Höhle von Niaux in den französischen Pyrenäen (Verkleinert) schen Charakter, sowie darauf, daß auch in anderen Höhlen ähnliche Zeichnungen entdeckt wurden und daß noch heute an einigen Orten, so in Annam, diese Jagdmagie ausgeübt wird. Wir dürfen also das von Frobenius beobachtete und geschilderte Jagdritual durchaus als ein, wenn auch sehr spätes, Beispiel für die magische Struktur betrachten, obwohl es sich von den Ritualen, diean den Höhlenzeich-

58

Die vier Bewußtseinsmutationen

nungen vorgenommen wurden, in einem äußerst wesentlichen Punkt unterscheiden dürfte. Höhlenzeichnungen der Art, wie die von uns abgebildete, finden sich nur in den allerdunkelsten Teilen der Höhlen, wo kein Licht, geschweige denn die Sonne hindringt, während bei den Pygmäen gerade der Sonne eine entscheidende Rolle im Ritual zugewiesen wird. Demzufolge müssen die in der Höhle voll-

zogenen Beschwörungen einer wesentlich früheren Epoche der magischen Welt

angehören. Diese Beschwörungen, die man vom heutigen rational-psychologi-

sierenden Standpunkt aus als Konzentrierung der Libido (der psychischen Energie) auf ein bestimmtes Objekt bezeichnen könnte, waren ohne Zweifel insofern bewuftseinsbildend, als das Zentrieren des menschlichen Wollens auf ein Objekt

gleichzeitig eine Zentrierung der psychischen Energie im Menschen mit sich bringen mußte. Wie sehr diese Vorgänge aus dem Dunkel des UnbewuBtseins heraus geschahen, zeigt der Ort der frühen magischen Handlungen: die Dunkelheit der Höhle — selbst wenn ein Feuer bei der Beschwörung die Sonne „ersetzt“ haben

sollte — deutet auf die große Bewußtseinsferne, auf die Unerwachtheit des Bewußtseins in jenen frühen magischen Zeiten hin.

Obgleich also, verglichen mit der Höhlenzeichnung, die Sandzeichnung der Pyg-

mäen „spät“ ist, da das sie begleitende Ritual schon eine gewisse Herausgelöstheit

aus der Natur, ein beginnendes freies Ihr-Gegenüberstehen erkennen läßt, bringt sie doch, falls wir es wagen, diese Szene zu deuten, einige der wesentlichsten Charakteristika des magischen Menschen zum Ausdruck:

Diese (fünf) Charakteristika sind: ı. die Ichlosigkeit des magischen Menschen, 2. seine punkthaft-unitäre Welt, 3. seine Raum- und Zeitlosigkeit, 4. sein Eingeflochtensein in die Natur, 5. seine magische (Macht gebende und ihn zum

Macher machende) Reaktion auf dieses Eingeflochtensein.

In diesem Jagdritual und in dieser Jagdszene kommt erstens die Ichlosigkeit inso-

fern zum Ausdruck, als die Verantwortung für den Mord, der durch das GruppenIch an einem Teil der Natur begangen wird, einer schon als „außenstehend” empfundenen Macht, der Sonne, überbunden wird. Nicht der Pfeil der Pygmien ist es, der tötet, sondern der erste Pfeil der Sonne, der auf das Tier fällt, und für den

der wirkliche Pfeil nur Symbol ist (und nicht umgekehrt, wie man heute zu sagen versucht ist: für den der Sonnenstrahl Symbol ist). In dieser Überbindung3# der Verantwortung durch das Gruppen-Ich (das in den vier das Ritual vollziehenden Menschen Form annimmt) an die Sonne (die ihrer Helligkeit wegen stets als Be-

wuBtseinssymbol aufzufassen ist) wird deutlich, in welchem Maße das Bewußt-

seinsvermögen dieser Menschen noch im Außen ist oder dem Außen überbunden wird: das sittliche Bewußtsein, das eine Verantwortung zu tragen imstande wäre, weil es auf einem klaren Ich beruht, liegt für die Ichlosigkeit dieser Pygmäen noch in der Sonne; ihr Ich (und damit ein wesentlicher Teil ihrer Seele) ist noch, dem Lichte der Sonne gleich, über die Welt ausgestreut. Dieser Sachverhalt deutet

3. Die magische Struktur

$9

bereits das zweite Charakteristikum an, die punktbezogene Unität. Sie kommt schon in der sichtbar gewordenen Austauschbarkeit des real verursachenden Elementes mit dem irreal verursachenden Elemente, das heift, sie kommt in der Spiegelwertung von Sonnenstrahl und Pfeil zum Ausdruck. Dieser punktbezogenen

Unität liegt, wie wir es bezeichnen möchten, ein naturhafter Vitalkonnex (und

nicht der rationale Kausalkonnex) zugrunde. Diese punktbezogene Unitit, in der, eben wegen ihrer Unität, alles und jedes miteinander wirkend vertauschbar ist,

wird dann nach dem Jagdritual in dem Jagdergebnis insofern wieder sichtbar, als die symbolische Tötung genau mit der tatsächlichen koinzidiert: in der raumund zeitlosen Welt bildet das eine wirkende Unität, was von unserer Raum-ZeitWelt aus gesehen ohne Kausalkonnex abläuft, also irreal ist, so irreal wie für „un-

sere Welt" beispielsweise der Zufall ist.

Damit sind wir zu dem dritten Charakteristikum gekommen, der Raum- und Zeit-

losigkeit des magischen Menschen. Nur in einer Welt der Raum- und Zeitlosig-

keit hat die dargestellte punktbezogene Unität wirkenden Realitits-Charakter ;

außerhalb ihrer ist sie eine Irrealität. Diese raum-zeitlose Unität macht, daß jeder „Punkt“ - und dieses Symbol steht hier ununterscheidend für ein Ding, ein Geschehnis oder eine Handlung -, daß also gewissermaßen jede Unität in der Unität, unabhängig von Zeit und Ort (wie in der Jagdszene) und damit durchaus unabhängig von jedem rationalen Kausalkonnex, für einen andern „Punkt“ Geltung erhalten kann. Jeder Punkt, sei er nun real, sei er irreal, sei er nur kausal verknüpf-

bar oder nur symbolisch verknüpfbar, kann nicht nur mit einem andern ganz und gar beliebigen Punkt konnektiert werden, sondern wird mit ihm identifiziert,

besser noch: er wird mit ihm geeint. Der eine kann vollgültig und vollwirkend

an die Stelle eines andern treten. Damit wird den Phänomenen, deren einigende

Koppelung uns als irreal erscheinen muß, da diese Koppelung in der vegetativen psychischen Energetik verläuft, ein absoluter Realitäts-Charakter verliehen. Dieser Wirkungs-Charakter verliert jedoch seine Wirksamkeit in dem Moment, da er

durch rationale Kausalisierung seiner vitalkonnexen Grundlage und Bezogenheit beraubt wird, weil die Einschaltung des Bewußtseins dann die unbewußt verknüpfende psychische Energetik stört und unterbricht. Alles magische Geschehen spielt sich, selbst noch heute, in der naturhaft-vitalen, ichlosen und raum- sowie

zeitlosen Sphäre ab. Diese fordert (von uns Heutigen aus gesehen) eine Preisgabe

der Bewußtseinsfähigkeit, wie sie beispielsweise in der Trance statthat, oder wie

sie infolge der Infektion durch Massenreaktionen oder durch Schlagwörter und Ismen ausgelöst wird. Wird uns diese Sphäre in uns nicht bewußt, so bleibt sie ein immer noch aktivierbares Einfallstor für alle magischen Einflüsse. Dabei ist es gleichgültig, ob diese nun wissentlich von Menschen ausgehen, oder unwissentlich von Dingen, die aber in dieser Sphäre ein ihnen eigenes oder ein ihnen überbundenes magisches Vitalwissen haben; und es ist weiter gleichgültig, ob diese

60

Preisgabe

Die vier Bewußtseinsmutationen

des Bewußtseins von unbewußt-hintergründigen Vorstellungen aus-

gelöst wird#°. Es handelt sich in solchen Fällen dann um Menschen, Dinge oder Vorstellungen, die es vermochten, uns zu veranlassen, einen Teil der ungeordneten

und deshalb negativ-schattenhaft gebliebenen psychischen Energie durch Pro-

jektion (Übertragung) an sie zu binden, und die derart jene Macht über den Teil unseres Ich erhielten, den wir selber nicht mächtig genug waren, unter unsere eigene Macht zu stellen. Auf diese raum- und zeitlosen Vorgänge, die aus der vegetativen Verflochtenheit alles Lebendigen resultieren und die in der ich-losen magi-

schen Sphäre jedes Menschen Realitäten sind, spielen wir hier durchaus absichtlich an; die Einsicht in diese Realitäten könnte manche Zusammenhänge beleuchten. Sie vermögen freilich nur dann bewußt zu werden, wenn der heutige Mensch trotz seiner rationalen und perspektivischen Haltung die Mächtigkeit der Raumund Zeitlosigkeit realisiert und mit dieser Realisierung das vollbringt, was gerade der magische Mensch zu leisten noch nicht imstande ist, weil er noch bewußtseinsfern und tief in diese ich-, zeit- und raumlose Welt der unbewußten Unität

eingeflochten 15141, Dieses Eingeflochtensein, das wir als das vierte Charakteristikum bezeichnet haben, dieses Verflochtensein geht ebenfalls aus der Jagdszene hervor. Es bringt seinerseits die Unität zum Ausdruck, aber auch die in ihr enthaltene Diskrepanz des Unitätsbezuges. Diese wurde bereits durch die Betonung seiner Punkthaftigkeit an-

gedeutet und wird an dem Eingeflochtensein insofern sichtbar, als diese Unität einerseits auf die einzelnen Erscheinungen, Geschehnisse und Handlungen, also auf den „Punkt“, andererseits aber, und damit der raum-zeitlosen Widerspruchs-

losigkeit entsprechend, auch auf die tatsächliche Mensch-Natur-Einheit bezogen ist. Wir werden auf diesen Aspekt der unitären Verflochtenheit sowie auf gewisse Darstellungen aus der magischen Zeitepoche, die diese Verflochtenheit äußerst anschaulich machen, sogleich zurückkommen. Hier müssen wir nur noch

hervorheben, daß die unitäre Verflochtenheit in dieser Jagdszene insofern zum Ausdruck gelangt, als nicht ein einziger Vorgang in ihr als Folge oder Ursache aufgefaßt werden darf: das gesamte sich in ihr darstellende magische Geschehen bildet eine unlösbar ineinander verflochtene Einheit. Und diese Einheit wird durch keine Räumlichung oder Zeitlichung zerstört, sie wird wegen der Unbetontheit aller Handelnden, die alle, seien es nun die Menschen, die Pfeile, die Sonne,

die Zeichnung, der Wald, die Antilope, ichlos sind, in keiner Weise aus dem

Gleichgewicht gebracht. Und trotzdem tritt gerade in dieser Tatsache die Widersprüchigkeit des Unitätsbezuges, nämlich die unbewußte Diskrepanz zwischen den

Teilen (den Punkten) und der tatsächlichen Einheit hier deutlich zutage. Denn,

wenn auch ungemein versteckt, so ist hier doch der Mensch oder die Menschen-

gruppe der Handelnde, der sich zwar dem verflochtenen Geschehen einfügt, aber gerade durch diese Einflechtung und dieses Eingefügtsein dem Geschehen eine

3. Die magische Struktur

Or

bestimmte Richtung verleiht. Wir werden noch sehen, daß alles Richten ein Bewußtwerden einschließt. Insofern schimmert hier jener Bewußtwerdungsprozeß hindurch, der in dem Kampf des magischen Menschen gegen die Natur, der in den Versuchen, sie zu meistern und sich damit von ihr zu befreien, sichtbar wird. Der Ansatzpunkt für diese Möglichkeit liegt in der aufgezeigten Doppelbezogen-

heit der Unität, die auf sich selber und in sich auf jeden mit ihr identischen Punkt bezogen werden kann. Sie liegt in der Austauschbarkeit, in der Auswechselbar-

keit der unitären Punkte, derzufolge sowohl der Teil als das Ganze stets für alles stehen kann: das pars pro toto ist zugleich auch immer ein totum pro parte (wobei im totum merkwürdig, wahrscheinlich durchaus nicht etymologisch, sondern ,,zufällig“ das Totem aufklingt); ja, die Austauschbarkeit geht noch weiter, indem man den Satz in ein pars pro parte, und in diesem Sinne selbst in ein totum pro

toto auswechseln kann, ohne daß er dadurch seine Gültigkeit verlóre. Wie sehr diese Austauschbarkeit wirksam ist, erhellt vielleicht am deutlichsten jene, die im Opfer, mit seinem stellvertretenden Leiden im Ritual, statthat. Tausch ist im magischen Bereich noch keinesfalls Täuschung, sondern Ausdruck echter Gültigkeit des „Gleichen“.

In dieser gleichen Gültigkeit des Ganzen und des Teiles kommen zwei zusätzliche Wesenszüge der magischen Welt zum Vorschein, die in der (perspektivelosen) Gleich-Setzung und Gleich-Gültigkeit bestehen. Die Gleich-Setzung bringt das mit sich, was wir analogisierendes oder auch assoziatives Denken nennen können,

das weniger ein „Denken“ als vielmehr ein bloßes zufälliges Assoziieren ist, das sich auf das Analogem stützt. Hier liegt auch die Wurzel des sympathetisierenden Gleichsetzens, das der magische Mensch mit allem zu vollziehen vermag, was einander nicht nur ähnlich ist, sondern einander auch nur zu ähneln scheint. Das will

besagen: hier liegt die Wurzel dafür, daß der magische Mensch die Dinge, die einander zu ähneln scheinen, als einander „sympathisch“ oder als miteinander

sympathisierend empfindet und sie durch den Vitalkonnex (und nicht durch den Kausalkonnex) miteinander verknüpft. Was nun die Gleich-Gültigkeit anbelangt, so ist sie sowohl die Vorstufe für jede Analogisierung, in stärkerem Maße jedoch der Ausdruck dafür, daß die magische Welt eine Welt ohne Werte ist, in der alles gleiche Gültigkeit hat#2. Daß dies jedoch

nur für die frühe Zeit zutrifft, braucht nicht betont zu werden, da sich beispielsweise in der Jagdszene schon Wertungsmomente andeuten. Trotz dieser GleichSetzung und dieser Gleich-Gültigkeit liegt aber in der magischen Unität latent auch jene Diskrepanz verborgen, die dem Richtungsmoment zum Durchbruch verhilft. Diese Diskrepanz ist entscheidend, weil sie das auslösende Moment für eine BewuBtseinssteigerung ist. Sie wird in der Widersprüchigkeit des Unitätsbezuges sichtbar, von der wir bereits sprachen. Diese Diskrepanz gebiert das, was wir als letztes der Charakteristika für den magischen Menschen anführten: seine

62

Die vier Bewußtseinsmutationen

magische Reaktion, seinen Bannwillen, um dem Bann des Eingeflochtenseins begegnen und ihm dadurch entgehen zu können. Diese magische Reaktion (das fünfte Charakteristikum) ist der eigentliche Inhalt des

Jagdrituals. Schon die Tatsache des Rituals, das dem nur naturhaften Chaos eine geformte und gerichtete Handlung überstellt, zeigt, in welchem Maße unser Jagdbeispiel einer bereits späten Entfaltungsepoche des magischen Menschen entspricht. Der Mensch, vielmehr: die Menschengruppe ist hier zwar noch Mithandelnde, aber auch schon Für-sich-Handelnde. Der Schritt aus der vollständigen

Unität heraus ist hier schon weitgehend vollzogen: die selbst als eine Unität (als Gruppen-Ich) sich dunkel ihrer selbst bewußt werdende Gruppe beginnt sich aus der Naturverflochtenheit herauszulösen und deren Bann durch den Gegenbann

zu brechen. In diesem Zerbrechen der Bindung, in diesem allmählichen SichGegenüberstellen deutet sich jene Polarisation der Welt an, die in der mythischen Struktur dann weltbildend und bewuBtseinsbildend werden wird. Die magische Reaktion schafft jenes Gegenüber, das den Kampfplatz oder das Spielfeld des Handelnden ermöglicht. Diese Herauslösung aus der Natur ist der Kampf, dem jener merkwürdige Zwang

zum Wollen, jener in einem sehr gewissen Sinne

tragische Zwang zur Macht, zugrunde liegt. Dieser Zwang ist es, der den magi-

schen Menschen befähigt, sich gegen die Übermacht der Natur zu stellen, um der bindenden Macht des Eingeflochtenseins zu entgehen. Damit leistet er jenen wei-

teren Sprung in die Bewußtwerdung, welche das eigentliche Thema der Mensch-

heitsmutationen ist. Dieser seltsame, dem Menschen wohl doch zutiefst eingeborene Drang zum Freisein, der, wenn wir an die archaische Struktur zurückdenken, sich durch und in

ihr gleichsam als ein Fall, ja als ein Abfall aus der einst gegebenen gänzlichen Ganzheit darstellt — dieser Freiheitsdrang und das aus ihm resultierende, ständige Gegen-etwas-sein-Müssen (denn nur dieses „Gegen“ schafft Distanzierung und damit Bewußtwerdungsmöglichkeiten) ist vielleicht, sei es nun Fluch, Gnade

oder Auftrag, eine auf die Macht der Erde antwortende Reaktion des Menschen,

der auf diese Erde verschlagen wurde: wer die Erde bestehen will, der muß sich

von ihrer Macht befreien können.

In der magischen Struktur, die zutiefst noch, jedenfalls anfänglich, erdgebunden und erdverhaftet ist, naturhaft und verwaldet, so daß der Mensch kaum aus dieser

Verquicktheit des Urwaldes herauszutreten vermag — noch heute steht ja der Wald, der nicht zufällig an das Wort „Welt“ anklingt, für das dunkle, unbewußte Leben -: mit oder infolge dieser magischen Struktur vollzieht der Mensch den fast übermenschlichen Versuch, sich aus der dschungelhaften, verquickten, bindenden und bannenden Naturverflochtenheit zu lösen. Alle Mantik, aller Zauber (wie das Regenmachen), das Ritual und alle jene unzählig vielfältigen anderen Formen, in denen der magische Mensch der Natur zu begegnen versucht, haben

3. Die magische Struktur

63

hier ihre Wurzel. Und nicht nur unsere Maschinen und unsere Mechanik, auch die heutige Machtpolitik entspringen letztlich dieser magischen Wurzel: die Natur, die Umwelt und die Anderen müssen beherrscht werden, damit der Mensch nicht von ihnen beherrscht werde; diese Furcht, daß man gezwungen sei, das

Außen zu beherrschen (um nicht von ihm beherrscht zu werden), ist sympto-

matisch gerade auch für unsere Epoche. Diesem Zwang verfällt jeder, der nicht realisierte, daß er sich selbst zu beherrschen habe. Die notwendige Leistung, die

im Meistern und Richten unseres eigenen Wesens läge, über das wir nicht Macht,

wohl aber, eingedenk der vergessenen Herkunft, richtendes Recht erhalten sollten,

wird noch immer ins Außen projiziert. Das magische Erbe, der Machtanspruch, ist, eben auch in dieser aufgespaltenen Form, noch immer nicht überwunden. Unser Versuch, an Hand einer späten magischen Szene dem heutigen Menschen die magische Struktur deutlich zu machen, indem wir auf mentale Weise Verhält-

nisse darstellten, die von uns aus gesehen nicht etwa nur irrational, sondern praerational sind, trägt das Stigma aller jener Bemühungen, die mit inadäquaten Mit-

teln zu arbeiten gezwungen sind. Praerationales ist rational nicht darstellbar. An-

dererseits können wir nicht praerationalisieren, also bloß das Emotionale, Gefühlsmäßige, Vitale evozieren, wenn wir über diese Komponenten des Praerationalen, die den magischen Menschen ausmachen, Klarheit erhalten wollen. Da wir es vermeiden müssen, zu jenen Mitteln zu greifen, deren sich die sogenannten Okkultisten bedienen, und da es nicht statthaft ist, die Methoden der Dunkelmänner zu gebrauchen, mußten wir uns auf den vorstehenden Versuch beschränken, der gewiß ein merkwürdiges Gemisch von Rational-Mentalem und Praerationalem ist.

Und wohlbedacht beschränkten wir uns hier auf dies eine kleine Beispiel. Einem

anderen, vielleicht stärkeren, werden wir noch begegnen. Wir entbanden nicht

die wohlgefesselten Mächte. Das heutige psychische Chaos wuchert schon genug,

als daß man gerade dieses Chaos noch aktivieren sollte. Denn die Vielzahl der

magischen Manifestationen aufzureißen, die durchaus der Vielzahl, ja der Unzahl der naturhaften Manifestationen entspricht, wäre zudem ein nutzloses Beginnen:

diese endlose Welt, dieser Dschungel urwaldhaften Verquicktseins wäre kaum in Bücherreihen, vielleicht nur in Zettelkatalogen fixierbar#3. Allein schon die nicht darstellbare Fülle alles Akustischen, die Unevozierbarkeit des Magisch-Akustischen setzt der Schilderung dieser magischen Welt Grenzen:

die Wirkung des schicksalhaft beschwörenden Pochens der Urwaldtrommeln, dieses überdimensionierte Schlagen des Herzens und des Pulses eines Gruppen-

Ichs, diese geballte, geladene Zusammenfassung der diesem Gruppenherzen inne-

wohnenden Vitalität, welche die Stimmen und Regungen des nächtlichen Ur-

waldes zum Schweigen bringt — wer wollte allein nur diesen kleinen und doch schon so mächtigen Ausschnitt der magischen Ausdrucksformen beschreiben: Da wir schließlich hier keine Vorhörung dieser Ausdrucksformen geben können,

64.

Die vier Bewußtseinsmutationen

mußten wir die blassere Vorstellung in Anspruch nehmen, um zu versuchen, einen bleichen Abglanz dessen zu vermitteln, was und welcher Art diese magische Welt ist. Hier nun móchten wir an die Darstellungen erinnern, auf denen rein bildhaft die Naturverflochtenheit des magischen Menschen anschaulich wird. Es handelt sich

dabei um jene spáten Zeichnungen, Malereien und Fresken der magischen Zei-

ten, auf denen

dieses Eingeflochtensein

des Menschen

in die Natur insofern

bildstark zum Ausdruck kommt, als das ganze Bild nichts anderes ist als ein pflanzenhaft verquickter Grund, auf dem die dargestellten Menschen durchaus wie in ihn eingeflochtene Leiber und wie hineingewirkt erscheinen. Das Teppichhafte dieser Darstellungen, das teilweise in geometrisierter Form heute noch in den Fliesen- und Mosaikbóden, in den Tapetenmustern (der Jugendstil hat darin des Guten mehr als genug getan) weiterlebt, kommt natürlich in den Teppichen44 am stärksten zum Ausdruck. Wir müssen das Bildmaterial, das diesen Aspekt der

magischen Struktur veranschaulichen kann, etwas ausführlich betrachten, weil dieser Aspekt bisher noch niemals deutlich hervorgehoben worden ist und weil er, mehr als ein bloBer Aspekt, wohl als der Grundcharakter des Magischen an-

gesprochen werden darf#5. Belege dafür finden sich zahlreich bis in die neueste Zeit hinein. Außer in den schon erwähnten Höhlenzeichnungen leuchtet uns diese

Abb. 7: Fragment einer böotischen Vasenzeichnung; etwa 1000 v. Chr. (Verkleinert)

teppichhafte Naturverwobenheit des Menschen zum Beispiel aus jenem Wandgemälde entgegen, das sich in dem Grabe des Weserhét bei Theben46 befindet und zwei Edelfrauen darstellt; dieses Wandgemälde stammt aus der Zeit um

1300 v. Chr. Aus etwa der gleichen Zeit datiert die „Negerschlacht“, die eine

Truhe im Grabe des Tut-ench-Amuns schmückt (s. Abb. 6 auf Tafel 2). Der Aus-

schnitt", den wir reproduzieren, bringt dieses Ineinanderverflochtensein anschau-

3. Die magische Struktur

65

lich zur Darstellung. Weniger gekonnt, im Gewollten jedoch schon durch die Geometrisierung und Vertikalisierung mehr geordnet und gemeistert als diese ägyptische Darstellung, ist jenes Zeichnungsfragment auf einer Tonscherbe, die böotischer Herkunft ist (Abb. 7) und aus dem ο. Jahrhundert v. Chr. stammt#,. Diese sowohl wie eine „Wagenfahrt“, die möglicherweise den „Raub der Helena“

darstellt und sich auf einem Tongefäß, einem Krater attischer Herkunft des 8. Jahr-

hunderts

v. Chr. findet#%, gemahnen noch deutlich an die frühesten Höhlen-

sn 6 と

が ) ud ker

zeichnungen, die aber nun von der Innenwand der Höhle auf die Außenwand (!) des die Höhlung enthaltenden Gefäßes übertragen sind.

Abb. 8: „Artemis als Herrin der Tiere“; Malerei auf einem korinthischen Salbengefäß des 7. Jhdts. v. Chr. (Verkleinert)

Und die „Artemis als Herrin der Tiere“ (Abb. 8), die sich auf einem korinthischen Salbgefäß des 7. Jahrhunderts vor Christi findetS°, geht fast in einem Meere von blumenhaften Rosetten und Füllstücken unter, oder anders gesehen: sie ist in einen Teppich eingewoben. Diesen teppichhaften Charakter hat auch eine Darstellung von „Herakles’ Hochzeitsfahrt", die auf einer melischen Amphora der

gleichen Zeit zu sehen 15151, Dieses Hineingewobensein kommt ebenso bildstark auf zwei iberischen Vasen des 3. Jahrhunderts v. Chr. zum Ausdruck, die aus

Liria (bei Valencia) stammen:?.

Nachklinge dieser magischen Verwobenheit finden sich dann in der arabischen, mongolischen, persischen, indischen, ja selbst in der frühchristlichen Miniaturmalerei53 und sogar noch in manchen Fresken des τά. Jahrhunderts, wie jenen in der „Tour dela Garderobe" des „Palais des Papes“ zu Avignon (s. Abb. 5 auf Tafel 2). 5

66

Die vier Bewußtseinsmutationen

Unsere Abbildungen werden eine erlebbare Vorstellung vom Grundcharakter dieser magischen Welt gegeben und unsere Versuche, durch Heranziehung eines

magischen Rituals die magische Welt rationalisierend darzustellen, ergänzt haben. Man kann sich das Verflochtensein der magischen Welt nicht verflochten genug

vorstellen: es enthält alles, was das Wesen der magischen Struktur ausmacht: die Ichlosigkeit, den Schimmer des noch gleichsam schlafhaften, unerwachten Bewußtseins, die Raum- und Zeitlosigkeit und die Unitätsverschmolzenheit. Wird

dieses Verflochtensein aber im Bilde dargestellt,wie es unsere Abbildungen zeigen, enthält es auch schon die bewußtseinsmäßig aufdimmende Distanzierung von dieser Eingeflochtenheit in die Natur und in die Bannkraft ihrer Übermächtigkeit. Wir müssen uns aber die Bezugsdichte, oder doch wenigstens die jederzeit und

jedenorts aktivierbare Bezugsmöglichkeit zwischen allem und allen vergegen-

wärtigen und müssen dies zudem ohne Rücksicht auf jedwede Wertung der einzelnen aufeinander bezogenen „Punkte“ tun, wenn wir auch nur einen geringen Abglanz des magischen Lebensgefühls nacherleben wollen. Dieses Eingeflochtensein, das in seiner Raum- und Zeitlosigkeit auch eine merkwürdige Schrankenlosigkeit enthält, macht die verbürgten Fähigkeiten des magischen Menschen ver-

ständlich (der heute noch in der Form des medialen Menschen oder als Medium weiterlebt). Der magische Mensch besaß nicht nur die Fähigkeiten des Fernsehens

und Fernwissens, er war auch in stärkstem Maße telepathisch. Erklärt sich die

Telepathie, ein Phänomen, das heute auf Grund des erdrückenden Beweismaterials selbst von den geeichtesten Rationalisten nicht mehr abgeleugnet werden kann54,

teilweise durch die Bewußtseinsausschaltung, die das Ich auslöscht oder verdunkelt und es in die raum-zeitlose „participation inconsciente" mit der Gruppenseele zurückversetzt, so erklärt sich das Hellsehen auf die gleiche Weise. (Es sei

hier angemerkt, daß eine primitive Form der „participation inconsciente" der

Gruppenseele im Ameisen- und Bienenstaat lebt, da das einzelne Tier jeweils „weiß“, wo und wann ein das Leben der Gruppe tangierendes Ereignis stattfindet, so daß selbst weit voneinander entfernte Tiere desselben Volkes gleichzeitig dieselbe Reaktion auf Ereignisse zeigen.) Die Naturnähe des Menschen, das

noch weitgehende Ungeteiltsein von Natur und Mensch, sein noch fluidalerer Zustand und seine schärferen Sinne ermöglichen diese Phänomene raum-zeitloser

Art. Bildhaft kommen sie auf gewissen frühen Darstellungen der magischen Zeit in jenem wie traumwandlerischen, fast trancehaften Verwobensein des Hauptes,

ja manchmal des ganzen Körpers, mit seinem Umraum zum Ausdruck. Wir haben drei Darstellungen gefunden, auf denen dieses sinnhaft-körperliche und naturhafte Mehrwahrnehmen, das der magische Mensch uns voraus hatte, anschaulich wird. Sie stammen von verschiedenen, durch Ort und Zeit getrennten Menschengruppen und zeugen für deren jeweilige magische Haltung und die daraus entspringenden Fähigkeiten. Die ältere Darstellung (s. Abb. 9 auf Tafel 3)

3. Die magische Struktur

ンチ

67

2 M 7/ / j /

I Ml

MET,

Abb. 11: Prähistorische Felszeichnung aus Nordwest-Australien (Verkleinert)

ist eine prähistorische Höhlenzeichnung aus Australiens; die Aura kommt auf

ihr klar zum Ausdruck und wird noch durch die leider hier unreproduzierbare Farbgebung betont56. Die andere Darstellung (s. Abb. 10 auf Tafel 3) stammt aus dem 9. Jahrhundert n. Chr., ist irischer Herkunft und ein Ausschnitt aus einer ganzseitigen Miniatur, die eine „Kreuzigung“ darstellt und einem Psalter aus Dover entnommen ist57. Die dritte Zeichnung (Abb. 11)5? stammt wie die erste aus Australien und stellt in gewisser Hinsicht ein Bindeglied zwischen den beiden

anderen dar. Aus ihr geht jedenfalls hervor, daf es sich bei den deutlich gezeichneten Ausstrahlungen weder um einen Kopfschmuck handelt, wie Kühn meinte,

Abb. 12: Abb. 13: En-face- und Profil-Ansicht eines ,,Weiblichen Idols“

sakralen

Charakters;

Fundort

Brassempouy,

Dép.

Epochen

der Jüngeren Eiszeit (Jungpaläolithikum),

Abb. 14: „Weibliches Idol“;

Fundort: Gagarino am oberen

Landes (West-Frankreich); Elfenbein, nat. Größe; Zeit: mittleres oder oberes Aurignacien, eine der

Don, Gouv. Tambow im Kreise Lipezk (Rußland); Stein, nat. Größe; Zeit: Aurignacien-

ca. 40 000 v. Chr.

kum), ca. 30 000 v. Chr.

Périgordien

(Jungpaläolithi-

68

Die vier Bewußtseinsmutationen

noch um das Attribut einer Sonnengottheit, wie Winthuis glaubte, denn sie tritt hier bei einer Gruppe von nicht weniger als neun Häuptern in Erscheinung, Was aber in diesen Malereien vielleicht am stärksten berührt, das ist die Mund-

losigkeit der Dargestellten. In einer neueren Arbeit bringt Kühn zahlreiche Ab-

bildungen aus erdgeschichtlich frühen Zeiten sowie aus geographisch weit aus-

einanderliegenden Fund- bzw. Ausgrabungsorten; viele der abgebildeten Zeichnungen und Statuetten sind mundlos. Darunter befindet sich eine Mammut-

Elfenbeinschnitzerei, „Weibliches Idol“, das im Westen Frankreichs ausgegraben wurde und aus der Eiszeit stammt (Abb. 12 und 13)59, sowie eine desgleichen als „Weibliches Idol" bezeichnete Statuette aus Stein, die in Rußland, desgleichen

einem eiszeitlichen Fundort angehörend, gefunden wurde (Abb. 14). Einer sehr viel späteren Epoche dagegen entstammen mundlose Darstellungen aus Sumer

und China. Die beiden Statuetten aus Aleppo und Bagdad sind anscheinend als im 4. und 3. Jahrtausend entstanden zu datieren (s. Abb. 15 u. 16 auf Tafel 4). Noch jünger sind zwei chinesische Beispiele, „Masken“, die noch heutigentags in der Peking-Oper Verwendung finden. Bei ihnen handelt es sich um eine Schminkund um eine Bart-Maske. Die Schminkmasken, es gibt deren 1200 verschiedene, die alle starke Farben aufweisen, kamen in der Zeit der „Sechs Dynastien“ (220 bis $89 n. Chr.) auf. Die Bartmaske (By-hu-hsu), die den Mund unsichtbar macht, wird nur von den zwei höchsten und mächtigsten, den geheimen und weisen Rat-

gebern (Ministern) des „Himmelssohnes“, des chinesischen Kaisers, getragen, deren

sakral-rituelle Rolle offensichtlich ist: vom

„Chang-Chian“,

dem „Schreiber“

(Schriftgelehrten) und vom „Ying-Hsiung“, dem ,,Fechter“ (Beschützer) des „Himmelssohnes“ (s. Abb. 17 u. 18 auf Tafel 5)62 v. 63,

Was diese Mundlosigkeit bedeutet, wird ersichtlich, wenn man realisiert, in welch

betontem Maß diese Darstellungen (Malereien und Statuetten) Ausdruck, ja Kennzeichen der magischen und nicht etwa der mythischen Bewußtseinsstruktur sind. Denn erst dort, wo Mythos ist, ist auch der ihn aussagende Mund. Übrigens

überschneiden sich diese verschiedenen Strukturen seit etwa dem 3. Jahrtausend selbst innerhalb der gleichen Kulturkreise, da sich bereits seit jener Zeit neben mundlosen Darstellungen auch zahlreiche finden, die nicht mehr mundlos sind, wihrend die ganz frühen, die eiszeitlichen, durchgehend das magische Charakteristikum aufweisen^t. Unserem Deutungsversuch für das Fehlen des Mundes liegt die Tatsache zugrunde, daß dieses Fehlen, besonders in den ganz frühen, mehr schematischen Darstellungen, ein Hinweis darauf ist, in welchem Maße noch nicht das Gesprochene Bedeutung hat, sondern, wie wir sogleich sehen werden, das Gehórte, d. h. die Laute der Natur, die auf den magischen Menschen einwirken.

Adolf Portmann bringt diese hier dargestellte Mundlosigkeit des frühen magischen Menschen als ,,Gesichtsschema“ und „Gestaltmerkmal“

typischer, urbildhafter

Art zu dem „vorsprachlichen Sozialkontakt" des Säuglings in Beziehung®s. Die

3. Die magische Struktur

69

Parallelität zwischen den Menschheits- und den Individual-Stadien ist hinsichtlich der verschiedenen BewuBtseinsstrukturen inzwischen auch von anderer Seite (Max Burchartz, Oskar Küst u. a.) nachgewiesen worden$6. Jedenfalls ist das Fehlen des Mundes ein Zeichen dafür, daß das Organ, das eine Aussage ermög-

licht, für den magischen Menschen noch irrelevant ist. Die Verstindigung inner-

halb des Gruppen-Ich, des „Wir“, bedarf noch nicht der Sprache, sondern erfolgt gewissermaßen „subkutan“ oder telepathisch, da die Ichlosigkeit des einzelnen,

der kein einzelner ist, die Teilhabe und Kommunikation an den kollektiven und vitalen Intentionen fórdert, weil die untrennbare Verflochtenheit der Sippe das vorherrschende Prinzip ist. Welche auDerordentliche Rolle das Schweigen innerhalb der magischen Struktur und deren Auswirkung spielt, wurde gelegentlich der Beschreibung der beiden, mit der Jagd zusammenhängenden Rituale (s. S. 57) deutlich.

Es sei noch betont, in welch starkem Maße die Mächtigkeit des magischen Menschen, der den Kampf mit der Erde und der Natur besteht, wirksam ist. Denn sie

ist auch heute noch selbst bei uns akut, aber der Entfaltung des Bewußtseins entsprechend, äußert sie sich, weil sie jetzt relikthaft ist, vorwiegend in einer negativen Form. Diese Negativität ergibt sich zudem aus dem Umstand, daß eine

Überaktivierung der magischen Komponente im heutigen Menschen ein Zurücktauchen in die magische Struktur mit sich bringt, die uns aber, im Gegensatz zu früheren Zeiten, nicht mehr allein und dominierend konstituiert. Aus der magischen Struktur sind seither diemythische und die mentale herausmutiert, und beide haben die magische in uns geschwächt. Das Zurücktauchen in diese magische Struktur ist deshalb ein Verfall, freilich nur, wenn sie überaktiviert wird und mit AusschlieBlichkeits-Charakter verbunden ist. Es ist ein uns und unserer Bewußt-

seinsstruktur ungemäßer Akt der Preisgabe, der aber viel häufiger vollzogen wird,

als man vermutet: es ist jene heute oft beobachtbare Flucht nach „rückwärts“ in

die Vitalität und Unität des Magischen, wobei deren heutiger Mangel diese Rückfälligkeit auslöst, welcher zudem die Angst vor der neuen Mutation innewohnen

mag. Alle diese negativen Phänomene, um die sich die heutige „Massenpsycho-

logie" kümmert, haben wohl in der reaktivierten magischen Disponibilität des

heutigen Menschen ihre Wurzel.

Eine gute Definition dessen, was Magie auch sein kann, und als was sie sich zudem

in den Massenreaktionen zu erkennen gibt, formulierte Meyrink, der Autor einst vielgelesener magischer Romane: „Magie ist Tun ohne Wissen“67. In die heutige Ausdrucksweise übertragen, würde dieser Satz lauten: Magie ist Tun ohne WachBewußtsein. Insofern ist alles, was heute beispielsweise als Massenmanifestation aus dieser Struktur erwächst, gleichzeitig auch verantwortungslos, weil das Zurücksinken ins Kollektiv den Verlust des Wach-Bewußtseins und damit zugleich

die Ausschaltung des verantwortlichen Ich einschließt. Die heutigen Massenreak-

70

Die vier Bewußtseinsmutationen

tionen und Massenpsychosen sind ein beunruhigendes Beispiel dafür. Nur wo die magische Struktur heute im einzelnen noch trieb- und instinktgesichert sich auswirkt, erfüllt sie ihren eminenten und lebenspendenden Wert. Solange hinter dem

magischen Menschen, zu seiner Zeit, noch die unbewußte Weisheit des archaischen Erbes stand, drohte ihm keine Gefahr aus seinem gewissermaßen schlafhaften Tun, zumal sich das erwachende Trieb- und Instinktbewußtsein vom Intellekt unkor-

rigiert auswirken konnte. Das Gegenteil von dem, was heute aus der magischen

Massengestimmtheit heraus geschieht, war bei ihm der Fall: er entrann einer Ge-

fahr, denn die durch ihn geleistete Befreiung von der Natur wurde Wirklichkeit; er ging nicht in der Bewußtlosigkeit der Natur unter, sondern trat langsam aus ihr heraus. Heute freilich, da diese Weisheit sich in Wissen aufgesplittert hat, und da dieses Wissen zu Machtzwecken degradiert wird („Wissen ist Macht“), droht aus dem. blinden Tun jene Bedrohung, von der wir hoffen möchten, daß wir ihr zumindest wir Europäer — schon entronnen sind. Solange diese Zusammenhänge

nicht eingesehen werden, können wir ihr gar nicht entrinnen. Diese Einsicht zu leisten, ist die Arbeit jedes einzelnen. Daher war es wichtig, die blinde Mächtig-

keit der magischen Struktur zu betonen: denn ob man sie „weiße“ oder „schwarze“ Magie nennt — welchen Unterschied es nicht gibt - sie ist immer mit Machtstreben‘ verbunden. Aber nur das hat Macht über uns, dem wir diese Macht einräumen. Sie wandelt sich dort in dienende und erhaltende Kraft, wo es uns ge-

lingt, ihr wieder und ausschließlich jenen Bereich zuzuweisen, der ihr gehört, anstatt daß wir ihr hörig werden. In dem sich hier ganz natürlich ergebenden Gebrauch von Verben, die auditiven Charakter haben, klingt jene akustische Be-

tontheit des Magischen an, die deutlich zeigt, in welchem Maße die Macht sich

nicht im Tastbaren, sondern im Auditiven ausspricht, vielmehr an das Unfaßbare, Praerationale appelliert: Gehören, Gehorchen, Hörigsein sind immer Unterstellungen unter die Macht, die wir den Dingen, Geschehnissen oder Menschen sei es besitzlüstern, sei es autoritätsgläubig, sei es sexuell (was jeweils mit einem Ich- und Verantwortungs-Verlust verbunden ist), zubilligen. Nicht das Auge, das

sonnenhaft ist — das Ohr, das labyrinthisch ist, ist das magische Organ. Dabei steht die Sonne durchaus für die taghafte Helligkeit des Bewußtseins, das Labyrinth durch-

aus für die nächtlich-höhlenhafte Dunkelheit des Schlaf-Bewußtseins. Aber das Vitale, das zwar hellhörig ist, aber blind und aus dieser Blindheit heraus auch zer-

störend, kann dann durch uns entblindet werden, wenn es uns gelingt, diese macht-

volle Kraft, diese uns konstituierende Macht einzusehen. Geschieht dies aber nicht, so führt die unbewußt aktivierte magische Struktur — wenigstens uns heutige

Menschen - in letzter Konsequenz über die Atomisierung der Vitalitit, der Psyche und des Ich in den Untergang.

4. Die mythische Struktur Es gehört zu den Eigenheiten des Europäers, daß es ihm nicht genügt, ein Ereignis oder Faktum als solches zur Kenntnis zu nehmen; er muß es in der Zeit und im Ort, oder doch wenigstens in einem von beiden, fixieren können, weil anders es für ihn keinen realen Vorstellungswert erhält. Daß diese Betrachtungsweise eng mit der ihm eigenen Perspektivität zusammenhängt, dürfte nach dem bisher Gesagten deutlich sein. So betrachtet, muß aber alles das, was über die archaische,

besonders aber was über die magische Struktur vorgebracht worden ist, für die heutigen Ansprüche in einem wichtigen Punkt unbefriedigend geblieben sein.

Was die Ortung anbetrifft, so geht sie zur Genüge aus unserem Bildmaterial hervor: die magische Struktur vollzieht sich überall auf der Erde; aber jeweils zu der dem Ort gemäßen Zeit. Von uns aus gesehen, spielt sie sich in der Vorzeit ab. Dieser äußerst glückliche, von der Wissenschaft geprägte Ausdruck, mit dem man

die praehistorische, vorgeschichtliche Zeit bezeichnet, macht uns eines der wesentlichen Elemente des Magischen deutlich: er weist uns darauf hin, daß es vor der Zeit, vor dem ZeitbewuBtsein liegt. Wie weit oder tief man nun diese magische Zeit in die Vorzeit zurückverlegen will, ist wahrscheinlich nicht nur Anschauungssache, sondern auch wegen ihres zeitlosen Charakters ziemlich illusorisch. Die

einen werden geneigt sein, sie auf Hunderttausende von Jahren zurückzudatieren, andere werden sich begnügen, sie in die Nach-Eiszeit zu verlegen, wieder andere werden unsere „Vier Bewußtseinsmutationen“ vielleicht nur auf die nachatlan-

tische Epoche, also vermutlich auf die letzten r2 ooo Jahre, ansetzen und höchstens der archaischen Struktur und dem Anfang der magischen eine voratlantische Datierung zubilligen.

Es ist reine Spekulation, etwas zu fixieren, was als Zeitloses in einem von uns nachträglich konstruierten Zeitraum geschehen ist. Was bedeuten im Zeitlosen Begriffe wie Tag, Monat oder Jahr? Waren die „Jahre“ damals so „lang“ wie

unsere heutigen? Wahrscheinlich waren sie - eine Vermutung, die aber am objektiven Zeitablauf wohl kaum etwas ändert - „langsamer“.

Ungefähr vermögen wir aber die Zeit zu fixieren, wann der Sprung aus der magischen in die mythische Struktur geschah, weil sich ein zwar noch äußerst primitives Zeitbewußtsein bereits manifestiert haben mußte, bevor dieser Sprung

möglich wurde. Der magischen Struktur entsprechend ist es mehr ein Zeitgefühl als ein Zeitwissen, ein Zeitgefühl, das durchaus naturhaften Charakter hat. Sobald wir „Zeit“ sagen, sagen wir auch „Seele“. Beiden ist eines gemeinsam: die Energetik. Und beide sind - soweit sie trennbar sein mögen - Vorformen der Wir werden auf diese Wesensverwandtschaft. wenn nicht Wesencaleich

72

Die vier Bewußtseinsmutationen

Charakteristische der magischen Struktur die Bewußtwerdung der Natur, so war das Charakteristische der mythischen Struktur die Bewußtwerdung der Seele. Die im

magischen Menschen schlafhaft bewußt gewordene Natur-Zeit ist die Voraus-

setzung für die Bewußtwerdung der Seeleim mythischen Menschen. Überall dort,

wo wir in der Spätzeit der magischen Struktur Jahreszeiten-Riten, vor allem aber astronomischen Äußerungen und Kalenderformen begegnen, wie schon in der babylonischen Kultur, dann in der ägyptischen, mexikanischen und in anderen, bereitet sich bereits die mythische Struktur vor. In diesen Tatsachen drückt sich die

zum Abschluß kommende Bewußtwerdung der Natur aus, durch die der Rhyth-

mus der Natur, der deutlich eine akustische Betontheit trágt, auf eine naturhafte Weise zeithaft wird. Dies ist der entscheidende Schritt, den der magische Mensch

aus der Naturverflochtenheit heraus tut.

Bildhaft läßt sich dieses Heraustreten aus der magischen Naturverflochtenheit an

gewissen abendländischen Kunstwerken ablesen, die dem 2. Jahrtausend v. Chr.

entstammen. Ungemein anschaulich wird diese vollzogene Leistung zum Beispiel auf einem farbigen Stuckrelief, das einen „Prinzen mit Federkrone" darstellt

und aus dem Palast des Minos stammt; es wurde im ersten Viertel unseres Jahr-

hunderts in Knossos auf Kreta ausgegraben und dürfte in der ersten Hälfte oder

um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. entstanden sein (s. Abb. ro auf Tafel 6). Es bringt das Heraustreten aus der Naturverflochtenheit zweifach zum Ausdruck: einmal indem es, da es ein Relief ist, den irdischen Menschen (und nicht eine Gott-

heit) zur Hilfte aus dem ihn beherbergenden Grunde lóst und seinen Kórper teilweise aus ihm befreit; dann indem es zur andern Hälfte den Oberkörper vor den „Himmel“ stellt - und: „der Himmel ist zugleich mit der Seele“; und er ist auch

zugleich mit der Zeit. (Daß diese „Zeit“ Zeithaftigkeit ist und nicht unsere mentale Zeit, wird später noch auszuführen sein.) Der Oberkörper ist wie befreit, nur noch seine eigentliche vegetative Vitalzone, die von der Leibmitte zu den Füßen reicht, ist in die Natur, in die Lilien, also in eine schon erhellte Natur, bereits nicht mehr eingeflochten, sondern nur noch von ihr umgeben. Den selbst noch fast

blumenhaften und naturhaft anmutigen Körper krönt ein über die Erde hinsehendes Haupt, in dessen Augen sich schon der Himmel spiegeln könnte, und das von keinen Blumen oder Früchten oder Ranken geschmückt ist, sondern von schwerelosen, luftleichten Federn.

Auch in Griechenland finden wir neben Vasenzeichnungen, die eine Bewußtwerdung der Naturverflochtenheit zum Ausdruck bringen, indem sie sie darstellen, andere, die noch einen weiteren Schritt aus dieser Verflochtenheit heraus

in die Wirklichkeit des mythischen Bewußtseins sichtbar machen. Dieser Vorgang

erscheint ineinem Detail sowohl auf der böotischen Tonscherbe (siehe vorn Abb. 7) als auch später in der griechischen Vasenmalerei: es ist der kleine Ranken-

zweig in der oberen rechten Ecke. Er dürfte einen Teil jener Girlanden oder Ran-

4. Die mythische Struktur

73

ken bilden, die, sehr deutlich die Figuren miteinander verknüpfend, auf einer Vasenzeichnung ältesten Stils auftauchen. Diese stellt Hermes dar, wie er die drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite zu Paris geleitet (Abb. 20). Creuzer, der die Zeichnung kommentiert, sieht in diesen Ranken bloBes „Laubwerk, (das), den Hintergrund umziehend, dem Beschauer bezeichnet, daß die Szene im Freien vorgeht"79, Diese Erklärung dürfte, wenn überhaupt stichhaltig, zumindest unzulänglich sein. Wir vermuten, daB diese Ranken, die wie eine Nabelschnur die Gestalten zu einer Unität zusammenfassen, durchaus die unter den Dargestellten herrschende Verbundenheit, und sei es auch nur unbewußt, zum Ausdruck bringen

sollen. Solche Girlanden finden sich nämlich nur bis etwa zum Anfang des 6. Jahr-

hunderts v. Chr., einer Zeit, in der sich die mentale Struktur durchzusetzen beginnt. In der Literatur suchten wir vergebens nach einer Deutung dieser Gir-

Abb. 20: Frühe griechische Vasenzeichnung

(8. Jhdt. v. Chr.?): Hermes

Athene, Aphrodite (und sitzender Muse?) (Verkleinert)

mit Hera,

landen, die noch in wenigen anderen Beispielen auftauchen.7! Uns scheint, daß wir diesem Detail durchaus eine Bedeutung zukommen lassen dürfen, die über eine

bloße Interpretation perspektivistisch-rationaler Art hinausgeht. Die Interpretation

bei Creuzer, der diese Girlanden allegorisierend als Laubwerk auffaßt, oder die von Pfuhl, der sie als „lose, dekorative Zweige“ bezeichnet, dürften der mythischen Struktur, der diese Zeichnungen entstammen, nicht entsprechen. In der magischen und auch noch in der mythischen Zeit war zwar unserer Anschauung nach vielleicht alles wie „zufällig“, aber im Sinne jener Strukturen war es von sinnreichem Zufall: alles, auch das Geringste, hat dort seinen Sinn. Schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Religion“, das sich von „relegere“ herleitet, sagt das aus; denn es bedeutet „sorgfältige Beachtung“ und ist der Gegenpol zum „neglegere“, der négligence, dem vernachlässigenden Nichtbeachten?2. Da uns

74

Die vier Bewußtseinsmutationen

die christliche Interpretation des Wortes „Religion“ als „Rück-Bindung“ später noch beschäftigen wird, sei hier lediglich erwähnt, daß in einer Welt, die auch in ihrem sprachlichen Ausdruck alles aufs sorgfältigste beachtete und daher unerhört nuanciert war73, nichts willkürlich sein konnte; dies gilt auch vom bildlichen Ausdruck, der für jene Welt noch verbindlicher war als der sprachliche, da das Bildhafte der Manifestationsform der Seele am nächsten steht. Insofern sind diese Girlanden nicht ein bloBer naturalistischer oder dekorativer Firlefanz, sondern sinngeladen. Wo kurz zuvor das Teppichhafte oder das geometrisch-rituale

GespinstZ? einflechtenden Charakter hatte, dort ist nun auf freiem Grunde der freie und gleichzeitig verbindende Schwung der Girlanden. Sie deuten auf den angeführten Zeichnungen jenes bewuDtwerdende Herausgelóstsein aus der Natur

an, von dem wir gesprochen haben: statt des einst teppichhaften Eingewobenseins ist es nun das vielaspektige, vergóttlichte Abbild der Seele, das als in sich verbundene Einheit dem Menschen gegenübersteht und das von ihm in dem Moment dargestellt wird, da es sich auf ihn, den Menschen Paris, zubewegt. Und gegenüber der Bewegungsrichtung nach links, die stets eine Betonung des Unbewußten anschaulich macht und die noch der „Prinz mit der Federkrone“ zum Ausdruck bringt, ist es hier eine Bewegung nach rechts, das aber heiDt, eine Bewegung der Bewußtwerdung. Diese kurze Veranschaulichung eines äußerst sublimen Vorganges, wie er sich von diesen Bildern ablesen läßt, wollen wir nicht abschließen, ohne vor einer möglichen Mißdeutung gewarnt zu haben. Denn in späterer Zeit, von etwa 650 v. Chr. ab, finden sich dann zahlreiche Vasenzeichnungen, die Rankengewinde aufweisen. Sie dürfen mit den von uns geschilderten Girlanden keinesfalls verwechselt werden, denn diese späteren Ranken sind deutlich Weinranken, die zudem nur auf Vasenbildern dionysischen Charakters auftauchen. Sie erscheinen also ausschließlich dort, wo Dionysos selbst in Erscheinung tritt, oder wo sie seine immanente Präsenz durch den dem Weinlaube überbundenen dionysischen Sakralcharakter, wie in den Satyr-Tanzdarstellungen, evozieren sollen75. Am anschaulichsten jedoch wird im bildlichen Ausdruck die mythische Struktur auf einer

Vasenzeichnung des 6. Jahrhunderts v. Chr. Erinnert ihre Linienführung zwar noch leise an die magische Struktur, vor allem an die der irischen Auraminiatur,

so unterscheidet sie sich doch in einem wesentlichen Punkte von ihr: denn die

Muse ist nicht mundlos (Abb. 21)7°. Sie, die seit Homer angerufen wird, wenn es gilt, den epischen oder hymnischen Gesang zu beginnen, in dem das mythische Geschehen seine sprachliche Gestaltung erfährt, trägt den mythos-aussagenden Mund. Doch nicht von der Muse soll jetzt gesprochen werden, sondern vom Mythos. In der magischen Zeit, wir wiederholen es, gibt es noch keinen Mythos. Die innere Kraft des Menschen entäußert sich dort nicht durch den Atem des Singenden, sondern durch die noch sichtbare Ausstrahlung des Hauptes, ja des

4. Die mythische Struktur

ganzen Körpers, durch welche er in das fluidale Geschehen der Dinge und der Natur wie übergangslos hineingewebt wird. Dort, wo der Mund erscheint, verblaßt die Stärke der Aura, und der Mund tritt an ihre Stelle.77 So ist die Muse auf unserer Zeichnung auralos. Die Mundlosigkeit,

die Wortlosigkeit einschließt, ist magisch. Wo kein aussagender Mund ist, da ist auch noch kein Mythos. Mund

75 TALIOPE

WM

9) © —

3263 N

und Mythos gehören zusammen. Das geht auch aus einer

k X E x Esx

etymologischen Ableitung hervor, von der J. Ellen Har-

X $ NAE

lischen Wortes „mouth“ mit dem griechischen Wort μῦϑος (mythos) hinweist, das im Griechischen ursprüng-

XXX XX x x 2 z x

lich die Bedeutung „Rede, Wort, Bericht“ hatte.

Abb. 21: Die Muse „Kalliope“ von der sog. „Frangois-Vase“ ; 6. Jhdt. v.Chr. (Verkleinert)

X : xxx xixixixi

X : xx[x

XX |

|

rison spricht78, wenn sie auf die Verwandtschaft des eng-

Doch mit dieser Ableitung ist die Bedeutungsfülle des Wortes ,,Mythos" noch

nicht ausgeschöpft. Als wir den Wurzeln dieses Wortes in den einschlägigen Wörterbüchern nachgingen79, begegneten wir einer auf den ersten Blick durchaus verwirrenden widersprüchlichen Grundstruktur, die sich jedoch klärte, als wir realisierten, in welchem Maße dieses Wort den ambivalenten Charakter eines Urwortes trägt.

Das Verbum zu uödoc ist μυϑέομαι (mytheomai), das „reden, sprechen, sagen"

bedeutet; seine Wurzel lautet „mu-“, was „laut werden, tönen“ bedeutet. Aber ein anderes Verbum der gleichen Wurzel „mu-“, das jedoch das erstgenannte, das ein langes „u“ hat, durch ein anscheinend kurz ausgesprochenes „u“ ambivaliert, haben wir in dem Worte μυεῖν (myein) vor uns®. Dieses μυεῖν bedeutet jedoch „sich schließen“, und zwar ein Sichschließen der Augen, des Mundes, der Wunden; im Sanskrit bildete sich aus dieser Wurzel das Wort „mukas“ mit langem „u“, das „stumm“ bedeutet; im Lateinischen ist es zu „mutus“ geworden, dessen Bedeutung ebenfalls „stumm“ ist; und im Griechischen kehrt es in den Wörtern

μύστης, der Myste, und in μυστήριον, das Mysterium, wieder, um noch in der christlichen Zeit den Begriff der „Mystik“ zu prägen, der wortlosen Versenkung bei geschlossenen, also nach innen sehenden Augen. Wir dürfen nun nicht in den Fehler verfallen, uns für eine dieser beiden Wurzel-

bedeutungen entscheiden zu wollen. Ihre Widersprüchigkeit ist nur rational be-

trachtet eine solche; elementar betrachtet ist sie durchaus mehr als das. Beide Be-

76

Die vier Bewußtseinsmutationen

deutungen sind gültig. Es geht nicht an, nur den Aspekt des „Schweigens“ gelten

zu lassen, wie es die Traditionalisten tun, die nur die esoterische Überlieferung

anerkennen; sie freilich müssen aus ihrer Rückwärtsgewandtheit heraus das vor-

wortliche Schweigen unterstreichen. Und so geschieht es denn auch bei den beiden heute wohl bedeutendsten Publizisten dieser Richtung, bei Guénon und Ziegler?!. Man darf aber auch nicht nur den Aspekt des „Sagens“ gelten lassen, wie es die Evolutionisten tun, die nur die exoterische (profan-wissenschaftliche) Fortschrittsgerichtetheit anerkennen; sie freilich müssen aus ihrer Vorwärtsgerichtetheit heraus die worthafte Sprache unterstreichen. Und so geschieht es denn auch, sowohl bei Harrison als auch bei Prellwitz, der lediglich die naturalistische

Tatsache heranzieht, daß das Sprechen ein Öffnen und Schließen der Lippen bedinge®2. Nur wenn wir beide Wurzelbedeutungen gelten lassen, erschließt sich uns der Grundcharakter der mythischen Struktur. Denn erst beide zusammen, nicht

rational als Widersprüchigkeit aufgefaßt, sondern als elementare Ambivalenz,

konstituieren sie. Insofern es sich hier aber um eine Konstituierung handelt, ist es

angezeigt, einen Ausdruck zu wählen, der ein stärkeres Spannungsfeld verdeut-

licht, als es bei dem Begriff der Ambivalenz der Fall ist. Wir dürfen vom Polari-

täts-Charakter des Wortes „Mythos“ sprechen, dessen urwortliche Struktur der mythischen Struktur wirkende Prägung gibt.

War die archaische Struktur der Ausdruck der nulldimensionalen Identität und der ursprünglichen Ganzheit, war die magische der Ausdruck der eindimensio-

nalen Unität und naturverwobenen Einheit — so ist die mythische Struktur Ausdruck der zweidimensionalen Polarität.

Führte die archaische Struktur durch den Verlust der Ganzheit zur Einheit der magischen Struktur und war damit ein erstes dämmerhaft zunehmendes Bewußtwerden des Menschen als einer Einzelung vorgegeben, so brachte die magische Struktur durch den in ihr sich abspielenden Befreiungskampf gegen die Natur eine Herauslösung aus der Natur und damit die Bewußtwerdung der Außenwelt. Die mythische Struktur nun führt zu einer Bewußtwerdung der Seele, also der Innenwelt. Ihr Symbol ist der Kreis, der stets auch Symbol der Seele war. Der geeinzelte Punkt der magischen Struktur erweitert sich zu dem zweidimensionalen,

die Fläche einschließenden Ring. Er umfaßt alles Polare und bindet es ausgleichend

ineinander, so wie im ewigen Kreislauf das Jahr über seine polaren Erscheinungsformen von Sommer und Winter in sich zurückkehrt; so wie der Sonne Lauf über Mittag und Mitternacht, Licht und Dunkelheit umschlieBend, in sich zurück-

kehrt; so wie die Bahn der Planeten in Auf- und Niedergang, sichtbare und unsichtbare Wege umfassend, in sich zurückkehrt. In diesem naturhaften Zeitcharakter des Kreises, in ihm begegnen wir der Verwandtschaft der Zeit mit der Seele wieder. Und mehr noch: war das „Resultat“

4. Die mythische Struktur

77

der magischen Struktur die Bewußtwerdung der irdischen Natur, also vornehmlich der Erde, so bringt die mythische den Gegenpol der Erde, nämlich die Sonne und den Himmel, zum Bewußtsein. Damit wird die im magischen Kampfe an-

geeignete Erde gleichsam umfangen von den beiden polaren seelischen Wirklichkeiten: von dem unter-erdhaften Hades und dem über-erdhaften Olymp. Diese beiden Wirklichkeiten spiegeln sich auch in der antiken Architektur. Wir

können das jetzt erkennen, da wir beginnen, die mythische Struktur aus sich heraus darzustellen und sie nicht nur als bloße „unperspektivische Welt" vom per-

spektivischen Blickpunkte aus betrachten. Die rationalisierend aufgezeigten zwei architektonischen Grundformen der Antike (s. S. 15), die auf Uterus und Phallus

zurückgeführt werden, haben eine tiefere Wurzel, als daß man in ihnen lediglich Übertragungen physischer Grundformen ins Architektonische sehen dürfte. Zudem erfolgt von diesem Standpunkt aus die Anwinkelung dieser Grundformen durchaus im Sinne der Dualitit; jede duale Auffassung verrät aber die rationale

Einstellung. Wirklich dual werden diese Formen erst in ihrer Auseinanderreißung zu Turm und Schiff in der christlichen Baukunst. In der Antike machen sie vor

allem die seelische Realität und ihre Polarität sichtbar, denn Hades und Hölle haben Gewölbecharakter, vor allem Höhlencharakter; dies ist der Nacht-Aspekt, die Mutterdunkelheit, die Geborgenheit, das gebärende Prinzip; Säulencharakter, der in der Architektur vor allem das Wesen des lichten Zwischenraumes ausdrückt, hat in diesem Sinne der Himmel, der Olymp; dies ist der Tag-Aspekt, die Vater-

helligkeit, das Ausgesetztsein, das zeugende Prinzip. Auch in der Architektur spiegelt sich also die polare Konzeption des mythischen Menschen; und in Grie-

chenland ergänzten die Höhlenheiligtümer, wie jenes des Trophonios in Böotien, die ersten Säulentempel, bevor sich diese Höhlen, der Erde entwachsen, in die

römischen, von Säulen getragenen Kuppelbauten umgestalteten: in ihnen schloß

sich sichtbar der Kreis. In der Architektur, in ihren harmonischen Maßen, in diesem stummen Tönen des Steines spiegelt sich das sagende Tönen des mythischen Wortes; der singende Stein der antiken Heiligtümer ist der geschwiegene Mythos

und ergänzende Pol des wortgewordenen mythischen Berichtes. Mythos: das ist ein Schließen von Mund und Augen; und da es damit ein schweigendes Nach-Innen-Sehen (und ein Nach-Innen-Hören) ist, ist es ein Ansichtigwerden der Seele, die gesehen, dargestellt, die gehört, hörbar gemacht werden kann. Und Mythos: das ist dies Darstellen, dies Hörbar-Machen; es ist: die Aus-

sage, der Bericht und — wieder stoßen wir hier auf das bewußtseinandeutende „Richten“ — über das Erblickte und Gehörte. Was das eine Mal stummes Bild war, ist das andere Mal tönendes Wort; das Innen-Erschaute und gleichsam Er-

träumte findet seine polare Entsprechung und Bewußtwerdung in der dichterisch gestalteten Aussage. So ist das Wort stets Spiegel des Schweigens; so ist der Mythos

Spiegel der Seele. Erst die blinde Seite ermöglicht die sehende. Und da alles See-

78

Die vier Bewußtseinsmutätionen

lische vor allem auch Spiegelcharakter hat, trägt es nicht nur naturhaften Zeitcharakter, sondern ist stets auf den Himmel bezogen; die Seele ist ein Spiegel des

Himmels — und der Hölle. So schließt sich der Kreis von Zeit -Seele- Mythos Hölle und Himmel - Mythos - Seele - Zeit. Zu diesen Ausführungen ist noch zu sagen, daß es das gibt, was wir als eine „speculatio animae" bezeichnen (davon wird später noch zu sprechen sein), und daß der Schlußsatz des vorangegangenen Absatzes kein rationales Folgern ist, sondern ein mythisches Kreisen; also keine Schluß-Folgerung, sondern eine dem Mythischen gemäße kettende Kreisung. Und noch eins ist zu erwähnen, ehe wir

uns den Mythen zuwenden: wenn wir sie vom Standpunkt der Bewußtwerdung aus betrachten, was bisher noch nicht geschah, so wird dies überraschende und aufhellende Ergebnisse zeitigen. Die mythische Struktur wird durch die Imagina-

tion (vom lateinischen „imago“ = Bild) geprägt und hebt sich dadurch von der magischen Struktur ab, die durch die Emotion geprägt ist. In der magischen

Struktur werden die gefühlten Zusammenhänge bewußt und entäußern sich in emotionalen Formen: in trieb- und instinktbetonten Handlungen, die den Gesetzen und Ausweitungen der affektiven Reaktion wie Sympathie und Antipathie unterstellt sind. Diese magische eindimensionale Struktur, die wir vorperspektivisch nennen, weil die mythische zweidimensionale Struktur unperspektivisch ist und somit, wenn auch in der verneinten Form, das perspektivische Moment

latent enthält - diese vorperspektivische Struktur ist raum- und zeitlos und hat ein emotionales Trieb- und Instinktbewußtsein, das auf die Natur und die Erde Antwort gibt. Die mythische dagegen hat ein imaginatives Bildbewußtsein, das sich

in dem Bildcharakter des Mythos spiegelt und auf die Seele und auf den Himmel,

den antiken Kosmos, antwortet. Sie ist noch raumfern, aber sie ist schon zeitnah.

Dies Bildbewußtsein pendelt noch zwischen der magischen Zeitlosigkeit und der allmählich bewußtwerdenden, kosmisch-natürlichen Zeithaftigkeit. Je bewußtseinsferner ein Mythos ist, desto zeitloser ist er; sein Grund ist so zeitlos blind wie die Rückseite des Spiegels. Je bewußtseinsnäher er ist, desto zeitbetonter ist er;

seine Höhe reicht an die Helligkeit der Sonne. In den frühesten Mythen erinnert sich die Seele der Weltwerdung; das sind die großen kosmogonischen Bilderberichte, In den späteren Mythen erinnert sich die Seele der Geburt der Erde und des Menschen und spiegelt die dunklen und hellen Kräfte in den Göttergestalten.

Zeitloses wird allmählich zeithaft; zeitferne Zeitlosigkeit geht langsam in zeit-

nahe Zeitlichung über. Und in dieser ambivalenten Zeit- beziehungsweise Zeit-

losigkeitsform äußert sich, unserem rationalen Verstehen trotzend, von neuem die

Polarität der mythischen Struktur, denn beide Formen bestehen sich ergänzend neben-, ja miteinander.

Diese Polaritit kommt selbst in der mythischen Aussage zum Durchbruch. Es

gilt von ihr, was von jeder Aussage gilt, die sich des Wortes bedient: daß nämlich

4. Die mythische Struktur

79

das Gesagte allein nicht entscheidend ist. Entscheidend wird es erst — und EntScheidung bedeutet Aufhebung des Scheidenden - durch die Mitbeachtung des

im Gesagten Verschwiegenen. Nur dort, wo das Nichtgesagte seine stumme Mit-

sprache hat, erhält das Gesagte jene Tiefung und Polung, die es in die Spannung des wirkenden Lebens tragen. BloBes Schweigen ist magische Gebanntheit ; bloBes Reden ist rationaler Leerlauf. Nur dort hat das Wort Wert und ist nicht mehr bloß

Macht (also magisch) oder Formel (also rational), wo sich der Sprechende von diesen Zusammenhängen Rechenschaft gibt. Und wer gut hinhórt, hört die (vielleicht nicht nachweisbare) Verwandtschaft von , Wort" und , Wert".

In einem gewissen Sinne sind die Mythen wortgewordene Kollektivtriume der Völker. Solange sie nicht in dichterischer Form dargestellt werden, sind sie unbewußte Vorgänge; ihre bloße Aussage ist noch kein Indiz für ihre Bewußtwerdung, sondern lediglich für ihre Bewußtwerdungs-Möglichkeit. Jeder Bewußtwerdung geht die sie erst ermóglichende Entäußerung dessen voraus, was bewußt

werden soll oder will. Das Bewußtwerden hat stets nachholenden und zurücknehmenden Charakter ; und vor allem ist es von einer gewissen Kraft der Formulierung und Gestaltung abhängig. Im geformten Mythos erschließt sich das Bewußtsein die Seele, und damit ein unsichtbares und zugleich erweitertes Gebiet der Natur, den Kosmos: also alles das, was Materie wurde und sich nun in den

bildhaften seelischen Vorgängen als Mythos darstellt und infolge seiner Form-

werdung bewußt wird. Die bisherigen Mythendeutungen, wenn wir von jenen der reinen Kosmogonien

absehen, stützen sich hauptsächlich auf zwei vorwiegend inhaltliche Aspekte des

Mythos: auf den astralen und auf den naturhaften Aspekt, wobei der naturhafte eine deutliche sexual-erotische Betonung erfuhr. Die astral-mythologische Inter-

pretation wurde durch Dupuis?3 eingeleitet und hatte ihre letzten Vertreter in Drews und Eisler84: die natur-mythologische Interpretation, die da und dort ohne Zweifel noch magische Anklänge aufweist, begann mit Creuzer?5, dem so

verschiedengeartete Interpreten wie Freud und Rank, Klages, Jung und Kerenyi86 folgten. Beide Richtungen haben, trotz unvermeidbarer einseitiger Überspitzungen, Entscheidendes zur Klärung des Phänomens Mythos beigetragen.

Welchen Aspekt man nun auch betont, stets bringt die Mythen-Interpretation eine Lebens-Erhellung mit sich, die aber manchmal infolge einer Supervitalisierung in verwirrende und alles auf den Kopf stellende Verdunkelung umschlägt,

wie beispielsweise bei Klages, den wir einen „Metabolisten“ nennen möchten.

Diese Formulierung charakterisiert jene Interpreten, die der defizient mythischen Haltung verfallen sind. Bei ihnen handelt es sich um eine falsche Metabolé (μεταβολή = Umschlag) - also um ein falsches Umschlagen, das kurzschlußartig wurde und sich in einer Gleichgewichtsstörung zu erkennen gibt, die für unsere Zeit bezeichnend ist. Sie ist die defizient gewordene Form des einstigen, organisch

80

Die vier BewuBtseinsmutationen

sich abspielenden, ausgleichenden Umschlagens des einen polaren Extrems in sein anderes, wie es das Jahr, die Sonne, die Planeten, der Herzschlag und der Atem vollziehen. Heute jedoch fällt der Metabolist aus einem Extrem ein für alle-

mal in das andere. (Der Opportunist, der aus Charakterlosigkeit, und der, den wir

als „rancuniste“ bezeichnen wollen, derjenige, der aus Ressentiment handelt, sind nur zwei seiner substanzlosen Spielarten.) Der Metabolist bleibt Gefangener der einen Seite des Kreises, da ihm die Mitte fehlt, die den Kreis erst ermöglicht, und da er dem organischen Geschehen des Kreises keine Gestaltung, sondern bloße

Dynamisierung hinzufügt, wodurch er den Kreis, ihn überdrehend, zu tödlichem Stillstand bringt.

Die Lebens-Erhellung durch die Mythen-Interpretation ist der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt. Aber für uns liegt der Akzent nicht mehr auf dem Worte „Leben“, sondern auf dem Worte „Erhellung“ ; diese

Erhellung macht das wesentliche Moment des mythischen Prozesses aus. Denn ob astral deutbar, und damit vor allem kosmologisch, ob vital, und damit vor allem anthropologisch, unserer Meinung nach enthält fast jeder Mythos das Be-

wußtwerdungs-Element, insofern er den Bewußtwerdungs-Prozeß der Seele spiegelt. Aus der unabsehbaren Fülle dieser Bewußtwerdungs-Mythologeme, als welche wir sie bezeichnen wollen, seien fünf herausgegriffen, an denen dieser

Grundwesenszug des Mythologems sichtbar wird. Es sind die Meerfahrtmythologeme und die Narzißmythologeme, die Sonnenmythologeme und jene Hadesfahrtmythologeme, die als Nekyia-Berichte auf uns gekommen sind; und schließ-

lich sei unter vielen einzelnen noch ein besonders markantes Beispiel genannt: das Mythologem von Athenes Geburt.

Diese Mythologeme nehmen Gestalt an, sobald der Mensch der Seele ansichtig

wird; sie sind das sichtbarste Zeichen einer Bewußtwerdung, die zugleich die Tendenz zur Ichwerdung einschließt. Sie spiegelt sich in den Meerfahrtmytho-

logemen. Jede Meerfahrt ist das Sinnbild dafür, daß der Mensch eine gewisse

Herrschaft über die Seele erreichte, denn Seele und Wasser stehen, noch bei Heraklit#7, in engster Beziehung zueinander. Auch berichtet zum Beispiel die

„Siebzehnte Rune“ der „Kalewala“, daß der große Singer Wäinämöinen sein Boot nicht fertigstellen kann, ehe er nicht noch einige Worte weiß, die er nicht zu finden vermag; erst als er sie von dem Urriesen Wipunen erfahren hat, erst als er fähig ist, alle Urphänomene auszudrücken, was einem Realisierungs-ProzeB,

einem Bewußtwerdungs-Vorgang gleichkommt, ist er imstande, den Bau des Bootes zu vollenden und die Meerfahrt anzutreten (die in der „Achtzehnten

Rune“ geschildert wird)??. Nach Durchmessung der eigenen Seele, nach dieser Meerfahrt, die wir als Symbol für eine Bewußtwerdung auffassen, findet der mythische Mensch den andern Menschen, findet er den Partner, vielmehr die

ihm persönlich Bestimmte. Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber

4. Die mythische Struktur

81

erwacht das Du, erwacht im Du die ganze Welt, in die er zuvor ichlos magisch eingeflochten war. Erst wer es erlernte, zu sich selber „Ich“ zu sagen und sich damit nicht mehr an alle Welt austeilt oder sich aller Welt entzieht, erst der ist

fähig, sich auch ganz zu verlieren - und sich damit, um das Du bereichert, wieder-

zugewinnen. Doch das Geheimnis dieses „Gewinnes“, der zugleich ein Verlust ist, ist vielleicht das tiefste Lebensgeheimnis und so tief und unauslotbar wie das Meer. Wäinämöinen findet nach Überstehung des Meeres am anderen Strande Annikki,

Theseus findet nach Durchquerung der Ägäis Ariadne auf Kreta® (in eben jenem Palast, in dem der „Prinz mit der Federkrone“ ausgegraben wurde), die Griechen

finden nach langem Segeln Helena wieder in Troja, Odysseus begegnet nach der

Errettung aus dem Schiffbruch Nausikaa%; Gunther findet Brunhilde, die „Küniginne gesezzen über sé"91, und Tristan, nach Überstehung vieler Meeresstürme, Isolde und erfährt damit sich selber, denn jede Meerfahrt ist ein SichErfahren. Dem Thema der Meerfahrt?? begegnen wir in allen Kulturkreisen: dem nórdlichen, dem griechischen, dem germanischen. Auch im vorderasiatischen treffen wir auf diese Erlebnis- und Ausdrucksform einer Bewußtwerdung. Sie ist uns in einem der mythologisierenden Märchen der persisch-indisch-türkischen Märchensammlung „Tuti-Nameh“93 überliefert. In der „Geschichte des Königs

von China“ wird erzählt, wie dieser König in das Land Medinet-el-Ukr reist, um

die Königstochter zu gewinnen. Von dem weisen Alten, seinem ersten Vezir, be-

gleitet, gelangt er ans Meer; und dann heißt es wörtlich: „Am Meeresufer bestiegen sie ein Schiff und fuhren viele Tage und Nächte, bis sie an einer reizenden Küste landeten.“ Und so harmlos dieser Satz auch anmuten mag, so liegt doch in

ihm der Schlüssel für das darauf folgende Geschehen. Denn an der Küste überläßt der Weise den König sich selber; mit anderen Worten: der König fand sich und bedarf des Begleiters nicht mehr. Und da er sich selber fand, findet er nach vier Tagen die Königstochter und bringt sie in weiteren vier Tagen nach China zurück,

um sie zu seiner Frau zu machen. Dazu sei angemerkt, daß hier der Bewußtwerdungsprozeß noch durch die Erfüllung der Acht deutlich gemacht wird, denn es

sind zweimal vier Tage (die Zahl wird ausdrücklich genannt), in denen sich Fin-

dung und Bindung vollziehen. In mythischen Texten wie diesem dürfen wir ge-

nauso wie bei einem symbolisierenden Akt, welcher Art ja auch die Inthronisierung der „achten Muse“ war, diese Acht, da sie symbolischen Wert hat, deuten;

ja, wir sind sogar dazu verpflichtet, wollen wir dem mythischen Inhalt gerecht werden, und insbesondere dann, wenn die vorgeschlagene Deutung neues Licht auf strukturelle Zusammenhänge zu werfen vermag. Dem gleichen Wasser-Aspekt wie in dem Meerfahrtmythologem begegnen wir in dem Narzißmythologem. Auch hier spielt die Wasser-Seele-Symbolik die entscheidende Rolle und wird zu einer mythischen Aussage über die Bewußtwerdung: NarziB, der, das Wasserelement in seinem Namen bergend?4, seiner 6

82

Die vier Bewußtseinsmutationen

selbst im Spiegel des Wassers ansichtig wird, der also (mythisch gesprochen) in

die Seele schaut, schaut damit sich selber und wird sich seiner eigenen Existenz bewußt. In den Spiegel der Seele sehen: das ist bewußtwerden; sie erblicken, wie sie der mythische Mensch im spiegelnden Mythos erblickte, das heißt nichts anderes, als sich seiner bewußt werden. Und das „Corpus Hermeticum" hat dieses Mythologem sogar in seine Kosmogonie verflochten: der „Erste Nous“, der höchste Gedanke, schuf aus sich den göttlichen Menschen, den Ur-Menschen, der

in die Sphäre des Demiurgen hinabstieg, wo ihm die einzelnen Planeten von ihrem

Wesen mitteilten ; dann zerriß er den Kreis der Sphären und erschien der darunter-

liegenden Physis. Und als er im Wasser sein Bild sah, verliebte er sich in dieses Bild, stieg in die vernunftlose Natur hinunter und vereinigte sich mit ihr. Diese kosmogonische Parallele zum griechischen Narzißmythologem macht die den Parallelen innewohnende Spiegelung deutlich, selbst dann, wenn sie sich auch erstin der Unendlichkeit kreuzen, einer Unendlichkeit, die ja eine ausgesprochen

seelische Konzeption ist. Die Parallelisation des griechischen NarziBmythologems

mit der Hermetischen Kosmogonie spiegelt es deutlich, daß nicht nur der Mensch,

sondern auch der einst göttliche Mensch, durch Spiegelung seiner selber bewußt wurde. Durch diese Spekulation - ein Begriff, der das lateinische „speculum“, zu deutsch „Spiegel“, enthält? — enthüllt sich von neuem der Polaritäts-Charakter des Mythos. In diesen Mythen spiegelt sich nicht nur die menschliche Seele, sondern

auch eine außermenschliche, also göttliche Seele: so jedenfalls erschien es dem mythischen Menschen, wie die Mythen beweisen. Doch verfolgen wir diese Spekulationen (diese Spiegelungen) nicht weiter; sie führen in jene Uferlosigkeit der Seele, um die schon ein Heraklit wußte. Wenn

er jedoch die Seele mit dem Wasser in Beziehung setzte, so hielten sie andere, wie Demokrit, als mit dem Feuer identisch. Alle diese Spekulationen mögen uns heute als eitel Aberglauben erscheinen. Aber die Polung, die sich in der erfolgten natur-

haften Gleichsetzung der Seele mit Wasser und Feuer oder mit Luft und Stein ausdrückt, ist zumindest symbolisch richtig. Zudem ist es gleichgültig, ob wir diese Dinge nun rationalisierend verstehen oder nicht; ihr damaliger Wirkungs-Cha-

rakter bleibt bestehen. Mag es sich also um bloße Spekulationen handeln oder um

ein irrationales Wissen, so bringen diese Spekulationen doch das zum Ausdruck, was das Wesen der Seele ausmacht: daB sie selber eine Spiegelung und ein Spie-

gelndes ist und aus der polaren Ambivalenz lebt. Wenden wir uns jetzt den Sonnenmythologemen zu: wo immer wir ihnen begegnen, dort wird es licht, dort wird das Bewußtsein hell. Wir können feststellen,

daß sie in Ost und West um etwa die gleiche Zeit ihre Formung erhalten; und im

Augenblick ihrer Formung in die Wortaussage Wirklichkeit und damit wirkend

wurden. Vorher hatten die sonnenmythologischen Vorstellungen, wie beispielsweise jene naturhaften, die sich seit 2500 v. Chr. in der ägyptischen Horus-Sym-

4. Die mythische Struktur

83

bolik zu erkennen gaben, noch Traumcharakter. Aber im Bericht geformt, im gestalteten Mythos ausgesagt, sind sie zu erinnerten Träumen geworden. Und schon Seneca, wohl im Anschluß an Platon”, weist darauf hin, daß nur der Wache über seine Träume berichten könne. Dies aber heißt, daß nur er sie zu richten, zu beurteilen vermag und damit ihres Inhaltes bewußt werden kann. Im

Osten nun, in China, finden sich erste Andeutungen eines Sonnenmythologems

im „Hiho“-Mythologem, das uns in dem nur sehr bruchstückhaft erhaltenen „Kouei Tsang98 überliefert ist. In Griechenland ist es die „Odyssee“, in der wir

dem Helios-Mythologem begegnen. Kouei Tsang aber und Odyssee entstanden beide um etwa 800 v. Chr.

Gleichzeitig mit diesen Mythologemen tritt in Ost und West ein anderes bedeutsames Motiv in Erscheinung: der Ausbruch des Zornes. Es handelt sich um jenen „heiligen Zorn“, der oft als heiliges, dem Menschen innewohnendes Feuer be-

zeichnet worden ist. Die Gleichzeitigkeit der Formung der Sonnenmythologeme und der Schilderung des Zornausbruchs will fast besagen (sofern wir dem mythischen Ambient treu bleiben, den wir zu schildern haben), daß die Sonne in den

Menschen herabstürze, um sich in ihm durch diesen Zorn zu manifestieren. Er ist jene Kraft, die das Gemeinschafts- und Clangefühl sprengt, insofern sie sich im einzelnen, dem „Helden“, manifestiert und ihn immer weiter in die Einzelung, in

die Selbstbehauptung und damit in die Ichwerdung treibt. Wir wiesen schon

anderwärts® auf die Gleichzeitigkeit der entscheidenden Rolle hin, die der Zorn sowohl in der „Bhagavadgita“ wie in der „Ilias“ spielt, die mit den Worten be-

ginnt: ῆνιν (menin) ἄειδε, Ped, Πηληιάδεω ᾿Αχιλῆος („Zorn singe, Göttin, den des Peleiaden Achilleus^). In diesen Worten kónnen wir jetzt einen Anruf

zur Bewußtwerdung erkennen. Dieser Zorn, dieses Initial-Motiv der „Ilias“, führt dann - und zwar, wie jetzt ersichtlich ist, äußerst sinnhaft, nachdem Odysseus der Nausikaa begegnet war — zu

jenen erschütternden Worten des Odysseus, in denen die ganze GróDe des Griechentums aufleuchtet und in denen bereits der Grundton der abendländischen Welt enthalten ist: es sind jene stolzen Worte: εἴμ ᾽Οδυσσεὺς, es ist jenes „Bin Odysseus "199, das aber noch kein „Ich bin“ ist: das „Ich“ wird zwar schon im Zusammenhange mit dem Namensträger sichtbar, aber nur insofern es noch im Verbum ist, dem aktiven, handelnden Prinzip im Satze. Noch heute sind im

Italienischen und Spanischen, deren Völker noch stärker sippen-gebunden leben und dem Affektiven vehementer zuneigen als andere europäische Völker, die Pronomina nicht eigenständig, sondern im Verbum, also noch in der Handlung enthalten, beziehungsweise bei passiven Verbformen im Erleiden. Nur handelnd oder erleidend beginnt der Mensch sich stärker als einzelner zu fühlen. Daß diese Sprachen, darin der größeren Ursprungsnähe der antiken Sprachen ähnlich, die

starken Verbalendungen, durch welche die Pronomina noch fest an die Verben

84

Die vier Bewußtseinsmutationen

gebunden werden, aufrechterhielten, hat in dieser Ich-Geartetheit seinen Grund; andere Sprachen lösten das Ich aus der es anfänglich allein darstellenden Handlung heraus, perspektivierten es stärker und ließen die Endungen verblassen.

Das „Eim Odysseus“ beruht auf zwei Eigenschaften, die durch Homer immer wieder betont werden: darauf, daß Odysseus πολύμητις (polymetis) ist, der (durch Vernunft) Erfindungsreiche, und darauf, daß er πολύτλας (polytlas) ist, der „Dulder“. „Metis“ aber ist der Name der Mutter Athenens, jener Athene, die nicht nur als Schutzgöttin des Achilleus, sondern auch als die des Odysseus handelt. In

der doppelten Charakterisierung spricht sich aus, was unverlierbare Begleiterscheinung jeder Bewußtwerdung ist, die ja stets auch durch die denkende Vernunft

mitbewirkt wird: jeder Bewußtwerdung, und handle es sich um die geringfügigste des alltäglichsten Alltags, und mit ihr auch jeder Ich-Gewinnung, ist das erduldende Leiden eingefügt: das passive Moment ergänzt gegenpolig das aktive:

der Freude am denkend-handelnden Finden entspricht das Leid des duldenden Verlierens. Und es ist dieser Anspruch der Bewußtwerdung, das Leid zu ertragen, den der abendländische Mensch, selbst wenn er sich selber dazu die Vorbedingun-

gen schuf (wie in den Jahren 1930 bis 1950), kaum mehr zu erfüllen vermag, da er einseitig dem aktivierenden, dynamischen Prinzip verfallen scheint.

Gerade die erlittene und erduldete Leidensfülle befähigt Odysseus, auf der Heimfahrt von Troja seiner Gefährten „Psyche“ zu retten!°!. Andere retten kann jedoch nur, wer sich selber gerettet hat. Was aber verbirgt sich hinter dieser Rettung der

ψυχή: Hier scheint ein eminent wichtiger Aspekt der mythischen Ausdrucksweise

des griechischen Menschen durch, denn „Psyche“ ist, nicht nur hier, sondern noch

bei Heraklit und bei Platon, ja noch im johannes-Evangeliumro2 gleichbedeutend mit Leben und Seele. Deshalb konnten wir sagen, daß aus der echten Mythen-

Interpretation stets eine Lebens-Erhellung erwächst, weil sie gleichzeitig eine Seelen-Erhellung, eine Bewußtwerdung ist. Dabei brauchen uns die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Psyche“ durchaus nicht zu verwirren: Psyche, als Atem oder Hauch gedeutet, steht nicht in Widerspruch zu ihrer Gleichsetzung und Gleichwertung mit Leben, und auch nicht mit den Zuordnungen, die Heraklit, Demokrit und andere ihr gaben, wenn sie die verschiedenen Elemente mit der Seele gleichsetzten. Denn ob Sonne oder Wasser, Stein oder Luft: die Seele

und das Leben binden diese Polaritäten ineinander, und im mythischen Bericht wird einmal dieser, einmal jener Aspekt sichtbar und enthüllt in der verschwie-

genen Komponente, auf der uns unsichtbaren Rückfläche des Spiegels, jeweils den ihn polar ergänzenden Aspekt. Die wirkende Bewußtwerdung, die sich in den erwähnten Mythen spiegelt, macht aber auch deutlich, daß nicht nur die Sonne im Menschen sichtbar wird, sondern daß auch die Dunkelheit in ihm sichtbar wird. Das Ansichtigwerden des abgrundtief Dunklen kommt in jenen Mythologemen und Schilderungen zum Ausdruck, die uns unter dem Namen „Nekyia“ als Nacht-

4. Die mythische Struktur

85

meerfahrt, Hadesfahrt und Höllenfahrt überliefert wurden. Diese Nekyia wird im Gilgamesch-Epos beschrieben und in der Höllenfahrt Istars dargestellt; Odysseus hatte sie zu bestehen, von den Orphikern wird sie erwähnt, das Y-Symbol der Pythagoräer weist auf sie hin; von Vergil wurde sie geschildert, in den Evangelien

geoffenbart; Plutarch berichtet von ihr, Dante schildert sie, Don Quijote besteht

sie; und in der „Nigredo“ der mittelalterlichen Alchimisten lebt sie weiter, um von der modernen Wissenschaft wiederentdeckt, in der Tiefenpsychologie zur Lehre vom „Schatten“ zu werden. Diese Nekyia ist in höchstem Maße Ausdruck

der Integrierung der Seele, da sie den Hades im Menschen sichtbar macht und ihm die Möglichkeit gibt, sich dieser dunklen und somit polaren Entsprechung der lichten Manifestationsform der Seele bewußt zu werden. Wir besitzen eine mythische Aussage über die Entstehung dieser neuen Fähigkeit

des Menschen, auch das Schattenhafte, das Dunkle (man nennt es heute das Un-

bewußte), also Nächtige zu sehen, einer Fähigkeit, die vorerst traumhaft den

Grundcharakter der mentalen Struktur andeutet und als ein im Mythologem

berichteter Traum dem Erwachenden und dann dem Erwachten allmählich bewußt geworden sein mag. Die Wirklichkeit des mythischen Traumes aber war von einer solchen Intensität, daß sie mit dem, was wir heute Wirklichkeit nennen, fast noch identisch war: der Mythos war die polare Entsprechung des Lebens, der

Traum die polare Entsprechung der Wachheit; der Mensch, der mythische

Mensch, der des Traumes im Mythos ansichtig wurde, wurde aus seiner Polarität heraus auch der Wachheit ansichtig: er stand im Kreise, und kreisend war er bald Traum, bald Wachheit: ein Erwachender. Dschuang Dsi!% spricht diesen uns rational schwer faßbaren und nur mühsam vorstellbaren Vorgang (es sei denn, wir dächten an unsere eigene Kindheit) in der Ungewißheit des Fragenden aus: „Sind

nicht vielleicht gerade ich und du in einem Traum befangen, von dem wir noch

nicht erwacht sind?" Und fast gleichzeitig mit Dschuang Dsi formuliertin Griechenland Sophokles im „Aias“ den gleichen Gedanken: „All, die wir leben, seh ich,

sind nicht mehr als / Gebild von Traum, wie eines Schattens Dünne." Und zweitausend Jahre später wird diese Erwachensfrage sich nochmals formulieren: zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Spanien, das keine „Renaissance“ gekannt hat, das „unperspektivisch“ am Rande Europas verharrte, dort schreibt Calderón „La vida es sueño“, „Das Leben ist Traum“, gleichzeitig formuliert Shakespeare diesen Gedanken im ,,Sturm" 1^4, Diese Aussage, diese mythische Haltung, die noch ganz in der Seele beheimatet ist, kehrt bei Novalis und in unseren Tagen in Hofmannsthals „Der Tor und der Tod" wieder sowie fast wörtlich in einem der Romane von Virginia Woolf, die das Kreisende liebte: „The Years“ und „The Waves" bringen schon in den Titeln, noch deutlicher in ihrer Struktur und Thematik die mythische Konstellation zum Ausdruck. Das Erwachen und die Fáhigkeit, das Dunkle zu sehen, wurden in einem fest-

86

Die vier Bewußtseinsmutationen

umrissenen Mythologem gleichsam vorausgeträumt und sichtbar: in dem Mytho-

logem von der Geburt der Athene. Athene entspringt — es war ein Sprung, eine Mutation — dem Haupte des Zeus; sie ist das Bild des Gedankens, des bewußten

Denkens, das auch die dunklen Zusammenhänge, auch die in der Nacht liegenden Wirklichkeiten zu sehen vermag: denn Athene ist eulenäugig; ihr Attribut ist die Eule, der Vogel - und als Vogel ist die Eule ein Polaritäts-Symbol der Seele -, der auch im Dunkeln sieht, dem die Nacht Tag 151105, Und Athen wird es sein, in dem

die ersten abendländischen Menschen völlig zum wirklichen Denken erwachen;

Athener werden es sein, deren Stimme unsere Welt bestimmen, deren Denken unsere Zeit fixieren, deren Weitblick unserer mentalen perspektivischen Welt Gestalt und Gesicht geben wird: Sokrates, Euklid, Platon, Aristoteles.

In diesem Bestimmen — und daß es ein Bestimmen genannt werden darf, in dem noch einmal der akustische Unterton des magisch-mythischen Erbes durchklingt — zeigt sich gleichzeitig der vollzogene Schritt aus der magischen Welt des Ohres und

Hörens in die mythische Welt des sagenden Mundes. Und ebenso kündet sich in

dem „Gestalt geben" und in dem „Gesicht geben“ eine der wesentlichen Eigenschaften der Perspektivität an: sie ist eine gesehene Welt. Alles, was uns gehört, ist Ausdruck unserer Macht und gehört der magischen Struktur an und stimmt mit ihr überein; alles, was uns entspricht, ist Ausdruck

unserer Seele und entspricht der mythischen Struktur; alles, was wir sehen, ist

Ausdruck unseres Verstandes und ist ein Sehen und Vorstellen, die der mentalen

Struktur gemäß sind. Es dürfte vielleicht gut sein, einer Wirklichkeit eingedenk zu bleiben: zwar schloß sich die Wunde im Haupte des Zeus, aber es war da einst eine Wunde. Immer

reißt jeder „neue“ Gedanke Wunden auf. Der unendlichen Schmerzen - und seien diese, da das „unendlich“ ihre seelische Betontheit hervorhebt, auch nur irratio-

nale, seelische Schmerzen - ihrer sollte man nicht vergessen, wenn man des mythischen Menschen und seiner Leistung gedenkt. Und jeder, der nicht nur die Erde, sondern auch das Leben würdig bestehen will, der das Leben leben will, statt von

ihm gelebt zu werden, muß einmal durch diese Schmerzen der BewuDtwerdung gehen.

5. Die mentale Struktur Wir haben die mentale Struktur zum Teil schon geschildert, als wir die „perspektivische Welt" darstellten. Dabei muDten wir aber alles mehr oder weniger vom

perspektivischen Blickpunkt

des Entscheidungsjahres

1500 aus ansehen, dem

Augenblick, in dem aus der europäischen unperspektivischen Welt (dem Mittelalter) die europäische perspektivische Welt endgültig herausmutierte. Wenn wir

in dem jetzt erreichten Zusammenhange die mentale Struktur zu beschreiben ver-

5. Die mentale Struktur

87

suchen, so müssen wir von einem anderen Ausgangspunkt ausgehen: wir werden nicht aus unserer Zeit rückwärtsblickend das Entstehen der perspektivischen Welt schildern, sondern versuchen, den Weg zu gehen, der vom Ursprung her auf

unsere Zeit zuführt, die mit der abendlindischen mentalen Strukturierung unseres Bewußtseins beginnt. Aus diesem neuen Ansatzpunkt könnten sich für das Ver-

stindnis Schwierigkeiten ergeben. Sie verschwinden aber, wenn wir uns Klarheit

über die Beziehungen verschaffen zwischen dem, was wir über die unperspekti-

vische Welt und über die (desgleichen unperspektivische) mythische Struktur aus-

gesagt haben: wir müssen im Auge behalten, daD die unperspektivische Welt nur einen Teil der mythischen Struktur darstellte, gewissermaßen den europäischen Teil. Und wir müssen uns über einen grundlegenden Umstand klar sein: um soo v. Chr. vollzog sich in Griechenland!°®, was seit etwa 1250 n. Chr. durch den

europäischen Menschen nachgeholt wurde, wobei aber für ihn die Absprungbasis durch drei große Leistungen, die alle den perspektivischen Ansatzpunkt bereits enthielten, verbreitert war: durch die griechische Wissenslehre, die jüdische Heilslehre und die römische Rechts- und Staatslehre. Würden wir in unserer Betrachtung ausschließlich von dieser europäischen perspektivischen Welt ausgehen, so dürften wir sie bereits als eine „rationale“ bezeichnen. In ihr ist die lateinische „ratio“ bereits richtungweisend; schon in der scholastischen Aussage über den Menschen, die auf Aristoteles zurückgeht, ist der Mensch ein „animal rationale“, ein verstandbegabtes Tier. Denn in dem Worte „ratio“, das sowohl „rechnen“ wie „berechnen“ im Sinne von „denken“ und ,,Ver-

stand" bedeutet, ist das Hauptcharakteristikum der perspektivischen Welt enthalten: die Gerichtetheit, die Perspektivität und damit aber auch die sektorierende

Teilung. Doch handelt es sich bei ihr um die bereits defiziente Phase der perspektivischen Welt; denn derart wie wir für die magische Struktur sowohl eine effiziente als auch eine defiziente Phase unterscheiden kónnen, eine, die unter dem Zeichen des Bannens, und eine andere, die bereits defizient unter dem Zeichen

des Zauberns steht, so kónnen wir auch für die mentale Struktur zwei derartige

Phasen unterscheiden: die effiziente mentale Phase, aus der die rationale als defi-

ziente resultiert, gibt dieser perspektivischen Welt das volle Gepräge, das auch heute noch Gültigkeit hat oder wenigstens haben kónnte. In diesem Sinne stellt die europäische, perspektivisch-rationale Welt lediglich die Defizienzphase, wahrscheinlich die Endphase für die ausschlieBliche Gültigkeit der mental-rationalen Struktur dar. Der Leser wird nun bei der Bezeichnung „mental“ sogleich den Begriff ,,Mentali-

tät“ assoziieren, und zwar der deutschsprachige Leser in einer ausschließlicheren Weise als zum Beispiel der englische, franzósische, italienische oder spanische Leser, für den das Wort „mental“ ja noch einen lebendigen Inhalt besitzt. Durch eine so einseitige Assoziation wird der Sinngehalt, den das Wort „mental“ birgt,

88

Die vier Bewußtseinsmutationen

auf eine unzulängliche Weise eingeschränkt, weil das Wort „Mentalität“ mehr

als nur die moralische Komponente einer Gesinnung und Einstellung zum Ausdruck bringt; dabei haben aber ihrerseits die beiden Begriffe „Gesinnung“ und Einstellung" bereits durchaus perspektivischen Charakter. Wir wählen diese Bezeichnung „mental“ aus zweierlei Gründen zur Kennzeich-

nung unserer heute noch vorherrschenden Bewußtseinsstruktur. Erstens enthält das Wort in seiner ursprünglichen Wurzel, die im Sanskrit „ma“ lautet, aus welcher sekundäre Wurzeln wie „man-“, „mat-“, „me-“ und „men-“ hervorgingen, nicht nur eine außerordentliche Fülle von Bezügen, sondern vor allem

drücken die mit dieser Wurzel gebildeten Wörter sämtlich entscheidende Charakteristika der mentalen Struktur aus. Zweitens ist dieses Wort das Anfangswort

unserer abendländischen Kultur, denn es ist das erste Wort der ersten Zeile des

ersten Gesanges der ersten großen abendländischen Äußerung: dieses Wort „mental" ist in dem μῆνιν (dem Akkusativ von: Menis) enthalten, mit dem die „Ilias“ beginnt.

Bei den Äußerungen, die aus der mythischen Struktur hervorgehen, ist nichts zufällig, sondern alles sinnentsprechend. Und sinnentsprechend ist es also wohl auch,

wenn gerade mit diesem Wort der uns bekannte früheste Bericht beginnt, der zum ersten Male innerhalb unserer abendländischen Welt nicht nur ein Bild evoziert, sondern eine geordnete, von Menschen und nicht ausschließlich von Göttern

getragene Handlung in einem gerichteten, also auch kausalen Ablauf beschreibt.

Das griechische Wort μῆνις, das „Zorn“ und „Mut“ bedeutet, ist stammverwandt mit dem Wort μένος (menos), das „Vorsatz, Zorn, Mut, Kraft" bedeutet und mit dem lateinischen „mens“ urverwandt ist, das ungemein komplexe Bedeutung hat: „Absicht, Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart, Vorstellung“. Mit diesen Inhalten ist bereits das Grundlegende gegeben: es handelt sich um das ansatzmäßige In-Erscheinung-Treten des gerichteten Denkens. War das mythische Denken, soweit man es als ein „Denken“ bezeichnen darf, ein imaginierendes Bilder-Entwerfen, das sich in der Eingeschlossenheit des die Polarität umfassenden Kreises abspielte, so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein grund-

sätzlich andersgeartetes: es ist nicht mehr polarbezogen, in die Polarität, diese spiegelnd, eingeschlossen und gewinnt aus ihr seine Kraft, sondern es ist objektbezogen und damit auf die Dualität, diese herstellend, gerichtet, und erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich.

Dieser Vorgang ist ein außerordentliches Geschehen, das buchstäblich die Welt

erschütterte. Mit diesem Ereignis wird der bewahrende Kreis der Seele, die Eingeordnetheit des Menschen in die seelische, natur- und kosmisch-zeithafte polare Welt des Umschlossenseins gesprengt: der Ring zerreißt, der Mensch tritt aus der Fläche hinaus in den Raum; ihn wird er mit seinem Denken zu bewältigen ver-

s. Die mentale Struktur

89

suchen. Etwas bisher Unerhórtes ist geschehen, etwas, das die Welt grundlegend verändert. Der Mythos von der Geburt der Athene malt es in Bildern und Bezügen, die eine deutliche Sprache sprechen: Zeus vermählt sich mit der Metis, die als Personifikation der Vernunft und der

Intelligenz aufgefaßt wird, und als eine der Töchter des weltumschließenden

Okeanos (-Stromes) die Gabe der Verwandlung besitzt!^7. Zeus jedoch verschlingt Metis, weil er die Geburt eines Sohnes befürchtet, der mächtiger werden könnte als er, so daß Metis, schon mit der Tochter schwanger, in seinen Leib versetzt wird. Diese Tochter Athene wird aus dem Haupte des Zeus geboren, wobei ihm Hephästos oder Prometheus oder Hermes mit einem Beile das Haupt spalten. Pindar beschreibt diese durch den Beilschlag ausgelöste Geburt, die unter furchtbarem Aufruhr der ganzen Natur und unter dem Staunen aller Götter erfolgte. Das Meer

(die große, umfassende Seele) wallt hoch empor; der Olymp und die Erde (die bislang polar einander zugeordnet waren) erbeben (und das sorgsam beobachtete Gleichgewicht ist gestört); ja selbst Helios unterbricht seinen Lauf (der Kreis ist tatsächlich unterbrochen worden, und aus der Lücke, der Wunde, tritt eine neue

Weltmöglichkeit hinaus.

In dem Namen Athene ist die Wurzel „ma : me“ nicht sichtbar; aber dem Mythischen entsprechend ist sie unsichtbar gegenwärtig: die Mutter, Metis, die Geburtshelfer, Prometheus und Hermes, sowie eines der Attribute der Athene neben Eule

und zielsicherer Lanze, das Medusenhaupt, enthalten diese Wurzel. Und die

römische Pallas Athene heißt: Minerva, ursprünglich Menerva; ihr frühester,

etruskischer

Name ist Menerfa und Menrfa!®. Und der Schützling dieser kimp-

ferischen, kriegerischen und zugleich hell, ätherklar denkenden Göttin, die das Dunkle erkennt und die ihr Ziel immer trifft, ist Achilleus, dessen Menis die „Ilias“ besingt; sie ist die Göttin, die diesen Zorn des Achilleus bestärkt und die

ihm in seinen Kämpfen beisteht, die durch diesen Zorn ausgelöst und siegreich bestanden werden. Dem

entscheidenden

Bewußtseinssprung

in der griechischen Welt

steht um

1225 v. Chr. ein Beispiel gegenüber, in einer Kultur, die ebenfalls für die unserige

konstituierend geworden ist, und in dem das zürnende Element eine bedeutende Rolle spielt: der zürnende Moses, der mit der Schuld des Tötens behaftet ist, ist der Erwecker des Volkes Israel, dem er folgerichtig den strafenden, einzigen Gott

gegenüberstellt. Das ist die Geburt des Monotheismus: die Gegengeburt zu dem

im Menschen erwachten Ich. Und damit ist es die Geburt des Dualismus: hier

Mensch, dort Gott, die sich dualistisch gegenüberstehen und sich nicht mehr polar entsprechen oder ergänzen; denn der einzelne Mensch ist nicht der Gegenpol zu

Gott; wäre er es, bedürfte es nicht des Mittlers. Hier entsteht bereits die Trinität, welche die dreidimensionale mentale Struktur mitcharakterisiert.

90

Die vier Bewußtseinsmutationen

Wir deckten den Bezug auf, der zwischen dem Denken und dem Zorn, zwischen dem griechischen „Menos“, dem lateinischen „mens“ und der griechischen ,,Menis" besteht. Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem

Denken und der Handlung Richtung; und er ist rücksichtslos, das will besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort von der bisherigen

mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist vorwärtsgerichtet, wie die zie-

lende Lanze, wie der in den Kampf stürzende Achill. Er einzelt den Menschen von

der bis anhin gültigen Welt — der Ton liegt auf Mensch - und ermöglicht sein Ich. Diese Betonung des Wortes Mensch ist durchaus nicht zufällig. Denn ob „mens“,

„Menis“ oder „Mensch“ - sie sind aus der gleichen Wurzel. Gehen wir diesen Zusammenhängen nach!®, so ergibt sich die folgende Grundbezüglichkeit, in der die mentale Struktur gründet: aus der Wurzel „ma“, die „Denken“ und „Messen“ bedeutet, gehen die Sekundär-Wurzeln „man“, „mat“, „me“ und „men“ hervor. Der Wurzel „man-“ entspringt das altindische (Sanskrit-) Wort „manas“, das „innerer Sinn, Geist, Seele, Verstand, Mut, Zorn" bedeutet; und ihr entspringt das Wort „manu“, das im Sanskrit den „Menschen, Denker und Messenden“ be-

zeichnet; auf dieses Wort gehen ferner zurück (um nur einige zu nennen): das

lateinische „humanus“, das englische „man“, das deutsche „Mann“, aus dessen Adjektivform „männisch“ das Wort „Mensch“ entstand. Sehen wir davon ab, daß selbst das lateinische „humus“, das „Erde“ bedeutet, hier-

her gehört!!, so muß doch betont werden, daß außer dem Namen des indischen

Gesetzgebers „Manu“ auch der des kretischen Königs ,, Minos" und der des ersten

„geschichtlichen“ Königs Ägyptens, „Menes“, auf diese Wurzel „man“ zurück-

gehen dürften. Jedenfalls kann es als erwiesen gelten, daß ,, Minos" geradezu der „Wäger“ beziehungsweise der „Messer“ (der Wägende oder Messende) bedeutete!!!, womit auch inhaltlich seine Verwandtschaft mit dem indischen „Manu“

gegeben ist. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man in dem fast gleichzeitigen Auftauchen dieser drei legendären Gestalten, die ein menschheitliches Mutations-

prinzip verkörpern, einen Hinweis auf eine erste Sichtbarwerdung der mentalen Bewußtseinsstruktur erkennen wollte: denn wo der Gesetzgeber in Erscheinung

tritt und nötig wird, da ist das alte Gleichgewicht (das ein polar-mythisches war) gestört, und es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll. Nur die mentale Welt bedarf des Gesetzes, die in der Polarität geborgene mythische Welt bedarf seiner nicht und kennt es nicht. Im frühgriechischen Kulturkreis dürfte dieses mentale Prinzip nicht nur in den Namen „Menerfa, Metis, Hermes und Prometheus“ aufleuchten; vielleicht enthält auch der Name des Königs von Mykene, Agamemnon, sicher wohl aber der des Königs von Sparta, Menelaos, dieses mentale Prinzip, da alle diese Namen die Wurzel „ma : me“ beziehungs-

weise deren^Sekundárwurzel enthalten. Auch mag es nicht zufällig sein, daß um

5. Die mentale Struktur

9I

des Menelaos’ Gemahlin Helena, welche die Schwester der Klytaimestra und die Schwägerin des Agamemnon war, jener Trojanische Krieg entbrannte, der den Sieg des Vaterprinzips über das Mutterprinzip darstellen dürfte (s. S. 1684245).

Gehen wir jedoch den anderen Sekundärwurzeln nach. Als zweite haben wir die Wurzel

„mat“ genannt. Aus ihr entspringen die Sanskritwörter „matar“ und

,matram" : „matar“ wird zum griechischen μάτηρ und μήτηρ (mater und meter

gleich „Große Mutter“) ; aus ihm bildet sich unter anderen unser Wort „Materie“: „matram“, das ein „Musikinstrument“ bedeutet, kehrt in diesem Sinne im griechi-

schen μέτρον (metron) wieder; aus ihm bildet sich unser Wort „Meter“. Schon hier sei darauf hingewiesen, was uns später (s. S. 232 u. 257) ausführlicher beschäftigen wird: daß die ursprüngliche Wurzel „ma : me“ latent und komplementär auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für „Mond“, μήν (men), geht auf diese Wurzel zurück. Und die Sekundärwurzel „mat“ erlebt ja in der heutigen patriarchalischen Welt ihre Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die „Materie“ und den „Materialismus“ zu erkennen gibt!!2. War der Mond für den frühen Menschen

der zeitliche Maßstab, so ist die Materie für den heutigen Menschen der räumliche

Maßstab. Schließlich gehen aus den Wurzeln ,,me-" beziehungsweise „men-“ nicht nur die zahlreichen griechischen Verben!!5 hervor, die alle in mehr oder minder starker Form einerseits: „zürnen, grollen“, andererseits „verlangen, begehren, trachten, streben, im Sinne haben und ersinnen“ bedeuten, wobei die Tatsache betont werden muß, daß sie ein gegen jemanden gerichtetes Trachten, Streben und Ersinnen

zum Ausdruck bringen. Und auf diese Wurzel geht durch alle germanischen

Sprachen hindurch etwas denken“ (also zurück, das sowohl bildete das englische

über das griechische μέδομαι (medomai), das „an etwas, auf ein durchaus gerichtetes Denken) bedeutet, unser „ermessen“ „messen“ wie „erwägen“ und „bedenken“ ausdrückt. Sie Wort „mind“, aber auch das lateinische „mentiri“, das „lügen“

bedeutet (!). Und es sei noch erwähnt, daß sie das griechische Fragewort τί in der Wendung τί μὴν (ti men) = „Warum?“ als verstärkendes Element begleitet und

so die Frage mitformt, die am Anfang aller Wissenschaften steht, zu deren Schutzgöttinnen sowohl Athene wie Minerva erhoben wurden!14. Die Wurzel, die dem Worte „mental“ zugrunde liegt, enthält keimhaft eine ganze Welt, die in der mentalen Strukturierung Gestalt, Form und Wirkcharakter annimmt. Wenn wir

jetzt auch nur an die wichtigsten Begriffe zurückdenken, so können wir ohne Zu-

hilfenahme weiterer Begriffe das tatsächliche Wesen dieser mentalen Struktur ausdrücken: Es ist eine Welt des Menschen; das will sagen, es ist eine vorwiegend menschliche Welt, in welcher „der Mensch das Maß aller Dinge“ ist (Protagoras); in welcher der Mensch selber denkt und dieses Denken richtet; und es ist eine Welt, die er mißt, nach der er trachtet, eine materielle Welt, eine Objektwelt,

92

Die vier Bewußtseinsmutationen

die ihm gegenübersteht. Im Keime sind die großen formgebenden Begriffe hier enthalten, Begriffe, die mentale Abstrakta sind und die an die Stelle der mythi-

schen Bilder treten, Abstrakta, die in einem gewissen Sinne Götterschemen, also Götzen sind: Anthropomorphismus, Utilitarismus, Materialismus: kurzum vischen Welt.

Dualismus, Rationalismus, Finalismus, die rationalen Komponenten der perspekti-

Verglichen mit der zeithaft-seelisch betonten mythischen Struktur, mutet der Übergang in die mentale an wie ein Fall aus der Zeit in den Raum. Aus der Ge-

borgenheit des zweidimensionalen Kreises und aus dessen Einschließung tritt der

Mensch hinaus in den dreidimensionalen Raum: da ist kein In-Sein polarer Ergänztheit mehr; da ist das fremde Gegenüber, der Dualismus, der durch die denkerische Synthese, diese mentale Form der Trinität, überbrückt werden soll; denn

von Einheit, Entsprechung, Ergänzung, geschweige denn von Ganzheit ist nun nicht mehr die Rede. Freilich, die sich nach rückwärts neigen, die Traditionalisten, die religiösen Menschen, ja selbst die heutigen Mystiker, sie werden hier und da noch Funken oder Sterne oder Sonnen, aber schon nicht mehr diese selbst, sondern nur noch

als Abglanz einer untergegangenen Erlebnis-, Erfühlungs- oder Einbildungsform der Ergänzung oder Einigung, doch kaum mehr die Ganzheit selbst zu erleben vermögen oder auch erlebt haben. Um die Wende des 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. vollzieht sich der Umschwung, der im Bilde vom Sprung der Athene vorausgeträumt wurde: Parmenides, der etwa um 480 v. Chr. sein nur fragmentarisch erhaltenes Lehrgedicht „publizierte“, spricht das Wort aus: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ elvai, „Denn dasselbe ist Denken und Sein" 115, das zum Hauptmotiv der abendlindischen Welt werden wird. Damit ist das Mythische durchbrochen: statt der Gleichwertung von Seele und Leben, die das Wort „Psyche“ enthält, gilt von nun an die Gleichsetzung von Denken und Sein; der erste philosophische Satz, die erste, und zwar räumlichende, mentale Äußerung ist damit formuliert. Diese Formulierung bereitete sich in vielen Dingen vor, die, betrachtet man sie

vom Gesichtspunkt der Bewußtwerdung, ihren Zufälligkeitscharakter verlieren und dann durchaus nicht mehr rätselhaft erscheinen, sondern bedeutungsvoll

werden. Sie kommt in der Plastik, der Architektur, der Vasenmalerei, sie kommt in der Schrift und der Gesetzgebung, in dem orphischen Mysterienwesen und der

ionischen Naturphilosophie zum Ausdruck. Beschränken wir uns auf diese Ge-

biete und nennen wir kurz die hauptsichlichsten Züge und deren Wandlung, denn es entsteht dort in Griechenland und in jenen Jahrhunderten unsere nun vielleicht zu Ende gehende Welt. Und es soll um den Anfang wissen, wer, das Ende sehend, an dessen Schmerzen teilhat. Drei Merkmale charakterisieren die griechische Plastik, vornehmlich des 7. und

6. Jahrhunderts. Erstens das erwachende Kórpergefühl, das sie zum Ausdruck

5. Die mentale Struktur

93

bringt und das die Voraussetzung für die spätere Bewußtwerdung des Raumgefühles ist; zweitens das, was man das „archaische Lächeln“ genannt hat, jenes rätselhafte Lächeln, das noch fern von Schmerz und Freude ist: es spiegelt ein Erwachen, es ist ein erster Abglanz des licht werdenden menschlichen Antlitzes; und drittens das allmähliche Frei- und Klarwerden der Stirn. Auf den frühesten Plasti-

ken ist sie noch fast bis zu den Augenbrauen von dem kunstvoll geflochtenen

Haar überdeckt, dessen Schutz die triumende umhegt. (Noch heute findet man diese vom Traum unerwachte Stirn hin und wieder einerseits bei der Bauernbevölkerung, vor allem des Balkans und Spaniens, deren Männer das Haar leicht in die Stirn fallend tragen, andererseits auf eine fast noch vorherrschende Weise

in Latein-Amerika und Ostasien.) Doch schon im 6. Jahrhundert und dann gänz-

lich bei Praxiteles ist die Stirn frei, klar und erwacht, und der Schlaf der Schläfen ist nicht mehr von der natürlichen Fülle des Haares beschützt. Dieses Erwachen des menschlichen Antlitzes — und es ist das menschliche Antlitz, das ausschließlich

gestaltet wird, und nicht mehr das Götterbild - ist vielleicht einer der erschütterndsten Vorgänge, zumal er sich schweigend vollzieht: Schritt um Schritt und Schmerz um Schmerz läßt sich an ihm die Bewußtwerdung ablesen, dieses Zu-sichselber-Erwachen des Menschen.

Nur an ein solches Antlitz konnte sich, zu Beginn des 6. Jahrhunderts, ein Thales von Milet wenden, der letzte der sieben Weisen der Frühzeit Griechenlands und der erste ionische Naturphilosoph, um jene Inschrift am Tempel des Apollon in

Delphi anbringen zu lassen, die noch heute nichts an Gültigkeit verloren hat. An diesem Tempel des Sonnengottes, an dieser raumwerdenden Gliederung singen-

der Säulen und Steine steht das lapidare: γνῶϑι σεαυτόν (gnothi séauton), das „Erkenne dich (selbst)“. Mit diesen zwei Wörtern am Sonnentempel hat es zudem noch eine besondere Bewandtnis. Seit Urzeiten schrieb man, der Schrift dieRichtung entweder von oben nach unten gebend, wie teilweise noch heute in China, oder von rechts nach links,

wie noch heute unter anderem im Islam. Jener Aufruf zur Bewußtwerdung aber,

jenes „Erkenne dich“, ist von links nach rechts geschrieben. Bindet die erste

Schreibweise gewissermaßen Himmel und Erde, wendet die zweite den lebendigen

Bezug immer von neuem der linken, unbewußten Seite zu, die auch die Vergangenheit enthält, so vollzieht sich hier, im Schutze des wachen Gottes, zum ersten Male jene Bewegung, die dem Sinngehalt ihrer Worte gemäß eine Bewegung in

die Bewußtwerdung ist. Diese „Kleinigkeit“, die man bisher eher als Kuriosum betrachtete, hat also ihren Sinn. Und vergessen wir nicht, was es bedeutet, wenn

wir einem Phänomen Sinn geben: es sagt aus, daß wir es richten. Diese Bedeutung kommt im Deutschen noch in der Formulierung „im Uhrzeigersinn“ zum

Ausdruck; stärker jedoch in anderen europäischen Sprachen; denn „in diesem Sinne“ hat das Wort „sens“ noch heute im Französischen die Doppelbedeutung

94

Die vier Bewußtseinsmutationen

von „Sinn“ und „Richtung“, und das gleiche gilt für das Englische, Italienische und Spanische. Bei dieser Gelegenheit dürfen wir auf die mehrfache Erwähnung des Wortes „richten“ zurückkommen. Seit alters her ist die linke Seite die Seite des Unbewußten, des Ungekannten; die rechte Seite dagegen die Seite der Bewußtheit, der

Wachheit. In welchem Maße sich diese Wertung verstärkte, geht daraus hervor,

daß in den heutigen europäischen Sprachen „rechts“ eben nicht nur einfach rechts, sondern auch „richtig, gerade“, im Sinne des Zum-Ziel-Führens, bedeutet. Das französische „droit“ und „a la droite", das englische „right“ und „to the right“, das spanische „derecho“ und „a la derecha“, ja schon das griechische ὀρϑός

(Orthos) beweisen es. Was die Rechtsphilosophie bislang, wie es scheint, übersah,

daß das „Recht“ und das „Rechtsprechen“ in diesem Sinne ausschließlich „rich-

tende" Handlungen sind, Bewußtseinsakte, die einseitig nur auf das mentale Wach-

bewußtsein abstellen, dürfte hier deutlich werden. Wo „Recht“ entsteht, wo also

eine fixierende Gesetzgebung zum ersten Male in Erscheinung tritt, da vollzieht sich ein Akt, der nur durch ein erwachtes Bewußtsein vollzogen werden kann.

„In diesem Sinne“ ist die Gesetzgebung durch Moses mehr als ein bloßes Geben der Gesetze. Und in Griechenland, am Ende des 7. Jahrhunderts, ist es Lykurg, der das harte Gesetz, das spartanische, und später ist es Solon, der das athenische verfügt. Als natürliche Begleiterscheinung, die dann natürlich ist, wenn wir daran denken, daß die rechte Seite nicht nur für das wache, sondern auch für das männ-

liche Prinzip steht, ergibt sich aus jeder Gesetzgebung, aus jedem Richten, die Betonung des väterlichen Prinzips. Die gerichteten Worte am delphischen Tempel stehen unter dem Schutze Apollons, das mosaische Gesetz unter dem des Vatergottes. Mit Moses und mit Lykurg tritt das Patriarchat in Erscheinung; das Matriarchat, die bergende Welt der schützenden Dunkelheit, wird abgelöst durch

das Ausgesetztsein in der Wachheit: von nun an muß der Mensch sich selber richten. Und hierin liegt die fast übermenschliche Größe des Zeitalters, das mit der Muta-

tion in die mentale Struktur um etwa 500 v. Chr. in Griechenland Wirklichkeit wird. Wie sehr diese Vorgänge einem Gesetz der Erde entsprechen, deuteten wir schon zweimal indirekt an. Und da wir uns anschicken, abzuschweifen, sei es gestattet,

zuvor noch auf jene Antwort hinzuweisen, die am Schlusse des Gilgamesch-Epos der Schatten des Enkidu aus dem Totenreiche herauf Gilgamesch gibt.!!6 „Rede,

rede, mein Freund! Das Gesetz der Erde, die du sahst, verkünde mir jetzt!", bittet

Gilgamesch, sich an den Schatten des gestorbenen Freundes wendend. Und die

Antwort lautet: „Ich kann es dir nicht sagen, Freund, ich kann es dir nicht sagen. Kündete ich dir das Gesetz der Erde, die ich schaute, du würdest dich niedersetzen und weinen." Dieses Gesetz der Erde vollzieht sich unerbittlich: aber darin liegt kein Grund zu

s. Die mentale Struktur

95

Angst oder Weltuntergangs-Phantasien. Nur wer das Unrecht vollzieht, ganz der Erde zu verfallen, der er schon mittels der magischen Struktur hätte entwachsen sollen, wird in dem Strudel der blinden Angst untergehen. Jedenfalls sind jene Worte vom „Gesetz der Erde“ ein Anruf, das Geschehen richtig zu sehen. Und dies gehört auch dazu: zu sehen, wie das irdische Gesetz sich vollzieht. In jenem

Spielraum von etwa 500 Jahren, zwischen der Zeit des Moses’ und der Lykurgs,

scheint dieses Gesetz der Erde sichtbar zu werden: es ist die Gleichzeitigkeit, mit

der in China und in Griechenland die Sonnen-Mythologeme Gestalt gewinnen,

und die andere Gleichzeitigkeit, mit der in Indien und Griechenland der Zorn

als bewußtseinsweckende Kraft zwei großen Berichten, der Bhagavadgita und der Ilias, die Richtung gibt. Aber es gibt noch mehr Parallelen: nur wenig später als Lykurg in Griechenland führt Kungfutse in China das Patriarchat ein; fast gleich-

zeitig erfolgt in China durch Dschuang-Dsi und in Griechenland durch Sophokles die Formulierung jener Sátze, die, ein Erwachen aus der mythischen Struktur spiegelnd, sich auf Leben und Traum beziehen (siehe Seite 85); und Zarathustra bringt in Persien jenen Dualismus zur Geltung, der, wenn auch verschieden von dem platonischen und manichäischen, doch schon der Seinslehre des Parmenides innewohnt, der dem Sein ein Nichtsein gegenüberstellt. Das ist eine letztlich unlósbare Problemstellung, insofern als der unvollziehbare Versuch aus der Mythen-

nihe, aus der mangelnden Distanz zur mythischen Welt heraus, unternommen

wird. Denn das parmenidische „Nichtsein“ ist vornehmlich unmeßbare Raum-

losigkeit, also ein mythisierender Gedanke, während sein Seinsbegriff durchaus raumbetont, ein erster mentaler, messender Begrif] ist.

Um zu unserem Ausgangspunkte zurückzukehren, sei erwähnt, daß das berühm-

teste indische Gesetzbuch „Manavadharmasastra“,

dessen Abfassung durch die

Legende dem göttlichen Urmenschen Manu zugeschrieben wird, ein Gesetz ent-

hält, das den Tschandala, den Parias, verbietet, von links nach rechts zu schrei-

ben.r7 Aber jedes Verbot, zumal wenn es die Erfüllung dessen hindert, was wir

als Gesetz der Erde bezeichnen, untersteht auch diesem Gesetz, dem es anschei-

nend widerspricht. Und wie jedes Verbot, so erfüllt es seinen Sinn; denn es bewirkt eine Stauung und Kräftigung jener Anlagen, die — wurden sie ihrer selber sicher und damit richtbar - schließlich zum Durchbruch kommen und dann ihrer chaotischen Herkunft entwachsen sind. Dieser Richtungsänderung, oder besser: dieses In-Erscheinung-Tretens der Richtung -- da ja nur die Wendung nach rechts eine Richtung enthält - wurden wir bereits auf einer der Vasenzeichnungen (s. S. 73) ansichtig. Und je stärker diese Rechtsbetonung zum Durchbruch kommt, wie in der richtenden Gesetzgebung

Lykurgs, wie in der Richtung der Schrift, wie in der aufgerichteten Stellung der Säulen, wie in dem richtungweisenden „Erkenne dich“, desto stärker hellt sich

in der Vasenmalerei jener Jahrhunderte der Untergrund auf, bis die Gestalten aus

96

Die vier Bewußtseinsmutationen

dem richtungslosen Verquicktsein ganz herausgelöst vor einen einfarbigen Hintergrund gestellt werden. Alle Beispiele der griechischen Vasenmalerei vom 7. bis ins 5. Jahrhundert legen von diesem Vorgang Zeugnis ab, um schließlich zu jenem ersten raumandeutenden Darstellungsstil zu gelangen, dem keimhaft schon die

später verwirklichte Perspektive innewohnt!!8, Sie wird dann andeutungsweise

sowohl in den „Odyssee-Landschaften“ des Esquilin im 1. Jahrhundert v. Chr.

als auch in der pompejanischen Wandmalerei sichtbar, von der wir bereits (S. 15) gesprochen haben. Doch ehe wir uns diesem Raumproblem zuwenden, das von so entscheidender

Bedeutung für das Verstindnis der mentalen Struktur ist, wollen wir noch einmal in die Untiefen der Raumlosigkeit zurücksteigen. Denn nur wenn wir verfolgen, wie sich die Herauslósung aus der seelischen Raumlosigkeit der mythischen Struktur vollzog, vermögen wir diese vielleicht zu „verstehen“ und andererseits die tatsichliche Bedeutung dieser Überwindung des Raumlosen zu erkennen.

Abgesehen davon, daß Raum nur dort sein kann und ist, wo das Vermögen des Richtens und der Richtung besteht - ein Umstand, der bisher durchaus übersehen wurde -, ist wohl der Bezug zwischen gerichtetem Denken, BewuDtwerdung und

Raum deutlich geworden. Dieser Prozeß des Abstreifens der Raumlosigkeit wurde

durch die „Dionysien“, auch die „Lenaien“ genannt, die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. in Athen stattfanden, gestärkt. Dort wurde neben der rauschhaften Ent-

äußerung letzter Reste der Dunkelheit, die durch Tanz und Trank geschah, die Ernüchterung bewirkt; und dort entstand das Drama. Dieses Wort heißt „Handlung". Aber sie meint nicht das Kunstwerk, sondern den in ihm dargestellten, dem

Dionysos geltenden Gottesdienst. In diesem Drama stand der Chor den einzelnen Darstellern gegenüber und kritisierte oder erklärte ihre Handlungen; das aber will doch vornehmlich besagen, daß es hier gegensätzlich zur ,,Allgemeinseele“ und von ihr distanziert der einzelne ist, der, wenn auch noch im Namen des Gottes,

handelt; denn selbst die Chorführer entpersönlichen sich durch das Tragen einer Maske, und nur der einzelne war „Persona“, ein Durchklungener, ein vom Gott Durchklungener; „per-sonare“ bedeutet ja „durchtönen, durchklingen". Diese Ableitung ist eine Sinndeutung, die aber bereits in der Antike Gültigkeit hatte; etymologisch dürfte das wahrscheinlich etruskische Wort „persona“ mit dem

griechischen πρόσωπον (prosopon) verwandt sein, das „Maske“ bedeutet!!9, Die Herkunft unseres Wortes „Person“ im Sinne des einzelnen aus dem Begriff „Maske“

ist jedoch äußerst aufschlußreich für das, was sich heute in der Maskenlosigkeit ausspricht, besonders wenn man die These von J. Gregor gelten läßt, daß die „Maske als eine von Zeit und Raum gelöste Welterscheinung“ aufzufassen sei!2°, In der Maske dürfen wir jedenfalls ein magisches Relikt wiedererkennen. Sie ist ihrer Raum- und Zeitlosigkeit wegen magisch, aber bereits im griechischen Theater Relikt, da dort der maskentragende Schauspieler dem Chor gegenübergestellt

5. Die mentale Struktur

97

wird. Dieser Schauspieler heißt ὑποκριτής (Hypokrités), was soviel wie der „Antworter“ bedeutet. In der griechischen Frühzeit bildet er als antwortende Einzelseele mythisch den ergänzenden Pol zu der Gesamtseele; er ant-wortet, das heißt, er ent-wortet, ent-spricht dem Worte des Chores: er hebt es auf und stellt

das polare Gleichgewicht und die polare Ergänztheit her. Doch schon in der Tragödie ändert sich dieser Vorgang. Dort ist er nicht mehr nur Antwortender im

mythischen Sinne, sondern stellt als einzelner (Bewußtwerdender) mental den

Gegensatz zum Chor (dem „Unbewußten“) dar. Jene Maske, die auch Ausdruck

der magischen Ichlosigkeit ist, wird allmählich zu der „Maske“ in unserem heutigen Sinne: denn diese entpersönlicht oder verdeckt das wahre Ich, das sich hinter

ihr, in der neugewonnenen Tiefendimension, verbirgt, die das Magische so wenig

kennt, wie es ein räumliches „Hinter“ kennt. Und in diesem Zusammenhang sei

darauf hingewiesen, in welchem Maße die magische Komponente im Theater allein schon strukturmäßig in Erscheinung tritt. Sie geht aus dessen frühester Bauform hervor, die man nicht mit Unrecht als steinerne Muschel bezeichnet. Muschel aber ist auch das Ohr. In dieser akustisch-labyrinthischen, magischen Betontheit

gründet jedwedes Theater. Diese magische Wurzel aber wird einerseits bereichert durch die mythische Polarität, andererseits durch die mentale Gerichtetheit. Das

mythische Element kommt in der Polarität zum Ausdruck, welche die Zuschauer (als die Erleidenden) zusammen mit den Schauspielern (als den Handelnden) bilden. Das mentale Element dagegen äußert sich in der mentalen Gerichtetheit (der

dramatischen Handlung), derzufolge sich Zuschauer und Schauspieler, Erleidende und Handelnde, aus gegensätzlichen Haltungen heraus in der gleichen Spannung

auf ein Ziel, auf das Ende hin befinden. Das echte Theater ist, wie jede echte, vom Menschen geschaffene Darstellungsform, ein Querschnitt durch wenigstens drei Strukturen; unecht und damit auch unmenschlich wird es, wie jede andere Aus-

drucksform, wenn es eine der Strukturen überbetont, weil diese einseitige Über-

betonung unserer heutigen Bewußtseinsstruktur nicht gemäß ist und somit eine Fälschung darstellt. Die Wurzel für die heute so häufigen Umfälschungen liegt be-

reits im antiken Theater, weil dort die Polarität in die Dualität umgeformt wurde, die zu rationaler Isolation führte. Aber in ihm nahm jene mutationsbedingte Akzentverschiebung Gestalt an, die allmählich den einzelnen auf Kosten des Chores ins Licht stellte. Das aber bedeutete ja nichts anderes, als daß der Mensch aus der bergenden Gemeinschaft heraustrat, die ihn bis dahin gleichsam höhlenmäßig umfaDte und schützte. Im Chor kommt diese Gemeinschaft zum ersten Male zu einer Art Eigenbewußtsein: in ihm wurde sie Stimme und Wort; anders ausgedrückt: sie, die in sich geschlossen war, begann sich zu äußern, sie trat aus dem In-Sein ins Außen hinaus, wurde handelnd und damit teilend; teilend aber stellt sie das Ich

aus sich heraus!?!, Damit erfolgte eine weitere Festigung der mentalen Struktur.

Das Erwachen zu ihr spielte sich jedoch in den Dionysien ab. In ihnen vollzog sich 7

98

Die vier Bewußtseinsmutationen

unter dem Schutze des männlichen Gottes jener Integrationsprozeß der Seele, jene Bewußtwerdung ihrer Polarität, die durch die Menis ausgelöst wurde und derart das richtende Denken ermöglichte. Dabei ist anzumerken, daß sich dieser Prozeß nur dann als integrierend darstellt, wenn wir ihn, wie es hier geschieht, von der mentalen Struktur aus, also rückläufig, betrachten. Von der archaischen Struktur aus gesehen mag er sich sehr wohl als ein Desintegrationsprozeß, als ein

Auflösungsprozeß darstellen; in ihm verlor die Seele für lange Zeit ihre polare Fraglosigkeit, und damit ihre Gesichertheit und ungetrübte Wirkungsmöglich-

keit, da an Stelle ihrer Vorherrschaft das mentale Denken in den Vordergrund trat. Betrachten wir aber diesen Prozeß rückläufig als Integrationsprozeß des Bewußtseins, so wird eines der Worte Heraklits verständlich, das immer als eines der

dunkelsten dieses „dunklen Denkers“ galt. Jenes: οὐτὸς δὲ "Auöns καὶ Διόνυσος, ὅτεωι μαίνονται καὶ ληναΐζουσιν: „Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem

sie da toben und ihr Lenaienfest feiern“ 22, Diese Dionysien sind ganz und gar nicht das, wozu sie die Klages-Schule machen will, auch damit ihre metabolistische Charakterlosigkeit unter Beweis stellend. Sie behauptet nämlich, diese dionysische Bewegung in Griechenland sei eine Rückkehr aus der „Geistigkeit“ in

den „Untergrund des Lebens". Sie ist genau das Gegenteil!23. Sie ist die Heraus-

lósung aus diesem Urgrund des Lebens und der Seele, die in der Aussage über den

Polaritäts-Charakter des Dionysos, daß er auch der Hades sei, anschaulich wird: deshalb gehen in den Dionysien der Rausch, in dem sie „toben“ (das Verbum ist

das uns nicht mehr unbekannte μαίνομαι [mainomai], das die Wurzel „ma : me"

enthält), und das Drama, das gestaltete, gerichtete Handlung ist, eines das andere

bewußtmachend und ergänzend, nebeneinander einher. Ein ähnlicher Vorgang muß sich in den orphischen Mysterien vollzogen haben.

Dafür sprechen die „lamellae orphicae“, die „Orphischen Täfelchen“, die in den Gräbern der süditalienischen Städte Thurioi und Petelia sowie in Eleutherniae auf Kreta gefunden wurden. Sie entstammen dem 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr., jener

Zeit, da die pythagoräischen, mit Eleusis zusammenhängenden Mysteriengemein-

schaften in Blüte standen. Sie verraten mit Worten den Sinn des großen pythagoräischen Geheimzeichens, das die griechische Letter für Ypsilon (Y) war!24: das Bild des bewußten und wissenden Entschlusses, das Bild des denkenden Unter-

scheidens, das Symbol für die Situation, die sich mythisch in jener des „Herkules am Scheidewege" ausdrückte. Denn hier ist abstrakt das Wesen der mentalen Struktur gefaßt: die aus der Lebens- und Seelen-Einheit hervorgehende bewußte

Unterscheidung des dualen Links und Rechts. Herkules nahm richtig den rechten Weg. Und dieses Wissen, dem lebenden Mysten mit den „unausgesprochenen

Worten“ (den ἀπόρρητα) ins Ohr geraunt, wurde dem Gestorbenen in diese Gold-

plättchen geritzt gleichsam als Ausweis für das Totenreich mitgegeben. Auf ihnen stehen unter anderen die Sätze: „Dort im Reiche des Hades wirst du zur linken

s. Die mentale Struktur

99

Hand eine Quelle finden und daneben eine weiße Cypresse; hüte dich, ihr zu nahen. Dort ist auch eine zweite Quelle mit kaltem Wasser, das aus dem See der Erinnerung fließt. Den Wächtern, die ihn behüten, sage: ‚Ich bin der Sohn der

Erde und des vielgestirnten Himmels‘.“ Dieses geheime Wissen und dieser Bezug

des Menschen zu den Wächtern, also den Wachen, die eine primordiale Fähigkeit

des BewuBtseins, die Erinnerungsfähigkeit, hüten (wobei die griechischen Verben

für erinnern μεμνήσκω und μέμνημαι [mimnesko und memnemai] deutlich die Wurzel „ma : me" enthalten), sowie das Unterscheiden von links und rechts, das

die Folge des Wissens um die irdisch-himmlische, seelisch-polare Bezogenheit des Menschen ist, all dies kommt noch in einem anderen Satz jener „lamellae“ zum Ausdruck: „Wenn deine Seele das Licht der Sonne verläßt, gehe zur Rechten, wie

es dem Weisen geziemt. Freue dich, freue dich! Gehe zur Rechten . . .“125 Diese Rechtsbetonung kommt auch in jener Vorschrift des Pythagoras zum Ausdruck, ,,daD man auf der rechten Seite in das Heiligtum trete und den rechten

Schuh zuerst anziche",126 womit der Akzent für die initiale Handlung auf die

bewußtseinsbetonte Seite gelegt wird. Und dieser Bewußtheit entsprechend gehen im „Gastmahl“ Platons die Reden zum Lobe des Eros rechtsherum!27, was zudem

dem Wesen des Eros gemäß ist, stellt er doch eine bewußtwerdende Intention (also eine Gerichtetheit) dar. Mit dem „Gastmahl“ befinden wir uns schon im

Bereich des erwachten mentalen Bewußtseins. Was im Vergleich zu ihm die

„lamellae“ zu spiegeln vermögen, sind Vorgänge, die das Erwachen dieses mentalen Bewußtseins ankünden. Wenn diese Vorgänge auch noch in das Gewand des Mythos oder der Mysterien

gekleidet sind, so scheint doch nicht mehr nur das bildmäßige Element, das nur

imaginative der mythischen Struktur durch sie hindurch, sondern es zeichnet sich an ihnen bereits die gedachte und gerichtete mentale Vorstellung ab. Mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatte, vermag dann deutlich zu werden, wenn wir daran denken, in welchem Maße zu jener Zeit jedes Wort noch von seelischer und lebendiger Fülle erfüllt war128: ein jedes ist das Aufscheinen eines Aspektes der

Seele und der geschauten seelischen Wirklichkeit, das ununterschieden den einen oder die anderen Aspekte desselben Wortes mitschwingend mitenthält. Diese Bedeutungsfülle jedes einzelnen Wortes, diese uns heute irritierend als Überlebendigkeit erscheinende Trächtigkeit des Wortes, derzufolge selbst der von ihm

verschwiegene Aspekt durch das Wort hindurchwirkte, stellte die ersten philosophischen Versuche vor fast unüberwindliche Ausdrucksschwierigkeiten. Ungemein deutlich wird dieser Sachverhalt jedem, der in die uns überkommenen Texte der frühesten, der ionischen Naturphilosophie blickt.

Und

gerade die

Lehre vom Seienden eines Parmenides?29 ist dafür ein beredtes Beispiel. Es bedurfte der Jahrhunderte, um das Wort so weit zu entvitalisieren und zu entmythi-

sieren, damit es, nicht mehr von der Fülle des Bildes belastet, den klargedachten

100

Die vier Bewußtseinsmutationen

Begriff zum Ausdruck zu bringen vermochte, um schließlich heute, da dieser Prozeß sich selbst zu weit in das rationalistische Extrem getrieben hat, das Wort, das einst Macht war und dann Bild, zur bloßen Formel zu degradieren. Bleiben wir jetzt bei Parmenides, vor allem bei seinem Schüler Zenon, der um 450 v. Chr. die Lehre vom Sein, die Ontologie seines Lehrers in Athen verteidigte. Und was ist das Ergebnis dieser Verteidigung? Die mit dem Denken gegebene Vorstellung des Seins enthält die Frage nach dem Raum. „Zenon versteht unter dem Seienden

nur das räumlich ausgedehnte Seiende“, überschreibt zwar W. Capelle eine Zusammenfassung dieser Fragmente!39 Zenons, aber das Ausschlaggebende ist die Tatsache, daß der Raum in der Vorstellung und in der philosophischen Aussage

und Formulierung wirkende Gestalt annimmt. Und dies geschah zu Athen durch Zenon um das Jahr 450 v. Chr.

Diese große, äußerst komplexe Problematik des Zusammenhanges von Denken, Sein und Raum, die einige Überlegungen der heutigen Existenzialphilosophistik als Scheindiskussion entlarven würde, da sie sich in leerem Formalismus gefällt

(wobei das Verbum ge-,fallen“ zu Recht steht), diese Problematik führte Zenon

zu jenen Auseinandersetzungen, die ihn als ersten Relativisten erscheinen lassen; sie nötigten ihn zu jenen scharfsinnigen Formulierungen, durch die bereits die Dialektik geformt wird, die dann in der nächsten Generation durch Sokrates zur Logik führt. Mit ihr beginnt jene Gedankenklarheit, in die wir nun aufatmend

hinaustreten können, nachdem wir uns dem magischen Dunkel und dem mythischen Zwielicht lange genug hingegeben haben.

Freilich ist zu jener Zeit, da Platon Schüler des Sokrates wird und der athenischen Akademie sein Gepräge aufdrückt, noch nicht die Rede von einer vollständigen mentalen Klarheit. Klarheit ist, wo kein Suchen ist. Aber gerade das Suchen nach der Weisheit, das an die Stelle der Weisheit selber tritt, war schon für Pythagoras

und ist auch für Sokrates charakteristisch. Und auf Pythagoras, den ersten „Mes-

ser“ des Abendlandes, geht eine der Maximen Platons zurück. Pythagoras, der erste Mathematiker, war auch der erste Geometer, und vor allem: er stellte eine Verbindung zwischen dem magischen Tönen und dem mentalen Sehen und Zählen her, indem er auf dem Monochord die Töne maß. Dort liegt der Ursprung

der heute wiedererstehenden Harmonik!3!, Die Maxime Platons jedoch, die er (angeblich) über seine Tür schrieb, lautete: Μηδεὶς ἀγεωμέτρητος εἰσίτω μοῦ

τὴν στεγήν („Kein der Geometrie Unkundiger trete unter mein Dach"): es muß messen können, wer etwas ermessen will. Und vor allem: es muß die Erde messen können (Geo-metrie ist eigentlich Erd-messung) 32, wer sich patriarchalisch über

die Mutter stellen und des Menschen Maß mental bestimmen will. Hier kommt deutlich, noch in einer qualitativen Form, das Verhältnis des sich mental findenden

Menschen zur Erde zum Ausdruck. Dieses Verhältnis aber kehrt sich seit dem end-

gültigen Siege der defizient mentalen, der rationalen Struktur (seit etwa 1790) um.

5. Die mentale Struktur

IOI

Seitdem ist das Primat vom Menschen auf die Erde übergegangen; ihr Rot leuchtet in den Fahnen der Revolutionen, und der einzelne droht in die chaotische Masse zurückzusinken, nachdem er ihr, die er einst geordnet hatte, entstiegen war,

ein Vorgang, den die Kópfe auf den alten Münzen bildlich spiegeln.

War die Ausdrucksform der mythischen Struktur das Mythologem, so ist die der mentalen das Philosophem. Hatte das Mythologem durchaus allgemeine Gültigkeit, so hat jedes Philosophem nur noch individuelle Gültigkeit. In dem Mafe, in dem die philosophischen Systeme sich vermehren, nimmt das Mythische ab, um in abgeschwächter Form in der Religion und in der Legende, in diffuser Form im

Märchen weiterzuleben, und in bereits rationalisierter Form in der Sage fast gänzlich abzuklingen. Doch die ersten großen Philosopheme, die der Ionier und Pythagoräer, selbst die Heraklits und auch noch die eines Platon, zeichnen sich durch

ihre Mythennähe aus. Wir haben schon von dem Versuch des Parmenides gesprochen, der das Neue, das Denken, mit dem Sein identifizierend, diesem Sein das Nichtsein gegenüberstellte, das sich deutlich nur auf die mythische Haltung bezieht, deren Raumlosigkeit nun mental mit dem Nichtsein bezeichnet wird. Der Übergang von der mythischen Aussageform zur mental-rationalen Denkform, wie er sich, nehmen wir nur Heraklit, Platon und Aristoteles als Beispiel,

äußerst aufschlußreich an diesen Philosophen darstellen läßt, wird uns noch ausführlich (s. Teil I, Kap. VII, 3 und 4) zu beschäftigen haben. So möge hier der Hinweis auf dieses Problem vorerst genügen. Ein gleiches gilt von dem Raum-

Zeit-Problem, wie es allerdings einseitig raumbetont und dualistisch bereits bei Parmenides in Erscheinung tritt. Auch auf dieses Problem wird noch (s. Teil I, Kap. V) zurückzukommen sein. Denn die möglichst klare Herausarbeitung der bisherigen Denkformen und der bisherigen Aussagen über Raum und Zeit ist un-

erläßlich, wenn wir der Fundamente ansichtig werden wollen, die der aperspektivischen Welt zugrunde liegen. Uns bleibt hier noch das darzustellen, was zwischen den beiden je etwa 200 Jahre umfassenden

„Zeiträumen“

geschah,

dem

Zeitraum

des Pythagoras

und des

Aristoteles (etwa 550—350 v. Chr), und dem des Petrarca und des Leonardo (etwa 1300-1500 n. Chr.). Zwischen beiden besteht eine tiefgreifende Korrespondenz.

Man möge sich dabei nicht an der lediglich einen Ordnungsversuch darstellenden

Zeitabgrenzung stoßen, die sowohl nach vorwärts als nach rückwärts überschritten wird. Diese typische Fixierung konstruierenden Charakters ist ein bloßes Hilfsmittel und mag der mentalen Übersicht bis zu einem gewissen Grade dienlich sein. Die Verknüpfungen überschneiden durchaus diese beiden Zeiträume, wie wir an dem Bezuge Zenons zu Einstein, an jenem Plutarchs zur modernen Psychologie, sowie an jenem der ionischen Philosophen, Herodots und Platons zu

Augustin werden feststellen können. Zum Teil hat das seine Ursache darin, daß

nicht nur die griechische Wissenslehre, sondern vor allem auch die jüdische Heils-

IO2

Die vier Bewußtseinsmutationen

lehre den Jahrhunderten nach Christus das entscheidende Gepräge gegeben haben, wobei die Festigung des Ich, die immer deutlicher in Erscheinung tritt, noch

durch die rómische Rechtslehre und durch den Gebrauch der lateinischen Sprache gestärkt wird, die eindeutiger und gerichteter ist als die griechische.

Bevor wir jedoch auf das eingehen, was man als „rinascimento“ der Antike bezeichnet hat, das weniger ein rinascere als ein riannodare war, ein „Riannodamento“, — weniger also eine Wiedergeburt als eine Wiederanknüpfung, und zwar an die charakteristischen Formen der mentalen Ansätze der Antike, - müssen wir

noch einige Wesenszüge dieser mentalen Struktur näher untersuchen.

Die Gerichtetheit, die der mentalen Struktur innewohnt, aus der um 1500 n. Chr. durchaus „sinn“-gemäß und folge-,,richtig die Perspektive als Signatur unserer

perspektivischen Welt resultierte und damit ihre Sektorierung einleitete, sowie ihre Spezialisierung und endgültige Spatialisierung (lateinisch: spatium = Raum), diese Gerichtetheit enthält von allem Anfang an jene Einseitigkeit, die die Größe und das Verhängnis dieser Struktur ist. Diese Einseitigkeit liegt in der Identifizierung von rechts mit dem Gerichtetsein; dadurch wird zwar das Bewußtseinsmäßige, das,

was das Bewußtsein mißt, ungemein gestärkt, jedoch durchaus auf Kosten dessen,

was man heute als das Unbewußte bezeichnet, das unmäßig, unmeßbar ist. In der vom Menschen gemessenen und gedachten Welt hat die ungemessene und sich selbst denkende Welt, also die mythische Bilderwelt, keinen Platz; im besten der Fälle wird ihr der Gegenplatz zugewiesen; denn für das messende Denken gibt es keine Brücke zu dem Unermeflichen; im Sinne des Maßes ist es nicht oder bestenfalls ist es ein „Nichtsein“. Zudem wendet sich der denkende Mensch

durchaus von der Vergangenheit ab, darin von der Religion und ihrem Erlósungsgedanken gestützt, jener Religion, die ihm eine letzte Rückbindung ins Unmeß-

bar-Irrationale durch den Glauben vermittelt, der dual dem Wissen gegenübergestellt wird. Die Vergangenheit ist für den denkenden Menschen nur insoweit

existent, als er sie mit Jahreszahlen messen und fixieren kann; er selbst richtet sich

einseitig dem Zukünftigen zu. Dies um so mehr, als er aus seiner anthropomorphen Einstellung heraus der Ansicht ist, daB die Gestaltung dieses Zeitsektors

durchaus von ihm abhängig sei und durch ihn geleistet werden könne und müsse: ein Fehlurteil, das sich aus seiner Einseitigkeit von selbst ergeben muß. Hinzu komnit die tiefere Bezüglichkeit der mentalen Struktur zur magischen, die besonders in unseren Tagen überall in ihrer defizienten Form zum Durchbruch kommt, und die auch in der Überzeugung des heutigen Menschen, er vermöchte der Macher der Zukunft zu sein, deutlich wird. Die teilweise Negierung des Vergangenen, insofern es unmeßbar ist, die des-

gleichen aus der Gerichtetheit resultiert, welche das Zukünftige eo ipso anstrebt,

ist eines der vielen dualen Ausdrucksmerkmale der mentalen Struktur. Und die Dualität ist in dem Maße für diese Struktur kennzeichnend, wie es die Polarität für

5. Die mentale Struktur

IO3

die mythische Struktur ist. Alles Duale unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkte vom Polaren. In der Polarität hat die Entsprechung Gültigkeit; jede Ent-

sprechung ist ein ergänzender, ein ganzmachender Vollzug, da das Gesprochene durch das unsichtbar vorhandene Ungesprochene aufgehoben wird: ihm wird

ent-sprochen. Die Stimme und das Stumme, die dem Mythos eignen, das Ge-

schwiegene und Gesprochene sind in der polaren, unperspektivischen Welt der mythischen Struktur einander entsprechende Ergänzung, sind Aufhebung der Polarität und deren Rückführung in eine angenäherte Ganzheit, in eine jedoch immer reduziert bleibende Identität, deren archaische Echtheit nicht mehr an-

näherbar scheint: sie ist eine ergänzte, keine ganze. Und trotz allem drückt sich darin eine tiefe Bezüglichkeit zwischen der archaischen und der mythischen Struktur aus, so wie andererseits jene zwischen der magischen und der mentalen besteht. Bei der Dualität jedoch kann niemals, im Gegensatz zur Polarität, von Entsprechung oder Ergänzung die Rede sein. Wie denn überhaupt im mentalen Bereich niemals „von etwas die Rede sein kann“, sondern immer nur etwas fest-

oder vorgestellt zu werden vermag. Die Dualität ist die mentale Aufspaltung und

Zerreißung der Polarität, aus deren Entsprechungen sie messend die Gegensätze abstrahiert. Ist aus der mythischen Struktur heraus eine wenn auch defiziente Ganzheit

in Form der Ergänztheit rückwärtigend vollziehbar, so ist aus der Dualität heraus höchstens eine defiziente, weil nicht bestindige Form der Einheit als Einigung der Gegensätze in einem Dritten zu verwirklichen.

Und hier spielt wieder der Bezug der mentalen zur magischen Struktur deutlich

herein, insofern das versöhnende (!) Dritte eine Einigung anstrebt. Diese nicht-

bestindige Form der Einheit, der Unität, drückt sich darin aus, daß die Gegen-

satzpaare immer nur in einer vorübergehenden leidvoll-glückvollen Vereinigung das Dritte zu gebären vermögen, ein Drittes, das, im Moment seines Erscheinens

bereits wieder gesondert, durchaus keine neue Einheit darstellt, sondern lediglich eine von ihrem Gegensatz abhängig werdende Größe, die zusammen mit ihrem Gegensatz wiederum nur ein momentan einigendes Drittes bewirken kann. Und damit ist ein weiteres Moment unserer Zivilisation vorgegeben: die Quantifizie-

rung; denn die Einigung oder Synthese im Dritten ist niemals in der Zeit, sondern nur im Augenblick vollziehbar, und das sich loslösende Dritte wird fortzeugend

selber zum Träger eines der Gegensatzteile, die eine neue Einigung oder Synthese auslösen können. Kreativ (und nicht etwa dogmatisch) gesehen geht aus dem Dualismus das Bewußtsein des Sohnes, die kreative Trinität hervor; die gültigste Form dafür ist die Geburt des Menschensohnes. Damit ist der Zukünftige und alles Zukünftige gegeben. Am deutlichsten drückt sich dies in der seitdem einsetzenden Abwendung von der Vergangenheit aus: in der Aufgabe des Ahnenkultes zugunsten des neuen,

dem Bethlehemkinde geltenden Kindkultes. Die Ahnen sind stets die Vergangenen,

IO4

Die vier BewuDtseinsmutationen

das Kind ist stets Ausdruck des Kommenden, Zukünftigen. Spekulativ gesehen

geht aus dem Dualismus die spekulative Trinität hervor, die sich in dem äußert,

was wir gelegentlich unserer Untersuchung der Denkformen als Dreiecks- oder

Pyramiden-Denken eines Platon zu charakterisieren haben werden, das seine prä-

gnanteste Formulierung durch Hegels Satz von These, Antithese und Synthese erhielt (s. S. 274f.). Wenn auch das Hegelsche Axiom die rationalste Form der Trinität darstellt und deshalb nur bedingt in einem Atemzuge mit der mentalen christlichen Trinität

genannt werden darf, so müssen wir doch hervorheben, daß die mentale trinitäre Form nicht mit den praementalen ternären Formen verwechselt werden darf. Mit anderen Worten: Dreiheit und Dreieinigkeit, Trias also und Trinität, unterscheiden sich grundlegend voneinander. Nur die Trinität hat mentalen Charakter: in

ihr vollzieht sich die Einigung der einst polaren Elemente nicht mehr auf mythische

Art, sondern sie muß sich zur Herstellung der Einigung des „dritten“ Elementes bedienen. Die Dreieinigkeit ist also keinesfalls mit der bloßen Dreiheit zu verwechseln, wie sie in frühen sogenannten religiósen Vorstellungen sichtbar wird. Besten-

falls darf die Dreiheit oder Trias als ternire Vorform der Trinitit angesprochen werden. Alle terniren Formen zeichnen sich dadurch aus, daß ihre drei Elemente

zumeist beliebig austauschbar sind und trotz ihrer Zusammengehórigkeit auch einzeln als ganze Prinzipien bestehen kónnen, wie es in der indischen Trimurti der Fall ist. Die vielfachen Darstellungen dreikópfiger Gottheiten vorchristlicher „Religionen“ bieten dafür ein gutes Anschauungsmateriall?, Und es kommt noch ein weiterer grundlegender Unterschied hinzu. Wir vermuten, daß die ternären

Formen vorwiegend lunaren Charakters sind, den trinitären jedoch solarer Charakter eignet. Für die trinitire Form dürfte der solare Charakter offensichtlich sein. Hinsichtlich des lunaren der ternären Formen sind der Dreizack des Poseidon sowie das Dreigespann der Dais (s. S. το2{.) aufschluDreich. In der Dreiheit

dürfte sich die Dreiphasigkeit des nächtlichen Mondes spiegeln. Bei dieser Unter-

scheidung muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir damit keinesfalls

einer einseitig naturhaften Interpretation der Symbolik das Wort reden wollen. Der naturhafte Aspekt eines Symboles ist stets nur einer unter mehreren, denn die Reichweite jedes symbolischen Ausdrucks ist mit dem naturhaften Gleichnis niemals erschöpft. Dies gilt besonders auch deshalb, weil wir zwar nicht wissen, wohl aber vermuten dürfen, daß das Symbol, soweit es sich um spezifische Grundformen wie Punkt, Kreis, Dreieck, Viereck handelt, der Natur vorausging, so, als würen diese Symbole vorgedachte (oder vordenkende) Urmuster, die vor-

übergehend in den Erscheinungen, die sie strukturieren, sichtbar werden (s. S.244).

Dieses „Vorgedachtsein“ bedingt aber keinesfalls, daß ihnen, weil man glaubt, kausal folgern zu müssen, ein Demiurg (Weltschópfer) beigegeben werden müsse,

noch besteht ein Grund, daß man meinen dürfte, die Welt magisch mit Geistern,

s. Die mentale Struktur

105

beziehungsweise mit sublunaren oder kosmischen Entitäten (Wesenheiten) bevölkern zu können, die jeweils Träger oder Auslöser dieser Formen zu sein hätten. Hatten wir nun der magischen Struktur als Signatur den Punkt zugeordnet, der

ihre Eindimensionalität, ihre Raum-Zeitlosigkeit zu veranschaulichen vermag, hatten wir der mythischen Struktur den Kreis zugeordnet, der ihre Polarität und

ihre Flächenhaftigkeit, die schon das Moment des Zeithaften in Gestalt der Ausdehnung oder in Gestalt des in sich zurückkehrenden Kreises enthielt, so ist es nur

folgerichtig, wenn wir der dreidimensionalen Struktur das Dreieck als Signatur zuordnen, da die mentale Gerichtetheit nur infolge der Richtungsmöglichkeit auf

ein gegenüberstehendes gegensätzliches Objekt möglich ist, ein dualer Bezug, der jedoch wieder folgerichtig zur Trinität führt. Dabei steht die Basis des Drei-

ecks mit ihren beiden gegensätzlichen Punkten für das duale Gegensatzpaar, das

in der Spitze geeint wird. Hatten wir als Charakteristikum der magischen Struktur die Emotion feststellen können, als Charakteristikum der mythischen die Imagination, wobei die emotionale Haltung der Naturbezogenheit des magischen Menschen, die imaginative Haltung der Psychebezogenheit des mythischen Menschen entsprechen, so müssen wir als Charakteristikum der mentalen Struktur die Abstraktion bezeichnen: sie entspricht der Menschbezogenheit dieser Struktur insofern, als alles auf das menschliche, messende Denken abgestellt wird, das den Menschen sowohl von der Triebwelt, dem Emotionalen, als auch von der Bilderwelt, dem Imaginativen, fortreißt, um an ibre Stelle die mentale, gedachte Welt zu setzen, die immer zu einer Abstraktion führt. In welchem Maße das Dreieck ein sehr viel abstrakteres, weil durchaus aus-

gemessenes Symbol ist als der Punkt oder der Kreis, und wie sehr es der mentalen Struktur gemäß ist, geht auch aus der Tatsache hervor, daß die chinesische Symbolik bis auf den heutigen Tag das Dreieck überhaupt nicht kennt, sondern lediglich den Kreis und das Quadrat. Der chinesischen Kultur, die noch heute eine vorwiegend mythische Kultur ist, ist das Dreieck wesensfremd. Ihr Quadratsymbol, in dessen vier Punkten sich die Befreiung aus der einpunktigen magischen Welt andeutet, ist als Erdsymbol die irdische Ergänzung zu dem ihm entsprechenden

kreisförmigen Himmels- und Seelensymbol. Und in welchem Maße der Kreis jedem rationalen Erfassen unzugänglich ist, geht auch daraus hervor, daß er mit rationalen Mitteln überhaupt nicht gemessen werden kann, es sei denn, man nimmt

unmeßbare Zahlen wie x zu Hilfe. Was nun aber die oben angedeuteten Konsequenzen der Trinität betrifft, daß sie nämlich einerseits zur Abstraktion, wie beispielsweise im synthetisierenden Denkakt, andererseits zur Quantifizierung führen, da dieser Akt nur durch dauernde

Wiederholung oder wiederholende Neuleistung Bestand haben kann, so gehen

IOÓ

Die vier Bewußtseinsmutationen

diese auf den ersten Blick unvereinbaren Konsequenzen aus der Dualität hervor, die das Gegenüber und den Gegensatz mißt, eine Dualitit, die erst die Trinität ermóglicht. Jede Abstrahierung ist das Resultat des messenden Denkens in der Scheinunsichtbarkeit des gedanklich Ermessenen, jede Quantifizierung ist das Resultat des messenden Denkens in der Scheinsichtbarkeit des realiter Gemessenen134, In der Wirklichkeit der Gedankenwelt spiegelt sich dieser Prozeß wider,

indem aus dem Symbol, das stets polaren Bildwert hat, zuerst die Allegorie, dann die blofe, vornehmlich physikalisch-chemische, aber auch die philosophische

Formel entsteht, die, als extreme Formel von jedem Lebensbezug durch ihre über-

triebene Abstrahierung abgeschnitten, autonomen Charakter erhält, und die dann inhaltslos geworden und kein Zeichen mehr, sondern nur eine mentale Bezeichnung darstellend, vornehmlich destruktiv wirkt. In der Wirklichkeit der Ding-

Welt spiegelt sich dieser Prozeß wider, indem aus der Dualität, welche die Polarität zerstörte, fortzeugend das Dritte geboren werden muß, um wenigstens eine

duale Kontinuität zu erhalten; damit wird jedoch bewirkt, daß aus dem ursprünglich noch qualitativen monotheistischen Moment, und über dessen Aufspaltung in die bereits quantitativ betonte Dualität, das bloß quantitative, immer neu zu schaffende Dritte hervorgeht: nur mehr das Zählbare, möglichst in Statistiken

Erfaßbare gilt. Und es ist sicher kein Zufall, daß inmitten der Jahre, da sich die

Perspektive zu bilden begann, anfangs des 15. Jahrhunderts n. Chr., sich dieser Umschlag aus der qualitativen Wertung in die quantitative Beurteilung vollzog. Die Zerschlagung des Templerordens, der noch im Gelde, das aber heißt im geprägten Golde, den letzten Rest jener polaren Wirksamkeit anerkannte, die den

Goldmünzen der Antike eigen war, geschah ja wahrscheinlich deshalb, weil er der bloßen Quantifizierung des Goldes Widerstand entgegensetzte. Die antiken Goldmünzen, die im Thesauros, der Schatzkammer der Athener, aufbewahrt wurden - und diese war durchaus nicht eine Bank, sondern eine dem Zeus und

Apollon geweihte Stätte ~, waren zu ihrer Zeit wirkende Symbole der sonnenhellen Bewußtheit. Die goldene Münze war identisch mit der Sonnenscheibe und spiegelte die polare Einheit, wobei beide Seiten der Münze sich ergänzten. Und in diese Münzen waren die Köpfe, die denkenden Köpfe der Götter, und später jene der Herrscher geprigt!35. Damals hatte das Gold noch qualitativen Charakter, jenes Gold, das seit der Zerschlagung des Templerordens quantitativen Charakter

annahm und damit überhaupt jedweder Quantifizierung Vorschub leistete, die seit jener Zeit immer stirker zunimmt, wobei die Erfindung der doppelten Buchführung durch Luca Pacioli nur einen der dorthin führenden Meilensteine bildet. Er ist übrigens jener Freund Piero della Francescas und Leonardo da Vincis, dem wir als einem Lobredner der Perspektive schon begegnet sind. Abgesehen davon, daD jeder Abstraktion eine isolierende Perspektivierung innewohnt und daD Perspektivierung andererseits zu Sektorierungen führen und so-

5. Die mentale Struktur

107

mit die Erscheinungen, seien sie nun mentaler, seien sie dinglicher Realität, durch fortschreitende Unterteilung oder Subsektorierung nicht nur teilen und damit

meßbar machen, sondern auch quantifizieren, führen beide, sowohl die Abstrak-

tion wie die Quantifizierung, letztlich in die Leere, ja in das Chaos. Dort, wo sie das ihrem Wesen gemäße Deutlichmachen überschreiten, schlagen sie, durchaus metabolistisch, in das Gegenteil der Deutlichmachung um, die dann, ihrem quantitativen Charakter gemäß, nicht nur bloße Verfinsterung mit sich bringt, sondern eben die „absolute Leere“ und das absolute Chaos. Von einem gewissen Punkte

ab, dem der Überdeutlichkeit, sei sie nun mentale Erhellung, sei sie meßbare Sicht-

barmachung der Dinge, beginnt der unaufhaltsame Absturz in das Massenhafte,

beginnt das einsetzende Gefälle, wo die autonom gewordene Inhaltslosigkeit die der Erde ungemäßen Kettenreaktionen auslöst, die in die Auflösung führen!56.

Dieser Atomisierungsprozeß spielt sich nicht nur in der atomaren physikalischen

Wirklichkeit ab; diese ist nur die handgreiflichere Form der bereits begonnenen mentalen Atomisierung, die ihren auflösenden Charakter in einem philosophistelnden Formeljargon zu erkennen gibt, denn von philosophischer Sprache ist da

nichts mehr vorhanden. Doch kehren wir zu dem Ausgangspunkt dieser Folgerungen zurück. Er bestand in unserer Feststellung, daß in der initialen Gerichtetheit der mentalen Struktur die Dualität mitgegeben ist. Und aus dieser Dualität, die wesensverschieden von der Polarität ist, geht mitgegeben, ja zwangsweise, die Trinität hervor. Wir sprachen von der kreativen und von der spekulativen Trinität. Wir vermieden es, die dogmatische zu erwähnen, die der religiösen Sphäre angehört, eine Trinität, die magische und nicht mentale Betonung trägt, denn sie ist die einzige Trinitätsform, die durch das Dogma, das freilich bereits ein mentaler Akt ist, zur Einheit oder Unität, die stets magischen Charakter hat, erhoben wurde. Dabei wird hier dieser magische Charakter noch in der Konzeption des Schöpfergottes hervor-

gehoben, des Demiurgen, der auch bei Platon in Erscheinung tritt, und der ein Weltmacher ist; und dem Religiösen gemäß wird hier die irdisch-magische Struktur in eine kosmisch-magische transzendiert. Grundsätzlich müssen wir jedoch zum Trinitätsthema feststellen, daß überall dort, wo wir ternären Formen begeg-

nen, sei es in Mythologemen, sei es im Sprachbau oder sonstwo, diese ternären Formen vorbildend und voraustriumend die Möglichkeit des mentalen Bewußtseins andeuten. Wir sprachen von dem Symbol für diese mentale Struktur, dem Dreieck, sowie

von dem Wesenszug dieser Struktur, die durch die Abstraktion, damit aber auch durch die Quantifizierung charakterisiert wird. Wir könnten jedoch das Thema unserer Untersuchung, die Bewußtwerdung, leicht aus dem Auge verlieren, wenn wir der dogmatischen Trinität nachgingen. Kreative Trinität ist ein Teil der Be-

wußtwerdung, weil sie das Kommende sichtbar macht, spekulative Trinität ist

108

Die vier Bewußtseinsmutationen

ein Teil der Bewußtwerdung, weil sie den denkenden Menschen im Gedachten konfrontierend sichtbar macht. Wichtiger jedoch als diese Teilsichtbarmachungen ist ihr Vollzieher. Und dieser Vollzieher, dieser Träger des mentalen Bewußtseins, ist das Ich, - wir befinden uns jetzt in der mentalen Struktur, die durchaus

anthropozentrisch ist und in der sich das Bewußtsein zentriert. Wir sind diesem Ich, das aus der Integrierung der Seele, aus der Meerfahrt her-

vorgeht, bereits begegnet: im „Bin Odysseus“. War nun der mythologische Bewußtseinsträger der Sonnengott Helios, der als „Sol invictus" Attribut der römischen Cäsaren wurde, so ging dieses Attribut später an Christus über!57, Christus aber ist der wirkliche Bewußtseinsträger und damit in verstärktem Maße der Kraft fähig, die Seele zu führen. Alle, die noch heute in seinem Namen handeln, vor allem die katholische Geistlichkeit, betonen durchaus diesen wesentlichen und heilsamen hermeneutischen Aspekt; denn zählt der Staat die Individuen, die Kirche zählt die Gemeinde noch heute nach Seelen. Christus ist der Erste, der

gegen das drohende Zurückgleiten, gegen den Untergang in die Seele bereits gefeit ist, jenen Untergang, gegen den als Schutz Platon das erste große mentale

philosophische Netzwerk flocht. Symbolisch drückt sich das Gefeitsein Christi gegen den Untergang in der Seele darin aus, daß er den Schiff bruch übersteht. Ihn trägt das Meer nicht an das Land, wie es einst Odysseus an das Ufer der Phäaken warf (oder sollte man meinen, daß die „Weltseele“ ihn, den Odysseus, gewissermaßen ausspie? — auch dieser Aspekt ist ablesbar, dieser dunkele neben dem hellen, der die Bewußtwerdung andeutet). Odysseus fand sich, aus dem Schlafe erwachend, am rettenden Ufer. Und in diesem Satz steht jedes Wort an seiner dienlichen Stelle; denn er fand sich selber, aus dem Schlafe, dem UnbewuBtsein, zum Bewußtsein erwachend, am rettenden Ufer, an jenem neuen Rande, wo er, buchstäblich festen Boden unter den Füßen habend, auf das Meer, auf die immer schwankende Seele zurückblicken konnte. Und erst nach diesem Sichfinden, erst

nachdem das Meer, die große heraklitische Seele, ihn entlassen hatte, konnte

er, selber zutiefst erschüttert, jenes uns noch erschütternde Wort, das „Bin“, finden.

Christus aber übersteht den Schiffbruch: er vermag auf dem Wasser zu gehen; er

überwindet damit das Grundchaos und darf nicht nur sagen: „Ich bin Christus“, sondern: „Ich bin das Licht der Welt.“ Die erste große, gänzlich in sich gesicherte

Helligkeit ist damit in der Menschheit zum Durchbruch gekommen, jene Helligkeit, die es zum ersten Male auszusprechen wagen darf, daß sie das Dunkele, das Leid der Welt, auf sich zu nehmen wage. Hier, an diesem Punkte, trennen sich

in der Menschheit die Wege von Ost und West. Zwar gibt es eine indische

mythologische Parallele zu jener souveränen Tat Christi; einer der Namen Vish-

nus ist Närävayana, was wörtlich übersetzt „Der auf dem Wasser geht“ bedeutet?38. Gehen wir hier nicht der magischen Möglichkeit dessen nach, was unmagisch

5. Die mentale Struktur

109

betrachtet als Wunder erscheint; selbst wenn für Nárávayana und für Christus die magische Realität in dieser Tat Wirkung gehabt haben sollte, so wurde sie bei Christus dank seiner Geschichtlichkeit wiederum weitgehend entmagisiert.

Wichtiger als die Abklärung dieses magisch erklirbaren Sachverhaltes ist die Offensichtlichkeit des bewußtseinssteigernden Sachverhaltes. Die gleiche Tat, die

bei Christus zur Akzeptierung des Leides durch das bewußte Ich führt, führt im

Buddhismus zur Verneinung des Leibes, zur Aufhebung des Ich und zu seiner

verwandelten Zurückführung in den Anfang des unmateriellen Nirwanas. Im Christentum ist die Akzeptierung, das Ertragen des Ich, das Ziel. Im Buddhismus

gilt die Aufhebung des Leides und des Ich, wobei diese Aufhebung des Leides und

des Leidens durch Abwendung von der Welt realisiert wird. Im Christentum dagegen gilt es, die Akzeptierung des Leides und des Leidens durch die Liebe zur Welt zu gewinnen. Der gefáhrliche Weg, der schwere, den das Abendland gehen wird, ist vorgezeichnet. Und durch unságliche Mühsal geht es ihn. Da die mittelmeerische Kraft erlahmt, verlegt sich das vitalisierende Schwergewicht weiter nach Nordwesten. So, wie es einst vom Zweistromland und vom Nil sich auf die

griechischen Inseln übertrug, wie es dann, hilfreich unterstützt von der jordani-

schen Kraft, sich mit der griechischen vereinend, in Rom neu erstarkte, so verlagert

es sich langsam im Laufe der Jahrhunderte nach Franken. Doch damit stehen wir schon in der europäischen Welt. Bevor wir nochmals kurz auf diese bereits geschilderte perspektivisch-mentale Welt zurückkommen, müssen wir noch den Linien nachgehen, die sich im patristischen Zeitalter, in dem der Kirchenviter, zu

jener Kraft bündeln, welche endgültig die letzte größere Mutation bewirkte, jene in die Perspektivität. Das Thema dieser Schrift ist eine Geschichte der Bewußtwerdung, und es kann nicht ihre Aufgabe sein, auch nur einen Abriß einer Geschichte der Philosophie zu geben, obwohl der Gedanke naheliegt, weil das Philosophem die wichtigste

Äußerungsform der mentalen Struktur ist. Aber es handelt sich hier eben nicht so sehr um die Frage nach den Philosophien, sondern um die nach dem Philosophem. Und dieser Frage gedenken wir keineswegs auszuweichen. Hier geht es jedoch zunächst um die Bewußtseins-Thematik, insofern wir die

symbolische Befreiung aus der psychischen Befangenheit, wie sie sich in dem Gehen auf dem Wasser darstellt, auch in exakten Aussprüchen Christi feststellen

können. Doch möchten wir es vermeiden, uns als Interpreten einzelner Stellen des

Neuen Testaments aufzuspielen; es sei jedoch auf eine kleine Szene hingewiesen, die sich am Rande der kanonisierten Schrift abspielt, auf jene Szene von „Johannes und dem Rebhuhn", die uns in den apokryphen Johannesakten überliefert wor-

den ist™39, Dort kommt in dem Tadel, den Johannes gegen einen Priester ausspricht, der sich in Gedanken über ein Rebhuhn ärgert, das vor Johannes einherläuft, dieses

IIO

Die vier Bewuftseinsmutationen

souverine Wissen über die Seele zum Ausdruck. Denn Ärgernis nimmt: „Das Rebhuhn nämlich ist deine Seele.“

er sagt zu dem,

Diese klare Einsicht, dieses klare Wissen um die Projektion modernen, aber ungemäßen Worten ausdrücken) zeugt von lichen Bewußtseinshelle und Distanzierung zur Psyche. Hier lichkeit, welche die mythisch-psychische Symbolwirklichkeit werden wir noch zu sprechen haben, wenn wir der Seelennachforschen, innerhalb

der

(wenn wir es mit einer außerordentist mentale Wirküberblickt. Von ihr und Geistsymbolik

derer der Vogel einen Pol der Seelensymbolik

dar-

stellt. Dieselbe Klarheit des Verständnisses für psychische Vorgänge, ein Verständnis, das eo ipso einen starken Grad von Bewußtseinswachheit und Ichzentriertheit voraussetzt, kommt gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hin und wieder in den Schriften Plutarchs zum Durchbruch. Er wendet sich nicht nur gegen den Zorn, gegen die Menis und warnt zweimal, in einer größeren Abhandlung und in einer seiner Tischreden, vor diesem Zorn!49; und es ist der defizient

gewordene Zorn, nicht der ursprüngliche, der heilige, vor dem er warnt; es ist

jener Zorn, der zerstört, was der andere aufzubauen begann, den Plutarch an-

prangert und damit versucht, das nur triebhaft-psychische Gefälle seiner Zeit zu richten. Nicht genug mit dieser zweimal vorgetragenen Warnung, findet sich in seiner Schrift „Erotikos“ eine Stelle, welche die gesamte psychologische Projektionslehre der modernen Tiefenpsychologie vorausnimmt, und die jene Souveräni-

tät des Mentalen überdeutlich spiegelt, welche die Psyche zu richten vermag. Die Plutarch-Stelle lautet!4!: „Chrysippos , . . leitet nämlich den Namen (des Gottes) Ares von anhairein ab, das heiDt tóten, und gibt dadurch denen eine Handhabe,

welche meinen, daß das Kampflüsterne in unserer Natur und das Streitsüchtige und Jähzornige Ares genannt werde... ‚Wie nun‘, nahm mein Vater das Wort, ‚den Ares hältst du für einen Gott oder für einen unserer Affekte: Darauf erwiderte

Pemptides, seiner Meinung nach sei Ares ein Gott, der die zürnende und männliche Komponente unsrer Natur ausmache." In den auf Plutarch folgenden Jahrhunderten, in denen das Christentum durch Verfolgungen gestärkt wird, und in denen sich der Einbruch einer letzten großen magisch-mythischen Welle vollzieht, die aus dem Orient über Rom hereinbricht, und die die bereits defizient gewordenen mythischen und mysterienhaften Reste der griechischen Kultur synkretistisch assimiliert, wird das Christentum außerdem gezwungen, sich gegen diesen Einbruch zu behaupten. Hier vollzieht sich die Ablösung der mentalen Struktur von der mythischen nochmals. Was hier erreicht wird, spiegelt sich in der neuen Interpretation des Wortes „Religion“, wie sie in

der Zeit der Kirchenväter Gültigkeit erhält. Denn dieses Wort wird jetzt durchaus

mental willkürlich etymologisierend auf das Verbum „religare“, das heißt rück-

binden, zurückgeführt. Darin spiegelt sich das Herausgewachsensein des christ-

s. Die mentale Struktur

III

lichen Menschen aus der polaren mythischen Struktur, für die das sorgfältige Beachten, das „relegere“ Gültigkeit hatte. Die Möglichkeit eines solchen Beachtens ist weitgehend verloren, weil die Struktur, die es fordert, nicht mehr ausschlaggebend ist. An Stelle des „relegere“ tritt das „religare“, der Versuch, der nun durch zweitausend Jahre Aufgabe der Kirche sein wird, den Menschen oder

doch wenigstens seine Seele in den archaisch-magisch-mythischen Bereich zurückzubinden, dem er mental weitgehend entwuchs’#2. Hier entsteht die Forderung

des Glaubens, die dual dem Wissen gegenübergestellt wird. Diese „religio“ ist

der einzige Versuch einer Aufrechterhaltung der Tradition, der im Abendlande von Dauer war; nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil zu gewissen Zeiten das magische Element, das Machtelement, vielleicht zu stark, ja selbst blutig, von der Kirche in ihrem Kampf gegen jede andere Gemeinschaft traditionserhaltenden

Charakters betont wurde. Daß diese Sorge um die Rückbindung äußerste Be-

rechtigung hatte, geht aus einer kleinen Überlegung hervor: gerade das Ermessen

und Erfahren der Seele, das eine Distanzierung zu ihr auslösen mußte, brachte das Wissen um sie mit sich; aber alles Wissen ist stets von dem Vergessen bedroht

und alle Distanzierung durch eine immer mögliche abschneidende Isolation. Heute haben viele ihrer Herkunft vergessen, wenn sie nicht sogar dieser Herkunft verlustig gegangen sind. Sehen wir jetzt von allen außer-europäischen Beiträgen zur Festigung des Christentums ab, also sowohl von den syrischen wie koptischen, aber auch von den keltisch-irischen, die alle ungemein interessant sind; beschränken wir uns auf eine zentrale Gestalt der europäischen Welt, auf Augustin. Er hat stärker als andere die Polarität der Seele durchmessen, ein Metaboliker (und kein Metabolist), wie Paulus auch, auf den er sich, ihm wahlverwandt, vornehmlich stützt; er war aus

der erfahrenen Metabolé heraus fähig, nochmals die Einsichten in die Grenzen-

losigkeit des Seelischen zu erweitern. Er, ein Bekehrter, der die „andere Seite“ nicht nur gekannt, sondern erlebt hatte, er war gezwungen, immer von neuem

seine Metabolé, seinen Umschlag aus dem Manichäertum ins Christentum, vor sich selber zu rechtfertigen, um die neugewonnene Haltung behaupten zu können. Diese dauernde psychische Spannung, die sich in seinem zornigen Eifer, wie bei Paulus, verrät, gab ihm die mächtige Wirkungskraft, die ihm, wie Paulus und allen echten Metabolikern, eignet; der Kraftaufwand, der nötig ist, um die neue

Einstellung zu halten, fordert das Letztmögliche an mentaler Intensität, um der rein psychischen Metabol& entwachsen zu können. Nur jene, die sich derart immer selber bestärken müssen, gewinnen Proselyten und sind gemeindebildend. Das der echten Herznot entwachsene Wort, das das eigene Herz stärken soll, stärkt auch die Herzen der Hórenden!45,

Augustin sah als erster deutlich die Zeitbezogenheit der Seele. Da wir noch auf die Art dieser Zeitbezogenheit der Seele zurückkommen werden, sei jetzt nur fest-

112

Die vier Bewußtseinsmutationen

gehalten, was Augustin und sein einzigartiges Werk zum Brennspiegel des patristischen Zeitalters machte, der alle Bewußtseins-Ansätze der Vergangenheit auffing,

zusammenschmolz und sie an die kommenden Generationen weitergab. In Augustin laufen die drei großen Komponenten, die unsere Zivilisation möglich

machten, zusammen: die griechische, die jüdische, die lateinische. Er selber war

Afrikaner, aber im Lateinischen beheimatet, und brachte endgültig die beiden groDen Monologien, sie verknüpfend, zu christlicher Verwirklichung: den jüdi-

schen Monotheismus, die jenseitige Ein-Gott-Lehre und die diesseitige ein-elemen-

tare Ursprungslehre der ionischen Naturphilosophie. Hier bildet sich letztgültig

der erweiterte Dualismus, der später durch Descartes und in der europäischen Auf-

klärung seine radikalste Form durch die Gegensätzlichung von „Geist“ und „Ma-

terie“ fand. Zur ionischen Elementenlehre, die durchaus monistische Züge trägt, ist zu bemerken, daß die ersten Philosophen den Weltursprung jeweils aus einem Element ableiteten: für Thales von Milet war das Urelement das Wasser, für Anaximenes die Luft, für Heraklit das Feuer: die gerichtete Herkunft wird dies-

seitig in ein Element verlegt, das freilich auch noch numinosen Charakter hat.

Dieses Wort „Element“ enthält nicht zufällig, in seiner lateinischen Form, die Wurzel ma : me. Im mosaischen Monotheismus wird die gerichtete Herkunft

numinos in einen Gott verlegt, der freilich auch in gewisser Hinsicht diesseitigen Charakter hat, da ihm später, in der christlichen Lehre, der Satan als dualer Gegen-

spieler gegenübergestellt wird. Enthält nun der ionische Initialbegriff, wohlgemerkt in der lateinischen Form, die Wurzel ma : me, so spiegelt der jüdische Initialbegriff in seiner griechischen Form, dem Wort „Monos“, der „Alleinherrschende“, noch einen, seinem religiösen Bezug entsprechenden polaren Anklang: die Wurzel des Wortes „Monos“ ist die ur-indoeuropäische Wurzel „me/mo“. Hier gehen also in zweifacher Hinsicht der Glaube, insofern er mythenmäßig seelische Rückbindung ist, und das mentale Wissen die Synthese mitein-

ander ein, die durch Rom und durch das Lateinische für das Christentum ermöglicht wurde. Doch keine Synthese hat Dauer. Sie muß immer von neuem gestaltet werden,

und aus diesem Zwang zur dauernden Neugestaltung ergibt sich ganz natürlich

eine allmähliche Zuspitzung, eine immer deutlichere Gerichtetheit und Fixiertheit, die dann über Petrarcas Entdeckung der Landschaft, bei der Augustin ja eine Rolle spielte, zur Perspektive führte, zur Perspektivität. Damit sind wir an dem Punkt angekommen, von dem wir bei unserer ersten informierenden Betrachtung der perspektivischen Welt ausgegangen waren. Wir

haben jetzt nur noch das Riannodamento ersichtlich zu machen, um zu zeigen, wie die perspektivistischen Ansätze der Antike in der Renaissance jene Anknüpfung erfuhren, aus der heraus ihre perspektivistische sektorenhafte Weiterung und Einengung erfolgte. Wir können uns hier auf wenige Namen beschränken,

s. Die mentale Struktur

II3

da wir schon einige der vielen nannten: die bei der Sappho zum ersten Male aufklingende lyrische Ichform klingt erst wieder in Dantes „Vita Nuova“ und bei den Minnesängern auf; unnötig zu sagen, in veränderter Form und vor einem, wie inzwischen ersichtlich wurde, veränderten Hintergrund. Der Gedanke des Pythagoras, daß die Erde eine Kugel sei, der über Aristarch bis zu Aristoteles unter den griechischen Philosophen Geltung hatte - noch Thales von Milet hielt sie ja für eine auf dem Urwasser schwimmende Scheibe (eine Anschauung, der auch der

Jainismus heute noch huldigt!4), sah sie also noch durchaus im mythischen Symbol -, wird durch Kopernikus neu gedacht. Was Alkmaion begann, die Sezierung des Gehirns und des Kórpers, wurde durch die Anatomie des Vésale fortgesetzt. Euklids Geometrie, die flichenbezüglich war, wurde durch die Erfindung der Perspektive geräumlicht. Diese Perspektive, die sich zum ersten Male als vages Raumgefühl in der griechischen Vasenmalerei des 5. vorchristlichen Jahrhunderts andeutete, die in den Odyssee-Landschaften Esquilins und dann in der pompejanischen Wandmalerei über das Landschaftliche zu perspektivierenden Versuchen der Räumlichung führte, wird durch Leonardo da Vinci vollendet. Platon, der erste groDe systematische Dualist, wird durch Augustin in dieser Hinsicht übertroffen. Aristoteles (und in seinem Gefolge der große islamische Einfluß, den wir

nur streifen konnten) wird in Paris von Albertus Magnus und von Thomas von Aquin, die mit Augustin Vorbereiter der christlichen Renaissance waren, neu interpretiert und weitergeführt. Die durch Herodot begonnene Geschichtsschreibung wird, desgleichen durch Augustin, auf Grund des geschichtlichen Christentums und seiner Wurzel in der jüdischen Geschichtsschreibung des Propheten Amos zu gerichtetem und gesichertem christlichen Bewußtsein. Und dieser selbe Augustin schrieb die persönlichen „Confessiones“ und nicht wie Platon jene biographischen Briefe, deren Echtheit heute von neuem angezweifelt wird!#. Der größte Bogen jedoch spannt sich - vielleicht einen Anfang mit einem Ende verbindend? - von Zenon zu Einstein, von dem ersten Entwurf eines relativistischen

Gedankens zu seiner Verwirklichung in unseren Tagen!46; wobei wir die Atomisten, Sophisten und viele andere nicht einmal erwähnten147.

Damit wäre die Anknüpfung der pythagoräisch-aristotelischen Zeit an die Zeit

Petrarcas und Leonardos vollzogen. Die betontere Räumlichung des Weltbildes, wie sie sich bei Leonardo durch die Ausgestaltung der Perspektive zu erkennen gibt, leitet die Defizienzphase der mentalen Struktur ein. Wir benannten sie bereits: es ist die durch die Ratio charakterisierte Phase. Hat das Wortpaar Menis:

Menos, das ja am Anfang der mentalen Bewußtseinsstruktur steht, einen durchaus qualitativen Akzent, so hat das Wort „ratio“ einen durchaus quantitativen. Die griechische Welt ist zur Zeit der antiken Klassik die Welt des Maßes par

excellence, die spät-europäische, vor allem auch die von ihr ausgehende amerikanische und russische Welt, sind Welten der Maßlosigkeit. Eine ähnliche Defizienz-

II4

form, wie ja bereits charakter, die eigene

Die vier Bewußtseinsmutationen

sie die rationale Phase für die mentale Struktur darstellt, konnten wir innerhalb der magischen feststellen; das Bannen hat durchaus Maßerst das Zaubern ist maßlos. So wie das Bannen die Natur richtet — und organische Natur des Menschen besteht ja aus gerichteten organischen

Funktionen und vermochte somit gerechterweise den Bannenden aus seiner eige-

nen Substanz heraus zu stützen ~, in dem gleichen Maße richtet die Menis das Menos, das Denken. Und so, wie das Zaubern maßlos die gesetzten Grenzen des

bloßen Bannens überschreitet und sich fremder Mittel und fremder Substanzen zur Erreichung seiner Zwecke bedient, so überschreitet auch die Ratio maßlos die durch die Menis und das Menos gesetzten Grenzen der ermessenen Richtung und des Maßes, indem sie alles rationiert, also teilt, zerstückelt und zur Erreichung

ihrer Zwecke über fremde, ihr unangemessene Substanzen verfügt. Allein schon die Zwecksetzung hebt bei den beiden Defizienzformen der magischen und der mentalen Struktur ihre negative Wirkung hervor. Denn jede Zwecksetzung ist immer machtgeladen, und vor allem auch betont eigennützig, und steht somit im Gegensatz zum Weltganzen. Hierin ist der Grund zu suchen, warum man diese beiden Defizienzformen, das Zaubern und das Rationieren beziehungsweise das Rationalisieren, die an Stelle des Organischen jeweils das Ritual oder das Organisierte setzen, als dimonische Mächte bezeichnen kann. Denn die Wurzel

des griechischen Wortes δαίμων (daimon) verrät es; sie lautet „da-“ und hat im Sanskrit als „dayate“ den Sinn von „er teilt, schneidet ab", während das stammverwandte griechische Verbum δαίομαι (daiomai) nicht nur einfach „teilen“, sondern „zerteilen, zerlegen, zerreißen, zerfleischen" bedeutet:#3.

Bleiben wir jedoch bei der Perspektive. Ziehen wir jetzt die bereits im zweiten Kapitel festgestellten wesentlichen Folgerungen heran, so überblicken wir, wie seit der Renaissance der negative Aspekt der mentalen Struktur in Erscheinung zu treten beginnt. Dieser Negativität leihen wir durchaus keine Affektbetonung;

wir stellen nur ganz sachlich fest, was aus dem Wesen des Mentalen heraus ge-

geben ist, vergessen dabei aber nicht, daß das Mentale, trotz einer teilweise erreichten Emanzipation vom Psychischen, auch eine psychische Funktion ist. (Übrigens ist jede Emanzipation ein Prozeß, der die Gefahr der Perspektivierung und Sektorierung enthält, die stets dort akut wird, wo die Emanzipation defizient wird, wo sie also nicht eine bloße Umlagerung oder Ausgleichung des Schwergewichtes anstrebt, sondern eine Vor- oder Allein-Herrschaft.) Wie eng oder wie

locker die Bande sein mögen, die das Mentale mit der Psyche verbinden, hängt von der Stärke des Mentalen ab: solange es maßhaltend und richtend ist, besteht eine gewisse Abhängigkeit der Psyche vom Mentalen; sowie aber das Mentale, in Form des Rationalen, maßlos wird und richtungslos sich ausstreut, verkehrt sich das Verhältnis des Mentalen zur Psyche, und der negative Aspekt der Psyche

erlangt, durchaus unbemerkt und ungesehen, die Herrschaft über das Rationale.

s. Die mentale Struktur

II$

Weil die mentale Weltmöglichkeit aus der seelisch betonten, mythischen Welt erwuchs, trägt sie notgedrungen den Doppelaspekt alles Psychischen latent in sich, und sei es auch nur in der reduzierten und mentalisierten Form des Dualen.

Mit diesem Stichwort, dem Dualen, haben wir eine der Folgen der Perspektive wieder in unser Blickfeld gezogen, und zwar handelt es sich nun, im Gegensatz

zu dem Dualismus der früheren Jahrhunderte, um einen wesentlich verstärkten

Dualismus. Denn war er dort noch fließend, so ist er jetzt kompromiBlos fixiert.

Die Perspektive fixiert sowohl den Betrachter als das Betrachtete; sie fixiert einerseits den Menschen, andererseits die Welt. Auf der einen Seite der Mensch,

der durch diese isolierende Fixierung sein Ich immer stärker betonen muß; und

ihm gegenüber, und zwar feindlich gegenüber, die Welt, die sich in ihrer Art be-

stärkt, indem sie immer stärkeres räumliches Volumen annimmt (wie beispielsweise in der Entdeckung Amerikas), das vom erstarkenden Ich zu bewältigen

versucht wird. Die Erstarkung des Ich, die später zur Ego-Hypertrophie führt, wird im Condottiere, im Renaissance-Menschen, in seinem Sich-selber-wichtig-

Nehmen sichtbar und spiegelt sich auch in den zahllosen Tagebüchern, die damals Mode wurden.

Dieser duale Gegensatz, dessen Positivum in der Konkretisierung sowohl des Menschen als des Raumes besteht, enthält aber gleichzeitig die negative Komponente, welche sich in der Fixierung und in der Sektorierung zu erkennen gibt. Die

Fixierung führte zur Isolation, die Sektorierung zur Vermassung. Damit schließt in unseren Tagen ein Prozeß ab, der als negative Möglichkeit bereits in den Anfängen

der mentalen Struktur vorgegeben war und der seine Wurzelin der Unzulänglichkeit der Synthese des Dualen hatte, eine Unzulänglichkeit, die sich in der Abstraktion

und in der Quantifizierung zu erkennen gab. Solange das Maßvolle des mentalen Bewußtseins noch wirksam war, bargen Abstraktion und Quantifizierung nur latent die negativen Auswirkungsmöglichkeiten. In dem Moment, da das Maßvolle vom Maßlosen der Ratio abgelöst wurde, was am deutlichsten durch Descartes geschah, begann sich die Abstraktion in ihre äußerste negative Manifestationsform

zu wandeln, die durchaus mit dem Begriff der Isolation umschrieben werden darf, während der gleiche Prozeß von der Quantifizierung zur Vermassung führte. Diese Folgen der Perspektivierung der Welt, wie sie sich in der heute herrschenden Isolation und Vermassung zeigen, sind durchaus kennzeichnend für unsere Zeit. Die Isolation kommt überall zum Ausdruck: Isolation des einzelnen, der Völker, der Kontinente; Isolation im Physischen als Tuberkulose; im Politischen

als ideologische oder monopolistische Diktatur; im Alltag als maßlose, geschäftige, nicht mehr sinngerichtete, noch sinn- oder weltbezogene Handlung; im Denken als geblendetes, kurzschlußartiges Folgern oder als vom Weltbezug abgeschnittenes hypertrophiertes Abstrahieren. Nicht anders steht es mit der Vermassung: Überproduktion, Inflation, Parteiwesen, Technisierung, Atomisierung.

116

Die vier Bewußtseinsmutationen

Alle diese Folgen sind so offensichtlich, daß sie uns der Mühe entheben, Beispiele anzuführen. Dagegen lohnt es sich, danach zu fragen, was in den letzten vierhundert Jahren Träger und Bestärker der „Entwicklung“ war, die zu diesen Fol-

gen führte. Auch darauf haben wir indirekt schon eine Antwort gegeben: es ist der „Technisierungsgedanke“, der mit Hilfe der perspektivischen technischen

Zeichnung das „Zeitalter der Maschine“ bewirkte; es ist der „Fortschrittsgedanke“, der das „Zeitalter des Fortschritts“ bewirkte; und es ist der radikale Rationalismus, der, wie man es wohl nennen darf, das „Zeitalter der Weltkriege" hervorrief.

Es mag Verlegenheit bereiten, daß wir der Ratio das MaBlose zuordnen. Aber dieses Wort Ratio darf nicht nur perspektivisch im Sinn von Verstand gedeutet

werden, es bedeutet auch „berechnen“ und vor allem auch „teilen“, ein Aspekt, der in dem Begriff der „rationalen Zahlen“ zum Ausdruck kommt, mit dem Brüche, Dezimalen, also geteilte ganze Zahlen oder Teile eines Ganzen bezeichnet

werden. Dieser teilende Aspekt der Ratio und des Rationalismus, der inzwischen alleingültig geworden ist, wird immer noch übersehen, obwohl er von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung unserer Epoche geworden ist. Damit wird nicht ein Urteil ausgesprochen, sondern nur eine Feststellung getroffen, die um so mehr Gewicht haben dürfte, als wir die nicht defiziente Form des Rationalen, die wir als das Mentale bezeichnen, durchaus nicht negativ sehen, denn nicht nur ihre außerordentlichen Qualitäten, sondern auch ihre erhellenden

Fähigkeiten sind nachdrücklich hervorgehoben worden. Diese positiven, welterhellende Einsicht vermittelnden Eigenschaften des Mentalen sind ja auch heute

noch hier und da wirksam. Sie sind aber doch, wie uns scheinen will, im Verhältnis

zur Wirksamkeit des Rationalen durchaus reduziert. Die wenigsten bringen den Mut auf, gegen philosophische Autoritäten oder gegen die herrschende Meinung

ihre eigene mentale und somit nicht rational eingeengte oder vermasste Ansicht

auszusprechen. Das ist immer erst dann einfach, wenn diese Meinung allgemein geworden ist, vorher ist es ein höchst undankbares Unterfangen. Es sei denn, die Dinge, die zu sagen sind, lägen dem unvoreingenommenen Blick offen zutage, so daß ein Hinweis genügte; dieser unvoreingenommene Blick scheint allerdings in unserer Zeit der perspektivischen Scheuklappensicht selten geworden zu sein. Die rationale Phase der mentalen Struktur ist noch nicht zu Ende gegangen. Wann sie tatsächlich zu Ende gehen wird, ist nicht abzusehen. Keine der geschilderten

Strukturen „endete“ gänzlich. Und hinsichtlich der rationalen Phase der mentalen

Struktur stehen noch ungeahnte, aber wahrscheinlich nur einseitig technische und entmenschlichende „Fortschritte“ im Bereiche des Möglichen. Werden diese Fortschritte nicht in ihrer destruktiven Mächtigkeit geschwächt, dann werden sie, so autonom wie sie bereits wurden, automatisch das Gesetz der Erde erfüllen. Das

s. Die mentale Struktur

II7

kann je nachdem Jahrzehnte oder Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Ist das Gesetz der Erde jedoch noch nicht erfüllbar, so wird das Herauswachsen, das Herausmutieren einer neuen Struktur der alten, defizient mentalen so viel Energie, Kraft, Sublimierung, Substanz oder wie immer man es nennen will, entziehen, daß die dann überwundene nicht schädlicher wirken kann, als heute beispielsweise

die defizient mythischen oder die defizient magischen Reste in uns und in der Welt wirken. Diese Reste sind freilich heute wirksamer, weil die Zeitphase, in der sie wirken, selber defizient ist. Und über die Auswirkungen dieses Tatbe-

standes sollte sich heute niemand auch nur den geringsten Illusionen hingeben.

Sollte keine neue Mutation wirksam werden - denn nur eine gänzliche Neuein-

stellung und nicht irgendwelche sektorhafte Teilreformen (Reformen sind ja stets nur Wiederbelebungsversuche) würde einen Weiterbestand der Erde und

der Menschheit verbürgen -, dann werden die Auswirkungen der defizienten Reste einer selber defizienten Epoche wie der unseren bald Formen annehmen, ja dann

müssen sie Formen annehmen, denen gegenüber die bisherigen Ereignisse wahr-

scheinlich ein Kinderspiel gewesen sind. Wenn man nüchtern darauf vorbereitet

ist, liegt darin nichts Erschreckendes. Erschrecken werden nur die, die sich getroffen fühlen; und sie werden auch die Betroffenen sein.

Dem Thema dieses Abschnittes gemäß wollen wir ihn mit einer Gegenüberstellung der drei bekanntesten Definitionen oder Aussagen über das Denken abschließen. Die erste, die schon erwähnte des Parmenides, leitet, philosophisch gesehen, die mentale Bewußtseinsstruktur ein. Es ist der Satz: „Denn dasselbe ist Denken und Sein.“ Hier ist Gleichsetzung, und damit Maß und Gleichgewicht. Anders steht

es mit den beiden anderen Sätzen, welche, philosophisch gesehen, die rationale Phase des mentalen, Bewußtseins einleiten. Der erste stammt von Hobbes. Er lautet: „Denken ist Rechnen in Worten.“ Das Messende des Denkens, seine Qualität, ist durch die Pluralisierung, die dieser Satz enthält, und durch das numerische „Rechnen“ zu einer Quantität geworden. Der andere Satz, der des Descartes, lautet: „Cogito, ergo sum“, „Ich denke, folglich bin ich.“ Hier hat nur noch

das individuelle, isolierte Denken Gültigkeit, und das räumlich betonte Sein des

Parmenides wird, noch dazu als Folge des Denkens, mit dem persönlichen Sein

identifiziert!49. Was sich hier abspielt, ist symptomatisch für alle in der extremen Abstraktion verlaufenden ,,Denkprozesse“: sie denaturalisieren und stülpen die echten Abhängigkeiten um. Das anfängliche „Bin“ (das Sein) des Odysseus wird zur Folge einer Fähigkeit dieses Ich, das außer vitalen und psychischen Fähigkeiten

auch jene des Denkens besitzt. Daß derartige Sätze wie der des Descartes verschieden interpretiert werden können,

zeigt die unserer Interpretation teilweise entgegengesetzte von Bertrand Russell15o, Er erblickt in dem Satz des Descartes eine Gewißmachung des Mentalen (mind)

118

Die vier Bewußtseinsmutationen

gegenüber der Materie (matter). Aber selbst die Heranziehung dessen, was das

„cogito“ für Descartes selbst bedeutete, nämlich: „zweifeln, verstehen, begreifen,

bejahen, verneinen, wollen, einbilden, fühlen, träumen“, selbst diese Definition führt aus dem Dilemma der Mehrdeutigkeit nicht heraus. Vergleicht man jedoch mit diesem Axiom des Descartes die Frage des Augustin in seinen „Soliloquia“: „Du, der du zu wissen wünschest, weißt du, daß du bist? Ich weiß es nicht“, so wird deutlich, daß bei ihm die von uns aufgezeigte cartesische Abgespaltenheit

noch nicht akut ist. Man sollte auch nicht vergessen, daß der Satz des Descartes eine Antwort auf Gassendis „Ambulo, ergo sum" darstellt. Dieses „Ich gehe um-

her, folglich bin ich“ bringt jene Ichform zum Ausdruck, die ihr Bewußtsein vornehmlich im Handelnden hat, und von der wir sahen, daß sie sich auch struktur-

mäßig in der pronominalosen Konjugation (s. 5. 821.) der antiken und heutigen

lateinischen Sprachen wie dem Italienischen und Spanischen zu erkennen gibt. Descartes verlegt mit seiner Prämisse des „cogito“ also vornehmlich die das Ich

bestätigende Handlung oder Bewegung aus dem Physisch-Vitalen in das Physisch-

Mentale: eine bloße Übersteigerung, die aber das „ergo“ nicht eliminiert. Den

oben erwähnten Kommentar Russells zogen wir absichtlich aus der Unzahl derartiger individueller philosophischer Kommentare dieses cartesischen Axioms als Beispiel heran. Die Tatsache, daß derart vielfältige Interpretationen überhaupt möglich sind und es selbst dann noch bleiben, wenn man auch weitgehend die

Definitionen jedes einzelnen Philosophen dabei in Rechnung stellt, ist daraus erklärbar, daß alle derartigen Axiome auch psychisch mitbedingt sind und in der verdünnten Luft der Abstrahierung eine Vieldeutigkeit, manchmal auch nur eine Doppeldeutigkeit zurückgewinnen, eine allerdings schemenhafte Viel- oder Doppeldeutigkeit, die dem Psychischen innewohnt. Wie sollte dies gerade bei Descartes nicht der Fall sein, der in seinen „Discours de la Méthode" sich rational begrenzend nur die „vérités“, die Wahrheiten, ermessen kann. Die Tragik des defizient Mentalen wird schon hier offenbar — wir werden noch anderen Beispielen begegnen -: die Ratio wird, metabolistisch in eine überspitzte Rationalisierung

umschlagend, ohne es selber zu bemerken oder auch nur zu ahnen, zum minderen

Spielball der Psyche. Denn es gibt das, was ein überzeugter Rationalist nie ein-

zuriumen gewillt sein wird: es gibt dieses rationale Zerrbild der speculatio animae, nämlich eine speculatio rationis, die eitel Spiegelfechterei ist und die ihre Spiegelung auf der blinden Seite des Spiegels vollführt. Dieser negative Bezug

zur Psyche, der die Stelle des echten, des mentalen Bezugs usurpiert, er zerstórt,

was der echte vollzog: die Einsehbarkeit der Psyche. Und in jeder extremen Rationalisierung liegt nicht nur eine Vergewaltigung der Psyche durch die Ratio, also auch ein negativ magisches Element, sondern die weitaus gefáhrlichere, weil

richende und unmeDbare Vergewaltigung der Ratio durch die Psyche: beide werden defizient. Der echte, der mentale Bezug zur Psyche ist zum Nachteil des

6. Die integrale Struktur

II9

in der Isolation blind gewordenen Ich in seinen Gegensatz verkehrt. Der Mensch hat sich isoliert und damit von seinen Grundbezügen abgeschnitten. Das maBvoll messende Band von Menis und Menos ist zerrissen. Abgeschnitten, zerrissen: was bedeutete doch die Wurzel „da-“: „Abgeschnitten, zerrissen, geteilt“: das „Dämonische". Den „dämonischen Mächten“ ist die Tür geöffnet worden. Nichts ist mehr aus sich selber, alles ist bloße Folge geworden. Folge: wohin:

6. Die integrale Struktur

Aber nicht alle folgten. Nicht alle willigten in die von Descartes postulierte Trennung, in diese rationale Teilung dessen ein, was urverwandt zusammengehórt: Mentales und Materie. Dies ist das Entscheidende. Und zwar ist es entscheidend für die Manifestationen einer neuen BewuBtseinsstruktur; sie sind das Anzeichen

dafür, daß sich im Menschen jene Bewußtseins-Mutation vollzieht, aus der heraus sich die aperspektivische Welt gestalten mag. Diese jetzt zu schildern, ist hier nicht der Ort. Vorerst haben wir ihrer Fundamente ansichtig zu werden. Ohne einen Überblick über sie wäre die Schilderung unverbindlich. Zudem wider-

strebt es uns, perspektivisch zu entwerfen oder zu postulieren. Wir kónnen es hier lediglich wagen, kurz auf jene ersten Ansätze hinzuweisen, die unserer Meinung nach zu einer neuen Mutation, zu jener in die integrale Struktur, führen könnten, obwohl sich diese Ansätze nur vom „Standpunkt“ der integralen Struk-

tur aus erkennen lassen, nämlich zurückschauend. Aber schon ihre Erwähnung

kann Mißverständnisse auslösen, weil der Bezug jedes einzelnen Ansatzes zu der sich bildenden integralen Bewußtseinsstruktur auf Grund unserer bisherigen Aus-

führungen noch nicht ersichtlich werden kann. Wir werden jedoch trachten, die Fundamente der integralen Struktur so deutlich zu umreißen, daß sich aus ihnen selber das ergibt, was das Wesen eines Fundaments ausmacht: die genauen Ansatzpunkte des erstehenden Gebäudes, das diesmal jedoch nicht mehr bloßen Raumcharakter trágt, sondern auch konkreten Zeitcharakter, das also bereits rein

strukturmäßig wesensverschieden von dem bisherigen Begriff eines Gebäudes ist; und dies in besonders starkem Maße auch aus dem Grunde, weil der mentale

Prozeß der Zeitkonkretisierung über eine bloße Synthese von Zeit und Raum

„hinausführen“ dürfte. Denn von Synthese, welcher Art sie auch sei, und nenne

man sie, unbewußt

dem

einheitlich Magischen huldigend, eine Raum-Zeit-

Union oder Raum-Zeit-Einheit, kann nach dem bisher Gesagten nicht die Rede

sein. Synthetisierend fallen wir trotz jedes Einigungsversuches in die Dualität zurück. Die neue Struktur läßt sich zudem durchaus nicht vermittels der Reaktivierung ihr zugrunde liegender Strukturen realisieren. Damit stehen wir wohl in Wider-

120

Die vier Bewußtseinsmutationen

spruch zu den beiden heute geltenden Grundauffassungen, die im Bereiche der Wissenschaften das duale Spannungsfeld unserer heutigen perspektivischen Welt bilden: zu den Natur- und Geisteswissenschaften einerseits, zu den Geheimwissenschaften andererseits. Der intolerante AusschlieBlichkeits-Anspruch der beiden ist bedauerlich, und auch ihre fehlende Einsicht dafür, daß sie, einander dual bedingend, feindlich voneinander abhängig sind. Denn dieser duale GegensatzCharakter dürfte offensichtlich sein: auf der einen Seite die Naturwissenschaften

mit den ihrem Niveau mehr und mehr angeglichenen Geisteswissenschaften, auf der anderen Seite die Geheimwissenschaften. Sind die einen lediglich vorwärts, so sind die anderen ausschließlich rückwärts gerichtet; die einen betonen heute

durchaus den quantitativen Aspekt, die anderen angeblich den qualitativen; die einen sind vorwiegend materialistisch, die anderen vorwiegend psychistisch; hier der Versuch, alles zu teilen, dort der Versuch, alles zu einigen. Die einen sehen das Heil in der Synthese oder in irgendeinem „Dritten“, sei dies nun ein „Drittes

Reich“ oder ein „Dritter Weg“ (Roepke) oder ein „Dritter Humanismus“ (Thomas Mann), die anderen ,,erschauen" das Heil in der rückwärtigend zu vollziehenden Einigung, wobei dann defiziente Formen des Mythischen und Magischen der-

art aktiviert werden, daß die meisten Anhänger der Traditionalisten des Okzidents, infolge ihrer „Mentalität“, nur abwertig psychisiert und magisiert werden,

um „bestenfalls“ in einen Zustand (und das Wort ist durchaus symptomatisch) kosmischen Verschlungenseins zu geraten. Auf der einen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen durch rationales Auflösen, das suprarationalisiert atomisierend auf die Materie wirkt; auf der anderen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen — eine Souveränität, die unserer Zivilisation gemäß ist und durch

Jahrtausende hindurch erworben wurde -, durch Zurücksinken ins Irrationale, also durch irrationales Auflösen, das dementalisiert atomisierend auf die Psyche und

das Mentale wirkt. Keiner dieser Wege ist gangbar. Alle Wege führen nur dort hin, von wo aus sie auch wieder wegführen: entweder laufen wir im Kreise, unentrinnbar gefangen und befangen, oder wir laufen hin und her, von Gegensatz zu Gegensatz, und glauben, in diesem bindenden Hinundherlaufen läge eine Synthese. Es handelt

sich also nicht um einen Weg. Es handelt sich um einen Sprung. Vielleicht spricht die allgemeine Unsicherheit dafür, daß wir heute wie auf dem Sprunge sind: Denn der Abgrundtiefen wird man nur gewahr - und genügend Abgründiges wurde in all den letzten Jahrzehnten ja sichtbar — wenn man springt. Doch mit der Erreichung oder Erspringung einer nur „anderen Seite" ist es nicht getan. Die Ansätze zu einer neuen Bewußtseins-Mutation stellen die aufs äußerste vor-

getriebenen Positionen dessen dar, was in einem „Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung“ gerade noch andeutend aufgezeigt werden kann. Wir haben bereits vor Jahren einige dieser Ansatzpunkte genannt!5t. Hier wollen

6. Die integrale Struktur

121

wir uns, unter Bezug auf unsere Ausführungen im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels, die am Beispiel Picassos einen Grundwesenszug der aperspektivischen Welt andeuten sollten, wieder auf das Thema der Konkretisierung der Zeit beschränken. | Dieses Konkretisieren ist eine der Voraussetzungen der integralen Struktur. Denn es kann nur das Konkrete, niemals das Abstrakte integriert werden. Und wir verstehen dabei unter Integrierung den Vollzug einer Gänzlichung, die Herbeifüh-

rung eines Integrum, das heißt die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter bereicherndem Einbezug aller bisherigen Leistung.

Die Konkretisierung dessen, was sich in der Zeit entfaltend und im Räumlichen erstarrend auffächerte, ist der integrale Versuch, die „Größe“ Mensch so weit aus ihren Teilen wiederherzustellen, daß sie sich selber bewußt dem Ganzen inte-

grieren kann. Der Integrierende muß also nicht nur die Erscheinungen, seien diese nun dinglicher, seien sie mentaler Art, konkretisiert haben, sondern er muß es vor

allem auch vermocht haben, seine eigene Struktur zu konkretisieren. Das aber bedeutet unter anderem auch, daß ihm nicht nur die verschiedenen Strukturen durchsichtig und bewußt werden, die ihn konstituieren, sondern daß er auch ihrer

Auswirkungen auf sein eigenes Leben und Schicksal gewahr wird und die de-

fizient wirkenden Komponenten durch eigene Einsicht derart meistert, daß sie

jenen Grad an Reife und Gleichgewicht erhalten, der Vorbedingung jeder Konkretisierung ist. Nur die Komponenten, die auf diese Weise in sich selber gleichgewichtige, gereifte und gemeisterte Konkretionen sind, vermögen Bausteine der Integration zu sein. Das Schwierige daran ist — wir werden noch im nächsten Kapitel davon zu sprechen haben -, daß es sich jeweils um ein Sich-adaptierenKönnen unseres Bewußtseinsvermögens an die verschiedenen Bewußtseinsgrade der einzelnen Strukturen handeln muß. Denn eignet der archaischen Struktur der

Tiefschlaf, der magischen Schlafcharakter, der mythischen Traumcharakter, der

mentalen Wachheits-Charakter, so ist mit einer bloßen bewußtseinsmäßigen Erhellung dieser zum größten Teil bewußtseinsschwachen Zustände nicht nur nichts getan, sondern im Gegenteil: diese Zustände vom Bewußtsein her bloß aufzuhellen, hieße sie zerstören. Erst wenn sie infolge einer Konkretion integriert sind, können sie, zwar nicht mental erhellt, wohl aber integral durchsichtig und gegenwärtig werden: das heißt transparent oder diaphan. Indirekt resultieren aus dem soeben Gesagten zwei nicht unwichtige Folgerungen: erstens, daß die Intelligenz oder die rationale Schärfe nicht mit dem Bewußtsein identisch sind; zweitens, daß es

sich beim Vollzug der Integration niemals um eine Bewußtseins-Erweiterung

handeln kann, von der vor allem die heutige Tiefenpsychologie und auch gewisse „geistige“ Gesellschaften halb-okkulten Charakters sprechen; BewußtseinsErweiterung ist lediglich räumlich gedachte Quantifizierung des BewuBtseins,

wodurch sie illusorisch wird. Es kann sich nur um eine Bewußtseins-Intensivierung

122

Die vier Bewußtseinsmutationen

handeln, und dies nicht deshalb, weil ihr etwa qualitativer Charakter zugesprochen werden könnte, sondern weil sie ihrem Wesen nach „außerhalb“ einer nur

qualitativen Wertung oder einer quantitativen Entwertung steht. Kommen wir jedoch abschließend zu den erwähnten Ansätzen der integralen

Struktur. Kein Geringerer als ein Schüler des Leonardo da Vinci war es, der über die bloße perspektivische Spatialisierung hinausging. Es handelt sich um Jacopo

da Pontormo und betrifft vor allem einige seiner Porträts. Wir können jetzt noch intensiver als früher formulieren, was sie auszeichnet!52: der Blick der Menschen auf diesen Porträts entspricht, obwohl der Maler die perspektivischen

Mittel verwendet, nicht der perspektivischen Epoche: dieser Blick ist nicht raumfixiert, sondern zeitbezogen; er geht aus dem Bildraum hinaus und trifft nicht einen gegebenen oder einen ideellen Punkt innerhalb dieses Raumes. In dieser Zeitbezogenheit, die hier gleichzeitig mit der Raumbezogenheit auftritt, liegt ein Ansatzpunkt zu der temporischen Möglichkeit einer Zeitkonkretisierung. In der auf Pontormo folgenden Generation, der auch Descartes angehört, werden bei Desargues, der mit Descartes befreundet war, weitere temporische Ansätze deut-

lich. Im Jahre 1636 veröffentlicht Desargues seine Arbeit über die „Zentralperspektive“, der er bezeichnenderweise bereits 1639 eine „Lehre von den Kegel-

schnitten“ folgen läßt. Das aber bedeutet nichts anderes als ein Hinübergehen

vom bloß dreidimensionalen Raum in den erfüllten Kugelraum. Er verläßt damit die „Leere“ des nur linearen Raumes und rührt an jene Dimension, die als Erfüllt-

sein die zumindest latente Präsenz des Zeitlichen voraussetzt. Hier begegnen wir

zudem erstmals sinnfällig dem Symbol der integralen Struktur: der Kugel. Sie hat

insofern für die Vierdimensionalität dieser Struktur Signaturwert, als man sie als eine sich bewegende Kugel aufzufassen hat. Übrigens führt diese Kegelschnittlehre

kein Geringerer als der sechzehnjährige Blaise Pascal in seinem 1640 geschriebenen „Essai pour les coniques" weiter. Die beiden Arbeiten von Desargues, der damit

die projektive Geometrie in dem Moment begründet, da Descartes die analytische Geometrie entwirft, waren auDerordentlich folgenreich. Diese projektive Geometrie löst dank Christian von Staudt (1798-1867), er nennt sie „Geometrie

der Lage“, die letzten Bindungen metrischen Charakters, die sie noch bei Desargues und Pascal zur alten messenden Geometrie hatte, die teils auf der Leonardesken

Perspektive, teils auf der Euklidischen Geometrie beruhte. Diese Geometrie wird jetzt, einst alleinherrschend, zu einem bloßen Anhängsel der projektiven Geometrie, welche die „Elemente in Bewegung

setzt: Punkte durchlaufen Linien,

drehen sich um feste Punkte oder wälzen sich als bewegliche Tangenten um

krumme Linien herum, Ebenen drehen sich um feste Achsen und so weiter“. So charakterisiert sie M. Zacharias!53. Nicht das rechnende Verfahren der analytischen Geometrie, sondern das Verfahren der projektiven Geometrie erhält Gültigkeit, das

die Lage der Elemente und ihre Bewegung zueinander ohne Messen berücksichtigt.

6. Die integrale Struktur

123

Damit ist ein weiterer Ansatzpunkt für eine spätere Zeitkonkretisierung gegeben!54, Und wieder eine Generation später, also auf Descartes und Desargues folgend, schreibt Leibniz jene Sátze, die dem Dualismus entgegentreten, den Descartes in seinem Traktat „Les passions des ämes“, wenn auch widersprüchlich, postuliert

hatte, demzufolge Seele und Körper beziehungsweise Mentales und Materie unabhängig voneinander ihre eigene Welt bilden!5s. Leibniz schreibt: „Es besteht eine genaue Entsprechung zwischen dem Körper und allen Gedanken der Seele, mögen sie vernünftig sein oder nicht; und die Träume haben ebensogut ihre Spuren im Gehirn wie die Gedanken der Wachenden.“!56 Wenn wir uns an das erinnern, was wir in dem Abschnitt ,,Die mythische Struktur" über die Inter-

dependenz von Seele und Zeit gesagt haben, so dürfte aus der mental durch Leib-

niz eingeräumten und durch ihn gezeitigten Interdependenz von Seele und Körper

zur Genüge hervorgehen, daß hier, allein durch die Anerkennung der zeitseelischen Komponente, ein temporischer Ansatzpunkt für die spátere Zeitkonkretisierung in Erscheinung tritt (und dies obwohl Leibniz das Seelische, dem Zeitgeist entsprechend noch materiegebunden, nämlich dem Gehirn verhaftet, auffaßt).

Und nochmals eine Generation später bricht bei Mozart ein neues Zeitempfinden durch. Inwiefern es im „Don Juan“ und im zweiten Satz der „Jupiter-Symphonie“

zum Ausdruck kommt, haben wir bereits an anderer Stelle geschildertr37. Hier sei auf eines seiner unvollendet gebliebenen Spätwerke verwiesen, auf die „Phantasie in c-moll“ für Klavier, sowie auf seine „Variationen über eine Thema

von Gluck“ aus dessen Oper „Der Pilger von Mekka“. Besonders in der „c-mollPhantasie“ herrscht eine sowohl harmonikale als auch rhythmische und melodie-

mäßige Auflockerung, die kaum mehr an die hierarchische Strenge und Gebun-

denheit der Klassik denken läßt. Um auch nur entfernt andeuten zu können, was

wir meinen, müssen wir uns zumindest über den Sinn einer der Grundregeln der klassischen Musik klarwerden: die Forderung, daß jeder musikalische Satz in der gleichen Tonart zu enden habe, in der er begann, weist uns deutlich auf den Be-

zug hin, den diese Musik zum naturhaft-kosmischen Zeitablauf hat: der Kreis muß geschlossen werden, und das Hauptthema bindet in der gleichen Tonart Anfang und Ende ineinander: so war jeder Sonatensatz ein Abbild eines von Gott geschaffenen Tages oder Jahres, oder das Bild eines auf seiner Bahn in sich zurückkehrenden Planeten, oder des Weges eines anderen gottgeschaffenen Gestirnes. Diese naturhafte Gesetzmäßigkeit, die dem gesetzgebenden Schöpfergotte, den

die Töne zu loben und zu preisen haben, gesetzvoll entspricht, dieser bloß natur-

hafte Zeitaspekt wird in dieser Musik Mozarts sowohl in der inneren Struktur als

auch durch ihre Unvollendetheit voller Schmerzen - sie ist in Moll geschrieben —

durchbrochen: tritt Mozart hier, sich anscheinend von Gott, dem perspektivisch

124

Die vier Bewußtseinsmutationen

fixierten, personifizierten Gott entfernend, in den Bereich des Gottheitlichen ein:

Liegt hier die Wurzel seines frühen Todes? Auch ein anderer, der Gleiches wagte,

Hölderlin, starb sich ja selber voraus. Wie dem auch sei: das Abstreifen des nur naturzeithaften Charakters in der Musik, eine bis dahin wortwörtlich unerhörte

Leistung, birgt die Möglichkeit eines temporischen Ansatzpunktes für eine später zu vollziehende Zeitkonkretisierung. Und wieder eine Generation später begegnen wir bei Leopardi einem Phänomen,

das zwar bisher durchaus mißverstanden wurde, in diesem Zusammenhange aber sinnvoll erscheinen dürfte. Er ist, wie sein „Zibaldone“, seine Tagebücher zeigen, der Philosoph, der die „noia“, die Langeweile, über alles stellt und verherrlicht. Aber die Prásenz und Akzeptierung der Langeweile dürfte nichts anderes sein als die in zwar noch negativer Form - heute würde man sagen: in unbewuDter Form

- sich in den Vordergrund drängende, zeitträchtige Psyche. Es ist die gleiche individuelle Psyche, der Stendhal, sein Zeitgenosse, mit seinem „psychologischen Realismus“ als ,,Egotist" huldigt: Stendhal, einer der ersten, der aus der Isolation

den positiven Schritt vollzog: der für sich, nachdem die Abschnürung von der Welt, wie er sie in „Armance“ schildert, effektiv geworden war, in seiner IchVerbanntheit die eigene „innere Welt" entdeckte: also auch hier wieder, wenn

auch in durchaus anderen Formen, nunmehr die Herstellung einer neuartigen Beziehung nicht zu der allgemeinverbindlichen natur-zeithaften Seele, sondern

zu der eigenen, zeitlos-zeithaften Seele. Und damit zeigt sich auch hier der Ansatz-

punkt für eine mógliche, spáter vollziehbare Zeitkonkretisierung. Und nochmals eine Generation später treffen wir auf Schliemann, den Zeitgenossen des schon erwähnten Christian von Staudt, der die projektive Geometrie vollendete. Die Ausgrabung Trojas durch Schliemann in den Jahren 1870-1883,

die zivilisationsgeschichtlich als Parallele zu der seelengeschichtlich bedeutsamen Ausgrabung des Unbewußten durch Freud erscheint, enthält freilich noch, betrachten wir diese Leistung wie die vorangegangenen vom temporischen Ansatz-

gehalt aus, vornehmlich ein raumverhaftetes Zeit-Sehen. Aber die in Troja auf-

gedeckten Schichten vermitteln weder ein bloß naturhaftes Zeitwahrnehmen, noch ermöglichen sie eine bloße Zeitabstraktion; diese Schichten erweitern die

Geschichtlichkeit des europäischen Menschen und bereichern damit jene Bewußtseinsfähigkeit, die ihm die Möglichkeit anderer Zeitformen als der nur psychegebundenen oder der nur abstrakt gemessenen Naturzeit nahelegt. Also auch hier ein temporischer Ansatzpunkt: nochmals ein Ansatz zu einer möglichen, später

vollziehbaren Zeitkonkretisierung. Und insofern diese Zeitkonkretisierung auch zu einer diaphanen Gegenwart und

zu einem durchsichtigen Gegenwärtigsein führt, mögen hier die Worte Hölderlins

stehen, der auf dem Heimwege von Bordeaux die Sonne traf!58 — auch er traf sie,

die große Messerin der Zeit, wie einst Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, und wie

6. Die integrale Struktur

125

nach ihm van Gogh -, jene Worte, die wir vielleicht auf die sich bildende Bewußtseinsstruktur beziehen dürfen, deren Wesen Hölderlin in vielem vorausnahm: „Denn siehe! es ist der Abend der Zeit, die Stunde, wo die Wanderer lenken zu der Ruhstatt. Es kehrt bald ein Gott um den anderen heim . . . Darum sei gegenwärtig ...“

Viertes Kapitel DIE

MUTATIONEN

ALS

GANZHEITLICHES

PHÄNOMEN

Eine zusammenfassende Zwischenbetrachtung

1. Querschnitte durch die Strukturen

Haben wir bisher die verschiedenen Bewußtseinsstrukturen in ihrem zeitlichen Nacheinander darzustellen versucht, so scheint es jetzt geboten, ehe wir uns ihren wichtigsten Problemen zuwenden, sie, die als Längsschnitte betrachtet werden

können, zusammenzufassen, um sie von einem anderen Durchblick her in Querschnitten darzustellen. Dies wird uns nicht nur einen ordnenden Überblick einbringen, sondern auch eine wichtige Tatsache anschaulich machen: daß es sich nämlich bei den dargestellten und uns konstituierenden Strukturen um ein ganzheitliches Phänomen handelt. Jeder einzelne Mensch ist nicht etwa eine Summe, ein bloßes Resultat der dargestellten Mutationen, sondern deren ganzheitliche Verkörperung, die latent auch die mögliche noch folgende Mutation enthält

(nämlich die in die Aperspektivität, die im zweiten Teile dieser Schrift dargestellt wird). Für diese zusammenfassende Betrachtung sind zwei Überlegungen maßgebend.

Die eine betrifft die Art ihrer Durchführung, die andere den ordnenden Hauptgesichtspunkt. |

Wir müssen uns darüber klar sein, daß sich der gesamte Querschnitt, der das bisher gebotene Material ordnen könnte, aus verschiedenen thematisch umschriebenen Querschnitten zusammensetzen muß. Wir werden also die verschiedenen,

einander bedingenden Charakteristika der einzelnen Strukturen in ihrer jeweiligen Entfaltung durch die Mutationsreihe hindurch zusammenzufassen haben. Damit

ist auch bereits der ordnende Hauptgesichtspunkt, unter welchem diese Zusam-

menfassung erfolgt genannt: wir werden der Entfaltung der einzelnen Charakteristika, Äußerungsformen und Bezüge nachzugehen haben.

Grundlegend für diese Betrachtungsweise ist der Umstand, daß wir den einzelnen Strukturen in ihrer jeweiligen Raum-Zeit-Bezogenheit gewisse Zuschreibungen machen konnten, die diese Bezogenheiten charakterisieren. Wir brachten diese Bezogenheiten durch zwei Kategorien zum Ausdruck: durch die der Dimensio-

nen und durch die der Perspektivität. Fassen wir jetzt im Querschnitt das zusammen, was wir über jede einzelne Struktur ausgeführt haben, so ergibt sich für jede einzelne der genannten Kategorien folgende

Strukturierung, die querschnitt-

mäßig gelesen eine sich entfaltende, längsschnittmäßig gelesen eine sich ergänzende Strukturierung ist:

1. Querschnitte durch die Strukturen

Ξ

se

127

Raum- en und = ーー | a) Dimensionierung | b) Perspektivität c) Betontheiten |

ーー

Archaisch:

nulldimensional

keine

Magisch:

eindimensional

vorperspektivisch

Mythisch:

zweidimensional

unperspektivisch

raumlos / naturzeithaf

Mental:

dreidimensional

perspektivisch

raumhaft / abstrakt zeithaft

Integral:

vierdimensional

aperspektivisch

raumfrei / zeitfrei

|

vorräumlich /

vorzeithaft

| raumlos / zeitlos

Wir können jetzt übersehen, wie eine jede Bewußtseins-Mutation, durch die sich jeweils eine neue Bewußtseinsstruktur konstituierte, das In-Erscheinung-Treten und Wirksamwerden einer neuen Dimension mit sich brachte. Diese Tatsache macht eine Interdependenz zwischen Bewußtsein und Raum-Zeit-Welt deutlich. Der Entfaltung des Bewußtseins entspricht eine Entfaltung der Dimensionen. Der

Zunahme des einen entspricht die Zunahme der anderen. Bewußtwerdung und

Dimensionierung bedingen sich gegenseitig. Das, was wir als Perspektivität be-

zeichnen, ist somit ein bloßer, aber nicht unwesentlicher Aspekt der jeweiligen Raum-Zeit-Bezogenheit; ein Aspekt, der sich erst von der heutigen, perspektivisch fixierten Welt aus gesehen ergibt und durch den des weiteren anschaulich wird, daß BewuBtseins-Entfaltung und Dimensionierung eine Zunahme der Dinglichung (oder Materialisation) der Welt mit sich bringen. Aus beiden Tatsachen ergeben sich gesetzmäßig anmutende neue Tatsachen, die auf eine überraschende Weise Licht auf das mehrschichtig sich darstellende Problem werfen,

das wir als das MaB-Masse-Problem bezeichnen können. Es wird uns weiter eine

vierte Tatsache erhellen, nämlich die der Gesetzmäßigkeit, mit der sich die Mutationen ablösen, eine Gesetzmäßigkeit, die nicht nur für die Mutationen als Ganzheit aufschließenden Charakter hat, sondern auch für dieBezüge der einzelnen Strukturen

unter sich und die damit für unsere heutige Situation erhellend wirken kann. Diese kurze Andeutung mag einen Hinweis darauf darstellen, daß wir mit dieser Zusammenfassung keine Systematisierung anstreben, sondern die lebendigen und

wirkenden Bezüge ersichtlich zu machen wünschen, und daß wir die aus diesen Bezügen resultierenden lebendigen und wirkenden Tatsachen anschaulich gestalten wollen. Bevor wir uns den Querschnitten weiterer sich entfaltender Charakteristika der einzelnen Strukturen zuwenden, die alsnächste Gruppe deren Signatur, Wesen und Charakter umfassen, müssen wir noch einen Blick auf jene der soeben

erfolgten Zuschreibungen werfen, die sich für die integrale Struktur hinsichtlich ihrer Raum-Zeit-Bezogenheit ergeben. Ihre Vierdimensionalität stellt in letzter Konsequenz eine Integration der Dimensionen dar; damit wird sie zu einer aper-

128

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

spektivischen Welt, die sowohl raumfrei als zeitfrei ist, d. h., in der unser BewuBtsein frei (bzw. befreit) über alle latenten und akuten Formen des Raumes und der Zeit verfügen kann, ohne sie abzuleugnen, aber auch ohne ihnen gänzlich unterWorten zu sein. Inwiefern diese Raum-Zeit-Freiheit im Leben realisierbar ist, inwieweit sie sich mit dem Vorgang der Gegenwirtigung verträgt, inwiefern sie mit dem, was wir

als das Diaphainon (das Durchscheinende)! umschreiben, in Beziehung zu setzen ist — diese Fragen lósen sich in dem Mafe, als wir noch weiterer Elemente, welche die einzelnen Strukturen konstituieren, ansichtig werden. Wenden wir uns deshalb den weiteren Querschnitten zu. Erinnern wir uns an die bisher geschilderte Signatur, an das Wesen und an den Charakter jeder einzelnen Struktur, so ergibt sich folgender neue Querschnitt: Struktur

2. Signatur

3. Wesen

4. Charakter

Archaisch:

keine

Ganzhei)

Ganzheitlich

Der Kreis O

(Ambivalenz)

πα.

Mythisch: | Mental:

Das Dreieck A

Integral: | DieKugel®

(2 ०

| (न

| τ τὶ polare Ergänzung ति

| phanierende Cänziichung

An der Aufeinanderfolge der Signaturen wird nochmals deutlich, was bereits die

Dimensionierung ersichtlich machte: daß wir durch die Mutationsreihe hindurch

eine Zunahme, eine Ausweitung beobachten können. Die Wahl der Signaturen stellt keinen Willkürakt dar, sondern ergibt sich organisch aus der Schilderung der einzelnen Strukturen. Durch sie werden die objektiv gegebenen Sachverhalte

nicht mehr und nicht weniger überschritten oder denaturiert, als es der Fall sein muß, wenn wir etwas schildern oder darstellen, da jedes Schildern oder Darstellen ein dem Geschilderten wesensfremdes Moment enthält, weil wir ordnen

müssen, wo sich widerspruchslos ein organischer Sachverhalt unseren sprachlichen und nachdenkenden Mitteln gegenüber befindet, und weil wir ablaufmäßig aneinanderreihen müssen, was an sich ein komplexes Geschehen ist. Die Signaturen bringen uns die Ausweitung des Punktes zum Kreise, die Zerbrechung des Kreises durch das Dreieck, beziehungsweise die Aufteilung des Kreises in Sektoren und damit die quantitätsmäßige Zunahme und Reichweite der Mutationen zur Anschauung. Dagegen zeigt sich in den Umlagerungen, die das jeweilige Wesen der Strukturen bestimmen, eine gegenläufige Bewegung: denn in dem Maße, in dem das Bewußtsein durch die Dimensionenzunahme an

I. Querschnitte durch die Strukturen

129

Reichweite und Umfang gewinnt, erfährt qualitativ der Grundcharakter der einzelnen Strukturen jeweils eine Wert- oder Intensitätsminderung. Der Bewußt-

seinszunahme entspricht nicht eine Zunahme innerhalb des Ganzheitsbezuges

(insoweit eine solche überhaupt möglich wäre), sondern eine Minderung oder

Schwächung des Ganzheitsbezuges. Das sich ausweitende Bewußtsein reduziert,

qualitativ gesehen, sein eigenes Bezugssystem. Die Einheit ist nur eine reduzierte Ganzheit, aber erst die Einheit ermöglicht einen Bewußtseins-Ansatz im Men-

schen. Die Polarität erweitert dann zwar das Spielfeld des Bewußtseins und gibt ihm die Spannung, deren alles lebendig Sichentfaltende bedarf; aber die Ursprungsgegenwartigkeit des Ganzheitlichen wird dabei getrübt: sie ist nicht mehr in dem ursprünglichen Maße als Ganzheit, sondern nur noch durch einen Akt der Ergänzung erfahrbar. Und die weitere Dimensionierung, die das polar SichErgänzende in die dualistische Geteiltheit und MeBbarkeit des Gegensätzlichen zwingt, läßt in der mentalen Struktur, wie bereits ausgeführt wurde, nicht einmal

mehr den Akt der Ergänzung zu, sondern höchstens den stets nur fragmentarischen der Einigung. (Wir werden diese sich reduzierenden „Möglichkeiten der

Strukturen“ sogleich noch querschnittsmäßig aufführen.) Der quantitativen Anreicherung des Bewußtseins, das sich dimensionierend sein eigenes Bezugssystem schafft, scheint qualitativ eine Minderung der Ganzheit zu entprechen. Die muta-

tionsmäßig sichtbar werdende Ausweitung, Erweiterung oder Zunahme des Bewußtseins steht in einem reziproken (umgekehrten) Verhältnis zur Verminde-

rung des ihm anscheinend verlorengehenden ganzheitlichen Bezugssystems. So betrachtet, scheint die dimensionierte Welt als eine vom Ganzen abgespaltene. In dem Maße, in dem das Bewußtsein wächst, mehrt sich das quantitative raum-

zeitliche Bezugssystem, was sich in der Zunahme der Dimensionen und der Dinglichung zu erkennen gibt; aber in dem gleichen Maße mindert sich die vorräumliche und vorzeithafte Ursprungsgegenwärtigkeit: der Mensch ist nicht mehr im Ganzen; er nimmt nur noch, in scheinbar immer schwächerem Maße, teil am Ganzen, das letztlich unverlierbar ist, da die archaische Struktur, da der Ursprung

unverlierbar gegenwärtig ist. Was sich abspielt, ist aber vielleicht nicht so sehr eine Schwächung, ein Entferntwerden von ihm, sondern eine Umlagerung merkwürdiger Art. Für uns, die wir nicht anders als im Subjekt-Objekt-Bezug zu denken gewohnt sind, wenn wir, mental gewertet, denkfähig sein wollen, stellt sie sich als eine Umlagerung bewußtseinsähnlicher Intensitäten dar, wobei das Sich-Umlagernde sich aus der Objektwelt, dem Ganzheitlichen oder dem All,

in die Subjektwelt, den Menschen, überträgt. Der Mensch wird Träger des ursprünglichen ,,BewuBtseins (oder wie immer man dies benennen mag), und seine irdische Bedingtheit macht durch Raumzeitlichung das irdisch, was allbezogen

und ganzheitlich ist. Aber der Mensch ist nicht nur ein Geschópf der Exde, sondern auch ein Geschópf des Himmels. Er ist es allein schon deshalb, weil er, grob

130

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

physikalisch gesprochen, mit jedem Atemzuge diesen Himmel mitatmet, da in

jedem Atemzuge noch die „Substanz“ selbst der fernsten Himmel, wenn auch in unvorstellbar minimem Maße, enthalten ist. Insofern er auch ein Geschöpf des Himmels ist, erscheint das, was sich uns soeben als Minderung und Mehrung oder als Verlust und Gewinn dargestellt haben mag, vorerst vielleicht rätselhaft. Noch

rätselhafter würde es erscheinen, wäre der Mensch nur ein Geschöpf der Erde und des Himmels. Da er noch mehr - und weil hier messende Bezeichnungen irrelevant sind, könnte man auch sagen: da er noch weniger - als nur dies ist, können

wir im weiteren Verlaufe unserer Zusammenfassung diesen Sachverhalt, der sich, mental betrachtet, als eine Gewinn- und Verlustrechnung darstellt, vielleicht aus seiner dualistischen Ausweglosigkeit befreien — dies um so mehr, als wir zahlreiche Ansätze, selbst solche, die uns aus dem dualistischen Denkzwang herauslösen, werden nachweisen kónnen.

Fassen wir jetzt in einer dritten Gruppe das zusammen, was uns der móglichen

Lösung aller bisher aufgeworfenen Fragen um einen Schritt näher bringen kann, so muß der Querschnitt durch das gegeben werden, was wir als die „Möglich-

keiten der Strukturen“ bezeichnet haben. Insofern es sich um jene Möglichkeiten

handelt, die sich das Bewußtsein durch seine Mutationen erschließt, müssen wir

uns darüber klarwerden, auf welche Weltaspekte sich die jeweiligen Bewußt-

seinsmöglichkeiten vornehmlich konzentrieren; das heißt, welcher Weltaspekt

für die jeweilige Struktur Bewußtseins-Charakter erhält. Ferner müssen wir uns über die Energetik klarwerden, die im Menschen Träger oder Auslöser der jeweiligen Bewußtwerdung ist. So gesehen, können wir die Akzentsetzungen des Bewußtseins mental in die beliebten Kategorien des Objektiven und des Subjektiven einordnen und erhalten dann folgenden zusammenfassenden Querschnitt (auf die in Klammern gesetzten Zuschreibungen werden wir erst später eingehen können): 6. Akzentuierung

Struktur

5. Möglichkeit

a) objektiv (außen)

Archaisch:

Ganzheit

UnbewuBter Geist

keine bzw. Latenz

Magisch:

Einheit durch Einigung und Erhörung

Natur

Emotion

Seele

Imagination

Raum-Welt

Abstraktion

(BewuBter Geist)

(Konkretion)

Mythisch:

Einigung durch

Ergänzung und Entsprechung

Mental:

Einigung durch Synthese und Versöhnung

Integral:

Ganzheit durch Gänzlichung und Gegenwärtigung

(Weltaspekt)

| b) subjektiv (innen) (Energetik)

I. Querschnitte durch die Strukturen

131

Hier nun wird anschaulich, daß die Bewußtseinszunahme eine „Minderung“ des realisierbaren Ganzheitsbezuges mit sich bringt, dessen wir nur deshalb nicht gänzlich verlustig gehen, weil die Ursprungsgegenwärtigkeit unverlierbar ist, und weil aus ihrer Unverlierbarkeit heraus, aus der alle uns konstituierenden

Struktur herausmutierten, auch diese selber unverlierbar werden. Dagegen zeigt der nächste Querschnitt, wie in der Aufeinanderfolge der durch das Bewußtsein erschlossenen Weltaspekte eine Mehrung eintritt, die zugleich auch eine Mehrung

der bewußtwerdenden Kräfte mit sich bringt, wodurch das Bewußtsein zuneh-

mende Wirklichkeit zu werden vermag. Liegt der Ton bei der magischen Struktur noch durchaus auf der emotional realisierten Natur, bei der mythischen auf

der bildmäßig realisierten Seele, so liegt er bei der mentalen Struktur auf der

denkend realisierten Raumwelt. Gewiß: die Kräfte, die diese Realisationen ermöglichen, werden in zunehmender Anzahl bewußt und verwendbar, aber gleich-

zeitig — und auf den ersten Blick höchst widersinnigerweise — engt sich der realisierte Weltaspekt ein. Natur und Seele, die beide unmeßbar sind, sind umfassen-

der als die durch das messende Denken erfaBbare Raumwelt, die zur Perspektivierung führte. Dieses Dilemma wird sich vielleicht lósen lassen, wenn wir noch

einen Blick auf das werfen, was wir unter den Begriffen des Bewußtseinsgrades und des Bewußtseinsbezuges der einzelnen Strukturen zusammenfassen können.

Wir begegnen dabei einer bereits angedeuteten Gesetzmäßigkeit, die uns dort einen Anhaltspunkt zu geben vermag, wo die scheinbare Widersprüchigkeit der

Phänomene beginnen könnte, uns zu verwirren. Diese Gesetzmäßigkeit wird aus dem folgenden Querschnitt ersichtlich: Ber Bewuftseins-

B

a) -Grad

Archaisch:

Tiefschlaf

Magisch:

Schlaf

Mythisch:

Traum

Mental:

Wachheit

Integral:

(Durchsichtigkeit)

b) -Bezug ए



Aufs „Außen“

(die Natur)

bezogen: ausatmend Aufs „Innen“

(die Seele)

bezogen: einatmend Aufs „Außen“ (die Raumwelt) bezogen: ausatmend (Auf ein „Innen“

bezogen: einatmend? Oder: Atempause?)

Inwieweit es berechtigt sein mag, den Tiefschlaf und den Schlaf in diesem Querschnitt in der Bewußtseinskategorie aufzuführen, ergibt sich daraus, daß wir diesen

132

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

beiden Zuständen nicht einfach Bewußtseins-Charakter zusprechen, sondern im Hinblick auf den Erwachensvorgang, den die Mutationsreihe spiegelt, ihnen lediglich eine Bewußtseinsform oder einen Bewußtseinsgrad zuschreiben, die man als Schlaf- und als TraumbewuBtsein bezeichnen darf, wodurch auch die dualisti-

sche Ausdrucksweise von Unbewußt: Bewußt hinfällig wird (s. S. 224). Die Gesetzmäßigkeit, von der wir soeben gesprochen haben, stellt sich uns in dem dar, was wir, betrachten wir die Mutationen als Ganzheit, als ihren Herzrhythmus

bezeichnen könnten, der sie durchpulst, oder als das Atemhafte, das ihnen eignet. Die archaische Struktur dürfen wir als die schweigende Pause vor dem Atem betrachten, und wenn wir sie, scheinbar einseitig, als „schweigende Pause“ apostro-

phieren, so müssen wir uns das unhörbare Singen gegenwärtigen, welches jede Pause enthält, jene „musica callada“, jene „geschwiegene Musik“, von der einst

ein Juan de la Cruz gesprochen hat. Die magische Struktur ist dann, da sie durch-

aus aufs Außen, nämlich auf die Natur bezogen ist, ein erstes Ausatmen, und zwar ist es ein Ausatmen, von dem wir vorerst nicht postulieren wollen, daß es zugleich auch ein Ausgeatmetwerden sei, da uns dies, infolge der heute herrschenden dualistischen und anthropozentrischen3 Denkweise, sogleich den unangebrachten

Vorwurf des Animismus eintragen könnte. Die mythische Struktur aber, da sie durchaus aufs Innen, die Seele, bezogen ist, mutet uns, halten wir sie gegen die

magische, wie ein Einatmen an; hier spielt sich psychisch jenes „Einatmen der Himmel“ ab, von dem wir vorhin gesprochen haben. Daß sich in der mythischen

Struktur gewissermaDen ein Einatmen vollzieht, wird noch deutlicher, wenn wir

an die auf sie „folgende“ mentale Struktur denken, die ja durchaus wieder auf das

Aufen, auf die Welt bezogen ist, und somit durchaus Ausatmungs-Charakter hat.

Unsere Folgerungen aus dem Außen-Innen-Bezug der einzelnen Strukturen gehen

mit jenen Tatsachen parallel, die wir im vorigen Kapitel geschildert haben: mit

der Erschließung, Meisterung und damit Bewußtwerdung der Natur durch den magischen Menschen, jener der Seele durch den mythischen Menschen, jener der objektivierten Raumwelt durch den mentalen Menschen. So schließt sich in der Gesetzmäßigkeit, die sich im Wechsel des Atmens, in der organischen Ablösung des Ein- und Ausatmens oder im Pulsschlag der Strukturen zu erkennen gibt, die Mutationsreihe zu lebendiger Ganzheit zusammen.

Dieser Gesetzmäßigkeit haben wir einen anscheinend organischen Charakter verliehen und würden dem Mutationsgeschehen damit einseitig einen biologisieren-

den Aspekt geben, der, insofern am Biologischen vorwiegend das Naturhafte in Erscheinung tritt, magische Färbung erhalten müßte. Wir können diese Gesetz-

mäßigkeit jedoch auch als polares Geschehen auffassen, also nicht so sehr das einheitliche, sondern das ergänzende Moment an ihr unterstreichen. Dann jedoch laufen wir Gefahr, zu mythisieren. Wir werden uns also bemühen müssen, diese Gesetzmäßigkeit unserer heute noch vorherrschenden Bewußtseinslage gemäß zu

I. Querschnitte durch die Strukturen

133

betrachten, da uns mental nur in einem Nacheinander erfaßbar ist, was diaphanierend ganzheitlich wahrnehmbar wire. Da aber diese Bewußtseinslage und ihre Realisationsform heute noch nicht erreicht, sondern erst im Entstehen ist, so müssen wir uns gerechterweise auf die mentale Basis einigen. Wir erreichen eine Mentalisation oder Rationalisierung dieser Gesetzmäßigkeit

und damit ihre Herauslösung aus der biologisch-naturhaft-magischen sowie aus der psychisch-polar-mythischen Sphäre, indem wir Einatmung und Ausatmung

nicht als ein einheitliches Geschehen, nämlich als ununterschiedenes Atmen werten, auch nicht als ein sich ergänzendes Geschehen, obwohl es auch das ist, son-

dern indem wir sie als Gegensatz betrachten. Aber das allein genügt noch nicht:

wir müssen diese Gegensätze auch messen können, denn nur Meßbares ist gegeneinander oder überhaupt setzbar; und wir haben, wie nun deutlich wird, einen

ersten Schritt zur mentalen Setz- und Meßbarkeit in dem Moment getan, da wir von einer Gesetzmäßigkeit gesprochen haben. Um dem Erfordernis der mentalen Struktur nach begriff licher Meßbarkeit zu genügen, können wir diein Frage stehende Gesetzmäßigkeit unter das Begriffspaar: Maß und Masse stellen.

Wir wählen dieses Begriffspaar erstens, weil es trotz seiner Aufgespaltenheit doch noch in der ihm gemeinsamen Wurzel den nur selten zu eruierenden Urwortcharakter aufweist. Zwar erhält alles, was unter einem Begriffspaar zusammen-

gefaßt wird, den Akzent der mentalen Gegensätzlichung, aber nur insofern es ausgesprochen wird; unausgesprochen ist ein solches Wortpaar jedoch auch Träger des polaren, unitären und ursprünglichen Elementes. Wir wählen das Begriffspaar Maß und Masse auch deshalb, weil sich noch andere Phänomene aufschlußreicher Art unter diesem Gesichtspunkt betrachten lassen: wir erinnern an die

Bewußtseinszunahme und die Dimensionszunahme, an die Dinglichung der Welt (s. S. 128), sowie an die scheinbar gegenläufige Bewegung von Mehrung des BewuBtseins und Minderung des Ganzheitsbezuges (s. S. 128f.). Hier nun ergibt sich ein Knotenpunkt: alle bisher aufgeworfenen Fragen und Probleme, die aus den bisherigen Querschnitten ersichtlich wurden, haben wir vereint und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, den wir mit dem Begriffspaar Maß-Masse umschrieben haben. Dieses Resultat verknüpft als Abschluß unsere bisherigen Ausführungen mit den Folgerungen, die wir aus ihnen ziehen

müssen. Wir unterbrechen deshalb zunächst die begonnene Zusammenfassung

der einzelnen Charakteristika, um eine Zwischenbilanz zu ziehen. Um sie zu er-

leichtern, stellen wir in einem Schema alle bisher erarbeiteten Querschnitte zusammen. Sie wollen nicht nur querschnittmäßig (also von oben nach unten), sondern auch längsschnittmäßig (also von links nach rechts) gelesen sein. Und wir ergänzen unsere „Synoptische Tafel“ durch den Querschnitt 8 (s. S. 158 und die Tafel am Schluß dieses Bandes), der noch einen weiteren Aspekt des Maß-MasseProblemes veranschaulicht, einen Aspekt, der sich auf die effizienten und defizien-

134

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

ten Phasen der einzelnen Bewußtseinsstrukturen bezieht und somit deren qualitative und quantitative Manifestationsformen zum Ausdruck bringt. Um dieses Maß-Masse-Problem klären zu können, eine Klärung, die uns eine

erste Zwischenbilanz ermöglichen wird, müssen wir uns in einem kurzen Exkurs über die Urwörter und über den Hintergrund klarwerden, der dem Wortpaar Maß - Masse eigen ist.

2. Exkurs über die Einheit der Urwörter

Schon zu Beginn dieser Schrift (s. S. 4) haben wir darauf hingewiesen, daß wir das sprachliche Moment in besonderem Maße zur Erhellung unseres Themas heranziehen würden. Die Sprache ist nicht nur grundlegend für jedes einzelne Leben, sondern auch verbindlich und verbindend. Von der Art, wie wir von ihr

Gebrauch machen, hängt es weitgehend ab, ob uns unsere Darstellung gelingt. Dies gilt besonders dann, wenn mit den bisherigen Mitteln der Sprache auch neue Sachverhalte dargestellt und geschildert werden sollen.

Die vorliegende Schrift bemüht sich um etwas „Neues“, zumindest um neuartige

Gegebenheiten; sie begnügt sich nicht damit, ein scharfumrissenes Thema, das sich rational gliedern und demgemäß in einer festen und fixierten Terminologie ausdrücken ließe, abzuhandeln. Das Aufzeigen einer ganzheitlichen Struktur, innerhalb welcher praerationale und irrationale Elemente die gleiche gewichtige Rolle

spielen wie die rationalen, erfordert eine Einstellung zur Sprache, die ihre Ganz-

heitlichkeit berücksichtigt. Und so, wie jeder Mensch strukturmäßig die ganze Mutationsreihe der Menschheit darstellt und lebt, so spiegelt innerhalb der

Sprache auch jedes Wort ihre mutative Entfaltung.

Wir überbanden den Worten nicht, wie es heute üblich ist, vor allem den Schlüsselworten, mental oder rational einen Sinn oder Inhalt und fixierten sie damit nicht einseitig und einsinnig, sondern versuchten, das ausfindig zu machen, was

das Wort von sich aus aussagt; anders ausgedrückt: wir beschränkten uns nicht darauf, die jeweilige allmähliche begriffliche Fixierung eines Wortes als seinen einzig gültigen Ausdruckswert aufzufassen. Dieses Vorgehen wird zwar manchen vor den Kopf gestoßen haben, besonders aber jene, die sich nur in der rationalen Struktur glauben bewegen zu dürfen, wenn sie „objektive“ Wissenschaft treiben, und die die subjektive Bedingtheit und Abhängigkeit der durch sie geleisteten

Objektivierung von ihrer eigenen vitalen und psychischen Konstitution noch

nicht einmal

ahnen.

Damit

aber soll unser Vorgehen

nicht in einen wert-

mäßigen Gegensatz zu dem heute herrschenden gestellt werden; es soll nur

kenntlich gemacht werden, inwiefern und warum es sich von diesem unterscheiden muß. Die Aufgabe, die sich uns stellt, ist eine andere als die, welche sich dem

2. Exkurs über die Einheit der Urwörter

135

Nichts-als-Rationalisten stellt, der teilen und unterteilen muß und will, der also Teilresultate anstrebt, während wir das Ganzheitliche sichtbar zu machen suchen. Und genau so, wie die bloß rationale Durchführungsweise nicht nur ihre Mängel, sondern auch ihre Grenzen hat, so hat die unsere ihre Mängel, Grenzen und darüber hinaus ihre Fristen; und zwar hat sie ihre Fristen insofern, als diese die zeitlichen Grenzen bezeichnen. Aber allein schon die Tatsache, daß hier die Frist mit hereinspielt, verweist uns auf einen gewissen temporischen Ansatz in der Sprachbehandlung: uns soll, zumindest an den Schlüsselworten, das sichtbar werden, was

sie in ihrem zeithaften Aspekt enthalten. Dieser Zeitaspekt des Wortes ruht in der Grundbedeutung seiner Wurzel, die ihm latent oder potentiell auch heute noch

das Gepräge gibt; es ist das Anfängliche, das durch den gewandelten, entfalteten Sinn, den es annahm oder den wir ihm gaben, hindurchscheint. Denn ein jedes Wort ist nicht nur Begriff (und fixierte Buchstabenschrift), sondern auch Bild, also mythisch, sondern auch Laut, also magisch, sondern auch Wurzel und somit

archaisch und dadurch, durch seinen Wurzelgehalt, ursprunghaft gegenwärtig. Die Gefahren einer solchen Betrachtungsart sind natürlich groß. Sie lassen sich nur dann vermeiden, wenn ein der menschlichen Struktur, in der das Mentale die Führung hat, entsprechendes Gleichgewicht auch in der realisierten Struktur der

angewandten Sprache herrscht, mit der diese ganzheitliche Struktur dargestellt

werden soll. Mit anderen Worten; gehen wir, wie wir es getan haben, auf die Wurzeln zurück; hören wir auf jene Wörter, die zusammengehóren; ergänzen wir andere, die einander zu entsprechen scheinen, zum Bilde, und richten wir uns

und sie nach den Maßstäben, die unser Denken uns auferlegt oder die wir ihm auferlegen — so können wir gewiß sein, daD wir im jeweiligen Rahmen der Gegebenheiten jeder einzelnen Struktur blieben, so wie diese Gegebenheiten, von unserem heutigen mentalen Standpunkte aus gesehen, Wirkcharakter haben.

Es gilt aber nicht nur dieser Gefahr zu entrinnen, daß nämlich in der jeweiligen Interpretation des einzelnen Wortes ein Aspekt, sei es sein magischer, mythischer oder rationaler, überbetont werde, sondern der noch größeren Gefahr: nicht zu wissen, wo selbst dieser ganzheitlich orientierten Betrachtungsweise zwar weniger eine Grenze, wohl aber eine Frist gesetzt ist. Diese befindet sich in der „tiefsten“ Vergangenheit, dort, wo aus dem Ursprung der Anfang herausmutiert; und sie befindet sich in der Gegenwart, da diese immer auch Ursprungs-Charakter hat. Sehen wir jetzt jedoch nur nach rückwärts, zumal wir mental vorgehen, also

messend und methodisch, nicht aber diaphanierend, so finden wir jenen Anfang

dort, wo die Wurzeln der einzelnen Wörter in nächtigem Verquicktsein aus dem „All“ herausmutieren. Denn so wie wir nicht ermitteln können, wo und an welcher befristeten Stelle die bereits unsichtbaren Wurzelfasern Erde werden oder wo das Erdreich die Form der Wurzelfasern annimmt, so wenig können wir diesen entscheidenden Vorgang in der Wortbildung verfolgen; ja, die früh einsetzende

136

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Dunkelheit, Schlafhaftigkeit, Verquicktheit und ineinander übergehende Ununterschiedenheit der Urlaute oder Urwurzeln läßt es bestenfalls zu, daß wir gerade noch ahnen, was sich hinter jener Frist abspielt, die auch in der Wortbildung

als einst übersprungene Frist zwischen der archaischen und der magischen Struktur besteht. Mit diesen Hinweisen hoffen wir, jene Bedenken zerstreut zu haben, die sich über

unser Vorgehen für den oder jenen ergeben könnten: in dem Maße, in dem wir

uns stets gegenwärtig halten, daß wir das Ganzheitliche anstreben, schaltet sich die Überbetonung einer einzelnen Struktur von selbst aus, und die Erkenntnis, daß selbst diesem Ganzheitlichen eine Frist gesetzt ist (insoweit es die Manifestationen

betrifft), dürfte uns davor bewahren, in Abgründe und Dunkelheiten zu tauchen, denen unsere mentale Helligkeit und Tageswachheit nicht gewachsen ist.

Aber auch die Mängel unserer Betrachtungsart sind offensichtlich und ergeben sich aus dem Zwang, daß wir, gehen wir schon auf die Wurzeln zurück, mental

ordnend jeweils aus dem Dickicht des Wurzelwerkes jene Wurzelstränge aussondern müssen, die mit der Funktion, welche wir der jeweiligen Wurzel zuzubilligen haben, vor allem dem Weltaspekt entsprechen müssen, den sie erhellen

sollen. So erklärt sich unser Vorgehen bei den Wurzeln der Wörter Magie, Mythos und Menis. Das also, was sich auf einen ersten Eindruck hin möglicherweise

als willkürliche Interpretation dargestellt haben mag, dürfte gerechtfertigt sein, wenn wir den jeweiligen Bezug als gültigen Auslöser der getroffenen Auswahl

und Betonung anerkennen. Die Tatsache, daß wir irrationale und praerationale

Zusammenhänge aufdecken, darf noch keinesfalls mit einer bloßen Irrationalisierung verwechselt werden. Jeder Versuch, zu den Wurzeln zurückzugehen, ruft

jedoch eine Abwehr hervor: ihre Dunkelheit und Unmeßbarkeit widersprechen der mentalen Haltung und aktivieren durch die Annäherung nur allzuleicht und dazu noch in negativer Weise gerade die praerationale Wurzel, die affektiv und

emotional ist. Wer es wagt, an diese Dinge zu rühren, stößt notwendig auf eine

berechtigte Abwehr, besonders dann, wenn sich der Leser nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade auf den vorerst nur angedeuteten aperspektivischen „Standpunkt“ stellen kann und - da ja die rationale Haltung weder der praerationalen,

noch der irrationalen gewachsen ist — sich gegen ein Abgleiten in sie schützen will, anstatt sich „über“ beide zu stellen. Und an diesem Punkt ist darauf zu verweisen,

daß diese Schrift, obwohl sie auch die vitalen und psychischen Bezüge berück-

sichtigt, nichts damit zu tun hat, was man als „Lebensphilosophie“ bezeichnet; zu ihren Vertretern müssen die Vitalisten gezählt werden, vor allem Klages und

Spengler, ganz zu schweigen von den Emotionalisten, wie wir sie bezeichnen

möchten, die noch üppiger im Irrationalen baden und zu denen man unter anderen Ernst Bergmann und Fritz Klatt rechnen darf. Wenden wir uns nun trotzdem unserer Aufgabe, der Untersuchung der Wurzeln,

2. Exkurs über die Einheit der Urwörter

137

zu, wie sie in den Urwörtern selbst heute noch am stärksten lebendig sind. Von diesen Urwörtern hat K. Abel in seiner bereits erwähnten großen Arbeit (s. S. 53) gezeigt, daß sie „gegensinnig“ seien, und Sigmund Freud spricht demzufolge in in der erwähnten Anzeige dieses Werkes von ihrem ,,antithetischen™ Charakter. Uns will scheinen, als wäre diese Definition, wenn nicht unangemessen, so doch

zumindest einseitig. Sie ist nur so lange stichhaltig, als wir uns damit begnügen, das Phänomen des Urwortes mental-rational ausdrücken zu wollen. Das Wort „gegensinnig“ bringt die rein rationale Einstellung der Definierenden klar zum

Ausdruck, und dies sowohl in dem „gegen“ als auch in dem „sinnig“, das hier

deutlich jenen Richtungs-Charakter hat, der dem Worte „Sinn“, wie wir (s. S. 93)

gezeigt haben, innewohnt. Bei Urwórtern aber, wie überhaupt bei allen Urphänomenen, von Gegensatz und Richtung zu sprechen, ist unsinnig, es sei denn, man gäbe sich mit der Erklärung des rationalen Teilaspektes der Welt zufrieden und verzichtete darauf, durchaus wider seine menschliche Natur, das Ganzheitliche

zu gegenwärtigen. Insofern alles Urhafte in dem Maße, in dem es sich bereits

manifestierte, vornehmlich der effizienten Phase des Magischen angehört, in welcher der Ton weder auf dem begrifflichen Gegensatz, noch auf der mythischen Ergänztheit liegt, sondern auf der magischen Einheit, müssen wir die rationale Vorstellung von der Gegensinnigkeit der Urwörter als „Einheit der Urwörter“ bezeichnen: es ist eine Silbe, eine Wurzel oder ein Stamm, die gegensatzlos etwas, das einheitlich ist, zum Ausdruck bringen, etwas Einheitliches, das sich erst später polt und noch später durch unser Denken eine Gegensätzlichung erleidet. DaB der

Beginn einer solchen Polung und Gegensätzlichung bereits in der defizienten Phase

der magischen Struktur eingesetzt oder sich zumindest dort vorbereitet habe, ist anzunehmen. Anfänglich jedoch waren die Urwörter von genau der richtungslosen, ja „sinnlosen“ Ununterschiedenheit, die wir als für die magische Struktur

charakteristisch feststellen konnten. Dem Urwort wurde nun keineswegs, wie Abel es nach dem Referat von Freud annimmt, der positive oder negative „Sinn“, beispielsweise bei den Ägyptern oder Griechen, durch begleitende Zeichen beim

Aussprechen verliehen, sondern dieser „Sinn“ dürfte jedenfalls vor der ägyptischen und griechischen Epoche, durch Dehnung oder Kürzung des Stammvokales,

also durch die lautliche Differenzierung, zum Ausdruck gebracht worden sein. Die Wurzel „mu“, die dem Worte „Mythos“ (s. S.75 £.) zugrunde liegt, mit ihrem kurz oder lang ausgesprochenen Stammvokal, der dadurch „gegensätzliche“ Be-

deutung annahm, dürfte für unsere Ansicht ein gültiges Beispiel sein. Denn es ist stets das auditive Moment und nicht das bildzeichenmäßige, welches wir den an-

finglichen Phänomenen zuschreiben müssen, wenn wir uns an die von uns er-

arbeiteten Resultate halten. Die magische Struktur ist anfänglich durchaus auditiv,

das heißt, das Ohr, nicht das Auge, das Bilder und Zeichen erkennt, ist das magische Organ. Klang und Musik, nicht Bild oder Zeichen, sind die anfänglichen

138

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Manifestations- und gleichzeitig auch Realisationsformen, die dort beide noch eine Einheit bilden. Nirgends ist größere Zeitlosigkeit als in den Augenblicken, da wir, uns der Macht der Musik hingebend, selber zeitlos werden: als Anhörende sind wir fast so zeitlos, wie es der magische Mensch war. Nur hörte er noch differenzierter als wir: alle Sprachen, die noch nicht so rationalisiert sind wie die

europäischen und somit dem magischen Bereiche nachbarlicher, zeichnen sich, wie zum Beispiel die chinesische, durch die klangliche Differenzierung aus, welche

den „Stammsilben“ oder Lauten völlig verschiedene Bedeutungen verleiht. Denn je nachdem, ob der Stammvokal gedehnt, kurz, im Ton aufsteigend oder im Tone fallend ausgesprochen wird, erhält das betreffende Wort im Chinesischen einen anderen Sinn. So betrachtet, könnte man übrigens von auditiver Gerichtetheit

sprechen, der auch das „Gegen-die-Natur-Sein“ des magischen Menschen zugrunde liegt, wovon wir schon gesprochen haben. Und selbst noch im Altgriechischen, ja noch im Lateinischen, wo sich bereits das Metrum, also das men-

tale, messende Moment gegenüber dem organisch vorhandenen des Rhythmus manifestiert (man denke nur an Homer und Vergil), begegnen wir jener uns heute fast verlorengegangenen auditiven, magischen Fähigkeit, die es den Griechen ermöglichte, beim Vortrag einer Hymne oder eines epischen Gesanges nicht nur das Versmaß, den Hexameter, zum Ausdruck zu bringen, sondern auch die ein-

zelnen Worte des jeweiligen Verses ihrer natürlichen Akzentuierung entsprechend

zu betonen, eine Gehórleistung, die um so größer war, als der metrische Akzent selten mit den einzelnen Wortakzenten übereinstimmt. Diese Primordialität des Ohres ermöglicht es uns, dem Phänomen der Urwörter die ihnen gemäße Definition zu geben. Der auditive Sinn ist vielleicht physiologisch gesehen nicht der erste, wohl aber ist er der betontere und spielt im

Magischen die größere Rolle als der visuelle; besser ausgedrückt: beide waren

noch ununterschieden, und insofern das Auge arbeitete, nahm es mehr das Klangfarbliche im Sichtbaren wahr, wie es beispielsweise auf den Aurabildern in Erscheinung tritt, die sich, im Original, durch ihre Farbdifferenziertheit stärker aus-

zeichnen als durch ihre Konturierung. Creuzer, von der Zeit sprechend, die noch

vor der Wirksamkeit der „ältesten Religionsstifter" liegt, macht die Bemerkung, daß damals „Sinnbildnerei für das Ohr . . . noch nicht von der für das Auge geschieden/6 sei; er fühlt also zumindest für das, was wir als effiziente Phase des Magischen bezeichnen, noch die Ununterschiedenheit von Ohr und Auge, eine

Ununterschiedenheit, die dort ja auch generell gültig ist, zumal die scharf konturierten Felszeichnungen erst im Ausgang der defizienten Phase der magischen Struktur entstanden sein dürften.

Jedoch: wir begegnen noch heute selbst in unseren rationalisierten Sprachen Wortpaaren, an denen der Doppelaspekt (Polarität) oder die Doppelwertigkeit

(Ambivalenz) der Ursilbe, die eine Einheit darstellt und ausdrückt, manifest ist.

2. Exkurs über die Einheit der Urwórter

139

Dies ist beispielsweise bei jenem Wortpaar der Fall, von dem unsere Betrachtung ausging. Denn „Maß“ und „Masse“ verhalten sich zueinander wie „Weg“ und „weg“ und wie „Muß“ und „Muße“ (s. 5. 7559). Bei allen klingt in Dehnung und Kürzung des Grundvokales die Doppelwertigkeit dessen durch, was einst eine ununterschiedene Einheit bildete. Das gleiche gilt für ein anderes Wortpaar, das in diesen Ausführungen, die ja immer die Frage des Bewußtseins und damit auch die des ,,UnbewuDten" betreffen, eine gewichtigte Rolle spielt: das Wortpaar „Höhle - Helle". Beide Wörter gehen auf die indogermanische Wurzel „kel“ zurück; urverwandt mit dieser Wurzel sind unter anderem die lateinischen Wörter „clam“, „heimlich“, und „clamare“, „schreien“; ferner die deutschen Wörter „hehlen, Halle, hohl, Höhle, Hülle, Hülse“. Die Wurzel des Wortpaares „Maß — Masse“ ist jene, die der mentalen Struktur

konfigurierend zugrunde gelegt wurde, nämlich die Wurzel „ma : me“. An ihr dürfte uns klargeworden sein, daß die Urwörter anfänglich weder gegensinnig noch ambivalent (und somit auch nicht polar) sind, sondern daß sie gegensinnig

wurden; zuerst polarisiert sich ihre Einheit, um dann zum Gegensatz gemacht zu werden. Die Wirksamkeit dieses Aufspaltungsprozesses — man könnte von

einer Dimensionierung des Urwortes sprechen - dürfen wir nicht übersehen, wenn wir eine ganzheitliche Betrachtung durchführen wollen. Denn fortrationalisieren läßt sich der derartigen Worten eigene anfängliche Einheits- und spätere Polcharakter so wenig, wie sich am Menschen Trieb, Gefühl und Einbildungs-

kraft fortrationalisieren lassen, ohne daß er dadurch zu einem Unmenschen würde. Und eine bloße rationale Analyse kann zwar einiges erklären, ist aber der Tatsache der Einheit oder der Polarität gegenüber reichlich machtlos. Zudem: es kommt nicht auf das „Erklären“ an, sondern auf ein „Klären“.

Halten wir also fest: die Präsenz des Ursprünglichen, die sich in der anfänglichen

Einheit, der aus ihr mutierenden Polarität und der aus dieser mutierenden Dualität manifestiert, ist in den Schlüsselwörtern noch erkennbar. Gebrauchen wir sie, in-

dem wir uns diesen Ursprung gegenwärtig halten und sie ganzheitlich zur Anwendung bringen, so werden auch alle durch sie dank ihrer bezeichneten und bezeichenbaren Phänomene einen zumindest ganzheitlichen Schimmer erhalten

können; aber freilich: es müssen dann unser Gehör, unser Herz und unser Denken gleichzeitig wach sein; und es soll, innerhalb des naturgegebenen Maßes, keines stärker vorherrschen, als es unserer derzeitigen Bewußtseinslage gemäß ist. Da das Vermögen, die Dinge so zu betrachten, wie wir es soeben geschildert haben, vielleicht eine Vorstufe dafür bildet, was wir als aperspektivisches Wahrnehmen oder als konkretisierendes und damit integrierendes Durchsehen oder Durchblicken bezeichnet haben, seien noch einige sprachliche Beispiele genannt, welche die Funktion dessen deutlich machen können, was Wortpaare wie die bis-

her aufgeführten für diese Realisationsweise zu bedeuten vermögen. Denn die

140

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Welt ist, wenigstens für uns, nicht nur ein Begriff, sondern stets und gleichzeitig auch Bild und Klang, und „hinter“ diesen „steht“ die Ursprungsgegenwärtigkeit,

die aber nur dann auch für uns durchscheinend wird, wenn wir diese Weltaspekte gegenwärtigend als Ganzheit betrachten.

Jene Wortpaare wie „Maß — Masse“ oder „Weg - weg“ oder „Muß - Muße“ oder „Höhle - Helle“, in denen noch die anfängliche Einheit dessen sichtbar ist,

was sich später zuerst polarisierte, um dann im Gegensatz zu erstarren, sind verhältnismäßig selten. Sie aufzufinden ist zudem nicht leicht, da uns nur etymo-

logische Wörterbücher zugänglich sind, welche die heutigen Wörter auf ihre

vermutete indoeuropäische Wurzel zurückführen; wir verfügen noch nicht über solche, die wir Wurzelwörterbücher nennen möchten, in denen die Entfaltung der Wurzeln durch die Sprachen hindurch aufgezeigt wird?. Bei einem derartigen Wurzelwörterbuch sollte man auch das berücksichtigen, was wir als die ,,Spiegelwurzel" bezeichnen wollen. Wir verstehen darunter jene Umkehrung der Wurzellaute, welche die „andere Seite" des Wurzelsinnes zum Ausdruck bringt. Um ein Beispiel dafür zu geben, móchten wir kurz beschreiben, wie wir selber im Anschluß an das Wortpaar „Höhle (hehlen) - Helle" zur Auf-

findung dieser Spiegelwurzel gelangten. Seit langem beschäftigte uns schon die wahrscheinliche Wurzelverwandtschaft der Wörter „Logos, Licht und Lüge".

Die indogermanische Wurzel von „Logos“ (λόγος, dessen Verbum λέγω) ist „leg“, die des Wortes „Licht“: „le(u)k“, und die des Wortes „Lüge“ dürfte, wie wir ver-

muten, auf die gleiche Wurzel „leg : le(u)k" zurückzuführen sein.? Diese aber ist ja nichts anderes als die Umkehrung der Wurzel „kel“. Mit anderen Worten: im Spiegel, der alles verkehrt, ist das dunkel Verborgene (das Verhehlte, die Hólle und die Hóhle, die stumm sind) Licht (das auch Stimme ist); oder noch anders ausgedrückt: das Dunkel, „kel“, ist in seiner Umkehrung „leg“. Die Wirksam-

keit dieses Spiegelgesetzes innerhalb der Wurzeleinheit korrespondiert durchaus mit dem, was wir als die speculatio animae bezeichnet haben: was „innen“ ist, wird „außen“ im Spiegelbild sichtbar; was ein Wort direkt ausdrückt, ist das eine;

was es außerdem noch „innen“ unausdrückbar jedoch nicht als Gegensatz, sondern als „Ergänzung“ enthält (und wodurch es eine Einheit ist), wird nur indirekt, nämlich in der Spiegelung (des Wurzellautes) ausdrückbar und damit hörbar. Auch das Wortpaar „Stimme -- Stumme“, auf das wir eben wieder anspielten’°,

bringt die ehemalige Einheit der Urwörter zum Ausdruck. Sie schimmert in den heutigen Worten nicht nur in Kürzung oder Dehnung des Stammvokals durch, wie es bei den Wortpaaren „Maß — Masse" und „Weg - weg“ der Fall ist, son-

dern auch im Vokalwechsel, wie er beispielsweise über das Verbum ,,Hehlen“ zu dem Worte „Höhle“ führt, die mit „hell“ wurzelgemein sind; oder wie er in „Stimme - Stumme“ statthat. Ein anderes Wortpaar, das uns auffiel, lautet: „Tat - Tot“. Zuerst überraschte uns lediglich der Wechsel des initialen „A“ zum

2. Exkurs über die Einheit der Urwórter

141

schließenden „O“, dem Alpha-Omega des Griechischen, sowie seine Verbindung mit dem „T“, das schon in Ägypten und nicht erst als das griechische (tau) ein Lebenssymbol war. Doch diese bloß mythisierende (weil symbolisierende) Interpretation genügt unserem heutigen Denken nicht!!. So gingen wir den Wurzeln

der beiden Wörter nach und fanden, daß es die gleiche Wurzel ist, der diese „ge-

gensinnigen“ Wörter entsprangen. Denn das Verbum „tun“, von dem das Wort „Tat“ abgeleitet ist, geht auf die indogermanische Wurzel „dhe : dho“ zurück; das Wort „Tod“ geht auf die indogermanische Wurzel „dheu : dhou“ zurück.

Und wie eine ausdrückliche Betonung der Ureinheit dieser Wörter mutet es an, wenn wir erfahren, daß sich von ihrer Doppelwurzel das Wort „dad“ ableitet, das im Altsächsischen „tun“, im Altfriesischen. „tot“ bedeutet!2,

Es ist nicht zufällig oder willkürlich, daß wir gerade auf dieses Wortpaar eingehen. Wir werden auf die sich in ihm aussprechende Grund- oder Urkonzeption, daß das Leben auch den Tod beherberge, später noch zurückkommen.

Sie ist für

unsere Betrachtung von gleicher Wichtigkeit wie jene, die sich in der anfänglichen Einheit von „Höhle“ und „hell“ zu erkennen gibt.

Streifen wir abschließend nur noch jene bekanntere Form, in welcher das, was

wir als „Einheit der Urwórter" bezeichneten, in der Gegensätzlichung unserer

rationalisierten europäischen Sprachen sichtbar wird, beispielsweise das Wort

„kalt“, das als „caldo“ und „chaud“ im Italienischen und Französischen nicht „kalt“, sondern „heiß“ bedeutet. Dieses Wechselspiel, das in der einen Sprache den einen Aspekt, in einer anderen den „gegensätzlichen“ Aspekt der einst ein-

heitlichen Bedeutung des Urwortes aufklingen läßt, ist häufiger, als man ver-

muten könnte!3, Und des Überdenkens wert dürfte dieser Prozeß sein, wenn er sich bei einem Schlüsselwort der abendländischen Vorstellungswelt zu erkennen gibt: das lateinische „deus“ und das französische „dieu“ gehen auf das gleiche Sanskritwort „deva“ zurück, wie das englische „devil“ und das deutsche „Teu-

fel“14,

Zu den Rückschlüssen, welche die Einheit der Urwörter uns nahelegt, zählt vor allem der bereits erwähnte: innerhalb des Mediums, dessen wir uns zur Darstel-

lung des Ganzheitlichen bedienen müssen, also innerhalb der Sprache, finden wir ganzheitliche Anklänge, die „hinter“ der Einheit der Urwörter hervorleuchten,

wodurch der Sprache selbst jener Ganzheits-Charakter wiedergegeben wird, der Voraussetzung

stellung ist.

für das Gelingen einer das Ganzheitliche „anstrebenden“ Dar-

Ein weiterer Rückschluß,

der sich vor allem auch aus der auditiven Akzen-

tuierung des Magischen ergibt, besteht darin, daß wir durch die Sprache selbst Aufklärung über gewisse primordiale Zusammenhänge erhalten können, so wir

auf sie hören und ihr in dem gleichen Maße folgen, wie wir sie selber zu formen

glauben. Denn es gibt Wörter, die zueinander gehören, andere, die einander zu

142

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

entsprechen scheinen, andere, die, sich ergänzend, ein Bild formen, andere, die folgerichtig im Gegensatz zueinander stehen. So ist es beispielsweise nicht zufällig, daß man von einer Bitte oder einem Gebet sagt, es werde erhört; daß „erhört“ wird, daß bei der Bitte also und dem Gebet ein Hörendes Antwort gibt, dieser auditive Vorgang weist uns darauf hin, daß er, wie alles, was mit dieser

Äußerungsform zu tun hat, magischen Charakter trägt. Genau so wenig zufällig dürfte es sein, daB Wünsche erfüllt werden; „erfüllen“ läßt sich jedoch nur etwas,

was sich schließen kann, also vornehmlich der Kreis, also das Psychische, das auf den Wunsch Antwort gibt, wobei die Tatsache, daß man von einem Wunschbild oder Wunschtraum spricht, ja sogar dem Worte „Traum“ den gleichen Inhalt wie dem Worte „Wunsch“ zubilligt („es ist mein Traum ... für „es ist mein

Wunsch“), es uns deutlich macht, in welchem Maße alles Wunschmäßige der psychisch-mythischen Struktur in uns, der das Bild- und Traumhafte eignet, entspricht. Und es ist gewiß auch kein Zufall, wenn die Sprache mit dem Worte „Wille“ weder ein Erhörtwerden noch ein Inerfüllunggehen verbindet, sondern den „Willen“ sein Ziel erreichen läßt, womit sie ihn der mentalen Struktur zuordnet!5,

Denken wir an diese urtümlichen Zusammenhänge und vergessen wir dabei nicht, daß „denken“ und „danken“ stammverwandt 3171416, und vergessen wir auch nicht, daß „leben“ und „lieben“ desgleichen stammverwandt sind", so

mag aus der Anregung, auf die Sprache zu „achten“, eine noch weitere Wachheit als nur eine Achtsamkeit (den Ausdrucksgehalt der Zahl 8 betreffend siehe oben S. 24), nämlich

die gewissermaßen überwache Durchsichtigkeit,

entstehen,

der

vielleicht nicht nur das Vergangene, sondern auch das Künftige gegenwärtig zu sein vermóchte!$,

Schließen wir diesen Exkurs mit dem einzigen Beispiel eines vollständigen Ur-

wortes ab, dem wir in unserem heutigen Deutsch begegneten, dem Worte „All, von dem bereits in den bisher gegebenen Querschnitten ersichtlich wurde, in welchem Maße es für die archaische Struktur von Wichtigkeit sein dürfte. Dieses Wort bietet uns in der deutschen Umgangssprache, die weniger rationalisiert ist

als die Schriftsprache, ein Beispiel des reinen Urwortes, das ohne Ton- und Vokal-

änderung seinen urwörtlichen Einheitsaspekt zum Ausdruck bringt. Dieses Wort, welches das umfassendste Vorhandensein bezeichnet, kann gleichzeitig auch ein gänzliches Nichtvorhandensein ausdrücken: sagt man doch, wenn von dem, was man suchte, nichts mehr vorhanden ist, es sei „alle“.

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse Die Querschnitte, die sich im ersten Abschnitt dieses Kapitels ergaben, und die wir in dem ersten Teil der synoptischen Tafel zusammenfaßten, führten uns zu der Aufzeigung verschiedener Fragen und Gesetzmäßigkeiten, die wir unter dem Signum Maß - Masse vereinigen konnten. Als Gesetzmäßigkeiten stellten wir vor allem vier fest: I. die BewuBtseinszunahme und die Dimensionenzunahme bedingen einander und führen zudem zu einer wachsenden Dinglichung der Welt; somit stellt sich

das MaB-Masse-Problem hier in der Form des Überganges des MaBvollen in die Mehrung und in die (materielle) Massung; es stellt sich also vornehmlich unter

seinem Masseaspekt und damit anscheinend als rationales Problem; 2. ein Wechsel von Maßvollem und Maßlosem zeigt sich in dem, was wir den

Atmungs-Charakter der Strukturen nannten; hier stellt sich dieses Problem nicht unter einseitiger Betonung eines seiner Aspekte (nämlich wie im vorhergehenden Falle unter dem der Masse), sondern als ein polares, insofern das Ausatmen dem

Einatmen naturnotwendig folgen und damit entsprechen muß; und es stellt sich insofern unter einen biologischen Aspekt, da es den Atem betrifft, dem wir aber

auch psychisch polare Werte überbinden dürfen; es stellt sich hier also vornehmlich als psychisches Problem (s. S. 84);

3. ein gewisser Ausgleich (der immer die Voraussetzung einer Einheit ist) vollzieht sich zwischen dem, was wir als Minderung des Ganzheitsbezuges bezeich-

neten, die jedoch durch die Mehrung der Bewußtseinskräfte, die sich ihr eigenes Bezugssystem erschließen, anscheinend aufgehoben wird. Hier stellt sich das Maß-Masse-Problem in seinem Einheitsaspekt und somit also vornehmlich als magisches Problem; 4. MaD und Masse sind es, die die zwei Hauptphasen jeder Struktur charakterisieren, denn gesetzmäßig wiederholt sich in jeder einzelnen Struktur, daß die

qualitative (maBvolle) Form, die effizient ist, von der quantitativen (maßlosen) Formlosigkeit, die defizient ist, abgelöst wird. Hier nun stellt sich dieses Problem anscheinend in seiner mentalen Form, da wir dieser Gesetzmäßigkeit einen Kausalkonnex anmessen könnten; wir werden jedoch sehen, daß er sich hier als ganzheit-

licher Ausdruck manifestiert, denn einzig eine Vermassung, welche die Erschöp-

fung des jeweils wirksamen Qualitativen anzeigt, ist die Gewähr einer neuen Mutation, die „dem Ganzen" selbst zu entspringen scheint, das an jeder Mutation ausschlaggebend mitbeteiligt ist; andererseits darf man vermuten, daß die im

Menschen sich vollziehenden Mutationen die Integrierung ins Ganze „anstreben“ oder ermöglichen sollen.

In dieser Aufzählung wird deutlich, warum wir uns nicht damit begnügten, ohne Umschweife unter dem. Motto des gegensätzlichen Begriffspaares Maß — Masse

144

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

an die Betrachtung dieser vier „Gesetzmäßigkeiten“ heranzutreten. Wir hätten dann nur mental meßbare Teilresultate erzielt, die zudem dastatsächlich Wirkende

entstellt hätten. Da wir jetzt wissen, daß sich in dem Wortpaar Maß - Masse nicht nur jene Gegensätzlichung findet, die wir als Rationalisten damit ausdrücken, sondern daß es auch das polare Moment und grundlegend das einheitliche Element mitenthält, so können wir mit der Ganzheit dieses Wortpaares sowohl

einzelne Aspekte als auch das Ganzheitliche der Dinge und Probleme ermitteln, die sich uns, mental bezeichnet, als Gesetzmäßigkeiten darstellen.

Wenn es uns also gelingt, uns gegenwärtig zu halten, daß dieses Wortpaar Maß Masse durchaus nicht nur einen Gegensatz bezeichnet, sondern auch als Ergänzung gilt und anfänglich eine Einheit darstellt, so werden wir, obwohl wir uns jeweils nur mit einem Teilaspekt beschäftigen können, doch das Ganzheitliche, das sowohl dieses Wortpaar als auch das Insgesamt der Teilaspekte darstellt, bewußt zur Wirkung bringen können. Ein bloßes Aufzeigen von Gesetzmäßigkeiten muß unbefriedigend sein, zumal es sich bei ihnen meist um von uns in die Dinge gesetzte Maße handelt, um Dinge, die wir so schildern, daß dieses Setzen der Maße möglich wird. Wir räumen diesen Gesetzmäßigkeiten nur insofern einen Wert ein, als sie etwas zu zeitigen vermögen: räumliches Denken soll durch die Zeit-Intensität (s. Teil II, Kap. I, 1) ergänzt werden. Gelingt uns dies, so nähern wir uns nochmals dem Ganzheitlichen. Es sei also

der Versuch gewagt, aus dem bisherigen Resultat, das in den Querschnitten 1-8 der „Synoptischen Tafel“ und in der Aufzählung der vier „Gesetzmäßigkeiten“ besteht, die sich von den Querschnitten ablesen lassen, eine Zwischenbilanz zu

ziehen. Wir wollen sehen, welche Folgerungen die einzelnen Gesetzmäßigkeiten zeitigen können, und sie der Reihe nach auf ihre möglichen Ergebnisse hin betrachten. Es ist heute wohl mehr denn je üblich, Bilanzen zu ziehen, nach Verlust und Gewinn zu fragen. Und das, was wir als Dimensionsgewinn bezeichneten, führt uns

sogleich mitten hinein in Überlegungen, die sich aus der festgestellten Bewußtseins- und Dimensionszunahme ergaben. Wir sahen, wie mit jeder neuen Muta-

tion eine neue Dimension in Erscheinung tritt und wirksam wird. Es wird also

durch jede neue Mutation ein Dimensionsgewinn erzielt. Dieses jeweilige Mehr

einer Dimension stellt nun ohne Zweifel einen „Fortschritt“ dar, und zwar einen,

den wir vielleicht als Fortschritt vom Maß zur allmählichen Maßlosigkeit der Masse bezeichnen könnten, besonders dann, wenn wir eine immer weitergehende

Dimensionierung, Ausweitung oder Erweiterung des Bewußtseins für wünschbar hielten. Aber nicht auf eine Bewußtseins-Erweiterung, sondern auf eine Bewußt-

seins-Intensivierung kommt es an. Wir haben soeben den Begriff ,,Gewinn" im Zu-

sammenhang mit dem Begriffe „Fortschritt“ gebraucht, der ja einen Verlust ausdrücken dürfte. In dieser Figuration spricht sich das aus, was wir von einem dua-

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

145

listischen Standpunkt aus positiv bewerten können, da sie ein „Mehr“ einschließt; es spricht sich in ihr zugleich aber auch ein Negativum aus, da diesem Mehr bilanzmäßig ein Weniger gegenübersteht: denn das Überhandnehmen des fortschrei-

tenden Mehr führt zur Auflösung und kann in letzter Konsequenz zur Atomisierung führen. Damit aber befinden wir uns genau an der Stelle, an der sich die Angst unserer Epoche manifestiert: das dualistische Entweder-Oder wird hier als un-

überbrückbare Alternative überdeutlich und stellt drohend alles in Frage: entweder Fortschritt, wie ihn die „Exoteriker“ (z. B. die Technologen) versprechen

und prophezeien, also nur weitere Quantifizierung und Abwendung vom Ursprünglichen - oder Rückwendung zum Ursprünglichen, wie sie die „Esoteriker“

(die Geheimwissenschaftler) predigen. Aber beides, einerseits ein Überdrehen des

Rades (nach vorwärts), andererseits der Versuch, das Rad zurückzudrehen, ist

illusorisch, wie jedes bloße Vorwärts oder Rückwärts illusorisch ist.

Diese Alternative, die symptomatisch für die Situation der defizient gewordenen mentalen Struktur ist, nämlich für ihre quantitative, rationale Phase, hat also nur bedingte Gültigkeit. Ihre Gültigkeit erschöpft sich in der Gültigkeit des Dualistischen. Diese Alternative ist vom Ganzheitlichen aus gesehen eine bloße Pseudoalternative, „lösbar“ höchstens durch einen synthetisierenden Kompromiß, der fast nur in der mentalen Vorstellungswelt Wirksamkeit hat - also letztlich unlös-

bar ist: die dualistisch-trinitire Weltkonzeption ist an ihren eigenen Grenzen angelangt, und selbst ein Transzendieren dieser Konzeption, wie es die Philosophie immer von neuem anstrebt, ist insofern illusorisch, als jedwedes Transzendieren bloßen messenden Raumcharakter hat. Nur räumlich Begrenztes kann transzendiert, das heißt: überschritten werden. Zeitliches, also Fristen, werden höchstens

in der Banksprache überschritten. Der Raumcharakter, der somit jedem Transzendierungsversuch anhaftet, richtet diesen Versuch selbst - und er richtet ihn in des Wortes doppelter Bedeutung: er zielt auf weitere bewußtseinsbetonte und rechthabende Vertiefung ab, also auf weitere perspektivische Fixierung; und gleichzeitig verurteilt er sich selbst.

Bei der Dimensionierung der Strukturen, in der sich das MaB-Masse-Problem darstellt, handelt es sich also, sollen wir nicht in der dualistischen Sackgasse (die jeweils nur die Extreme kennt) steckenbleiben, nicht um Verlust oder Gewinn; auch handelt es sich, nehmen wir diese Dimensionszunahme als Bild oder Aus-

druck einer Entfaltung der Menschheit, weder um einen Abstieg derselben noch

um einen Aufstieg, wie es einerseits die Traditionalisten, andererseits die Evolutionisten darzustellen sich bemühen, wobei die einen den Akzent auf den nach-

weisbaren Verlust gewisser Fähigkeiten des Menschen legen, die anderen auf die nachweisbaren neuen technischen Errungenschaften hinweisen. Dabei übersehen aber beide, daß nicht nur Verlust oder Gewinn entstand, sondern daß eine Umlagerung stattfand. Einst war. der Mensch selber, das heißt sein Körper, das IO

146

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Instrument, mit dem er beispielsweise fernsehen und ferndenken oder die Feinstrahlung der Aura wahrnehmen konnte; heute fertigt er sich für diesen Zweck Instrumente. Damit soll nichts über den Wert des einen, des natürlichen Instruments, oder den Unwert der anderen, der gefertigten Instrumente, ausgesagt sein. Aber schon die Tatsache der Quantität, ja der Quantifizierung der gefertigten Instrumente könnte nachdenklich stimmen, und dies selbst da, wo essich um hoch-

wertige Präzisionsinstrumente handelt. Ihre Bekämpfer werden sie zwar alle als Ersatz bezeichnen, ihre Verteidiger von Bereicherung sprechen; und beide können gewichtige Gründe für ihre Ansichten anführen. Doch dieser Kampf der Meinungen bringt keine Lösung dieses Problems, sondern nur ein jeweils befristetes Obsiegen der einen oder anderen Meinung. Insofern aber die Maschine eine Entäußerung ist, nämlich die Hinausstellung eigener menschlicher Fähigkeiten, ist

sie, psychologisch ausgedrückt, eine Projektion. Auf die entscheidende Rolle der

Projektion für die Bewußtwerdung wiesen wir schon hin: erst über sie, die im Außen sichtbar werden läßt, was im Innen schlief, wird der Mensch - oder besser: kann dem Menschen dieses Innen bewußt und damit denk- und richtbar werden. Alles Machen, sei es nuri magisches Zaubern, sei es rationale technische Konstruktion einer Maschine, ist eine Entäußerung innerer Kräfte oder Gegebenheiten

und damit ihr Sichtbarmachen im Außen. Jedes Werkzeug, jedes Instrument,

jede Maschine ist nur die Nutzanwendung (also auch perspektivisch gerichtete Anwendung) der im Außen wiedergefundenen Gesetze des „Innen“, und zwar der Gesetze des eigenen Körpers. Alle physischen und physikalischen Grundgesetze wie Hebel, Zug, Lager, Bindung, alle Konstruktionen wie Labyrinth, Gewölbe und so weiter, alle diese technischen Errungenschaften oder Erfindungen sind in uns vorgegeben. Jede Erfindung ist vor allem ein wiederfindendes, nachahmen-

des Herstellen jener organmäßig und physiologisch in der Struktur des Menschen vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten, die dadurch, daß sie ins Außen, ins Werkzeug projiziert wurden, bewußt werden können. Dies gilt auch für die soeben erwähnten Fähigkeiten des Fernsehens und Fernwissens oder -denkens, über die der magische Mensch von Natur aus verfügt — und nicht wie wir, durch Radio oder Fernsehapparate. Die Überwindung von Zeit und Raum, das heißt: ihre Ausschaltung, wird heute durch diese Apparate geleistet, da der heutige Europäer,

der in der bewußtseins-erhaltenden Raum-Zeit-Welt befangen ist, sie durch sich selber kaum mehr zu leisten vermag. Dieser Ausschaltung bedarf der magische Mensch überhaupt nicht: ihm ist das Ausgeschaltetsein von Raum und Zeit natürlich, da er selbst in der raum-zeitlosen Welt lebt und webt, da er zutiefst in diese

eingeflochten ist. Die Taten der Yoghis sind so gesehen keine Wunder, sondern naturgemäße Vorginge’9; ein Wunder dagegen wäre es, wenn in einer raum-

zeitlosen Welt derartige an Raum und Zeit nicht gebundene Vorgänge oder

Phänomene nicht statthätten. Durch die Bewußtseinsentfaltung begab sich der

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

147

Europäer weitgehend dieser Fähigkeiten, aber er ersetzte sie durch die projizierte Entäußerung in den Fernsehapparat und das Radio (die Riesenteleskope gehören auch hierher, denn der magische Mensch „sah“ und „wußte“ um das, was wir

durch sie allerdings nur optisch und ausschnitthaft entdecken). So betrachtet,

kann man auch sagen: wir hätten keine derartigen Apparate, wären wir genuin nicht aus uns selbst zu jenen Leistungen fähig, die mit ihnen vollbracht werden können. Diese Überlegung zeigt auch die Grenzen der Technik auf, insofern sie nämlich durchaus nicht zu der eingebildeten Allmächtigkeit des Menschen ver-

helfen kann; sie muß im Gegenteil zu einer Allohnmächtigkeit führen, sofern

dieser Vorgang der physischen Projektion?? nicht realisiert wird. Denn es gehört zu den Erfordernissen der Projektion, daß sie nicht unbefristet bleiben darf, son-

dern daß sie integriert werden muß. Diese Integrierung ist aber nur durch Rück-

nahme der Projektion möglich, eine Rücknahme, die jedoch stets nur aus einer

neuen Bewußtseinsstruktur heraus realisierbar ist: psychische Projektionen kön-

nen nur durch das mentale, bewußte Verstehen aufgelöst werden; materielle (physische) Projektionen also vielleicht durch die integrierende geistige Fähigkeit

des „Durchscheinens“ Jedenfalls mag sich hier eine Möglichkeit für die Lösung des Problems der Technik zeigen, ein Problem, das ja in keinem Falle durch weiteres Fortschreiten der Technik gelöst werden kann. Die erwähnte Rücknahme

braucht, dies sei ausdrücklich angemerkt, durchaus nicht zur vollständigen Annullierung — die eine Auflösung und keine Lösung wäre -, der Ratio und damit auch der Technik führen; die Rücknahme der psychischen Projektionen führt ja

in diesem Sinne auch nicht zu einer Annullierung der Psyche; aber sie stellt dank

der Kraft der neuen zusätzlichen Struktur ein neues Gleichgewicht her. Daß dies nötig ist, wird wohl kaum bestritten werden. Die Umlagerung gewisser Fähig-

keiten aus der qualitativ betonten, natürlichen Instrumentenhaftigkeit des frühen Menschen in die entäußerte Instrumentenhaftigkeit der Maschine brachte jedoch nicht nur eine Quantifizierung mit sich. Denn es sollten durch die Entäußerung Kräfte für die Leistung neuer Aufgaben frei geworden sein und frei werden. Ein Beispiel dafür ist, daß der bloß vitale, also magische Mensch nicht in unserem Sinne

denkbefähigt ist. Diese Befähigung jedoch als Negativum zu betrachten, wie es hin und wieder vornehmlich seitens der Traditionalisten geschieht, heißt lediglich

die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen - ist also nur ein Kampf des Sinn-

und damit Richtungslosen (Irrationalen) gegen das Sinn-, also Richtungshafte, das

nicht nur mental-rational ist, sondern, bereits dem organischen Geschehen eingelagert, in der mentalen Struktur bewußt wird. Trotzdem besteht die heutige Fragestellung nach dem „Sinn“ unserer heutigen Welt zu Recht, da Quantifizierung oder die Isolierung zu einer materiellen Sinnlosigkeit bereits weitgehend geführt haben. Daß aber diese Frage nach dem Sinn gestellt werden kann, dürfte doch wohl nichts anderes heißen, als daß

die bloße führen, ja überhaupt der Sinn -

148

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

in Frage gestellt ist. Die Sprache sagt immer mehr aus, als wir mit unserem fixierten, sektorhaften Denken und Erfassen realisieren. Sei dem, wie ihm wolle, was uns hier interessiert, ist die Feststellung: die evolutionistische Vorstellung, die nach vorn, auf die Zukunft gerichtet ist, ist aus ihrer Einseitigkeit heraus genau so illusorisch, wie es die traditionalistische Einstellung ist, die sich, nur das Einheitliche erfühlend und erhörend, nach rückwärts wendet. Diese heute die Menschheit ängstigende Fragestellung, die sie in die Enge, nämlich in die engste Enge, also in die Angst treibt, entwuchs dieser Angst selber.

Diesem Angstproblem, das gleichzeitig Licht auf unsere Darstellung werfen kann,

wollen wir einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Vor allem sei auf den Zusammenhang von „Angst“ und „eng“ hingewiesen2!, weil in letzter Zeit mit der sogenannten ,Urangst eine teils magisierende, teils mythisierende

Aufbauschung getrieben wird, die unnötig die defizienten Mächte und keineswegs

etwa die effizienten Kräfte der magischen und mythischen Bewußtseinsstrukturen in uns aktiviert und damit die heutige Situation nur verworrener macht, statt sie zu klären. Die Schürer dieser Angst sind, den jeweils vorherrschenden Strukturen entsprechend, teils die Vitalisten und Emotionalisten, teils die Psychisten, wenn nicht sogar weitgehend die Nichts-als-Psychologen, sowie jene Okkultisten, welche die nicht eingesehenen Grundkräfte dieser Strukturen ununterschieden aktivieren; nachher sind sie freilich, falls es ihnen überhaupt je zum Bewußtsein kommt, höchlichst überrascht, wenn das unwissend Getane, das

immer magisch ist, bedrohend auf sie zurückschlägt. So werden sie Opfer ihres eigenen Tuns; und unfähig, den entfesselten Mächten allein standzuhalten, gehen sie, selbst schon Getriebene, mit der dann auftretenden „Urangst“ hausieren, um doch irgendwo sich als Treiber, sei es selbst nur einer Herde, zu fühlen. Angst entsteht immer dort - sei es nun im Einzel-, im Sippen-, im Völker- oder im Menschheitsleben -, wo aus der Erschöpfung einer Haltung die Ausweglosig-

keit aus dieser Haltung bewußt oder unbewußt evident wird, weil diese Ausweg-

losigkeit nun nicht mehr den Machtcharakter, sondern den Ohnmachtcharakter der betreffenden erschöpften, also kraftlos gewordenen Haltung spiegelt. Angst ist stets das erste Anzeichen dafür, daß eine Mutation in ihren Ausdrucks- und

Wirkungsmöglichkeiten zum Ende gekommen ist, so daß sich neue Kräfte stauen, die, da sie sich stauen, Beengung hervorrufen. Im Kulminationspunkt der Angst werden diese Kräfte sich jeweils befreien; das aber ist dann stets gleichbedeutend mit einer neuen Mutation. So gesehen ist die Angst die große Gebarerin22. Und auch die Höhlenenge, welche die Helle potentiell enthält, gehört zu ihr, sowie der

jeder Angst innewohnende Wunsch, daß das, was man sich anängstet, Durchgang zum Gegenpol: zur Weite und Helle sei. Die Angstorgien der Renaissance,

beispielsweise ihre Totentänze und ihre maßlosen Weltuntergangsphantasien, brechen durchaus nicht zufällig genau in dem Moment ab, da die Perspektive

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

149

durch Leonardo da Vinci wirkende Gestalt annimmt. Jene Angstorgien stehen in einem ursächlichen Konnex mit dem Durchbruch zu einer notwendigen, neuen Weltdimension, durch welche die dreidimensionale perspektivische Welt endgültig konstituiert wurde. Und die heutigen Angstorgien, Weltuntergangsphantasien und Massenpsychosen dürften parallele Erscheinungen der gleichen Art sein, wie es jene der Renaissance waren23, Auch die Dionysien, insoweit sie rauschhaft waren und sich bereits teilweise von dem urtümlichen numinosen Schauder (s. Teil I, Kap. VI, 2) gelöst hatten, der selber nichts mit Angst zu tun hat, mögen

schon diesem Angstcharakter entsprungen sein, der in dem Moment abklingt, da die damals neue Struktur gewonnen ist: mit der klassischen antiken Tragödie.

Jene Fragestellung, die einerseits den Fortschritt, andererseits die Wiederanknüpfung an das Vergangene in Frage stellt, löst sowohl die Angst aus, wie sie auch selber durch die Angst ausgelöst wird. Und insofern dieses Problem heute alternativ gestellt wird, ist jede einseitige Lösung illusorisch; sie ist es, weil sie zeitbedingt und mental, ja mentalitätsbedingt ist. Die einen stellen auf das nur Meßbare

ab, die anderen auf das Unmeßbare; positiv oder negativ sind beide jedenfalls

der mental-rationalen Weltkonzeption verfallen, die einseitig messend, dualistisch und aufteilend, und im übrigen vorübergehend ist, woran die wenigsten zu denken scheinen. Es handelt sich weder um Verlust noch Gewinn; es handelt sich

weder um Abstieg noch Aufstieg. Es handelt sich um eine Umlagerung, um eine mutierende Entfaltung, die auf dem irdischen Schauplatz, also innerhalb der Raum-Zeit-Welt,

in der sie, sich vollziehend, in Erscheinung tritt, sowohl negativ als positiv ist;

aber sie ist es nur hinsichtlich der Erde, hinsichtlich dieses Kampfplatzes, Spiel-

feldes, Schauplatzes, Bewährungsortes; „außerhalb“ dieses Bereiches — insofern wir überhaupt von einem unzulässig räumlichenden „Außerhalb“ sprechen dürfen - steht, fast untangiert vom Irdischen, da selber das Irdische nur tangierend,

jener „Kern“, der wahrscheinlich mit der Ursprungsgegenwart identisch ist, und

der als solche auch den Menschen, und zwar jeden Menschen als einzelnen, bildet oder formt, gestaltet oder richtet. Was hier notdürftig als „Kern“ bezeichnet wird, um Begriffe wie Essenz, Wesenheit, Substanz, Über-Ich, Selbst, göttlicher Funken und andere zu vermeiden, möchten wir mit dem Ausdruck „das Sich“ umschreiben, das in der Reflexivität des Ich sichtbar werden kann, ohne in den Autismus oder in den Narzißmus eines „Selbst“ zu verfallen, und ohne die psychische Färbung des mystischen „göttlichen Funkens“ anzunehmen, der sich durch seine Feuer-Geist-Symbolik (s. Teil I, Kap. VI, 6) als der psychisch-mythischen Struktur verhaftet zu erkennen gibt. Das Un-

persönliche, das in der Reflexivität seine Bindung an das Persönliche evident

macht, sowie die Distanz zu sich selber, die in unserem Sinne das „Sich“ auszeichnen, legen uns diesen Ausdruck nahe. Zwischen dem bloßen „Ich“ und dem „Sich“ besteht jener Gradunterschied, der am besten anschaulich wird, wenn wir

150

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

an das denken, was ein „ich sehe“ im Verhältnis zu einem „sich sehen“ ausdrückt. Und insofern als im grammatischen Sinne eine Abhängigkeit zwischen dem Sich und dem Ich besteht, trifft dieser Befund durchaus zu: denn die grammatische Struktur ist ja, insofern sie Ausdruck innerer Gegebenheiten ist, deren Spiegel. Zu diesen inneren Gegebenheiten sind in unserem Sinne, da es sich bei ihnen um ,,un-

sichtbare“ handelt, auch die sogenannten „außerplanetaren“ zu rechnen. Daß auch die grammatische Struktur ein Spiegel „innerer“ Gegebenheiten ist, sagt aus und bedeutet, daß das Ich in der eigentlich wirksamen Sphäre von dem Sich abhängig

ist. So betrachtet, liegt hier eine Mutationsmöglichkeit: jene aus dem hypertrophierten Ich-Bewußtsein, das heute entweder im Wir-,, UnbewuBtsein“ (der Vermassung) untergeht oder in seiner Eigen- oder Selbststeigerung sich hoffnungslos

isoliert, in das Sich-Bewußtsein, das sich nicht nur auf jedes Ich, sondern auch auf jedes Du, jedes Es und auf alle Wir bezieht. So gesehen ist dieses Sich das alles Durchscheinende, und es vermag in ihm das „Diaphangeistige“ in seiner Ursprungsgegenwärtigkeit durchsichtig zu werden. Jene Ursprungsgegenwärtigkeit, die an sich vorräumlich und vorzeithaft ist und nicht etwa magisch raum- und

zeitlos, nimmt mit ihrer Vorräumlichkeit und Vorzeithaftigkeit die magische Raum-Zeitlosigkeit auf die gleiche Weise voraus, wie diese Raum-Zeitlosigkeit

ihrerseits, wenn auch scheinbar formlos, Raum und Zeit vorausnimmt. Im menschlichen Sich und durch das menschliche Sich könnte das mit ihm ,,Korre-

spondierende", die Ursprungsgegenwätrtigkeit, diaphan sichtbar werden.

Diese Sichtbarmachung ist móglicherweise das Entscheidende und würde das „Neue“ bringen, das heißt, sie brichte oder wäre der Ausdruck der neuen Mutation. Und hier sei nochmals darauf hingewiesen, daß das Diaphainon, also das Durchscheinende, nichts mit alledem zu tun hat, was mental mit den Begriffen

Essenz, Existenz, Substanz und ähnlichem bezeichnet, was psychisch mit den

Bildern oder Symbolen des Feuers, der Sonne, des Funkens, des Lichtes umschrieben, oder was magisch als durch eine irgendwie geartete oder abgestempelte Ein-

heit ausgedrückt wird. Diese Begriffe, Bilder und Einheiten fristen nur ein jeweils rational gerechtfertigtes, mythisch gegründetes oder magisch geeintes Schein-

dasein; denn sie haben - vor allem die Begriffe - ihre räumliche Begrenztheit, da

sie aus der sie erst ermóglichenden Seins-, Raum- und Denkwelt hervorgehen, die selber nicht nur befristet, sondern auch begrenzt ist. Das Diaphainon reiht sich also weder in eine Symbolik noch in eine Methodik ein; es ist weder psychisch

noch mental, noch ist es magisch abstempelbar. Im Menschen und durch den

Menschen hindurch mit sichtbar werdend, ist es der Ausweis einer neuen Mutation, durch welche die vorhergehenden raumzeitlichen Entfaltungen, wie sie sich in der zunehmenden Dimensionierung des Bewußtseins darstellten, integriert und

„sinnvoll“ werden. Insofern nun diese raum-zeitlichen Entfaltungen oder Auf-

blätterungen die Bewußtwerdung der Ursprungsgegenwärtigkeit ermöglichen,

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

151

tritt diese aus der unbewußten und ungesehenen Wirksamkeit diaphan in die bewußte und gesehene ein; sie mutiert im Menschen selber — oder ist es der Mensch, der auf sie hin oder in ihr mutiert? —; und zwar mutiert sie in ihm aus ihrer Vor-

räumlichkeit und Vorzeithaftigkeit zu einer sich im menschlichen Sich wirkend

darstellenden raumfreien und zeitfreien Gegenwärtigkeit des Ursprünglichen. Das Sich ist also, versuchen wir es rational gegensätzlichend zu definieren: einerseits unser „tiefster Wesenskern“, die Intensität „in“ uns, die sowohl raum- als

zeitfrei ist und die mit der vorräumlichen und vorzeithaften Ursprungsgegen-

wärtigkeit korrespondiert; und es ist andererseits diese Ursprungsidentität selbst, welche überall hindurchscheint, die alles durchscheint, und die für uns - mutieren

wir aus dem bloßen Ich-Bewußtsein, das raum-zeithaft gebunden ist, heraus -, auch für uns durchsichtig wird wie die ganze Welt, ja wie selbst das, was man als die Un-welt bezeichnen könnte. Bei dieser Definition - und dies Wort drückt ja bereits ein Abgrenzen aus, das dem Diaphainon inkongruent ist — dürfte das rationalisierende „einerseits - andererseits", also die Teilung, es deutlich gemacht

haben, wie wenig der dualistische Ausdruckszwang unserer heutigen Sprachen der Annäherung an das Ganze förderlich ist, während eine bloß regredierende

Ausdrucksweise, die sich der psychischen (polaren) oder der magischen (einheit-

lichen) Momente

bediente, durchaus zu Recht wegen ihres irrationalen Charakters

(der seinerseits einseitig ist!) dem heutigen Menschen zweifelhaft erscheint. Mit diesen Andeutungen streiften wir bereits Möglichkeiten der aperspektivischen Welt. Diese Vorausnahme soll als Orientierungsblick auf eine sich erst allmählich erschließende und nur allmählich darstellbare neue Landschaft gewertet werden. Aber wir streiften zudem in der aufgeworfenen Problematik von Auf- oder Abstieg Geheimnis und Schicksal des Menschen; möglicherweise

nicht nur des Menschen. Was aber besagen die Worte: Geheimnis und Schicksal? Vor allem: wo haben sie Gültigkeit: Es sind Worte einerseits der Unfreiheit, andererseits der Freiheitslosigkeit, und sie gehóren zwei verschiedenen

Bewußtseinsstrukturen an, die ihr Wesen durch sie aussprechen: das Geheimnis

entspringt dem magischen Bereich, es ist der unlósbare Bezug zur Verborgenbeit und zur Geborgenheit der dunkelen Höhlenwelt, es ist das Heimliche, das durch das Unheimliche, nämlich durch das Schicksal, abgelöst wird; und das Schicksal ist seinerseits der mythischen Struktur zugesellt: denn Schicksal ist nichts Geheimes oder Heimliches, es ist nicht Geborgenheit der Höhlenwelt, sondern ist AusgestoBensein aus dieser, ist unheimlich sich erfüllendes Geschehen, das unabänderlich erscheint, da der mythische Mensch, dem der mentale Wille noch nicht eignet,

an den sich schicksalsmäßig erfüllenden und vollziehenden Ablauf der Gescheh-

nisse gebunden ist.24 Für die integrale Struktur sind diese Wörter ebenso irrelevant wie das mentale

Urteil darüber, ob die Menschheit einen Aufstieg oder Abstieg absolviere, oder

152

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

wie die Frage nach Verlust oder Gewinn: Aufstieg und Abstieg bezeichnen Gerichtetsein, Gewinn und Verlust bezeichnen polarisierend Leben und Tod, gegensätzlichend Maß und Masse: ob Geheimnis oder Schicksal, ob Aufstieg oder Ab-

stieg, ob Gewinn oder Verlust: sie haben Geltung nur innerhalb der Bewußtseins-

strukturen, denen sie als Bild oder Begriff entsprangen, und haben in uns nur insofern Wirklichkeit, als diese Strukturen uns ganzheitlich mitkonstituieren. Das aber besagt: sie verlieren in dem Moment einer neuen Mutation den einstigen Ausschließlichkeitsanspruch und -wert, der ihnen zuvor eigen war. Aber es ist gut, hin und wieder der Schmerzen zu gedenken, die wir durch die Spannung dieser Wirklichkeiten erfuhren: ohne sie könnte sich nie jene vorbereiten, die eine neue Muta-

tion auszulösen und uns von früheren Schmerzen zu befreien vermag.

Vielleicht haben wir uns mit diesen Ausführungen zu weit über das heute Gegebene hinaus vorgewagt, da wir das Morgige, das im Heutigen schon sichtbar zu

werden beginnt, hier noch nicht aufzeigen können. Eines aber sei festgehalten: das Gesagte enthält keinen Anlaß zu neuer, zusätzlicher Beängstigung, obwohl

es vorerst manchem als Ungewißheit erscheinen mag. Es enthält im Gegenteil durchaus die Gewähr für eine befreiende Entängstigung, immer vorausgesetzt, daß es uns im folgenden gelingt, die Manifestationen eines neuen Bewußtseins aufzuzeigen, das auf den Fundamenten jener Bewußtseinsstrukturen gründet, die wir hier zusammenfassend darzustellen versuchen. Vielleicht wird es möglich sein, die Gewißheit einer Entängstigung, wenn auch nicht faD- und greifbar zu machen, wohl aber durchscheinen zu lassen. Und nochmals vermittelt uns das Stichwort „Angst“ den Anknüpfungspunkt für die Weiterführung unserer Überlegungen, wie sie sich aus der von uns gewählten Art, die Mutationen zu schildern, ergeben haben. Die Angst ist ja eine vorwiegend im „Unbewußten“ sich stauende Kraft, die nur dort, wo ihre Herkunft unbewußt bleibt, negativen Machtcharakter annimmt, der sich dann als Panik oder

Psychose, also als Ohnmacht, äußert. Da wir einen Beitrag zur Geschichte der Bewußtwerdung geben wollen, steht das Problem des Bewußtseins im Vorder-

grund, ein Problem, das sich auch als ein MaB-Masse-Problem stellt, da man dem messenden Bewußtsein das maßlose, beziehungsweise unmeßbare „Unbewußte“

gegenübergestellt hat. Wir haben nun darlegen können, daß eine allmähliche

BewuBtseins-Erstarkung mit jeder Bewußtseins-Mutation stattfand, die in der mentalen Bewußtseinsstruktur zum Ich-Bewußtsein führte. Diese Zunahme des Bewußtseins geht parallel mit der Zunahme der Dimensionen. Und die Dimensionen selbst sind wieder nichts anderes als das allmähliche Inerscheinungtreten des Raum-Zeithaften. Es besteht also eine einander bedingende Bezüglichkeit, ja Abhängigkeit zwischen Bewußtsein einerseits und der Raum-Zeit-Welt andererseits. Auch hier also spielt, wie wir bereits gesehen haben, das Maß-Masse-Pro-

blem herein. Insofern nun das Bewußtsein eine ungreifbare Gegebenheit, ja eine

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

Intensität ist, stellt die Raum-Zeit-Welt die dazu greifbare Gegebenheit, also Extensität dar: sie ist gleichsam die korrespondierende Bühne, dank derer Bewußtsein selbst Wirkcharakter anzunehmen vermag. Die Dinglichung, die dadurch vollzieht, ist evident, denn das zunehmende Bewußtsein ruft eine nehmende Materialisierung hervor: nimmt im magischen Bereich die Natur

153

eine das sich zuGe-

stalt und dingliche Form an, so findet im mythischen eine bildliche oder bildhafte

Dinglichung der Seele statt, da diese in Bildern, und wären diese auch nur feinst-

gesponnene Traum- und Mythenbilder, sichtbar wird, sich also in ihrer Art für den bewußtwerdenden Menschen dinglicht; und im mentalen Bereich wird diese Dinglichung greifbar, denn dort ist es die Welt, die durch die Bewußtwerdung und Handhabung der dritten Dimension, durch die Dinglichung des Gedankens

und durch die Perspektivierung faßbar wird. Dieser Prozeß der zunehmenden Dinglichung oder Materialisation ist einerseits ein erschreckender Prozeß; er ver-

liert andererseits seinen Schreckcharakter in dem Augenblick, da man sich darüber klar wird, daß er als Prozeß, der sich im Irdischen, das aber heißt: der sich auf der Erde abspielt, die der Erde und ihrer Natur gemäße kreative und kreatürliche Spannung mit ihrer Polung und Gegensätzlichkeit aufweisen muß. Gehen wir diesen Gedankengang zu Ende, so ergibt sich aus der Tatsache, daß sich heute innerhalb der Vierdimensionalität eine Raum-Zeit-Einheit anbahnt, die eine Konkretion der Zeit ermöglichen könnte, ein weiterer Sprung: denn die bisher nicht eingeschene Zeit, von der die bloß gemessene oder abstrahierte Natur-

zeit nur Teilaspekte sind, bringt, da sie Energie ist, die Überbrückung des dua-

listisch aufgerissenen Gegensatz zwischen dem, was als „Unbewußtes“ und „Bewußtsein“ begrifflich konfrontiert worden ist, mit sich. Dabei stellte das Bewußtsein fast nur den beleuchteten Teil des sogenannten Unbewußten dar. Und dieser

Teilcharakter macht das Rationale selbst dieser auf das Psychische gerichteten Be-

trachtungsweise deutlich. Wer wie der moderne Psychologe nur die Alternative von BewuBtseinshelligkeit und Unbewußtseinsdunkelheitkennt, dieaber eine bloBe begriffliche Transposition der bildlichen Gegebenheit von Säulentempel und Höhle

sein dürfte (!), der wird unsnurkopfschüttelnd auf diesen befremdlichen Wegen folgen und uns bestenfalls Glück zu der Waghalsigkeit wünschen, das „Unbewußte“

integrieren zu wollen, womit er natürlich die Vorstellung des Bewußtmachens verbindet. Das Maßlose aber, das dem ,,UnbewuBten“ eignet, ist verschlingend: es ist also integrierend, wenn auch auf eine negative Weise. Wenn man jedoch um dieses

reziproke Geschehen weiß, das immer in der aktiven und passiven Form statthat und statthaben muß, so erübrigt sich eine Diskussion auf der dualistischen Plattform. Worauf es ankommt, ist die konkrete Tatsache: zu wissen, daß eine Integrierung

statthat, sei diese aktiver oder passiver Natur, seien wir als Menschen der Erde dabei handelnd oder erleidend: einzig das Wissen um den Vorgang gibt uns die Distanz und die Gewähr, daß wir weder der Held noch das Opfer dieses Vorganges sind.

154

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Das Entscheidende ist, jeweils zu „wissen“, wo und wie wir uns geschehen-machend oder geschehen-lassend zu verhalten haben. Mit anderen Worten: es handelt sich darum,

zu wissen, was uns als kreatürlich-magisch-naturhaften Wesen erlaubt und geboten ist: dem natürlichen Ablauf der Dinge zu gehorchen; was uns als mythischpsychischen Wesen erlaubt und aufgetragen ist: dem seelischen Ablauf der formenden Bilder zu entsprechen; was uns als beobachtenden, mental-abstrahierenden Wesen erlaubt und gemäß ist: dem naturhaften und seelischen Ablauf der Triebe

und Empfindungen eine Richtung zu geben, sie also und uns zu richten. Auf dieses Wissen um das Geschehenlassen und Geschehenmachen kommt es an. Und lediglich diese „Einstellung“ kann uns vor dem bewahren, was auswegslos den dualistisch eingestellten Psychologen ängstigt: entweder vom Bewußtsein geblendet, ja überblendet, oder vom Unbewußten verschlungen zu werden in dem Moment,

da man innerhalb der Bewußtwerdungsentfaltung und der Bewußtwerdung ge-

zwungen ist, sich mit diesen begrifflich erarbeiteten Vorstellungswelten ausein-

anderzusetzen. Aber dieses Problem sollte sich überhaupt nicht stellen, hielten wir die den einzelnen Strukturen gemäße Haltung ein. Eine Auseinandersetzung ist ein rein rationaler Vorgang, unanwendbar auf Psychisches und hóchstens regredierend eine entweder magisch betonte Einigung oder eine rational betonte Ver-

söhnung herbeiführend. Es sei deshalb nochmals gesagt: die Integrierung, sei es

der Vierdimensionalität, sei es der Zeit, sei es des Zeithaften, und damit bis zu einem gewissen Grade auch des UnbewuBten, ist nicht daran gebunden, ob wir dabei Handelnde oder Erleidende sind, sondern sie ist davon abhängig, ob wir aus der Distanzierung heraus um den sich vollziehenden Vorgang wissen. Dieses Wissen jedoch ist fast schon gleichbedeutend mit dem, was wir das Diaphainon nannten, das nicht an das Handelnde, nicht an das Erleidende, das auch nicht an das Licht, nicht an die Dunkelheit gebunden ist, sondern sie alle durchscheint. Denn gleichgültig, ob Tag oder Nacht, ob Bewußtsein oder Unbewußtes, ob

Handlung oder Duldung: dem Wesen des Diaphainon, soweit es überhaupt

Wesens-Charakter hat, eignet, soweit ihm etwas eignen kann, daß es ungebunden an die Erscheinungsformen diese durchscheint. Es ist damit weder ein Drittes,

welches die Gegensätze einigt, geschweige denn ein Zweites, und dadurch ergänzender Pol; noch ist es ein Erstes, aus dem es einheitlich besteht und hervor-

ging. Es ist die Ursprungsgegenwärtigkeit, die selber Bewußtsein erreicht, da einer ihrer Träger, der Mensch, durch die raum-zeitlich bedingte BewuftseinsEntfaltung gegangen ist, sich durch diese hindurchgefreut hat, aber auch durch sie hindurchgelitten wurde. Denn die Gegenwart kann nur der realisieren, der Ver-

gangenheit und Zukunft, die beide stets psychisch betonten Freude- und Leid-

charakter haben, integriert hat und der sich damit, insofern jede Integrierung ein Überwinden ist, von diesen Spannungen und Befangenheiten der einst unbewuß-

ten psychischen Struktur lóste.

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

155

Man könnte meinen, die Lösung dieser Spannung bedeute den Tod. In jedem Falle bedeutet sie die Realisierung des Todes, der mit dem Sterben selbst nicht identisch ist. Die Lösung dieser Spannung bedeutet nicht Sterben. Wer anders folgert, vergißt zwei Tatsachen. Die eine wurde bereits ausgeführt: so gewiß es ist, daß kein Leben ohne Spannung lebbar ist, so gewiß ist es, daß das Leben den Tod einschließt (oder umgekehrt). Die andere Tatsache, die jene vergessen, die einwenden sollten, daß die Aufhebung der psychischen Spannung, die sich durch

die Gegenwärtigung vollzieht, zum Tode führen müsse, vergessen der eigenen

Fundamente, welche sie im Leben halten, solange sie der Erde teilhaftig sind. Sie

vergessen, daß keine der Strukturen AusschlieDlichkeits-Charakter hat, daß, insofern auch die naturhafte uns mitkonstituiert, die Gefahr einer tödlichen Wir-

kung der Gegenwärtigung oder des Diaphainon ausgeschlossen ist. Aber freilich: sie ist nur dort ausgeschlossen, wo uns die einzelnen Strukturen in der ihnen gemäßen Wirksamkeit bewußt sind; jedes Ungleichgewicht bringt im Moment der

erfolgenden Mutation die Gefahr des Ich-Verlustes und des Unterganges mit sich. Doch der Sprung wird, wie anzunehmen ist, nur von jenen gewagt, die seiner fähig sind; oder besser: nur in ihnen wagt er sich. Jene aber, die aus rationaler Hybris heraus glauben oder kalkulieren (ein Kalkulieren, das eine rationale Form des Glaubens ist), daß sie willensmäßig zum Sprung imstande seien, werden von dem zu überspringenden Abgrund verschlungen werden; denn sie müssen aus

ihrem dualistischen Glauben heraus annehmen, daß es der Erreichung der nur mental existierenden „anderen Seite" bedürfe. Die Form dieses unzeitigen Sprunges wurde ja bereits sichtbar: es ist die Atomisierung. In ihr drückt sich der nega-

tive Aspekt der Spannung aus, die überspannt nicht Leben erzeugt, sondern den Tod zur Folge hat, und nicht bloß den Tod, sondern die Vernichtung. Und Überspannung tritt stets dort ein, wo ein Extrem zu Ende kommt: am Punkt der angstgebärenden Ausweglosigkeit.

Jede Ausweglosigkeit ist nicht nur ein Hinweis darauf, daß es keinen Weg mehr gibt und daß eine Entfaltung ihre größtmögliche und damit stets quantitativ betonte Spannweite erreicht hat, die nun jederzeit zu einem vernichtenden Span-

nungsverlust führen kann, sondern sie ist ein Anzeichen dafür, daD einzig und allein ein Sprung, also allein eine Mutation, die Lósung bringen kann. Ohne

Zweifel stehen wir heute an einem solchen Punkt. Dies nicht nur im Hinblick

auf die in uns vorherrschende mentale Struktur, sondern auch hinsichtlich aller

bisherigen Strukturen, da sie ja, eine Ganzheit bildend, uns ganzheitlich konsti-

tuieren. Die Zunahme des Bewußtseins, die materiell ihre Spiegelung in der Zunahme der Dimensionen hat, bewirkt auf dem, was wir die dimensionengewin-

nende Bühne nannten, eine zunehmende Objektivierung der bewußtseinsmäßig

erschlossenen Wirklichkeit. Das aber bedeutet: sie fördert eine immer weiter-

gehende Dinglichung der Welt. Somit wird, auch im groDen gesehen, nimlich

156

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

durch alle Mutationen hindurch, die Spannung immer größer: dem Mehr an erschlossener Welt, einem Mehr, das seinen Niederschlag in zunehmender Dinglichung oder Materialisation gefunden hat, entspricht ein Mehr an Bewußtsein. Der Fehler, der heute gemacht wird und der seinen Anlaß in der quantitativ betonten rationalen Haltung hat, besteht darin, daß man meint, dem materiellen Mehr müsse ein bewußtseinsmäßiges Mehr gegenübergestellt werden. Dies Mehr

betrifft jedoch nur das spiegelnde Wissen, das quantitativen Charakter hat: es darf aber niemals das Bewußtsein betreffen, das stets qualitativen Charakter hat. Allein

aus diesem Grunde mußten wir betonen (s. S. 121), daß wir nicht in den Fehler verfallen dürfen, eine Bewußtseins-Erweiterung anzustreben, sondern daß es auf eine Bewußtseins-Intensivierung ankommt. Eine bloße Bewußtseins-Erweiterung führt genauso in den Untergang wie die materielle Quantifizierung: sie entspräche auf dem sogenannten unmateriellen Plane der materiellen Atomisierung, sie wäre letztlich nichts anderes als die psychische Atomisierung, wie sie bis zu einem gewissen Grade bereits Ungestalt angenommen hat; nicht nur der Surrealismus, nicht nur

der Dadaismus, nicht nur die Existentialphilosophistik, vor allem auch gewisse

Strömungen der heutigen Tiefenpsychologie sind dafür Beweis genug.26 Auf das Thema der Bewußtseins-Intensivierung zurückkommend, haben wir wieder den Ton auf das Maß-Masse-Problem gelegt. Und die vorstehenden Ausführungen zu diesem Thema, dem die festgestellte Tatsache der Dimensionierung zugrunde lag, konnten uns ein Bild davon vermitteln, wie vielschichtig dieses Problem aufklingen kann, wenn wir es nicht nur antithetisch in Rechnung stellen, sondern wenn wir es ganzheitlich anzuwenden versuchen. Jedenfalls eröffnet es uns Überblicke, Einblicke und Ausblicke: Überblicke über das, was wir, mental die Geschehnisse fixierend, als Sinnhaftigkeit der Mutation bezeichnen könnten, eine Sinnhaftigkeit, die aber immer wieder durch die Frage nach dem Auf- oder Abstieg der Menschheit illusorisch wird; und es vermittelt uns Einblicke in den Teilhaber des Bewußtseins, nämlich in das „Unbewußte“ ; und Ausblicke auf eine mögliche neue Mutation, deren „Landschaft“ wir mit Worten wie: das Diaphai-

non, das Sich, die Ursprungsgegenwärtigkeit, vorerst nur anzudeuten versuchten.

(Was den Begriff des „Unbewußten“ betrifft, so werden wir später [s. Teil I,

Kap. VI, 2] noch sehen, daß er wegen seines dualistischen Charakters unserer Be-

trachtungsweise nicht standhält; es gibt kein das Bewußtsein negierendes Unbewußtsein, sondern nur jeweils dimensionen-ärmere Vorformen des Bewußtseins schlechthin.) Wenden wir uns nun noch den drei anderen Gesetzmäßigkeiten zu. Als zweite

Gesetzmäßigkeit ist die von uns als Atemcharakter der Mutationen bezeichnete

zu nennen (s. S. 132). Wir ordneten sie systematisierend in die Maß-Masse-Problematik ein, weil hier auch der Polcharakter ersichtlich werden kann, der diesem Wortpaar ebenfalls eignet, denn es handelt sich bei dem Atemphänomen um den

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

157

sich ergänzenden Wechsel eines lebendigen Geschehens. Aus der rhythmisch anmutenden Gesetzmäßigkeit, welche die Mutationsreihe als Ganzes durchpulst, ergibt sich als nächstliegende Frage: Welcher Art könnte die neue Mutation sein: Wird sie wieder auf ein „Innen“ bezogen sein, wie es die mythische war? Und wenn ja, welcher Art wird dieses „Innen“ sein: Oder: wird eine neue Atempause einsetzen? Belassen wir es vorerst bei dieser Frage.?7 Sie jetzt postulierend beantworten zu wollen, wäre Vermessenheit. Diese Fragen werden sich fast fraglos be-

antworten, je deutlichere Formen die Fundamente und damit die aus ihnen hervorgehenden Ansatzpunkte des Neuen annehmen werden. Dagegen können wir schon jetzt die Fragen, welche die dritte Gesetzmäßigkeit

hervorruft, leichter beantworten. Diese Gesetzmäßigkeit stellte sich uns einerseits als Minderung des Ganzheitsbezuges, andererseits als Mehrung der Bewußtseinskräfte dar. Hier wird das Einheitsmoment des Maß-Masse-Problems sichtbar, weil wir das, was wir rational auseinanderrissen, um es begreifbar zu machen, nicht als divergierenden Vorgang, sondern als einheitliches Geschehen auffassen müssen. Das Schlüsselwort dafür wurde schon gegeben: es handelt sich um eine innerhalb der Einheit sich vollziehende Umlagerung. Mit anderen Worten: die

scheinbare Minderung unseres Bezuges zur Ganzheit (insofern man hier von einem Bezug sprechen darf) wird durch die Mehrung des am Ganzheitlichen teilnehmen-

den bewußten Bezuges ausgeglichen: es findet eine Umlagerung aus dem so-

genannten Objektiven in das sogenannte Subjektive statt. Und die Unverlierbarkeit der archaischen Struktur in uns, eine Struktur, die ja nicht zeitverhaftet anfänglich, sondern ursprünglich ist, bringt es mit sich, daß alle aus ihr heraus erfolgenden Mutationen ebenfalls unverlierbar sind. Von unserer heutigen Bewußtseinsstruktur

aus gesehen, sind wir selber nur in dem Maße Mensch, als uns diese Ganzheit bewußt ist; andernfalls sind wir nur Teilaspekte dieser Ganzheit; das aber will besagen: wir sind nicht im Gleichgewicht, oder mental ausgedrückt: wir sind nicht im Maß, sondern in dessen negativem Gegensatz: in der Masse, die stets auch unpersönlicher Zustand ist und an das Unmenschliche grenzt.

Es handelt sich also auch hier nicht, so wenig wie bei der Dimensionierung, um Mehrung oder Minderung, wenn wir den ganzheitlichen Gesichtspunkt gelten lassen. Es hängt lediglich von uns ab, ob wir es vermögen, die Phänomene nicht nur messend in Rechnung zu stellen, nicht nur bildmäßig zu erfahren, nicht nur einheitlich zu erleben, sondern sie ganzheitlich zu durchblicken. Wie aber gelangen wir zu einer solchen Haltung? Diese Frage muß wohl gestellt werden, denn die

Erfahrung lehrt, daß sich durch rationale Überlegungen das, was wir als menschliche Haltung bezeichnen, bisher noch selten ändern ließ oder geändert hat. Der Grund dafür ist leicht einzusehen: die menschliche Grundhaltung, also die Haltung jedes einzelnen Menschen, gründet in erster Linieim Vitalen und Psychischen,

also in dem, was wir die magische und mythische Struktur nennen; Bitte und

158

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Wunsch, die als Forderung somit jeder Haltung meist „unbewußt“ ihr Gepräge geben, können nur teilweise von dem rationalen Willen gerichtet werden, es sei denn, daß wir uns ihrer bewußt würden. Es gibt nun ein Anzeichen dafür,

ob dies durch einen Menschen erreicht wurde oder nicht: wer fähig wurde, bei Ungemach, Zerwürfnissen, Streit, Unglücksfällen nicht den anderen oder der

Welt oder den Umständen oder dem Zufall Vorwürfe zu machen, sondern wer

es vermag, zuallererst den Grund oder die Schuld, in ihrem ganzen Umfange, bei sich selber zu suchen, der dürfte auch fähig sein, die ganze Welt und alle ihre Strukturen zu durchblicken. Anderenfalls wird er von der in ihm vorwiegenden Struktur entweder trieb- oder affekt- oder willensmäßig vergewaltigt, und er ver-

sucht dann kompensatorisch (oder sich rächend) seinerseits die Welt zu vergewaltigen. Der Satz, daß es so zurücktönt, wie man in den Wald ruft, ist ohne Zweifel richtig. Und der Wald ist die Welt. So ist alles, was uns geschieht, nur Antwort und Echo dessen, was und wie wir selber sind. Und eine ganzheitliche Antwort

wird uns nur, wenn wir in uns selber uns dem Ganzheitlichen annäherten. Ein Weg dorthin aber ist der, daß wir jeweils versuchen, auch die Schuld zuerst einmal ganzheitlich auf uns zu nehmen; bei affektloser Prüfung wird sich dann herausstellen, in welchem Maße wir schuldig sind, und der Ausgleich oder das Gleichgewicht, die nur der Ganzheit eignen (insofern ihr etwas eignen kann), werden sich wiederherstellen. Überrascht werden wir am Ende eines solchen nicht immer leichten Prozesses, der nicht nur ein Sehen ist, sondern auch ein Sich-Sehen, fest-

stellen, daß uns die Welt und daß wir uns selber um einige Grade durchsichtiger wurden. Und nur wenn wir den ganzheitlichen Gesichtspunkt gelten lassen oder zur Geltung bringen, vermag uns das in einer „positiven“ Weise klarzuwerden, was sich in der erwähnten vierten Gesetzmäßigkeit scheinbar, betrachten wir es fälschlicherweise mental, als ein sich nur einsinnig abspielender Prozeß, als Negativum,

darstellt. Jeder Struktur scheint es zu eignen (siehe Querschnitt 8 der „Synoptischen Tafel“), daß sie anfänglich qualitativ betont ist und dann eine allmählich

zunehmende quantitative Entwertung einsetzt. Innerhalb der magischen Struktur tritt uns als qualitative Äußerung zuerst das Bannen entgegen, das im quantitativ betonten Zaubern defizient wird; innerhalb der mythischen Struktur begegnen

wir einem parallelen Vorgang: der geschwiegene Urmythos?? beginnt sich in ausgesagte Einzelmythen aufzusplittern, die wieder in neue partielle Aspektierungen zerfallen, bis die Unzahl der psychischen Manifestationen und Realisationen ihren Sinngehalt derart in Frage stellen, daß infolge einer neuen Bewußt-

seinsstruktur, der mentalen, die „Sinngebung“ durch das richtende Denken (durch

Menis und Menos) erfolgt. So betrachtet, hat die Gewinnung der neuen Struktur durch die griechischen Denker das Abendland vor dem bewahrt, was man als psychische Atomisierung bezeichnen könnte. (Das wird noch deutlicher werden,

4. Eigenart der Strukturen

159

wenn wir [s. Teil I, Kap. VII] die Realisations- und Denkformen ausführlicher betrachten werden.) Aber auch die Menis entging nicht der Quantifizierung; wir haben bereits ausführlich auf diesen Ablauf hingewiesen, der sich in der Rationali-

sierung der Welt spiegelt. Da diesmal, für unsere heutige Struktur, vorwiegend

die Raumwelt zur Frage steht, so betrifft die Quantifizierung vornehmlich diese; aber von ihr aus sind auch alle anderen Weltaspekte mitbetroffen, also sowohl der

psychische wie der vitale. Diesmal also droht in erster Linie die Atomisierung der materiellen Raumwelt: und es ist nicht schwer, festzustellen, daß sie bereits „greifbare" Formen angenommen hat. Würden wir nun die Gesetzmäßigkeit, mit der innerhalb jeder einzelnen Struktur effiziente und defiziente Phase aufeinander folgen, nur rational betrachten, so müßten wir dem rationalen Denken gemäß von einem natürlichen Prozeß sprechen, der unerbittlich seinem Endresultat entgegeneilt; damit sind Schicksal, Angst, Auswegslosigkeit gegeben, zumal das einzig mögliche Resultat, die Ver-

nichtung, kein Ausweg ist. Andererseits dürfte es offensichtlich sein, daß der heutige Zustand ein Zustand der Erschöpfung ist; mit anderen Worten: das, was als Kraft unsere Ebene anfänglich konstituierte, hat sich, bewußtwerdend, in der Aus-

einanderfaltung erschöpft. Die Erschöpfung aber birgt keine Kontinuitätsmög-

lichkeit, keine Evolution, es sei denn im Sinne des Fortschrittes. Hier wird vielleicht nochmals deutlich, warum wir den Evolutionsbegriff ablehnen und von

Mutationen sprechen. Was Folgecharakter hat, beschränkt sich auf einzelne Strukturen; in den Mutationen aber dürfte das Ganzheitliche enthalten sein. Aus

der erschöpften Struktur geht keine neue hervor; aber aus dem, was ursprungsgegenwärtig ist, aus der Ganzheit heraus, kann sehr wohl eine Mutation entspringen.

„Hinter“ dem, was das Wortpaar Maß — Masse sowohl als Gegensatz, als Polari-

tät, als auch als Einheit ausdrückt, steht sein ursprünglicher ganzheitlicher Gehalt.

Nur wenn wir dies berücksichtigen, verfallen wir nicht in den Fehler, sondern

werden davor bewahrt (bleiben also im ,,Wahren“), uns einseitig der heutigen Masse-Erscheinung, also der weiteren rationalen Quantifizierung und ihren einseitigen Konsequenzen zu verschreiben. Und nur wenn wir uns vor ihr bewahren, vermag es Gewißheit zu werden, daß auch die, diesmal materielle Atomisierung, welche sonst die Welt betreffen würde, überwunden werden könnte.

4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte)

Wir müssen uns über zwei Schwierigkeiten klar sein, mit denen wir bei unseren

Überlegungen zu kämpfen haben: die eine besteht darin, daß jede Abhandlung nur ein Nacheinander zuläßt und damit jedem ganzheitlichen Zugleich wider-

160

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

spricht. Mit anderen Worten: in dem Augenblick, da wir mehrschichtige Probleme darzustellen haben, überkreuzen sich in jedem Moment nicht nur die verschiedenen Aspekte der Probleme, sondern diese selbst; reißen wir nur einen der

Aspekte heraus, so gewinnen wir zwar durch das geordnete Nacheinander der

Darstellung ein Teilresultat, aber inzwischen ging uns das Ganzheitliche des Problems verloren. Wir haben versucht, diese Schwierigkeit zu lösen, indem wir bei der Abhandlung eines Problems sogleich auch auf seine Mehrschichtigkeit hinwiesen. Dadurch ergab sich eine große Zahl von Bezügen; es ergaben sich vor allem aber nicht nur dauernd Bezugnahmen auf bereits in anderem Zusammen-

hange Ausgeführtes, sondern es mußten sich auch Vorausnahmen einstellen, wollten wir nicht in den dualistischen Sackgassen stecken bleiben. Die Mehrschichtigkeit der Probleme, in welcher ihre Ganzheit durchschimmert, führte zu einer mehrschichtigen Methodik der Darstellung; da man aber eine mehrschichtige Methode als etwas in sich Widersprüchiges auffassen kann, weil jede Methode

jeweils nur einen Sachverhalt auf einmal zu messen vermag, haben wir unsere mehrschichtige Methodik „Diaphanik“ genannt, mit der im Gegensatz zur Methode das ganzheitliche Zugleich wenigstens durchsichtig gemacht werden kann. Diese bezeichnet also die Art und Weise, wie trotz des erzwungenen Nacheinander das ganzheitliche Zugleich wenigstens zum Durchscheinen gebracht wer-

den kann, da es sich einer sprachlichen Darstellung entzieht.

Die andere Schwierigkeit besteht darin, daß wir etwas „Neues“ herauszuarbeiten

unternehmen, wofür wir uns aber noch der „alten“ sprachlichen Mittel bedienen

müssen. Die Wörter und Begriffe unserer heutigen Sprache sind weitgehend der perspektivischen Welt gemäß fixiert.29 Freilich versucht (wie wir bereits im

„Grammatischen Spiegel“ andeuteten) zumindest die dichterische Sprache sich

bereits dem Neuen, das Gestalt gewinnen will, anzupassen. Aber es handelt sich dabei nur um erste Ansätze, die außerdem bisher zumeist unbeachtet blieben.

Wir bemühten uns diese sprachliche Schwierigkeit zu überwinden, indem wir eine Auflockerung der Wörter anstrebten und nicht nur ihren heutigen perspektivisch fixierten begrifflichen Ausdruckswert in Rechnung stellten, sondern uns auf ihren Ganzheits-Charakter bezogen. Wir wollen nun nochmals bestimmte Charakteristika, Zuschreibungen und Eigenheiten der verschiedenen Strukturen in vier Gruppen querschnittsmäßig zusammenstellen; das ist um so dringlicher, als wir schon öfters gezwungen waren, auf Sachverhalte anzuspielen, die erst durch eine Zusammenfassung deutlich und übersehbar werden kónnen. Holen wir also jetzt nach, was in dem Nacheinander nicht zugleich ersichtlich werden konnte. Die „Synoptische Tafel", die durch diese Querschnitte ergänzt wird, wird uns jenen ganzheitlichen Überblick vermitteln können, jenes Zugleich-Vorhandensein, dessen die Darstellung mehr oder weniger entbehren mußte.

4. Eigenart der Strukturen

161

Wir werden das Material wieder unter Stichwörtern zu ordnen versuchen und

fassen es in folgende vier Gruppen zusammen:

I. die Grundhaltungen der einzelnen Strukturen sowie ihre psychischen und

physischen (organischen) Betontheiten, 2. die Realisations- und Denkformen,

3. die Ausdrucks- und Äußerungsformen,

4. die zeithaften, sozialen und generellen Bezüge, welche die einzelnen Strukturen

auszeichnen.

Stellen wir in einem Querschnitt das zusammen, was bisher hinsichtlich der Grund-

haltung der einzelnen Strukturen ausgeführt wurde, und berücksichtigen wir dabei das, was wir einerseits als Energetikträger, andererseits als Organbetontheit

bezeichnen können, so ergibt sich folgende Übersicht (wobei die Zuschreibungen

für die „Integrale Struktur“ Vorausnahmen sind, für die sich erst im weiteren

Verlauf unserer Abhandlung der Nachweis ergeben kann und die wir deshalb vorerst in Klammern ( ) setzen; vgl. dazu auch S. 1282): EE Grundhaltung und Struktur

Energieträger

10. Betonte Organe

Archaisch:

Ursprung:

Weisheit

-

Magisch:

Vital:

Instinkt Trieb

Eingeweide — Ohr

Mythisch:

Psychisch:

Mental:

Zerebral:

Integral:

(Integral:

Gefühl

Imagination Empfinden Gemüt Reflexion

Abstraktion

Wille

Konkretion) Diaphanieren) Wahren)

Herz - Mund

Gehirn — Auge (Scheitel)

Diese Zusammenstellung wird nach dem bisher Ausgeführten kaum überraschen: daß das Magische im Vitalen gründet, daß es durch den bewuBtseinsschwachen Instinkt gesteuert, durch den bewußtwerdungsfähigen Trieb getragen und durch das Gefühl, vor allem des Einheitlichen, Ausdrucksform erhält, bedarf so wenig eines Kommentars wie die Zuschreibungen für die psychisch betonte Grund-

haltung der mythischen Struktur oder wie die für die zerebral betonte mentale Struktur. Dagegen wird vielleicht der Querschnitt 10 auf den ersten Blick hin verwundern. Inwiefern wir das auditive Organ, das Ohr, das ja zudem mit dem

Labyrinth und der Hóhle korrespondiert, der magischen Struktur zuordnen, wird II

162

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

bereits deutlich geworden sein. Aber die Zuordnung der Eingeweide zur magischen Struktur wird wohl erst verständlich, wenn wir uns einige Tatsachen in Erinnerung rufen: das Wahrsagen auf Grund der Eingeweideschau gehört der Zeit an, die wir als die magische bezeichnen; das Labyrinthische, das sich in ihm dar-

stellt, ist offensichtlich3°, und vor allem entspricht das intestinale Verquicktsein,

seine fast richtungslose Gelagertheit durchaus dem magischen Lebensgefühl. Inner-

halb der Einheit aller anderen Organe spielen die Eingeweide in der magischen Struktur lediglich eine betontere Rolle, ihre Funktionen sind ausschlaggebender

als die der anderen Organe?!; wie ausschlaggebend die Eingeweide waren, geht

daraus hervor, daß sie den Magiern und Medizinmännern zur Deutung des Schicksals und der Ereignisse dienten32. Rational können wir uns jene sonderbare Prozedur, die aber nur scheinbar unsinniger Aberglaube ist, verstindlich machen,

wenn wir daran denken, daß diese Organe jene Verflochtenheit und Einheit des Magischen darstellen, die wir als für diese Bewußtseinsstruktur charakteristisch nachweisen konnten. Es mochte einem Menschen, der zutiefst in der vollständigen lebendigen Verflochtenheit wob und in diese Einheit eingewoben war, wohl móglich sein, im Geflecht, so wie es vor ihm ausgebreitet lag — eine Ausbreitung, die nichts Zufälliges an sich haben konnte, da dem Magischen alles zufällt -, der Störung oder der Indisposition inne zu werden, um derentwillen diese Art des Orakels und des Wahrsagens ausgeführt wurde33. Andererseits geht aus der ur-

alten Vorstellung von der „Empfängnis durch das Ohr“34 die Bedeutung dieses Organes für den magischen Menschen hervor: der Laut oder Ton ist zeugend, das Ohr, das schon aufs AuDen gerichtete Abbild der Hóhle und des Labyrinths, ist empfangend und damit gebärend. Es gebiert die magische Welt.

In welchem Maße es zutrifft, daß der Ton eine primordiale Kraft ist, die durch die

magische Struktur weltgestaltend wirkt, geht auch aus der Bedeutung des lateinischen Wortes „carmen“ hervor, das „Gedicht, Lied" bezeichnet, ursprünglich aber „religiöse und magische Formel“ ist35. Singen in diesem Sinne ist Zaubern und Bezaubern, das aber heiDt, es ist ein Wirken durch den Ton. Und noch heute lebt diese Grundvorstellung in Wörtern weiter, die, wie das französische „charme“, das spanische „encantado“, das englische „charming“ den „Zauber“ oder die „Be-

zauberung“ ausdrücken, die ein Mensch oder ein Ding auf uns auszuüben vermögen3®. Zeigt der Bezug zwischen Ton und Zauber die Zusammengehórigkeit beider und damit den Ton als vornehmlich magisch, so nimmt es nicht wunder,

wenn wir neben den inneren Organen dem Ohr die praedominierende Rolle in der magischen Struktur glauben zusprechen zu dürfen. Die magische Welt, und mit ihr ein wesentlicher Teil dessen, was uns heute konstituiert, entsprang magischen Ton, der durch das Ohr wirksam, im Ohr weltauslósend wurde. es ist der Ton, wie jener der Urwaldtrommeln, dessen Rhythmus einer der sten Ausdrücke des magischen Menschen ist und der den Tanz gebiert: er ist

dem Und vitalsicht-

4. Eigenart der Strukturen

163

bar gewordener Ton, der nicht nur der Beschwörung, sondern auch dem Erhörtwerden von der tieferen Weltwirklichkeit dient: in ihm vollzieht sich die Einigung des Menschen mit dem Weltrhythmus.37 Sind die Eingeweide - die Vorsilbe „Ein“ ist nicht nur ein „in“, sondern eben auch ein „ein“ — einheitlich, so ist das Schlagen des Herzens der Ausdruck der Polhaftigkeit, genauso, wie es der Mund ist, der sowohl schweigen als reden kann. (Das Ohr kann nur einheitlich hören.) Über die Wurzelverwandtschaft der Wörter „Mythos“ und „mouth“ wurde bereits berichtet. Ob das Wort „Mund“ auf

die gleiche Wurzel „mu“ zurückgeht, konnte von den Etymologen noch nicht ermittelt werden. In jedem Falle aber glauben wir die Primordialität des Mundhaften für die mythische Struktur aufgezeigt zu haben. Und hinsichtlich des Herzens

heißt es, durchaus mythisch, im Lukas-Evangelium (II, 19): „Maria bewegte diese Worte in ihrem Herzen“, und im Matthäus-Evangelium (XII, 34) kommt der

mythische Bezug, die mythische Entsprechung, die zwischen Herz und Mund

herrscht, klar zum Ausdruck: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ 3%.

Es ist jenes Herz, das noch heute als das Organ des Mutes und des Gemütes angesprochen wird. Weder sagt man zufällig: „Fass’ Dir ein Herz" und meint damit: „Fasse Mut“, noch gebraucht man etwa aus Willkür die Wörter „beherzt“ und „mutig“ als Synonyma. Abgesehen davon mag auf seine Weise jener etymologisierende Bezug nicht ganz abwegig sein, den Creuzer zwischen dem griechischen Worte „Mythos“ und dem deutschen „Gemüt“ herstellt39.

Wie dank der mythischen Struktur die Dinge im Herzen bewahrt oder behalten werden, so spricht man heute (aus der mentalen Struktur heraus) wahrscheinlich nicht zufällig davon, daß man etwas „im Auge behalten" wolle. Diese Redensart ist nur einer der geringsten Hinweise auf die Primordialität des Auges, die für die mentale Struktur Geltung erhält. Die perspektivische Welt ist eine vornehmlich gesehene Welt, so wie die unperspektivische eine vornehmlich empfundene, die

vorperspektivische magische eine vornehmlich gefühlte ist. Aber die perspektivische ist gleichzeitig auch die gedachte Welt, so wie die unperspektivische eine geschaute#?, die vorperspektivische eine gehörte ist. Und in der Welt des Denkens

ist das Gehirn das betonte innere Organ der mentalen Struktur. Dabei deutet sich

wieder einmal die engere Verwandtschaft der mentalen mit der magischen Struk-

tur an, denn auch das Hirn hat Labyrinth-Charakter; solange seine Funktionen vorherrschen, wird das Denken seiner Vieldeutigkeit, der es durch die Abstrahierungen zu entgehen versucht, nicht entfliehen kónnen (s. Teil I, Kap. VII). Wir haben bei dieser neunten und zehnten Querschnittgruppe vorerst nur an-

deutend Zuschreibungen für die integrale Struktur gegeben. Solche, die wir ihr

zubilligen kónnten, werden aus unseren weiteren Ausführungen, besonders aus jenen Manifestationen hervorgehen, die wir im zweiten Teile darzustellen haben.

Vielleicht können wir es aber wagen, ohne allzugroße Mif verstindnisse auszu-

164

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

lösen, bei der folgenden Gruppe Zuschreibungen auch für die integrale Struktur vorzunehmen. Diese 11. Gruppe umfaßt einen Querschnitt durch die Realisations-

und Denkformen der Strukturen, der gelegentlich unserer Ausführungen

(s.

Teil I, Kap. VII) noch zu ergünzen sein wird. Er vermittelt uns von ihnen, fassen wir das bisher darüber Ausgeführte zusammen, folgendes Bild: = Realisations- und Denkformen Struktur

a) Grundlagen

b) Art und

Wei

Weise

== : see ursprünglich Magisch:

Einfühlen und Einsfühlen Hören

vor-(prae-)rational: praekausal, analogisch

Mythisch: Mental:

Einbilden und Aussagen Schauen und Stimmen Vorstellen und Nachdenken

irrational: unkausal, polar rational:

Integral:

(Konkretisieren und Integrieren

Sehen und Messen

Wahrnehmen und Durchsichtigkeit)

kausal,

gerichtet

(arational:

akausal, gänzlichend)

Diese Zuschreibungen erweisen ihre Berechtigung, wenn sie auch längsschnitt-

mäßig unter Berücksichtigung der anderen Zuschreibungen gelesen werden, was durch die „Synoptische Tafel“ am Schlusse dieses Bandes ermöglicht wird. Das ein-

heitliche Einfühlen und Einsfühlen dürfte das Grundlegende der magischen Realisationsform einigermaßen umschreiben, so wie das sich entsprechende polhafte

Einbilden und Aussagen, das Schauen und das Stimme-Werden des Mythos für die mythische Realisationsform stehen mag ; und im gegensätzlichenden Vorstellen und Nachdenken, im Sehen und Messen mag die Grundlage der rationalen Denkform

ersichtlich werden. Was die integrale Struktur betrifft, so dürften die Zuschreibungen, die wir hier zusammenfaßten, bereits so weit dargestellt worden sein, daß sich eine nochmalige Erklärung erübrigt, jedenfalls für die des Querschnittes IIa. Die für die integrale Struktur im Querschnitt 11b gegebenen Zuschrei-

bungen werden vor allem im Zusammenhang mit denen der anderen Strukturen

verständlich. Es ist von grundlegender Wichtigkeit, genauestens zwischen „irrational“ und „arational" zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist das Herzstück unserer Untersuchung. Arationalität hat nichts zu tun mit Irrationalität; das einzige, was zwischen ihnen statthat, besteht darin, daß ohne das Irrationale das Arationale so wenig möglich wäre wie ohne das Vor- oder Praerationale oder das Rationale. Diese drei

sind die Fundamente des Arationalen. Unser ganzes Bemühen, die einzelnen Strukturen unterscheidend sichtbar zu machen, will in allererster Linie dazu dienen,

einer Verwechslung des Irrationalen mit dem Arationalen vorzubeugen. Natür-

lich wird es dem bloßen Rationalisten schwerfallen, den grundlegenden Unter-

4. Eigenart der Strukturen

165

schied zwischen beiden zu erfassen, da sich seine messenden Mittel fast nicht auf das anwenden lassen, wodurch diearationale Struktur realisierbar wird: auf das Durch-

blicken. Er wird möglicherweise in den Fehler verfallen, den Mangel an MeBbar-

keit, der das Diaphainon kennzeichnet, mit der Unmeßbarkeit des Irrationalen zu verwechseln. Und dabei ist es noch nicht einmal erwiesen, ob wir berechtigt sind, hinsichtlich des Diaphainon von einem Mangel an Maß zu sprechen, denn es könnte sehr wohl sein, daß es sich bei ihm um Freiheit vom Maß handelt. Aber

wie auch immer man es bezeichnen möge, so sollte das Irrationale oder womöglich

das Praerationale keinesfalls mit dem, was wir als Arationales bezeichnen, identifiziert werden. Denn es besteht ein grundlegender Unterschied darin, ob man über das Meßbare, es kennend und achtend, hinauszugehen versucht und damit eine Maßfreiheit anstrebt, oder ob man, das Meßbare nicht annehmend und nicht ach-

tend, in das Maßlose und Unmeßbare der nicht nur ambivalenten, sondern in der Aufsplitterung multivalenten psychischen und naturhaften Bezüge zurückfällt.

Daß ein Verzicht auf Meßbarkeit noch längst nicht MaDlosigkeit bedeutet, das hat die „Projektive Geometrie“ bereits unter Beweis gestellt. Vielleicht vermag dieser Hinweis vorausnehmend zu erklären, was wir nur allmählich im Nacheinander dieser Seiten und der des folgenden Teiles hoffen, so deutlich, so transparent machen zu können, daB es evident wird. Die dritte Gruppe nun, welche die Ausdrucks- und Äußerungsformen der einzelnen Strukturen zusammenfaßt, läßt sich durch die beiden folgenden Querschnitte 12 und 13 darstellen: ER 12. Ausdrucksformen — Äußerungsformen Archaisch:

-

=

Magisch:

Magie:

Götzen Idol Ritual

Bitte (Gebet): Erhörung

Mythisch:

Mythologem:

Götter Symbol Mysterien

Wunsch (Wunschbild: Wunschtraum)

Mental:

Philosophem:

Integral:

(Eteologem:

Gott Dogma (Allegoric, Formel) Methode Gottheit) Synairese) Diaphanik)

| Wille:

(Wahren:

Erfüllung

Erreichung

Gegenwart)

Zu diesen Querschnitten ist zu bemerken, daß die Zuschreibungen für die magische Struktur nicht in herabwürdigendem Sinne gebraucht werden dürfen. Der verunglimpfende Charakter, der durch eine einseitige religiöse Betrachtungsweise

166

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

heute beispielsweise dem Begriffe ,,G6tzen“ anhängt, verdirbt die heilige Intensität dessen, was sich anfänglich in den Götzen darstellte. Wir haben kein Recht - zumal wir selber noch „abergläubisch“ sind, und äußerte sich dieser Aberglaube auch nur

in seiner Verneinung und Bekämpfung -, hochmütig auf diese Form des erwachen-

den religiösen Bewußtseins zu blicken. Die sich aus dem Querschnitt 12 von selbst ergebende Aufeinanderfolge: Götzen - Götter - Gott, enthält kein Werturteil, sondern macht lediglich die Fixierung und das zunehmend dinglichende Erfassungsvermögen des Bewußtseins anschaulich. In der Zentrierung auf einen Gott kündigt sich die Zentrierung des menschlichen Ich an, die in der mentalen Struktur im Ich-

bewußtsein Gestalt annimmt. Ein ähnlicher Vorgang der Fixierung stellt sich uns in der Ablösung des Idols durch das Symbol dar, das seinerseits durch das Dogma

abgelöst wird. Das Idol ist uneingeschränkt einheitlich gültig, das Symbol ist stets polar und ambivalent, also sowohl doppelsinnig wie auch doppeldeutig, das Dogma ist einseitig fixiert und stellt den Gegensatz zu jenen her, die es nicht an-

erkennen. Der Aufsplitterung in einzelne Sektoren gemäß, wie sie in der mentalen

Struktur statthat, erhält das Dogma nur Gültigkeit für einen sogenannten Teilbezirk, nämlich für den religiös-theologischen; andere aufgesplitterte und ratio-

nalisierte Teilaspekte des Symbols geben sich sowohl in der Allegorie zu erkennen, dieser rationalisierten und damit weitgehend entpsychisierten Vorstellungsform,

die nicht den religiösen, sondern den bildmäßiglehrhaften Ausdruck gegensätzlicht und rationalisiert, als auch in der Formel, welche die rationale Prägung der Natur- und Geisteswissenschaften ermöglicht. Und schließlich spiegelt sich die Konsolidierung des Bewußtseins in der Transposition, die vom Ritual über die Mysterien zu Zeremonie und Methode führt; das eine ist jeweils die bewußtseinsschwächere und dimensionsärmere Vorform des auf ihn folgenden. So betrachtet, dürfte der zwischen ihnen bestehende Zusammenhang für manche Phänomene und Einsichten aufschlußreich sein. Wenn wir es nun schon wagten, auch der integralen Struktur teilweise solche Zuschreibungen zu geben, so muß gleich betont werden, daß der unter den Ausdrucksformen erscheinende Begriff „Gott-

heit" (s. S. 123£.) nicht als eine Bezugnahme auf die religiöse Sphäre betrachtet

werden darf. Wir werden noch sehen, inwiefern das „Gottheitliche“ kein aus-

gesprochen „religiöser“ Begriff ist, sondern das zur Grundlage hat, was wir mit

dem Worte „Praeligio“ umschreiben. Und es sei schon jetzt hinzugefügt, daß die Praeligio weder eine Religionsfeindlichkeit noch einen Religionsersatz darstellt; die praeligiöse aperspektivische Welt kann des Religiösen sowenig entraten, wie die religiöse Welt der „relegio“ oder deren magischer Vorform, der „proligio“, entraten kann. Die Praeligio drückt lediglich die aperspektivische Form der „Religion“ aus: sie integriert die archaische Präsenz, sie ist gegenwärtigend und nicht zukünftig oder rückwärtigend; aber die „Religion“ bildet ihre unabdingbare Mitgrundlage. Und wenn wir in diesem Zusammenhang daran erinnern, was wir

4. Eigenart der Strukturen

167

sowohl über die Gegenwärtigung, die eine Wirklichung der Präsenz ist, als auch über das Diaphainon ausführten, so wird dieser Hinweis auf den praeligiösen

Charakter des Gottheitlichen nicht überraschen. (Wir werden darauf noch ge-

legentlich der Erläuterung unseres Querschnittes 16 [s. Teil I, Kap. VII, ı] zurückkommen.) Und genausowenig wird der Querschnitt 13 überraschen, den wir darstellend schon im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (s. S. 142) vorausgenommen haben.

Auch das, was wir abschließend in einer vierten Gruppe zusammenfassen, wurde

zum größten Teile bereits ausgeführt. Die drei Querschnitte, die dafür noch zu

geben sind, betreffen die zeithaften, sozialen und generellen Bezüge der verschiedenen Strukturen und vermitteln uns folgende Übersicht:

Struktur TA

Archaisch: Magisch:

_ ununterschieden

Mythisch:

vorwiegend

i

N

-

c) generelle All-bezogen

[„kosmisch“]

Stammeswelt

[Clan / Sippe] naturhaft

vorwiegend Elternwelt | vergangenheitsbezogen [Ahnenkult] [Erinnerung, Muse] | vorwiegend: Matriarchat

Mental: | Zukunftsgerichtet Integral:

14. Bezüge b) soziale

a) zeithafte

Sohnes- bzw.

Individualwelt [Kindkult]

[Zweck und Ziel]

vorwiegend: Patriarchat

μους (gegenwärtig)

der PaMatriarchat "hoch triarcha t

Menschheit:

sondern Integrat

ichlos

irdisch ichlos wirhaft psychisch
= 7111:

|i |

「ープ

1)

/

Abb. 30:+ Der Iinn Weiß ν Secel gekleidete das Laf erstorbene ein seget, das Lutt[Seelen-]Symbol,

in der rechten

Hand haltend (aus dem Ani-Papyrus; Budge, VII, 2, p. 197)

232

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

ren, je nach seinem Werke, je nach seinem Wissen. Nämlich, wenn einer zum Monde kommt, so fragt dieser ihn: Wer bist du: Dann soll er antworten: Du

bin ich. Wenn er so spricht, so läßt er ihn über sich hinausgelangen.48 Diese Upanishad-Stelle ergänzend sei noch eine andere zitiert, die sich im Brhadaranyaka-Upanishad, und zwar in dessen dritter Adhyaya, zweites Brahmanam, findet: ,,- Yájnavalkya -, so sprach er (der Sohn des Ritabhoga), wenn nach dem

Tode dieses Menschen seine Rede in das Feuer eingeht, sein Odem in den Wind,

sein Auge in die Sonne, sein Manas in den Mond, sein Ohr in die Pole, sein Leib

in die Erde, sein Atman in den Akaca (Weltraum), seine Leibhaare in die Kräuter, sein Haupthaar in die Bäume, sein Blut und Samen in das Wasser - wo bleibt dann der Mensch?"49 Dieser Text eines anderen Kulturkreises ist für die numinosen Entsprechungen aufschlußreich, zumal die Zuordnung der Lebensmana tragenden Kräfte des Blutes und des Samens an das Wasser erfolgt, während dem Monde das dem Todesmana

verhaftete „Manas“

entspricht. Dieses

Sanskritwort

„Manas“

hat

nichts mit dem Worte „Mana“ zu tun. Es wird ungemein vieldeutig übersetzt

mit: „innerer Sinn, Geist, Verstand, Seele“. Wir vermuten, daß es mit dem grie-

chischen μήν (μήνη) bzw. μηνάς (men, mene, menas), das Monat und Mond bedeutet, zusammenhängt sowie mit dem ebenfalls griechischen μένος, das unter anderem „Trieb, Drang, Kraft“ bedeutet und das wir als eines der Grundworte der mentalen Struktur kennenlernten. Auf den ersten Blick mag die daraus sich ergebende Konstellation, daß der Wurzel „ma: me" einlunarer Aspekt innewohnt,

verwirren, zumal ja die Betontheit der mentalen Struktur in ihrer gerichteten und die BewuDtseinshelle erschließenden Funktion besteht. Doch wenn wir uns an die „Herkunft“ dieser Struktur aus dem Zwielichtigen und dem Nichtigen er-

innern, dann wird deutlich, daß das erste Zählen, das ja ein erstes messendes Richten war, nach Monden erfolgte, ja erfolgen muDte;5? und wenn wir daran denken,

daß sich die Zeiten des Mondes in den Gezeiten des Meeres spiegeln, so stehen wir vor der mythischen Deutung, nach der das Denken die Seele spiegelt: eine Spiegelung, für die wir Beispiele im „Komplementaritätsprinzip“ N. Bohrs und in der „Komplexen Psychologie“ C. G. Jungs haben.

Aber nicht nur in den Upanishaden steht der Todespol der Seele mit dem Monde in engster Verbindung. Auch das ägyptische Totenbuch enthält zahlreiche Hinweise, die besagen, daß die Seele aus dem Monde

auf die Erde komme.

Und

laut pythagoräischer Überlieferung ist der Mond Aufenthaltsort der Seelen und das Heim der Gespenster bzw. der Geister5t. Noch in der Gnostik herrscht diese Annahme, wie aus einer Stelle der apokryphen „Thomas-Akten“ und aus manichäischen Texten hervorgeht52. Und Plutarch läßt gelegentlich einer

Nekyia-

Darstellung, welche die Hadesfahrt des Thespesius schildert, die Seelen der Toten zum Mond gelangens3, wobei eine merkwürdige Übereinstimmung mit wei-

3. Der Todespol der Seele

233

teren Vedastellen auffällt, laut derer der Mond die Todespforte ist54. Und nach Theophilus von Antiochien ist „die Sonne . . . das Bild Gottes, der Mond das Bild des (sterblichen) Menschen“. Aber der Mond (der nur im Deutschen ein Maskulinum ist) ist nicht nur Todespforte, sondern auch gebärend: aus ihm erfolgen

die Geburten der Seelen55. In dieser ambivalenten Symbolisierung spricht sich das aus, was wir eingangs zu erwähnen nicht unterließen und auf das wir abschließend gleich noch zurückkommen werden: daß die Symbolik jedes Seelenpoles bereits den ihn ergänzenden anderen Pol in sich trägt. Bei diesen Bezügen der Hauch-Seele, oder des Todespoles der Seele, zur Vogel-, Luft- und Mondsymbolik handelt es sich um ein erdumspannendes Phänomen: nicht nur die von der mittelmeerischen Kultur geprägten Völker kennen diese Symbolik; sie findet sich un-

abhängig voneinander überall; reichhaltiges Material bieten nicht zuletzt auch die Werke von Frazer und Frobenius36. Von der die Zeiten überdauernden Mächtigkeit der im Mondaspekt enthaltenen Resonanz des Numinosen mögen noch zwei Hinweise lunaren Charakters Zeugnis ablegen. Wir denken an die mittelalterlichen allegorisierenden Darstellungen des Todes und vergessen dabei

[ἢ

nicht, daß ja jede Allegorie eine Art rationalisiertes, ver-

standesmäßig verkümmertes Symbol ist, gleichsam ein er> W ~ frorenes, erstarrtes und entleertes Symbol. Warum trägt di i Tod ei

auf

diesen mittelalterlichen Darstellungen der Tod eine

Sense? Die mögliche rationale Allegorie: sie schneide das lebenspendende Korn und seine Gleichsetzung mit

der Vitalkraft des Menschen, zu deren Schnitter der

Abb.31:DerVerstorbene, das Luftsvmbol fi; s Luftsymbol [in der

Linken] haltend (aus dem

Nu-Papyrus; Budge, VII, 2, p. 199)

Tod aliegorisiert wird, - diese Allegorie scheint in ihrer rationalen Konstruiertheit leer und flach. Diese Leerheit des allegorischen Begriffes füllt sich jedoch in dem Augenblick mit psychischer Mächtigkeit, wenn man realisiert, daß die Sense ja nichts anderes ist als die Sichel des Mondes. Alle diese eher verwirrenden Dinge, Bezüge und Symbolisierungen erscheinen „sinnlos“ — und sie sind es: richtungslos. Das, was aus den angeführten Symbolisierungen hervorgeht, erhält erst dann einen „Sinn“, wenn wir noch den ergänzenden Pol betrachten. Dann freilich, wenn wir beide Pole zusammenzufassen

vermögen, werden wir sie als noch heute wirksame Mächtigkeit erkennen, die wir hier irrational, also ihrem Wesen entsprechend, zu schildern versuchten. Der aufgeklärte Rationalist wird sie nicht ernst nehmen, der Idealist womöglich heiter. Man kann über all das spotten oder lachen. Wer das tut, spottet jedoch nur seiner eigenen Seele und verlacht sie, die er nicht ermessen kann und demzufolge leugnet,

234

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

weil ihm der Mut und auch die Kraft zu einem anderen „Messen“ mangelt, nämlich zu der der Seele entsprechenden Anschauung. Als Idealist gesellt er sich bestenfalls zu der Heerschar der Anempfinder, der assoziativen „Denker“, Psychisten, Gefühls- und Empfindungsmenschen. Aber auch diese werden der

Seele nicht gerecht (insofern man ihr überhaupt „gerecht“ werden kann), da ー |

nicht sie die Seele richten, sondern sie von der Seele gerichtet und damit meistens von ihren unein-

gesehenen Kräften verwirrt werden. Idealisten und Materialisten

sind wie zwei Kinder auf der Wippe. Seit zweitausend Jahren wippen sie nun schon; bald schreit



Us

Ν

der eine Vivat, weil er oben ist, und der andere nimmt alle Kraft und alles Gewicht zusammen, um

Abb. 32: Der Verstorbene, in beiden Händen das Luftsymbol tragend (aus dem Nu-Papyrus; Budge, VII, 2, p. 198)

seinerseits nach oben zukommen; 50 geht das Spiel auf und ab. Und beide denken, es wäre ihr Gewicht und ihre Kraft; und keiner denkt daran, daß ohne jenen Balken in der Mitte, der aus seiner Ruhe heraus all

diese Bewegung erlaubt, ihr ganzes Spiel nicht möglich wäre. Der zweite Hinweis lunaren Charakters bezieht sich auf einige Verszeilen Goethes; sie stehen in einem Gedicht der Verzweiflung, des romantischen Weltschmerzes,

der Klage über Mißgeschick in der Liebe, da der Fluß, der, insofern er Wassersymbol ist, „Leben“ bedeutet, an ihm vorbeirauscht. Es handelt sich um sein Gedicht „An den Mond“, das mit den Versen beginnt: „Füllest wieder Busch und Tal

still mit Nebelglanz, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz.“

In jener Stunde der Sterbenstraurigkeit bricht die „Macht“, das Mana, des Mondes durch, das die Seele aus dem Leben zu lösen vermöchte.

Wenden wir uns nun dem anderen Pole der Seele zu, dem Lebenspol, den wir durch die Wassersymbolik zu schildern versuchen wollen, da der Lebensaspekt der Seele auch durch das Wasser symbolisiert ist. Aber vergessen wir nicht, daß unser Vorgehen weder dem Material ganz entspricht, noch der mythischen Bewußtseinsstruktur, der es entstammt; denn wir gehen, wenn vielleicht auch nicht rationalisierend, so doch mental, weil sie ordnend, ermessend und konstruierend,

3. Der Todespol der Seele

235

an die Dinge heran; was wir unternehmen, ist eine Konstruktion, insofern wir aus der sich bietenden Auswahl noch weiter auswählen müssen. Es ist wichtig,

nicht aus dem Auge zu verlieren, daß die Polarität, die wir aufzuzeigen versuchen, es uns in gar keiner Weise erlaubt, von einem Dualismus zu sprechen. Wir müssen uns aber der Begrenztheit unseres Vorgehens bewußt bleiben, wenn wir, selbst unter Vorbehalten, diskursiv und mental an ein ausgesprochen irrationales Material herantreten. Halten wir deshalb fest, daß wir den Ambivalenz-Charakter

des Psychischen mit Mitteln, die ihm inadäquat sind, herausarbeiten müssen. Adäquat wäre hier einzig die mythische Haltung, das aber hieße, daß wir nicht eine Vorstellung auszulösen hätten, sondern einen Vortraum ablaufen lassen müßten. Wenn wir hier Traumhaftes nachzeichnend im darstellenden Wort sichtbar zu machen versuchen, so wird das, was in der mythischen Sphäre oder in der Traumsphäre ambivalent ist, allzuleicht dualistisch. Versuchen wir es dennoch, weder dem Irrationalen zu verfallen — was bereits geschieht, wenn wir glauben, uns über den „Unsinn“ dieser Symbolisierungen stellen zu dürfen -, noch dieses

Irrationale zu zerschneiden. Denn der Ambivalenz-Charakter der Seele muß uns selbst dann noch gegenwärtig sein und gegenwärtig bleiben, wenn wir einem scheinbaren Dualismus das Wort reden. Diskursiv, das wird jetzt deutlich geworden sein, können wir gar nicht anders vorgehen; ja, wir müssen uns sogar hüten, auf jene Tatsachen hinzuweisen, welche die erwähnte Ambivalenz unterstreichen: gerade wegen ihrer abgrundtiefen Ambivalenz übersteigen oder unterbieten und verwirren sie unser rationales Fassungsvermögen und unser rationales Ausdrucksvermögen. Trotzdem sei auf diesen äußerst verwirrenden Tatbestand hingewiesen. Wir können ihn in seiner Ganzheit erfassen, wenn wir daran denken, daß ja jene mythische Struktur in uns noch vorhanden ist, wobei wir es allerdings nicht für gut halten, sie zu stark zu aktivieren.

Der abgrundtiefe Ambivalenz-Charakter alles Psychischen erschöpft sich durchaus nicht in der Polarisierung von ursprünglicher Lebens- und Todesseele, auch nicht in ihrer symbolischen Ausformung, die in der Luft- und Wassersymbolik Gestalt annimmt. Die Ambivalenz liegt noch tiefer, da sowohl die Lebensseele als auch die Todesseele ambivalent aspektiert sind. Diese profunde Ambivalenz spricht beispielsweise aus dem Umstand, daß neben den verhältnismäßig klaren

Bildentsprechungen beziehungsweise Symbolen, die wir für die Todesseele fanden (und die wir für die Lebensseele nachweisen werden), noch andere Symbolisierungen bestehen, durch die beispielsweise einem vornehmlich als Totenseele charakterisierten Sinnbild plötzlich Attribute der Lebensseele zugeordnet werden. So gibt es Darstellungen der Todesseele als Seelenvogel, wie die Sirenen, welche

Attribute des Wassers, nämlich Fischunterleiber und ägyptische Wasserkrüge,

also Attribute der Lebensseele, aufweisen; oder denken wir an die Biene, die wir

als geflügeltes Wesen der Totenseele zuordneten; sie aber erscheint als Attribut

236

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

der Musen, die ihrerseits aber insofern der Lebensseele niherstehen, als sie Wassernymphen sind; ja, das Wasser selbst hat auch den Todesaspekt, vornehmlich in

dem griechischen Mythologem von Lethos und dem Lethestrom des Vergessens.

Lässen wir es bei diesen Hinweisen bewenden, die wohl genügen dürften, um die

Ambivalenz alles Psychischen, wie sie in Bild, Mythos und Traum sichtbar wird, evident zu machen. Und vergessen wir vor allem nicht, daß wir an diese mythischpsychischen Wirklichkeiten deshalb erinnern, weil sie auch heute noch Wirklich-

keiten, also wirkende Kräfte sind, die unserem Leben in den Zeiten der Halbwachheit, des Traumes und des Schlafes, also mehr als der Hälfte unseres Lebens, Färbung und Gepräge geben -- auch dann, wenn unsere Vernunft das ablehnen

mag, wobei sie aber durch die Ablehnung und das Sich-Wehren die Spannung und damit die Wirksamkeit dieser fundamentalen Gegebenheiten nur erhöht.

Besser als sie abzulehnen, wäre es Sache der Vernunft, sie einzusehen, denn dann

beginnt ihr Werk, ihre Wirklichkeit: unser denkendes Vermógen kann die der Seele auch eingeborene Tendenz zum Sinnhaften bestärken — denn ihr entsprang ja der richtende Gedanke -, so daß wir nicht mehr nur ein Spielzeug unserer un-

eingesehenen Wünsche und Regungen und unserer Emotionen und Imaginationen sind.

4. Der Lebenspol der Seele Nachdem wir uns dem Fluge der Seele anvertraut hatten und dabei einiger Zusammenhänge gewahr wurden, die uns wahrscheinlich eher beunruhigten und verwirrten, als daß sie uns einen Überblick verschafft hätten, wollen wir uns nun auf das Meer der Seele hinauswagen. (Eine

Sprache, die für den Rationalisten keine Gültigkeit haben mag, denn auch die Begebnisse werden ihm verdächtig vorkommen.) Wir

wollen nicht irrationalisieren, nicht das Schlafende wecken; wohl aber anschaulich machen, daD eine weite Zone in uns und in der Welt

von der Wirksamkeit dieser sich in Bildern und Bezügen darstellenden Begebnisse nicht

nur erfüllt ist, sondern beherrscht wird. Und Abb.

33:

Der

Verstorbene,

mit

— Wir

erinnern

an das, was im ersten Abschnitt

beiden Händen Wasser aus einem

dieses Kapitels ausgeführt wurde: daß wir an-

Strom in seinen Mund schöpfend [die T-Form des Stromes symbolisiert den Lebensstrom]. (Aus dem

gesichts der Energetik und fast verwirrenden Wi t di ae 1 t irksamkeit dieser irrationalen Bilderwel

Nebseni Papyrus; Budge, VII, 2, p. 207)

Unsere ganze vitale, psychische und mentale Diszipliniertheit aufzubieten haben, um Distanz

4. Der Lebenspol der Seele

237

zu dieser Bilderwelt zu wahren. Aber wir können sie überblicken, ohne ihr zu verfallen, wenn wir nicht vergessen, daB viele der geschilderten Bezüge heute ihres numinosen Gehaltes entkleidet sind, weil wir es lernten, sie denkend zu betrachten. Doch dies gilt nur für die Zeiten unseres wachen Lebens, für die Zeiten der Wachheit. Es genügt ein Moment der Unachtsamkeit, und wir schwimmen, ohne uns darüber Rechenschaft abzulegen, mitten in jenen Bildern, die wir noch kurz zuvor

als bloße Bilder erkannten und wenn nicht ablehnten, so doch übergingen. Je klarer

wir sie jedoch erkennen und ihnen die Gültigkeit belassen, die ihnen zukommt, da sie uns, insofern sie Sinnbilder sind, die uns konstituierenden Kräfte anschaulich machen, desto gesicherter

werden wir auch jenen Teil unseres

Lebens überblicken, der nicht in der mentalen Wachheit abläuft5? (wobei immer übersehen wird, in welch starkem Maße selbst unsere Wach-

heit dauernd von Tagträumen und assoziativen Träumereien

durchsetzt

ist: unser mentales Wachbewußtsein ist

ADD. 341 Der Verstorbene, an einem Teich

T | klaren Tages wirksam).

ihm die Göttin der Sykomore (Hathor) in eine Schale gießt (aus dem Nu-Papyrus;

"

nicht durchgehend während des ganzen 1

Dem Lebenspol der Seele, für dessen

Ὁ.

t

Ὅσο,

ie eee

PASSES

eee?

CAS

Budge, VII, 2, p. 208)

Herausarbeitung wir uns unter allen erwähnten Vorbehalten der Wassersymbolik bedienen — diesem Seelenpol, diesem Wasseraspekt der Seele, stehen wir schon in dem Moment gegenüber, wenn wir

das Wort „Seele“ aussprechen. Die Etymologie dieses Wortes59 ergibt folgendes:

„Seele (ist) ein gemein-germanisches Wort (Grundform ,saiwaló', auch ‚saiwlö‘:) von noch nicht abgeklärter Herkunft und Verwandtschaft. Früher stellte man es gewöhnlich mit see (urgermanisch ,saiwiz zusammen, was lautlich sehr gut stimmt, rücksichtlich der Bedeutung sich aber nur durch künstliche, wenig einleuchtende Konstruktionen vermitteln läßt.“ Die neueste Forschung nun hat erwiesen, daß diese Ableitung, die den Brüdern Grimm nicht lautlich, aber inhalt-

lich, anzweifelbar schien, durchaus richtig ist. Ergänzend möchten wir noch auf

einen nicht unwichtigen Sachverhalt verweisen, der gerade in der Ableitung von „Seele“ aus dem Bilde vom „See“ seine zumindest entsprechungsmäßige Deutung findet: dem See ist das Spiegelmoment immanent. Das Seelische ist, so dürfen wir schließen, vom Physischen aus gesehen eine Spiegelung und umgekehrt. Derart wird auch die Vorstellung dessen annehmbar, was man die Körper-

Seele-Einheit genannt hat, die zugleich eine Körper-Seele-Polarität ist. Auf den sprachlichen Ausdruck des Spiegelhaften, das Paradoxon, wiesen wir schon hin

238

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

und werden darauf noch zurückkommen. Jedenfalls ist dieser Aspekt des Psychischen auch deshalb interessant, weil er nicht nur den betont psychischen Charakter des Religiösen erschließt, dessen konzentrierteste Aussage stets die paradoxale ist, sondern weil er, wird er erst einmal vollauf eingesehen, über das Spekulative hinausführt: denn „speculatio“ leitet sich von „speculum“, der „Spiegel“, ab und findet sich in jenem Begriffe wieder, der, wie wir nachgewiesen haben, einer der zentralsten unserer Zivilisation war: in dem Begriff „Perspektive“. Doch nicht

von dieser Perspektive soll jetzt gesprochen werden, sondern von den Perspektiven, die dieses Spiegelmoment enthält und erschließt. Die Frage, die man sich stellen kann, ob nämlich die vorhin erwähnte Ableitung auf den See oder die See zurückgeführt werden müsse, ist sekundären Charakters. 6 Interessant an ihr ist lediglich die Tatsache, daß wir in ihr dem Ambivalenz-

Charakter der Lebensseele wieder begegnen. Denn ist es die See, so ist es sich bewegendes, lebendiges Wasser; ist es der See, so ist es stehendes, totes Wasser, jenes,

von dem Maurice de Guérin in seinem Tagebuch schreibt: „Il y a au fond de moi je ne sais quelles eaux mortes et mortelles comme cet étang profond oü périt Sténio le poète.“ (,,Es sind da auf dem Grunde meiner selbst, ich weiß nicht was für tote und tödliche Gewässer, wie jener Teich, in welchem der Dichter Stenio ertrank.“) Dieses Zitat ruft uns eines der Fragmente des Heraklit in die Erinnerung: ψυχῆισιν

ϑάνατος ὕδωρ γενέσϑαι: „Für Seelen ist es Tod, Wasser zu werden“.62 Diese

„Vorstellung“ muß ungemein stark in unserer Psyche verankert sein. Jedenfalls wirkt sie noch heute, denn die Schiffbrüchigen morsen nicht etwa „S.O.L.“, das will sagen: „save our lifes“, „Rettet unsere Leben“, sondern ,,S.O.S.“: „save our souls“, „Rettet unsere Seelen“. In der Gefahr des Ertrinkens kommt, wie auch

sonst in entscheidenden Augenblicken des Lebens, in dem vor die Entscheidung Gestellten eine ursprüngliche, seine eigenen Tiefen aufreißende Reaktion und Formulierung zustande. In diesem „save our souls klingt noch deutlich die urgriechische Gleichsetzung von Leben und Seele nach, die dem Worte „Psyche“ innewohnt. Und noch ein anderes Zitat kann das Heraklit-Fragment illustrieren. Montesquieu schreibt: „Enfin, l'opinion des Anciens, que l’äme de ceux qui se

noyoient dans la mer, périssoit parce que l'eau en éteignoit le feu, étoit très propre à dégoüter de la navigation. Il y avoit des gens qui, dans ce danger de naufrage, se tuoient d'un coup d'épée.“ In einer Anmerkung zu dieser Tagebucheintragung und jede Anmerkung ist ein Apostrophieren — vermerkt Montesquieu: „Je crois que cela se trouve dans Pétrone.“ („Die Ansicht der Alten, daß die Seele jener, welche im Meere ertranken, vernichtet würde, weil das Wasser ihr Feuer aus-

lóschte, war sehr dazu geeignet, ihnen die Schiffahrt zu verleiden. Es gab Men-

schen, welche in dieser Gefahr des Schiffbruchs sich durch einen Degenstich tóte-

ten. — Ich glaube, dies findet sich bei Petronius. )65

Aber dieses Heraklit-Zitat, „Für Seelen ist es Tod, Wasser zu werden“, scheint auf

4. Der Lebenspol der Seele

239

den ersten Blick gerade das Gegenteil dessen auszudrücken, was wir unterstellen:

daß nämlich die Wassersymbolik den Lebensaspekt oder den Lebenspol der Seele zum Ausdruck bringe. Es ist jedoch so, daß wir uns hier wieder einer Ambivalenz gegenüberbefinden. Ein anderes Fragment des Heraklit lautet: ἔκ γῆς δὲ 69oo γίνεται, ἐξ ὕδατος δὲ ψυχή: „Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele“.&4

Damit hebt sich die Ambivalenz auf: wenn aus dem Wasser die Seele geboren wird, so darf sie nicht darin ertrinken, denn das bedeutet ein Zurückfallen in das

Ungeborensein, in den Tod. Dies aber müssen wir vor allem festhalten: in allen urtümlichen Vorstellungen ist das Wasser das primordiale Element, und die zitierten Fragmente Heraklits dürften eine ihrer ersten präzisen Formulierungen im sprachlichen Ausdruck darstellen. Selbst rational ist dies begreifbar, denn wir wissen, daD in einem frühesten

Stadium die Erde, wie schon der Mosaische Schópfungsbericht es aussagt, ganz

|

von Wasser bedeckt war. Das erste Leben, die ersten Lebewesen, waren im Wasser

(selbst der Embryo ist im Mutterleib vom Fruchtwasser umgeben), und alles lebendig Organisierte ging aus dem Wasser hervor.

Marcel Proust, anknüpfend an wissenschaftliche Nachweise seiner Zeit, der

Zeit des ersten Weltkrieges, durfte da-

her sehr wohl den Satz schreiben: „On prétend que le liquide salé qu'est notre

sang n'est que la survivance intérieure de l'élément marin primitif.“ („Man behauptet, die salzige Flüssigkeit, welche

Abb-35: Ani, neben einem Strom oder

unser Blut ist, sei nichts als das innere Wei noli eiterleben des ursprünglichen Meer-

Hathor, dem Gestorbenen Wasser (und

elementes.“)6s

Brot) spendend (aus dem Ani-Papyrus;

.

200.

.

Und in diesem Zusammenhang muß noch

Teich fließenden Wassers, aus dem die Sykomore wáchst; im Baum die Góttin

Budge, II, p. 105)

auf die Studie von Sigmund Freud, „Das ozeanische Gefühl", verwiesen werden, wo er die Tatsache festhält, daß jene Erinnerung an das Ur-Meer und damit an die Ur-Seele sich in dem, was er treffend als das „ozeanische Gefühl“ bezeichnete, des öfteren bei seinen Patienten

als Grundbewegung ihrer Träume manifestierte.66 In welchem Maße diese Vorstellungen und Empfindungen einer Ur-Tatsache entsprechen, die dem prämentalen Bewußtsein stets präsent war und ist, geht aus einer zusammenfassenden Bemerkung Bachofens in seinem ,,Mutterrecht“ hervor.”

Er spricht dort von

240

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

dem Vokal „A“ und führt dazu aus, daß er der Vokal des Wassers sei, denn er regiert sowohl das lateinische „aqua“, das Sanskritwort für Wasser, ,,Apa", sowie das deutsche Wort ,, Wasser“; ja, er sagt, daß dieses „A“ der Laut der Geburt aus

dem Wasser sei, eine materia prima und der Anfang des Weltgedichtes. Hier

dürfen wir ergänzend anfügen, daß selbst noch in manchen Bezeichnungen für „Blut“, wie im englischen „blood“, im französischen „sang“, im spanischen ,,san-

gre“ jenes „A“ nachklingt. Wie recht jedenfalls Bachofen mit seiner Deutung hat, wird ersichtlich, wenn wir daran denken, daß „Aa, Aach, Ach, Ache“, althochdeutsch: „aha“ (= Wasser), der Name vieler Flüsse in der Schweiz und anderen

Ländern ist: Engelberger-, Sarner-, Wäggitaler-, Livländische Aa, und daß dieses „A“ auch im Namen von Orten, die an Flüssen liegen, erscheint, wie: Aarau, Aachen, Fulda und anderen. Um dieses Anfangs- und Lebenselement, das im A des Wassers zutage tritt, des weiteren zu veranschaulichen, sei an die Wirkung eines Gedichtes erinnert. Es steht am Anfang von Rilkes „Stunden-Buch“ und baut sich ganz auf dem A-Klang auf, der nicht nur innerhalb der Zeilen zum Ausdruck kommt, sondern der seine Akzentuierung besonders noch dadurch erhält, daß alle vier Reimwürter, die dazu noch sogenannte männliche Reime sind, diesen Laut betonen, d. h., mit einer betonten Silbe enden. Die Anfangsstrophe dieses Anfangsgedichtes par excellence

lautet:

„Da neigt sich die Stunde und rührt mich an

mit klarem, metallenem Schlag: mir zittern die Sinne, ich fühle: ich kann -

und ich fasse den plastischen Tag.“%

Die bildlichen Darstellungen dieser Wassersymbolik7° sind spärlicher auf uns ge-

kommen als jene der Luft- und Flugsymbolik, es sei denn, wir rechneten zu dieser Wassersymbolik, wozu wir berechtigt wären, alle jene Darstellungen der personifizierten Fluß-, Quell- und Meeresgottheiten sowie die Nymphen- und Musendarstellungen. Aber wir begnügten uns damit, die Vignetten aus den ägyptischen

Totenbuchtexten auf diesen Seiten abzubilden.

Es muß jedoch schon hier festgestellt werden, daß diese Wassersymbolik nicht

nur in den ägyptischen Totenbuchvignetten anschaulich wird, sondern auch in der griechischen Vasenmalerei und in der hellenistischen Kunst. Und wenn diese Symbolik bisher nicht erkannt worden ist, so lag es wohl an der Schwierigkeit, ihrer im griechischen Kulturkreis ansichtig zu werden, da sie dort nur auf eine sehr verborgene Weise zum Ausdruck kommt. Sie findet sich vornehmlich in den

Delphindarstellungen, denn der Delphin symbolisiert sowohl die Wellen als auch

das Meer, also das Leben.7: Wir sind nicht der Meinung, diese Symbolik erschópfend dargestellt za haben. Sie ist dem Wesen des Wassers entsprechend unerschöpflich. Wir sprachen weder

s. Das Symbol der Seele

241

von den Schöpfungsberichten, noch von den großen Sintflutüberlieferungen, weder von den stygischen Gewässern, also von den Strömen des Erinnerns und Vergessens, noch von dem weiten Bereich der Taufsymbohk72. Und wir über-

gingen nicht nur die christlichen, sondern auch die islamischen und die mittelalterlichen Traditionen und Vorstellungen, die an diese Symbolik des Lebenspols

der Seele ankniipfen73. Aber auch so mag ersichtlich geworden sein, welche Rolle die Kraft des Wassers spielt. Es ist ein Element, dem das dynamische, energetische Moment in dem gleichen Maße innewohnt wie der Luft, und das, sinnbildmäßig der seelischen Symbolik entsprechend, einen natürlichen Bezug zu der Seele einging oder durch diesen ausgelóst wurde. Und wenn wir an die weiterwirkende Macht dieses die Seele schildernden und ansichtig machenden Elementes denken, so mag es scheinen, es sei das Wasser ein Menschheits- Trauma. Abschließend sei noch ein Fragment des Heraklit erwähnt: „Seelen aber dünsten

aus dem Feuchten hervor“74. Und sollte dieser Ausspruch auch jetzt noch dem

oder jenem ungereimt erscheinen, so erinnern wir an jene Verse des Mythikers Goethe im „Faust“, in denen sich dieser Ausspruch des Heraklit reimt: „Und steigt vor meinem Blick der reine Mond

Besänftigend herüber, schweben mir

Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch Der Vorwelt silberne Gestalten auf —

Und lindern der Betrachtung strenge Lust.“

Es mag uns wohl erlaubt sein, auch der lindernden Bilder der Seele ansichtig zu

werden, aber vielleicht ist uns auch aufgegeben (und die andauernden Bewußtseinsmutationen sprechen wohl dafür), sie zu verwandeln, damit sich ihre Zwielichtigkeit in den Kristall umschmelze, oder damit sie, dem Kristall gleich, durchsichtig werden. Deshalb mußten wir es versuchen, ihrer in der ihnen entsprechenden Art ansichtig zu werden. Nachdem uns ihre, mental gesehen, widersprüchige Art, psychisch betrachtet aber ihre einander ergänzenden Pole durchsichtig geworden sind, müssen wir die Seele als das Sich-Ergänzende anschauen,

deren

einer Pol den anderen aufhebt oder ergänzt und derart das Widersprüchliche widerspruchslos werden läßt, so daß ihr geheimer und bergender Charakter zum Durchschein kommt: jenes Geheime und Bergende des Irrationalen, das ein InRationales, ein Un-Rationales, und als solches vor allem ein Un-Geteiltes, ist.

5. Das Symbol der Seele Wenn das Wortpaar „Tat : Tod“ für uns heute in erster Linie ein Gegensatzpaar

darstellt, da unser messendes Denken das trennt, was im mythischen Bereiche sich entspricht, was im magischen Bereich zusammengehört, was archaisch das I6

242

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

(menschheitlich gesehen vorbewußte) Ganze bildet, so wissen wir jetzt doch, daß es auch die zwei sich ergänzenden Pole anschaulich macht; und so betrachtet,

spiegelt es den Lebens- und Todespol der Seele. Für diese beiden Pole der Seele

konnten wir eine offensichtlich das lassen zu deutlich gängen erkennen,

Reihe verschiedener Symbolisierungen feststellen.75 Viele tragen Gepräge noch nicht zurückgenommener Projektionen, andere ihren analogisierenden Charakter mit primordialen Naturvorwieder andere erscheinen als bloBe unverbindliche Spekulationen, also vornehmlich als Spiegelungen einer ungerichteten

Bilderwelt. Wie auch immer man nun über sie denken

mag, so ist ihnen allen eines gemeinsam: sie machen die Wirksamkeit der Seele anschaubar; und sie wirken

in dieser oder jener Form noch heute. Aber sie wirken

niemals so, und dies ist das Entscheidende, daD jeweils etwa nur einer der Pole aktiviert wäre; zumindest „negativ“ ist es stets auch der andere. Das jedoch will Abb. 36: Das chinesische besagen: sie wirken stets als sich ergänzende und flieT’ai-Ki Bend ineinander übergehende Kräfte zusammen, die durch keine Grenzen voneinander getrennt sind. Das sind Verhältnisse, die weniger ein Sehen als das Schauen erfordern, dessen psychischen Charakter wir nachgewiesen haben (s. S. 3462). Wir können diese Dinge schwerer sichtbar machen als anschaulich. Diese Struktur war bisher die eigent-

liche Heimat der Dichter. Und es ist gewiß kein Zufall, daß jenes Zusammen von Lebens- und Todespol nur selten im bildlichen Ausdruck zu finden ist, also zeichnerisch symbolisierend dargestellt wurde.

In der weitschichtigen Literatur über dieses Gebiet fanden wir nur sehr wenige derartige Darstellungen; drei bilden wir mit den Vignetten (Abb. 36 bis 38) ab. Die älteste unter ihnen ist das chinesische T’ai-Ki (Abb. 36; wir stellen dieses chinesische Ur-Symbol rechtsläufig, d. h. unserem mentalen Bewußtsein gemäß dar: in China wird es stets linksläufig abgebildet: dort steht die helle [für uns die rechte, bewußte] Seite links, die dunkle dagegen [die für uns die linke, unbe-

wußte ist] rechts.) Es ist ein Prototyp des Symbols, denn es bringt die polaren dunklen und hellen Kräfte, das „Yin“ und das „Yang“, als einander ergänzend

zum Ausdruck. Das echte Symbol ist ja stets eine Zusammenballung zweier sich

ergänzender Pole: es ist also immer zweiwertig (ambivalent), damit aber auch immer zweideutig (ja selbst vieldeutig), und zwar in dem Moment, da wir nur einen der Werte oder Pole ins Auge fassen. Dieser Zweideutigkeit konnten auch wir nicht entgehen, als wir die beiden Pole nacheinander darstellten. Und allen psychischen Aussagen wohnt sie dann inne, wenn wir nur eine ihrer Möglichkeiten in Betracht ziehen. Diese Zweideutigkeit kam in den Orakelantworten der delphischen Pythia zum Ausdruck, so wie sie in allen betont psychischen AuBe-

5. Das Symbol der Seele

243

rungen latent vorhanden ist.76 Von ähnlich zweideutiger Wirkung mußten deshalb auch unsere Einzeldarstellungen der beiden Pole sein. Und selbst das T'ai-Ki

bringt diese Zweideutigkeit zum Ausdruck: jede „Hälfte“ des Symbols birgt in

sich auch den anderen Pol, nimlich die dunkle den hellen Punkt, die helle den dunklen Punkt. Mit anderen Worten: Dunkel und Helligkeit ergánzen sich nicht nur, sondern jedes enthält für sich betrachtet auch das andere, so wie der Todes-

pol der Seele, den wir in den Bildern der Luft, des Fluges, des Vogels und des Mondes symbolisiert fanden, immer auch symbolisch den Lebenspol enthielt, so wie der Lebenspol der Seele, den wir vornehmlich in dem Bilde des Wassers symbolisiert sahen, immer auch symbolisch den Todespol einschloB. Erst dann,

wenn wir nicht mehr von den Polen ausgehen, sondern von der Ergänztheit, die

sie zusammengenommen darstellen, oder wenn wir in jedem Pol zugleich auch seines entsprechenden anderen Poles gewärtig sind, erschließt sich uns das echte Symbol und damit die Seele als das Sich-Ergänzende. Das Symbol als eine Zusammenballung zweier sich ergänzender Begebnisse ist also immer zweiwertig

und damit in dem Moment zweideutig, wo wir nur einen seiner Werte ins Auge

fassen. Wir dürfen nicht vergessen, daß sich das Wort Symbol von dem griechi-

schen Verbum ovußdAAw (symballo) ableitet, das „zusammenballen, zusammenfügen, vereinigen“ bedeutet. In jedem Symbol schlummern stets zwei grund-

legende Möglichkeiten, die rational gesehen einander entgegengesetzt sind und

die nur psychisch gesehen ein Ergänztes bilden. Diese Ergänztheit stellt also nur eine psychische und deshalb immer ambivalent bleibende „Einheit“ dar. So be-

trachtet, dürfte wahrscheinlich das kreisfórmig in sich geschlossene Kraftfeld des

T'ai-Ki eine der vollkommensten Darstellungen des mythischen Weltbildes und

damit auch der Psyche sein. In ihm findet sich das graphisch ausgedrückt, was Heraklit in dem bereits zitierten Fragmente aussagt (s. S. 98): „Derselbe aber ist Hades und Dionysos“; ein Wort, das durch ein anderes seiner Fragmente erhellt wird: „Leben und Tod ist in unserem Leben ebenso wie in unserem Sterben“.78 Das, was an diesen Fragmenten als dunkel und rational schwer verständlich be-

funden wurde, klirt sich, wenn wir ihnen den entsprechenden Geltungsbereich belassen, und dieser ist vorwiegend der mythische. Angesichts des T'ai-Ki, in dem

Licht und Schatten, Leben und Tod, Hades und Dionysos als psychische Ergänzt-

heit zusammengefaßt anschaubar werden, wo also die Zweiwertigkeit auf eine ungemein einleuchtende Art polarisiert ist, erscheint dieses Wort des Heraklit gewiß nicht mehr dunkel, eher zwielichtig.

Wir haben in unserer Interpretation des T’ai-Ki aus der Fülle der Symbolkraft dieses „Zeichens“

vornehmlich

die Wirkung

berücksichtigt, die sich auf das

Wesen der Seele bezieht. Es ist aber ohne Zweifel mehr als nur ein Seelensymbol und darf in einem umfassenderen Sinne gedeutet werden: als eines der sichtbar gewordenen Urmuster der ursprünglichen und unsichtbaren kosmischen und uni-

244

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

versalen Struktur und Gestaltwerdung. Gerade an dem T’ai-Ki, billigt man ihm

diesen ursprünglichen Gehalt zu, wird ersichtlich, in welchem Maße jedes echte Symbol wirkendes Ursprungselement und präformierendes Grundmuster des Seins, des Seienden und des Gewordenen, also der ganzen Wirklichkeit, ist. Es ist,

wie jedes Ursymbol, wahrscheinlich nicht nur prähuman, das heißt vormensch-

heitlich, sondern selbst prätellurisch, das heißt vor-erdhaft, also einer „Zeit“ ent-

stammend, da die Erde noch nicht „war“, jene prätellurische „Zeit“, von der ein apokryphes Wort Christi spricht: „Ich wählte euch aus, bevor die Erde entstand‘“79. Wir weisen auf diesen Ursprung hin, da es heutzutage üblich geworden ist, das Symbol und alles Symbolische rational auszulegen oder zu erörtern, so, als könnte man dem Symbol, das nicht raumgebunden ist, einen Ort zuweisen. Da es nicht der mentalen Struktur entstammt, ist es falsch, es mental zu interpretieren, was

auch dann geschieht, wenn man das Vorkommen ein und desselben Symbols in verschiedenen Zeiten und Weltgegenden durch Migration zu erklären versucht.

Die Migration ist eine bereits raum-zeitliche Vorstellung, die nur der mentalen Struktur gemäß ist; sie ist auf das Symbol nicht anwendbar, da dieses nicht nur raum-zeitlos ist, sondern ursprünglich und damit vorräumlich und vorzeithaft sein dürfte: möglicherweise sogar prá-archaisch.?? Rationale Beweise dafür lassen sich freilich nicht beibringen. Das beweisende Wissen, also das mental-rationale Vermógen allein genügt nicht, um diese vermutete Wahrheit evident zu machen.

Vor ihm erscheinen solche Aussagen entweder zwielichtig oder womöglich überlichtig. Zwielichtig erscheinen sie, wenn sie in der mythischen Haltung gründen,

wenn sie also psychisch und irrational betont sind. Überlichtig sind sie, wenn sie in einer Haltung gründen, die aus den bisherigen Haltungen oder Strukturen her-

ausmutierte und somit apsychisch und arational betont ist. Auch hieran wird zudem deutlich, daß die neue Mutation dem Bewußtsein „neue“ Zusammenhänge

erschließen kann.

Es besteht ein stilles Gesetz, daß der, welcher gewisser Zusammenhänge ansichtig

wird, es nicht ungestraft bei ihrer Betrachtung bewenden lassen darf. Anders ausgedrückt: werden uns gewisse Zusammenhänge anschaulich, so beginnen sie, das Bewußtsein verpflichtend, zu wirken; das Anschaulichwerden ist ja für die Struk-

tur, von der wir hier sprechen, ein sichtbar werdendes Erinnern; das fordert das ergänzende Entäußern und schließt einelebendige Handlung ein. Oder, umesnoch einmal auf eine andere, diesmal rationale Weise auszudrücken: das nur ermessende Wissen um die vorstehend anschaulich gemachten Zusammenhänge genügt nicht,

es sei denn, es setze sich in lebendiges Wissen um. Das ermessende Wissen wird uns durch die Vorstellung, das lebendige Wissen durch die Erfahrung. Und jede Erfahrung, die stets ein seelischer Prozeß ist, nämlich ein Erfahren des Meeres

(s. S. 81), ist gleichzeitig eine Entäußerung: das innere Wissen wandelt sich oder

5. Das Symbol der Seele

245

lagert sich in das Bewußtsein um. Aber gerade dieser notwendigen Leistung widersetzt sich der nur rational Denkende unserer Tage. Bestenfalls will er mit dem Verstande leisten, was, bildlich gesprochen, nur mit dem Herzen zu leisten

ist, nämlich mit den Maßen und dem Takt, die sich nach dem Schlagen des Herzens richten, und nicht mit jenen, die hin und wieder der Verstand dem Herzen

aufzwingen will. Nicht der Verstand also vermag diese notwendige Leistung zu erfüllen; eher noch die Vernunft, die trotz ihrer Verwandtschaft mit dem Verstande nicht jener anderen verlustig ging, die sie mit dem Herzen verbindet, dessen messendes Schlagen sie noch vernimmt.?!

Zu allen Zeiten und in allen Zonen haben die verschiedensten Wege zu dem lebendigen Wissen um die polare Ergänztheit der Seele geführt. Dabei darf man nicht den Fehler begehen, von dieser polaren Zweieinigkeit als von einer Einheit der Seele zu sprechen, da diese ein Gegenüber erfordern würde. Die chinesische

zahlensymbolische Interpretation, die an das ,/T'ai-Ki^ geknüpft ist, weiß von dem polhaft Sich-Ergänzenden der Seele und legt den größten Wert darauf, daß die „ı“ in keiner Weise mit ihm in Verbindung gebracht werde.?? Die Schilderung der erfolgten Mutationen hat uns gelehrt, einer psychischen Begebenheit . nicht magischen Einheits-Charakter zu überbinden. Denn das Psychische, das in sich selber polar ist, ist wiederum Pol des Physischen. Seele und Kórper stehen zueinander in demselben polar einander bedingenden und ergänzenden Span-

nungsverhältnis wie Zeit und Raum: der kórperhafte Raum und der raumhafte Körper sind materialisierte Zeit und materialisierte Seele, die zu ihrer Entfaltung, Formwerdung und Erstarrung des Raumes und des Kórpers bedürfen. Die akute Energetik jener entspricht der latenten dieser (siehe auch S. 36), die einen sind nur die latenten Erscheinungsformen der anderen; und der MeDbarkeit von Raum

und Körper entspricht die Unmeßbarkeit von Zeit und Seele. Was wir auf der

einen Seite verstehen kónnen, das müssen wir auf der anderen vernehmen oder erfahren. Und dieses Vernehmen oder diese Erfahrung ist das lebendige Wissen,

welches das ermessende Wissen ergänzen muß. Ohne diesen Prozeß, ohne diese Leistung ist kein Leben fähig, eine bewußte Gänzlichung zu vollziehen. Zu diesem lebendigen Wissen führten seit alters her die verschiedensten Wege, je

nach dem Bewußtseinsgrad der entsprechenden Strukturen. Jacob Böhme, der große deutsche Mystiker, wurde sich dieses Wissens intuitiv bewußt, als er, wie schon oft zuvor, in der nächtlichen Schusterwerkstatt die lichtdurchschienene Glaskugel betrachtete. Was den Osten anbetrifft, so wird dank der Beschreibung, die D. Suzuki®3 vom

Zen-Buddhismus gibt, nicht nur die östliche Erfahrung der Seele ersichtlich, sondern daß durch die Zen-Schulung darüber hinaus auch die absichtsvolle mentale

Wachstruktur realisiert wird; von ihr sucht sich jedoch der Zen-Schüler wegen ihrer rationalen Folgen zu befreien, um schließlich, ausgelöst durch eines der „un-

246

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

sinnig“ erscheinenden „Koans“ (eine Art paradoxaler Sentenzen), urplötzlich, nämlich ruck- oder sprunghaft, also mutationsmäßig, im „Satori“ eine das Bewußtsein steigernde Überwachheit zu gewinnen: jene Bewußtseinsstruktur integrierender Wirksamkeit, die wir als die ,,arational-integrale" bezeichnen. #4 In unserem Kulturkreis begegnen wir verschiedenen Formen der psychischen Er-

fahrung, wobei dann der Akzent besonders stark auf der des Dunklen oder des Todespoles der Seele liegt. Durchaus unberechtigterweise erscheint dem ratio-

nalen Menschen das, was im Lichte steht, und wären es auch nur seine guten Eigenschaften, klar und einer weiteren Erfahrung

nicht bedürftig. Aber schon im ägyptischen KulTEご と

|

K | \|

ἢ 1t À $ 1३

pi

११ | Σ H | ὶ1

af) '

GE Ff [[{54 ーー

turkreis finden wir diese Konstellation, denn es

sind uns aus ihm mehr Dokumente erhalten geblieben, die sich mit der dunklen Seite der Seele efassen. Der noch vorwiegend magische



freilich

mit

dem

nete

(aus dem Nu-Papyrus; Budge,

eigenen Dunkelheit

VII, 2, p. 200)

Unterschiede,

daß

im

Magischen das Dunkel bergend ist, heute aber zerstórend wirken kann, ja sogar meistens

Abb. 37: Der Verstorbene, in einem Strome stehend und in der

Linken das Luftsymbol haltend

|

Mensch ist, darin dem defizient magischen (rationalen) Menschen unserer Zeit verwandt, stärker an das Dunkle gebunden als an das Helle; dies

B

|

zertrümmernd wirken muß, weil seine verleugKraft.

at

die

ia

J

nur

eine

Leugnung

gnung

und Abgründigkeit

der

ist,

negativ auf den Menschen unserer Tage zurück-

schlägt. Die große Totenbuchliteratur Ägyptens ist eine wirksame Bemühung um den

Todesbereich der Seele. Aus ihren schwerverständlichen Texten leuchtet das Wissen um ihn, das die Vignetten (Abb. 37 und 38) erkennen lassen. Denn was im T’ai-Ki musterartig gefaßt ist, das ist hier bildmäßig anschaulich gemacht: die ergänzende Vereinigung der beiden Seelenpole durch den Menschen, wobei der Lebenspol durch das Wasser, der Todespol durch das Segel symbolisiert wird, und wobei der Tote, in beiden Polen befangen, die rational einander ausschließen,

beide trägt und erträgt. Vergessen wir dabei nicht, daß diese Texte und Bilder als Anweisungen für die Todesreise den Toten von den Lebenden mitgegeben wurden: beide „wissen“ um die dargestellten Dinge und sollen um sie wissen. Und es ist gewiß nicht zufällig, daß alle Figuren auf diesen Vignetten fast ausnahmslos nach rechts gewandt sind; das aber besagt, daß die Lebenden, die sie zeichneten, den dunkelen Todespol erfuhren und sich somit bewußter dem Leben, dem hellen, rechten Pol des Ganzen, zuwenden konnten. Daß diese Deutung keine bloße

Spekulation ist, dafür glauben wir den Nachweis erbracht zu haben durch die

s. Das Symbol der Seele

Schilderung der Rechtsbetonung in der griechischen Zeit, zu Beginn der mentalen Struktur. Als eine Bestätigung dafür mag eine Stelle aus den „Akten des Archelaus“ gelten, „daß die Manichäer, wenn sie sich begegnen,

.

sich

di

die rechte

Hand

प - A iB

.

PPS

rei-

VD

chen, zum Zeichen, daB sie aus der Finsternis erlöst sind 55

247

(ष ΣΣ

τττττιττττ

ハ 24 ER

29



=

BY

シシ シン ツン

९९६९९ < SN

|

Abb. 38; Ani und seine Frau Thuthu, in einem

bringen die Nekyia-Beschreibungen berichthaft das zum Ausdruck, was wir als den Weg

beide das Luftsymbol in der einen Hand haltend, mit der anderen, rechten Hand Wasser schöpfend [die rechte Hand, die lebendige Seite, schöpft das

In der griechischen Mythologie

zur Erschließung und Erfahrung des lebendigen Wissens bezeichneten; heute bemüht sich die

strom

oder Teich fließenden Wassers stehend;

lebendige Wasser; die linke Hand hält das Symbol des Todes!] — (Ausdem Ani-Papyrus; Budge, VII, 2, p. 202; auch in II, p. 106)

moderne Tiefenpsychologie darum, nur teilt sie rational in Bewußtes und Unbe-

wußtes auf, was „tiefer“ ist als dieser bloße Gegensatz: was nämlich nicht nur eine

Frage nach Dunkel oder Licht ist, sondern was als Ergänztheit von Leben und Tod polar sowohl Frage als auch Antwort einschließt.

Ehe wir jedoch auf die Nekyia-Schilderungen zurückkommen, in denen sich die

Erfahrung des Todes im Leben ausdrückt, müssen wir noch auf zwei Fakten hin-

weisen, die uns Kunde von dem ehemaligen „Wissen“ um die Ergänztheit von

Leben und Tod vermitteln. Die eine kommt uns aus der vedischen Literatur, die

andere läßt sich von zwei griechischen Darstellungen ablesen. In einem der Bücher des „Mahäbhäratam“, dem ja auch die „Bhagavadgitä“ angehört, findet sich, und zwar in den philosophischen Texten des „Sanatsujäta-

Parvan“, eine Stelle, die nicht vereinzelt sein dürfte; uns ist, da bisher nur geringe

Teile dieses Riesenwerkes übersetzt wurden, nur diese Stelle bekannt; es ist aber

gewiß, daß der nachfolgende Satz eine Grundvorstellung dieser Überlieferung (die eine der ältesten ist) zum Ausdruck bringt. Es heißt dort: „... (der Tod) ist die mit Verblendung behaftete innere Seele; das fürwahr ist der Tod, was als solches in deinem Leibe wohnt.“86 Da „Leib“ hier durchaus als Synonym von „Leben“ betrachtet werden darf, und da ein rationaler Dualismus in jener Zeit

noch nicht Gültigkeit hatte, darf diese Aussage wohl neben die bildlichen Äußerungen gestellt werden, wie sie uns im T’ai-Ki und in den Totenbuchvignetten

entgegentreten. Diese Grundwahrheit, daß Tod und Leben keine Gegensätze, sondern Ergänzungen sind, daß sie kein perspektivisches Nacheinander, sondern ein polares Miteinander sind, an dem wir jederzeit teilhaben, ist ja im Anbruch des „aperspekti-

248

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

vischen Zeitalters“ von mehr als einem der heutigen Dichter wiederentdeckt worden. So, um nur ein Beispiel zu nennen, wenn Rilke von dem „Tode in uns“

spricht. Wie denn dieses scheinbare Anknüpfen an die Wahrheitsaussagen, die uns aus den praemagischen Zeiten (oder Zeitlosigkeiten) überliefert worden sind, ein Charakteristikum des „Aperspektivischen“ darstellen mag. (Doch davon wird

im zweiten Teile zu handeln sein.) Hier sei nur der wahrscheinlich grundlegende Unterschied festgehalten, der beispielsweise den vedischen Satz von den heutigen

Aussagen unterscheidet: was einst unmittelbare Weisheit war, ist heute zu mittel-

barem Bewußtsein gelangt. Und dieses Bewußtsein ist die Vorbedingung für die Integration, wie sie sich in der integralen Struktur der „aperspektivischen Welt“

vollziehen mag. Diese Ergänztheit von Leben und Tod läßt sich auch innerhalb der griechischen Tradition nachweisen. Freilich ist sie von unserer Zeit nicht mehr erkannt worden,

da der rationale Dualismus unfähig ist, die polare Erfahrung zu realisieren, die sich in jenen Darstellungen ausspricht. Es sind vor allem zwei symbolische Darstellungen, die wir den chinesischen

und

ägyptischen

der Zeit

soo v. Chr.,

Symbolisierungen als gleichwertig und ausdrucksgleich zur Seite stellen dürfen. Die eine findet sich in einem griechischen Bild aus um

das

eine Schale ziert (siehe Abb. 41,

Tafel 7). Eine der Gestalten trägt einen Schild, der einen geflügelten

Delphin im dreifachen Kreise darstellt. Da der Delphin, wie wir (s.S.240) Abb. 39: Geflügelter Delphin (Detail aus Abb. 41

auf Tafel 7)

und

gesehen haben, Meer

Wasser

symbolisiert,

sind

hier die beiden Pole der Seele, der Lebens- und der Todespol, im Wasser- und im Luftsymbol, kreisumschlossen einander ergänzend, dargestellt

(siehe auch Abb. 39). Und eine Bronze der hellenistischen Zeit führt uns noch einmal dieses Bild der Seele vor Augen. Denn die Darstellung jenes „beflügelten

Epheben“ (Rabinovitch), der von einem Delphin getragen wird (siehe Abb. 40,

Tafel 7), ist nicht blof ein freundlich schónes Kunstwerk. Es handelt sich um den Henkel eines Aschenkruges, der bei den Grabfunden von Myrina entdeckt wurde.?7 Hier schließen Fisch und Flügel, Meer und Flug, also Wasser

und Luft und somit Lebens- und Todespol der Seele in einem fraglos ineinander

5. Das Symbol der Seele

249

übergehenden Rhythmus den Kreis. Und hier leuchtet noch einmal, schon im Metall wie erstarrt, die Ergänztheit des Seelenbildes auf. Denn dieser Knabe ist nicht nur eins mit den Flügeln; er ist auch eins mit dem Delphin. Es ist der gleiche Rhythmus, der auch das T'ai-Ki auszeichnet, der hier durch Flügel und Fischkörper strómt. Aber zwischen dem chinesischen und dem griechischen Symbol besteht ein grundlegender Unterschied, denn im Zentrum des hellenistischen Seelensymbols erscheint der Mensch, den das T’ai-Ki, als Symbol umfassender, nicht

zeigt und den die Totenbuchvignetten als bloßes Schema darstellen. In der hellenistischen Fassung, die der Zeit der aufblühenden und sich konsolidierenden mentalen Bewußtseinsstruktur entstammt, ist der Mensch bereits zum geräum-

lichten Zentrum geworden. Hier ist es nicht mehr nur die Seele als solche, die im Sinnbild Ausdruck erhält. Und geht es in dieser Darstellung zwar um Inhalte, die auch an den Totenkult gebunden sind, da sie, wie die ägyptischen Totenvignetten, einen Hinweis auf das Schicksal nach dem Tode sinnbildlich faßt, so darf doch

nicht übersehen werden, daß hier wie dort die Seele als polare Ergänztheit dargestellt wird: jener Knabe ist nicht (wie Usener es ausdrückt) nur ein „geflügelter

Eros", oder (wie Rabinovitch ihn charakterisiert) bloß ein „beflügelter Ephebe".

Wohl aber ist er das beflügelte Seelen-Abbild des Menschen, der um beide Pole

der Seele „weiß“, dem im Moment des Sterbens beide Pole gegenwärtig sind und

dessen ganze Seele sichtbar wird: ihr dunkler und ihr heller Pol; oder, um es mit den Worten des „Mahäbhäratam“ zu umschreiben: ihr „verblendeter“, also blin-

der und damit dunkler „innerer Teil“, der unausgesprochen den implicite mitgegebenen sehenden oder hellen Teil evoziert.2?

Wasnun die Nekyia-Beschreibungen betrifft, so sind uns einige überliefert worden, die wir erwähnten (s. S. 84f.), als wir versuchten, den Bewußtwerdungs-Prozeß zu

schildern, wie er sich innerhalb der mythischen Struktur abspielte. Allen diesen Berichten, die Nachtmeerfahrten schildern oder den Abstieg in die Unterwelt,

haftet jedoch schon ein Element diskursiven Denkens an, denn sie werden be-

schreibend dargestellt. Die tatsächliche Erfahrung wurde den Griechen in den orphischen Mysterien der Frühzeit zuteil. Diesen orphischen Mysterien lag ohne Zweifel die kultische Erfahrung des Demeter-Persephone-Mythologems zugrunde. In ihm findet sich bildlich und dem Bilde entsprechend weitschweifig

dargestellt, was Heraklit (am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.) in den knappen

Satz: „Derselbe aber ist Hades und Dionysos“ zusammenfaßte, was aber bereits

eine Generation später durch Euripides (im Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.)

gegensätzlich gefaßt wird, wenn er fragt: „Wer weiß wohl, ob das Leben nicht ein Totsein ist, das Totsein aber Leben?“ Während jedoch die Mysterien den

weiblichen Aspekt unterstrichen, betonte Heraklit, der schon der patriarchalen Zeit angehört, in seiner Schrift den männlichen Aspekt. Der matriarchale Zug

kommt in den Mysterien insofern zum Ausdruck, als dort die Tochter Demeters,

250

Zur Geschichte der Phánomene Seele und Geist

Persephone, zur Unterweltsgóttin wird. Aber allein schon darin, daß Persephone als Tochter Demeters dargestellt wurde, erschließt sich uns die polare Grundstruktur der Seele. Denn in den Mythologemen stellen die Söhne oder die Töchter nichts anderes als die zum Bewußtsein, zu einem Bildbewußtsein, gelangten

Aspekte eines Elternteiles dar. Wenn also Demeter, die Fruchtbarkeits- und

Lebensgöttin, die Mutter der Persephone versinnbildlicht und Persephone zur Unterweltsgöttin wird, so drückt sich darin die Entfaltung der Seele in ihre ambivalenten Pole aus. Die Mysterienhandlung, soviel wissen wir heute, endete mit der Wiedervereinigung von Mutter und Tochter, wenn auch nur auf kurze Zeit, nachdem den Mysten in kultischer Handlung das gesamte Mythologem dargestellt

worden war, einer Handlung, an der sie selber teilnahmen und dadurch teilhatten. Damit wird deutlich, daß sich in diesen Mysterien eine Art zumindest bildmäßigen Bewußtwerdens des Hades-Aspektes der Seele, also ihres Todespoles, vollzog. In welchem Maße dieErfahrung dieser dunklen Seite der Seele ein Bewußtwerdungsvorgang und damit bis zu einem gewissen Grade ein Integrations-Prozeß hinsichtlich dessen ist, was heute unzulänglich als das Unbewußte bezeichnet wird, geht aus dem NarziB-Mythologem hervor, über das wir (s. 5. 8rt.) schon gespro-

chen haben: dieses Narzib-Mythologem bringt neben den Meerfahrt- und den

Sonnen-Mythologemen eine Bewußtwerdung par excellence zum Ausdruck. Narziß nannten die Griechen jenen, der seiner selbst im Spiegel des Wassers, also der Seele, ansichtig wurde. Und Narzissen sind es, die Persephone, von Eros da-

zu verführt, pflückt und sich dadurch an die Unterwelt ausliefert. Aber diese Auslieferung an die Unterwelt ist eben für Persephone gleichbedeutend mit der Erfahrung der Unterwelt. Auch hier klingt das große Geheimnis jener Ganzheit an, die sich mit den Worten: Liebe, Leben, Tod nur eben andeuten läßt. Dieser Hades,

dieses Reich der Persephone, die die Hüterin der goldenen Äpfel ist, dieses Reich des Dunkels in uns, wurde noch im 3. Jahrhundert n. Chr. auch als das Reich des Chaos aufgefaßt. Auf den letzten Seiten der „Pistis Sophia", eines koptischgnostischen Textes®, findet sich der ungemein aufschlußreiche Satz: „Danach

führen sie (die Dämonen) sie (die Seele) zum Chaos vor Persephone.“ Keinesfalls sind diese Mythologeme oder diese Mysterien damit erschöpfend geschildert; kein einziges ist erschöpfbar ; wäre es das, so wäre es keines und gründete

nicht im mythischen Reiche der unermeßlichen Seele. Grundsätzlich ist zu bemerken, daß jedes Mythologem, sowie später auch fast jedes Symbol, alles enthält, jedenfalls alles, was sich auf die Psyche bezieht. Und was in ihnen verschwiegen scheint, ist wie die Rückseite eines Teppichs, an dessen negatives Bild wir meistens nicht denken, wenn wir die uns zugewandte, für unsere Wachheit gewobene Seite anschauen. Wir haben versucht, den Akzent mehr auf das Anschaulichmachen als auf das

Darstellen zu legen. Alle unsere Bemühungen gelten der Integrierung der Polari-

$. Das Symbol der Seele

251

tit und Ambivalenz der Seele, damit dem einzelnen aus der bewuDtgewordenen Ambivalenz heraus die Polarität der Seele bewußt werde. Das Bildhafte ist in diesem Bereiche deutlichender als das Begriffliche. Psychologische Begriffe stellen bestenfalls den Versuch einer rationalen Annähe-

rung an die Seele dar. Sie können hilfreich sein und ordnend wirken, wo wir zur rechten Zeit ihrer Unzulänglichkeit gewahr werden und uns ihrer begeben kónnen. Damit, daf wir es lernten, gewisse psychische Phinomene mit einem Namen

zu nennen, ist noch nichts getan. Jedenfalls sind sie durch diese Art modernen Besprechens nicht gebannt. Im Gegenteil: ohne daD wir es merkten, sind wir in die magische Struktur zurückgefallen, in der es erlaubt war, bannende Zauberformeln durch Namengebung und Namensverschweigung zu gebrauchen. Unsere Aufgabe ist nicht, die psychischen Phinomene zu bannen, auch nicht, sie

zu begreifen; sie erschöpft sich nicht einmal ausschließlich darin, diese Phäno-

mene zu richten, weil Richten nur ein dauerndes Rechtsbetonen ist. Unsere Auf-

gabe sollte es sein, die ihnen innewohnende Sinnhaftigkeit dadurch sinnvoll zu gestalten, indem wir sie integrieren. Unter Integrieren verstehen wir den Prozeß des Geschehen-Machens und Geschehen-Lassens. Auf das Psychische angewandt, heißt das ein Realisieren der vorgegebenen „Sinnlosigkeit“ und „Sinnhaftigkeit“ des Seelischen. Die dem Psychischen innewohnende Sinnhaftigkeit scheint im Widerspruch zu der Richtungslosigkeit zu stehen, die der Kreisbewegung eignet. Diese Kreisbewegung ist richtungslos, weil ihre Richtung (die aber eine Krümmung ist) sich jeweils sofort erfüllt, also selbst aufhebt. Außerdem kann der zweidimensionale „Raum“ niemals Träger einer Richtung sein — und der Kreis ist zweidimensional. Wenn wir nun doch von einer Sinnhaftigkeit, also von einer Gerichtetheit der seelischen Phänomene oder Vorgänge sprechen, so löst sich

dieser Widerspruch, da dem Polcharakter des Seelischen entsprechend jede seiner Ausdrucksformen polar ergänzt sein müß. Der offensichtlichen Richtungslosig-

keit entspricht die verborgene Gerichtetheit, der Latenz entspricht die akute Funktion des Seelischen. Der Aktivierung dieser Latenz, die sich in dem gerichteten Denken manifestierte, das aus dem Psychischen entsprang, entsprach seit jener Zeit die andauernde Entaktivierung der einstigen richtungslosen Geschlossenheit des Psychischen, die heute nur als latente Funktion und deshalb so oft negativ in Erscheinung tritt. Es gilt also integrierend einzusehen, daß eine „Richtungslosig-

keit“ keine negative Wirklichkeit ist, sondern eine Ergänzung und Entsprechung. Dann wird auch der heutige Zustand der Welt, der eine psychische Zerquältheit erkennen läßt, überwunden werden können.

Wir waren gezwungen, zuerst auseinanderreißend die beiden Pole der Seele zu betrachten, ehe wir uns ihrer Ergänztheit nähern konnten; jetzt aber vermögen wir uns von der Art des Sich-Ergänzenden ein Bild zu machen. Die Polarität der Seele läßt sich nicht begreifen; sie läßt sich nur erfahren. Wir müssen das fast

252

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

wörtlich nehmen; denn in dem Worte „erfahren“ und „Erfahrung“ klingt ein Seelenaspekt auf: der Wasseraspekt der Seele. Nur eine Fahrt durch die Lebens-

und Todeszonen der eigenen Seele, nur diese buchstäbliche Erfahrung, kann vielleicht den einzelnen instand setzen, das, was wir rational als Zwei-Einheit der

Seele geschildert haben, lebendig zu wissen. Aber hüten wir uns besonders angesichts dieser Probleme vor jedwedem Pathos.

Solange wir vom Pathos befangen sınd, sind wir die Sklaven unserer Seele, sind

wir von der Psyche befangen, sind wir das, was wir Psychisten nannten; sie aber sind nur der Gegensatz zu jenen Materialisten, die glauben, sich zu Richtern der Psyche erheben zu dürfen, die aber als Richter nicht wissen, wie einseitig und einsinnig ihr Richten ist, und die nicht ahnen, daß es auch „sinnvoll“ gestaltet wer-

den könnte.

Schauen wir diese Polarität so nüchtern und klar an, wie sie ein frühchristlicher

Gemmenabdruck schildert (siehe Abb. 42)91: das Bild des Todes, umschlossen von dem lebendigen Kreise, und in ihm mitenthalten die beiden Pole der Seele: oben der Schmetter-

ling, das Luft- und Todessymbol; unten der ägyp-

tische Wasserkrug, das Lebenssymbol. Hier spricht sich symbolisch aus, was Jahrhunderte später Omar

Khayyam in die Worte kleidete: „Wie Wasser kam ich, um wie Wind zu scheiden."92 Auf der Gemme und mit diesen Worten ist die ganze Seele gemeint,

die in der Ergänztheit ihrer Pole sichtbar wird. Und

Abb. 42: Frühchristliche Gemme

wenn aus dem Worte Omar Khayyams die Andeutung spricht, daß das Leben Wandlung sei, so spricht

aus der Gemme die Andeutung, daß auch der Tod

Wandlung ist: das eine ergänzt den anderen, so wie ja auch das Vor-der-Geburt

und das Nach-dem-Tode einander ergänzen und doch beide immer im Ganzen

sind. Besonders aber wird an der Gemme anschaulich, daß die Seele der dauernde

Vorgang der Ergänzung ist: ein lebendiges und erfahrenes Wissen.

6. Zur Symbolik des Geistes

Nach den Ausführungen in den vorhergehenden Abschnitten dürfte deutlich geworden sein, daß mit dem Ausdruck Symbol eo ipso eine psychische Konfiguration gegeben ist. Das Symbol ist nicht nur eine Darstellungsform, sondern auch eine Ausdrucks- oder Erscheinungsform des Psychischen. Es hat, wie dies, polaren Charakter und ist ambivalent. Wenn wir uns nun der Geschichte des Phänomens Geist zuwenden, wird es uns nicht erstaunen, daß wir auch hier von einer Sym-

6. Zur Symbolik des Geistes

253

bolik sprechen müssen, weil das, was man bisher als Geist bezeichnete, vornehm-

lich ein psychisches Phänomen ist. Im Anschluß an unsere Darstellung des Numinosen und des Mana stellten wir fest, daß es ursprünglich sowenig einen Geistbegriff wie einen Seelenbegriff gegeben hat. Aus den numinosen, manabehafteten „Vorstellungen“ lösten sich allmählich nicht die Seele oder der Geist, sondern Seelen und Geister. Wir fanden dann

jene allmählich sich zeigende Aufspaltung des Seelenbegriffes, die in der Ambivalierung in Lebens- und Todesseele zum Ausdruck kam. Von der Todesseele aus führt nun eine zerbrechliche Vorstellungsbrücke zu den Totengeistern. In ihnen, den zu Dämonen gewordenen Totenseelen, nimmt die Vorstellung von Geistern

Begriffs-Charakter an. Sie sind negativ wirkendes Mana. Und alles Spukhafte,

Geisternde, Gespenstische, Koboldhafte rankt sich um diesen Begriff. Er hat aber

auch seine positiven Aspekte: den Schutzgeist oder Schutzengel, der, psychologisch gesehen, nichts anderes sein dürfte als eine Projektion der inneren Sicherheit des einzelnen nach außen. Die Sichtbarkeit dieser inneren Sicherheit, die aus einem

gesicherten und zumeist uneingesehenen Wissen heraus wirkt, diese Sichtbarmachung oder dieses Sichtbarwerden einer in uns ruhenden inneren Sicherheit, wie siesich in der nachträglichen Erkenntnis von der Richtigkeit unserer jeweiligen Reaktion manifestiert, verführt ja noch heute dazu, daß wir diese uns inne-

wohnende Macht, die dem Verstande als Übermächtigkeit erscheint, in eine auDenstehende Macht zu projizieren geneigt sind, eben in ihre Personifikation, den Schutzengel. Aber nicht nur diese uneingesehene Macht brachte den frühen Menschen dazu, an geisterhafte Wesenheiten zu glauben. Hier spielt auch die Manaträchtigkeit der Dinge hinein, die in den Elementargeistern Gestalt annahm. Hierher gehören die manageladenen Geräusche, die, wie heute durch die

parapsychologische Forschung festgestellt ist, nicht immer ihre sogenannten Ursachen in physikalischen Vorgängen zu haben brauchen. Viel mehr Wahres,

als ein heutiger Materialist oder ein heutiger Psychologe einzuriumen gewillt

sein wird, steckt in jenem Satz von Otto Weininger, der sich in seinem Taschenbuch findet: „Das Knacken des Zimmers ist unbewußt gewordenes inneres Zerbrechen“.93

Halten wir jetzt lediglich fest, daß es sich bei den Geistern um psychische Mächtigkeiten handelt, die sich manifestieren können und die sich, ist die psychische Mächtigkeit der betreffenden Person stark, auch tatsächlich manifestieren, ~ und das kann dem Nachdenklichen eine ganze Reihe sogenannter okkulter Phänomene erklärlich machen. Dafür gibt es mehr Beweise, als dem Ruhebedürfnis des Durchschnittsmenschen lieb sein und der langsam zerbrechenden Geborgenheit des Bürgers behagen mag. Uns kommt es jedoch nicht auf die „okkulte“ Seite dieser Manifestationen an, sondern darauf, daß jener Begriff Geist anfänglich mit der

Manahaftigkeit des Seelischen zusammengehört. Bis sehr spät in unser Mittel-

254

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

alter herein ist das, was mit Geist angesprochen oder bezeichnet wird, zumeist nichts anderes, als was es vornehmlich war: manageladene Psyche. Wir können nun mit bestem Recht sagen, daß überall dort, wo wir an einem Geistbegriff ambivalente Züge feststellen können, nicht die Rede von dem ist, was wir unter Geist verstehen wollen, sondern daß es sich dann noch um vornehmlich Psychisches handelt, ganz zu schweigen von jenen Interpretationen des Geistes, die ihm unitäre oder einheitsbetonte Charakteristika andichten. Weder das Univalente, das magisch ist, noch das Ambivalente, das psychisch ist, noch das Trivalente, das mental ist, sind für sich allein gültige Ausdrucksformen des Geistigen. Und die wenigsten, die beispielsweise von „Geist-Erkenntnis“ sprechen, scheinen

zu ahnen, wie stark sie noch dem Magischen hörig sind. Denn jedes „Erkennen“

trägt in unseren europäischen Sprachen noch heute jene sexuelle Betonung, die diesen biblischen Ausdruck charakterisiert: es ist immer, selbst in der übertragenen Bedeutung, ein aus dem Vitalen heraus vollzogener Akt, wodurch seine Zugehörigkeit zum Magischen erkenntlich wird. Und von „Welterkenntnis“ zu sprechen — vom Erkennen des dem Subjekt als Objekt Entgegengesetzten — ist für einen Menschen unserer Tage die „primitivste“ und als solche meist eine defizient

magische Art, den Forderungen der Welt nicht zu entsprechen und sich mit ihnen

nicht auseinanderzusetzen. In der Einseitigkeit dieser Art auf die Welt zu hören, liegen die Gefahren derartiger „Erkenntnisse“, die nur dann zu gültigen Ergeb-

nissen führen, wenn der Erkennende sich der Bedingtheiten seines Vorgehens bewußt ist und weiß, auf welche Zone in ihm und in der Welt sie sich beschränken müssen.

Werfen wir einen Blick auf die frühen Ausdrücke, mit denen eine Vorstellung vom Geist verbunden wurde. Da ist zuerst das hebräische Wort „ruach“ zu nennen, das ein Femininum ist und im Alten Testament meist mit „Geist“, manchmal mit „Wind“ übersetzt wurde. Eine ausführliche etymologische Untersuchung dieses wohl frühesten Geistesbegriffes unseres Kulturkreises, den die Hebräer bereits als ein der „nefesch“, der Seele, entgegenstehendes Prinzip empfanden,

gaben Martin Buber und Franz Rosenzweig.9* „Ruach“ hat die gleiche Grundbedeutung wie andere Geistbegriffe auch. Es bedeutet, wie das griechische πνεῦμα

(pneuma), sowohl „Wind“, als „Atem“, als „Hauch“. Ähnliche Inhalte prägen den griechischen „Logos“, insofern er mit „Rede“, dann mit „Wort“ übersetzt, gewissermaßen „Klang gewordener Hauch“ ist.95 Der griechische Geistbegriff, der

Nous (νόος, νοῦς), ist, wie wir gesehen haben (s. S. 212f.), numinoser Herkunft,

und seine Bedeutung verlagerte sich von „Herz“ in ,,Denkkraft“; ihm sprechen die frühesten griechischen Lehren von der Sonne eine solare Abkunft zu, indem sie die Sonne als seine „Quelle“ bezeichnen;% dieser Nous wird erst durch Aristoteles hypostasiert, das heißt, gegegenständlicht.97 Das lateinische spiritus" bedeutet anfänglich „Lufthauch, Luft, Wind, Atem“, dann „Lebensluft, Lebens-

6. Zur Symbolik des Geistes

255

hauch, Leben“, später, neben „anima“, das die gleichen Bedeutungen hat, bezeichnen beide „Seele“, und erst sehr spät bedeutet „spiritus“, im Gegensatz zu „anima“, „Geist“. Alle diese Vorstellungen sind noch in den heutigen Ableitungen vom lateinischen „spiritus“ enthalten; sie tönen überall durch, sowohl im englischen „spirit“, wie im französischen „esprit“, wie im spanischen „espírito“ und so fort. Und das deutsche Wort „Geist“ wurde im Anschluß an Wilhelm von Humboldts Ausführungen im Nachwort zu seinem Fragment „Über den Geist der Menschheit“ durch Rudolf Hildebrand in seinem großen, überreichen Artikel „Geist“ auf die Grundbedeutung „Atem, Hauch, Wind“ zurückgeführt. Diese Rückführung blieb allerdings nicht unwidersprochen; Triibner99 führt das Wort auf das indogermanische „gheizd‘“ zurück, dessen Verbalwurzel „ghei“ „lebhaft bewegen“ heißt; so gesehen kann man seine Grundbedeutung auch als ,,Lebenskraft“ schlechthin bezeichnen, wodurch es weitgehend in den Manabereich rückt, den auch das Wort „Psyche“ zum Ausdruck bringt.

Aus dem Gesagten geht deutlich hervor, daß alle die Wörter, denen wir heute im Gegensatz zum Seelencharakter einen Geistcharakter zusprechen, dem seelischen und dem manahaften Bereich entwachsen sind: auch das lateinische Wort ‚‚mens“, das dieselbe Wurzel wie das griechische „menos“ enthält, gehört in diese Begriffsgruppe.

Anfänglich besteht kein Unterschied zwischen den Inhalten der Wörter „Seele“

und „Geist“; sie bezeichnen dasselbe. Eine deutliche Unterscheidung tritt erst mit dem Beginn des mentalen Denkvermögens ein: in Griechenland mit Anaxagoras und Parmenides, in dessen Axiom „Denken und Sein ist dasselbe“ es seine

Formulierung findet. Dem damals neugewonnenen und damit höchsten Vermö-

gen des Menschen wurde Geistcharakter zugesprochen: dieses Vermögen ist eben das Denken, das „noein“, der Nous. Wir wissen, daß es ein seelisches Vermögen ist, in der mentalen Struktur das „höchste“ seelische Vermögen, das sich im Verlauf der weiteren Bewußtwerdung immer stärker emanzipiert; so nimmt es

nicht Wunder, wenn schließlich sogar die Ratio (beziehungsweise der Intellekt) als Geist

angesprochen

wird,

wie

es beispielsweise durch

Klages

geschehen

ist. Es ist auch nicht verwunderlich, wenn die philosophische und religiöse, vor allem die christliche Spekulation dieses neue Vermögen entweder in den Kosmos projiziert und hineinspiegelt oder dort tatsächlich eine diesem neuen menschlichen Vermögen, dieser neuen menschlichen Mächtigkeit entsprechende Mächtigkeit wiederzufinden glaubt: es ist die Geburt des „pneuma hagion“ des „Heiligen Geistes“ des Neuen Testamentes, von dessen psychischer Bedingt-

heit wir bereits gesprochen haben (s. S. 215). Und ihm entspricht weitgehend

die „mens divina“, der „spiritus sacer ^ und der „animus divinus", der „göttliche Weltgeist" des Cicero, der nicht nur von Seneca übernommen wurde, sondern

auch von den Kirchenvätern, vor allem von Augustin.

256

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

Stellen wir zunächst einmal etwas Grundsätzliches fest: wir müssen darauf Bedacht nehmen, daß die „Existenz“ eines geistigen Prinzips selbst für die Frühzeit nicht in Frage zu stellen ist. Die Tatsache, daß es in ihr nicht begrifflich gesondert faßbar wird, spricht nicht gegen seine damalige Existenz. Es ist ohne Zweifel

wirksam. Ja, es sucht nach Ausdruck in einer eigenen symbolischen Bildersprache,

die bei der Naturverflochtenheit des magischen Menschen zuerst idolatrisch ist, um später in den Sonnenmythologemen um Ausdruck zu ringen. Denn sehr früh

schält sich als Ausdruck der Vorbereitung für einen neuen BewuBtseinssprung, und damit die Absonderung des Geistes von der Seele einleitend, jene Symbolik

für das Phänomen Geist heraus, die seine Sonderstellung veranschaulicht und die

trotz aller Hypostasierungen weitgehend noch heute wirkt. Diese dem Geist eignende Symbolik ist auf den ersten Blick die gleiche, die wir

für die Seele feststellen konnten. Aber sie differiert von dieser, da in ihr die Feuerund Lichtsymbolik überwiegt, während sie ihr in der Wassersymbolik ähnelt.

Der größte Unterschied besteht jedoch darin, daß der Geist nicht nur weiblich

vorgestellt wird, und somit der Seele ähnelt, sondern, wie es besonders für den „Heiligen Geist“ der Fall ist, vorwiegend männlich. So ist er als der andere Pol der Seele ansprechbar; jedenfalls förderte diese Konstellation, vielleicht auch nur

„unbewußt“, die später einsetzende begriffliche Dualisierung dieser beiden Phänomene. Da das Geistproblem, auch darin dem Seelenproblem ähnlich, (erstens) unerschöpflich ist, da (zweitens) die geistig-seelische Bemühung um seine Lösung die vornehmlichste Aufgabe der Denkarbeit der letzten zweiundeinhalbtausend Jahre war, da sich (drittens) an dieses Problem eine kaum mehr überblickbare Anzahl

philosophischer, theologischer, psychologischer, psychischer und anderer Spekulationen, Dogmen und Theorien knüpft, müssen wir uns bescheiden, nur die

mögliche Grundstruktur dieses Problems aufzuzeigen, wobei wir uns wieder mit allersparsamsten Hinweisen werden zufriedengeben müssen. Über die großen

Gefahren einer derart konzentrierten Darstellung gerade dieses Problems sind wir

uns dabei im klaren, da jede, auch die geringfügigste Aussage sogleich ganze Rudel ergänzender, widerlegender, sublimierender, differenzierender und sonstiger Spekulationen wachruft. Von der Herkunft des Phänomens Geist ausgehend, haben wir seine psychisch

bedingte und doch von der Psyche differierende Grundstruktur skizziert, indem wir auf die Symbolisierungen hingewiesen haben, die das anfänglich irrationale Phänomen Geist anschaulich machen. Diese Symbolisierungen aber sind mannigfaltiger Art.

Bekannt ist die Licht- und Feuersymbolik; sie ist allgemeingültiger Bildbesitz der religiösen Interpretation des Geistes. Die Lichtsymbolik erschien später als die Feuersymbolik und stellt die „erhöhte“ Form dar.!%

6. Zur Symbolik des Geistes

257

Auch die Vogelsymbolik für den Geist ist genügend bekannt. Er wird nicht nur in der Sonderform als Heiliger Geist, durch die Taube symbolisiert; außer dem Pneuma wird auch der Logos pluralisiert und als geflügelte Wesen, die mit Vögeln verglichen werden, aufgefaßt: dies besonders bei Philon, bei dem diese „Logoi“ durchaus Seelen sind!°!, eine Vorstellung, die auf die Ägypter zurückgehen dürfte.

Der männliche Aspekt des Geistes ergibt sich durch die Identifizierung des Geistes mit Gott, die auf seine Identifizierung mit der Sonne zurückzuführen ist.1°2 Von dieser Sonnensymbolik aus erklärt sich auch das dem Geist übertragene Charak-

teristikum der Beständigkeit, welche in natürlichem Gegensatz zu dem Wechsel steht, der durch die Mondsymbolik der Seele ausgedrückt wird, die das Zu- und Abnehmen ihrer Kräfte spiegelt. Und in der Zuordnung des Mondes zur Seele drückt sich naturhaft ihr Verhältnis zum Geist aus, insofern dieser durch die Sonne symbolisiert wird: der Geist wirkt nur schwach und indirekt, nimlich als indirek-

tes Licht durch die mondhafte Seele: diese mondhafte Seele ist also nicht nur Spiegel des Narziß, des erwachenden Menschen; sie ist auch Spiegel des durch die

Sonne symbolisierten Geistes. Man kónnte einwenden — und es ist nótig, auf diesen móglichen Einwand einzugehen —, daß diese Art, die Dinge zu betrachten, eine Konstruktion sei, und

zwar auf Grund der Überlegung, daß eine solche symbolische Deutung schon

deshalb nicht stimmen könne,

weil die Unterlagen für derartige Auffassungen

oder Überlegungen dem nichtmentalen Menschen gemangelt haben dürften. Um

die Dinge so anschauen zu können, hätte er wissen müssen, so wird man

meinen, daß das Mondlicht nur indirektes, gespiegeltes Sonnenlicht ist; es steht jedoch fest, daB er diese naturwissenschaftliche Kenntnis nicht hatte. Damit

bräche anscheinend jeder Deutungsversuch dieser Art zusammen. Aber wir wür-

den ohne Zweifel einen Irrtum begehen, ten; bedenken wir einmal das Folgende: sogenannten „Primitiven“ befaßten, ist Anschauungen und Aussagen eine sehr

wenn wir so folgern oder schließen wollAllen, die sich mit den Äußerungen der bekannt, daß die Zahl Neun in ihren gewichtige Rolle spielt. Die Bedeutung

der Neun liegt nun auch darin, daß sie die für die Menschwerdung entscheidende

Zahl ist, da die Schwangerschaft neun Monate dauert. Aber der „Primitive“ be-

findet sich in vollständiger Unkenntnis über die kausale Verknüpfung von Emp-

fingnis und Geburt, wie wiederholt von den verschiedensten Forschern fest-

gestellt wurde.:°3 Im magischen und mythischen Menschen ist ein anderes ,, Wis-

sen“ als das unsere wirksam. Nicht er weiß es, sonder es weiß ihn und damit auch

die ihn betreffenden Dinge und Zusammenhänge. Psychologisch ausgedrückt (womit allerdings der ganze Sachverhalt noch nicht erfaßbar ist): nicht er weiß

es, sondern das „Es“ (Freud), das „Unbewußte“ in ihm, weiß es. So erklärt sich wohl auch, daß die Maße der Cheopspyramide mit überraschender Genauigkeit 17

258

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

„kosmische“ Maße spiegeln (Erdumfang, Entfernung von Erde und Sonne sowie von Erde und Mond und so fort). Die tiefere Zugehörigkeit besonders des magischen Menschen zur Welt, sein tieferes Hineingehóren und Hineinhôren in sie,

spiegelt sich in diesen Sachverhalten, so wie für den mythischen Menschen, dank seiner Entsprechung mit den mythischen Begebenheiten, die Welt noch stimmt. Aus der Sonnensymbolik für den Geist ergibt sich auch dessen Dynamik, die ihm

besonders in der katholischen Lehre noch heute zugestanden wird; auch hierin

kommt seine mehr psychische Betontheit zum Ausdruck. Andererseits wurde er aber auch entdynamisiert: so faDt die protestantische Theologie selbst den

„Heiligen Geist“ als Person auf1°4: in dieser Erstarrung spiegelt sich, ins Makrokosmische übertragen, die Erstarrung und Fixierung des Denkens in der begriff-

lichen Ratio. Anders verhält es sich dagegen mit dem Nachweis von C. G. Jung?°5, daß sich, psychologisch gesehen, der Geist im seelischen Geschehen als bildhafter Archetyp in den Gestalten des Vaters, des Weisen und weiteren derartigen Aspek-

tierungen manifestiere. Wir freilich wären geneigt, darin weniger eine Manifestation zu sehen, als vielmehr eine Spiegelung, eine speculatio animae. Betont

C.G. Jung vornehmlich diese Erscheinungsform, wozu ihn sein Erfahrungsmaterial

berechtigt, so müssen wir noch auf einen anderen entgegengesetzten Vorstellungskreis verweisen, der verbreiteter ist, als man annehmen sollte: auf die Was-

sersymbolik und seine weibliche Form, die allerdings beide vornehmlich bei dem Heiligen Geist in Erscheinung treten, dem selbst die christliche Kirche keine reine Geistform zuerkennt!%, Die Wassersymbolik kommt deutlich zum Ausdruck in der Ausgießung des Heiligen Geistes im Pfingsterlebnis (siehe Apostelgeschichte 2, 3): der Geist wird ausgegossen; ausgieDen aber läßt sich nur Flüssiges, vornehmlich Wasser, bildlich, also seelisch und nicht geistig betont, natürlich auch das Feuer, das den Geist

symbolisiert. Wie denn in der Taufe, die uns sowohl in der Form der Feuer- als auch der Wassertaufe überliefert ist, das „geistige“ Moment der Neubelebung

und der Neugeburt eine Rolle spielt. Vielleicht ist es der dem Wasser innewohnende „Lebensgeist“, der diesem maternalen Element besonders eignet, dank

dessen der Geist auch als weiblich aufgefaßt werden konnte. Jedenfalls wurde der

Heilige Geist auch als ein Strom lebendigen Wassers vorgestellt, und in gnostischen Systemen wird er als eine weibliche Hypostase aufgefaDt, da er in diesen Lehren als „Mutter“ angesprochen wird!?7. Aber nicht nur in der Gnosis finden

wir diese Anschauung. Origenes überlieferte uns in seinem ,,Johannes-Kommen-

tar“ ein apokryphes Wort Christi: „Eben hat mich meine Mutter, der heilige

Geist, ergriffen und auf den großen Berg Tabor getragen“1°8.

Wenn Usener glaubt, es ließe sich diese weibliche Form des Heiligen Geistes daraus erklären, daß „Ruach“ im Hebräischen ein Femininum ist, so dürfte diese

Deutung nicht das entscheidende Moment treffen. Zudem ist die Erklärung

6. Zur Symbolik des Geistes

259

Useners eigentlich nichts als eine philologische Erklirung, denn die Hauptfrage: wieso der Geist schon im Hebräischen durch ein Femininum ausgedrückt wird, ist damit so wenig beantwortet wie die andere Frage, warum er durch die weibliche Taube symbolisiert wird. Die Taube, schon in Griechenland Seelensymbol,

deutet auf die psychische Betontheit dieser Erscheinungsform des Geistes hin. Bei

seiner weiblichen Nominierung durch die Hebräer spielte, wie wir vermuten,

deren patriarchale Grundanschauung die entscheidende Rolle, da dem handelnden und strafenden Vatergott die Kraft des gebenden „Muttergeistes“ ausgleichend

gegenübergestellt werden mußte: ein psychischer Polarisationsprozeß, wie er sich in defizienter Form heute wiederholt, da der überbetont patriarchale Europäer, der Autorität erheischt, kompensatorisch von dem „Geist der Materie“ besessen und ergriffen ist!^9, Ein weiteres Kriterium dafür, daß der Geist auch weiblich aufgefaßt wurde — wir

dürfen nicht vergessen, daß seit soo v. Chr. nur noch die vom Mann gedachte

Welt

Gültigkeit hat, eine Einseitigkeit, die immer

vergessen oder übersehen

wird —, ist eine bisher nicht genügend beachtete Tatsache: daß nämlich jener Gedanke, der dem Haupte des Zeus entsprang und mit zunehmendem mentalen Bewußtsein philosophisch zum Geist erhoben wurde, durch Pallas Athene, also

durch eine Göttin, symbolisiert wird. Auch hierin spricht sich eine kompensatorische Leistung der Psyche aus und prägt dem Gedanken ihr Wesen auf. Es muß betont werden, daß wir auf diesen wenigen Seiten keineswegs eine neue begriffliche Definition des Geistes geben wollen; uns liegt vielmehr daran, mit Hilfe seiner Symbolik seine psychisch betonte Herkunft oder doch zumindest seine auch psychische Bedingtheit deutlich zu machen. Denn alles, was Symbolcharakter hat, erweist sich stets als psychisch bedingt. Dies hinsichtlich des Phä-

nomens Geist — nicht aber hinsichtlich des Geistigen (!)11°: der göttliche Geist „schwebte (brütete) auf (über) dem Wasser“, wird also nicht symbolisierend mit dem Wasser identifiziert, sondern ist über diese Gleichsetzung erhaben - klar zu

erkennen, ist besonders heute dringend nötig. Denn die psychische Komponente,

die dem Phänomen Geist (die jedoch dem Urprinzip des Geistigen keineswegs) anhaftet, ist noch heute, wenn auch meist uneingesehen, wirksam, und dies selbst in den begrifflichen Definitionen, Hypostasen, Abstraktionen und Verabsolutie-

rungen, die dem Phänomen Geist zuteil wurden. Diese Komponente wird sichtbar, wenn man sich über die Herkunft dieses „Begriffes“ Rechenschaft ablegt. In welchem Maße diese Komponente noch bis in unsere Zeit hinein wirksam geblieben ist, erhellt sich, wenn wir uns der Schlußworte des „Faust“ erinnern. Ihre

Aussage: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, korrespondiert auf eine überraschende Weise mit jenem uns durch Origenes überlieferten apokryphen Wort Christi (s. S. 258).

Verlassen wir das Gebiet der Symbolik, die in ihrer Zweideutigkeit dem Denken

260

Zur Geschichte der Phänomene

Seele und Geist

nicht behagt, halten wir lediglich als Ergebnis fest, was immer wieder teils gefühlt, teils deduziert, teils postuliert wurde und was beispielsweise der Alchimist Zosimos in dem lakonischen Satz zusammenfaßt: „Die Seele unterscheidet sich vom Geist 111, Das bringt sehr deutlich eine der Totenbuch-Vignetten (s. Abb. 43) zum Ausdruck. Der treffendste Beweis für diesen Unterschied dürfte sein, daß dem

Geist außer psychischen Polaritäts-Charakteristika frühzeitig auch solche zuge-

Abb. 43: Anubi (der Totengott), die Mumie des

Schreibers Ani haltend; an der Grabtür des Verstorbenen stehen, das Grab verlassend, seine Seele und sein Geist, dieser in Gestalt eines „bennu“ (Phönix). (Aus dem Ani-Papyrus; Budge, II, p. 114)

teilt wurden, die ihn in einen Gegensatz zur Seele stellen. Damit bereitet sich die Dualisierung von Seele und Geist vor. Und insofern dem Geist vorwiegend Lichtcharakter zugesprochen wird, wird er in dieser oder jener Form mit den Bewußtseinsvorgängen identifiziert und dann irrtümlicherweise mit dem Denken oder mit der Ratio, dem Verstande oder dem Intellekt gleichgesetzt; dies in der philosophischen Auseinandersetzung. In der theologischen

wird er Gott untergeordnet; so tat es die katholische Kirche und behielt damit die Macht über die Seelen und Geister in der Hand, sich wohl bewußt, daß die Wahrung des Geistigen als Aufgabe einer späteren Zeit übertragen werden würde, so daß sie seine unzeitigen Verteidiger und die von ihnen gelebte Ansicht bekämpfte, — wohl wissend, daß sie durch physische Ausrottung der Träger des Geistigen die ,,spiri-

tuelle und psychische Kraft der verfolgten Ansichten stärkte. Der Entscheid über die Unterordnung des Geistes unter den trinitären Gott erfolgte auf dem Konzil

von Nicäa im Jahre 325 n. Chr.ï?2 Damit war der Streit zwischen Athanasiern und Arianern zuungunsten der Arianer entschieden. Diese, die dem Geistigen eine höhere Stellung einräumten als der Trinität, also die vielen, seit den Manichäern und Arianern als ketzerisch bezeichneten religiösen Gemeinschaften, wurden mit

Feuer und Schwert ausgetilgt; die letzten, die dieses Schicksal ereilte, waren die Katharer und Templer!!5, Welche Schwierigkeiten das Geistproblem der Philosophie gemacht hat, geht aus den vielfältigen und vieldeutigen Interpretationen hervor, die sich in ihren Spekulationen spiegeln. Der mentalen Struktur gemäß wurde der Geist erstens geeinzelt: aus den Geistern wurde der Geist; zweitens: er unterlag der Abstrahierung, er

6. Zur Symbolik des Geistes

261

wurde zum Begriff und später rationalisiert und perspektiviert; drittens: er erlitt eine Verabsolutierung (ab-solutum = ab-getrennt), er wurde isoliert; und viertens: er wurde, eine Reaktion auf diese Isolierung, weitgehend negiert. Die große

unbestreitbare Leistung der Philosophie, welche extremste Ergebnisse zustande

brachte: das Denken von seinen magischen und mythischen Fesseln und Bedingtheiten zu befreien, wurde fast erreicht. Nur der letzte Versuch: die eigenen, dem

Denken gesetzten Grenzen zu transzendieren beziehungsweise den SubjektObjekt-Bezug dialektisch aufzulösen, mußte scheitern, da sich das Denken nur innerhalb seiner selbst betätigen und zudem diesen Bezug richten kann. Der postulierte „reine Denkakt“ neuester Prägung, der in der διάνοια (dianoia), dem „reinen Denken“ Platons, bereits präfıguriert wurde, ist todesgerichtet und stimmt

in seinen Konsequenzen auf eine überraschende Weise mit den psychistischen, geistfeindlichen Lehren der Vitalisten überein.!!4 (Das aber besagt nichts anderes, als daß jede dieser beiden extremen Richtungen bis an ihre äußerste Position vorgestoßen ist, bis dorthin, wo „les extrêmes se touchent“ und sich damit, falls es sich um lebendige Extreme handelt, der mythische Kreis, der überwunden sein sollte, von neuem schließt; wenn es sich um Extreme handelt, die supervitalisiert oder entvitalisiert sind, setzt jedoch die Annullierung ein. Der Versuch beider,

die offene Welt zu gewinnen, ist gescheitert, und die bloß leere Welt beginnt alles

mit der Atomisierung zu bedrohen.) Wenn die Geister Erscheinungsform des Geistigen waren, so ist der Geist bestenfalls eine geläuterte Erscheinungsform des Geistigen; sind die Geister psychische Projektionen, so ist der Geist eine mentale (denkerische) Projektion; aber das

Geistige erhellt alle diese Erscheinungsformen und Projektionen. Nachdem es

sich im Magischen idolatrisch zu erkennen gab, im Psychischen polar und im Mentalen in der trinitiren Form, so mag es möglich sein und wahrscheinlich, daß

sich das Geistige im Menschen und in der Welt erhelle, wenn wir bedenken, daß

die mentale Struktur, in der Defizienzform ihrer rationalen Phase, die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten erreichte. Damit aber öffnet sich die Mutationsmöglichkeit, infolge welcher, hat sie sich erst einmal realisiert, das Geistige weder einheitlich noch polar noch dual-trinitär angenähert wird, wohl aber als die das

Ganze

könnte.

durchwirkende

Kraft

diaphan

(durchsichtig)

wahrnehmbar

werden

Siebentes Kapitel DIE BISHERIGEN REALISATIONSUND

DENKFORMEN

1. Dimensionierung und Realisation Nichts ist leichter, als dem Impuls nachzugeben, sich der heute am meisten geschätzten Darstellungsform, der abstrahierenden, zu bedienen und die defizienten,

quantisierenden Ausdrucksweisen anzuwenden. Da man aber durch immer stärkeres Teilen, Auflösen und Abtrennen niemals zu einer Ganzheit gelangen kann, ja nicht einmal zu ihrem Gegenteil, welches die Ganzheit wenigstens auf eine negative Art darstellen würde, so verzichteten wir auf diesen extremen Weg. So wenig wir uns dem bloßen Evozieren hingaben, wo es galt, das Magische ersichtlich zu machen, so wenig dem bloßen Mythisieren, wo es galt, das Mythische anschaulich zu machen, so wenig gaben wir uns dem bloßen Rationalisieren hin,

da es galt, das Mentale begreiflich zu machen. Wer nur in dem dreidimensionalen Koordinatensystem lebt, dessen Wände ihm

Halt zu geben vermögen, dem werden unsere Ausführimgen zuwider sein; bei

manchen werden sie sogar Empörung hervorrufen. Was aber kommt denn in der Empörung „empor“, wenn nicht die durch die Ratio zurückgestauten psychischen Inhalte: Die Empörten werden durch etwas, das die rationale Begrenztheit durchbricht, geweckt, das negativ sich äußernd, naturgemäß affektbetont zum

Durchbruch kommt und ihnen damit jene Tiefen in sich selbst sichtbar machen könnte, über die sie sich empören. Aber ihre „Tiefe“ reicht nur bis zu dem perspektivischen Punkt, und wo dieser in Frage gestellt wird, vermeinen sie, daß damit

auch die schützenden Wände ihrer dreidimensionalen Welt in Frage gestellt

wären. Sie bilden sich ein, und sie zedieren mit diesem Einbilden bereits dem mythischen Bereiche rational gewonnenes Terrain, daß Wände, die sie selber aufrichteten, einen Halt zu geben vermöchten. Aber jede Wand trägt die Möglich-

keit der Wandlung in sich.‘ Die derart Empórten sind trotz aller willensmäßigen Anspannungen in einer recht zerbrechlichen Welt zu Hause. Was Wunder, dab es ihnen bei so haltlosem Halt nicht genehm ist, sich nun noch mit anderen Ko-

ordinatensystemen zu beschäftigen, wie beispielsweise jenem zweidimensionalen, das wir im vorigen Kapitel zu schildern versuchten. Dort fiel ja die dritte, die raumbildende Koordinate oder Dimension fort, dort war tatsächliche und ist tat-

sächlich dauernde Wandlung, was in der rationalen Welt Wand ist. Doch gar zu vielen ist es heute unangenehm, an die Wandelbarkeit erinnert zu werden.

Andererseits ist es ohne Zweifel geboten, darauf hinzuweisen, daß selbst diese

I. Dimensionierung und Realisation

263

wandfeste dreidimensionale Welt einer Art Wandlung unterworfen sein könnte. Freilich: wer an diese Dinge zu rühren wagt, scheint mühsam Gesichertes zu bedrohen und wird sich nicht wundern dürfen, wenn die Reaktion auf seine Fest-

stellungen dem Bedrohtsein entsprechen oder gemäß sein sollte. Zudem: was

kann er dagegen bieten? Jenen Gang zu den toten und lebendigen Wassern, zu

den Quellen, den wir im letzten Kapitel gingen? Doch es ist die Frage, ob das Quellende eitel Freude bereiten kann, da es anscheinend wenig Sicherung und

Halt zu geben vermag, die der rationale Mensch ja vor allem sucht. Wahrschein-

licher ist, daß dieses Quellende zuerst einmal ein Quälendes sei. Und dies darf nicht wundernehmen, denn „Quelle“ und „Qual“ entspringen der gleichen Wurzel.2 Und selbst dieses Zurückgehen zu den „Wurzeln“, das noch einmal

einen Dimensionsverlust verursacht, wo selbst das auch schmerzhaft quälende Zwielicht des Mythischen erlischt und wir im Dunkeln tappen, könnte zumindest unbehaglich sein: das Wesen der , Wurzel" drückt es unumstößlich in seiner

eigenen indogermanischen Wurzel aus, die „war“ ist und „umschließen, bedekken" bedeutet; aber aus ihr ging auch unser Wort „wahr“ hervor.3 Dort also, genau dort, wo wir glauben, im Dunkel zu sein, spüren wir, daD es nicht nur wahrend und bewahrend ist, sondern daß dort auch die „Helligkeit“ des Wahren wohnt, jene noch ungeteilte Helligkeit, die dem Ganzen wohl noch nähersteht

als unsere mentale Helligkeit, die einseitig ist. Unser Versuch in dieser Schrift gilt nun nicht einer Glorifizierung des Vergangenen; wir befürworten kein Zurück, aber auch kein „Vorwärts“, sondern das „Gegenwärtige“. Mit anderen Worten:

es liegt uns fern, unsere mentale Helligkeit gegenüber der Wurzelhelligkeit disqualifizieren zu wollen. Uns kommt es darauf an, ihre konstitutionsmäßige Ver-

schiedenheit aufzuzeigen; das aber ist nur mit Hilfe oder vermóge unseres mentalen Aufhellens erfüllbar. Und uns kommt es darauf an, die jeweilige dimensionen-

gemäße Bedingtheit, Befristetheit und Begrenztheit der einzelnen Helligkeitsarten aufzuzeigen, so wie sie sich im Dunkel der magischen Wurzel, im Zwielicht der

mythischen Bewegtheit, in der Helligkeit der mentalen Raumwelt erleben, erfahren oder begreifen lassen. Denn, realisieren wir diese Bedingtheiten, Befristetheiten und Begrenztheiten und integrieren wir sie, so bewahren wir die Welt und die Welt bewahrt uns: das Ganze wird wahrnehmbar und in der Gänzlichung gegenwärtig und durchsichtig, da dann das Ganze alles durchscheint.

Um weder im Dunkel stecken zu bleiben, weder im Zwielicht uns zu quilen, noch uns von der Helligkeit womóglich blenden zu lassen, müssen wir Klarheit darüber vermitteln, welcher Art die bisherigen Realisationsformen waren, mit deren Hilfe wir die Welt nicht nur erkennen und begreifen, sondern auch erleben, erfahren und uns vorstellen. Um eine Klärung der verschiedenen Denkstrukturen vornehmen zu können, hat

man von Denkformen gesprochen. Zum Teil bezogen sich diese Definitionen auf

264

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

das tatsächliche Denken, anderenteils auf das, was wir als Vorformen des Denkens bezeichnen möchten. Wenn wir nun auch dieser Betrachtung die aufgezeigten Mutationen zugrunde legen, so dürfen wir „Denkformen“ nur für die mentale Struktur gelten lassen; nur sie kennt das Denken, das sich durch seine vom Bewußtsein her gestaltete Gerichtetheit von allen vorherigen Realisationsformen unterscheidet. Wollten wir auch den anderen Strukturen „Denkformen“ zubilligen, so dürften wir hinsichtlich der mythischen Struktur nicht von einem in ihr stattfindenden Denken sprechen, sondern von einem „Gedachtwerden“; und hinsichtlich der magischen nicht einmal von einem „Gedachtwerden“, sondern nur von einem „Im-Denken-Sein“. Bei diesen Definitionen ist vorausgesetzt, daß der Gedanke vor dem Denkenden war, so wie der Atem vor dem Atmenden, das Sehen vor dem Auge war. Wollten wir das rational erklären, so müßten wir

unterstellen, daß die Kraft zu einer möglichen Manifestation sich das Organ

selber schafft, durch welches sich diese Kraft manifestieren kann. Wenden wir diesen Satz auf unser eigenes Leben an, so vermögen wir einzusehen, daß es stets

die in uns liegenden Möglichkeiten sind, die unsere Lebensumstände und Lebensführung so gestalten, daß diese Möglichkeiten zur Wirkung kommen können.

Mit anderen Worten: diejenigen Komponenten in uns, die mental bewußt werden sollen, schaffen auch die Voraussetzungen dafür, daß sie zur Auswirkung

kommen können. Solange man es nicht so sieht, wird man statt der eigenen Disposition und der unrealisierten Latenz, die sich entfalten wollen und müssen, dort einen Eingriff in unser Leben immer auf den „Zufall“ oder das „Schicksal“ zurückführen, wo Zufall und Schicksal nur die Rolle des Auslösers der manifesta-

tionsbereiten Intensitäten in uns spielen. Diese Intensitäten sind es, die uns die entscheidenden Ereignisse ,zufallen" lassen oder sie uns „schicken“, also uns ge-

schehen lassen. Sie sind es, die den Zufall und das Schicksal so arrangieren, daß

sich die Manifestationsmöglichkeiten für sie ergeben. Mit anderen Worten: wir

selbst sind es. (Und solange es sich um „positive“ Ereignisse handelt, wird niemand etwas gegen diese Definition einwenden; nur wo es sich um „negative“

handelt, werden die wenigsten zugeben, daß sie es selbst waren, die sie auslösten.)4 Die Frage nach den Realisationsformen ist die Frage danach, in welcher Form,

Art oder Weise die Wirklichkeit innerhalb jeder einzelnen Struktur realisiert

wird. Halten wir uns auch weiterhin an die Charakteristika und Zuschreibungen, durch die wir die einzelnen Strukturen in uns zu unterscheiden vermögen, so gilt, daß die Realisationsform der magischen Struktur das Erleben ist, die der mythischen

das Erfahren, die der mentalen das Erfassen, Begreifen und das Vorstellen. Diese Unterscheidung scheint uns deutlicher als die oben gewählte Form: Im-DenkenSein, Gedachtwerden und Denken; diese Art zu unterscheiden ist nur perspekti-

2. Das Erleben und Erfahren

265

visch vorstellbar, von der mentalen Struktur aus rückwärts blickend, während die von uns gewählte der zunehmenden Dimensionierung entspricht.

Wenden wir uns zuerst den beiden Realisationsformen der magischen und mythischen Struktur zu, zumal wir bei der mentalen Struktur hinsichtlich ihrer Realisationsform, der des Vorstellens, gezwungen sein werden, zu differenzieren, da das Denken hier die Hauptrolle spielt. Der Richtungs-Charakter des Denkens kommt nur allmählich zum Durchbruch, was sich an den Denkformen eines Heraklit,

Platon und Aristoteles wird deutlich machen lassen. Das ist deshalb notwendig,

weil die drei Realisations- oder Denkformen noch heute nebeneinander wirksam sind, so daß wir nicht erkennen und unterscheiden könnten, welche „Denkform“

(sofern es eine solche sein mag) als vierte eine neue Realisationsform darstellen

würde.

2. Das Erleben und Erfahren Der vital betonten magischen Struktur gehört das Erlebnis an. Es ist durchaus univalent, ist begrifflich nicht faßbar, noch ist es erklärbar, was aber seine Wir-

kung um nichts beeinträchtigt, sondern vielleicht sogar steigert. Es mag einst weitgehend an das Numinose gebunden gewesen sein, das in den Anfängen dieser Bewußtseinsstruktur vermutlich noch nicht einseitige Projektion des Menschen

gewesen ist, sondern mit ihr zusammen eine Einheit gebildet hat, so wie der magische Mensch mit allem anderen ununterschieden verbunden gewesen ist. Das „pars pro toto“ kommt in der Macht oder Mächtigkeit jedes echten Erleb-

nisses zum Ausdruck. Es ist stets der einheitlich-einige Hintergrund, der im einzelnen Erlebnis akut wird. Von hier aus gesehen deutet sich auch die Art, wie der magische Mensch die Dinge erklärt. Aus seiner vitalen Verflochtenheit heraus

wird jedes Geschehnis, Ereignis oder Ding, das Erlebnis-Charakter für ihn erhält, sogleich mit dem Kontext, der diese Geschehnisse oder Dinge umgibt, in einheit-

lichende Beziehung gesetzt. Dieses erlebnismäßige Beziehen, dieser Vitalkonnex,

wie wir es genannt haben, ist der raumzeitlosen Welt des magischen Menschen gemäß nicht nur vor-rational und vor-kausal (bzw. praerational und praekausal), sondern löst im Erlebnis ein noch schlafhaftes Bewußtwerden des Verflochtenseins aus, eines Verflochtenseins, das sich in seinem assoziativen, analogisierenden und sympathetisierenden Verflechten - das kein Denken ist - zu erkennen

gibt. Jenes erste Ahnen, das móglicherweise mit der archaischen Struktur an-

hebt, erhält im Erleben insofern eine erste noch punkthafte Kontur, da es aus der Fülle der in und über die Welt ausgebreiteten und ausgestreuten Wirksamkeiten, und infolge der Verflochtenheit des magischen Menschen in sie, eine dieser Wirk-

samkeiten erlebbar macht: damit aber, da ja hier stets der Teil auch für das Ganze steht, erlebt der magische Mensch sich selbst und die Welt. Hier liegt auch der

266

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

Grund, warum noch heute jedes Erlebnis übermächtig wirkt: weil in jedem echten Erlebnis die Einheit der Welt und die Grundeinheit des einzelnen mit der Welt „realisiert“ wird. Diese Realisation ist zwar noch bewußtseinsschwach, aber sie ist bewußtseinsbildend, da sie zumindest das mythische und mentale Bewußtsein vorbereitet. Jedes Erlebnis ist die ungewußte Realisierung der Einheit.

Und insofern hier die Einheit betont ist, ist jedes Erleben eine magische Realisationsform.5 Anders die Erfahrung. Ihre psychische Betontheit enthält stets auch schon das polhafte, ambivalente Moment, da sie Bewegtheit ausdrückt und nicht punkthaft in Erscheinung tretende und sich manifestierende vitale Dynamik ist, eine Dynamik, die den Charakter des Erlebens prägt. Erfahrung, die immer ein Erfahren der Seele ist, ist deshalb polhaft, weil das Erfahren nicht nur ein Erleiden ist, also etwas, das uns geschieht, sondern gleichzeitig stets auch halbbewußte zwielichtige Handlung, da wir uns, die Welt (oder das Meer) erfahren. In der Er-

fahrung rücken die Welt und ihr Gegenpol, die Seele, an die Schwelle des men-

talen Bewußtseins. Die echte Erfahrung ist stets irrational: in ihr lehrt uns die Seele, was der Verstand nicht wahrhaben will, da er es nicht ermessen kann. Nur durch Erfahrung kommt man, wie der Spruch sagt, zur Einsicht. Das Einsehen, das

heißt das Hineinsehen, nämlich das Hineinsehen in die psychische Polarität und Wirklichkeit, unterscheidet jede Erfahrung von dem bloß punkthaften Erleben oder dem nur noch kausalen Verstehen und ermöglicht das bewußtseinsbildende

Erinnern, das immer ein innerer Vorgang ist. Macht das Erlebnis uns erste Konturen der Welt bewußt, so die Erfahrung die ersten befristeten Bilder der

Seele. Jede Erfahrung ist eine halbgewußte Realisierung des Polaren, des Sich-

Ergänzenden; und insofern hier das polare Moment betont ist, ist jede Erfahrung

eine mythische Realisationsform und als solche eine Vorform des mentalen Ver-

stehens. Wir können uns über diese beiden Realisationsformen kurz fassen, da wir sie

bereits anfangs (im Kapitel IV, 4) vorausgenommen haben, als wir sowohl die „Grundlagen“ wie die „Art und Weise" der Realisationsformen betrachteten. Und wieder betonen wir, diesmal allerdings mit Hilfe neuer Umschreibungen,

die wir auf Grund der Ausführungen über das Raum-Zeit-Problem und über das Seele-Geist-Problem anwenden konnten, daß der magischen Struktur das Einheitsmoment, daB der mythischen dagegen das Polmoment eignet. Das Erlebnis

gründet durchaus in dem Ein- und Einsfühlen, es ist univalent und eindimensional. Die Erfahrung dagegen gründet durchaus in der seelischen Polarität, die durch die Erfahrung aussagbar wird, weil sie in uns hineingebildet wurde; sie ist ambi-

valent und sie ist zweidimensional, insofern sie die Beziehung und das Hin- und

Widerspiel zwischen den Polen darstellt und realisiert. Das Erfassen (oder das Vorstellen) dagegen ist trivalent und dreidimensional.

3. Das okeanische Denken

267

Diese dritte Realisationsform, die der mentalen Struktur eignet, das Vorstellen, dürfen wir eine Denkform nennen, aber wir müssen sie in drei verschiedene, voneinander differierende Denkformen unterteilen: in das okeanische (kreisende), das paradoxale und das perspektivische Denken.

3. Das okeanische Denken

Das okeanische Denken könnte man auch als okeanisches Kreisen bezeichnen. Es ist aber insofern mehr als ein nur kreisendes Verbinden von Bildern oder Vorstellungen, als es auch schon setzt und postuliert, wobei es jedoch das jeweils Gesetzte sogleich wieder durch ein neues Setzen verändert, um schließlich zu seinem Aus-

gangspunkt zurückzukehren. Leisegang$ hat es als ,,Kreisdenken" oder als „Kettendenken“ bezeichnet und es dem begrifflichen ,,Pyramidendenken“ gegenüber-

gestellt, eine Denkform, die Julius Stenzel7 in seinen Schriften für die sokratischaristotelische Dialektik nachgewiesen hat. Auf dieses „Pyramidendenken“ wer-

den wir bei der Darstellung des perspektivischen Denkens zurückkommen. Wir wählten mit Bedacht den an ein mythisches Bild gemahnenden Ausdruck „okeanisch“, denn es handelt sich um eine dem Mythischen noch nahestehende

Denkform.® Das mythische Bild des Okeanos, jenes Stromes, der die Erde kreisend

umfließt und in sich zurückkehrt, ist ein anschauliches Bild des tätigen Kreises, aber auch ein Symbol für die in ihm sich ausdrückende Tendenz, daf alles Erdhafte nach Bewußtsein strebt: vom Okeanos umflossen, dem eigentlichen Urmeer,

stellte sich die Erde den Griechen als eine Art Insel dar; jede Insel aber ist Ausdruck einer BewuDtwerdungs-Tendenz, insofern sie sich aus dem Meer, aus der

heraklitischen Seele, heraushebt. Und diese mythische Anschauung der Griechen

vom Okeanos-Strom dürfte wohl auf uralter Überlieferung beruhen, wonach es

einst nur einen Kontinent, eine zusammenhängende Landmasse gab, die vom Weltmeer

umflossen war;

jedenfalls

deuten

neuere erdgeschichtliche Unter-

suchungen diese Möglichkeit an; erst die verschiedenen Sintfluten (die indische sowohl wie die mexikanische Überlieferung sprechen jeweils von drei)?, haben den Urkontinent, der auch Urinsel war, in einzelne Kontinente auseinandergerissen. Suchen wir nun nach Beispielen für das okeanische Denken, so bietet Heraklit

zahlreiche dafür, wobei man jedoch nicht übersehen darf, wie das wohl Leisegang unterlief, daß er auch bereits ausgesprochen (mental) gerichtete Sätze formulierte.!° Folgen wir der knappen, wortgetreuen Übersetzung des Fragmentes 22 B 36, wie sie Leisegang gibt, so stellt sich uns in ihm das okeanische Denken wie folgt dar (angemerkt sei, daß die der deutschen Sprache angeglichene Übersetzung von Diels-Kranz dieses Fragmentes lautet: „Für Seelen ist es Tod Wasser

268

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

zu werden, für Wasser aber Tod Erde zu werden. Aus der Erde aber wird Wasser, und aus Wasser Seele“):

A

Seelen Tod Wasser

(+)

werden.

Ba

aus Erde aber Wosser

TE

Wasser

aber Tod

+

wird, aus Wasser

BB

Erde werden,



Seele

À

Wir können es noch anschaulicher machen, wenn wir diesen Kreislauf der Ge-

danken, der von einem „Begriff“ ausgeht, andere anschließt und zum Ausgangsbegriff zurückkehrt, graphisch darstellen. Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, daß diese Denkbewegung deutlich um einen zentralen Inhalt kreist, im vorliegenden Beispiel ist es der „Tod“. 7

A

Seele

A

Seele

N

B Wasser

Wasser

B

B Wasser

Wasser

B

Erde C

Erde C

Auf diese Denkform spielt ohne Zweifel kein geringerer als Dionysius Areopagita (um $00 n. Chr.) an, wenn er schreibt: „Die Seelen haben ferner das ver-

nunftgemäße Erkennen, indem sie diskursiv und in Kreisbewegung um die Wahrheit der Dinge sich bemühen".12 Ein weiteres Beispiel für dieses okeanische Denken ist der Beginn des JohannesEvangeliums. Auch (Leisegang spricht einem „Begriff“ A einem neuen Pol C

in ihm finden wir die im Kreis sich vollziehende Polarisierung rationalisierend von Gegensätzen) der „Begriffe“, indem zu der Pol B gesellt wird; dieser wird dann wiederholt und zu in Beziehung gebracht, und das geschieht rückwendend von

neuem zu D, bis B in der Wiederangliederung an A den Kreis schließt:

3. Das okeanische Denken

269

A

„Im Anfang war .der Logos und der Logos war bei dem Gott und Gott A

8

B

ες.

“Ὁ

war der Logos. So war er im Anfang bei Gott”

8

“8

A

Auch hier also, wie die Reihe AB/BC/CB/BA zu erkennen gibt, ein sich im Kreise bewegendes polarisierendes Denken: der schweigende Anfang als Pol zum gesprochenen Anfang, dem Logos; dieser als Pol zum Sprechenden, zu Gott, und

von ihm aus dann in umgekehrter Wiederkehr das Zurückkehren zum schweigen-

den Pol: es ist der Vorgang des Sich-Ergänzenden; und der zentrale Begriff, der auch hier nicht beschrieben, sondern umschrieben wird, ist „Gott“ .13 In der Tatsache, daß das okeanische Denken etwas umschreibt, wird anschaulich, daß die mythische Welt des Kreises einen Inhalt hat. Mit der Zerbrechung des Kreises durch das gerichtete Denken ging der Mensch, soweit er mental ist, des Inhaltes verlustig: denn der Raum ist inhaltlos; diese Inhaltlosigkeit, die sich zuerst als Offenheit darstellte, wurde in der defizienten, der rationalen Phase deutlich: seitdem wird diese Offenheit als Leere bezeichnet, und vor allem: seitdem ist sie Leere. Deshalb ist heute alle bloße Beschreibung leer und unverbindlich. Beschreibungen sind, so gesehen, rational; sie sind flach gewordene, quantifizierte Zuschreibungen, die anfänglich mentalen Wert hatten und unsere Begriffswelt ermôglichten. Umschreibungen dagegen, wie sie in den Beispielen des Heraklit und

des Johannes sichtbar werden, weisen auf die Mythennihe des okeanischen Den-

kens hin. Und noch eines Hinweises bedarf es, der von vornherein das okeanische Denken vom mental-rationalen abgrenzen kann. Im okeanischen Denken ist stets das „Sowohl — als auch" gültig, im mentalen nur das „Entweder — oder". Vaihinger mit seiner „Philosophie des Als-ob" und Kierkegaard mit seinem „Entweder - oder“ haben diese Denkformen ausgezeichnet exemplifiziert, wobei Kierkegaard para-

doxal vorging (s. S. 279). Das „Sowohl - als auch“ ist nicht nur unentschieden,

sondern es ist ungeschieden wie die Seele selbst, die ja stets aus ihrer Ambivalenz, ihrer Polhaftigkeit und Symbolträchtigkeit heraus ein „Sowohl - als auch“ ist.

Das „Entweder - oder“ dagegen birgt jene Entscheidung, die nur das Mentale kennt, das einseitig Stellung beziehen muß. Es steht aber damit nicht etwa im

Gegensatz zum „Sowohl - als auch“; es drückt eine konstitutionell andere Denkform aus, als es die okeanische ist. Wir können diese Denkform als ein Denken in der Seele bezeichnen, was wohl

270

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

auch Dionysius Areopagita meinte, wenn er schreibt: „Bei der Seele bedeutet die kreisfórmige Bewegung ihr Eintreten von außen in sich selbst . . . Die gradlinige Bewegung endlich kommt der Seele zu, wenn sie nicht in sich selbst eintritt und

in einartiger Geistigkeit [das will sagen: Denkfähigkeit] sich bewegt.“"+ Mit dem Nachsatz deutet Dionysius Areopagita bereits jene andere Denkform an, die wir als perspektivisch gerichtetes Denken bezeichnen, das als einartiges im Gegensatz zum polhaft okeanischen Denken steht. In dieser okeanischen Denkform herrscht noch weitgehend jenes „relegere“, jenes „behutsame Beachten“, das die mythische Struktur kennzeichnet: es ist ein Denkprozeß, der noch „Rücksicht“ nimmt, wohl bedacht, nichts zu vernach-

lässigen (neglegere), damit nicht das Gleichgewicht durch ein bloßes Setzen oder Postulieren zerstört werde.!5 Und diese mythische „relegio“ erreicht das, indem jeweils der ergänzende Pol berücksichtigt wird. Selbst noch das magische Mo-

ment klingt hier durch: sowohl im Auditiven, das heißt in der Musikalität des sprachlichen Ausdrucks, wie auch in Einigung aufrechtzuerhalten, die auf mythische Art durch zogen wird. Der jüdische Religionsphilosoph Ben Joseph wies für die

der Rhythmik und in dem Bestreben, eine die Ergänzung vollStruktur der Thora-

Texte, das heißt für deren Denk- und Ausdrucksweise, die gleichen Momente

des Auditiven und Einigenden nach, wie wir sie hier für das okeanische Denken ersichtlich zu machen bemüht sind.16 Diese Denkform ist die des Lao-Tse, und sie ist über ganze Sätze hinweg die Denk- und Aussageform Buddhas; sie ist vor allem auch die der Gnostiker, dann

der Mystiker, der Naturphilosophen und nicht zuletzt auch die der Dichter. Es gehören zu den okeanischen Denkern also nicht nur die östlichen Weisen und die der Thora, sondern außer Heraklit und Johannes teilweise auch Paulus und Augustin, in jedem Falle aber der Neuplatoniker Proklos, selbst Dionysius Areopagita, Johannes Eriugena und Nikolaus von Cusa; dann Eckehart, Seuse, Giordano

Bruno und Jakob Böhme, Schelling und teilweise selbst Hegel sowie Goethe und, um nur zwei Dichter der jüngsten Zeit zu nennen: Strindberg, der in seinem Bühnenwerk „Nach Damaskus“ von der Mitte des Stückes ab die Szenenbilder

sich in einander gegenläufiger Folge wiederholen läßt, um mit dem letzten Bild zum ersten zurückzukehren; und Platen, der eine formvollendete Gedichtform, das Rondell, meisterhaft beherrschte, so wie sie später Georg Trakl neu gestaltete:

„Verflossen ist das Gold der Tage, Des Abends braun und blaue Farben: Des Hirten sanfte Töne starben, Des Abends braun und blaue Farben: Verflossen ist das Gold der Tage.“

4. Das perspektivische Denken

271

Dieser unperspektivische Fluß der Gedanken und Bilder ist gleichzeitig die Stärke und Schwäche dieser Denkform. Sieiststark, weilsienoch ungebrochen ist,schwach, weil sie den Anforderungen der mentalen Struktur nicht genügt. Sie ist irrational,

wo die andere rational ist, ist unperspektivisch, wo die andere perspektivisch ist, ist umschreibend, wo die andere beschreibend ist, ist ambivalent, wo die andere trivalent ist. Und vor allem: die mental-rationale perspektivische Denkform ist

gerichtet, wohingegen das okeanische Denken ein geschlossenes und beschließendes Sich-Ergánzen ist, das gerade durch das Perspektivische gesprengt wurde: genug psychische Trümmerhaufen verwüsten ja heute die Welt, seitdem das Denken die unmittelbare Gerichtetheit, den qualitativ-mentalen Charakter, verlor und im zerteilenden Rationalisieren, Sektorieren und Perspektivieren defizient wurde. Von dieser Denkform, die fast zu einer Formlosigkeit des Denkens geworden ist, soll nun gesprochen werden. 4. Das perspektivische Denken Erinnern wir uns hier an den Nachsatz im zweiten Zitat des Dionysius Areopagita: „Die gradlinige Bewegung endlich [dies ‚endlich‘ steht hier am rechten Platz!] kommt der Seele zu, wenn sie nicht in sich selbst eintritt [wenn sie also aus sich herausgetreten ist oder, um es mit den Worten des Erasmus zu sagen: wenn sie ‚außer sich‘ ist] und in einartiger Geistigkeit [in gerichteter Denkfähig-

keit und nicht in bloB kreisendem Denken oder Gedachtwerden] sich bewegt."

Dieser Satz drückt auf seine Art aus, was das mythische Bild von der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus zum Ausdruck bringt. Wir dürfen nicht ver-

gessen, in welchem Maße der Himmel und die Seele (des einzelnen) Entsprechungen sind, und daß das Haupt des Zeus sowohl den Himmel symbolisiert als auch, jedenfalls in diesem besonderen Geburtsmythos, den Mutterleib. Und Lukrez wiederum äußert auf seine Weise, was das Mythologem

ausspricht, wenn er

preist, daB „zuerst sich ein Grieche erkühnte, das sterbliche Auge“ gegen den götterverhängten Himmel zu richten und als erster es wagte, „die verschlossenen Pforten der Mutter Natur in gewaltigem Sturm zu erbrechen“. Und er fährt, nach dieser Erwähnung des gerichteten, stürmenden Zornes, der achilléischen Menis, und nach dieser „unbewußten“ Andeutung des einst begangenen Muttermordes fort: „Also geschahs. Sein mutiger Geist blieb Sieger, und kühnlich Setzt er den Fuß weit über des Weltalls lammende Mauern.“ +7

Auf eine erschütternde Art kommt hier zum Ausdruck, wie diese Eroberung und Überwindung der Seele Gewalttat ist, und damit auch Vergewaltigung der Natur,

272

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

in dem Moment, da sich das männliche Prinzip die Alleinherrschaft anmaßt. Das mentale Denken ist noch Ermessen, das rationale ist Anmaßung und führt in letzter

Konsequenz auch zur zerstörenden Aufteilung der eigenen menschlichen Natur. Kommen wir jedoch auf das perspektivische Denken zurück. Als wir diesen Be-

griff zum ersten Male gebrauchten, geschah es, um damit andeutungsweise von

dieser Denkform jene zu unterscheiden, die wir die „aperspektivische“ Reali-

sationsform nannten.!? Später stellten wir fest, daß dieser Begriff der Perspektivität bereits verschiedentlich gebraucht worden ist. So von G. Teichmüller!9, der

vornehmlich von „perspektivischer Zeit“ als der falschen Zeit spricht und auf die Zeitlosigkeit hinzielt, also auf sie zurückzielt. Dann streift auch Jaspers diesen Ausdruck, da er von dem , Weltbild" des einzelnen spricht, das jeweils eine „individuelle Perspektive, ein individuelles Gehäuse“

sei, während Graumann

neuerdings (1960) einer „Psychologie der Perspektive^ das Wort redet, dabei aber in seiner Kritik unseres Perspektive-Begriffes übersieht, daB er als Ausdruck (oder Phänomen) des Mentalen nicht psychologisiert werden sollte.2° Und Ortega y Gasset?! plaudert einmal als „Espectador“ (Beobachter, Zuschauer) von seiner „perspectiva particular“, seiner „persönlichen Perspektive“, die er mit der Wahrheit in Verbindung bringt und in die Trinität einer „visuellen, intellektuellen

und wertmäßigen Perspektive" zusammenfaßt, einer „kompletten (completa)

Perspektive", in der sich nur reale und imaginierte Dinge vereinen, sondern vor allem auch die erwünschten und geträumten. Mit einer derartigen Definition, die

außerdem räumlichende Begriffe auf mythisch-psychische Begebnisse anwendet, hat unser Perspektivitätsbegriff so wenig zu tun wie mit dem „Gehäuse“ von Jaspers. Dagegen könnte ein anderer Perspektivitätsbegriff Anlaß zu Mißverständnissen oder Verwechslungen geben, der, wie es scheint, durch Louis Locher in die „Projektive Geometrie“ zur Erläuterung der „Moebius-Netze“ eingeführt

wurde. Es handelt sich dabei um projektive Bezüglichkeiten mehrerer Figuren

einer Ebene zueinander, die Perspektivitäten (ein Plural) darstellen, indem sie „Scheine einer Punktreihe oder Schnitte eines Ebenenbüschels sind“, die in einem

Ebenenschnittpunkt das „Zentrum ihrer Perspektivitit^ haben, oder durch eine „Kette von Perspektivitäten ineinander übergeführt werden“ kônnen.22 Diese Multi-Perspektivität mutet auf eine gewisse Weise in unserem Sinne aperspektivisch an, zumal bei ihr keine isolierende Sektorierung in Erscheinung tritt.

Wir gingen für die Formulierung und Darstellung unseres Perspektivitätsbegriffes von der Perspektive Leonardo da Vincis aus und haben die durch die Perspektive eingeleitete Perspektivierung und die daraus resultierende Sektorierung der Welt im zweiten Kapitel eingehend dargestellt. Dort wiesen wir auf den von Leonardo geprägten Begriff der „Sehpyramide“ hin. Das grundlegende Bild dieser Seh weise, welche die Denkform unserer Zeit weitgehend auszudrücken vermag, ist das Dreieck, sei es ein vertikales, sei es ein horizontales: vertikal ist es, wenn man es

4. Das perspektivische Denken

273

als eine der Flächen einer Pyramide betrachtet, horizontal, wenn man es als perspektivische Fläche sieht. Begnügen wir uns mit der horizontalen Form, da sich diese zur graphischen Veranschaulichung besser eignet als die pyramidenhafte, ohne diese jedoch aus dem Auge zu verlieren. Es ergeben dann, bleiben wir bei diesem Sehdreieck, die beiden Augen die Basis, die im perspektivischen Punkt die Synthese des Zusammensehens vollziehen, und dies infolge des dreipunktigen beziehungsweise dreiwertigen (trivalenten) Dreiecks, das im perspektivischen

Punkt raumerschließend, aber zugleich auch raumabschließend ist. Dabei werden

die durch die Augen gebildeten Punkte mit fortschreitender Rationalisierung zu Gegensätzen, die im perspektivischen Fluchtpunkt auf den anderen Gegensatz treffen, so wie zwei Aussagen, die eine dritte zur Folge haben. Damit wären wir in die Nähe dessen gelangt, was in seiner einfachsten Form das

zum Ausdruck bringt, was für J. Stenzel das Pyramidendenken oder die Begriffs-

pyramide ist. Leisegang?? stellt Platon als ihren Schöpfer hin, wenn er schreibt, daß dieser damit zugleich auch Schöpfer „des logischen Urteils und damit des

logischen Denkens im Sinne des Rationalismus überhaupt (war)“. Und er fährt fort: „Hier an der Quelle wird zugleich der feste Zusammenhang zwischen Begriffspyramide und dem Denken klar, das uns heute noch als das logische schlecht-

hin gilt. Ein Logos ist für Platon die Verknüpfung von solchen Begriffen, die sich unter- und überordnen und damit in einem pyramidenfórmig gebauten Klassifikationsschema zu einem sinnvoll Ganzen vereinen lassen.“ Dieses Pyramiden-

denken ist die effiziente Denkform der mentalen Struktur, während das perspektivische Denken ihre defiziente Form darstellt. Beide gehen aus dem hervor, was man als Platons Methode der διαίρεσις (diairesis) bezeichnet hat. Unter Diairesis versteht man heute allgemein ,,Begriffsspaltung“. Dem tatsächlichen Wesen dieser

Methode und ihrer anfánglichen Bedeutung kommen wir jedoch auf die Spur, wenn wir uns das Wort Diairesis genauer ansehen. Sein Grundverb ist αἱρέω (haireo), das „nehmen“ bedeutet, während das Präfix δι- (di-) ein „zer-“ ausdrückt. Diairesis ist also ein ,,Auseinandernehmen, Trennen“, ist ein Zertrennen;

mit anderen Worten: es ist die Methode (das messende Verfahren), durch die der in sich geschlossene Kreis zertrennt, zerteilt wird. Nicht mehr die polare Konstellation hat Gültigkeit, sondern die Teile, die zu Gegensätzen gemacht werden. Mittels dieser Methode wird der griechische Mensch Herr der zunehmend be-

wuDtwerdenden Energetik der Seele, die ihn mit der Vielfalt ihrer mythischen

Bilder zu überwältigen drohte: er war gezwungen, sie zu richten, wollte er in ihr

nicht untergehen. Die Quantifizierungs-Tendenz der defizienten mythischen

Struktur bedrohte den Menschen mit der psychischen Zertrümmerung. Hier liegt der Ursprung der platonischen Ideen, durch welche die massenhaft werden-

den psychischen Manifestationen und Projektionen fixiert und geordnet werden

konnten. Urbild und Abbild sind in diesem Sinne keine Polarität, sondern eine 18

274

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

Dualität: sie werden in der übergeordneten Idee, im eint“. Die Doppeldeutigkeit und Zwielichtigkeit des überhand, als mit der zunehmenden Bewußtwerdung stellen sich in immer unzähligeren, zwielichtigen und

Dritten, der Synthese, ,,geMythischen nahm insofern ihr zunehmendes Sichdarzweideutigen Bildern voll-

zog. Und dieser Doppeldeutigkeit, die keinen Halt mehr bot, entrann der griechische Mensch, indem er die Teile setzte, die er gegensätzlichen konnte, so daß

jeweils ein jeder Teil nur noch eindeutig, einsinnig, also nicht mehr polar, wohl

aber gerichtet war. Durch die Setzung des Begriffes gelangte er zum Urteil. Dieses Urteil besteht in der Verbindung von Vorstellungen, die den Kategorien eines Aussagesatzes gemäß zusammengefaßt werden. Von zwei Aussagen, deren eine

das bejaht, was die andere verneint, kann nun, da es sich um setzende Aussagen und nicht mehr um sich bewegende Bilder handelt, nur eine richtig sein und nicht

beide, wie es in der bildhaften und damit polaren mythischen Bildaussage der Fall war, wo das „Sowohl — als auch“ Geltung hatte, das Aristoteles durch seinen Hauptsatz des „tertium non datur (ein Drittes gibt es nicht)“ für mehr als zweitausend Jahre annullierte und damit die Einsinnigkeit des „Entweder — oder“

postulierte (die neuerdings, wie wir im zweiten Teile sehen werden, durch die „Quantenlogik“ überwunden wird). Ein Beispiel für das aristotelische „tertium non datur“ ist der Satz: Ein Pferd ist entweder weiß oder es ist nicht weiß; eine weitere (dritte) Aussage oder Möglichkeit gibt es nicht. Hieraus resultiert dann der Satz des Widerspruches oder der Gegen-Satz, der eine weitere, die polare Möglichkeit, ausschließt. Von zwei Urteilen, die Setzungen sind, Feststellungen,

Fixierungen und Teilungen, deren eines das bejaht, was das andere verneint,

ist nur das eine wahr; damit, durch die Abstrahierung des Bildes zu einem Be-

griff, wurde die polare Möglichkeit ausgeschlossen. Und an diese Lehre vom

Urteil reiht sich die Lehre vom Schlu8.24 Als fundamentale Form alles Schließens,

alles Deduzierens, erklärte dann Aristoteles den deduktiven Schluß (Syllogismus). Er resultiert aus zwei Urteilen, die einen Begriff gemeinsam haben: Erstes Urteil: Zweites Urteil:

Alle Menschen sind sterblich Sokrates ist ein Mensch

A= B A C

Schluß:

Folglich ist Sokrates sterblich.

C= B

Doch dieser Schluß ist nur deshalb überzeugend25, weil ihm ein pyramidenmäßig gebautes Ordnungsschema zugrunde liegt: die beiden ersten Sätze sind ,, Vordersitze“ oder „Prämissen“; die drei in ihnen enthaltenen Begriffe, „sterblich, Mensch, Sokrates“, werden als ,,Ober-, Mittel- und Unterglied“ bezeichnet; die trinitäre Form, die den dreidimensionalen Raum erschließt und begrenzt, kommt auch

hier zum Ausdruck. Graphisch stellt sich diese dual-trinitäre Denkform der Denkpyramide so dar:

4. Das perspektivische Denken

275

Lebewesen



n

sterbliche

Cx

Sokrates

/ ^w Plato

unsterbliche

Tiere

und andere

Zu den vornehmlichsten Vertretern des Pyramidendenkens zählen außer Platon und Aristoteles vor allem Demokrit, Epikur, Philon, die Neuplatoniker, Plotin, teilweise auch Augustin, ferner Thomas von Aquin, die Scholastiker, und dann Bacon, Descartes und Kant, Hobbes, die Enzyklopädisten und Comte, sowie in

deren Nachfolge die Materialisten und jene unserer heutigen exakten Wissen-

schaftler, die den Indeterminismus noch immer nicht zu akzeptieren vermógen. Aber schon bei Bacon setzt die defiziente Form des Pyramidendenkens ein, das

perspektivische Denken.

Begnügen wir uns mit den gegebenen Beispielen für diese Denkformen, obwohl weitere, allerdings wesentlich kompliziertere, wie sie Leisegang für das Pyrami-

dendenken anführt26, unsere Überlegungen noch anschaulicher machen könnten. Halten wir jetzt das fest, was das perspektivische Denken charakterisiert: das ge-

richtete, ausschnitthafte Sehen entspricht ihm weitgehend; es fixiert den zu er-

fassenden Gegenstand; zwei gleiche Sehstrahlen erfassen ihn als das Dritte auf die gleiche Weise, wie zwei Gleichungen die dritte zur Folge haben. In welchem Mafe diese Denkform den Verlust einer in sich ruhenden Basis zu erkennen gibt, wie sehr sie eine Ausgeschlossenheit ist, die dem okeanischen Denken nicht eignet, geht aus einem weiteren Beispiel hervor. Das perspektivische Denken ergibt nur dann richtige Resultate, wenn vom Allgemeinen aus ein-

engend auf das Besondere, beziehungsweise auf das Auszusondernde, geschlossen wird. Das perspektivische Denken muß sich (gewissermaßen demiurgisch) seine Basis selber schaffen, ohne jeweils wissen oder feststellen zu können, ob diese Basis tatsächlich eine gültige ist oder sein wird. In dem Moment, da die Regel

nicht befolgt wird, oder es nicht übersehbar ist, ob das vorstellende Denken von der allgemeinen Basis auf ein Besonderes zielt, ergeben sich logische Fehler wie im nachfolgenden Dreiersatz: Ein Mensch ist ins Wasser gefallen. Wir alle sind Menschen. Folglich werden wir alle ins Wasser fallen.

276

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

An diesem Beispiel wird die reduzierte Gültigkeit des perspektivischen Denkens deutlich: nur wo es das Begriffsfeld einengen kann, indem es aus dem Allgemeinen das Besondere herauszieht, hat es Gültigkeit. Auch darin gleicht es dem perspektivischen Sehen, das aus der allgemeinen Sicht einen einzelnen Sektor herausschneidet, wenn es ihn erfassen will. Daß diese Art des Denkens notwendig war

und noch ist, unterliegt so wenig einem Zweifel wie die Feststellung seiner Ein-

seitigkeit und seiner Begrenztheit. Diese Einseitigkeit hatte zur Folge, perspektivisch denkende Mensch der Rückbindung, der „religio“, der Kirche verwalteten Religion, bedarf, die er, sofern er nicht mehr blind zu vermag, durch eine Mischform von okeanischem und perspektivischem

daß der von der glauben Denken

herzustellen versucht: durch das paradoxale Denken (von dem im nächsten Ab-

schnitt die Rede sein soll). Die Begrenztheit hat zur Folge, daß diesem Denken selbst Grenzen gesetzt sind und daß es selber Grenzen setzen muß. Damit ist seine

Raumgebundenheit gegeben, die einerseits raumerschließend war, andererseits aber raumbefangen bleibt. Das Primäre dabei ist, daß das perspektivische Denken zuerst räumlicht und sich dann des Geräumlichten bedient; alle Denkfolgerungen dieser Art drückt ja die Sprache durch Raumbegriffe aus. Nicht nur spricht sie von

dem bereits erwähnten Transzendieren, dem Überschreiten, sondern dieses Denken stellt vor, beweist, erfaßt, begreift, faßt auf, überlegt, unterstellt, setzt aus-

einander. Über die philosophische Ausdrucksweise äußert sich Leisegang und

unterstreicht die Raumhaftigkeit dieser Denkform, von der wir ausgeführt haben, daß sie nur Wände kennt und Ausgesondertes, Aufgeteiltes, und daß sie des Inhalthaft-Verbindlichen und Sich-Ergänzenden auf Kosten der erfaßten Raumwelt verlustig ging: „Die Philosophensprache ist durchzogen von Ausdrücken, die auf eine anschauliche Ordnung im vorgestellten Raume hindeuten. Sprechen wir von über- und untergeordneten, bei- und nebengeordneten Begriffen, höheren und niederen Gattungen, so liegt diesen Bezeichnungen die Vorstellung eines räumlichen Oben und Unten, Rechts und Links zugrunde ... Wenn Platon uns

im Symposion zu den Ideen ‚auf Stufen‘ hinaufführt, die Materie aber als ‚Darunterliegende* (ὑποκείμενον, hypokeimenon, lateinisch: substantia) bezeichnet, so verlangt dies die Anschauung eines vertikalen Aufbaus seines Weltbildes und Systems, während Kants Dualismus, in dem die Erscheinungen der Anschauung und dem Verstande als deren Objekt gegenübertreten, und das Ding an sich hinter den Erscheinungen zu suchen ist, eine horizontale Lagerung der Grundbegriffe und ihrer Inhalte voraussetzt. Es ist gewiß ein wesentlicher Unterschied der platonischen und der kantischen Philosophie, daß Kants Ideen nicht mehr über dem Menschen liegen, sondern Orientierungspunkte in gleicher Ebene mit ihm selbst sind.“ Und Leisegang ergänzt diese Ausführungen in einer Anmerkung durch ein Zitat von Kant27, das wir, wenigstens teilweise, wiedergeben möchten, da es genau das zum Ausdruck bringt, was wir als perspektivisches Denken bezeichnen.

5. Das paradoxale Denken

277

„Dagegen aber haben sie (die Ideen) einen vortrefflichen und unentbehrlich not-

wendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele

zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem

Punkte zusammenlaufen.“ Und nur wenige Seiten später2® gebraucht Kant das Bild vom „Horizont“ der Begriffe, — dies im Gegensatz zu der Begriffspyramide Platons, die vertikal strukturiert war. Die Begriffspyramide stößt aus dem Kreis

heraus, während sie von Kant, aus ihrem anfänglichen Bezuge gelöst, wie ein

horizontales Dreieck behandelt wird: es ist das Dreieck, von dem wir (s S. 2721.) gesprochen haben. Damit ist das Denken selbst raumhaft-statisch geworden, und nun

kann der „Geist“ materialisiert, und die dem anfänglichen Denken verwandte Zeit kann, wie wir im Kapitel V geschen haben, selber geriumlicht werden. Damit sind Raum, Zeit und Denken, die schon frühzeitig auf diesen Seiten als zueinandergehórig dargestellt worden sind, in ihre extreme Formulierung und Bewertung getrieben, die weitgehend den exakten Gegensatz zu ihrer Ausgangsposition darstellen, ja, die drohen, sich selber ad absurdum zu führen -- aber damit vor allem uns selber. Gerade im Anschluß an diesen letzten Satz möchten wir nochmals unterstreichen, daß wir uns keineswegs gegen diese Denkform richten — wohl aber ihre extremen Äußerungen und Manifestationen als schädlich erachten; aber wir sehen sie gleichzeitig auch als den ungewollten Sprungbereiter zu einer neuen, nicht nur móglichen, sondern notwendigen Mutation.

5. Das paradoxale Denken Die Bindung,

die durch die Diairesis zerrissen wurde, eine Bindung, die der

Mensch jedoch nicht entbehren kann, es sei denn, er leugnete einen Teil seiner

selbst, nämlich den irrationalen, kann weder durch das Pyramidendenken, noch weniger jedoch durch das perspektivische Denken wiederhergestellt werden. Es läßt sich nun eine Denkform nachweisen, die bisher nicht erkannt wurde und

die in einer an das Rationale anklingenden Formulierungsweise das Irrationale als mitgültig erschlieDt. Diese Denkform bezeichneten wir als die paradoxale und nannten die paradoxale Aussage die religióse par excellence. Das paradoxale Denken stellt vom mentalen aus gesehen tatsächlich die Rückbindung, die ,,religio“, zu der Irrationalitit und Praerationalität der mythischen und der magischen

Strukturen her. Es ist eine zwischen dem okeanischen Denken und dem perspekti-

vischen Denken vermittelnde Denkform und enthält sowohl rationale als irrationale Elemente. Ein gutes Beispiel für die paradoxale Aussage ist der bekannte

Satz von Pascal: „Tu ne me chercherais pas, si tu ne m'avais trouvé (Du würdest

mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hittest)“.29 Dieser Satz enthält die soeben erwähnten Elemente: er bedient sich des „wenn“,

278

Die.bisherigen Realisations- und Denkformen

also er folgert und ordnet sich damit dem mentalen Denken ein; zugleich aber enthält er die psychische Umkehrung, denn rational gesehen ist nicht der zweite Satzteil Folge des ersten, sondern umgekehrt; trotz dieses irrationalen Elementes

besteht er jedoch vor einer, natürlich bedingten, Kritik durch das perspektivische

Denken, das in ihm über den perspektivisch fixierten Punkt hinaus geführt wird.

Graphisch läßt sich dies an einer geometrischen These veranschaulichen, die als Satz von den Parallelen bekannt ist und aussagt, daß zwei zueinander parallel verlaufende Linien sich im Unendlichen schneiden. Dieser Satz, wollen wir ihn

graphisch darstellen, läßt sich nur durch zwei einander spitzwinklig kreuzende Linien anschaulich machen. Das Chi (X), von dem Platon im Timaios spricht3°, enthält einen gewissen Hinweis auf diese Konfiguration. In diesem Chi oder X,

in diesen sich kreuzenden Parallelen, wird der perspektivische Punkt aufgehoben: die verlängerten Schenkel des unteren Sehdreiecks bilden zu diesem ein Spiegeldreieck. Was „jenseits“ des räumlichenden perspektivischen Punktes im „Unendlichen“, also im Unmeßbaren liegt, bewahrheitet in der Vertauschung, was rational als Folge gesetzt ist: Du würdest mich nicht finden,

„Du würdest mich nicht suchen,

B

A

A

B

wenn du mich nicht gesucht hättest

wenn du mich nicht gefunden hättest”

Mit anderen Worten: eine Aussage, die im rationalen Bereich irrationalen Charakter hat, erhält „drüben“ und „jenseits“ des Punktes, also „hinter“ dem durch ihn begrenzten riumlichenden Horizont in der irrationalen Struktur rationalen

Charakter; damit ist auf eine ungemein geschickte und durchaus nicht unwirksame Weise die „religio“, die Rückbindung, wiederhergestellt. Dem religiósen Charakter dieser Denkform entsprechend, findet sie sich vornehmlich bei den religiósen Autoren der mentalen Struktur. Vor allem die Hymniker, wie beispielsweise Symeon?!, bedienen sich ihrer. Aber wir finden sie selbst bei den Rationalisten, so schon bei Aristoteles, wenn er von dem „un-

bewegten Beweger“ spricht, bis hinauf oder hinunter zu dem Kernsatz der heu-

tigen Kernphysik, der die Polaritit des Komplementaritäts-Prinzips formuliert. Diese Denkform tritt selbst hin und wieder in einer defizienten Form auf, die

5. Das paradoxale Denken

279

geistreichelnd mit psychischen Spiegelungen operiert, wie beispielsweise in dem von Paradoxa durchsetzten Stil eines Oscar Wilde, dessen echte Religiosität erst in „De profundis“ sichtbar wird. Oder sie deutet sich in Formulierungen an, die bereits mythischen Charakter tragen, wie in jener des spanischen Mystikers Juan de la Cruz von der „geschwiegenen Musik“. Aber mag sie nun manchmal mehr zu

der okeanischen, ein anderes Mal mehr zu der rationalen Denkform neigen, so besteht sie doch für sich (so vor allem bei Kierkegaard, dem Paradoxdenker par excellence, dessen mentaler „Entweder-oder“-Versuch die paradoxale Besonder-

heit seines Denkens zusätzlich unter Beweis stellt). Und sie ist zudem der rationalen Struktur gemäß: sie ist eine Synthese, ein Kompromiß, sie ist die dritte Denk-

form, in welcher der allerdings stets unbefriedigende Versuch einer Einigung der Gegensätze angestrebt wird. Wir können uns diesen Sachverhalt noch deutlicher machen, wenn wir berücksichtigen, daß Parallelen sich nur dann im „Unendlichen“ schneiden können, falls sie gekrümmt verlaufen; das aber bedeutet, daß ihnen zumindest die Tendenz zur

Kreisbildung innewohnt, wohingegen sie durch den Schnittpunkt den Dreiecks-

Charakter erhalten. So betrachtet, stellt das Paradoxon einerseits eine defiziente

Form des Symbols dar, und damit auch des okeanischen Denkens, andererseits

ist es eine Art mentalisierter, ja rationalisierter „religio“, denn nur die nichts als rationale Aussage ist absolut, das aber heißt ab-getrennt, und das will sagen:

religionslos. In jedem Falle aber ist das paradoxale Denken eine Ausdrucksform, die Beachtung verdient. Wir wollen sie deshalb nicht rühmen oder ihr in irgendeiner Weise den Vorzug

geben. Wir stellen lediglich fest. Aber es gibt ein apokryphes Wort Christi: „Wenn ihr nicht unten zu oben und links zu rechts und hinten zu vorne macht,

so kommt ihr nicht in mein Reich.“32 Wenn wir das, was die paradoxale Aussage tatsächlich darstellt, enthält und verwirklicht, uns derart anschaulich machen, wie es im Bilde der sich kreuzenden, schneidenden Parallelen möglich ist - wobei hier das Schneiden einmal kein Negativum, also selber paradox ist -, dann wird teilweise wahrnehmbar, was das im Ganzen ruhende apokryphe Wort aussagt: denn zumindest findet im paradoxalen Ausdruck eine gültige Links-Rechts-Vertauschung statt, die sich freilich,

insofern es sich um einen Denkvorgang handelt, noch vorwiegend in der Vorstellung abspielt. Was aber drückt eine Links-Rechts-Vertauschung aus? Sie dürfte wohl gleich-

bedeutend mit der Auflösung des Spiegelhaften sein, das ein Wesenselement des Psychischen ist; und man kann ja selbst das Polaritäts-Prinzip als Spiegelungs-

Prinzip betrachten und seine Auflösung als eine endgültige Rücknahme der Projektion, die Hölderlin als vollzogen andeutet, wenn er schreibt: „Es kehrt bald ein Gott um den anderen heim“ .33 Und die Auflösung dieses Prinzips ist nichts

280

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

anderes als eine Überwindung der Seele: es ist ihre Konkretisierung und damit der erste Schritt zu ihrer Integrierung. Diese kann nicht durch ein bloßes Denken oder durch ein bloßes Schauen bewirkt werden, sondern es bedarf dafür einer anderen Fähigkeit, die wir als das „Wahren“ bezeichnen möchten, und das den „Sinn“ von „Wahrnehmen und Wahrgeben“ umfaßt. Erst durch dieses Wahrnehmen und Wahrgeben kann die Welt für uns durchsichtig werden. Darüber wird im

zweiten Teile zu sprechen sein. Wir hätten es nicht jetzt erwähnt, beschränkte sich der Vorgang einer Links-Rechts-Vertauschung lediglich auf die paradoxale Aussage und Denkform, in denen er bislang wohl vorwiegend unbewußt, also aus einer Latenz heraus, wirksam war.

Seit einiger Zeit, seit etwa hundertfünfzig Jahren, bereitet sich auf verschiedenen Gebieten dieser Prozeß der Links-Rechts-Vertauschung vor, von dem wir sagten, daß er einen Ansatz zu einer Integration der Seele - und insoweit diese ja auch .zeithaft" ist, zu einer Konkretion der Zeit - darstellt. Nicht nur haben seit

alters her gewisse religiöse Gemeinschaften das gepflegt, was man als „die Vertauschung oder Umstellung der Lichter“ bezeichnet, wodurch das rechte Licht

zum linken, das linke zum rechten gemacht wurde: daß beiderseits einheitlich

Lichter stehen, weist auf ein gewisses Ungenügen dieser Handlung hin, denn dieses Einheitlichen ist magisch, und die Folge davon ist, daß in diesen Gemeinschaften gleichfalls ein falsches Vertauschen von oben nach unten betrieben werden

konnte, indem das Pentagramm, der Fünfstern, der seit alters her Symbol des

Menschen ist, auf die Spitze, auf den Kopf, gestellt wurde; von den sogenannten „schwarzen Messen“, wie sie bereits in gewissen gnostischen Sekten im Schwange

waren, zu schweigen. Übrigens wiederholt sich das falsche Von-oben-nachunten-Kehren heute dort, wo es wahrscheinlich niemand vermutet: in der Her-

unterholung von Partikeln der kosmischen Strahlung auf die Erde, da jetzt hier „unten“, auf der Erde, gemacht wird, was eigentlich „oben“ ist, während gleich-

zeitig hier hergestellte Ultrastrahlen in den interstellaren Raum gesandt werden.

Doch nicht von diesen Fehlversuchen soll gesprochen sein, sondern von jenen An-

sätzen zu einer Links-Rechts-Vertauschung, die zwar alle noch mit dem Stigma

ihrer Zeit, mit materialistischem Ballast, materialistischer Maskerade und materia-

listischer Betontheit behaftet sind und vergebliche Ansätze so lange bleiben wer-

den, als nicht dieser materialistische Vorwand fällt, der gleichsam eine hindernde Wand vor ihnen darstellt. Wir möchten vorerst nur auf vier derartige Ansätze hinweisen, die sich auf ganz

verschiedenen Gebieten unseres Lebens oder unserer Zivilisation zu erkennen

geben: auf dem politischen, dem sozialen, dem wissenschaftlichen und dem künst-

lerischen Gebiet.

Auf dem politischen Gebiet ist es das Aufkommen der „Linken“, die ja nicht nur weitgehend den Platz der „Rechten“ beansprucht, sondern bereits einnimmt. Der

5. Das paradoxale Denken

281

Ausdruck: die „Linke“ für die Massen-„bewegung“ der „Unterdrückten“, die Tatsache, daß man von einem „Erwachen der Linken“ spricht, sind deutliche Hinweise darauf, mit welcher Art Vorgang wir es hier zu tun haben. Die „Linke“ als Partei konstituiert sich genau in dem Moment, da das „Linke“, man nennt es heute auch das ‚„Unbewußte“, das bis dahin stets „unterdrückt“ worden war, in

den ersten psychologisierenden Schriften, in denen eines Stendhal und Leopardi,

zum Durchbruch kommt: im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die ursprüng-

lich liberale Partei in der französischen Kammer ihren Platz auf der linken Seite angewiesen erhielt, — eine gewiß ,tiefsinnige" Platzanweisung und Setzung, repräsentiert sie doch, wie alle Ausdrücke, die mit der politischen „Linken“ verbunden werden: „Masse, Unterdrückte, Erwachen, Bewegung“, den Bewußtwerdungsprozeß eines quantitativ gesehen bedeutsamen Teiles der Menschheit. Es ist ein Erwachen, durch das ein Ausgleich von links und rechts angestrebt wird,

der sich vorerst unter dem negativen Vorzeichen des Klassenkampfes, der magischen Vereinheitlichung und des defizient gefärbten, magischen Machtanspruches oder des defizient mythischen Machtwunsches abspielt. Und es ist ein Vorgang,

der bei seinen Trägern seiner irrationalen Herkunft wegen jene Angst auslöste, aus der sie sich in eine extrem-rationale, nämlich betont materialistische Doktrin

retteten. Diese Doktrin ersparte zwar der Linken, nicht aber den anderen eine Chaotisierung; die Linke aber wird in dem durch sie ans Tageslicht geförderten Chaos genauso untergehen (zumal sie im Fanatismus zu erstarren droht) wie ihre

an sie durch Gegnerschaft gebundenen Feinde, wenn sie nicht zur Besinnung

kommt.34 In jedem Falle spiegelt sich in dem Vorhandensein der Linken, wenn auch vorerst noch auf eine negative Weise, ein Ansatz zu einer Links-Rechts-Vertauschung, die nur dann eine echte Vertauschung sein wird, wenn nicht bloß ein Platzwechsel stattfindet, sondern eine Integrierung ; das aber bedeutet: die Menschheit.

Auch soziologisch äußert sich dieser Vertauschungsansatz vorerst nur in der

negativen Form eines einseitigen Anspruches, in dem, was seit 1792 unter der

Bezeichnung ,,Frauenfrage" die soziale Stellung nicht nur der Frau, sondern auch die des Mannes tangiert. Da das Weibliche seit alters her mit Links identisch ist, das Männliche mit Rechts gleichgesetzt wird, mag der Hinweis auf die heutige

Stellung der Frau in diesem Zusammenhang nicht wundernehmen. Solange je-

doch die Frau nur einseitig und bezeichnenderweise die „Rechte“ des Mannes anstrebt, und ihm die gewissermaßen „Linken“ nicht zugesteht, ein Zugeständnis, durch das sich seine Rechte verändern würden, ist auch dieser Ansatz zu einer Links-Rechts-Vertauschung negativ: erst wenn nicht mehr einseitig das Wollen

zu einem Platzeinnehmen, noch der Anspruch auf eine magisch betonte Gleich-

berechtigung herrschen, sondern wenn eine Integration stattfindet, wird es den Menschen geben; denn so wie das einstige Matriarchat vom heute noch vorherr-

schenden Patriarchat (in dem hintergründig-negativ noch immer matriarchale

282

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

Komponenten herrschen: der patriarchal-rationale Mann ist dem Mater-ialismus verfallen!) abgelöst wurde, so wird das Patriarchat seinerseits vom Integrat abgelöst werden, wo dann weder die Mater (Mutter) noch der Pater (Vater) über-

wiegen werden, sondern der Mensch in beiden: wo der durch Frau und Mann integrierte Mensch zur Geltung kommen wird.35

Auf wissenschaftlichem Gebiet äußert sich diese Vertauschungs-Tendenz in den Bemühungen der Tiefenpsychologie (Freud) und der „Komplexen Psychologie“

(Jung), die beide, jede auf ihre Art, es versuchen, einen Umstellungsprozeß hin-

sichtlich der „bewußten“, rechten, gerichteten und der „unbewußten“, linken, ungerichteten Komponenten in uns zu verwirklichen. Auch hier nur ein Ansatz, ein Versuch, der noch dualistisch rational betont ist, der deshalb noch nicht einmal seine teils magische (Freud), teils mythische (Jung) Bedingtheit und Befristetheit erkannte. Infolge dieser Unklarheit über die eigenen Wurzeln ist vieles, was heute unter dem Namen Psychologie segelt oder schwimmt, eine mindere, aber

jedenfalls zerstörende Dämonologie; denn das Unklare, solange es ungekannt

uns beherrscht, wirkt heute zerreißend. Aber trotz aller möglichen Fehlauswirkungen und Fehlversuche findet sich auch hier ein vorerst noch fragwürdiger

Ansatz zu einer Links-Rechts-Vertauschung, die mit der Formulierung des Begriffes „unbewußt“, ausgangs des 18. Jahrhunderts, einsetzte. Und schließlich sei noch einer jener Ansätze gestreift, der auf künstlerischem Gebiete sichtbar wird. Diese künstlerischen Ansätze sind, soweit wir die Situation zu übersehen vermögen, die einzigen, die weder positiv noch negativ zu werten sind, weil sie bereits integral sind. (Deshalb wird von ihnen im zweiten Teile aus-

führlich zu sprechen sein.) Es handelt sich dabei unter anderem um eine Darstellungsweise in der modernen Malerei — vor allem seit Picasso und Braque -, wo

das, was wir als ausgesprochen „linke Werte“ bezeichnen möchten, wie sie beispielsweise der Totenschädel und andere Dinge „symbolisieren“, erstmals in der

rechten Bildhälfte dargestellt wird. Die paradoxale Aussageform,

die eine Rechts-Links-Vertauschung enthält, ist

teilweise noch an die Vorstellung gebunden. Sie kann aber nicht durch das Denken, oder jedenfalls nicht allein durch das Denken und die Ausdrucksformen der

anderen Bewußtseinsstrukturen, die im Erleben oder Erfahren, oder eben durch das denkende Vorstellen, geleistet werden, sondern nur, wenn auch das hinzukommt, was wir als das Wahren bezeichnet haben. Die tatsächliche Wirkung des

apokryphen Wortes Jesu vollzieht sich nicht in der raumzeitlichen, gedachten

und vorgestellten Welt, auch nicht in der nur zweidimensionalen oder eindimensionalen. Doch dort, wo die Welt raumfrei und zeitfrei wird, wo das Wahren

Gültigkeit erhält, wo die Welt und wir uns selber, also das Ganze, durchsichtig

werden, dort, wo das Diaphane und das Diaphanierende zur Weltwahrung werden, da wird diese „Welt“ konkret und integriert.

Achtes Kapitel DIE FUNDAMENTE DER APERSPEKTIVISCHEN WELT

1. Ursprung und Gegenwart (Ergänzende Querschnitte) Eine Schwierigkeit, die vielen unüberwindlich dünken wird, besteht darin, daß

die aperspektivische Welt nicht „vorgestellt“ werden kann. Diese Welt geht über unsere Vorstellung hinaus. Auf die gleiche Weise ging einst die mentale Welt über die Erfahrbarkeit des mythischen Menschen hinaus; und trotzdem wurde unsere mentale Welt Wirklichkeit. Wer der aperspektivischen Welt den Vorwurf macht - und dies wird ausgiebig geschehen -, daß sie unvorstellbar, unbefreiflich, unfaßlich, unbeweisbar und nicht räumlichend zu Denkendes sei, der

scheitert nur an der Begrenztheit der eigenen, an das Erfassen und das Sehen gefesselten Weltvorstellung. Außerdem wird es irritieren, daß wir von arationalen

Möglichkeiten sprechen, und davon, daß dieses Arationale nicht mit dem Irratio-

nalen, noch mit dem Praerationalen verwechselt werden darf.

Aus unseren Ausführungen dürfte hervorgegangen sein, daß wir weder die Rationalisten noch die Irrationalisten ablehnen. Diese gegenseitige Ablehnung überlassen wir ihnen selber, da sie ja nichts anderes ist als eine Huldigung an den Dualismus, den es zu überwinden gilt. Denn ist für den Rationalisten alles Nicht-

Rationale nichts als das mißbillige Irrationale, so ist für den Irrationalisten das Rationale so irrational, wie für den Inder unsere Raumwelt „Maya“ (Schein) ist.

Nicht diesem gegensätzlichenden Verneinen und Ablehnen reden wir das Wort, wohl aber haben wir auf die jeweils defizienten Äußerungsformen hingewiesen.

Ja, wir gingen noch weiter: wir haben selbst das Praerationale nicht nur als einst gültig, sondern als selbst heute noch aus seiner uns mitkonstituierenden Struktur heraus als wirksam ersichtlich gemacht. Und darüber hinaus haben wir von der

Unverlierbarkeit der archaischen Struktur gesprochen, die infolge ihrer Ur-

sprungsgegenwärtigkeit auch heute stets gegenwärtig ist. So wenig nun die magische Struktur vorstellbar ist, sondern nur erlebbar, so wenig die mythische vorstellbar ist, sondern nur erfahrbar, so wenig die rationale

erlebbar oder erfahrbar ist, sondern nur denkbar und vorstellbar, so wenig ist die

integrale Struktur vorstellbar, sondern nur wahrnehmbar. Dieses Wahrnehmen oder

Wahren ist dann keine Unmöglichkeit, wenn das vierdimensionale Koordinatensystem Bewußtseins-Charakter erhält (es herauszuarbeiten, es wahrnehmbar zu machen, wird Aufgabe des zweiten Teiles sein). Hier sei nur nochmals darauf ver-

284

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

wiesen, daß die aperspektivische Welt, die arational ist, keine Synthese darstellt. Eine

Synthese könnte sie nur sein, wenn sie versuchte, zwei Welten zu einigen: bei-

spielsweise die irrationale und die rationale: ein Versuch, der, wie wir gesehen

haben, im paradoxalen Denken unternommen wird. Hier aber handelt es sich um

zumindest vier Welten oder Strukturen, von denen jede einzelne nicht nur gültig, sondern nötig ist; die fünfte aber ist notwendig. Angesichts dieser vier Strukturen,

angesichts dessen, daß außer der Ursprünglichkeit auch das Erlebnis und die Erfahrung und die Vorstellung oder das Denken durch uns geleistet werden müssen, kann eine fünfte nicht durch eine Synthese, sondern nur durch eine Integrierung erreicht

werden. Und einer der „Wege“ zu dieser Integrierung ist, die bisherigen Strukturen, so wie sie uns konstituieren, zu konkretisieren; das aber heißt gleichzeitig

auch, daß sie uns in ihrem jeweiligen Bewußtseinsgrade bewußt und gegenwätig werden. Denn nur das Gegenwärtige ist wahrnehmbar, so wie jedes Wahrnehmen ein wahrgebendes Gegenwartigen ist. Das Wahrnehmen oder Wahren ist nicht an das Sehen gebunden, das vornehmlich die mentale Struktur prägt, sondern es ist, durchaus nicht übersinnlich, ein Gegenwärtigen aller Erscheinungs-

und Äußerungsformen und deshalb fähig, das Diaphane wahrzunehmen, das weder durch ein bloßes Sehen noch Hören oder Fühlen realisiert werden kann. Noch-

mals sei es deshalb betont: das Wahrnehmen ist kein übersinnlicher Vorgang. Begriffe wie Intuition und ähnliche wären zu seiner Charakterisierung durchaus fehl am Platz. Es ist ein ganzheitliches Geschehen und, wenn man will, ein ganzheitlicher Zustand des „Sich“; es ist gegenwärtigend und selber diaphanierend; und dies Diaphane kann man weder hören, noch schauen, noch sehen. Mit anderen Worten: durch das

Wahrnehmen wird die nur hörbare und die nur schaubare und die nur sehbare Welt als Ganzheit gegenwärtig. Und diese Gänzlichung gilt es zu wirklichen.

Eine Wirklichung dieser Ganzheit ist jedoch nur möglich, wenn die Teile, die zusammen nur ein Insgesamt bilden, durch einen entscheidenden Vollzug, den des Wahrnehmens und Wahrgebens, gegänzlicht werden können. Dafür bedarf es einer grundlegenden Voraussetzung: die Teile müssen ihrem eigenen Wesen gemäß, sei es erhört oder erlebt, sei es geschaut oder erfahren, sei es gesehen oder

gedacht werden: denn nur konkretisierte Teile sind integrierbar; das Abstrakte, vor allem das Absolute, bleiben immer abgetrennte Teile, womit jedoch nichts gegen den klärenden und Erkenntnis ermöglichenden Wert der Abstraktion innerhalb der ihr gemäßen mentalen Struktur gesagt sein soll.‘

Dieser Konkretisierung der Teile galten die Ausführungen der letzten drei Kapitel (V, VI und VII). Sie ergänzten unser erstes zusammenfassendes Kapitel (IV) und

waren den Mutationen entsprechend geordnet. Diese Kapitel mógen anschaulich und wahrnehmbar gemacht haben, welcher Art die Bedingtheit des Magischen

ist, die sich uns in seiner Punkthaftigkeit zu erkennen gab; sie mógen anschaulich

und wahrnehmbar gemacht haben, welcher Art die Befristetheit des Mythischen

I. Ursprung und Gegenwart

285

ist, die sich als Gegenpol zu seiner Unbegrenztheit ergibt und die darin zum Ausdruck kommt, daß aus dem Mythischen heraus der Gedanke entspringen konnte?; zudem muß die mythisch-psychische Welt befristet sein, denn anders wäre die geforderte und versuchte Links-Rechts-Vertauschung unerfüllbar. Und schließ-

lich mögen diese Kapitel außer der jeweiligen Bedingtheit und Befristetheit der

magischen und der mythischen Strukturen es uns vorstellbar gemacht haben, welcher Art die Begrenztheit des Mental-Rationalen ist, die uns in ihrer Einseitigkeit nachdenkbar ist, das heißt in ihrer bloßen Rechtsbetontheit, welche weitgehend mit jedweder Gerichtetheit verwechselt wurde; eine Begrenztheit, die auch in der dreidimensionalen Zeitvergewaltigung sichtbar geworden ist. Auf Grund dieser Befunde konnten wir in den einzelnen Kapiteln implicite klarwerden lassen, daß die bisherige „Zeit“ eine deklassierte Zeit war. Statt als funktionale und konstituierende Dimension belassen zu werden, wurde sie, die richtet

und räumlicht, ihrerseits gerichtet und geräumlicht: dieser Irrtum ist innerhalb

einer nur räumlichenden Weltvorstellung unvermeidlich. Und ebenso konnten wir hinsichtlich des Geistes implicite klarwerden lassen, daß das, was bisher als

„Geist“ angesprochen wurde, ein deklassierter Geist ist, der entweder psychisiert oder abstrahiert wurde: ein Irrtum, der für eine nur im Psychischen befangene Weltanschauung unvermeidlich ist; innerhalb einer Weltvorstellung aber ist

kein Platz für ihn, da das Geistige eine arationale „Größe“ ist; als „Geist“ mußte und wurde er aus ihr ausgeschieden, abgetrennt, absolutiert. So wie die Zeit eine deklassierte Form des „Zeitigenden“ ist, ist der Geist eine deklassierte Form des »Geistigen". Beide sind erst von der Amaterialität der integralen Struktur aus zu wirklichen, so wie der Raum nur aus der materiellen Struktur heraus, die Seele nur durch die immaterielle zu wirklichen sind. Um in der „Synoptischen Tafel“, wenn auch keine „vollständige“, so doch eine

kommentierte Übersicht über die Fundamente der aperspektivischen Welt geben

zu können und um einige Resultate festzuhalten, die sich aus den Kapiteln V, VI

und VII ergeben, wollen wir diese Resultate nun noch in ergänzenden Querschnitten zusammenfassen.

Beginnen wir mit den Querschnitten, die jene ergänzen können, die wir bereits (s. S. 1641.) für die Realisations- und Denkformen im Querschnitt 11 (a und b) ge-

geben haben. Wir erhalten dann folgende zusätzliche Übersicht (siehe Tabelle auf Seite 286).

Auch bei dieser Gelegenheit verweisen wir darauf, daß die hier und in den noch folgenden Querschnitten vorgenommenen Zuschreibungen für die integrale Struktur wieder nur andeutende Hinweise darstellen, keinesfalls aber perspektivische Postulierungen oder Setzungen sind. Da wir diese Querschnitte textmäßig auf den vorstehenden Seiten zusammengefaßt haben, glauben wir, daß sich ihre nochmalige Erläuterung erübrigt.

286

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

Struk-

tur

c) Vorgang

Archaisch

Ahnen

Maeisc

agisch

11. Realisations- und Denkformen:

|d) Ausdruck | e) Formulierung Ahnen

Assoziatives,

analogisierendes, | Erlebnis ες sympathisierendes Verflechten

Mythisch

Erinnerndes Schauen

ー Entäußerndes

Erfahrung

Sagen

Projizierendes Spekulieren:

Mental

Integral

okeanisches,

paradoxales, dann perspektivisches Denken Integrierendes Diaphanieren

[ἢ Grenzen] g) Valenz

Welt-Ursprung

-

Welt-Erkenntnis:

die „erkannte“ τ elt

-

| bedingt | univalent

Welt-Bild oder Welt-Anschauung:

| dieangeschaute | befristet jambivalent u. gedeutete Welt

Welt-Vorstellung:

Vorstellung | die gedachte und | begrenzt | trivalent Ww vorgestellte

w

ahrung

Welt

Welt- Wahrung: die

offen

u. wahrgegebene

frci

| wahrgenommene Welt

multi-

und

valent

Anders dagegen verhält es sich mit den nachstehenden Querschnitten

15, 16

und 17 (siehe nebenstehende Tabelle). Den Querschnitt 15 glauben wir geben zu müssen, weil er die Querschnitte 9 und ro (s. S. 161) ergänzt, und weil es nicht unwichtig sein dürfte, daß wir uns über die „numinose“ Rolle, die unsere Organe innerhalb der Bewußtwerdung

spielten, Rechenschaft ablegen, zumal Reste dieser einstigen numinosen oder manahaften Wirksamkeit selbst heute noch hier und dort wirksam sind. (Die defizient magische Blut-und-Boden-Parole

des in zwölf Jahren

zugrunde

gegangenen

„tausendjährigen Reiches" war dafür nur ein Beispiel unter vielen.) Wenn wir hinsichtlich der Lokalisation der Seele für die magische Struktur nur Samen und

Blut nennen, so deshalb, weil die anfängliche punkthafte Verstreutheit der Seele

auf alle für den magischen Menschen erlebbaren „Punkte“ durch diese Zuschrei-

bung am deutlichsten zum Ausdruck gebracht werden kann, und weil sowohl das Blut als der Same Seelenträger waren, da diese Stoffe die Lebenskräfte par

excellence sind. Bis hinauf in unsere mentale Zeit wirkt ja die numinose Eigen-

schaft dieser Stoffe oder Säfte nach: das Blut im Blute Christi, das symbolisch und

I. Ursprung und Gegenwart

Struktur

5. Lokalisationen der Seele

287

I6. Formen der Bindung

17.

7

Motto

Archaisch

(All)

-

ΑἹΙ

Magisch

Same und Blut

Proligio (prolegere): fühlend und punkthaft

Pars pro toto

Mythisch

|Zwerchfell und Herz|

„relegio“ (relegere): beachtend, erinnernd

Mental

Rückenmark und Gehirn

Integral

„ Hirnrinde und Humorale

Seele

und aussagend

Religion (religare):

glaubend, wissend a

8

.

.

: rachgio(n) (praeligare) | gegenwärtigend, ΝΝ konkretisierend . ,

und integrierend

gleich Leben T τ

Denken ist Sein

und deduzierend

P

5

(und Tod)

Ursprung: Gegenwart wW (Wahrgeben: w ahrnehmen)

sakramental im Wein gespendet wird; der Same in der Vorstellung des λόγος σπερματικός (logos sperniaticos; sperma = Same), der besonders in gnostischen Schriften eine große Rolle spielt. Und noch in Griechenland nennt Hippon als Seelensitz den Samen, Kritias das Blut.3 Daß dann mit der mythischen Struktur eine Aufwärtswanderung in der Betonung

der als numinos bewerteten Organe eintrat, eine Umlagerung aus der Vitalsphäre

in die Empfindungssphäre, die durch das Zwerchfell und das Herz symbolisiert und gekennzeichnet wird, das konnten wir beobachten, als wir dem Bedeutungs-

wandel der einzelnen numinosen griechischen Begriffe nachgingen und dabei bei-

spielsweise fanden, daß ἦτορ (etor) anfänglich „Blut“, später „Herz“ bedeutete. Zudem hängt das Zwerchfell mit dem Atem zusammen, der dem Herzschlage gleich

ein polhaftes Geschehen ist; und das Herz ist es, das gehört und mit dem in der mythischen Sphäre gesprochen wird. Denn das Sehen spielt hier noch nicht die entscheidende Rolle, und es hat seinen guten Grund, wenn mythische Sänger wie Homer blind vorgestellt wurden; denn um der Seele ansichtig zu werden, bedarf es nicht der Augen, sondern des Schauens; das aber ist nicht auf die sichtbare Welt gerichtet, sondern wird, nach innen gewandt, der inneren Bilder (der Seele) ansichtig. Und daß schließlich infolge der mentalen Struktur Rückenmark und Gehirn als Sitz oder Organ der sogenannten psychischen Abläufe angesehen wurden, ist allgemein bekannt. Alkmaion* war der erste, der es tat, und die heutigen materialistischen Psychologen werden die letzten sein und dürfen sich dabei noch immer auf Descartes berufen.

288

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

Auch im Querschnitt 16 dürften die Zuschreibungen ohne weiteres verständlich sein. Was die mythische „relegio“ anbelangt, sowie die mentale „Religion“, so ergibt sich aus ihnen für die magische Struktur jene „Proligio“, die uns das Wesen dessen, was man bisher als „primitive Religion" bezeichnete, sorgsamer auszu-

drücken scheint: es ist die Bindung zu dem „Punkt“, der jeweils „für“ (pro) den magischen Menschen im Sinne des ,,pars pro toto“ Gültigkeit hat; und die Ursprungsnähe des magischen Menschen macht eine „Religion“, die zudem die mentale Bewußtseinsstruktur voraussetzt, illusorisch. In dem gleichen Maße können

wir auch hinsichtlich der integralen Struktur nicht von bloßer „Religion“ sprechen: Gegenwärtigung ist „mehr“ als bloße Rückbindung. Gegenwärtigung ist auch Hereinnahme des Zukünftigen. Insofern Gegenwärtigung sowohl präsente Vergangenheit

als präsente Zukunft integriert, ist die Bindung für diese integrale Struktur die „praeligio“. Diese Praeligio schließt alle Befangenheiten aus; sie ist ohne Erwar-

tung, ohne Hoffnung auf etwas — denn alles zu Erhoffende ist latent in uns und wird durch die Praeligio realisiert; das gleiche gilt von der Erinnerung, das gleiche gilt von der Vertauschung des bedingten Oben und Unten, und es gilt von der

Vertauschung des befristeten Links und Rechts sowie des begrenzten Vorn und Hinten. Praeligio ist damit die Bindung zu der durchscheinend werdenden Ursprungsgegenwärtigkeit, die, wird sie dem Menschen bewußt, ihm die Wahrnehmung und die Wahrgebung des Ganzen ermöglicht: die Praeligio schaltet keine der anderen Formen der Bindung aus, sondern bindet sie alle „in“ das Ganze.

Und was schließlich den Querschnitt 17 anbetrifft, so verwiesen wir des öfteren auf das magische „pars pro toto“; und wir erinnern an die für das Mythische charakteristische Doppelbedeutung des griechischen Wortes „Psyche“, das nicht

nur „Seele“ bedeutet, sondern auch „Leben“; wobei jenes Leben, das die mythisch-

psychischen Sinnbilder symbolisieren, immer auch polhaft den Tod enthält. Im

ersten „Motto“ kommt also das das polhafte, im dritten, dem Satz und im vierten deutet sich an, daß sieren, noch ein Setzen oder eine welches der das Ganze prägende

einende Moment zum Ausdruck, im zweiten des Parmenides, finden wir das setzende ,,ist“, das Wahren weder ein Einen, noch ein PolariSynthese ist, wohl aber ein Integrieren, durch Ursprung wahrgenommene Gegenwart wird.

2. Zusammenfassung und Ausblick Schließen wir hier unseren Versuch, die Fundamente einer neuen Mutation darzustellen, ab. Insoweit wir sie deutlich zu machen vermochten, dürfte es klargeworden sein, daß die vier den Menschen konstituierenden Strukturen als Ganzheit aufgefaßt werden müssen. Ihre Mutationen sind eine Bewußtwerdung; ihre „Ge-

schichte“, wie wir sie dargestellt haben, ist ein Beitrag zu einer Geschichte der

2. Zusammenfassung und Ausblick

289

Bewußtwerdung. Sie macht es uns bewußt, in welch lebendiger Fülle alle Struk-

turen ihre Wirksamkeit ausüben. Diese Strukturen miteinander und ihrem je-

weiligen Bewußtseinsgrad entsprechend zu leben, dürfte zu einer Annäherung

an ein ganzheitliches Leben befähigen. Und zu wissen, aus welcher der Strukturen dieser oder jener Lebensvorgang, diese oder jene unserer Reaktionen oder Ansichten oder Urteile stammen, kann uns ohne Zweifel behilflich sein, um das Leben zu klären. Klarheit jedoch, die auch um die Dunkelheiten weiß, Wachheit,

die um den Schlaf weiß, sind Voraussetzungen, welche die Durchsichtigkeit der integralen Struktur fordert. Wir haben in unseren Ausführungen über die Fundamente bereits auf das Bezug genommen, was sich in einer neuen Mutation wirklichen könnte. Das war ein Wagnis, denn diese Bezugnahmen mußten unverbindlich bleiben und entbehrten der Beweise. Man möge sie als Hinweise werten, so wie man die Schilderung einer Landschaft zur Kenntnis nimmt, die einem noch fremd ist, und deren Schil-

derung deshalb eher befremdend wirken muß, solange man ihrer nicht selber ansichtig wurde. Trotzdem glauben wir, nicht falsch gehandelt zu haben, wenn wir diese „neue Landschaft“ der aperspektivischen Welt hin und wieder anzudeuten versuchten: nicht eine Vorstellung sollte von ihr gegeben werden, sondern eine

Andeutung. Jedenfalls aber lassen sich erste Manifestationen nachweisen, welche sich auf die angedeutete Landschaft beziehen. Sie ist keine Verheißung, sondern

eine Aufgabe. Wie nun auch immer diese Landschaft beschaffen sein mag, sie kann keine Wiederholung des schon Gewesenen sein. Vier große umfassende Weltmodalitäten, denen

wir entsprangen und entspringen, die wir erlebten und erleben, die wir erfuhren

und erfahren, die wir dachten und denken: vier große, umfassende und dazu

intensive Bereiche möglicher und bereits ermöglichter Manifestationsformen scheiden für die „neue Landschaft“ von vornherein (oder im nachherein) aus. Das vereinfacht unsere Aufgabe gewiß nicht; aber es klärt sie. Die dargestellten Mutationen machten ferner deutlich: daß ein jeweilig Unerfahrbares erfahrbar, ein Unvorstellbares vorstellbar, ein Undenkbares denkbar

wurden. Denn dem magischen Menschen ist die Erfahrbarkeit oder Denkbarkeit der mentalen Struktur nicht realisierbar. Dem bloß mentalen Menschen wird die Wahrnehmbarkeit der integralen Struktur nicht vorstellbar sein; aber wir befinden uns bereits in ihren Anfängen; und dieser Umstand wird vieles erleichtern,

was jetzt noch unrealisierbar scheint. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte dürften deutlich gemacht haben, daß eine neue Mutation notwendig ist, um die heutige Not zu wenden. In welchem Unmaß eine allgemeine Zertrümmerung der materialisierten Werte und Unwerte eingesetzt hat, bedarf heute keiner Beschreibung mehr. Und da mag es gut sein, sich daran zu erinnern, daß einst, als die mythische Struktur zu verblassen begann,

290

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

der griechische Mensch sich einer ähnlichen Chaotisierung gegenübersah, wie es heute für uns wieder der Fall ist. Jene damalige Chaotisierung betraf die mythische

Welt, die auseinandergeborsten war: es war die drohende psychische Zertrümmerung. Ihrer wurde der Grieche dank des gerichteten Denkens Herr. Heute betrifft die Chaotisierung unsere materielle Raum welt. Ihrer können wir vielleicht

durch die „Wahrung“ Herr werden. Die Ideen Platons fixierten die seelischen Denkinhalte, ohne die sich der griechische Mensch niemals aus der Seele und dem Mythos hätte befreien können. Diese Fixierung ermöglichte die Raumwelt, die

ihrerseits durch die Perspektive Leonardo da Vincis fixiert wurde, denn ohne den gesetzten perspektivischen Punkt hätte sich der europäische Mensch im Raume

verloren, so wie sich ohne die gesetzten ideellen Punkte der griechische Mensch in der Seele verloren hätte. Und nun, da diese Raumwelt in Trümmer zu gehen droht, weil die aus ihr hervorbrechenden Kräfte zuerst einmal stärker sind als der Mensch, der sie realisiert, bildet sich in ihm das neue Vermögen, das gerade durch diese scheinbar negativen Kräfte und Mächte geweckt wird. So wie das sinngerichtete Denken von dem zerberstenden mythischen Kreise geweckt wurde,

jenes Denken, durch das die Griechen vor dem Untergang in der bewußtwerden-

den Innenwelt, in der Seele, bewahrt wurden, so könnte das sinnvolle Wahrnehmen von der zerberstenden Raumwelt geweckt werden, jenes Wahrnehmen, das uns

vor dem Untergang in die bewußtgewordene Außenwelt, in die Materie, zu be-

wahren vermóchte. Doch die zerborstene Raumwelt, die eine Welt unserer Vorstellung ist, was wir

niemals vergessen dürfen, sie erst ist Gewähr für die Möglichkeit einer raumfreien aperspektivischen Welt. Wenn es uns gelingt, das Geschehende unter diesem Gesichtspunkt der Muta-

tionen zu betrachten, dann wird auch ersichtlich, daß es sich bei dem soeben angeführten Vergleich nicht um ein Wiederholen handelt, sondern um ein „neues“

Geschehen. Denn inzwischen, seit den frühesten Tagen bis auf die heutigen, mehrten sich die Strukturen. Und uns ist aufgegeben ihre vorerst letzte Mehrung, diesmal durch Integrierung, zu leisten. Als den defizient mythisch-magischen Mexikanern der mentale Spanier gegenübertrat, versagte die magisch-mythische Macht vor der mentalen Kraft; und es versagte das Clanbewußtsein vor dem mannbetonten IchbewuDtsein. Wenn dem defizient mentalen Menschen der integrale Mensch gegenüberzutreten vermöchte — würde dann die defizient materielle Macht nicht vor der integralen

Kraft versagen: Würde das mannbetonte Ichbewußtsein nicht vor dem menschheitlichen Sich-Bewußtsein, würde das Mental-Rationale nicht vor dem Geistigen,

würde die Geteiltheit nicht vor der Ganzheit versagen: Es ist heute nicht mehr die Frage, ob „Reformen“ nützen könnten. Dies ist im

Verlauf unserer Darstellung deutlich geworden. Aber es bleibt eine andere Frage:

2. Zusammenfassung und Ausblick

291

Was kann der Mensch zu dieser Mutation tun? Auf diese Frage wagten wir bereits eine Antwort: was not tut, ist, zu wissen, wo wir uns geschehen-machend

und wo wir uns geschehen-lassend zu bewähren haben: wo wir nur wahrnehmen

sollen, und wo wir wahrgeben dürfen. Denn auch damit gegenwärtigen wir das

Ganze: indem wir realisieren, daß wir im gleichen Maße sowohl Handelnde als auch Duldende, und im gleichen Maße sowohl Vergangene als auch Zukünftige sind. Der Mensch aber ist in der Welt, um sie und sich zu wahren. Dies aber nicht um seinet- oder ihretwillen, wohl aber um der geistigen Gegenwart willen. Sie

ist es, die das Ganze in die Durchsichtigkeit hebt und die uns von unserer vergehen-

den Zeit befreit. Denn diese unsere Zeit ist keine Gegenwart, sondern Teil und

Flucht, ja fast schon Ende. Doch nur wer um den Ursprung weiß, hat Gegenwart und lebt und stirbt im Ganzen.