Ursprung und Gegenwart. Erster Teil 3721405765, 9783721405767

«Ursprung und Gegenwart», das Hauptwerk Jean Gebsers, gehört zu den ebenso eigenwilligen wie bedeutenden Versuchen, das

134 54

German Pages 374 [404] Year 1986

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ursprung und Gegenwart. Erster Teil
 3721405765, 9783721405767

Table of contents :
Titelseite
Zwischentitel
Copyright
Inhalt
Quellennachweis und Abbildungen
Geleitwort von Joachim Illies
Vorwort
Vorwort zur zweiten Auflage
Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband
Erstes Kapitel: Grundlegende Betrachtungen
Ursprung und Gegenwart
Bewußtseinsmutationen
Aperspektivität und das Ganze
Individualismus und Kollektivismus
Möglichkeit einer neuen Bewußtheit
Das aztekisch-spanische Beispiel
Die Durchsichtigkeit der Welt
Methodik und Diaphanik
Zweites Kapitel: Die drei europäischen Welten
1. Die unperspektivische Welt
Perspektive und Raum
Raumlosigkeit gleich Ichlosigkeit; Höhle und Dolmen; Ägypten und Griechenland
2. Die perspektivische Welt
Die Gestaltung der Perspektive seit Giotto
Die Entdeckung einer Landschaft durch Petrarca
Der Brief Petrarcas über seine Besteigung des Mont-Ventoux
Die Geschichte der Perspektive als Ausdruck für die Bewußtwerdung des Raumes
Die Acht und die Nacht
Psychische Kettenreaktionen
Positive und negative Folgen der Perspektivierung
Die denkerische Verwirklichung der Perspektive durch Leonardo da Vinci
Der Raum, das Thema der Renaissance
Das Zeitalter seit 1500 n. Chr., das der Teilungen; Isolation und Vermassung
Zeitangst und Zeitflucht als Folge des Raumgewinnes
3. Die aperspektivische Welt
Aperspektivitat und das Ganze
Augenblick und Gegenwart; die Konkretion der Zeit bei Picasso und Braque als Temporik
Die Zeitinflation im Surrealismus
Der Ganzheits-Charakter des temporischen Portraits
Drittes Kapitel: Die vier Bewußtseinsmutationen
1. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation
Das »Neue« ist immer »über« der Wirklichkeit des Bisherigen
Der Entwicklungs-Gedanke seit Duns Scotus und seit Vico
Mutation statt Fortschritt; Plus- und Minus-Mutationen
Das Mutations-Thema in der heutigen Literatur
Mutation und Entwicklung
Die psychische Inflation als Gefahr der Gegenwärtigung
2. Der Ursprung oder die archaische Struktur
Ursprung und Anfang
Identität und Androgyne; Synkretismen und Enzyklopädien; Weisheit und Wissen; Der traumlose Mensch
Die archaische Identität von Mensch und All
3. Die magische Struktur
Die Eindimensionalitat des magischen Weltgefühls
Das magische »pars pro toto«
Die Höhle, der magische »Raum«; die fünf Charakteristika des magischen Menschen
Die magische Verflochtenheit
Die Aura; die Mundlosigkeit
Magie, Tun ohne Bewußtsein
Das Ohr, das magische Organ
4. Die mythische Struktur
Die Lösung aus der vegetativen Natur und die Bewußtwerdung der Seele
Mythos als Schweigen und Sprache
Mythologeme der Bewußtwerdung
Die Rolle des Zornes in Bhagavadgita und Ilias; das »Bin Odysseus«
Die großen Nekyia-Berichte
Das Leben ein Traum (Dschuang-Dsi, Sophokles, Calderón, Shakespeare, Novalis, Virginia Woolf); das Mythologem von Athenes Geburt
5. Die mentale Struktur
Ratio und Menis
Die Zerreißung des mythischen Kreises durch das gerichtete Denken
Die etymologischen Wurzeln der mentalen Struktur
Das archaische Lächeln; die Richtung der Schrift als Ausdruck der Bewußtwerdung
Das Recht, rechts und die Richtung
Von dem »Gesetz der Erde«; die Gleichzeitigkeit der Bewußtwerdung in China, Indien und Griechenland
Die Dionysien und das Drama; Person und Maske; Einzelner und Chor
Die »orphischen Täfelchen«
Die mythische Inhaltsfülle der Wörter und erste ontologische Aussagen
Mythologem und Philosophem
Das Riannodamento; die folgenschwere Identifizierung von rechts und richtig; Polarität und Dualität
Trias und Trinität; Ahnenkult und Kindkult
Herkunft des Symbols
Symbol, Allegorie und Formel
Quantifizierung, Sektorierung und Atomisierung; die Integrierung der Seele
Buddhismus und Christentum; die Nordwest-Verlagerung der Kulturzentren
Die Projektionslehre bei Plutarch; relegio und religio
Augustin
Das vollzogene Riannodamento
Die Maßlosigkeit der Ratio
Voraussetzungen für den Weiterbestand der Erde; die drei Seins-Axiome
6. Die integrale Struktur
Traditionalisten und Evolutionisten
Die Konkretion der Zeit
Temporische Ansätze seit Pontormo und Desargues
Viertes Kapitel: Zusammenfassende Zwischenbetrachtung: Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen
1. Querschnitte durch die Strukturen
Die Interdependenz von Dimensionierung und Bewußtsein
Das Diaphainon; Signatur und Wesen der Strukturen
Die Ursprungsgegenwärtigkeit; die Gesetzmäßigkeit der Mutationen
2. Exkurs über die Einheit der Urwörter
Ganzheitliche Sprachbetrachtung
Die Doppelwertigkeit der Wurzeln; Höhle und Helle wurzelgemein
Die Spiegelwurzeln
Tat und Tod wurzelgemein
Das Wort »All«
3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse
Die vier Gesetzmäßigkeiten der Mutationen
Transzendieren ist bloße Raum-Erweiterung
Die Technik eine materiell-physische Projektion
Die Angst und Ausweglosigkeit unserer Zeit
Das Sich
Geheimnis und Schicksal; vom »Weg« der Menschheit
Das Ichbewußtsein
Die Realisierung des Todes
Blick auf eine neue »Landschaft«
Möglichkeiten einer neuen Haltung
4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte)
Methode und Diaphanik
Die magische »Empfängnis durch das Ohr«
Die mythische Sprache des Herzens
Irrationalität, Rationalität, Arationalität
Götzen, Götter, Gott; Ritual, Mysterien, Methode
Der Untergang des Matriarchats
Das Patriarchat
5. Abschließende Zusammenfassung: Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen
Überlegung und Klärung
Die defiziente Auswirkung der Strukturen in unserer Zeit
Fünftes Kapitel: Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen
1. Die Raum- Zeitlosigkeit der magischen Struktur
Die magische Rolle des Gebetes und die Wunderheilungen von Lourdes
2. Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur
Das Polprinzip
Die Bewegungen des Zeithaften
Das Kreisen der mythischen Bilderwelt
Das Kronos-Mythologem
Kronos als Bild der Nachtwelt
Die Entstehung der Zeithaftigkeit aus der Zeitlosigkeit
Der Wert der Wurzellaute K, L und R
Von den Spiegelwurzeln
3. Die Raumbetontheit der mentalen Struktur
Die Wurzel der Wörter, die »Zeit« bedeuten; die Zeit als das Teilende
Das Kronos-Opfer der Daïs: die Entstehung der Zeit aus der Zeithaftigkeit
Die Pervertierung der Zeit (das Teilende wird geteilt statt zu teilen) und die Deklassierung der Zeit in der abendländischen Philosophie
Das Denken ein räumlicher Vorgang und die Raumbetontheit des Mentalen
Die beginnende Veränderung des Raumes
Sechstes Kapitel: Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist
1. Methodologische Überlegungen
Seele und Zeit, Denken und Raum
Die apsychische und amaterielle Weltmöglichkeit
Über die »Darstellbarkeit« der unmeßbaren Psyche
2. Das Numinose, das Mana und die Seelen
Bisherige Geschichts-Theorien
Die Geschichte und das Numinose
Das Mana
Die Entstehung des Seelenbegriffes
Die Seelen und die Seele; die Geister und der Geist
Leben und Tod als ganzheitliche Gegenwart
Das Numinose als magisches Erlebnis
Die Verlagerung der numinosen Anlässe
Die menschliche Resonanzfähigkeit
Das Bewußtsein
Die Fehlschlüsse infolge der Postulierung des »Unbewußten«
Bewußtseins-Intensivierung statt Bewußtseins-Erweiterung; psychische Mächtigkeiten und Ichzentrierung
3. Der Todespol der Seele
Die Symbolik der Todesseele
Der ägyptische Seelenvogel und die Engel
Sirenen und Musen; Todesseele und Todestrieb
Mythisierung der Psychologie und der Physik
Das ägyptische Segel als Seelensymbol; der Mondcharakter der Seele in der vedischen, ägyptischen und griechischen Überlieferung
Die Doppeldeutigkeit jedes einzelnen Seelenpols
4. Der Lebenspol der Seele
Die Symbolik der Lebensseele
Die Wasser-Symbolik für den Lebenspol der Seele
Das Wasser ein Menschheits-Trauma
5. Das Symbol der Seele
Das chinesische T’ai-Ki; der prätellurische Ursprung der Ursymbole; ermessendes und lebendiges Wissen
Leben und Tod sind keine Gegensätze
Der geflügelte Delphin als griechisches Seelensymbol
Die Hadesfahrten
Das lebendige Wissen der Seele
6. Zur Symbolik des Geistes
Seelen und Geister
Die frühen Geist-Begriffe; Symbolik des Geistes
Geist und Intellekt
Die Geister, der Geist und das Geistige
Siebentes Kapitel: Die bisherigen Realisations- und Denkformen
1. Dimensionierung und Realisation
Die Abhängigkeit der Realisation von der Dimensionierung der jeweiligen Struktur
Die konstitutionsmäßige Verschiedenheit der einzelnen Realisationsformen
2. Das Erleben und Erfahren
Das Erleben als magische Realisationsform
Das Erfahren als mythische Realisationsform
3. Das okeanische Denken
Das Kreisdenken; der Okeanos und die Welt als Insel
Das okeanische Denken
4. Das perspektivische Denken
Die Geburt des mentalen Denkens
Der Perspektivitätsbegriff
Sehdreieck und Begriffspyramide
Die Raumgebundenheit des Denkens
Das paradoxale Denken
Das Paradoxon
Das Bild von den Parallelen
Die Links-Rechts-Vertauschung
Das Erwachen der Linken
Die Frauen-Rechte
Linke Werte in der heutigen Malerei; das Diaphane und die Weltwahrung
Achtes Kapitel: Die Fundamente der aperspektivischen Welt
1. Ursprung und Gegenwart (Ergänzende Querschnitte)
Die Unvorstellbarkeit einer aperspektivischen Welt
Wahrnehmen und Wahrgeben als aperspektivische Realisationsformen
Formen der Bindung und die Proligio; die Praeligio; Ursprung als Gegenwart
2. Zusammenfassung und Ausblick
Die Möglichkeiten einer neuen Mutation
Die Überwindungen der psychischen und materiellen Zertrümmerung; das menschheitlichen Sich-Bewußtsein
Die Befreiung aus der »Zeit«: Ursprung und Gegenwart
Bildtafeln nach Seite 376

Citation preview

Jean Gebser | Gesamtausgabe Ursprung und Gegenwart Erster Teil Das Fundament der aperspektivischen Welt Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung

NOVALIS VERAG

2

JEAN

GEBSER

» GESAMTAUSGABE BAND

URSPRUNGUND

II GEGENWART

I. TEIL

JEAN GEBSER

GESAMTAUSGABE BAND

II

Ursprung und Gegenwart. Erster Teil Die Fundamente der aperspektivischen Welt Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung

Mit einem Geleitwort von

Joachim Illies

IM

NOVALIS

VERLAG

©

1986 Novalis Verlag AG Schaffhausen Druck: Meier + Cie AG ISBN

3-7214-0576-5

Schaffhausen (für die Paperback-Gesamtausgabe)

INHALT

Geleitwort von Joachim Illies

Vorwort .

Vorwort zur zweiten Auflage

Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband

.

Erstes Kapitel: Grundlegende Betrachtungen Ursprung und Gegenwart 23 — Bewußtseinsmutationen Aperspektivitát und das Ganze 26 — Individualismus Kollektivismus 27 - Möglichkeit einer neuen Bewußtheit Das aztekisch-spanische Beispiel 30 — Die Durchsichtigkeit Welt 32 — Methodik und Diaphanik 33

24 — und 29 — der

Zweites Kapitel: Die drei europäischen Welten 1. Die unperspektivische Welt 0.

Perspektive und Raum 35 — Raumlosigkeit gleich Ichlosigkeit; Höhle und Dolmen; Ägypten und Griechenland 36

35 35

2. Die perspektivische Welt

38

3. Die aperspektivische Welt.

60

Die Gestaltung der Perspektive seit Giotto 38 — - Die Entdekkung einer Landschaft durch Petrarca 40 — Der Brief Petrarcas über seine Besteigung des Mont-Ventoux 41 — Die Geschichte der Perspektive als Ausdruck für die Bewußtwerdung des Raumes 46 — Die Acht und die Nacht 48 — Psychische Kettenreaktionen 50 — Positive und negative Folgen der Perspektivierung 51 — Die denkerishe Verwirklichung der Perspektive durch Leonardo da Vinci 54 — Der Raum, das Thema der Renaissance 56 — Das Zeitalter seit 1500 n. Chr., das der Teilungen; Isolation und Vermassung 57 — Zeitangst und Zeitflucht als Folge des Raumgewinnes 58 Aperspektivitat und das Ganze 62 - Augenblick und Gegenwart; die Konkretion der Zeit bei Picasso und Braque als Temporik 63 — Die Zeitinflation im Surrealismus 64 — Der Ganzheits-Charakter des temporischen Portraits 65

Drittes Kapitel: Die vier Bewußtseinsmutationen .

1. Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

Das »Neue« ist immer »über« der Wirklichkeit des Bisherigen 70 — Der Entwicklungs-Gedanke seit Duns Scotus und seit

Vico 72 — Mutation statt Fortschritt; Plus- und Minus-Muta-

JO JO

VI

Inhalt

tionen 73 — Das Mutations-Thema

in der heutigen Literatur

75 — Mutation und Entwicklung 77 — Die psychische Inflation

als Gefahr der Gegenwärtigung 82

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur.

. . . .

Ursprung und Anfang 83 — Identität und Androgyne; Synkre-

83

tismen und Enzyklopädien; Weisheit und Wissen; Der traumlose Mensch 84 — Die archaische Identität von Mensch und All 86

3. Die magische Struktur

. . .

87

Die Eindimensionalitat des magischen Weltgefühls 87. - Das magische »pars pro toto« 88 — Die Höhle, der magische »Raum«; die fünf Charakteristika des magischen Menschen 91 — Die magische Verflochtenheit 93 — Die Aura; die Mundlosigkeit 101 — Magie, Tun ohne Bewußtsein 104 — Das Ohr, das magische Organ 106

4. Die mythische Struktur

.

. . .

Die Lósung aus der vegetativen Natur und die Bewußtwerdung der Seele 107 — Mythos als Schweigen und Sprache 111 — Mythologeme der Bewußtwerdung 117 — Die Rolle des Zornes in Bhagavadgita und Ilias; das »Bin Odysseus« 121 — Die großen Nekyia-Berichte 123 — Das Leben ein Traum (Dschuang-Dsi, Sophokles, Calderón, Shakespeare, Novalis, Virginia Woolf); das Mythologem von Athenes Geburt 124

5. Die mentale Struktur

. . . .

.

o.

Ratio und Menis 126— Die Zerreißung des mythischen Kreises durch das gerichtete Denken 128 — Die etymologishen Wurzeln der mentalen Struktur 130 — Das archaische Lächeln; die Richtung der Schrift als Ausdruck der Bewußtwerdung 133 — Das Recht, rechts und die Richtung 134 — Von dem »Gesetz der Erde«; die Gleichzeitigkeit der Bewußtwerdung in China, Indien und Griechenland 135 — Die Dionysien und das Drama; Person und Maske; Einzelner und Chor 137 — Die »or-

phishen

Täfelchen«

140 - Die mythishe

Inhaltsfülle der

Wörter und erste ontologishe Aussagen 141 — Mythologem und Philosophem 143 - Das Riannodamento; die folgenschwere Identifizierung von rechts und richtig; Polaritat und Dualitat 144 — Trias und Trinitat; Ahnenkult und Kindkult 146 — Herkunft des Symbols 147 - Symbol, Allegorie und Formel 149 — Quantifizierung, Sektorierung und Atomisierung; die Integrierung der Seele 151 — Buddhismus und Christentum; die Nordwest-Verlagerung der Kulturzentren 152 — Die Projektionslehre bei Plutarch; relegio und religio 154 — Augustin 155 — Das vollzogene Riannodamento 157 - Die Maß-

106

«125

Inhalt losigkeit der Ratio

158 — Voraussetzungen

stand der Erde; die drei Seins-Axiome 163

6. Die integrale Struktur

VII

für den Weiterbe-

. . . .

165

Traditionalisten und Evolutionisten 166 — Die Konkretion der

Zeit 167 — Temporische Ansätze seit Pontormo und Desargues 168

Viertes Kapitel: Zusammenfassende Zwischenbetrachtung:

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen.

1. Querschnitte durch die Strukturen

. . .

.

. . . .

Die Interdependenz von Dimensionierung und Bewußtsein 174 — Das Diaphainon; Signatur und Wesen der Strukturen 176 — Die Ursprungsgegenwärtigkeit; die Gesetzmäßigkeit der Mutationen 178

2. Exkurs über die Einheit der Urwórter

. . .

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse.

. .

173

182

Ganzheitliche Sprachbetrachtung 183 — Die Doppelwertigkeit der Wurzeln; Höhle und Helle wurzelgemein 188 — Die Spiegelwurzeln 190 — Tat und Tod wurzelgemein 191 -- Das Wort »All« 192

.

173

.

193

4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte).

. .

213

5. Abschließende

als

Die vier Gesetzmäßigkeiten der Mutationen 193 — Transzendieren ist bloße Raum-Erweiterung 196 — Die Technik eine materiell-physische Projektion 197 — Die Angst und Ausweglosigkeit unserer Zeit 199 — Das Sich 201 — Geheimnis und Schicksal; vom »Weg« der Menschheit 203 — Das Ichbewuftsein 205 — Die Realisierung des Todes 207 — Blick auf eine neue »Landschaft« 209 — Möglichkeiten einer neuen Haltung 211

Methode und Diaphanik 214 — Die magische »Empfängnis durch das Ohr« 216 — Die mythische Sprache des Herzens 217 — Irrationalität, Rationalität, Arationalität 219 — Götzen, Götter, Gott; Ritual, Mysterien, Methode 221 — Der Untergang des Matriarchats 223 — Das Patriarchat 224

Zusammenfassung:

Der

Mensch

Ganzes seiner Mutationen. . . Überlegung und Klärung 227 — Die defiziente Auswirkung der

226

Strukturen in unserer Zeit 229

Fünftes Kapitel: Uber

Strukturen

. . . .

die Raum-Zeit-Konstitution

1. Die Raum- Zeitlosigkeit der magischen s trubtur .

der

o...

20.

Die magische Rolle des Gebetes und die Wunderheilungen von Lourdes 235

234

234

VIII

Inhalt

2. Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

Das Polprinzip 239 — Die Bewegungen des Zeithaften 240 — Das Kreisen der mythischen Bilderwelt 242 — Das KronosMythologem 243 — Kronos als Bild der Nachtwelt 244 — Die Entstehung der Zeithaftigkeit aus der Zeitlosigkeit 245 — Der Wert der Wurzellaute K, L und R 248 — Von den Spiegelwurzeln 249

238

3. Die Raumbetontbeit der mentalen Struktur

Die Wurzel der Wórter, die »Zeit« bedeuten; die Zeit als das Teilende 251 — Das Kronos-Opfer der Dais: die Entstehung der Zeit aus der Zeithafligkeit 252 — Die Pervertierung der Zeit (das Teilende wird geteilt statt zu teilen) und die Deklassierung der Zeit in der abendländischen Philosophie 258 — Das Denken ein ràumlicher Vorgang und die Raumbetontheit des Mentalen 262 — Die beginnende Veränderung des Raumes 263

Sechstes Kapitel: Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

I. Methodologische Uberlegungen

en

Seele und Zeit, Denken und Raum 264 - Die apsychische und

264 264

amaterielle Weltmöglichkeit 265 — Über die »Darstellbarkeit«

der unmefSbaren Psyche 266

2. Das

Numinose, das Mana und die Seelen

. .

Bisherige Geschichts-Theorien 268 — Die Geschichte und das Numinose 271 — Das Mana 273 — Die Entstehung des Seelenbegriffes 274 — Die Seelen und die Seele; die Geister und der Geist 280 — Leben und Tod als ganzheitliche Gegenwart 282 — Das Numinose als magisches Erlebnis 285 - Die Verlagerung der numinosen Anlässe 287 — Die menschliche Resonanzfähıgkeit 288 — Das Bewußtsein 289 — Die Fehlschlüsse infolge der Postulierung des »Unbewußten« 290 — BewufstseinsIntensivierung statt Bewufstseins-Erweiterung; psychische Mächtigkeiten und Ichzentrierung 292

3. Der Todespol der Seele .

Die Symbolik der Todesseele 294 — Der ägyptische Seelenvogel und die Engel 295 — Sirenen und Musen; Todesseele und Todestrieb 297 — Mythisierung der Psychologie und der Physik 298 — Das ägyptische Segel als Seelensymbol; der Mondcharakter der Seele in der vedischen, ägyptischen und griechischen

Überlieferung 299 — Die Doppeldeutigkeit

Seelenpols 305

4. Der Lebenspol der Seele

268

293

jedes einzelnen

Die Symbolik der Lebensseele 308 — Die Wasser- Symbolik für

306

Inhalt

den Lebenspol der Seele 309 — Das Wasser ein MenschheitsTrauma 312

5. Das Symbol der Seele

. . .

Das chinesische T’ai-Ki; der prätellurische Ursprung der symbole; ermessendes und lebendiges Wissen 316 — Leben Tod sınd keine Gegensätze 321 — Der geflügelte Delphin griechisches Seelensymbol 322 — Die Hadesfahrten 323 — lebendige Wissen der Seele 324

6. Zur Symbolik des Geistes.

.

.

313

Urund als Das

.

327

Seelen und Geister 328 — Die frühen Geist- Begriffe; Symbolik des Geistes 329 — Geist und Intellekt 330 — Die Geister, der Geist und das Geistige 332

Siebentes Kapitel: Die bisherigen Realisations- und Denkformen o 1. Dimensionierung und Realisation. . . . 0.2.

339 339

Die Abhängigkeit der Realisation von der Dimensionierung der jeweiligen Struktur 340 — Die konstitutionsmäßige Verschiedenheit der einzelnen Realisationsformen 342

2. Das Erleben und Erfahren

. .

343

Das Erleben als magische Realisationsform 343 — Das Erfahren als mythische Realisationsform 344

3. Das okeanische Denken.

. .

345

Das Kreisdenken; der Okeanos und die Welt als Insel. 345 Das okeanische Denken 346

4. Das perspektivische Denken.

. . . .

Die Geburt des mentalen Denkens 350 — Der Perspektivitätsbegriff 351 — Sehdreieck und Begriffspyramide 352 — Die Raumgebundenheit des Denkens 356

Das paradoxale Denken

.

.

.

.

Das Paradoxon 357 — Das Bild von den Parallelen 358. — Die Links-Rechts-Vertauschung 360 — Das Erwachen der Linken 361 — Die Frauen-Rechte 362 — Linke Werte in der heutigen Malerei; das Diaphane und die Weltwahrung 363

Achtes Kapitel: Die Fundamente der Welt . ......... o.

IX

350

357

aperspektivischen .

365

1. Ursprung und Gegenwart ( Ergánzende Querschnitte

365

Die Unvorstellbarkeit einer aperspektivishen Welt 365 Wahrnehmen und Wahrgeben als aperspektivische Realisationsformen 366 — Formen der Bindung und die Proligio; die Praeligio; Ursprung als Gegenwart 371

X

Inhalt

2.Z usammenfassung und Ausblick

Die Möglichkeiten einer neuen Mutation 372 — Die Überwin-

3/1

dungen der psychischen und materiellen Zertrümmerung; das menschheitliche Sich-Bewußtsein 373 — Die Befreiung aus der »Zeit«: Ursprung und Gegenwart 374 Bildtafeln

.

.

.

.

2

2

2

2

2

2

.

.

.

.

. nach Seite

376

VERZEICHNIS UND QUELLENNACHWEIS DER

ABBILDUNGEN

Abb.

: Pablo Picasso, Zeichnung (1926) (Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis der Galerie Gasser, Zürich)

Abb.

: Pablo Picasso, »Le chapeau de paille

Abb.

: Georges Braque, »Femme au cheva-

2...

(Der Strohhut)« (1938) . . . . . Tafel (Wiedergegeben nach einer Photographie der Kunsthalle Bern) let (Frau vor der Staffelei)« (1936)

(Reproduziert mit freundlicher Erlaubnis der Galerie Rosenberg, Pa-

Tafel

S.

61

rzuS.

65

1zuS.

66

ris)

Abb.

: Prahistorische Biiffel-Zeichnung aus der Höhle von Niaux . . . . . . 2... (Quellennachweis s. Anm.

Abb.

9$.

90

Tafel 2zuS.

99

: »Die Negerschlacht«, Gemälde auf einer Truhe im Grabe des Tut-enchAmuns............

(Quellennachweis s. Anm.

Abb.

$. 903°)

: Fresko

aus

der

»Tour

S. 9947)

de la Gar-

derobe« im »Palais des Papes« . . Tafel 3 zu S. 100 (Wiedergegeben nach einer alten Reproduktion des »Palais des Papes«, Avignon}

Abb.

: Fragment

Abb.

: » Artemis als Herrin der Tiere«; korinthishe Vasenmalerei (Quellennachweis s. Anm. $. 10059)

Abb.

: Prähistorische Felszeichnung aus Australien. . . 2 2 220. (Quellennachweis s. Anm. $. 10155)

einer böotischen

Vasen-

zeichnung (Quellennachweis s. Anm. 8. 9948)

Tafel 4 zu S. ror

XII

Quellennachweis und Abbildungen

Abb. 10: Irishe Miniatur aus einem Psalter in Dover

.

.

.

2

2

.

.

.

.

.

(Quellennachweis s. Anm. S. 10157)

Tafel 4 zu S.

.

Abb. 11: Prähistorische

Felszeichnung aus Nordwest-Australien . . . 2 2 2 2

(Quellennachweis s. Anm. S. 10158)

2 ως

IOI

. 102

Abb. 12: Weibliches Idol; Fundort: Brassem-

pouy, Dep. Landes (Westfrankreich); Elfenbein, natürliche Größe; Zeit: mittleres oder oberes Aurignacien, eine der Epochen der Jüngeren Eiszeit (Jungpaläolithikum), ca. 40000 v.Chr. . . . . . .

. 102

(Quellennachweis s. Anm. S. 10259)

Abb. 13: En-face-Ansicht von Abb. ı2 . . . . . . . (Quellennachweis wie für Abb. 12) Abb. 14: Weibliches Idol; Fundort: Gagarino

. IO2

am oberen Don, Gouv. Tambow im Kreise Lipezk (Rußland); Stein,

natürliche

Größe;

cien-Périgordien

Zeit:

Aurigna-

(Jungpaläolithi-

kum), ca. 30000 v. Chr.. . . . . (Quellennachweis siehe Anm. S. 10 369 )

Abb. 15: Sumer:

Idol; Museum Aleppo: bis 3. Jhtsd. v. Chr.. .

4.

(Quellennachweis siehe Anm. S. 103°!)

Abb. 16: Sumer: Idol; Museum Bagdad; 4. bis 3. Jhtsd. v. Chr..

.

. . .

. .

Abb. 17: Chinesische Schminkmaske der Pe$. 10362)

Abb. 18: Bartmaske der Peking-Oper

(Quellennachweis siehe Anm. $. 10363)

Abb. 19: »Prinz mit Federkrone«;

farbiges

Stuckrelief aus Knossos auf Kreta.

.

(Quellennachweis siebe Anm. S. 10869) Abb. 20: » Hermes mit Hera, Athene, Aphro-

Tafel 5 zu S. 103

Tafel 5zuS. 103

(Quellennachweis wie für Abb. 15) king-Oper . (Quellennachweis siehe Anm.

. IO2

Tafel 6 zu S. 103 Tafel 6 zu S. 103

Tafel 7 zu S.

108

Quellennachweis und Abbildungen

dite (und sitzender Muse?)«, Frühgriechische Vasenzeichnung . . . .

(Quellennachweis siehe Anm. S. 10879)

. 9. IO9

.

Die Muse »Kalliope« von der » Fran-

21:

coisvase«

. III

Kronos mit Sichel (Aus einer hellenistischen Kupferschale). (Quellennachweis siehe Anm. 5. 24413 )

. 244

( Quellennachweis siebe Anm. S. 11076)

22.

Abb. 23: Verschleierter Kronos (Nach einem

. 244

pompejanischen Wandgemälde) . . (Quellennachweis wie für Abb. 22)

Abb. 24: Kronos (als Schildzeichen); archa-

. 245

ische Darstellung. . . (Quellennachweis siehe Anm. S. 24 ys

: Totenbuchvignette Papyrus. .

aus

dem

Anı-

(Quellennachweis für die Totenbuchvignetten

. 293

siebe Anm. S. 2943° und in den jeweiligen Legenden)

An

. 295



298

. 298



.

300 302



: 393



. 306





- 397

310

. 314

.

(Reproduziert mit Erlaubnis des British Mu:useum, London)

. 297

CO. CO. ὦ

. .



Totenbuchvignette aus dem Áni-Papyrus . Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus Totenbuchvignette aus dem Nebseni-Papyrus Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Das chinesische T’ai-Ki ME Totenbuchvignette aus dem Nu-Papyrus Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus . Geflügelter Delphin (Ausschnitt aus Abb. 4ı auf Tafel 8)

: 319 . 320



: : : : : : : : : : : : : :

N

Abb.

. 322

Un

Abb.

XIII

XIV

Quellennachweis und Abbildungen

Abb. 40: Gefliigelter

Ephebe

und

Delphin

(Hellenistishe Bronze aus Myrına)

(Quellennachweis siehe Anm. $. 32287) Abb. 41: Bild auf einer griechischen Schale.

.

Tafel 8 zuS. 322 Tafel 8 zuS. 322

(Reproduktions-Erlaubnis wie für Abb. 39)

Abb. 42: Frühchristliche Gemme. . . (Quellennachweis siehe Anm. s. 3275! )

Abb. 43: Totenbuchvignette aus dem Ani-Papyrus

2.

4 5. 327

. . . S. 336

GELEITWORT von

Joachim Illies

Stets bewegt den Menschen die Frage nach dem Ursprung, stets spürt

er den schicksalhaften Sog im Strom sich wandelnder zeitlicher, religiöser und wissenschaftlicher Strukturen. So bleibt ihm — heute wie zu allen Zeiten — das fraglose Hinnehmen, das wissenlose Treibenlassen oder die mühevolle Rückbesinnung auf den Ursprung, das Nachtasten der Strukturen im Geiste, das Forschen und Ringen um

Einsicht, die Suche nach dem Sinn und Ziel möglicher Wandlung. Und dann geschieht es — neu in jeder Epoche, in anderer Sprache für jede Generation, aber in Auslegung der gleichen ur-ewigen Wahrheiten -, daß der Fragende und Suchende Antwort findet, weil einzelne Große zum Wegbereiter werden, weil einzelne, die ungeheure Last der Bewältigung des Ganzen auf sich nehmend, die Teile sinnvoll einzufügen lehren und so das Dunkel lichten, den Weg überschaubar machen, den Ursprung aufweisen und den Wandel deuten.

Jean Gebser war ein solcher Wegweisender und Sinndeuter, und er bleibt es über seinen Tod hinaus, denn jetzt erst, da sein eigenes Leben zu dem Ursprung zurückkehrte, von dem er kündete, wird der ganze Umfang seiner Botschaft einem wachsenden Kreis von Fragen-

den und Suchenden deutlich. Diese Botschaft vom Ursprung, von der

Wandlung des Bewußtseins und damit zugleich der geistigen Existenz

der Menschheit und des Einzelmenschen, soll hier aufgenommen und weitergetragen werden. Zugleich gilt es zu erkennen, wie sie entstand und welche konkrete Form sie im Verlauf seines Lebens annahm.

Denn Wandeln und Wachsen, Reife und Vollendung, von denen er

berichtet, werden auch in seinem eigenen Lebenswerk als Stufen sichtbar, als eine geistige Evolution, die doch - um einen Gedanken von ihm aufzugreifen — wie aller Fortschritt im unsichtbaren Ursprung

schon beschlossen und geleistet war. Dabei ist er seiner Zeit um eine ganze Generation voraus, denn er macht Mut, wo wir noch nicht einmal begonnen hatten, uns zu fürchten, er tróstet im Vorgriff auf eine Trauer, die uns noch bevorstand. Glaubten

wir

nicht

alle nach

dem

Krieg

an ein

Ende

der

Krisen,

war nicht der Beginn einer durch Leiden geprüften, besseren Welt zu erwarten? Rückblickend muß uns die Zeit um 1949/50 heute fast

idyllisch erscheinen: überall Wiederaufbau und Vernarben alter Wun-

2

den, überall frische Hoffnung.

Wer

außer Gebser

sah damals

eine

«globale Katastrophe» des Geistes herannahen, wer gar schon 1932, bis wohin die ersten Wurzeln seines Werks zurückführen? Heute freilich wird uns klar, was er schon damals sah: «Grenzen des Wachstums», «stummer Frühling», Umweltkrisen, ideologische Zerreißproben. Der Physiker und Theologe Klaus Müller ruft heute verzweifelt nach einer Bewußtseinsänderung als einziger Rettung (1973), der Philosoph Arnold Gehlen proklamiert das « Ende der Geschichte»

(1974)!

Nach seiner ersten Warnung, nach den von ihm erspürten Anfängen

der «Abendländischen Wandlung» (1942), muß in wenigen Jahren intensiver Forscherarbeit das gewaltige Werk entstanden sein, dessen

erster Teil dann im Winter 1947/48 zu Papier gebracht wird: «Ursprung und Gegenwart». Wiederum ist das Hauptanliegen, vom

Werden eines neuen Bewußtseins im Menschen zu berichten. Dieses

wird nun aber in einer Gesamtschau von hoher ordnender Kraft als das zu erreichende Endstadium einer fünfstufigen geistigen Entfaltung gesehen. Sie bringt zugleich einen tiefen Einblick in die Schichtenfolge unseres eigenen Lebens und Erlebens, denn - so schreibt

er — «wir haben immer wieder betont, daß die geschilderten Struk-

turen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern daß sie Wirklichkeit sind, Gegebenheiten, die uns konstituieren». Die fünf Bewußtseinsstufen, durch die die Menschheit im Laufe der

Kulturentwicklung zu gehen hatte — und die in strenger Einhaltung

des biogenetischen Grundgesetzes jeder einzelne in dieser Menschheit heute wachsend und reifend durchlaufen muß -, nennt Gebser die archaische, die magische, die mythische, die mentale und schließlich die integrale. Diese klare Strukturierung, für die es in ihrer Eindeutigkeit und ordnenden Kraft kein Vorbild gibt, die vielmehr allein als sein Werk zu bezeichnen ist oder als Fund seiner analytischen

Kraft, steht in der Tat nicht nur auf dem Papier, sondern legt ein

inhärentes Ordnungsprinzip der Wirklichkeit frei. Geschichte, Kunst,

Philosophie, Religion, Sprache, Mythos und Naturwissenschaften finden ihren Platz, und das Chaos der Fakten, die sich aus viel-

tausendjähriger Kulturgeschichte vor uns türmen und der Bewälti-

gung

harren, lichtet sich und wird in seiner klaren Schichtenfolge

überschaubar. Evidenz wird transparent, Transparenz wird evident,

um ein Wort Gebsers aufzunehmen. Wir haben uns diese fünf Exi-

stenzstufen geistiger Wirklichkeit vor Augen zu stellen, wenn wir

die Botschaft Gebsers verstehen wollen. Die archaische Struktur ist dem verborgenen Ursprung aller Dinge am nächsten, ja sie ist, wie Gebser vermutet, «anfänglich mit dem

3 Ursprung selbst identisch». Sie ist «nulldimensional», ist geheimnisvoll unbegreiflich wie jeder Ursprung und bleibt für unsere Logik

so paradox wie jeder Qualitätssprung aus dem Nichts ins Sein, wie die Creatio ex nihilo der Theologen und wie der Urknall der Physiker.

Und doch lassen sich Hinweise auf diesen nulldimensionalen Zustand frühmenschlichen Bewußtseins finden: Gebsers gelehrter Spürsinn

treibt gleich zwei von ihnen auf. Chinesische Weisheit berichtet von der Traumlosigkeit der Menschen der Urzeit, und gleichzeitig weiß

man dort, daß Grün und Blau als Farben (Erde und Himmel als Begriffe) noch mit einem gemeinsamen Wort bezeichnet, also noch nicht unterschieden, sondern als eins empfunden wurden. Problemloser Einklang von Innen und Außen, Ungeschiedenheit (und das heißt theologisch: Sündlosigkeit) als paradiesischer, vorgeburtlicher Zustand der totalen Geborgenheit, der Identität mit dem Sein, sind

hier noch gegeben, und aus dieser Sicht gelingt Gebser auch die Deutung eines dunklen Platon-Wortes, das einen späteren Zustand meint: «Die Seele ist zugleich mit dem Himmel entstanden!» Unser konkretes Wissen greift nicht in jenes Dämmern, unser Ahnen kann

nur weniges ertasten von diesem archaischen Zustand, an dessen ungebrochene Harmonie uns die Sphärenklänge der Musik noch am nächsten heranführen

und

der in seiner Ferne

und

Unbegreiflich-

keit doch so gewiß und so notwendig vorausgesetzt werden muß

wie unser eigener vorgeburtlicher Zustand, den wir nicht verstehen, an den wir uns nicht erinnern und der doch als erste Anlage unseres Seins den Bogen unserer Existenz bis in unser Alter trägt. Aller Ursprung bleibt rätselhaft für die nach ihm zurückblickende Ratio, das Archaische ist nicht das Primitive, sondern das Ferne und notwendig Komplizierte, ja Paradoxe, das von der Gipfelhöhe des Intellekts nicht

mehr entziffert werden kann!

Aus dieser Urschicht bricht wußtseinsstruktur, eine neue Sie ist «eindimensional», setzt schen, gebiert im Inneren des tiert - Handeln wird möglich, als Monade nur Spiegel des

eine Mutation heraus: die magische BeQualität menschlicher Existenzweisen. den Punkt erster Zentrierung im MenSeins einen Ort, der das Licht reflekMachen, Magie. Noch ist dieser Punkt Seins, ohne es bewußt zu begreifen:

schlafwandlerisch, säuglingshaft in sich selbst ruhend, ist ihm die Welt noch ein schemenhaft ungeschiedenes Gegenüber, aber «er beginnt zu wollen»! Ein triebhaft-vitales Bewußtsein entfaltet sich und

bindet den noch Ichlosen in die Geborgenheit eines Gruppen-Ichs,

in die Blutsverwandtschaft einer Sippe, eines Clans. Mit diesem und

in diesem wird er zum «Macher», zum «ersten Freigelassenen der Natur», der ihren Bann löst: eben mit der Magie des Wollens und

4

Machens. Er stellt Werkzeuge als materielle Wirkungsträger her: Faustkeil, Beil und Speer, Pfeil und Bogen. Aber in der noch dämm-

rigen Ununterschiedenheit seiner Eindimensionalität, in der Raum-

und Zeitlosigkeit seines Empfindens, greift er wollend, wirkend, beschwörend auch in den Bereich des Immateriellen, treibt Jagdzauber, übt magische Macht über Gesundheit und Leben und pflegt ekstatischen Umgang mit Naturkräften und Dämonen. Dabei wird das Ritual zum Inbegriff der geformten, gerichteten Handlung, zur neuen Norm und zum kulturellen Gesetz, mit dessen Hilfe er den Ausbruch

aus der Gnadenlosigkeit der Naturgesetze erzwingt. Die Zauberformel, das richtige Rezept, das geheime Zeichen, sie werden vom

magischen Menschen der Natur abgelauscht; er ist noch ganz Ohr,

Empfangen und Lauschen sind seine eigentlichen Umgangsformen mit der Wirklichkeit. Daher ist auch die Sprachlosigkeit — oder nennen wir es: Vor-Sprachlichkeit - das Merkmal jener Struktur.

Gebser weist zum Beleg auf alte bildliche Darstellungen von mund-

losen

Menschen,

wie

sie

sich

bei

wie in den steinzeitlichen Idolen

australischen

Eurasiens

Urvölkern

finden lassen.

ebenso

Sprache

ist noch nicht nótig, wo punkthafte Unität, telepathische Solidarität,

die Mitglieder des Clans verbindet wie die Vógel eines Schwarms. Gewiß sind diese magischen Strukturen schwer zu beschreiben, fast

mehr in dichterischer Sprache zu besingen als in nüchterner Wissenschaftlichkeit zu definieren. Aber Wissenschaftlichkeit selbst ist eben

die viel spätere, die mentale man

sich im Rückblick

Struktur, und mit ihren Mitteln kann

nicht nur der archaischen,

sondern auch der

magischen Wirklichkeit kaum nähern. Der erwachsene, zum Ichbewußtsein erwachte Mensch kann auch nur schwer und nur dämmrigungefähr in seinen eigenen früheren Säuglingszustand zurücktasten, und doch hat es ihn gewiß gegeben, und er ist noch heute mitten in seinem ichbewußt handelnden Selbst als Instinktives, SäuglingshaftUnreflektiertes, Magisch-Wollendes und Ritualisiertes jederzeit gegenwärtig. Die nächste Stufe, die mythische, ist unserem Intellekt schon näher, sie ist greifbar wie die Märchen der frühen Kinderjahre und kann

daher deutlich und klar geschildert, ja sie kann von Gebser sogar in

ihrer Entstehung historisch gefaßt werden. Denn mit ihr, mit der Mutation zur mythischen Bewuftseinsstruktur, wird Historie in unserem Sinne möglich, nun erst taucht im Begreifen des Menschen

die Zeit auf. Als Jahreszeit schlägt sie den Puls und Herztakt der Vegetationsgötter, als Sternbild regiert sie die Bahnen der Himmels-

götter. Gesprochenes Wort — eben «Mythos» in seiner ursprünglichen Bedeutung - kündet von einer dem neuen Bewußtsein sich

) enthüllenden zweidimensionalen Welt, in der sich das punkthafte Selbst zur Linie weitet und mit dem emotional begriftenen Du zum Kreise schließt. Hier liegt der Ursprung der Sprache, der nach Buytendijk ein « Ur-Sprung» ist. Die Seele ist nun geboren, «zugleich mit

dem

Himmel»,

um

an

Platos

dunkles

Wort

zu

erinnern.

Die

Seele aber lebt in Bildern (das weil} heute die Tiefenpsychologie),

sie wird von Bildern genährt, und sie, der ein Gott gab «zu sagen, was sie leidet», spricht sich in Bildern aus. Aus den Götzen der

magischen Stufe werden nun die Götter, Himmel und Erde bevölkern sich mit ihnen und in ihrem Wandel und Wirken gestaltet sich die Welt und entwirft sich die Seele ihr eigenes rhythmisch flutendes Leben. Das Gesetz dieses Lebens heißt Bewegung, aber es ist noch nicht

die im

dreidimensionalen

Raum,

sondern

sie verläuft

in der

Ebene, im zweidimensionalen Spannungsfeld von Polaritäten. Diese

sich wechselseitig tragenden und bedingenden Pole stecken die Weltenden jeder Möglichkeit und jeder Wirklichkeit ab: oben und unten,

hell und dunkel, profan und heilig, männlich und weiblich. Das sind

dem mythischen Bewußtsein die Signaturen der Wirklichkeit, in der der Mensch wie seine Götter wird: erkennend das Gute und das

Böse! Diese Welt des mythischen Bewußtseins ist uns allen vertraut, sie ist jadas Fundament unseres ihm aufruhenden, hellen Tagesbewußtseins, sie spricht in unseren Träumen zu uns, oder anders gesagt, in sie sinken wir im Traum

zurück

wie in ein altes, vertrautes Heimat-

land der Seele und tauchen am Morgen erfrischt und gestärkt aus ihr wieder auf. Wo aber das allzu herrische Tagesbewußtsein die Bilder des mythischen Urgrundes bedroht und verdrängt, da ziehen sie sich in Tiefen zurück, in die unsere Sehnsucht nach dem verlorenen

Paradies ihnen nachspürt und nachtrauert, bis wir uns entschließen,

wieder herabzusteigen

«zu den Müttern»

wie Faust, der von dort

den verlorenen Schlüssel zur Welt heraufholte. Das Mütterliche, der

bergende und austreibende Schoß der Mutter, der ewig lockende und zugleich unheimlich bedrohende Schoß der Sirene, sie sind im mythischen Bewußtsein (und damit im Zeitalter der vorchristlichen Jahrtausende) das Zentrum des Kreises, sind Polaritát des Ausgangs und Eingangs, des Lebens und Sterbens, des Seins und Nichtseins. Der Mann empfindet sich vor dem Hintergrund der Mütter als die NichtFrau, als der, der anders ist als die Mutter, entfernt vom Zentrum des schöpferischen Seins und ohne Möglichkeit, selbst neues, zeugendes Zentrum zu werden. Matriarchat ist das Kennzeichen des mythischen Bewußtseins, und im Lichte dieser Erkenntnis Gebsers werden

alle früheren Entdeckungen

Bachofens über die mutterrechtlichen

6

Kulturen erstmals verständlich als notwendige

zweidimensionalen

Bewußtseinslage

jener

Konsequenz

Zeiten.

In

der

einer

Tiefen-

psychologie einer Esther Harding und eines Erich Neumann werden diese Zusammenhänge

Mythische als das

heute neu begriffen und machen so das

«Ewig-Weibliche» in uns allen transparent.

Dies ist der geistige Boden, aus dem dann die Mutation entstehen kann, die sich als die unmütterliche, als die asexuelle — als die wie Athene dem Haupt des Zeus rein Entsprungene - versteht: die mentale Struktur. Ihr Entstehen hat Gebser in den geistigen Ereignissen des antiken Griechenlands um 500 v.Chr. deutlich gemacht,

ja, von diesem Datum her entwickelte er ursprünglich das ganze Konzept des Wandels geistiger Strukturen. Was sich dort im griechischen Denken

formte, was sich vorher schon im Umbruch

des

religiösen Empfindens Israels tat und was er bei den chinesischen Weisen um 1000 v.Chr. aufspürt (etwa in der Redaktion des Orakelbuches I-Ging zum Weisheitsbuch durch den legendären König Wen), gehört zum gleichen Prozeß des Aufbruchs aus der mythischen in die mentale Struktur. Das männlich-ich-hafte Wachbewußtsein tritt nun auf, die Ebene weitet sich zum dreidimensionalen Raum,

die perspektivische Welt wird möglich. Griechische Wissenschafts-

lehre, jüdische Heilslehre und römische Staats- und Rechtslehre werden zur «Absprungbasis» einer neuen Bewußtseinshaltung. Die Ratio

beginnt ihre Herrschaft über den Menschen und über die Welt: Zählen und Messen, Abzählen und Bemessen, werden zur Grundlage verstandesmäßiger Weltbewältigung. Aus dem Kreise der wechselnd-

flutenden Polarität wird das starre und gleichschenklige Dreieck der Alternative: Entweder-Oder, das Gesetz der Aristotelischen Logik,

wird zur Basis des Weltbegreifens.

Nicht länger gelten Hell und

Dunkel, Gut und Böse, Mann und Frau als ergänzende Pole, sondern Hell oder Dunkel, Gut oder Böse, Vater oder Mutter werden nun

Aufruf zur Entscheidung, die im Prozeß des Scheidens das eine annimmt und das andere verwirft. Das Dreieck weist mit seiner Spitze

perspektivisch nach oben - eines nur kann oben sein, ein Gott nur kann sein, eine Wahrheit nur. Kein Nebeneinander von Wahrheiten

und von Göttern bleibt möglich, das Entweder-Oder des Aristoteles

fegt den Götterhimmel

leer und wird sich im «Aufbruch

selbstverschuldeten Unmündigkeit»,

in der Aufklärung,

aus der

zum

all-

gemeinen Bildersturm entwickeln, der schließlich mit den Bildern auch die Seele des Menschen leerzufegen droht. Das andere — nicht länger mehr gleichwertiges Gegenüber einer Polarität, sondern Alternative der Dualität - ist nun das Bessere oder

Schlechtere, das Richtige oder das Falsche. Nicht länger empfindet

7

sich der Mann als die Nicht-Frau und Nicht-Mutter, als dem Ursprung fernerer Pol, sondern er wird nun zum «eigentlichen» Menschen, zum Patriarchen. Die Frau ist nun der Nicht-Mann: «Ischa»

(Männin) nennt sie Adam, der sie aus seiner Rippe gebiert, so wie

er nun alles benennen, abzählen und beherrschen wird. Zwar kann er nur mit Hilfe des Weibes «Gut und Böse» erkennen und wird

für diese Erkenntnis die Geborgenheit des Paradieses eintauschen, aber in der mentalen Weiterentwicklung des mythischen Wissens wird er die Polarität zerbrechen und das duale «Gut oder Böse»

daraus machen, das zur Entscheidung zwingt, zum Kampf, zur Ab-

lösung, zur Sonderung (Sünde), und das zur ewigen Versuchung

wird, selbst der Gott zu sein, der Gut und Böse setzt! Der dramatische Umbruch vom Matriarchat zum Patriarchat, wie

ihn Bachofen schon in den tragischen Spannungen der Orest-Tragödie

aufzeigte, ist die radikalste Revolution des Denkens, die die histotische Menschheit zu durchstehen hatte — und die jeder von uns in der Krise der Pubertät neu zu durchstehen hat. Wie brennend

modern die Problematik dieses Umbruchs und die revolutionäre Kraft des neuen Denkens sind, wie notwendig die Rückbesinnung

auf die in diesem Umbruch

und im Schlachtgetümmel

des Geistes

bedrohte Position des tragenden seelischen Grundes, dem der Geist hier zum «Widersacher» wird, das mag ein Zitat aus Gebsers Haupt-

werk zeigen. Es gelingt hier, ein Fragment des «dunklen» Philosophen Heraklit zu erhellen und einzubringen in die von Gebser so klar erschaute Totalität einer das Matriarchat und das Patriarchat

überhöhenden integralen Weisheit: «Die fahrlässigen Propagandisten des Heraklitfragmentes, ‚Der Krieg ist der Vater aller Dinge‘, also die machtlüsternen, vaterbesessenen Militaristen und Politiker und selbst die von deren Mentalität infizierten Interpreten der Heraklitfragmente, kamen alle aus ihrer patriarchalischen Einseitigkeit heraus noch niemals auf den Ge-

danken, daß es sich bei jenem autoritären Satze des Heraklit um ein

Bruchstück handeln könnte.

Sie gaben, scheint es, sich noch nie

Rechenschaft darüber, daß er, wie wohl alle Aussprüche des Heraklit,

nur vollsinnig ist, wenn

er durch

den ergänzenden

Pol vervoll-

ständigt wird. Uns wurde nur das Bruchstück eines wahrscheinlich

größeren Satzgefüges überliefert; und es ist symptomatisch, daß uns

gerade dieses Bruchstück überliefert wurde. Denn jener Halbsatz ‚Der Krieg ist der Vater aller Dinge‘ dürfte in der oder jener Fassung

einstmals durch einen anderen Halbsatz ergänzt gewesen sein, dessen Sinn sich vielleicht so ausdrücken ließe: ‚Der Friede ist die Mutter

aller Dinge.‘ Und selbst wenn der ergänzte Satz in der oder jener

8

Formulierung niemals von Heraklit geschrieben worden wáre, so hat

er ihn doch schweigend deutlich ausgesprochen: Denn das Buch ‚Über die Natur‘, aus dem die uns bekannten Fragmente stammen, weihte Heraklit der Artemis von Ephesos, der ‚Großen Mutter‘, der-

selben, deren Bild einst Orest, um sich von den Erinnyen zu be-

freien und auf Apollons (!) Geheiß, aus dem Lande der Taurer nach Griechenland brachte.» Es bedarf keiner weiteren Beschreibung der mentalen Bewußtseinsstruktur: Es ist die unsere auf weiten Strecken unseres Denkens und Handelns, sie ist das tragende Gerüst für unsere Epoche, sie ist ihr Glanz und ihr Elend zugleich. Aber Gebser wäre nicht, der er ist,

hätte er nur den Untergang des Abendlandes einzuläuten. Zwar weist er mit großer Eindringlichkeit auf die Risse und Sprünge unserer

Welt hin, prophezeit mit hellsichtigem Spürsinn das Wanken des Tempels mentaler Strukturen, deren vier Grundsäulen in unserem Jahrhundert endgültig zerbrechen (die Euklidische Geometrie, die Aristotelische Logik, die Demokritische Atomlehre und die Aristarchische Heliozentrik), aber er erkennt in diesem Wanken die Geburtswehen eines neuen, rettenden Sprunges: der Mutation zum integralen Bewußtsein: «Da das Positive, das Aufbauende, sich stiller vollzieht als der Radau, den das in sich Zusammenstürzende macht, werden diese

Gegenströmungen leicht überhört in einer Welt der Götterdämme-

rung und einer gewissen Lust am Untergang», sagte Gebser einmal, und seine eigentliche Botschaft liegt eben in dem Hörbarmachen des Stillen, im Sichtbarmachen des sich erst im Dämmern des Morgengrauens Gestaltenden. Im Lichte dieses integralen Bewußtseins wird der mentale Raum- und Zeitbegriff gesprengt, und eine vierdimensionale Betrachtung wird möglich. Der Raum krümmt sich in der Zeitdimension, die divergenten Linien der Perspektive wölben sich zur Kugel, die Welt wird in ihrer Unendlichkeit greifbar als Raum-Zeit-Sphäre, als in sich selbst rollendes Rad. Gebser hat die «Konkretionen der aperspektivischen Welt» in einem eigenen Band

seines Hauptwerkes ausführlich dargestellt, hat ihre Spuren in Natur-

wissenschaft und Philosophie, in Musik, Malerei und Dichtung gefunden. Für den Naturwissenschaftler besonders wird das neue, noch

zögernd

bewältigte

Denken

im Umgang

mit dem

Paradoxen

not-

wendig - mit dem Widersprüchlichen, das am Ende atomistischer, dualistischer, alternativer Weltentziflerungsversuche auf ihn wartet.

Aus dem engen Pferch der Aristotelischen Logik, die mit ihrem Entweder-Oder die Welt zu bequemer Entscheidung zurüstet und

dabei

Wirklichkeit

verstümmelnd

vereinfacht,

wird

das integrale

9 Sowohl-als-Auch,

das

komplementäre

Denken,

wie

es

die

Atom-

physiker Nils Bohr und Werner Heisenberg angesichts der mikrophysikalischen Paradoxe entwickeln. Materie oder Energie, Ursache oder Wirkung, Ort oder Bewegung, Subjekt oder Objekt: die Uber-

windung dieser Gegensätze unserer mentalen Begriffsschemata ist zur

Erfassung physikalischer Wirklichkeit ebenso notwendig wie im Prozeß der Kulturentwicklung die Überhöhung der Gegensätze von

Matriarchat oder Patriarchat zum Integrat und wie in der christlichen Religion angesichts des Paradoxons von «ganzer Mensch und ganzer Gott», von Freiheit inmitten der Knechtschaft, von Tod, der in den Sieg verschlungen ist, die demütige Anerkenntnis der «Torheit des Kreuzes», die sich in der integralen Liebe aufhebt. Das Integrale hebt das Mentale auf, aber nicht, indem es beiseite schiebt und verdrängt, sondern indem es die niedere Stufe der Wirklichkeit umschließt, überhöht, integriert. Und so hob vorher das Mentale das Mythische auf, und das Mythische überhöhte das Magische. Dies ist der Kern der hoffnungsvollen Botschaft, die wir Gebsers Werk entnehmen dürfen: Die Wahrheit hat viele Stufen, die

starre duale Alternative ist überwunden! Aus den Götzen werden

die Götter, aus ihnen wird der eine Gott, aus ihm die Gottheit. Keine

einmal errungene Stufe muß aufgegeben und als wertlos, als überholt verworfen werden,

sondern

jede behält ihren Sinn und damit ihre

Qualität als Wirklichkeit. Gibt es Götter, oder gibt es sie nicht?

Dieser Frage kann das mentale Entweder-Oder schon im vorgegebenen Ansatz nicht gerecht werden. Die Antwort wird erst in der integralen Stufe gefunden, und sie heißt im umfassenden und verstehenden Rückblick auf niedere Stufen des Bewußtseins: Für die magzsche Struktur gibt es noch keine Götter, nur dämonische Kräfte, Götzen, Kultheroen, Fetische sind hier die Formen erfahrbarer Wirklichkeit,

nur sie «gibt» es. Die mythische Stufe findet dann ein klares Ja auf

die Frage nach den Göttern, die mentale Stufe aber muß am Ende ihres Weges zum klaren Nein gelangen, denn sie entmythologisiert, sie löst die Bilder mit ihrer analytischen Kraft zu «Feldern» auf. In der integralen Struktur des Bewußtseins aber wird schließlich deutlich, dab das Mentale, das Rationale, nicht die letzte mögliche Antwort war, sondern daß Mythos und rationale Entmythologisierung zu integrieren sind in eine umfassende Einsicht, in der die Götter wieder so lebendig sind wie die Struktur des Geistes, die sie sichtbar machte, und in der wir uns wieder zur Wirklichkeit der Wahrheiten der mythischen Stufe bekennen können, ohne die Klarheit der Ratio aufzugeben.

Fünf Stufen der Wirklichkeit, fünf sich steigernde und aufeinander

10

aufbauende Schichten menschlich-geistiger Existenz und Weltbewältigung, die uns wachsend und reifend aus dem Ursprung in die

Gegenwart führen. Ein hoffnungsvolles, ein grandioses Bild! Man möchte mit dem vom Anblick der Harmonie der Weltstruktur ergriffenen Faust ausrufen: Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt,

wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen

und sich die goldnen Eimer reichen!

Kann eine solche Gesamtschau, eine solche tröstliche Botschaft, in der

die Welt transparent wird, von einem einzelnen ausgehen? Sie kann nur von einzelnen ausgehen, denn nur die höchste, die integrale Stufe

der Individuation, das wache Tagesbewußtsein eines vollentwickelten Ichs, kann diese Botschaft wahrnehmen. Solche großen einzelnen, solche Botschafter der Harmonie und des in der Gegenwart evidenten und transparenten Ursprungs hat es zu allen Zeiten gegeben, in denen der integrale Funke im Spannungsfeld des Mentalen und in der Gewitteratmosphäre des Mythischen zündete. So hat auch Gebser Vor-

gänger gehabt, denn selbstverständlich ist der Gedanke der stufen-

weisen Entwicklung der Welt und des einzelnen in ihr nicht neu. Er ist der tragende Grund von Goethes Weltsicht, ja er ist Goethes

tiefstes Credo und hat in der Legierung, die dieses Credo mit der Gnosis in Steiners Anthroposophie erfuhr, viele und detaillierte Grundeinsichten in den Schichten- und Stufenbau der Wirklichkeit proklamiert, die aber wegen ihrer diffusen Oflenbarungsquellen und ihrer

magisch-mythischen

Irrationalität

die

mentalen

Strukturen

unserer Zeit eher abschrecken als überzeugen. So wird dort keine dem mentalen Bewußtsein verifizierbare Wissenschaft, sondern sehe-

rische Verkündigung

betrieben,

und

gerade

die ist der kritischen

Skepsis der Ratio so verdächtig, daß unser Zeitalter mit irrationaler

und seiner Mentalität unwürdiger, barscher Ablehnung reagiert, wo

doch abwägende Prüfung angemessen wäre! Im Grunde aber ist die Vorstellung von den Stufen des geistigen Werdens der Welt viel älter. Sie geht auf Joachim de Fiore zurück, der um 1200 seine Lehre von den drei Reichen aufstellte: Auf das Reich des Vaters wird in der Weltgeschichte das Reich des Sohnes

folgen (das tausendjährige Reich der Chiliasten) und auf dieses das

«Dritte Reich», das des Heiligen Geistes, die «Kirche des Johannes». Den Anbruch dieses Dritten Reiches erwarteten Joachim und seine Jünger im Blick auf Kaiser Friedrich II. für das Jahr 1260 - den Kulminationspunkt der mentalen Struktur und damit zugleich auch

11

die Grundlegung des Integralen hat Gebser spáter fúr exakt diese Zeit deutlich gemacht. Die Vorstellung der Abfolge dieser drei Reiche wurde vom ausgehenden Mittelalter ab zum festen Bestand europäischer Geschichtsphilosophie, Lessing, Hegel und Schelling, Dostojewski, Spengler und Ziegler haben, jeder auf seine Weise, diesen

Grundgedanken verarbeitet, und es fällt nicht schwer, seine Spuren auch in Gebsers Werk wiederzufinden. Welches Werk hätte keine Vorläufer? Aber nirgends in der Moderne - außer bei Spengler — ist in systematischer Abhandlung und klarer Scheidung die Struktur dieser Schichtenfolge im Detail durchdacht und geordnet worden, noch dazu unter Berücksichtigung aller Kulturen und aller ihrer Bereiche. Damit wären wir bei Oswald Spengler -- ein Weggenosse, ein kongenialer Seher des gleichen Sachverhaltes? Nichts wäre falscher

als eine solche Verkennung Gebsers; er hat sich deutlich genug dagegen gewehrt. In der «Abendländischen Wandlung» schon schildert

er den biologischen Vitalismus, der als Fehlentwicklung und Uber-

interpretation zum Biologismus entartet. Gebser warnt dann vor dessen den Geist unterminierender Wirkung und spricht die Hoflnung aus, daß Spenglers «Untergang des Abendlandes» «der erste

und hoffentlich letzte Versuch einer ‚Völkerbiologie‘ bleibt, den wir über uns haben ergehen lassen müssen». Wirklich läßt sich kein größerer Unterschied denken als der zwischen Spenglers biologischen Alterungsphasen völkischer Kulturen - ihrem Wachsen, Reifen und Absterben - und der geistbetonten Einsicht Gebsers in das quer

durch die Völker hindurchziehende und zunehmend von den ein-

zelnen getragene Anwachsen des Bewußtseins von Stufe zu Stufe, von Mutation zu Mutation. In diesem Anwachsen auf ein Endgültiges hin, auf ein Näher und Näher zum Geist, zur «Gottheit», lebt wieder die Goethische Weltschau, der die Erde als eine «Pflanzschule für Gei-

ster» erschien. In dieser Weltschau wird von Gebser mit dem seit damals unvorstellbar angewachsenen Wissen und den völlig neuen kulturgeschichtlichen Fakten erneut ein tragendes und in sich ruhendes Gebäude errichtet. So gibt es in unserer Zeit tatsächlich nur ganz wenige geistige Bewegungen, die mit Jean Gebsers Botschaft vergleichbar wären. Er

selbst hat sie genau erkannt: Sie gehen von Teilhard de Chardin aus und von Sri Aurobindo, sie finden sich im Ansatz, doch ohne ord-

nende Kraft, auch im Buddhismus, vor allem im japanischen Zen. Gebser selbst wies im Vorwort einer späteren Auflage seines Hauptwerkes darauf hin, welche wesentlichen Unterschiede grundsätzlicher

Art zwischen ihm und diesen Quellen bestehen. Teilhard ist Katholik,

12

Aurobindo ist Hinduist — mit allen Konsequenzen, die eine dogmatische Bindung an ein religiöses System für eigene schöpferische Aussage bringen kann. Gebser allein weiß sich frei von allen vorwissenschaftlichen Vorentscheidungen und nimmt es auf sich, sein Weltbild als «allgemeinabendländisch» zu bezeichnen, er allein ist systematisch, gibt nicht nur Wegweisungen in die neue Richtung - die Aurobindo

«supramental» nennt und Chardin den Weg zum Punkte

«Omega»

-,

sondern entwirft als Ziel dieses Weges eine Welt, in der alle Bewußtseinslagen ihren angemessenen Ort finden. Übrigens wurden Aurobindo wie Teilhard de Chardin erst nach 1955 in Europa be-

kannt, Gebsers Werk aber war zu jener Zeit längst erschienen.

Er allein hat die fünf Entfaltungsstufen der Menschheit und des

einzelnen in einsamer Anstrengung und im unermüdlichen Studium

von Tausenden von Quellen entdeckt und beschrieben, er 1st wie ein neuet Ptolemáus, der den Menschen wieder zurechtrückt, nàmlich in den Mittelpunkt eines Systems von Kugelschalen, deren Sphärenmusik er uns wieder zu vernehmen lehrt. Denn was sind die fünf Bewuftseinsstufen

anderes

als Schichten,

die sich wachsend

umein-

anderlegen wie Ringe um einen ins Wasser geworfenen Stein? Und Gebser

läßt keinen

Zweifel

darüber,

wer hier den

Stein ins Wasser

warf: Der Mensch hat sich nicht selbst geschaffen, auch schafft er nicht (als Subjekt) die (objektive) Welt, sondern er ist von Anfang an in ihr, ist «Ursprung und Gegenwart» zugleich als Erschaffener,

dem im integralen Bewußtsein die Schöpfung diaphan wird und der in ihrem Grunde den Ursprung aufleuchten sieht. Fünf Stufen der Wirklichkeit, wie Gebser sie freilegte als tragende Strukturen der Welt — das ist zugleich Hoffnung wider alle Furcht

vot dem Ende der Geschichte, das bedeutet endgültige Überwindung des gnadenlosen Entweder-Oder der zweistufigen Logik, an der unsere Zeit in ihrem Kern leidet. Aus dem Aristotelischen Trick der Ratio wird in dieser Schau die Mehrwertigkeit der Wirklichkeit als die allein angemessene Annáherung an eine Wahrheit, die unsere Mühen des Anstiegs auf den Sprossen der Jakobsleiter lohnt. Das

Ziel ist die integrale Anschauung des reinen Geistes, den wir Gott

nennen. Und den Gebser Gott nennt, auch wenn er sich von Teilhard de Chardin systematisch abgrenzt, auch wenn er diesen Begriff

der zu überwindenden mentalen Schicht zuschreibt und in der integralen Struktur lieber von der «Gottheit» sprechen móchte. Ich denke, wenn ich Gebsers behutsame und doch eindeutige Hal-

tung der Anerkennung Gottes für die eigene Existenz — und damit

seinen Glauben - transparent machen soll, an eine Bemerkung, be-

scheiden am Rande einer Diskussion gemacht (und durch Tonband-

13 nachschrift in die Eutiner Protokolle der Paulusgesellschaft von 1965 geraten). Sie enthielt ein Bekenntnis von großer Tiefe und Schlichtheit, und sie verdient, hier in Erinnerung gebracht zu werden: «Was

ist schließlich Menschsein, wenn nicht der Versuch, demütiger Mit-

arbeiter Gottes zu sein!» Gebser fügte damals sogleich und fast er-

schrocken hinzu: «Das ist eine facon de dire, gewiß. Nehme jeder das Wort Gott hier in seinem Sinne!» Aber gerade diese respektvoll

einschränkende Aufforderung macht mir Mut, das Wort «Gott» hier in meinem Sinn zu nehmen: Nicht als den Gott der Philosophen, der doch, wie Gebser sah, eine mentale Einseitigkeit und Reduktion der umfassenden Wirklichkeit ist, sondern als den Gott der Evangelien, als den Gott, der die Liebe ist, wie es in der integralen Kraft des Johannesbriefes heißt und wie ihn Joachim von Fiore vor fast achthundert Jahren für seine «Kirche des Johannes» vorausahnte.

Nur durch die integrale Kraft dieser Liebe kann die Welt gerettet und können wir vor der drohenden Katastrophe einer einseitigen Rationalisierung und Dualisierung bewahrt werden. Aber diese Rettung ist möglich! Jean Gebser hat ihren Hoffnungsschimmer im

Morgendämmern der neuen Geisteshaltung unserer Epoche erblickt.

Seine Botschaft von dem Wandel, in dem diese Rettung sich anlegt,

macht

uns allen Mut,

auf diesen

Wandel

Wie er es vor uns tat — mit unserem und Rettenden beizutragen.

zu hoflen

und

Sein zum Werden

selbst — so

des Neuen

Vorwort

» Our virtues lie in the interpretation of the time.« (Shakespeare, Coriolanus, IV, 7.) » What is now proved was once only imagin'd.« (Blake, Proverbs of Hell.)

Der Ursprung ist immer gegenwärtig. Er ıst kein Anfang, denn aller Anfang ıst zeitgebunden. Und die Gegenwart ıst nicht das bloße Jetzt, das Heute oder der Augenblick. Sie ist nicht ein Zeitteil, sondern eine ganzheitliche Leistung, und damit auch ımmer ursprünglich. Wer es vermag, Ursprung und Gegenwart als Ganzheit zu Wirkung und Wirklichkeit zu bringen, sıe zu konkretisieren, der überwindet Anfang und Ende und die bloß heutige Zeit. Was wır heute erleben, ıst nıcht etwa eine nur europäische Krise. Sie ist auch nicht eine bloße Krise der Moral, der Wirtschaft, der Ideologien, der Politik, der Religion. Sie herrscht

nicht nur ın Europa und Amerika. Auch Rußland und der Ferne Osten sind ihr unterworfen. Sie ist eine Weltkrise und Mensch-

heitskrise, wıe sie bisher nur in Wendezeiten auftrat, die für das

Leben der Erde und der jeweiligen Menschheit einschneidend und endgültig waren. Die Krise unserer Zeit und unserer Welt bereitet einen vollständigen Umwandlungsprozeß vor, der, vorerst noch autonom, einem Ereignis zuzueilen scheint, das von uns aus gesehen nur mit dem Ausdruck »globale Katastrophe« umschrieben werden kann, das, von einem nicht bloß anthropozentrischen Blickpunkt aus gewertet, sich als eine Neukonstellation planetaren Ausmaßes darstellen muß. Und wir sollten uns mit der gebotenen Nüchternheit durchaus darüber ım klaren sein, daß uns bis zu jenem Ereignis nur noch einige Jahrzehnte verbleiben. Diese Frist ıst durch die Zunahme der technischen Möglichkeiten bestimmt, die ın einem exakten Verhältnis zu der Abnahme des menschlichen Verantwortungsbewuftseins steht. Es sei denn, es tráte wirkend ein neuer Faktor in Erscheinung, der dieses bedrohliche Verhältnis überwände. Auf diesen neuen Faktor, auf diese neue Möglichkeit hinzuweisen und ihn darzustellen, ıst Aufgabe dieses Werkes. Denn gelingt es nicht — oder: kann und soll es nicht gelingen —, daß wir diese Krise durch unsere eigene Einsicht überstehen und damit der heutigen Erde und der heutigen Menschheit durch eine Wandlung (oder Muta-

16

Vorwort

tion) den Weiterbestand für kürzere oder längere Zeit erwirken, so wird die Krise uns überstehen. Mit anderen Worten: entwe-

der überwinden wir die Krise, oder sie überwindet uns. Doch es überwindet

nur,

wer

sich

selber

überwand.

Entweder

werden

wir aufgelöst und ausgeteilt, oder wir lösen auf und erwirken die Ganzheit. Mit anderen Worten: entweder erfüllt sich die Zeit an uns —, dann heift das Ende und Tod für unsere heutige Erde und ihren Menschen; oder es gelingt uns, die Zeit zu ertüllen —, dann heißt das Ganzheit und Gegenwart, dann heıfst das

Erwirkung und Wirklichkeit der Ganzheit von Ursprung und Gegenwart. Und damit: gewandelter Weiterbestand, in dem

nicht der Mensch, sondern die Menschheit, in dem nicht der Geist, sondern das Geistige, in dem nicht der Anfang, sondern

der Ursprung, in dem nicht die Zeit, sondern die Gegenwart, in

dem nicht der Teil, sondern das Ganze Bewußtheit und Wirk-

lichkeit werden. Und es 1st das Ganze, das im Ursprung gegenwártig und in der Gegenwart ursprünglich ist. Was

soeben

gesagt

wurde,

ist eine Vor-Aussage,

ein Vor-

Wort zu dem, was in diesem Werke ausgeführt werden wird. Dieses an

den,

Werk der

richtet sich an jeden

Wissen

schafft,

sondern

Menschen, vor

allem

also nicht nur auch

an

den,

der Wissen lebt. Es ist kein Monolog, kein Postulat, sondern ein Gespräch, und der Autor sucht dem dadurch Ausdruck zu geben, daß er sich des Wir-Stils bedient und nicht nur sich selbst, sondern zitierend auch andere zu Wort kommen

läßt.

Dieses Werk wurde 1932 konzipiert. Jede Konzeption ist aber eine persönliche Sicht, die nur einen persönlichen EvidenzCharakter hat, nur für den einzelnen gültig ist. In den seit der grundlegenden Konzeption vergangenen siebzehn Jahren hat der Autor

in der Literatur der zahlreichen

zu behandelnden

Gebiete da und dort Äußerungen gefunden, welche Teilaspekten seiner Grundauffassung teils ähnlich, teils verwandt, teils entsprechend sind. Wenn er also diese Äußerungen in Zitaten und

Hinweisen heranzieht, so geschieht es, um dem, was ursprüng-

lich nur einen persónlich gültigen Evidenz-Charakter trug, nunmehr den allgemein-gültigen Evidenz-Charakter zu geben. Er entspricht damit der sittlichen Forderung, an Stelle eines postulierenden Monologs das darlegende Gespräch zu setzen, also nicht die subjektive Ansicht von der Richtigkeit einer Grundidee vorzutragen, sondern die wahrscheinlich auch objektive Richtigkeit dieser Grundidee mitzuteilen.

Vorwort

17

Dafür, daß diese Mitteilung erfolgen konnte, habe ich jenen meinen Dank

auszusprechen, dıe zum Gelingen dieses Werkes

beigetragen haben. Außer den Freunden, denen mein Dank gilt, richtet er sich an Frau Gertrud und Herrn Walter R. Diethelm,

Zurich-Zollikon, Meyert, Zürich,

und besonders auch an Herrn Dr. Franz ohne deren Hilfsbereitschaft und Vertrauen

ich die jahrelange Arbeit unter wirtschaftlich äußerst schwierigen Umstanden nicht hatte bewaltigen konnen. Fir die Erlaubnis, einige seltene Abbildungen reproduzieren zu diirfen, danke ich dem

British Museum,

London;

Messrs.

Kegan

Paul,

Trench, Trubner & Co., London; dem Hybernia-Verlag, Basel; der Galerie Rosenberg, der Kunsthalle, Bern.

Paris; der Galerie Gasser, Zúrich,

Burgdorf (Kanton Bern), Pfingsten 1949

und

Jean Gebser

18

Vorwort

Vorwort zur zweiten Auflage

Das vorliegende Werk war seit vier Jahren vergriffen, da die Arbeit an dieser Neu-Auflage infolge anderer dringender Verpflichtungen immer wieder unterbrochen werden mußte. Im Unterschiede zur ersten Auflage, die in zwei Bänden (1949/53) erschien, wurde für die zweite Auflage eine neue Einteilung gewählt: der Text der beiden Bände der ersten Auflage wurde, ohne ıhn mit den zahlreichen Anmerkungen zu belasten, ın dem vorliegenden Textband zusammengefaßt, während alle Anmerkungen und die Register nunmehr den Inhalt des Kommentarbandes bilden. Da die Mehrzahl der Anmerkungen nıcht bloße Literatur- und Quellennachweise sınd, sondern wichtige und das Verständnis erleichternde Kommentare oder Exkurse enthalten, dürften sie der Klärung und Vertiefung vieler angeschnittener Themata und Probleme dienlich sein (siehe dazu den »Redaktionellen Hinweis«).

Der Text wurde nur dort überarbeitet, wo es stilistisch geboten schien und wo sich infolge seiner Zusammenfassung in einen einzigen, leicht überschaubaren Band einerseits Streichungen von Wiederholungen, andererseits geringfügige Umstellungen als zweckmäßig erwiesen; abgesehen davon wurde die ursprüngliche Fassung nicht verändert, aber sie wurde durch zahlreiche Ergänzungen erweitert und bereichert, wobei auch der Abbildungsteil beträchtlich vermehrt wurde. Die Ergänzungen sınd jeweils derart abgefaßt worden, daß sie ohne weiteres als solche erkennbar sind; um jedoch den Umfang dieses Textbandes nicht ungebührlich zu vergrößern, wurden viele in die Anmerkungen des Kommentarbandes aufgenommen. Diese Ergänzungen waren nötig, weil sich in den Jahren, die seit Erscheinen der ersten Auflage vergangen sind, viel Bedrohliches, aber auch viel Ermutigendes ereignet hat. Das Bedrohliche wird möglicherweise durch jene Einsichten und Werke ausgleichend aufgewogen, die vermöge ihrer geistigen Kraft nicht ohne Wirkung bleiben werden. Zu diesen Werken sind vor allem die von Sri Aurobindo und die von Pierre Teilhard de Chardin zu záhlen. Sri Aurobindos wichtigste Werke erschienen erstmals in den Jahren 1955 und 1957 auf deutsch, diejenigen Teilhard de Chardins seit 1959. Beide entwickeln je auf ihre Weise das Konzept eines sich neu

Vorwort zur zweiten Auflage

19

herausbildenden Bewußtseins. Es handelt sich um jenes, das Sri

Aurobindo als das »supramentale« bezeichnet hat. Wir haben es unsererseits das »aperspektivische (aratıonal-ıntegrale)« genannt und darauf erstmals 1939 ın »Rılke und Spanıen«, dann 1942 in unserer Schrift »Abendländische Wandlung« hingewiesen. Die Möglichkeit dieses neuen Bewußtseins sowie sein InErscheinung-Treten ersichtlich zu machen und seine Eigenart zu beschreiben, war und ıst das Hauptanliegen des vorliegenden Werkes, dem 1962 unsere Schrift »In der Bewährung; Zehn Hinweise auf das neue Bewußtsein« sowie unsere »Asienfibel« folgten. Es wird Sache des Lesers sein zu beurteilen, inwiefern Parallelen und inwiefern Divergenzen zwischen den Darlegungen der genannten Autoren und den unseren bestehen, wobei die Unterschiede durch die verschiedenen Ausgangsbasen bedingt sind. Denn obwohl diese menschheitlich und universal orientiert sind, ist die Ausgangsbasıs Sri Aurobindos eine reformiert hinduistische, die das westliche Denken integrierte; die Teilhard de Chardins ist katholisch, während die des vorliegenden Werkes allgemein-abendländischer Art ıst. Das aber hindert nicht, daß die Ausführungen des einen die der anderen nicht nur stützen und ergänzen, sondern bestätigen. Weitere Bestätigungen erfuhren unsere Darlegungen auch durch viele wissenschaftliche Disziplinen und durch die Künste. Ihre neuen Forschungsergebnisse, Erkenntnisse, Einsichten und Gestaltungen ergaben beı zahlreichen Persönlichkeiten eine Haltung, die der unseren verwandt ist. Nicht alle konnten erwähnt werden; wir mußten uns auf die uns am wichtigsten erscheinenden beschränken. Diese Hinweise ergänzender Art dürften sehr wohl eine nicht zu unterschätzende Bereicherung für die vorliegende Neu-Auflage darstellen. Nun bleıbt dem Autor noch die angenehme Pflicht, seinen Dank für Hilfen, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben, abzustatten. Mein Dank richtet sich an die »Werner Reimers-Stiftung für Anthropogenetische Forschung« und ihren Direktor, Herrn Professor Dr. Helmut de Terra, Frankfurt am Main, für eine För-

derung, die es mir gestattete, mich einige Zeit ausschließlich den Abschlußarbeiten an dieser Neu-Auflage zu widmen. Und er gilt ebenso

Herrn

Dr.

Heinz

Temming,

Glückstadt,

für die

grofie Hilfe, die er mir durch das Mitlesen der Korrekturen und durch die Erstellung der Register geleistet hat. Schließlich danke

20

Vorwort zur zweiten Auflage

ich den Editions Gallimard, Paris und den Editions de Vischer,

Rhode-St.-Genese, für die Erlaubnis, einige Abbildungen repro-

duzieren zu dürfen.

Bern, im Februar 1966

Jean Gebser

Erster Teil Die Fundamente der aperspektivischen Welt

Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung

Redaktioneller Hinweis auf den Kommentarband

Auf die Anmerkungen des Kommentarbandes wird in den beiden Textbanden durch hochgestellte Ziffern verwiesen. Da, wie bereits erwahnt wurde (siehe Seite 18), die Anmerkungen zum allergroftten Teile nicht bloße Literaturnachweise sind, sondern zusätzliche Ausführungen bringen, wurden jene, die derartige Kommentare, Ergänzungen oder Exkurse enthalten, in den vorliegenden Textbanden dadurch kenntlich gemacht, daf$ die jeweilige (hochgestellte) Anmerkungsziffer kursiv gedruckt wurde. Der Kommentarband enthalt dementsprechend: 1. Anmerkungen (Literatur- und Quellennachweise, Kommentare, Erganzungen und Exkurse); 2. fünf (umfangreichere) Anmerkungen zur Etymologie; 3. die Namen- und Sachregister.

1.G.

Erstes Kapitel Grundlegende Betrachtungen *

Wer heute das Werden einer neuen Epoche der Menschheit als Gewißheit betrachten würde, wer die Überzeugung ausspräche, daß es infolge einer neuen Geisteshaltung der Menschen, und infolge eines neu sich bildenden Bewufstseins, eine Errettung aus Zusammenbrüchen und Chaos geben könne, der würde ohne Zweifel weniger Glauben finden als jene, dıe den Untergang des Abendlandes verkündet haben. Der Zeitgenosse der totalıtären Staaten,

des Zweiten

Weltkrieges

und

der Atombombe

scheint eher zur Aufgabe auch seiner letzten Position geneigt als zur Einsicht in einen möglichen Übergang, in ein Neuwerden, ın eine Umwandlung oder gar zur Bereitschaft für den Sprung in ein Morgen, obwohl ıhm die Vorläufer dieses Morgen, die Zeugnisse dieser Umwandlung, die Spuren des Neuen und Kommenden nicht unbekannt geblieben sein können. Diese Reaktion, diese dem Fall zugeneigte Mentalität ist kennzeichnend genug für den Menschen des Übergangs. In diesem Buch wird nun in der Tat über das Werden einer neuen

Welt,

eines

neuen

Bewußtseins

Bericht erstattet. Und

zwar nıcht auf Grund von Wunschbildern oder von Spekulationen, sondern auf Grund von Einsichten in die Mutationen

der Menschheit von den Uranfängen bis heute, auf Grund von vielleicht neuen Einblicken in die Bewußtseinsarten der verschiedenen Menschheitsepochen und ın die Kräfte ıhrer Verwirklichung, wie sie zwischen Ursprung und Gegenwart, wie sie in Ursprung und Gegenwart lebendig sind. Und so wie die Ganzheit des Anbeginns der vor aller Zeit liegende Ursprung ist, so ist für uns die Ganzheit alles Zeithaften und Zeitlichen die Gegenwart, die voll wirkender Wirklichkeit alle Phasen der Zeit: das Gestern, Heute und Morgen umspannt und selbst Vorzeitliches und auch das Zeitlose einschließt. * Wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß die hochgestellten Zahlen in diesem Textband auf die Anmerkungen im Kommentarband verweisen, wobei jene Zahlen, die Kursiv gesetzt sind, zum Ausdruck bringen, daß die derart ausgezeichneten Anmerkungen nicht nur einen Literatur-Nachweis enthalten, sondern zusätzliche Ausführungen (Kommentare, Ergänzungen oder Exkurse),

worauf

bereits

im

»Redaktionellen

Hinweis

auf

den

Kommentar-

band« (siehe vorangehende Seite) aufmerksam gemacht worden ist.

24

Grundlegende Betrachtungen

Die Strukturierung, die wir gefunden haben, scheint uns die

Fundamente des Bewußtseins zu erschließen, uns in die Lage zu setzen, einen Beitrag zur Geschichte der menschlichen Bewußtwerdung zu geben. Diese Strukturierung beruht auf der Erkenntnis, daß sich im Werden nicht nur der abendländischen Menschheit deutlich unterscheidbare Welten abheben, deren Ent-

faltung sich in Bewußtseinsmutationen vollzogen hat. Die Aufgabe, die sich damit stellt, gründet in einer geistesgeschichtlichen Analyse der verschiedenen Bewufstseinsstrukturen, so wie sie aus den verschiedenen Mutationen hervorgingen. Wir bedienen uns dazu der Methode, die jeweilige Bewufstseinsstruktur der »Epochen« aus ihren gültigen Zeugnissen, 1hren eigentümlichen Ausdrucksformen — im Bild wie in der Sprache — aufzuzeigen. Diese Methode, die nicht nur von dem heute vorherrschenden Bewußtseinsgrad ausgeht, versucht die verschiedenen Bewußtseinsstrukturen aus diesen selber, den 1h-

nen zustehenden Mitteln, aus ihrer eigenen Verfassung heraus zu veranschaulichen,

darzustellen,

sichtbar,

fühlbar,

hörbar

zu

machen. Indem wir zu den Wurzeln der menschlichen Entfaltung zu-

rückgehen, um dann von dorther — uns auf unsere heutige Lage, auf unsere Gegenwart und ihr Bewußtsein zubewegend - alle

Strukturen

des Bewußtseins

zu betrachten, wird sich uns nicht

nur unsere Vergangenheit, nicht nur der gegenwärtige Augen-

blick unseres Daseins enthüllen, es wird sich uns auch der Blick in die Zukunft erschließen, jener Blick, der uns mitten im Zer-

fall unserer Epoche schon die Züge einer neuen Wirklichkeit

sichtbar macht.

Wir glauben, die Wesensmerkmale einer neuen Epoche, dieser

neuen Wirklichkeit in fast allen Ausdrucksformen unserer Zeit zu erkennen, nicht nur in den schópferischen Werken der modernen

Kunst,

sondern

auch

in den

Erkenntnissen

der modernen

Naturwissenschaften sowie in denen der Geisteswissenschaften. Und wir sind in der Lage, dieser neuen Wirklichkeit eine Bezeichnung zu geben, die eines ihrer wichtigsten Elemente herausstellt. Es 1st eine konkrete Bezeichnung, die sich von selbst aus der Feststellung ergibt, daß das Sich-Seinerselbst-BewufStwerden des Menschen mit seinem Bewußtsein von Raum und Zeit aufs innigste zusammenhängt. Eine nicht zu verkennende Neukonstellierung der Bewußtseinsstruktur erfolgte kaum ein halbes Jahrtausend zurück, in der Frührenaissance,

durch

die Entdeckung

der Perspektive,

Grundlegende Betrachtungen

25

mittels derer der Raum erschlossen wurde!. Sie ıst derart untrennbar mit der gesamten Geisteshaltung der »Neuzeit« verflochten, daß es sich empfiehlt, diese Epoche das »perspektivische« Zeitalter zu nennen. Damit wird das der Renaissance unmittelbar vorausgehende Zeitalter als das »unperspektivische« charakterisiert. Und ıst mit dieser Charakterisierung ein Fundament erkannt, so ergibt sich — und zwar sowohl auf Grund der heutigen Physik wie der bildenden Kunst und Dichtung, die mit der Einbeziehung der Zeit (als der vierten Dimension) in die Raumvorstellung dem Neuen eine erste Manifestationsbasis

geschaffen haben — für das neue, aufdämmernde Bewußtsein die entsprechende Bezeichnung; wir können es aperspektivisch nen-

nen. »Aperspektivisch« ist nicht als Gegensatz oder als bloße Verneinung von »perspektivisch« zu verstehen. Der Gegensatz zu perspektivisch ıst unperspektivisch; zwischen den drei Formen unperspektivisch, perspektivisch und aperspektivisch besteht dasselbe Sinnverhaltnis wie beispielsweise zwischen unlogısch, logısch und alogısch, oder wie zwischen unmoralisch, moralisch und amoralisch?. Der Gebrauch dieser Bezeichnung »aperspektivisch« läßt eines deutlich erkennen: daß es gilt, den bloßen Dualismus von Bejahung und Verneinung zu überwinden. In den sogenannten Urworten ıst der Gegensinn noch enthalten gewesen: noch ım Lateinischen heißt »altus« sowohl »hoch« als auch »tief«, »sacer« sowohl »heilig« als auch »ver-

flucht«. Solche Urworte bildeten noch eine ununterschiedene,

psychisch betonte Einheit, deren Doppelwertigkeits-Charakter dem frühen Ägypter und Griechen durchaus gegenwärtig war?. Für unser Sprachbewufstsein ist das nicht mehr der Fall. Deshalb benötigen wir einen Terminus, der sich über die Doppelwertigkeit des Urwortes, aber auch über den Dualismus der Gegensatzbegriffe stellt. Wir bedienten uns deshalb der griechischen Vorsilbe »a«, nicht ım Sinne des Alpha negativum, sondern in dem des Alpha privativum, und koppelten es mit dem aus dem Lateinischen abgeleiteten Wort, weil diese Vorsilbe »a« befre:enden Charakter hat (privativum von privare = befreien). In der Bezeichnung »aperspektivisch« kommt also eın Vorgang der

Befreiung zum Ausdruck, einer Befreiung von der ausschließlichen Gültigkeit sowohl der perspektivischen als auch der unperspektivischen, selbst der praeperspektivischen Gebundenheit. Unsere Bezeichnung enthált also nicht den Versuch, das Unperspektivische und das Perspektivische, die von sich aus koexistent sind, zu einen; sie stellt nicht den Versuch einer Synthese dar,

26

Grundlegende Betrachtungen

ist keine Versöhnung dessen, was defizient werdend unversöhnlich wurde. Wäre »aperspektivisch« nur eine Synthese, so würde es nıchts anderes als perspektivisch-ratıonal bedeuten und wäre wie jede Einigung nur begrenzt und vorübergehend gültig, weil jede Einigung von neuer Entzweiung bedroht ist. Uns kommt es durchaus

auf die Ganzheit,

letztlich auf das Ganze

an; und

diesen Versuch einer Gänzlichung drückt auch unser Wort »aperspektivisch« aus. Es ıst die unterscheidende Bezeichnung für eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, die nicht perspektivisch fixiert nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit gibt oder unperspektivisch verfließend nur eine Ahnung der Wirklichkeit erfühlen läßt. Schließlich seı noch auf die Allgemeingültigkeit des Wortes »aperspektivisch« verwiesen, das durchaus nicht als Fortprägung kunsthistorischer Begriffe aufgefaßt werden sollte, noch aufgefaßt werden darf. Wır knüpften mit der Einführung dieses Begriffes

seinerzeit

(1936/39)*

an

die

sowohl

naturwissen-

schaftliche wıe künstlerische Tradition des Abendlandes an. Die von Leonardo da Vinci vollendete Perspektive hat grundlegende Bedeutung sowohl für unser naturwissenschaftlich-technisches als auch für unser künstlerisches Weltbegreifen erhalten. Ohne dıe Perspektive wären weder technische Modellzeichnungen noch die dreidimensionale Malereı je möglıch geworden. Und Leonardo da Vinci, gleichzeitig Naturwissenschaftler, Ingenieur und Künstler, hat sowohl das Modellzeichnen als auch die perspektivische Malerei als erster in größter Vollkommenheit ausgeführt. In dem gleichen Sinne, nämlich sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch, hat die Aperspektive Gültigkeit. Diese

Bedeutungs-Grundlage sollte nıcht übersehen werden. Der Begriff »aperspektivisch« erhält von dorther seine Legitimation, sowohl natur- und geisteswissenschaftlich als auch künstlerisch verbindlich und anwendbar zu sein. Wir hoffen nachzuweisen, daß uns die aperspektivische Welt, die wir entstehen sehen, von dem überständig gewordenen Erbe zweier anderer Welten befreien kann: von dem der unperspektivischen und dem der perspektivischen Welt. Sehr verallgemeinernd dürfen wir sagen, daß die unperspektivische Welt der ratıo- und ego-betonten perspektivischen vorausging, die mit Leonardos Anwendung der Perspektive in Erscheinung trat (nachdem sie in der Spätantike entdeckt und vorweggenommen worden war). So betrachtet, ıst die unperspektivische Welt eine Welt der Kollektivität, die perspektivische aber eine Welt der

Grundlegende Betrachtungen

27

Individualität. Mit anderen Worten: die unperspektivische Welt ist auf das anonyme »Man« oder »(Sippen-)Wir« bezogen, die perspektivische aber auf das Ich; die eine Welt ist im Sein zu

Hause, dıe andere, dıe ın der Renaissance begann, ım Haben;

die frühere ıst vorwiegend ırratıonal, die spätere vorwiegend ratıonal. Heute sınd beide Formen — wenigstens ım Abendland — nur noch in einer verdorbenen und deshalb fragwürdig gewordenen Spielart vorhanden. Das zeigt sich deutlich in der soziologischen und anthropologischen Fragestellung, die heute die abendlandische Diskussion

beherrscht:

mit solcher Heftigkeit

diskutiert

man nur, was als ungelóstes Problem auf den Nageln brennt.

Die heutige Situation zeigt einerseits einen ins Extrem gesteiger-

ten Individualismus rein egozentrischen Charakters, der alles haben will, andererseits einen ins Extrem gesteigerten Kollekti-

vismus vermassenden Charakters, der alles zu sein sich anmaßt:

hier herrscht eine vollständige Geringschätzung des Individuums, das nicht einmal

mehr

als Nummer

bewertet

wird,

dort eine

Uberwertung des Individuums, dem alles gestattet wird, dessen es irgend fähig ist. Diese defiziente (also destruktiv sich auswirkende) duale Aufspaltung trennt nicht nur (etwa politisch oder ideologisch) die Welt in zwei einander bekampfende Lager, sondern ist heute durchgangig in jedem Lager nachweisbar. Es ist anzunehmen,

daß auf die Dauer keine der beiden Ideolo-

gien siegen kann, da beide ihren äußersten Extremen zustreben; alles aber, was ins Extrem

führt, führt von der Mitte und vom

Kern fort und geht eines Tages im Auffersten unter: die Distanz zwischen Mitte und Extrem ist zu groß geworden, so daß das verbindende Band reißt. Und es scheint, als sei es bereits geris-

sen, denn es wird immer deutlicher, daß das Individuum in die

Isolation massung chen fiir defizient

hinausgetrieben wird und das Kollektiv in die Verhineinsinkt. Einzelung und Vermassung sind aber Zeıeinen defizient gewordenen Individualismus und einen gewordenen Kollektivismus.

Wenn uns dieser Sachverhalt klargeworden ist, so ist damit

auch deutlich geworden, was allein zu einer Uberwindung dieser gefährlichen Situation führen kann: ein Ordnen nicht nur unserer Beziehungen zum Du, wobeı dieses Du für Gott, die Welt und den Mitmenschen oder den Nächsten steht, sondern

auch unserer Beziehungen zum Ich. Das scheint nur möglıch, wenn wir das Ganze unserer menschlichen Existenz in unser

Bewußtsein aufzunehmen bereit sind, das heißt: alle Strukturen

28

Grundlegende Betrachtungen

unseres Bewußtseins, die unser heutiges Bewußtsein bilden und tragen, sollten in ein intensiveres als das bisherige integriert

werden, wodurch uns eine neue Wirklichkeit erschlossen würde.

Dazu gehört die volle Tiefe unserer Vergangenheit, die wir in einem entscheidenden Sinne immer wieder erleben und erfahren müssen. Wer seine Vergangenheit leugnet oder verdammt, begibt sich seiner Zukunft; das trifft für jeden einzelnen Menschen ebenso zu wie für die Menschheit. Und wenn wir für ein Ordnen, für ein Bewußtwerden

unserer Beziehungen

zum Ich

wie zum Du plädieren, so handelt es sich dabei in hohem Maße um ein Ordnen und Bewufstwerden unseres Ursprungs und alles dessen, was zu unserer Gegenwart führte. Erst angesichts des ganzen Menschen werden wir den Abstand zur heutigen Situation gewinnen, den Abstand sowohl zu der nur unperspektivischen Bindung an das Kollektiv, als auch den zu der nur perspek-

tivischen Bindung an das Ich. Wird uns bewufst, was an den vergangenen oder vergehenden Formen der Wirklichkeitserfassung

schlackenhaft ist, was erschöpft ist, so werden wir deutlicher die Zeichen des notwendig Neuen erkennen und deutlicher spüren,

daß neue Quellen erschließbar sind: die Quellen der neuen, der

aperspektivischen Welt, die uns von den beiden erschöpften (defizienten) Formen befreien kónnen, die bereits weitgehend nicht mehr gültig, in jedem Falle aber nicht mehr allein ausschlaggebend sind. Mit diesem Buch stellt sich für uns die Aufgabe, diese aperspektivische Basis zu erarbeiten. Es wird sich dabei weniger auf die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse stützen (wie es der Verfasser in seinem früheren Buch »Abendlàndische Wandlung« getan hat), sondern in der Hauptsache auf geistesgeschichtliche Gegebenheiten. Und unter den geistesgeschichtlichen Disziplinen wird es vornehmlich die der Sprache sein, aus der wir unsere Einsichten gewinnen; die Sprache ist das Mittel par excellence, vermóge dessen der Einzelne mit der Welt und die Welt mit dem Einzelnen kommunizieren. Es kann sich nicht darum

handeln, ein Postulat zu geben; es

kann sich nur um eine Darstellung der latent in uns und in unserer Gegenwart vorhandenen Möglichkeiten handeln, die im Begriff sind, akut, also wirkend und damit Wirklichkeit zu werden. Deshalb gehen wir in den nachfolgenden Ausführungen von zwei grundsätzlichen Überlegungen aus: 1. Mit einer bloßen Interpretation unserer Zeit ıst nıchts getan; es bedarf des Nachweises konkreter Erscheinungen, die als

Grundlegende Betrachtungen

Neues sıchtbar werden

und

29

das Antlitz nicht nur unserer,

sondern der Zeit als solcher verändern. 2. Eine Überwindung des jetzigen Zustandes der Welt, die wahrscheinlich ıhren rationalistischen und technokratischen Höhepunkt bald erreichen wird, kann weder durch die Ratio noch durch die Technokratie, aber ebensowenig durch ein Predigen und Mahnen zu Ethos und Moral oder durch ein irgendwie geartetes Zurück geschehen. Wir können nur eins tun: In der Betrachtung aller Äußerungen unserer Zeit so weit und so tief vorzustoßen, daß uns die dämonischen und zerstörenden Aspekte nicht mehr bannen, so daß wir nicht nur sie sehen, sondern hinter und unter ihnen die

unermeßlich starken Keimlinge des Neuen wahrnehmen, für das die einstürzende Welt den Humus liefert. Diese Keime und Ansätze müssen sıchtbar und einsehbar gemacht werden. Und die Einsicht in die Kräfte, die zur Entfaltung drängen, hilft ıhrerseits diesen Kräften, sich zu entfalten.

Wir werden aufzuzeigen haben, daß sich Ansätze zum Neuen auf allen Gebieten der menschlichen Ausdrucksformen finden und daß ıhnen allen ein gemeinsamer Charakter innewohnt. Dieser Nachweis wird jedoch nur gelingen, wenn wir über die Ausdrucksformen unserer Vergangenheit und Gegenwart genauestens Bescheid wissen. Deshalb ist die Aufgabe des ersten Teiles dieser Schrift die Erarbeitung der Fundamente der Vergangenheit und Gegenwart, die zugleich die Fundamente des neuen Bewußtseins sowie der diesem Bewußtsein entspringenden neuen Wirklichkeit sind. Die Aufgabe des zweiten Teiles wird es dann sein, dieses neue Bewußtsein, soweit seine Ansätze bereits sıcht-

bar geworden sınd, darzustellen.

Wir werden also von Gegebenheiten und nicht von Wunschbildern ausgehen. Wunschbilder haben angesichts der heutigen Zerstörungswaffen weniger denn je Bestand. Aber es wird sıch zeigen, daß nıcht nur diese Waffen und die Atomspaltung Wirklichkeiten sind, mit denen wir rechnen müssen, sondern daß auch die geistige Wirklichkeit ın einer potenzierten Form wirksam zu werden beginnt. Diese neue geistige Wirklichkeit ıst ohne jeden Zweifel die einzige Sicherheit dafür, daß die drohende materielle Zerstörung gebannt werden kann, und alleın ıhre Verwirklichung scheint einen Weiterbestand der Menschheit gegen die Mächte der Technik, der Ratio und der chaotıschen Seelenstimmung zu gewährleisten. Bewältigt unser Bewußtsein, und

zwar

die

Bewußtheit

und

die

Wachheit

und

die

Klar-

30

Grundlegende Betrachtungen

heit des einzelnen es nicht, dieser neuen Wirklichkeit. zum Durchbruch und zur Wirkung zu verhelfen, so würden die Untergangspropheten recht behalten. Alles andere ıst Illusıon. Damit sind große Forderungen an jeden von uns gestellt, und

jeder von uns ist mit Verantwortung

beladen. Der sich eroff-

nende neue Weg darf nicht nur überblickt, er muß gegangen werden. Es gıbt genug historische Beispiele von Untergangskatastrophen ganzer Völker und Kulturen; es sind Untergänge, die durch den Zusammenstoß defizient gewordener, erschopfter, nıcht mehr zum Fortbestand ausreichender Haltungen mit neuen, kräftigeren und in gewissen Eigenschaften überlegenen Haltungen ausgelöst wurden. Wir wollen nur an ein Ereignis erinnern, das eine Vorstellung von solchen Entscheidungen geben kann. Es spielte sich ab im Zusammenstoß der magisch-mythischen, unperspektivischen Welt und Wirklichkeit der mittelamerikanischen Azteken mit der rational-technischen, perspektivischen

Haltung der spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert. Eine Beschreibung dieses erschütternden Ereignisses findet sıch ın der aztekischen Geschichts-Chronik des Fray Bernardino de Saha-

gún, die, acht Jahre nach der Eroberung Mexikos durch Fernán Cortés, auf Grund von Berichten der Azteken niedergeschrieben wurde. Der Beginn des dreizehnten Kapitels dieses Buches, das die Eroberung der Stadt Mexiko schildert, lautet folgendermafsen:>

»Das dreizehnte Kapitel; darin wird erzahlt, wie Monteder mexikanische Konig,

cuhcoma,

andere Zauberer schickt,

daß sie die Spanier zu behexen suchen sollten, und was ihnen auf dem Wege geschah. Und die zweite Schar von Boten,

die Wahrsager, die Zauberer und die Raucherpriester, gingen ebenfalls sie zu empfangen (ihnen entgegen).

Aber sie taugten nichts mehr,

sie konnten die Leute nicht mehr bezaubern, sie konnten ıhren Zweck bei ihnen nicht mehr erreichen,

sie gelangten (sogar) nicht mehr hın.«

Es gibt kaum einen zweiten Text, in dem auf so kurzem Raum und mit so wenigen, sich eindringlich wiederholenden Worten

Grundlegende Betrachtungen

31

das Zusammenbrechen einer ganzen Welt, einer ganzen bis dahın gültıgen und wırksamen menschlichen Haltung beschrieben wird: die magisch-mythische Haltung der Mexikaner wirkte »bei ihnen (den Spaniern) nicht mehr«, sie zerbrach in dem Augenblick, da sie auf die rational-technische traf. Dabei ist nicht — wie der kausal- und materiegläubige Europäer von heute anzunehmen geneigt sein wird — die materielle Überlegenheit des Spaniers entscheidend gewesen, sondern die Schwäche des mexikanischen und die Starke des spanischen Bewußtseins. Es ıst der grundlegende Unterschied zwischen dem ichlosen, clan- und kollektivgebundenen Menschen und dem ichbewufsten, individualisierten. Denn der Zauber, der echte, magische Zauber,

der für die Mexikaner ein tragendes Bewußtseinselement kollektiver Art war, wirkt nur auf die clanmäßıg Gleichgestimmten;

an nicht clanmäßıg Gebundenen und Gleichgestimmten prallt er ab. Nicht der Besitz überlegener Waffen, nicht in erster Linie

dieser Besitz, sondern der eines Ichbewußtseins machte den da-

maligen Spanier den Mexikanern überlegen, und zwar derart überlegen, daß sich die Mexikaner fast kampflos ergaben. Hatten sie aus ıhrer ıchlosen Haltung heraustreten können, so wäre der Sieg der Spanier zweifelhaft und gewiß nicht so leicht ge-

wesen$. Was in unserem Zusammenhang an diesem Vorgang interes-

siert, ist nicht die historische Situation des Zusammenpralls verschieden mächtiger Völker, sondern die Überwindung des magischen Clanbewußtseins, dessen stärkste Waffe der magische

Zauber war, durch das rationale Ichbewufstsein. Heute steht dieses rationale Ichbewußtsein, dessen stärkste Waffe die tech-

nische Atomspaltung ist, vor einer ähnlich katastrophalen Sıtuation des Versagens — und deshalb könnte es durch ein neues Bewußtsein überwunden werden. Wir sind überzeugt, daß aus uns

selber

die

Kräfte

kommen,

ja daß

diese

Kräfte

bereits

wirksam sind, um alles Defizient- und Fragwürdig-Gewordene unseres rationalen Ichbewufstseins durch das überall schon machtvoll zur Äußerung drängende neue, eben das aperspektivische Bewußtsein zu überwinden. Diese aperspektivische Bewußtheit ist ein Ganzheitsbewußtsein, das die ganze Zeit und das die ganze Menschheit und ıhre tiefe Vergangenheit und Zukunft als eine lebendige Gegenwart umfaßt. Nur durch einsichtige Bewußtwerdung kann diese neue geistige Haltung allmählich Wurzel fassen. Sie muß aus der Verborgenheit, in der sie jetzt noch lebt, zur Wirksamkeit gelangen.

32

Grundlegende Betrachtungen

Und sie wird jene Durchsichtigkeit der Welt und des Menschen vorbereiten, ın der das Geistige ın Erscheinung treten kann.

Der erste Teil dieses Werkes, der den Fundamenten der aperspektivischen Welt gewidmet ıst, soll den Nachweis für die Möglichkeit dieser neuen geistigen Haltung erbringen. Dieser Nachweis stützt sıch auf zweı Leitsätze, deren Gültigkeit deutlich werden wird: 1. Das Verborgene (die Latenz) ist die nachweisbare Gegenwart (Prasenz) der Zukunft. In die Latenz einbegriffen ist sowohl, was sich noch nicht manifestiert hat, wie auch alles, was wie-

der in die Latenz zurückgesunken ist; da es sich hierbei vornehmlich um Bewufstseins- und Integrationsphänomene han-

delt, werden wir auch die Probleme der Geschichte, der Seele,

der Zeit, des Raumes und der Denkformen einer Betrachtung

unterziehen.

Da der zweite Teil dieses Werkes den Manifestationen des neuen Bewufstseins gewidmet ist, müssen im ersten Teil die Manifestationen der früheren und der heutigen Bewuftseinsstrukturen geklárt werden. Es wird der Nachweis für die sich anbahnende Konkretion der Zeit und des Geistigen versucht werden, welche die Voraussetzung der aperspektivischen Welt bildet, der Nachweis für das immer stärkere Wirksamwerden

jener geistigen Wirklichkeit (die nicht etwa bloß ein seelischer Zustand oder eine ıntellektuell-rationale Vorstellungsform ist). Damit wird die Gültigkeit unseres zweiten Leitsatzes deutlich werden: 2. Das Durchscheinende (das Diaphane oder die Transparenz) ist die Erscheinungsform (Epiphanie) des Geistigen. Es handelt sich also um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen, um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer ganzen menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält; denn auch das Zukünftige und nicht nur Gestriges und Heutiges bilden und bestimmen uns. Es handelt sich also um das Durchsichtigmachen des ganzen Menschen und nicht bloß um die Schilderung einzelner Ausschnitte, Stufen oder Ebenen, sondern der verschiedenen ineinanderspielenden und jeden Menschen konstituierenden Bewußtseinsstrukturen. Diese Diaphanie unserer Existenz wird sich besonders deutlich in allen Übergangsperioden zeigen; und aus den Erfahrungen der Übergangsmenschen, die sie mit dem Verborgenen der aufdammernden Zukunft

Grundlegende Betrachtungen machten,

als sıe ıhrer gewahr

wurden,

werden

33

wır unsere Ge-

genwartserfahrung klären. Es erübrigt sich, nochmals darauf hinzuweisen, daß wir für eine solche Untersuchung anderer Bewußtseinsstrukturen nicht die Methoden unserer heutigen Bewußtseinsstruktur anwenden

können, sondern daß wır die Methode wechseln müssen je nach der Struktur des Bewußtseins, die wir zu untersuchen haben.

Ein solches Aufgeben einer einheitlichen Methodik braucht kein Zurückfallen ın das Unmethodisch-Irrationale zur Folge zu haben, das nur ein aufrufendes

Schauen

wáre.

Die Methoden

Beschwóren

oder versinkendes

unserer Zeit sind weitgehend

dualistische Verfahren, die über die bloße Subjekt-Objekt-Beziehung nicht hinausreichen. Mit ıhnen läßt sich nur erfassen,

was der heutigen europäischen Mentalität gemäß ist. Und wenn sie messend auch weitgehend auf das Maß abstellen, so ist doch jede durch den Gegensatz von Maß und Masse bedroht, wie das noch ım weiteren ausgeführt werden wird. Unsere »Methode« ist nicht nur ein maßvolles Messen, sondern darüber hinaus auch

ein Durchsichtigmachen; sie ist der Versuch einer Diaphanik. Mit Hilfe ihrer wird der neuen Subjekt-Objekt-Beziehung jedoch zugänglich sein, was »hinter« der heute herrschenden Mentalıtät (als vergangener) und was »vor« ıhr (als zukünftiger) liegt. Denn diese Subjekt-Objekt-Beziehung ist nicht mehr dualistisch, ohne daß sie deshalb den Menschen mit dem Subjekt-

verlust oder mit der Objektidentifizierung bedrohte. Obwohl sie erst ım Entstehen

ıst, werden

wır von

ıhr schon

Gebrauch

machen müssen. ’ Zusammenfassend sel gesagt, daß es sich bei unserer Darstellung weder um eın neues Weltbild noch um eine neue Weltanschauung oder eine neue Weltvorstellung handelt. Ein neues Weltbild wäre nichts als eine neue Mythisierung, denn allem Bildhaften eignet vornehmlich Mythencharakter; eine neue Weltanschauung wäre nur eine neue Mystik (und Irrationalisierung), denn

allem Anschauen,

insofern es eben Schau

ist, eignet vor-

nehmlich Mystikcharakter; eine neue Weltvorstellung aber wäre nichts als eine der schon zahlreich vorhandenen Rationalisierungen, denn allem Vorgestellten eignet vornehmlich rationaler Abstraktions-Charakter. Uns kommt es auf eine neue Wirklichkeit an, die ganzheitlich wirkende Wirklichkeit ist; in welcher Potenz und Akt als Wir-

kendes und Bewirktes gegenwärtig sind; in welcher der Ursprung dank der Gegenwärtigung neu aufblüht und in der die Gegen-

34

Grundlegende Betrachtungen

wart umfassend und ganzheitlich ist. Diese ganzheitliche Wirklichkeit ıst Weltdurchsichtigkeit, eine Weltwahr-Nehmung: eın Wahr-Nehmen und Wahr-Geben der Welt und des Menschen

und alles dessen, was die Welt und den Menschen durchscheint.

Zweites Kapitel

Die drei europäischen Welten 1. Die unperspektivische Welt Nirgends läßt sich der Wandel des europäischen Weltgefühls und der europäischen Weltbetrachtung so deutlich ablesen wie an der Malerei und Architektur. Nur die Einsicht in diesen

Wandel

wırd uns Wesen

und Bedeutung

Ausdrucksweisen ins rechte Licht rücken.

neuer Stilarten und

In der Fülle der Stilarten, welche die darstellende Kunst der

nachchristlichen Zeit aufweist — und es soll vorerst nur von dieser Zeit die Rede sein —, können wir zweı große, in sich ge-

schlossene Epochen unterscheiden und daran anschließend eine

dritte, die heute erst in ıhren Anfängen steht: die erste, bereits abgeschlossene Epoche umfaßt die Zeit bis zur Renaissance, die andere, vor ihrem Abschluß stehende, reicht bis zur Gegenwart. Das entscheidende und unterscheidende Merkmal für diese Epochen ıst das Fehlen oder aber das Vorhandensein der Perspektive. Wir bezeichnen darum die erste Epoche als »unperspektivisch«, die zweite als »perspektivisch« und die neu in Erscheinung tretende Epoche als »aperspektivisch«.! Es wird sich bald zeigen, daß diese Bezeichnungen nicht nur ästhetisch und kunsthistorisch, sondern auch geistes- und seelengeschichtlich Geltung haben. Die realisierte Perspektive bedeutet Erschließung, also Bewufstwerdung, des Raumes. Die noch nicht realisierte Perspektive bedeutet dagegen, daß der Raum noch im Menschen schläft oder daß der Mensch noch im Raume schläft, da er zu ıhm noch nicht erwacht ıst. Dieser Zustand

drückt weiter aus, daß der Mensch ın der unperspektivischen Welt sich noch nicht selber gehört, sondern einer Eınheit, nämlich der Sippe oder einer Gemeinschaft bzw. der Gemeinde: der Akzent liegt noch nicht auf dem Ich, sondern auf der Gemeinschaft (der qualitativen Form des Kollektivs), er liegt noch nicht auf dem Persönlichen, sondern auf dem Unpersönlichen. Diese unperspektivische Welt ıst die der Bilderhandschriften, des Goldgrundes

und der frühromanischen

Malerei, in die erst

die Gotik, als Ankündigung der Renaissance, eine Akzentver-

schiebung brachte, denn noch herrschten die Elemente vor, welche die mittelmeerische Antike konstituierten; der Raum ist noch nicht in unserem Sinne Tiefenraum, sondern einerseits

36

Die drei europäischen Welten

Höhle

(und

damit

auch

Gewölbe),

andererseits

bloßer

Zwi-

schenraum. In beiden Fällen ist er also ununterschiedener Raum: ein Eingebettetsein in die Welt spricht aus diesem Sachverhalt, eine uns kaum mehr vorstellbar dichte Verbundenheit von außen und innen, eine uns kaum mehr nachfühlbare Entsprechung von Seele und Natur. Nur allmählich, durch das langsam sich ausbreitende und sich kräftigende Christentum, wird dieser Zustand zerstört; mit der Distanzierung zur Natur, die es predigt, wird aus der Zerstörung eine befreiende Tat. Das Fehlen eines Raumbewußtseins schließt das Fehlen eines Ichbewußtseins ein, da zur Objektivierung des Raumes und zu seiner Qualifizierung ein sich-seiner-selbst-bewufstes Ich gehört, das sich diesem Raum gegenüberzustellen und ıhn, aus der Seele

entäußernd, auch darzustellen vermag. So betrachtet, sind Worringers Sätze über den Mangel jeglichen Raumbewußtseins in der ägyptischen Kunst? durchaus gültig: »Nur als Rudiment einer urzeitlichen Raum- und Höhlenmagıe spielt der Raum in

der àgyptischen Baukunst eine Rolle... Der Agypter war ... dem Raum gegenüber ... neutral und indifferent. Das Raumhafte lebte in seinem ... Bewußtsein gar nicht als ... Potenz. Nicht

überräumlich war seine Gesinnung, sondern vorräumlich. Raumlos war

seine Oasenzuchtkultur...

Sie [diese Kultur]

kannte

architektonisch nur Raumbegrenzungen, Raumgehäuse, aber keine Rauminnerlichkeit. Wie ihre Reliefzeichnungen ohne Schattentiefe waren, so waren ıhre Architekturen ohne Raum-

tiefe. Die dritte Dimension, die eigentliche Dimension der Lebensspannung, ward nur als Quantitat, nicht aber als Qualität empfunden. Wie sollte da der Raum, dieses Moment der tiefen-

suchenden Ausdehnung, losgelöst von allen Körpern, als selbständige Qualität ins Bewußtsein kommen? ... dem Ägypter

fehlte ... alles räumliche Bewußtsein.« Und nicht nur in der frühen Antike, sondern auch in der Epoche vor der Renaissance müssen wir den gänzlichen Mangel eines qualitativen objektivierten Raumbewufstseins feststellen. Und zwar trotz, ja gerade auch infolge der Euklidischen Geometrie. Indirekt hat diesen Sachverhalt v. Kaschnitz-Weinberg? bewiesen. Er hat die zwei gegensátzlichen, sich aber ergänzenden Strukturelemente der antiken Kunst und deren Heraufkunft aus dem Megalithikum (der Steinzeit) herausgearbeitet: das eine ıst die vornehmlich von Nord- und Westeuropa in das Mittelmeergebiet eindringende und vor allem den griechischen Baustil be-

einflussende Dolmenarchitektur, die phallischen Charakters ıst,

Die unperspektivische Welt

37

und in der griechischen Säulenarchitektur (wie jener des Parthenon) weiterlebt. Hier ist der Raum bloßer Zwischenraum, der

zwischen den aufgerichteten Säulen übrigbleibt und dessen Struktur durch die Vertikale und die Horizontale der tragenden und lastenden Steine bestimmt wird und somit dem Euklidischen » Würfelraum« entspricht*. Das andere Strukturelement der antiken Kunst sıeht v. Kaschnitz-Weinberg in der aus dem Orient, vornehmlich aus dem Iran, in das Mittelmeergebiet eindringenden und vor allem die spätantike, römische Architektur beeinflussenden Hohlenarchitektur, die uterischen Charakters 1st und

die in der römischen Kuppelarchitektur (wie jener des römıschen Pantheon oder der Thermen usw.) weiterlebt. Hier wird

der Raum

bloßer Gewölberaum,

den orientalischen Mutterreli-

gionen entsprechend ein Hohlenraum, mit dem Nachklang an die gewaltige kosmologische Konzeption, wonach das Weltall selbst nichts anderes ist als eine ungeheuere Höhle’. Und es sei hinzugefügt, daf$ Platon in seinem »Höhlengleichnis« als erster jenen Menschen beschrieben hat, der aus der Höhle herausgetreten war. Wir können also sagen, der »Raum« der Antike ist ein ununterschiedener Raum, ein bloßes In-Sein, nämlıch ein behütetes Im-Mutterschoß-Sein,

der

keine

Konfrontation

mit

dem

tatsächlichen Außenraum ausdrückt. Und in dem konstituieren-

den Vorherrschen der beiden polaren Elemente des Väterlichen

(Phallus — Säule) und des Mütterlichen (Uterus — Höhle), unter deren bindende Macht sich der unperspektivische Mensch stellte,

spiegelt sich seine eigene Unabgelöstheit von der Elternwelt und

damit

seine

Gebundenheit,

die ein Ichbewußtsein

in unserem

heutigen Sinne ausschließt: er lebt noch geborgen und einge-

schlossen ın der distanzlosen Welt des Wır, und das Außen, der

objektive Raum, ist demzufolge noch inexistent. Erst die christliche Baukunst brachte dann jene Zusammenfassung der beiden polaren Elemente, welche die raumlosen Grundlagen des antıken Weltbildes konstituierten; ım christlichen Kirchenbau gehen zum erstenmal diese beiden polaren Elemente (deren Symbolgehalt sich nicht durch die Akzentuierung des Sexuellen, wie wir noch

sehen werden [s. S. 114], sondern des seelisch-mythischen Aspektes auszeichnet) jene kreative Verschmelzung ein, welcher der Menschensohn entstammt. Denn in der christlichen Kirchen-

architektur bilden Saulen und Turm mit Gewolbe und Kuppel

zum

erstenmal

jene

Dualitat,

welche

die sich im Sohne als Menschen

sich seinen Raum schaffen wird.

die Trinitát

ermoglicht,

darstellt, dem Menschen,

der

38

Die drei europäischen Welten

So gesehen ıst es nıcht verwunderlich, wenn sıch um die Christi bereits ınnerhalb der Welt der Spätantike deutlich Wandel vorbereitet, dessen tief einschneidende Wichtigkeit dessen Kühnheit wir uns vergegenwärtigen können, wenn die etwa ab 1250 n. Chr. sich vorbereitende Renaissance trachten,

jene

Epoche,

welche

die Stilelemente

aufnimmt,

Zeit eın und wir be-

die

sich zur Zeit Christi ans Licht wagten: wir meinen die ersten Ansátze zu einer perspektivischen Raumdarstellung auf pompejanischen Wandmalereien?. Auf ihnen finden wir außer ersten Andeutungen landschaftlicher Motive sogar Stilleben, eine Tatsache, in der zum erstenmal eine Objektivierung der Natur sichtbar wird, die sich gleichzeitig in den rómischen Gartenanlagen genauso äußert, wie sie sich in den idyllischen Naturschilderungen der späten bukolischen Poesie ankündigte, etwa in den »Eclogae« eines Vergil. Vornehmlich an diese neuartigen Elemente der antiken Kultur knüpfte die Renaissance an und

brachte ihre Ansátze zur Blüte, indem sie aus einer zweidimen-

sionalen Welt eine dreidimensionale, aus der unperspektivischen

die perspektivische Welt erstehen lief’. 2. Die perspektivische Welt

Diese perspektivische Welt, die in der spätantiken, mittelmeerischen Welt vorgeformt wurde, begann ın der europäisch-christ-

lichen Welt etwa vom Jahre 1250 n. Chr. ab ıhren Ausdruck zu

finden. Hatte im Gegensatz zum ägyptischen Kórpergefühl — das hieratisch gebunden, kanonmäfßig, fast schablonenhaft unpersönlich

und

vorhuman,

also in unserem

Sinne

noch

inexistent

war — das griechische Körpergefühl bereits eine gewisse Individualisierung des Menschen zum Ausdruck gebracht, so wird sich jetzt 1m ausgehenden Mittelalter der Mensch langsam nicht nur seines Körpers, sondern er wird sich dieses Körpers als Trägers seines Ich bewußt: er ist nicht mehr nur Mensch, sondern dieser

eine, bestimmte Mensch, und sein Spiegel ist nicht mehr die nur idealisierte Büste oder Miniatur des Idealtypus eines Cäsar, eines Philosophen oder Dichters”, sondern das von Jan van Eyck geschaffene Portrát?. Der Erfassung des Menschen als Subjekt liegt eine Erfassung der

Welt

und der Umwelt als Objekt zugrunde. Diese Objekti-

vierung des Außen kommt in der Malerei zum erstenmal bei Giotto zu einem noch tastenden Ausdruck. Die frühsienesische

Die perspektivische Welt

39

Malerei und besonders die Welt der Miniaturmalerei ist eine

unraumliche, in sich kommunizierende, flachenhafte Welt, die

aus dem Symbolgehalt lebt und nicht aus dem, was wir heute Realitatsgehalt nennen; diese »Bilder« der unperspektivischen Zeit sind gleichsam in der Nacht gemalt, wo die Dinge schatten-

los und

flachenhaft

sind,

wo

die

Dunkelheit

den

Raum

ver-

schluckt hat, so daß nur seine immaterielle psychische Komponente ausdrückbar bleibt und auch ausgedrückt wurde. Mit

Giotto aber wird dann jener Raum sichtbar, der bis dahin nur

latent in der Nacht des Unbewuften des kollektiv gebundenen

Menschen schlief: die ersten räumlichen Darstellungen in der

Malerei entstehen und weisen die ersten Ansatze zur Perspektive auf. Ein ganz neues seelisches Raumbewufstsein, das sich aus der Seele in die Welt entäußert, beginnt sich Bahn

zu brechen;

ein Raumbewußtsein, dessen Tiefe in der Perspektive sichtbar

wird. Dieser seelische Innenraum kommt zum Durchbruch, da

die Troubadours (seit 1250) die ersten lyrischen Ich-Gedichte schreiben, die ersten persönlichen Gedichte, die plötzlich einen Abgrund zwischen Welt (oder Natur) und dem dichtenden Menschen aufreißen. Gleichzeitig bringt Thomas von Aquin in der Nachfolge seines Lehrers Albertus Magnus an der Universitat von Paris Aristoteles zur Geltung und leitet damit die rationa-

lisierende Ablösung von der noch vorwaltend psychisch-gebundenen platonischen Welt ein, nachdem Petrus Hispanus, auch Petrus Lusitanus? genannt, der spatere Papst Johannes XXI. (gest. 1277), mit seiner großen Schrift »De Anima« 7? das erste umfassende europäische Lehrbuch der Psychologie verfaßt hatte, das über die islamische Tradition und Spanien die aristotelische Seelenlehre nach Europa hineintrug. Etwas später löst dann Duns Scotus (gest. 1308) die Theologie aus der hieratischen Strenge der Scholastik und lehrt den Primat des Willens und des Gefühls. Und die Zeitblindheit der Antike, die der unperspektivischen, seelisch betonten Welt entsprechend fast eine Zeitlosigkeit war, weicht zum erstenmal einer Zeitaufgeschlossenheit und einer Sichtbarmachung der Zeit, die meßbar räumlichen

Charakter hat, als im Jahre 1283 die erste öffentliche Uhr im

Palasthof von Westminster aufgestellt wird, ein Ereignis, das durch Papst Sabinus vorbereitet wurde, der im Jahre 604 befahl, durch Glockenschläge den Stundenlauf zu künden. Wir werden noch ausführlich auf das Zeitproblem eingehen, móchten aber bereits hier feststellen, daß ein lang vergessener, wesensgemeinsamer Zusammenhang zwischen Zeit und Seele besteht. Noch

40

Die drei europäischen Welten

der Innenhimmel der Antike mit seinem Höhlencharakter ıst

Ausdruck der noch nicht zu einem räumlichen, die Zeit messen-

den Zeitbewufstsein erwachten Seele. Jener

» Himmel

des Her-

zens« aber, von dem ein Origenes!! sprach, und der eben ein Innenhimmel war, wird in den ersten landschaftsbezogenen Himmelsdarstellungen entäußert, welche die Brüder Ambrogio und Pietro Lorenzetti!? etwa um 1327/28 auf den Fresken in 5. Francesco zu Assisi erstehen ließen. Dabei müssen wir betonen, dafs diese ersten Himmels- und Landschaftsdarstellungen durchaus nicht zufällig Nachtbilder sind, in denen ein natürlicher und kein symbolhaft astral-mythischer Mond sichtbar wird. Der Himmel dieser Fresken hat im Gegensatz zu dem Hohlenhimmel der Frühzeit nicht mehr einschliefenden Charakter, er wird vom Blickpunkt des Malers aus dargestellt und ist Ausdruck nicht mehr des unperspektivischen In-Seins, sondern eines beginnenden perspektivischen Gegenüber-Seins. Der Mensch ist nicht mehr nur in der Welt, sondern er beginnt sie zu haben; aus einem, der selber Besitz (nàmlich des Himmels) war, wird einer, der beginnt, wenn auch nicht den Himmel, so

doch vielleicht die Erde bewußt zu besitzen. Das ist sowohl Gewinn als Verlust. Uns ist ein Dokument erhalten geblieben, in dem sich dieses Gefühl von Verlust und Gewinn, von Aufgabe und Anfang auf eine ergreifende Weise spiegelt, und das uns mit wenigen Sätzen den Kampf in einem einzelnen Menschen veranschau-

licht, der sich auf der Grenzscheide zweier Welten befindet. Es

handelt sich um jenen großen Brief Francesco Petrarcas, den der Zweiunddreißigjährige im Jahre 1336 an Francesco Dionigi von

Borgo San Sepolcro schrieb; er steht als erster Brief im vierten Buch seiner »Familiari« ? und beschreibt Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux. Diese Darstellung ist für die damalige Zeit ein geradezu epochales Ereignis, denn sie bedeutet nichts Geringeres als die Entdeckung der Landschaft, und in ihr kommt ein erstes Aufleuchten jenes Raumbewußtseins zum Durchbruch, das in der Folge grundlegend die Stellung des europäischen Menschen in und zu der Welt verándert. Der Mont Ventoux liegt nordöstlich von Avignon, dort, wo die Rhone die franzósischen Alpen von dem Hügelland der Cevennen und dem gebirgigen Zentralmassiv Mittelfrankreichs scheidet. Er ist ein Berg, der sich durch seine klaren und ruhigen Linien

auszeichnet,

von

Süden,

von

Avignon

aus

gesehen,

in

langsamer ununterbrochener Steigung seinen Grat in den klaren

Die perspektivische Welt

provenzalischen

Himmel

zeichnet

und

seinen

41

Südwesthang

breit ausladend und weithin ausgedehnt mit sanft sich fangendem

Schwunge

talwärts

sendet,

bis er sich

nach

einem

fast

zweitausend Meter überbrückenden Abwärtsfließen an der steil sich erhebenden Platanenterrasse von Carpentras fängt, das er mit seinen Mandelbäumen vor den Nordwinden schützt. Eine merkwürdige Anziehungskraft geht von diesem Berge aus; der Verfasser, und gewiß mancher andere, hat sie selber erfahren, als er vor vielen Jahren diesen Berg zum erstenmal sah, ohne

damals

zu wissen,

welche

besondere

Bewandtnis

es

mit ihm hatte. Es ist nicht zufállig, daf$ Petrarca die Entdeckung der Landschaft gerade hier, in diesem Teile Frankreichs machte, in dem die gnostische Tradition, die den Akzent auf Welterkenntnis,

also mehr

auf das Wissen

als auf den Glauben

legte,

in den Troubadours, Catharern und Albigensern lebendig blieb; damit soll Petrarca aber nicht zum Gnostiker gemacht werden, es soll nur auf das gnostische Klima !* in diesem Teil der »douce France« hingewiesen sein, von dem schon die erste große französısche Dichtung, »La chanson de Roland«, gleich eingangs (im 16. Verse) mit den Worten über »Li empereres Carles de France dulce« 15 spricht. Jener Brief Petrarcas hat Beichtcharakter: er ist an den Pro-

fessor der Theologie gerichtet, der als Augustinermónch Petrarca die »Bekenntnisse« Augustins schátzen und beherzigen lehrte; aber man beichtet oder gesteht nur, wenn man glaubt, sich gegen

etwas vergangen zu haben.

Der gewaltge Eindruck, den der vom Gipfel aus vor ihm ausgebreitete Raum auf Petrarca macht, die Erschütterung, diesen Raum als Wirklichkeit zu sehen, die Sorge, ja Bestürzung, das Gesehene zu realisieren und zu akzeptieren — all dies spiegelt sich in dem Briefe dessen, der als erster in Europa aus dem transzendentalen Goldgrund der sienesischen Meister, aus dem noch in der Seele und in der Zeit gleichsam schlafenden Raume, hinaustritt in den »wirklichen« Raum und damit die Landschaft entdeckt: die allseitige Bindung mit Himmel und Erde, die noch eine fraglose, eine undistanzierte unperspektivische Bindung war, zerreifít in dem Augenblicke, da ein Teil der »Natur«, durch seinen persönlichen Blick räumlich aus dem Ganzen herausgelöst, zu einem Stück Land wird, das er schafft. Es ist möglich, daf$ damit ein Teil des formenden (geistigen) Prinzips von

Erde und Himmel,

also sowohl von der »Natur«

in ihrem um-

fassenden Sinne als auch vom »Gottlichen«, auf den Menschen

42

Die drei europäischen Welten

überging; wenn dem so war, dann freilich wuchs — man ist versucht zu sagen, von jenem Tage Petrarcas an — die Verantwortung des Menschen ın einer Weise, von der wir angesichts der Situation unserer Zeit bezweifeln müssen, ob er ihr gewachsen war. Wie dem auch seı, die Tatsache dieser folgenschweren Entdeckung bleibt bestehen. Und aus dem Briefe Petrarcas darf man zumindest eine Beunruhigung úber diese Entdeckung und die geahnte aus ihr entspringende Verantwortungsfülle heraushoren.

» Den höchsten Berg unserer Gegend«, so beginnt Petrarca

seinen Brief, »habe ich gestern bestiegen, nur von dem Verlangen

geleitet, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. Durch

viele Jahre hindurch war dies in meiner Seele; von Kindheit an

habe ıch mich námlich, wie Du ja weißt, hier in diesen Gegenden herumgetrieben. Jener Berg, weit und breit sichtbar, stand mir fast allzeit vor Augen. Allmählich ward mein Verlangen ungestüm und ich schritt zur Ausführung, insbesondere, nachdem ich tags zuvor beim Lesen der römischen Geschichte ım Livius auf jene Stelle gestoßen war, wo Philipp, der König von Maze-

donien, ... den Berg Haemus in Thessalien besteigt, von dessen Gipfel zwei Meere, das Adriatische und der Pontus Euxinus, sichtbar seın sollen.« Daf diese Bergbesteigung Philipps nicht mit der Petrarcas in ihrer Bedeutung gleichgesetzt werden darf, geht aus der Beto-

nung hervor, die Livius darauf legt, daß man die Meere von dort aus sah, während er das Land, das eben noch nicht zur

Landschaft geworden war, gar nicht erwähnt; diese Erwähnung

der Meere ist durchaus als ein Hinweis darauf aufzufassen, daß

der antıke Mensch nıcht den Raum sah, sondern die Seele, deren

Bild (wie wir später sehen werden) immer das Meer war. Beı dieser Gelegenheit sei bemerkt, dafs die bekannten Bergbesteigungen, die Hadrian, Strabo und Lucilius unternommen haben, von diesen Rómern aus vorwiegend administrativen und praktischen Überlegungen erfolgten und nicht aus »ästhetischen« Gründen: Hadrian, ein Verwaltungsreformator, bestieg den Ätna, um das

von ihm zu verwaltende Gebiet zu sehen, und der staatsverfolgte

Lucilius, ein Freund des Seneca, hatte durchaus praktische Ziele.

Kehren wir jedoch zu Petrarcas Brief zurück. Nach der Er-

wähnung der Livius-Stelle folgt die Beschreibung der mühsamen Wanderung und die einer Begegnung: »In den Schluchten trafen

wir [er und sein Bruder Gerardo] einen alten Hirten, der mit vielen Worten versuchte, uns von der Besteigung zurückzuhalten

Die perspektivische Welt

43

und sagte ... er hätte niemals davon gehört, daß jemand Ahnliches gewagt habe.« Ohne sıch von den Lamentationen des Alten beeindrucken zu lassen, steigen sie weiter, »und noch im Auf-

stieg«, so schreibt er, »trieb ich mich selber mit diesen Worten an: Was also heute, beim Besteigen dieses Berges du erfahren

hast,

das

kommt

gewißlich

dir

und

vielen’®

zugute,

die

zu

einem glückseligen Leben hingelangen wollen...«. Auf dem Gipfel angekommen, überstürzt sich die Beschreibung, und die Tempuswechsel zeugen von der Erschütterung, die in thm nachklingt, wenn er das Gipfelerlebnis evoziert: »Erschüttert von dem ungewohnten Winde und von dem weiten und freien Schauspiel, war ıch zu allererst wıe vor Schreck erstarrt. Ich schaue: Die Wolken lagen unter meinen Füßen... Ich wende meinen

Blick italienwarts, wohin sich noch mehr als dieser meine Seele wandte... Ich gestehe, daß ich seufzte, da ich den Himmel

Italiens sah, der mehr meinem Geist als meinem Auge erschien, und ein unsagbares Verlangen ergriff mich, meine Heimat wiederzusehen... Und dann ergriff mich ein neuer Gedanke, der mich aus dem Raum in die Zeit trug (a locıs traduxit ad tempora)?”. Ich sagte zu mir selber: Zehn Jahre sind es her, daß du Bologna verließest...«; und dıe nachfolgenden Sätze, dıe seın Leid während dieses Jahrzehntes erwähnen, sind ganz dem ınne-

ren Leben zugewandt: die Sehnsucht nach der Heimat, die ıhn ın der heimatlosen Unvertrautheit dieses Gipfelaufenthaltes überkam, wird übermächtig; eben noch sieht er die damals neue Wirklichkeit, aber vor ıhrer erschütternden Wirkung flieht er »aus

dem

Raum

in die Zeit«

zurück,

flieht

aus dieser ersten

Raumerfahrung zurück ın den Goldgrund der Sıeneser Meister.

Und dann nach der Beichte seines Leides, nach dieser seelischen

Befreiung, fährt er ın der Schilderung des gesehenen Raumes fort: »Dann wende ıch mich nach Westen; vergeblich suche ıch den Rücken der Pyrenäen, dieser Grenze zwischen Frankreich und Spanien... Ich sehe die Berge der Lyoneser Provinz zur Rechten,

und

zur Linken

die Fluten

des Mittelmeeres,

die auf

der einen Seite Marseille bespülen und sıch an Aıgues-Mortes

brechen; und obwohl die Entfernung weit war, sahen wir sehr deutlich; die Rhone selbst lag unter unserem Blick...«. Doch von neuem wendet er sıch zurück, und es ereignet sıch dabeı

etwas, das symptomatisch ıst für die Sensibilität dieses Dichters, der, wie hilflos geworden vor der Weite, die vor ihm ausgebreitet ist, nach einem Halt suchend die »Bekenntnisse« des Augustin aufschlägt,

wobei

ihm

die Formulierung

zufällt, die aus seiner

44

Die drei europäischen Welten

seelischen Heimat

stammt,

der er sıch bereits das erste Mal,

seinen Blick von der Landschaft zurücknehmend, zugewandt

hatte:

»Gott ıst mein Zeuge«,

»Bekenntnisse«

geöffnet

hat,

so schreibt er, nachdem

»und

jener,

der dabei

war

er die

(sein

Bruder), daß mein Blick auf folgende Stelle fiel: πα die Menschen gehen die hohen Berge bewundern und die gewaltigen Wogen des Meeres und die langen Läufe der Flüsse und die Un-

ermeßlichkeit des Ozeans und die Bahnen der Sterne, und sie

geben sich damit selber auf (et relinquunt se ipsos)6,

Dieser Verweis des Aretino und jene scharfe Formulierung des Agrippa, welche die unperspektivische Welt und ıhre unperspektivische Darstellungsweise als »Ungestalt« und als »falsch gesehen« bezeichnen, zeigen deutlicher, als ırgend etwas anderes es vermöchte, daß damals, zu Beginn des 16. Jahrhunderts,

der Raum endgültig bewußt geworden und damit akzeptiert worden ist. Ein Raumrausch überfällt den damalıgen Menschen, nachdem er diese Bewußtwerdung geleistet und gesichert hat. Er spricht auch aus dem perspektivischen Rausch, der ın Altdorfers Innenraumbildern und in den niederländischen Kirchenschiffgemälden zum beinahe jubelnden Ausdruck kommt und der jedweden Versuch jener Stimmen, die das alte Weltgefühl bewahrt wissen möchten, zum Schweigen bringt. Dies um so

leichter, als jenes erste Landschafts- und Raumerlebnis Petrarcas

56

Die drei europäischen Welten

dank der Perspektivlehre und -anwendung Leonardos zu einem

Allgemeinbesitz

werdenden Europa

wird, der sich deutlich in der immer

Landschaftsmalerei

ausbreitet: Altdorfer,

spiegelt,

dann

die sich

van

Goyen;

über

stärker

Poussin

ganz und

Claude Lorrain; Ruysdal, dann Magnasco; Watteau, Constable, Corot, C.D. Friedrich; Millet und Courbet, Manet und Monet,

schließlich Renoir, und zuletzt noch van Gogh und Rousseau

sind nur einige der großen europäischen Meister, die sich immer

von

neuem

um

mühten.

die Erfassung

des landschaftlichen

Raumes

Der Raum ıst das vordringlichste Thema dieses Zeitalters. Wir stützten uns zur Darstellung dieser Tatsache einzig auf seine anschaulichste Äußerung, die Erfindung der Perspektive, die ıhn darstellbar macht. Andererseits haben wir bereits darauf hingewiesen, daß ın dem Moment, da Leonardo das Problem der Perspektive löst und damit die Möglıchkeit für die Raum-

entäußerung ins Bild schafft, Ereignisse stattfinden, die mit dieser Raumfindung Leonardos parallel gehen*”: Kopernikus sprengt den begrenzten

geozentrischen

Himmel

und entdeckt

den heliozentrischen Raum; Kolumbus sprengt den einschliefsenden Okeanos und entdeckt den Erdraum; Vesale, der erste große Anatom, sprengt die alten Körperlehren Galens und entdeckt den Körperraum; Harvey sprengt die gebundene Humoralmedizin eines Hippokrates und entdeckt den Blutkreislauf; Kepler sprengt das unperspektivische, kreis- und flachenhafte Weltbild der Antike, indem er statt der Kreisbewegung der Planeten, wie sie nach Ptolemäus noch ein Kopernikus annahm, ıhre Ellipsen-

bahn nachweist. Es ist jene Ellipse, die in der Architektur zum

erstenmal Michelangelo vorbereitete, dessen Kuppel von St. Pe-

ter die überhöhte, also nicht runde (höhlen- oder gewölbemäßig betonte), sondern elliptische Form aufweist; auch hier also Raumgewinn auf Kosten des antıken okeanischen »Raum«Gefühles. Galilei vertieft dann den Einbruch ın den Raum durch die Perfektionierung und die astronomische Anwendung des

Teleskops,

das

fen

der

war,

bis sich

hatte,

zu

seiner

schließlich,

Mensch

Zeit

wie

auch

in Holland

Leonardo

den

Raum

erfunden

es bereits

der

Luft

worden

vorentwor-

und

den

untermeerischen Raum eroberte. Wie stark das Bedürfnis um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert war, Raum zu ge-

winnen und die Fläche, die bloße Wand — jene uralte Hohlenwand — zu durchbrechen, kommt nicht nur zum Ausdruck in

der Ablósung der Malerei von der Sakralwand ins Tafelbild,

Die perspektivische Welt

57

also in dem Übergang von der Freskomalerei zur Olmalerei, sondern selbst auf den kleinsten und alltäglichsten Gebieten. Um jene Zeit wurden die ersten Spitzen hergestellt: selbst der Stoff durfte

nicht mehr

nur Fläche

sein; sie mußte

durchbro-

chen werden, um den Hinter- oder Untergrund durchscheinen zu lassen δ, Es ist kein Zufall, daß in den Jahren, da die Perspektive den Raum als solchen erschließt, die soeben angeführten Einbrüche ın die verschiedenen Raumwelten erfolgen, welche die Welt endgültig ın eine räumliche, aber damit auch sektorhafte umgestalten. Und im gleichen Augenblick zerbirst die bis dahin noch bewahrte Einheit, und es wird nicht nur die Welt geteilt, es beginnt nicht nur das Zeitalter der Kolonien, es beginnt auch das der anderen Teilungen: das Zeitalter der Schismen und Kir-

chenspaltungen, das gleichzeitig eines der Eroberungen und der Machtpolitik, der entfesselten Technik und der Emanzipationen aller Art ıst. Die Überbetonung des Raumes und alles Räumlichen, die sich mit den Jahrhunderten seit 1500 nur verstärkt, ıst sowohl die

Größe wie die Schwäche des perspektivischen Menschen. Die Überlastung des »objektiven« Außen bringt neben seiner Rationalisierung und Haptifizierung??, die aus der übertrieben optischen Einstellung resultiert, notwendigerweise eine Hypertrophierung des dem Außen gegenüberstehenden Ich mit sich: das, was man die Ego-Hypertrophie nennen kónnte, die Uberbetonung des Ich. Dieses Ich muß immer stärker betont, eben über-

betont

werden,

um

der

sıch

ausweitenden

Raumerschließung

gewachsen zu sein; andererseits muß in dem Maße, in dem das Gegenüber des Ich, der Raum, immer stärker materialisiert und greifbar (haptisch) wird, sich auch dieses Ich selbst ımmer stärker verhärten. Auf der einen Seite bringt die Ausweitung des Raumes eine allmähliche Ausweitung und eine aus ihr resultierende Auflösung des Ich mit sich — und damit die Möglichkeit zu seiner Vermassung 6°; auf der anderen

Seite bringt

die Haptifizierung

des Raumes

eine Ver-

härtung, also eine Abkapselung des Ich mit sich — und damit die Möglichkeit zu seiner Isolation, die in der Egozentrik sicht-

bar wirdé!.

Es dürfte hinsichtlich der perspektivischen Haltung feststehen, daß nämlıch die aus der extremen Perspektivierung resultierende Raumbeherrschung mit einem Gleichgewichtsverlust, mit einer Desequilibrierung des Ich erkauft wurde. Und hinzu

58

Die drei europäischen Welten

kommt, daß die einseitige Raumbetonung, die ihren extremsten

Ausdruck im Materialismus und Naturalismus findet, ein unbe-

wußtes, immer stärker werdendes Schuldgefühl durchbrechen läßt, das der vernachlässigten Komponente unserer Erscheinungswelt, der Zeit, gilt. Heute, in der ausgehenden perspektivischen Epoche, ist ne-

ben der Raumbesessenheit, die sich selbst schon ad absurdum zu

führen beginnt, die Zeitangst das hervorstechende Merkmal. Sie äußert sich vielfältig: als Zeztsucht, insofern all und jeder darauf aus ıst, »Zeit zu gewinnen« — nur wird fast immer die falsche Zeit »gewonnen«, jene, die sich greifbar in räumliche Mehrtätıgkeit

umsetzen

läßt,

oder

jene,

die,

»hat«

man

sie,

»totge-

schlagen« werden muß. Diese Zeitangst äußert sich als Zeithaptıfizierung (die sich in den Glockenschlägen des Papstes Sabinus ankündigte), sie äußert sich in dem Versuch, die Zeit durch Materialisierung festzuhalten und in die Hand zu bekommen, da mehr als einer der Überzeugung ıst: »Zeit ıst Geld« — nur daß fast immer die falsche Zeit, jene, die sich in Geld umsetzt,

nicht aber die geltende, realisiert wird. Diese Zeitangst kommt in der Hilflosigkeit des heutigen Menschen der Zeit gegenüber zum Ausdruck, in jener Zwangsvorstellung, die »Zeit ausfüllen« zu müssen: sıe ıst also leer — und somit noch räumlich vorgestellt, als seı sie ein Eimer oder irgendein Gefäß —, sie entbehrt für das Bewußtsein des heutigen Menschen noch durchaus des Qualitáts-Charakters. Zeit ist etwas in sich Erfülltes und nicht

etwas, das »ausgefüllt« schließlich auch in dem der Hast und im Eilen tigen Menschen. Es ıst

werden müßte. Die Zeitangst kommt Fliehen vor der Zeit zum Ausdruck: in und dem »Nicht-Zeit-Haben« des heunur zu wahr: Raum hat dieser Mensch,

aber Zeit hat er nicht; die Zeit hat ıhn, denn

er ıst sich ıhrer

ganzen Wirklichkeit noch nicht bewußt. Und trotzdem, ja ge-

rade weıl er »keine Zeit hat«, sucht er die Zeit — aber meist erst

eınmal am falschen Ort; ja, daß er sıe ortet und an einem Ort sucht, ist seine Tragik. Aber die Raumgebundenheit, die in ihrer extremen Form zu einer Raumfixiertheit ausgeartet ist, läßt ıhn aus dieser Raumbefangenheit heraus auf keinen Ausweg kommen; bloße Auswege oder Wege sind hier auch illusorisch: die Zeit ıst weglos. Obwohl die Welt weiter wurde, wurde sie enger (nämlich scheuklappenmäßig verengt), und die Betonung dessen, was am Ausgangspunkt dieser perspektivischen Weltvorstellung

Das

stand,

immer

das Sektorhafte,

deutlichere

Sehen

verstärkte sich immer

engte den

Sichtsektor

mehr.

immer

Die perspektivische Welt

59

stärker ein: je »tiefer« und »weiter« der Mensch in den Raum

sieht, desto schmaler und enger wird die Sehpyramide, Sehsektor.

der

Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählıch herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche

mit sıch, das außer den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ıhr resultierende Fanatismus. Der Angstliche, der Fliehende und der Verlorene (sei er dies in bezug auf sein Ich oder in bezug auf die Welt, ist gleichgültig, denn es gilt gleich für beide Bezüge) ist in seiner vitalen Bedrohtheit immer intolerant und »sieht« nur

einen sich in nebelhaften

Weiten verlierenden

»Fluchtpunkt«

(jenen Fluchtpunkt der linearen Perspektive, worüber einst ein Leonardo schrieb), den er fanatisch glaubt verteidigen zu müssen; denn anders ginge er seiner Welt verlustig. Der europäische Mensch, als Einzelner wie als » Vermasster«, sieht heute nur noch

seinen Sektor. Auf allen Gebieten hat heute dieser Satz Gültigkeit; auf dem religiösen genauso wie auf dem politischen, auf dem sozialen genauso wie auf dem wissenschaftlichen. Das Aufkommen des Protestantismus leitete die Sektorierung des Religiósen ein; das Aufkommen des Nationalstaates brachte die Sektorierung des christlichen Abendlandes in sektorhafte Einzelstaaten; das Aufkommen der politischen Parteien sektorierte das Volk (oder die ehemalige christliche Gemeinschaft) in parteiprogrammgebundene sektorhafte »Interessengemeinschaften«; und in der Wissenschaft führte dieser Prozefs der Sektorierung zu dem heutigen Zustand: führte zu den Fachwissenschaften und allgemein zum Spezialistentum und den »Spitzen-Leistungen« des Scheuklappenmenschen. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr:

die

re-ligio,

die

Rückbindung,

ist

fast zerrissen,

der

»Schnitt der Sehpyramide« hat sie gewissermaßen zerschnitten.

Und ein bloßes Vorwärts und Weiter (das schon Fluchtcharakter

angenommen hat) führt nur in weitere sektorhafte Detaillierung, letztlich zur Atomisierung. Was dann übrigbleibt, ist (wie im Trichter Hiroshimas) — amorpher Staub. Wahrscheinlich wird ein Teil der Menschheit — zumindest »geistig«, sprich: »seelisch« — diesen Weg gehen. Wenn wir das Gesagte zusammenfassen, ıst dies das Bild: einerseits Angst (vor der Zeit und vor der Machtlosigkeit ıhr gegenúber), andererseits »Begliicktsein« (úber die materielle Raumbeherrschung und úber den Machtzuwachs daraus); und Isolation (des Einzelnen, der Gruppen und Kulturkreise) auf der

60

Die drei europäischen Welten

einen, Vermassung (der gleichen Einzelnen in Gruppen und Interessengemeinschaften) auf der anderen Seite: diese Spannung

zwischen Angst und Beglücktsein, zwischen Isolation und Vermassung, ist das Endergebnis einer Epoche, die sich bereits über-

blüht hat. Diese Epoche dafür

sein, daß

ein neues

könnte jedoch gleichzeitig Gewähr »Ziel«

erreicht wird,

bedienten

wir

uns ıhrer, so wie sich der Pfeil der überspannten Bogensehne

bedient; doch wie jeder Pfeil, so müßte auch sie, um dies zu erreichen, sıch von den Extremen lösen können, welche dıe Ab-

flugsspannung

ermöglichen:

sıe muß,

wıe der Pfeil auf der

Sehne, den Punkt finden, der hier bereits das dortige »Ziel«

in

sich trägt: das Gleichgewicht zwischen Angst und Beglücktsein,

zwischen Isolation und Vermassung; nur dann kann sich diese Epoche selbst aus der defizient gewordenen Unperspektivität und Perspektivität befreien: nur dann kann sie das gewinnen,

was wir, auch seines befreienden Charakters wegen, die aperspektivische Welt nennen. 3. Die aperspektivische Welt

Ein Aufrif der aperspektivischen Welt kann sich nur allmählıch ergeben. Er wird, wie wir hoffen, an Kontur und Dichte in dem Maße gewinnen, als wir vor allem auch die sogenannten vergangenen Hintergründe und Zusammenhänge darzustellen Gelegenheit haben werden; denn etwas sıchtbar und anschaulıch

machen

kann

man

nur,

ındem

man

das

Darzustellende

gegen einen Hinter- oder Untergrund hält, damit es sich klar und deutlich von ıhm abhebe und nicht mit ıhm verwechselt

werde. Obwohl an dieser Stelle unserer Ausführungen diese Voraus-

setzungen noch ın keiner Weise erfüllt sınd, scheint es uns doch nötig, den Grundcharakter dessen zu umreißen, was wir als Aperspektivität bezeichnen. Der Versuch muß gewagt werden, damit ein Hinweis darauf gegeben werden kann, in welcher Weise die Aperspektivität zum Ausdruck gelangt. Dieser Hinweis, mag man ihn nun als These auffassen oder als orientierenden Uberblick auf unsere Grundidee, wird erst

dann seine Beweiskraft erhalten konnen, wenn wir gegen den noch darzustellenden Hintergrund spater nicht nur die neuen AufSerungsformen der Malerei, sondern auch die der anderen Künste halten kónnen. So sei denn aus den zahlreichen neuen

Die aperspektivische Welt

Aussageformen

vorerst

nur eine der

anschaulicheren,

61

gerade

die der Malerei, herausgegriffen, die möglicherweise unsere An-

TI

NS

S

sicht deutlich zu machen vermag.

/

f y

Abb. 1: Pablo Picasso, Zeichnung (1926) (Originalgröße: 31 x 46,7 cm)

In den letzten Jahrzehnten haben sowohl Pıcasso wıe Braque einige Bilder gemalt, deren Wertung bisher, wie uns scheinen

will, von einem Standpunkt aus erfolgt ist, der ıhnen nicht gerecht werden kann. Solange wir eine Zeichnung wie die hier wiedergegebene von

Picasso (siehe Abb. 1) nur vom rein Asthetischen her betrachten,

62

Die drei europäischen Welten

wird die Vielzahl der Linien (selbst wenn die einzelnen in sich

»schón« sein mögen) uns eher verwirren als mit jenem Gefühl des Schönen erfüllen, das wir gewohnt waren, als eines der Kriterien bei der Bildwertung anzulegen. Bilder oder Zeichnungen Picassos

wie

diese

fordern

mehr

als ein bloßes

»Anschauen«,

das sich nur auf die Kategorie des »Schönen« gründet, was zumindest 1m Deutschen zur Genüge aus der bisher unbeachteten Wurzelgemeinschaft der Wörter »schón« und »schauen« hervorgeht 62. Beide Wörter haben vorwiegend psychischen Charakter: das »Schauen« ist die Realisationsform der Mystik, das »Schöne« ist nur eine, die lichtere, Manifestationsform der Psyche: beide schließen, wenigstens für den Europäer, weitgehend die Konkre-

tisierung der Ganzheit, nicht aber die einer Einheit aus, denn sie

sind nur eine partielle Aktivierung beziehungsweise eine Teilform jener Harmonie, die ihrerseits nur ein Teilaspekt der Ganzheit ist. Das bloße Schauen oder das bloße Schönfinden können

aus ihrer psychischen Befangenheit und Gebundenheit heraus

die Ganzheit höchstens annähern, jedoch kaum realisieren δ΄. Aber gerade die Ganzheit kommt in dieser Zeichnung Picassos zum

Ausdruck.

Sie kommt

deshalb

zum

Ausdruck,

weil in ihr

erstmals die Zeit in. die Darstellung einbezogen ist. Wenn wir diese Zeichnung betrachten, so sehen wir mit einem Blick den ganzen Menschen: das heißt, wir sehen nicht nur einen seiner Aspekte oder seiner móglichen Ansichten, sondern wir sehen gleichzeitig seine Frontal-, Seiten- und Rückenansicht, sehen also alle diese verschiedenen Aspekte auf einmal. Um es sehr grob auszudrücken: es ist uns nicht nur das zeitliche Herumgehen um die menschliche Gestalt erspart, wobei wir in einem Nacheinander ihrer verschiedenen Teilansichten gewahr wersen, sondern auch die nur in der Vorstellung realisierbare Zusammenfassung der nacheinander gesehenen Teilaspekte. Diese Bündelung der vielfältigen Sehsektoren zu einem Ganzen war bisher nur in der zusammenfassenden Erinnerung der nacheinander gesehenen Aspekte, also nur 1n der Vorstellung, realisierbar, und diese »Ganzheit« hatte demzufolge nur abstrakten Charakter. Auf dieser Zeichnung jedoch sind der Raum und der

Korper durchsichtig geworden. Diese Zeichnung ist in diesem Sinne weder unperspektivisch: also nur zweidimensional eine

Fläche darstellend, die in sich den Körper befangen hält; noch

ist sie perspektivisch: also nur dreidimensional einen Sehsektor aus der »Wirklichkeit« herausschneidend, die den Körper mit atmendem Raum umgibt; sie ist in unserem Sinne aperspekti-

Die aperspektivische Welt

63

visch: also vierdimensional die Zeit (als Zeit und nicht in ıhrer

Räumlichung) aufnehmend und sie damit konkretisierend. Da-

mit

aber

macht

sie das

Ganze

einsehbar,

das

nur

eingesehen

werden kann, weil die bisher fehlende Zeitkomponente in ihrer gesteigerten und gültigen Ausdrucksform: der Gegenwart, zum Ausdruck kommt: es ıst nicht mehr der Augenblick (dıe, wıe der Ausdruck besagt, durch das Sehorgan erblickte, also räumliche Zeit), sondern es ist die reine Gegen-

wart, die Quintessenz der Zeit, die uns aus dieser Zeichnung entgegenleuchtet. Jeder Körper (insoweit er auch raumhaft aufgefaßt wird) ist nichts anderes als erstarrte, geronnene, dichtgewordene, materialisierte Zeit, die zu ihrer Entfaltung, Formwerdung und Erstarrung des Raumes bedarf, der ein Spannungsteld darstellt und infolge seiner latenten Energetik Trager der akuten Zeitenergetik ist, wobei sich die beiden energetischen Prinzipien, das latente des Raumes und das akute der Zeit, gegenseitig bedingen. Wenn wir diesen Gedanken — unseren Ausführungen vorausgreifend — schon jetzt formulierten, so geschah es im Hinblick auf die angedeutete Zentralstellung, die wir der Gegenwart einräumen; denn sowohl Raum als auch Zeit sind für unser Wahrnehmungsvermogen als Kórper nur in der Gegenwart oder durch Gegenwärtigung existent. Die Gegenwärtigung,

die aus der Zeichnung Picassos spricht, wurde in seinem Werke erst möglich, nachdem er in den dreißig ihr voraufgegangenen Schaffensjahren alle jene Zeitstrukturen der Vergangenheit, die

in ihm (wie in jedem von uns) latent waren, insofern zu aktualisieren und damit ins Bewußtsein zu heben vermochte, als er in

einer Vielfalt einstiger Stile malte. Dieser Vorgang ist bei Picasso ein- und erstmalig: er vermochte genuin Eigenstes aus seinem primitiv-magischen Erbe heraus (seine Negerkunstepoche$*), aus seinem mythischen Erbe heraus (seine hellenisierend-archaische Epoche),

aus seinem

klassizistisch, schon

rational

beton-

ten, formstrengen Erbe heraus (seine Ingres-Epoche) darzustellen; erst diese Leistungen ermöglichten die konkretisierende Temporik, wie wir seine und seiner Zeitgenossen neue Art zu malen

nennen möchten; sie macht nicht nur den Grundcharakter dieser

einen Zeichnung aus, sondern ist generell gültig. Erst dort, wo

die Zeit nicht mehr in ihre drei Phasen: Vergangenheit, Gegen-

wart und Zukunft, zerfállt, sondern zur reinen Gegenwart wird,

ist sie konkret geworden. In dem MafSe, in dem Picasso von Anfang an der Gegenwart vorauseilte und damit Zukünftiges

64

Die drei europäischen Welten

in die Gegenwart seines Werkes hereinholte, in dem gleichen Maße hat er das Vergangene gegenwärtig zu machen vermocht: was schon wieder dem Schlaf (des Vergessens) verfallen war und was noch im Schlafe (als einst Kommendes) lag, wurde in die Wachheit der Gegenwart gerufen. Diese zeitliche Ganzheit, ım Räumlichen verwirklicht und an einem Körper sichtbar und

durchsichtig gemacht, das ıst die einzigartige Leistung dieses

Temporikers.

Mit dem Ausdruck » Temporiker« bezeichnen wir ın der Folge

jene beiden großen Malergenerationen,

die, auf die Klassıker,

Romantiker, Naturalisten folgend, seit etwa 1880 und bisher

ohne Zweifel unbewußt

den Versuch

unternahmen,

die Zeit zu

konkretisieren. Von diesem Gesichts- oder Zeitpunkt aus erhalten alle jene Versuche der verschiedenen Richtungen, der Im-

pressionismus, Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, neuer-

dings der Tachismus und so fort ihre gemeinsame

Kennzeich-

nung als das Ringen um die Konkretisierung und Realisierung

der Zeit. Daß diese Versuche eine Unzahl an Fehllösungen enthalten, ist nur zu erklarlich; sie wurden, wie wir gesehen haben,

bei dem Suchen nach der Perspektive, der Raumrealisierung, ja

auch nicht vermieden. Eine Begleiterscheinung durchaus chaotı-

schen Charakters — und Chaos wird stets dort sichtbar, wo eine bisher geltende Welt sich umzugestalten beginnt — brachte bei-

spielsweise der unumgangliche Versuch mit sich, das Vergangene gegenwärtig zu machen: bei diesem Versuch wurden viele (und

nicht zuletzt die Mehrzahl der Surrealisten sowie nachher die der Tachisten) von einer Zeitinflation überschwemmt, die sie verschlang: eine Unmenge abgestorbener Schlacken der Ver-

gangenheit wurde wieder heraufgespült und »belebt«; sie überschwemmte

jene, die das auferweckte

Erbe nicht zu meistern

vermochten — ein Vorgang, der seine Parallele in der Inflation der

bewufStwerdenden

unbewußten

Residuen

hat,

die

durch

Freud ausgelöst wurde. Statt der erhofften Ganzheit wurde ıhnen eine Scherbenwelt beschert, statt die erhoffte geistige Beherrschung zu erlangen, wurden sıe nur noch deutlicher zu

Psychisten,

womit wır jene Kategorie der heutigen abendlän-

dischen Menschheit bezeichnen, die sich aus der Befangenheit ın der Psyche, aus der psychischen Befangenheit, nıcht lösen kann €. Selbst bei Picasso treffen wir auf Bilder, in denen

sich

dieser Prozeß der chaotisch-psychischen und psychistisch gewordenen Inflation spiegelt. Hätte er nur Bilder und Zeichnungen dieser chaotischen Art geschaffen, so könnten wir ıhn nicht

Die aperspektivische Welt

mit Gewißheit

als einen der größten Temporiker

65

bezeichnen.

Aber es gibt, besonders seit der Mitte der dreißiger Jahre, noch eine große Anzahl anderer Bilder Picassos, die das temporische Bemühen einer Lösung entgegenführen. Wir wollen hier nur auf zwei Darstellungsarten eingehen: auf gewisse Porträts und auf eine Landschaft. (Inwiefern die Temporik beispielsweise in Pi-

cassos Stilleben zum Ausdruck kommt und inwiefern temporische Ansätze bereits im Impressionismus und früher [schon bei Delacroix] vorhanden sind, darüber wird später noch Aus-

führliches zu berichten seın.) Bei den erwähnten Porträts von Picasso denken wir an die

vielen seiner Werke (seıt etwa 1918), dıe unter Vernachlässigung

jeglicher ästhetischen Rücksichten die Dargestellten gleichzeitig

»en face« und »en profil« zeigen®® (siehe Abb. 2 auf Tafel 1). Das, was auf den ersten Blick als Verzerrung erscheint oder als Dislozierung, beispielsweise der Augen, wird zu einer sich ergänzenden Überschneidung zeitlicher Faktoren und räumlicher Sektoren durch das Wagnis, sie auf eine Bildfläche gleichzeitig und gleichräumig zu bannen. Derart erhält das Dargestellte jenen konkreten Ganzheits- und Gegenwarts-Charakter, der nıcht aus dem seelisch (— psychistisch —) betonten Schónheitsverlangen genährt wird, sondern der aus der Konkretisierung der Zeit lebt.

Sowohl auf der Zeichnung (s. S. 61, Abb. 1) als auch auf diesen Porträts wırd das Unvorstellbare und das eigentlich Undarstellbare evident: die Zeit wird an ıhrem eigensten Medium und

Produkt, dem Körper (oder dem Kopf), sichtbar, da sie dessen Strukturen durchsichtig macht. Daß diese Art des temporischen Porträts nicht etwa eine

bloße, womöglich

»zufällige«

Spielerei Pıcassos darstellt, son-

dern dem ganz bestimmten Ausdrucksverlangen entspricht, die zum Durchbruch drängende Temporik zu gestalten, geht daraus hervor, daß wir bei Picasso ansatzmäßıgen Lösungsversuchen dieser Art schon früh begegnen und daß auch Braque ın den gleichen Jahren und unabhängig von Picasso ähnliche Porträts malte.

Hinsichtlich Picassos verweisen wir auf seine beiden Bilder

des »Harlekin mit Guitarre« der Jahre 1918 und 192497, dann

auf die beiden großen Gemälde von 1925, »La cage d’oiseau« und »Nature morte a la tete de plätre«, die Picasso selbst als zwei seiner reprasentativsten Werke dadurch hervorhob, daß sie unter den neunzehn von ıhm ım Jahre 1935 ausgewählten Wer-

66

Die drei europäischen Welten

ken erscheinen, die in der Publikation von Sabartes abgebildet

wurden$?; ferner verweisen wir auf die zwei Porträts des Jah-

res 1927, »Buste de femme en rouge« und »Femme«, sowie auf das der »Femme au bonnet rouge«$? von 1932. Was Georges Braque"? angeht, der 1939 sein griechisches Erbe gestaltete”!, so finden wir erste deutliche Ansätze zu einer temporischen Portrátbehandlung in dem »Frauenkopf« von 1930,

dann

in der »Sao«

von

1931;

diese Art der Porträtdar-

stellung kommt von dem Jahre 1936 ab?? bei Braque immer stärker und gemeisterter zum Durchbruch (siehe Abb. 3 auf

Tafel 1).

Hinter diesen Werken steht die gesammelte Kraft der beiden stärksten Maler unserer Zeitepoche, und aus dieser bloßen Aufzählung mag hervorgehen, in welchem Maße sowohl die Temporik als auch der Versuch, sie zu gestalten, die heutigen wähnten

Auferungsformen beherrscht. Auch auf dem erLandschaftsbild Picassos konnten wir jene Durch-

unserem

Wissen

sichtigmachung des Zeitlichen beobachten, welche die angeführten Porträts charakterisiert. Da es von diesem Bild

Reproduktion ben.

nach

nur

eine,

jedoch

gibt, sei der Versuch

schwer

zugängliche

gewagt, es zu beschrei-

Als ich im Herbst 1938 Picasso wiedersah, nachdem er, wenn

ich mich recht erinnere, aus der Bretagne nach Paris zurückgekehrt war, zeigte er mir die neuen Olbilder, die er im Sommer

jenes Jahres gemalt hatte. (Es war in seinem Atelier im »Quar-

tier Latin«, in dem sein »Guernica« entstanden war und fast den

Raum gesprengt hatte.) Unter den neuen Bildern fesselte mich

besonders ein kleines Bild, das die Dächerlandschaft eines Dorfes, anscheinend von einem Fenster aus gesehen, darstellte; es

war fast flachig gemalt und von keinem zentralen Lichtpunkt beleuchtet: das ganze Bild zeigte nichts als eine Stufung fast platter Dächer vielfaltigster Farbungen, die zuerst wie eine bloße Anhäufung von rechteckigen Flächen anmuteten. Ich glaubte zunächst, dieses Bild beschäftige mich vor allem wegen seiner Farbfülle,

bis

mir

allmählich

klar

wurde,

was

der

wirkliche

Grund für mein Interesse war: die räumliche Unfixiertheit der

Zeit, die Tatsache, daß nicht der Augenblick

auf ıhm zur Dar-

stellung gelangte, sondern die dauernde, ja ewige Gegenwart.

Die Schatten, dıe dort ın den Farbtönen zutage traten, hatten ihren

Grund

nicht

in

einem

Sonnenstande,

der

auf

einen

bestimmten Augenblick zeiträumlich exakt fixierbar gewesen

Die aperspektivishe Welt wäre, — so wie man

etwa vor einer Landschaft

Watteaus

67 oder

Poussins genau angeben könnte, daß sie 1n jenem Park, in jenem

Jahr, jenem Monat, an jenem Tage, zu jener Stunde gemalt und,

infolge ihrer eindeutigen Schatten, exakt auf jene Sekunde hin fixiert waren: auf jenen einen bestimmten Augenblick 1m Raum. Die Schatten auf dem Dächerbild Picassos dagegen spiegelten in ihrer Verschiebung und Lagerung den naturhaften Zeitablauf wider: Picasso hatte diese Landschaft gemalt, indem er es wagte, alle Beleuchtungen, alle durch den sıch ändernden Sonnenstand ausgelösten zeitlichen Bewegungsmomente (die in der Verschiebung der Farbschatten sichtbar werden) mitzumalen, solange er selber an dem Bilde arbeitete: ein Einfangen der auf die Natur bezogenen Gegenwart, wie es, gerade wegen seiner Einfachheit, kuhner

nicht

denkbar

ist. Nicht

der

raumfixierte,

zeiträum-

lichende Augenblick wird auf diesem einzigartigen Landschaftsbild sichtbar, sondern die in ıhrer Ganzheit durchsichtig

werdende

Gegenwart;

und

neue

die

Gegenwart,

die

in

wesentlichen

Akzidenzen mit dem übereinstimmt, was wir Ewigkeit nennen: denn beiden ist gemeinsam, daß sıe ungreifbar und unvorstellbar sein sollen. Beide aber werden in ıhrer Durchsichtigkeit in diesen Bildern Picassos präsent, evident und damit konkretisiert. Die Aperspektivität, in der sich eine im Entstehen begriffene daher

Bewußtseinsstruktur

ausdrückt,

kann

aber

in

allen ihren Konsequenzen, den negativen wie den positiven, nıcht wahrnehmbar gemacht werden, solange nıcht gewisse Begriffe, Haltungen und Denkformen, die bıs anhın gültıg waren und noch sınd, näher betrachtet und geklärt werden. Ohne diese Klärungen würden wır ın den Fehler verfallen, »Neues« durch »alte« Formulierungen, die dem »Neuen« jedoch inadáquat sind, auszudrücken.

Den Nachweis dafür, daß sich die Konkretisierung der Zeit nıcht nur ın den bısher erwähnten Beispielen der Malereı voll-

zieht, sondern außer in den Naturwissenschaften auch in der Literatur, Dichtung??, Musik, Plastik und auf vielen anderen

Gebieten, werden wir für alle diese Gebiete noch zu erbringen

haben; dann nàmlich, wenn wir jene für das Verständnis der Aperspektivität notwendigen neuen Formulierungen herausge-

arbeitet haben werden. Allein schon die angedeutete Verquickung von Zeit und Psyche, die uneingesehen zu chaotisierender Auswirkung im Surrealismus und später dann im Tachısmus kam, machte es deut-

68

Die drei europäischen Welten

lich, daß wir den arationalen Charakter der aperspektivischen Welt nur dann evident machen können (um nur ein Beispiel unter vielen herauszugreifen), wenn wir Vorkehrungen treffen, daß die Aperspektivität nıcht als eine bloße Regression ıns Irrationale (der unperspektivischen Welt) oder als weitere Progression ins Rationale (der perspektivischen Welt) interpretiert wird. Der Beharrungstrieb 1m Menschen verleitet ihn stets dazu, das tatsächlich »Neue« oder zumindest »Neuartige« (!) dort, wo es ihm begegnet, in die Kategorien des Bekannten einzuordnen oder es bestenfalls als dessen kuriose Spielart zu betrachten. Die Etiketten der angebeteten Ismen liegen stets bereit und warten darauf, ein neues Opfer abstempeln zu können. Diesen neuen Götzendienst gilt es zu vermeiden. Das ist schwerer, als es auf den ersten Blick hın scheinen mag. Nehmen wir nochmals das konkrete Beispiel, das sich aus der Zeit-Psyche-Verquicktheit

ergibt:

solange

nur Teile der Zeit,

solange nur bruchsttickweise Vergangenheitsfetzen aus dem Unbewußtgewordenen ins Tageslicht heraufgeschleudert werden, fiihrt dieser Ausbruch des Vergangenheitsaspektes der Zeit zu

Chaos und Desintegration; in dem Moment

aber, da es gelingt,

so wie es Picasso gelungen ist, vergangene, also bereits wieder latent gewordene »Zeit« in der ihr entsprechenden Struktur und Ausdrucksform dem Vergessen zu entreißen und sie gestaltet von neuem sichtbar und damit gegenwartig zu machen, erhellt sich die Bedeutung, die wir für die Bildung der Aperspektivitat den vergangenen Zeiten und ihren verschiedenen Bewuftseinsstrukturen zuschreiben mússen. Ihr uneingesehenes

Erbe,

das jederzeit

akut werden

kann,

droht

uns,

legten wir uns nicht Rechenschaft davon ab, zu überwältigen und würde uns damit der Möglichkeit berauben, das Neue mit der notwendigen Wachheit und Selbstandigkeit wahrzunehmen. Aus diesem Grunde werden wir im folgenden Kapitel jene

zasurierenden Geschehnisse betrachten, die sich, wie wir es bezeichnen wollen, als Bewußtseinsmutationen in der Menschheit

ergeben haben; ıhre Folgen sind in Form der verschiedenen Be-

wußtseinsstrukturen

in jedem von uns latent und, da sie uns

selber konstituieren, noch in uns wirksam. Hatte es bereits, wie wir hoffen, der

bisherige

kurze

Ab-

rıß über das Wesen der unperspektivischen und der perspektivischen Welt deutlich gemacht, ın welchem Maße sıch die aperspektivische Welt auf die perspektivische stützen

Die aperspektivische Welt muß,

um

sich von ihr befreien zu können,

lage für die »aperspektivische Welt«

weiter

werden,

können.

als wir

69

so wird die Grund-

tragfähıger und um so

thre Fundamente

»zeitlich«

vertiefen

Drittes Kapitel

Die vier Bewußtseinsmutationen

1. Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation Etwas Neues kann man

nur finden, wenn

man das Alte kennt.

Der Satz, daß alles schon einmal dagewesen sei und es nichts Neues unter der Sonne (und dem Monde) gebe, dieser Satz hat nur eine bedingte Richtigkeit: es ıst alles immer schon dagewesen, doch jeweils auf eine andere Weise, ın einem anderen Lichte,

in einer anderen Bewertung, in einer anderen Verwirklichung, ın einer anderen Sıchtbarwerdung.

Die Ansätze zu einem heliozentrischen Weltbild bei Aristarch, zu einer Relativitatstheorie bei Zenon, einer Atomtheorie bel Demokrit, einer Raumerfassung bei Euklid, und jene anderen

ersten Durchbrüche: der zu einer entmythisierenden Logik bei Sokrates, der zu einer Autobiographie bei Platon (in dessen » Siebentem Brief«), zu einer Geschichts-Schreibung bei Herodot: alle diese Ansätze sind Vorausnahmen späterer Blüten, sind Keimlinge, die zu ıhrer Zeit aus Mangel an Nährboden oder infolge fehlender Aufnahmefähigkeit der damaligen Epoche nicht sogleich wirklich, also nicht sofort sichtbar wirkend zu werden vermochten. Selbst ein Petrarca, seiner Zeit vorauseilend, erschrickt in dem Moment, da er die Landschaft entdeckt, ob der Vermessenheit dieser Entdeckung und scheucht, zutiefst beunruhigt, diesen Gedanken fort, Gott anheimstellend,

was seiner Empfindung nach Gottes und nicht des Menschen ist. Auf ähnliche Weise lehnte auch die erste Generation unseres

Jahrhunderts die neuen Entdeckungen

ab — ja, durch eine re-

gressive Bewegung glaubte sie ıhnen sogar jeden Nährboden

entziehen zu können, eine Reaktion, auf die wir bereits ausführ-

lich hingewiesen haben!. Denn das »Neue«? anzunehmen, es sichtbar werden zu lassen, begegnet immer dem stärksten Widerstande, weil es die Überwindung von Althergebrachtem, Erwor-

benem und mühselig Gesichertem erfordert. Dies aber ist gleich-

bedeutend mit Schmerz, Leid, Kampf,

Unsicherheit und ähn-

lichen Begleiterscheinungen, die jeder soweit als moglich zu vermeiden trachtet. Doch nicht nur diese Angst vor dem Leid hindert dıe Akzeptierung neuer Gegebenheiten, sondern auch das Gefühl der Bedrohung, das aus der Unmöglichkeit des Verstehens erwächst,

Über Entwicklung, Entfaltung und Mutation

71

weil man der alten Bewuftseinsstruktur noch zu stark verhaftet

ıst: so sieht denn von jenem Gesichtspunkt das »Neue« überwirklich und übernatürlich aus. Und vor allem: es sıeht nıcht nur so aus, sondern von jener Bewußtseinsstruktur aus betrachtet ist es äber ihrer Wirklichkeit, ist es tatsächlich “ber ihre Natur

hinaus. Das einzige, was dann noch retten kann, ıst der Versuch, das Neue dem Alten anzugleichen, aber dadurch verliert es freilich seinen Echtheits- und Wahrheits-Charakter. Bei diesen Versuchen, das Neue vom Alten her mit den alten Begriffen erklären zu wollen, statt es in seiner Ursprünglichkeit gegen den alten Hintergrund zu halten, bei diesen unzulänglichen Versuchen setzen die Mißverständnisse ein, die Mißdeutungen und die Mifsliebigkeiten. Um diese Mißlichkeiten zu vermeiden und um der Ursprünglichkeit des Neuen gerecht zu werden, müssen wır genau das tun, was ein jeder zu tun gezwungen

ıst, der bemerkt, daß er

eine neue Situation in ihrer gänzlichen Neuartigkeit zu realisieren hat, wenn anders er nicht in einer bestimmten Lebenslage oder Lebenshaltung hoffnungslos verkümmern will. Dies aber kann nur geschehen, wenn er sich über das Bisherige klarwurde. Und in diesem Sinne wollen wir einen Blick auf jenes einzigartige menschheitliche Ereignis werfen, welches das Grundthema aller menschlichen Bemühung zu sein scheint: die Entfaltung

des Bewufstseins?.

Wenn wir auf diese Bemühung der Menschheit zurückblicken, lassen sich als aus dem Ursprung, der archaischen Grundstruktur, hervorgehend drei Bewußtseinsstrukturen unterscheiden: die magische, die mythische und die mentale. Sollte es uns nun in den folgenden Ausführungen gelingen, die Inhalte, Realisationsformen und Lebenshaltungen, die Ausdruck dieser Strukturierungen sind, herauszuarbeiten, so wären wir fahig, feststellen zu können, in welchem Maße die eine oder die andere in uns selber

(als einzelnem) nicht nur vorwiegt, sondern unser Verhalten zur Welt und unser eigenes Urteil über sie bestimmt. Dann könnten

wir auch ohne die Gefahr, Altes mit Neuem

zu vermischen, die

neue Struktur zu erwágen, zu beschreiben und zu beurteilen

versuchen,

die wir als die integrale Bewufstseinsstruktur * be-

zeichnen wollen, und deren im Entspringen befindliche Weltmodalitát wir die »aperspektivische Welt« nennen. Doch bevor wir uns der Betrachtung dieser uns noch heute konstituierenden

Strukturen

zuwenden,

müssen

wir

uns

über

den kritischen Wert der vorgeschlagenen strukturellen Unter-

72

Die vier Bewußtseinsmutationen

scheidungen klarwerden. Wenn wir es unternehmen, das, was man sich angewöhnt hat, »die Entwicklung der Menschheit« zu nennen, in seinem zeitlichen Ablauf darzustellen, so müssen wir uns bewußt bleiben, daß dies lediglich ein Versuch ıst, Geschehenes zu strukturieren, damit wir es übersehen können. Dabeı

wollen wir verfälschende Begriffe, wie »Entwicklung« und »Fortschritt«, nach Möglichkeit ausschalten: die behagliche Vorstellung von einer fortschreitenden, kontinuierlichen Entwicklung ist antiquiert. Sie war über 200 Jahre lang Mode: seit der 1725 erfolgten Publikation von Giambattista Vicos »Principi di scienza nuova d'intorno alla comune natura delle nazioni«?. Dieser Entwicklungsgedanke war vielleicht eine gute Arbeitshypothese, wurde aber mit der Zeit als eine allgemeingültige Realıtät genommen, während ihr nur eine beschränkte zukommt, und zeitigte im biologisierenden Spenglerismus die bekannten Konsequenzen. Kein wirklich entscheidender Prozeß, der also mehr ist als ein bloßes hier- und dorthin tastendes, fast

spielerisches Geschehen mit seinen Vor- und Rückläufigkeiten verläuft kontinuierlich, sondern stets quantenmafsig, also in Sprüngen, oder, wenn wir es nicht physikalisch, sondern schein-

bar biologisierend formulieren wollen: er verläuft mutierend, d. h. gleichfalls spontan, indeterminiert, also sprunghaft; und zwar insofern — und dies ist eine Einschränkung®, die besonders bei der Anwendung dieses Begriffes auf psychische Vorgänge gemacht werden muß —, als wir der wahrscheinlich unsichtbar verlaufenden Prozesse erst dann ansichtig werden, wenn sie genügend stark geworden sind, um sich, infolge der gewonnenen Virulenz, zu manifestieren. Das, was scheint, ıst nichts anderes als die von

uns als Kontinuität eruns in den Geschehens-

ablauf nachträglich hineinkonstruierte Reihe von Übergängen, mit deren Hilfe wir dem Geschehen einen logischen, kausalen, determinierten und zudem finalen, uns beruhigenden Kontinuitáts-Charakter verleihen.

Diese und die folgenden Ausführungen sollen unmißverständlich deutlich machen, welcher Art das von uns gemeinte Mutationsgeschehen ıst: weder biologisch, noch historisch, sondern geistig.

Es käme einer Mifideutung gleich, wenn der hier für das Mutationsgeschehen verwendete Mutationsbegriff assoziativ biologisch verstanden würde. Halten wir deshalb mit allem Nachdruck folgendes fest: Der biologischen und der bewuftseinsmafsigen Mutation ist

Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation

73

zwar eines gemeinsam: die spontane, gewissermaßen zeitfreie Schöpfung neuer Arten, Fähigkeiten oder Strukturen, die, ein-

mal vollbracht, vererbbar bleiben. Sie unterscheiden sich jedoch

in einem wesentlichen Punkte. Die biologische Mutation führt zu Spezialisierung; als solche, als spezialisierende und reduzierende,

können

wir sie als Minus-Mutation

bezeichnen.

Die

bewußtseinsmäßige Mutation dagegen führt zu Überdeterminierung, zu struktureller Anreicherung, zu Dimensionsgewinnen;

als solche, als intensivierende und induzierende, können wir sie als Plus-Mutation bezeichnen; dabeı ist also die Minus-Zu-

schreibung als determinierend-restriktiv, die Plus-Zuschreibung dagegen als überdeterminierend aufzufassen. Übrigens findet

sıch der Gedanke, daß Mutationen von Plus-Charakter erwägenswert seien, auch beı C. F. v. Weizsäcker’.

Möglicherweise hat unser Mutationsbegriff eine anscheinend biologische, weil gehirnanatomisch bedingte Verankerung, wo-

bei es jedoch durchaus offen bleibt, ob es sich dabei um eine

organisch eigenbedingte Weiterentwicklung oder um eine durch das geistige Prinzip »hervorgerufene« Änderung handelt, also um eine Plus-Mutation. Diese Vermutung liegt nahe, da es stets das Übergeordnete ist, welches anscheinend immer den Menschen dazu befähigt hat, daß er das notwendige und den jeweiligen Erfordernissen entsprechende Organ ausbildete. So war zuerst das Licht, dann das Auge, zuerst das Wort, dann der aussagende Mund, zuerst der Gedanke, dann das Großhirn, das den Gedanken nachdenken konnte (oder schlechthin unser men-

tales Denken ermöglichte) 8. Diese Verankerung besteht in den anscheinend »ex nihilo«

auftretenden, dann erblich werdenden Änderungen des Gehirns,

deren Möglichkeit übrigens Lecomte du Noüy mit den nötigen Vorbehalten ın Erwägung gezogen hat?. Obwohl diese Gedankengänge seinerzeit (um 1950) von der Gehirnforschung abgelehnt wurden, scheint neuerdings (um 1960) Hugo Spatz sıch anbahnende Änderungen des Gehirns, die neue Rezeptionsfähigkeiten ermöglichen, gehirnanatomisch nachgewiesen zu haben 70. (Dann wäre dies gewissermaßen ein geistig bedingter mutationsmäßıger Vorgang, der parallel zu der oben erwähnten Bildung

des Großhirns

stünde, welches sich während

der Bewufstseins-

mutation aus dem magisch-mythischen Bereich in den mentalen herausbildete und in den höher und nach vorn gewölbten Stirnen der Griechen erstmals physischen Ausdruck angenommen hat.)

74

Die vier Bewußtseinsmutationen

Hinsichtlich einer vom Biologischen ausgehenden Interpre-

tation der Bewußtseinsmutationen sei jedoch verwahrend darauf hingewiesen, daß infolge der Definition, die wir ihr

gaben, die terminologische Transponierung eines Begriffes hier wie allenthalben statthaft ist. Oder sollte es, um ein Beispiel zu gebrauchen,

das Erwin

Schrodinger

einmal

anführte,

nur

der Medizin und der Algebra erlaubt sein, für verschiedene Gegebenheiten den gleichen Terminus zu verwenden, beıspielsweise den des »Bruches«? Knochenbrüche und algebraische Brüche haben miteinander genausoviel oder genausowenig zu tun wie einerseits biologische, andererseits bewußtseinsmäßige

Mutationen !!.

Es

besteht

kein

Grund,

diesen

Begriff durch einen anderen zu ersetzen. Dies um so weniger, als er in der Biologie selbst, seitdem man nicht nur

zwischen

Mikro-

und

rationale

Denkklischee

Makro-Mutationen,

sondern

noch

zwi-

zumeist

nur

schen weiteren Unter- und Nebenarten von »Mutationen« unterscheidet, metaphorischen Charakter angenommen hat. Wır wählten diesen Begriff und behalten ıhn gegen das Zwangs- und Sektorendenken perspektivischer Art beı, weıl er am besten das seit dem Ur-Sprung im Bewußtsein sprungartig sich vollziehende Geschehen umschreibt; weil er es uns außerdem ermóglicht, die heute denknotwendige Distanzierung zu Begriffen wıe Fortschritt, Entwicklung und Entfaltung aufrechtzuerhalten. Das des

»Fort-Schrittes«,

der

ein Fortschreiten vom Ursprung ist, der biologisierende Gedanke der Entwicklung, der botanisierende der Entfaltung sind hinsichtlich des Phänomens Bewußtsein nıcht anwendbar. Dagegen unterstreicht der Begriff »Mutation«, im Sinne eines sprunghaften, ruckhaften Geschehens, den vom Ur-Sprung her im Bewußtsein veranlagten geistigen Gehalt und die Umlagerung ursprunghafter Gegebenheiten ın das Bewußtsein. Jede Bewußtseins-Mutation ıst die anscheinend plötzliche Akut-Werdung latenter, seit dem Usprung vorhandener Möglichkeiten. Keine dieser Mutationen bedingt — ganz ım Gegensatz zu gewissen biologischen — den Verlust vorheriger Möglichkeiten und Eigenschaften, sondern deren plötzliches Einbezogenwerden ın eine neue Struktur, wodurch die vorherigen Möglichkeiten und Eigenschaften überdeterminiert werden. Als eın plötzliches erscheint uns dieses Geschehen nur deshalb (wir haben bereits in

»Abendländische Wandlung« darauf hingewiesen) 12, weil sich

gewisse

»Prozesse«

— soweit man

da von Prozessen

sprechen

darf — anscheinend »außerhalb« der raumzeitlichen Erfaßbar-

Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation

75

keit und »Begreifbarkeit« abspielen, so daß wir unsererseits den durch Raum und Zeit gegebenen Kausalkonnex nicht herzustellen vermögen. Dagegen wissen wir heute, daß der vor Raum und Zeit »liegende« Ursprung sıch ın den Bewußtseins-Mutationen jeweils bewußtseins-intensivierend und -ıntegrierend gegenwärtigt. Der Zeitdauer, innerhalb derer ein solcher Prozeß jeweils statthat, entspricht die Streuungsbreite, da diese die jeweilige Menschheit

als Ganzes

betrifft;

man

sollte ıhn deshalb

wahr-

scheinlich nur mit größter Vorsicht als »Groß-Mutation« bezeichnen, wie dies Giselher Wirsing in Abänderung unserer Terminologie vorschlägt!?. Auch ein anderer Korrekturvorschlag, den Ernst-Peter Huf$!^ suggeriert, ist leider nicht verwertbar, obwohl dieser Autor gleich uns die Primordialitát des Geistigen anerkennt, aber dann statt des ursprungs-gebundenen, zeitfreien Mutations-Geschehens einen sogenannten Reifeprozeß postuliert und damit ın die gefährliche Nähe der Botanisierung bzw. der Biologisierung des Geistes gelangt. Es sei nochmals festgestellt: Bewußtseins-Mutationen sind mit Begriffen wıe Fortschritt, Entwicklung, Entfaltung bestenfalls dialektisch, psychologisierend oder biologisierend beziehungsweise botanisierend aspektierbar; wo dies jedoch geschieht, nımmt man diesem Geschehen seinen Ursprungs-Charakter, der geistiger Art ıst. In den Bewußtseins-Mutationen vollzieht sich ein Umlagerungs-Prozeß der dem bloßen raumzeitgebundenen Geschehen entzogen ist und sich somit diskontinuierlich,

also sprunghaft,

manifestiert; es

sind Umlagerungs-Prozesse, welche die Assimilation des geistig akzentuierten Ursprungs durch das Bewußtsein des Menschen ermöglichten. Der Ur-Sprung selbst kommt mutierend, also sprunghaft, zum Bewußtsein: Bewußtseins-Mutationen sınd Integrations-Vollzüge. Übrigens dürfte es aufschlußreich sein, daß die Sprache dort, wo es sich um primordiale Vorgánge handelt, von »Ur-Sprung« spricht, also die Sprunghaftigkeit, Plötzlichkeit dieses Geschehens betont, während ihr für die zeitgebundenen Initial-Vorgänge Wörter wie »Anfang« und »Beginn« zur Verfügung stehen (worauf bereits vorn, am Anfang des Vorwortes hingewiesen worden ist).

Hinsichtlich der Berechtigung, den Mutations-Begriff termi-

nologisch zu transponieren, sei zusätzlich darauf verwiesen, daß

in den letzten Jahren mancherseits dieser Begriff in Bestátigung unseres Konzeptes desgleichen transponierend für das geistige Geschehen in Erwágung gezogen und gebraucht worden ist. So

76

Die vier Bewußtseinsmutationen

spricht Hermann Graf Keyserling in einem seiner letzten Aufsätze (1948)!5 von der sich heute vollziehenden

» Welt-Muta-

tion«. René Grousset fragt sich (1950): »Finden die Gesetze von Vries und Morgan über die biologischen Mutationen auch auf die menschliche Gesellschaft Anwendung?«, wobei er an das Phänomen denkt, daß »plötzlich das ägyptische und das sumerische Wunder (erscheinen), die in ıhrer Art etwa das sind, was

später das griechische Wunder sein wırd« 1%. Julius F. Glück unterstreicht

(1951

und

1952)

den mutativen

Charakter

der

Kunst-Stile und -Phasen sowie die sprunghaft erfolgenden »Übergänge« zu einer jeweils neuen »Integrationsstufe« der Menschheit*”. Hendrik de Man spricht (1951) hinsichtlich unserer heutigen Lage von der Alternative »entweder Tod oder Mutation« 18, Rudolf Pannwitz erwägt (1951) als Lösung unserer Sıtuation die Möglichkeit einer »moralischen »Mutation«« und stellt in Übereinstimmung mit den von uns vorgetragenen Ansıchten (sıehe Teil 1, Kap. IV, 2: »Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen«) fest: »Der ganze Mensch ... ıst die Synthese und Kristallisation aller seiner Schichten und Stufen ... wir wachsen aber, unzweifelhaft, dem komplexen Menschen entgegen« 19, wobei hier einerseits »komplexer Mensch« als Synonym zu dem von uns gebrauchten Begriff des »integralen Menschen« zu betrachten ist, andererseits darauf verwiesen sei, daß wir den

Begriff »komplex« vermieden haben, da er durch die Ansprüche

der »Komplexen Psychologie« zu einseitig, weil nur psycholo-

gisch, fixiert ıst. Des weiteren ıst auf die Ausführungen von

Walther Tritsch (1954) hınzuweisen, der hinsichtlich der heute

sich vollziehenden Umgestaltung unserer Wirklichkeit feststellt: »Diese geistige Verwandlung — oder Mutation — kann auch als ein plötzliches Anstrahlen eines anderen Sektors der Wirklichkeit aufgefaßt werden, wobei die Schauenden und Erblickenden immer nur einzelne sind, aber der diese Schau ermöglichende und erzwingende Richtstrahl wırd von der Gesellschaft ausgesandt, in der sie leben und in deren Struktur eine entscheidende

Veränderung — oder Mutation — vor sich geht.«?° Schließlich

sei noch auf Pierre Teilhard de Chardin verwiesen (siehe auch

vorn in unserem »Vorwort zur zweiten Auflage«), dessen Werk erst seit 1955 publiziert wurde. Er, obwohl stark an das darwinistische Entwicklungspostulat gebunden, spricht davon, daß es »keine Möglichkeit (gibt) [zumindest bei unseren augenblicklichen Denkformen],

dem Problem der Diskontinuitát zu ent-

gehen«; und er fährt fort: »Wenn der Übergang zum reflektie-

Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation

77

renden Bewußtsein — wie der Sachverhalt es zu fordern scheint und wie wir angenommen haben - eine kritische Umbildung ıst, eine Mutation...«, um dann auf den Träger dieser Mutation einzugehen. Später präzisiert er diese zumindest »psychische Diskontinuität«,

ın der er »das Entscheidende der Menschwer-

dung erblicken (muß)«, um dann zu folgern, daß »eine so grund-

legende Mutation wie das Denken, die der ganzen menschlichen Gruppe ihren spezifischen Charakter gibt..., oberhalb des Ursprungspunktes und Entfaltungsbeginns der Menschheit stehen muß«?!. Also selbst er, der dem finalen, teleologischen Entwicklungsgedanken verpflichtet ist, greift für die entscheidenden Vorgänge auf das Konzept des diskontinuierlichen Geschehens, also auf das der Mutation, zurück.

Die Zulänglichkeit und die Berechtigung für die Anwendung unseres Begriffes »Bewufstseins-Mutation« dürfte durch die vorstehenden und unsere Einstellung nachträglich stützenden Beispiele deutlich geworden sein. Betrafen diese Ausführungen den nicht-biologischen Aspekt

der Bewußtseinsmutationen, so sei noch einer weiteren, der hi-

storisierenden Mifsdeutung, die aus den rationalen Denkgewohnheiten resultieren könnte, vorgebeugt: Viele sind geneigt, sich in ihrer Abwehr des geistig bestimmten Mutationsgeschehens dadurch Beruhigung zu verschaffen, daß sie auf den »technischen Fortschritt« pochen und sich in eine betriebsame Hybris hineinsteigern (die wohl durch die bisherigen Anwendungen eben dieses »technischen Fortschrittes« jedwede Berechtigung verloren haben dürfte, soweit man überhaupt von einer Berechtigung der Hybrıs sprechen kann). Die von den Verfechtern des Fortschrittsgedankens vertretene Ansıcht, daß unser Zeitalter und unsere Zivilisation einer Höherentwicklung entspräche, ıst ja durch ıhre eigene Fortschrittsleistung, durch deren Resultate, besonders aber durch ıhre Anwendungen, deutlich genug in Frage gestellt worden. In jedem Fall zeigen diese Ergebnisse und thre Anwendungen, daß wir uns vor jeder wie auch immer gearteten Selbsteinschätzung oder gar Überschätzung hüten müssen; vor allem vor dieser, die durch das biologisierende Postulat einer Höherentwicklung ausgelöst wurde. In

den letzten (etwa) 232 Jahren hat sich dieses Postulat tief in die

europäische Mentalität eingegraben. Es geht auf Vico zurück, Montesquieu vertritt es mit seinen 1734 publizierten »Betrachtungen über die Größe der Römer und ihren Verfall«, Voltaire

(1756) mit seinem »Versuch über die Sitten und den Geist der

78

Die vier Bewußtseinsmutationen

Völker«. Dieses Thema wurde von Bossuet, Duclos, Volney, Condorcet in Frankreich weitergeführt; von Spencer und Darwin in England, von Buckle (1860) in seiner »Geschichte der Zivilisation ın England«, von Lecky (1865) ın seiner »Geschichte des Geistes der Aufklärung«, von G.E. Lessing (1780) in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts«, von Herder (1784) in seınen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, von Schelling, Hegel und Krause ın Deutschland. Dieses Postulat erhielt (1847) durch Auguste Comte?? jene Fassung, die als » Drei-Stufen-Gesetz« oder » Drei-Stadien-Theorie« noch vielerorts Gültigkeit genießt. Diesem »Gesetz« zufolge lösen in Wissenschaft und Weltanschauung das theologische, metaphysische und positivistische Entwicklungsstadium einander ab, wobei ganz naiv angenommen wird, daß sich nach der Überwindung der Theologie und der Metaphysik durch den Positivismus eın theologisches oder metaphysisches Denken nicht mehr durchsetzen könne,

Der ausgesprochen teleologische und finale, also zweck- und zielgerichtete Charakter dieses Postulats (worın seine perspektivische Fixiertheit zutage tritt), der fast biologisierend zu nennende Blickwinkel, unter dem es konzipiert ist (wobei seine Sektorhaftigkeit sichtbar wird), und vor allem seine »Entwicklungs«-Thematik verhindern, daß diese Theorie von Comte in irgendeine Parallele zu dem gesetzt werden kann, was wir hier als die » Vier Bewußtseins-Mutationen« bezeichnen. Ihre schein-

bare Aufeinanderfolge ıst weniger eine biologische »Entwick-

lung«

als eine »Entfaltung«, eın Begriff, der dıe Teilhabe einer

geistigen Realitat an der Mutation zuläßt. In keinem Falle ist aber diese Entfaltung als Fortschritt aufzufassen. Wir müssen diesen Begriff »Fortschritt« für das nehmen, was er ist, und nicht für das, wozu er, seinem ursprünglichen Wortlaut zuwider,

gemacht wurde: »Fortschritt« ıst kein Positivum, auch dann nicht, wenn Gedankenlosigkeit ıhn als solches wertet; Fortschritt ist auch

ein Fortschreiten,

weg

von

etwas,

entfaltet

sich

das

also ein Weggehen

und Sichentfernen von etwas: vom Ursprung. Mit jeder neuen

Bewußtseinsmutation

Bewußtsein

stärker,

während der Entwicklungsbegriff den Mutations-Charakter ausschließt, da dieser im Gegensatz zur Kontinuierlichkeit der Entwicklung diskontinuierlich ist. Entfaltung ist in diesem Sinne eine Anreicherung, da sie jeweils, wie wir noch sehen werden, mit einem Dimensionsgewinn verbunden ist; sie ist aber gleichzeitig auch eine Verarmung, da sich die Distanz zum Ursprung

Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation

79

vergrößert. Freilich kann man diesen negativen Aspekt eliminieren, dann nämlich, wenn man die Ursprungsidee selbst in die Bewußtseinsentfaltung projiziert, oder wenn man dieser Bewußtseinsentfaltung den Charakter des nachholenden Realisierens dieser Ursprungsidee durch den Menschen zubilligt und dabeı synthetisierend dann von einer sich vervollkommnenden Ursprungsentfaltung im Menschen spräche. Dies ist jedoch eine Frage, die wir hier noch nicht entscheiden können, da die mög-

liche Antwort, solange sie nicht begründet wurde, bloße spekulatıve Aussage wäre, dıe uns höchstens zur Nachbetung des Hegelschen Theorems von der Selbstbewußtwerdung eines dazu noch verabsolutierten »Geistes« verführen könnte ?*. Und noch vor einem weiteren möglichen Fehler müssen wir uns hüten: daß wir keinen voluntaristischen (willensmafigen) Akzent in die Bewußtseinsmutation hineintragen. Die Anthropozentrik des Voluntarismus, das will sagen: die auf den Menschen zentrierte Willenslehre mit ıhrem deutlich perspektivischsektorenhaften Charakter hat dort kein Bürgerrecht, wo wir nicht wissen, ın welchem Maße der Mensch über die sıch ın ıhm

vollziehenden Mutationen Macht und willensbetonten Einfluß besitzt. Aus der Darstellung der Perspektivgewinnung, die wir objektiv zu halten versuchten, dürfte deutlich geworden sein, in welchem Maße die Generationen zwischen 1250 und 1500 n. Chr. von dem

Bestreben,

den Raum

zu realisieren, besessen

waren, und dieses Bestreben nicht bloß besaßen. Wir hoffen mit diesen Hinweisen nunmehr storisierenden Verfälschung oder Mißdeutung Mutationen,

welche

das

Bewußtsein

betreffen,

auch der hider geistigen

vorgebeugt

zu

haben. Dieses Mutationsgeschehen, sein In-Erscheinung-Treten ist nicht etwa als blofe Aufeinanderfolge oder als Fortschritt oder

historisierend als Ablauf aufzufassen, sondern als über und durch

die Zeiten und Kulturen ausgeteiltes Sichtbarwerden anlagemäßig vorgegebener Bewußtseinsmöglichkeiten, welche teils mindernd, teils bereichernd, die jeweilige Wirklichkeitserfassung des Menschen bestimmen 2), Und es sei nochmals darauf hingewiesen: Wir haben allen Grund,

sowohl den Fortschritt zu be-

argwöhnen, der uns die Fehlentwicklung der Technik brachte

(insofern, als wır heute noch von ıhr und nicht sıe von uns ab-

hängig ist), als auch die Lehre von der erwähnten »Höher«-Entwicklung und vom Voluntarismus, der, von Duns Scotus ausgehend, jedenfalls aber seit Vico, die Sinngebungskraft aus

80

Die vier Bewußtseinsmutationen

einer mutmaßlıch »hinter« allem Sein liegenden Urspriinglichkeit in die Ratio und den Willen des Menschen verlegte, und den dann Spengler und selbst ein Croce, als hoffentlich letzte Vertreter dieses hybriden Voluntarismus, endgültig ver-treten haben. Andererseits wollen wir auch nicht in die östliche Haltung verfallen, also aus der Ablehnung des Fortschrittes und des Voluntarismus uns zum bloßen Spielball irgendwelcher Mächte oder ırgendeiner Macht degradieren. Die Distanzierung von diesen überspitzt perspektivischen Theorien sollte uns nicht zu dem östlichen Gehaltensein, zu einem bloßen Eingeflochtensein in den nichts als natürlichen Ablauf der Dinge verführen oder uns, wäre es auch nur symbolisch, zu jenem Rückzug ın die Höhle veranlassen, wie ıhn uns Buddha und die Eremiten des

Ostens und des Westens weniger vorlebten als vorstarben: zu jenem Rückzug in die unperspektivische Höhlenwelt, der ın der östlichen Form eindeutig den Wunsch nach Rückgängigmachung der Geburt enthält *. Zu dieser östlichen Haltung führt letztlich die Auffassung von Theodor Lessing zurück, der zwar mit klarem Blick den »Fortschritts«- und »Entwicklungs«-Gedanken bekämpft hat (obwohl

er den Fortschritt als »die fruchtbarste aller Ideen«

Europas bezeichnet, die jedoch »zu einem realen ın der Zeit verlaufenden Vorgang der Geschichte verbogen« wurde)?”, der aber, statt über das ratıonal-perspektivische Europäertum hınauszugehen, dem der teleologische Fortschritts- und der final gerichtete Entwicklungsgedanke eignet, ın die für uns nıcht mehr realisierbare östliche Haltung regrediert, also in die irrationale, unperspektivische Haltung zurückfällt. »Europa und Asıen« 2 sowie Paul Cohen-Portheims

»Asien als Erzieher« 2? sind, trotz

aller in diesen Schriften enthaltenen Wahrheiten, hierfür Bewei-

ses genug. Die bloße Regression ist so wenig ein Weg, wie es die Weiterverfolgung der Ideen Fortschritt, Entwicklung, Voluntarismus, Positivismus usw. wäre. Den Sprung, der sich in uns vorbereitet — ihn müssen wir realisieren. Und je besser die Absprungsbasis ist, das heißt: je breiter und je sicherer sie fundiert und uns selber

bewußt ist, desto größer dürften die Aussichten auf sein Gelingen sein. Wenn er jedoch miflingt, dann freilich wird der Atomisierungsprozeß, der sich als Möglichkeit ankündigt, jeder weiteren Entfaltung einer bereits sich ereignenden neuen Mutatıon zuvorkommen.

Uber Entwicklung, Entfaltung und Mutation

81

Um jene Absprungsbasis zu gewinnen, wollen wir im Sinne einer Arbeitshypothese die vier, beziehungsweise fünf Strukturen darstellen, die wir als die archaische, die magische, die mythı-

sche, die mentale und die integrale bezeichnet haben. Dabeı müssen wir uns jedoch stets gegenwartig halten, daß diese Strukturen durchaus nicht nur einen Vergangenheits-Charakter haben, sondern in mehr oder minder latenter oder akuter Form

heute noch in jedem von uns vorhanden sind. Nur mit der Herausarbeitung und der damit verbundenen Bewußtmachung dieses bisher mehr oder weniger übersehenen Tatbestandes wird uns, im Gegensatz beispielsweise zu Hegel oder Comte, eine gänzlichende Betrachtungsweise moglich. Wir stellen also gegen die bloße Evolutionstheorie nicht nur unsere Mutationstheorie der Bewußtwerdung; wir beziehen in unsere Betrachtung, nach der Gegenwärtigung (nach der Ge-

genwärtig- und damit Bewußtmachung) Zukunft

als

bereits

vorhanden,

weil

des Vergangenen,

in

uns

latent

die

existie-

rend, ein. Wir lassen nicht nur die Möglichkeit einer neuen Bewußtseinsmutation offen, jene ın die neue Struktur der integralen »Bewußtheit« der aperspektivischen Welt, sondern nähern sie uns an; das aber besagt: wir gegenwärtigen 516.

Im Lichte dieser Betonung der Gegenwart erhellen sich gleichzeitig zwei verschieden geartete Tatsachen: erstens die Tatsache des Bewußtseins, das weder Wissen noch Gewissen ist, sondern

das wir vorerst und ım weitesten Sinne als eın waches Gegenwärtigsein werten; zweitens die Tatsache, daß ein wirkliches Gegenwärtigsein Jede Art von zukunftsgerichteter Finalitat als Widerspruch zu sich selbst ausschließt, da des Gegenwärtigseins verlustig geht, wer einseitig in bloße Erinnerung oder in bloße, womöglich voluntaristisch geprägte Hoffnung verfällt. Diese Unvorsätzlichkeit — dieser positive Mangel an Vorsatz oder Vorsätzlichkeit, der vor allem eine Abwendung von jedwedem Utilitarismus einschließt, scheint uns deshalb wichtig, weil da-

durch ratıonal bedingte Korrekturen des Möglichen ausgeschlossen werden, die ihrem Wesen gemäß stets perspektivischer Art sind. Demzufolge sind wir nicht wie die Positivisten der Uberzeugung, daß das heutige positivistische Stadium, beziehungsweise daß die rational-perspektivische Struktur das non plus ultra des Menschheitswerdens darstelle, sondern sind, immer im

Gegensatz zu Hegel und Comte, von der fortdauernden Wirksamkeit der »früheren« Strukturen in uns überzeugt, und dar-

87

Die vier Bewußtseinsmutationen

über hinaus auch von der beginnenden, also schon gegenwärtigen Wirksamkeit der sogenannten »zukünftigen« Struktur in uns. Die Wirksamkeit der sogenannten Vergangenheit, die für Hegel und Comte ein bloßer Leichnam ist, anerkennen wir in einem viel stärkeren Maße, als es beispielsweise indirekt durch Georges Sorel und in seiner Nachfolge durch den zweideutigen Vilfredo Pareto geschah, die in gewissen politischen und sozialen Theoremen sákularisierte (verweltlichte, verdiesseitigte) christliche Mythologeme wiedererkannten, welche als »mythische Resıduen« gewissen politischen und sozialen Programmen und Ideologien zugrunde liegen. Hat uns die neue Ethnographie das Verständnis für das Weiterleben der magischen Haltung und für ihre noch fortdauernde Wirksamkeit erschlossen, so erbrachte

die neue Psychologie, vor allem die durch Sigmund Freud begonnene und von C.G. Jung erweiterte psychologisierende Mythenforschung den Nachweis, daß die mythische Haltung ebenfalls noch immer und durchaus nicht nur residuenhaft in uns weiterwirkt. Leider werden diese Erkenntnisse der heutigen Tiefenpsychologie durch sie selbst in eine derartig rückwärts gerichtete perspektivische Uberspitzung und auch Verallgemeinerung getrieben, daß die bereits erwähnte psychistische Inflation aus dem Unbewußten immer stärkere Ausmaße annimmt. Dagegen gibt es nur einen Schutz: das strıkte wache Gegenwärtigsein und Gegenwärtigbleiben. Wir dürfen also ım folgenden nicht in die Vergangenheit zurück- und untertauchen und durch ihre Aktivierung von ıhr psychisiert werden, sondern müssen uns, jederzeit gegenwärtig, das Vergangene gegenwärtig machen. Dieses Gegenwärtigmachen der Vergangenheit durch uns, und nicht das Vergänglichmachen der Gegenwart durch die Macht des Vergangenen, ıst die Forderung. Wir werden sie ohne Zweifel zu leisten vermögen, wenn uns zugleich dıe ausbalancierende Kraft dessen gegenwärtig ıst, was in der Gestalt des »Zukünftigen« als Latenz bereits Gegenwarts-Charakter, und damit möglichen Bewufstseins-Charakter hat. Unter diesen Gesichtspunkten des Zeitlichen, die ın ıhrer Art bereits einen Anflug aperspektivischen Charakters haben, wollen wir jetzt die Fundamente der aperspektivischen Welt »zeitlich« vertiefen, indem wir die genannten Bewußtseinsstrukturen betrachten.

2. Der Ursprung oder die archaische Struktur Die dem Ursprung am nächsten »gelegene« Struktur, die, wie zu vermuten ist, anfänglich mit dem Ursprung selbst ıdentisch ıst,

bezeichnen wir als die »archaische Struktur«. (»Archaisch« abgeleitet vom griechischen ἀρχή [arche] = Anfang, Ursprung,

wobei wir die Betonung auf das Wort »Ursprung« legen, der seinem Wesen nach immer gegenwärtig ist, was für den »Anfang« nicht zutrifft.) Zur Wahl des Wortes Struktur ist zu sagen, daß Strukturen im Unterschied beispielsweise zu »Ebenen«, die eine Räumlichung mit sich bringen und damit der nur perspektivischen Betrachtungsweise Vorschub leisten, nicht bloße Raumgefüge sınd, sondern vor allem auch Gefüge raumzeitlicher, ja selbst raumzeitfreier Art sein können. Wenn wir also hier das Wort

Struktur gebrauchen,

so deshalb, weil andere sich anbie-

tende Ausdrücke wie »Lage«, »Stufe« oder »Schicht« noch stärker raumbetont sind, als es der Ausdruck »Ebene« wäre.

Diese erste Struktur nun ist eine null-dimensionale Struktur. Damit ist nochmals gesagt, daß sie raumzeitlicher Art ist, obwohl unsere heutige Vorstellungskraft diesen Sachverhalt nur als Paradoxon zu realisieren ımstande ıst. Sıe ıst der Ursprung und nur terminologisch jene »erste Struktur«, die noch »vor« (bzw. hinter) der Einheit oder der Unität steht und die selber aus der vollständigen Identität hervorgeht, welche sıe ın ıhrem Anfangsstadium wohl noch dargestellt haben mag. Sie ist dem biblischen paradiesischen Urzustande am nächsten, wenn nicht

dieser selbst. Es ıst die Zeit, da die Seele noch schläft, und so ıst

sie die traumlose Zeit und die der gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und All. Wenn wir nun Ausschau halten nach Aussagen über diese Zeit, so finden wır außer generellen, vorwiegend mythischen

Vorstellungen

wie

der

Androgynitat

(der

Zweigeschlechtig-

keit) oder des sie darstellenden und sie lebenden Protanthropos,

des Urmenschen,

ın den uns aus der Frühzeit überkommenen

Schriften kaum irgendwelche Hinweise, die diese Struktur präzisieren?%. Und diese Schriften berichten nur fragmentarisch,

und wenn auch nicht inkorrekt, so doch zumindest defizient, gleichgültig auf welche Zeit, welches Geschehnis, Ereignis, Cha-

rakteristikum oder auf welche Aussage sie sich beziehen mögen. Denn die Tatsache — und es ist wichtig, dies einmal festzustel-

len —, daß etwas schriftlich fixiert wurde, besonders wenn es in

früher Zeit geschah, ist vor allem ein Hinweis auf die Lage der

84

Die vier Bewußtseinsmutationen

Zeit, in der die Überlieferung niedergeschrieben wurde: dem Zwang zur Niederschrift muß ein Nachlassen des echten, lebendigen Wissens zugrunde liegen, also eine Angst vor einem Wissens-Verlust. Diese Angst mag dem Gefühl der Unzulanglichkeit entspringen, die ursprüngliche Kraft und den ursprünglichen Gehalt nicht mehr substantiell bewahren und leben zu können. Insofern sınd alle alten Texte, trotz ihrer Weisheitsfülle, bloßer

Widerschein der lebendigen Wahrheit, der in den Defizienzperioden summiert wird. In späteren Zeiten kommt hınzu, daß die — vielleicht infolge der zunehmenden Dimensionierungen — sich aufsplitternden Grunderkenntnisse zu bloßer Stoff-Fülle und Stoff-Mannigfaltigkeit anwachsen: defizient werdende Haltungen retten sich dann in Synkretismen (in wahllose Zusammenfassungen »esoterischer Lehren« und »Mysterienweisheiten« zu einer summenhaften »Religion«) oder in Enzyklopadien. Das erste geschah in den römischen Jahrhunderten n. Chr., das letzte seit der »Aufklärung«?!. Aus präsenter Weisheit wird gestapeltes Wissen, das summiert und zusammengefaßt nur eine neue Summe, aber keine »neue« Weisheit ergibt, also nichts Qualitatives, sondern lediglich Quantitatives, keine Weisheit, sondern

nur massenmafsig akkumuliertes Wissen: nichts also, das man »sein« könnte, nur etwas, das man zu »haben« vermag.

Was nun die direkten, prazisen Aussagen anbetrifft — jene Art der handgreiflichen Feststellungen, welchen unsere Epoche den Vorzug gibt —, so fanden wir lediglich zwei, die sich auf die archaische Struktur beziehen und die sıe indirekt charakterı-

sieren; sie sind chinesischer Herkunft, stammen

aber bereits aus

der mythischen Endepoche dieser wohl ältesten Überlieferung. Die eine steht bei Dschuang Dsi 32. Bei ihm findet sich der Satz: » Die wahrhaften Menschen der früheren Zeiten schliefen traumlos«, den wir wohl als Schlusselsatz für die archaische Struktur

betrachten dürfen. Denn im Hinblick auf seine eigene Zeit (um 350 v. Chr.) sagt er ausdrücklich: »pflegt die Seele im Schlafe

Verkehr«,

ein Hinweis,

den der Übersetzer Richard Wilhelm

auf Grund alter Kommentare durch den Zusatz ergänzt: »und erzeugt so die Träume, von denen der berufene Heilige frei ist«. Traumlosigkeit

aber ist Unerwachtheit

der Seele, denn der

Traum ist eine der Manifestationsformen der Seele. Insofern ist die Frühzeit jene Zeit, da die Seele noch

schläft, wobei

der

Schlaf anfänglich so tief gewesen sein mag, daß die Seele, wenn auch nicht ınexistent, so doch (möglicherweise ın einer geistigen Vorform), bewußtseinsfern war.

Der Ursprung oder die archaische Struktur

ὃς

Und aus dem zitierten Satz geht weiter die betonte Gegenüberlosigkeit des archaischen Menschen hervor; denn erst eine Welt des Gegenüber, erst die der Identität verlustig gegangene Welt enthält die Möglichkeit des austauschenden Verkehrs. Wir müssen auf eine Tatsache, auf zweı aufschlußreiche Wörter in diesem Satz besonders hinweisen: darauf, daß einer der

größten Weisen Chinas die Menschen der Frühzeit nicht etwa mit den zwei Worten »primitive Menschen« disqualifiziert, wie es ein heutiger Europäer aus einer wissenschaftlichen Hybris heraus tun könnte, sondern sie »wahrhafte Menschen«

nennt,

von denen der Kommentator als von den »berufenen Heiligen« spricht. Wir weisen nachdrücklich auf diese Formulierung hin, denn die archaische Struktur ist in dem von uns gemeinten Sinne durchaus nicht »primitiv«. Wer etwa dıe sogenannten heutigen »Primitiven« als Repräsentanten dieser Struktur assoziiert, der beraubt sıch der essentiellen Grundlage seines Menschseins. Die heutigen »Primitiven« leben nicht mehr in der archaischen, sondern ın einer bereits mehr oder weniger defizient magischen Struktur; ihre vornehmlich magische Gestimmtheit hat sich in ihnen weitgehend überlebt, und ihr magisches Gehaltensein wird in dem Moment defizient, da sie mit dem Europäer in Kontakt kommen. Die zweite Aussage über die Bewußtseinslage der archaischen Struktur, die man vom heutigen Standpunkt aus unvorsichtigerweise als eine Nicht-Bewußtseinslage zu charakterisieren versucht

ist, findet

sich in einem

aufschlußreichen

Hinweise

Rı-

chard Wilhelms33. In einer Anmerkung zu seiner Darstellung der Farbensymbolik der chinesischen Frühzeit stellt er fest: »Blau und Grün sınd ın jener Zeit noch nicht entschieden; das

gemeinsame Wort ist T’sing, das ebensowohl die Farbe des Hımmels wie die Farbe der sprossenden Pflanze bedeutet.« Wenn aus irgendeiner der äußerst spärlichen Mitteilungen über die Anfangszeit der Menschheit das Ungeschiedensein, ja das Ununterschiedensein des archaischen Menschen von Welt und Weltall hervorgeht, ein Unerwachtsein, dank dessen er noch fraglos im Ganzen ist, so dürfte dies bei den zwei zitierten Äußerungen der Fall sein: Traumlosigkeit bedeutet ohne jeden Zweifel problemlosen Einklang und damit völlige Identität von innen und außen; sie bringt den mikrokosmischen Einklang zum Ausdruck. Gleichheit der Farbe von Erde und Himmel bedeutet ohne jeden Zweifel problemlosen Einklang und damit völlige Identität von Erde und Himmel. (Der mögliche Einwand, es

86

Die vier Bewußtseinsmutationen

könne sich hierbei um eine primitive Farbenblindheit handeln, ist nicht stichhaltig; wer diesen Begriff hier anwendet, macht sich eines Anachronismus schuldig.) Diese Identität von Erde und Himmel bringt den makrokosmischen Einklang zum Ausdruck. Beide zusammen, mikrokosmischer und makrokosmischer Einklang, sind nichts anderes als problemlose Identität von Mensch und All. Von hier aus gesehen erhält eine Behauptung Platons, um deren Verständnis sich nicht nur Arıstoteles?* und Thomas von Aquin, sondern unzählige Denker bemühten (wobei einzelne so weit gingen, eine Textänderung durch erweiternde, ınterpretierende Übersetzung vorzuschlagen) eine eigene Beleuchtung. Der Satz (nach Aristoteles zitiert) lautet: »die Seele ist ... zugleich mit dem Himmel (entstanden)«.

Die beiden chinesischen Aussagen, die wir zur Charakterisie-

rung der archaischen Struktur herangezogen haben, enthalten,

was der Satz Platons behauptet: der von der Erde nicht unterschiedene Himmel ist so wenig »existent«, wie die Seele in der Traumlosigkeit »existent« ist; das Erwachen der einen, der Seele, bringt das gleichzeitige Erwachen des Blau, des Himmels mit sich, denn »die Seele ist zugleich mit dem Himmel«. Im Rückblick mag es uns wohl so scheinen, als sei dies alles nur eine im Menschen sich vollziehende Bewußtseinsmutation in der Richtung auf uns Heutige, auf unsere heutige Bewußtseinsstruktur hin; aber wir müssen

uns davor hüten, diese Ge-

schehnisse nur einseitig zu perspektivieren. Die heutige Denkweise würde nun erfordern, alles von den jetzigen Gegebenheiten aus zu betrachten, also den umgekehrten »Weg« zu gehen,

den die Geschehnisse nahmen. Das jedoch würde bedeuten, daß

wir von den aufgesplitterten Manifestationen aus immer nur Rückschlüsse und Folgerungen zógen, die aber nicht mehr bis zu dem kaum auffindbaren Ursprung zurückfinden, weil sie dort in die Brüche gehen müssen, wo die Abfolge der Geschehnisse durch eine Mutation unterbrochen ist. Deshalb versuchen wir es unsererseits, die rückwärtigende Betrachtungsweise zu vermeiden, und dies ist der Grund, weshalb wir unsere Ausführun-

gen mit der ursprünglichen Struktur begonnen haben und nicht mit der heute vorherrschenden Struktur, der rationalen perspektivischen,

zumal

diese schon

nicht mehr

unserer

tatsächlichen

BewufStseinsstruktur entspricht. Die von außerordentlichen Konsequenzen erfüllten und niegeschaute Hintergründe öffnenden Sätze der chinesischen und

Die magische Struktur

87

des griechischen Weisen sagen mehr über die archaische Struktur aus, als retrospektive Folgerungen oder Projektionen unsererseits es vermöchten. Wer diesen Sätzen nachsinnt und ihre Gegenwärtigung zu leisten vermag, der wırd das uns noch gerade zuträgliche Maß vom Glanz des Ursprungs wahrzunehmen vermögen, jenen ersten Schimmer der Welt- und Menschwerdung, der durch diese Sätze aus urvergangenen und doch in uns gegenwärtigen Zeiten hindurchscheint. Doch der das tut, wird schweigen. 3. Die magısche Struktur Wahrscheinlich wäre es nötig, zwischen die archaische und die magische Struktur noch eine oder womöglich zwei andere einzuschalten, etwa eine »noch-archaische«

und eine »schon vor-

magische« Struktur. Es fehlt jedoch ın dem Material, soweit wir es überblicken, jeder feste Anhaltspunkt, um diese Zwischenstrukturen zu präzisieren. Demzufolge umfaßt die magische »Epoche« für uns nicht nur einen langen »Zeitraum«, sondern auch verschiedene, sich jedoch voneinander nur ungenau absetzende Äußerungs- und Entfaltungsformen. Der hierbei vielleicht entstehenden Unklarheit wollen wır dadurch begegnen, daß wir alle diese Formen als Außerungen des magischen Menschen betrachten, den vor allem eines kennzeichnet: er tritt aus der nulldimensionalen, archaischen Struktur der Identität in die eindimensionale der Unitat hinaus. Und wir werden noch sehen, daß hier das ıdeelle Symbol

für die Eindimensionalitat,

der Punkt (das Grundelement der Linie), als Bezugs-Charakteristikum des magischen Menschen von aufhellender Bedeutung ist; dieser Punkt, der einerseits eine erste Zentrierung im Menschen andeutet (die später zu seinem Ich führen wird), ıst andererseits Ausdruck der eindimensionalen Raum- und Zeitlosigkeit, in welcher der magische Mensch lebt. Es gibt eine Wortgruppe, die unter anderen die Worter: machen, Mechanik, Maschine und Macht zusammenbindet; es handelt sich dabei um Wörter der gleichen indoeuropäischen Wurzel »mag(h)- «35. Wir vermuten, daß das Wort »Magie«, das auf ein persisches Lehnwort des Griechischen zurückgeht, zu der gleichen Wortgruppe gehört, also der gleichen Wurzel ist. In dieser magischen Struktur wird der Mensch aus dem »Einklang«, der Identität mit dem Ganzen, herausgelöst. Damit

88

Die vier Bewußtseinsmutationen

setzt ein erstes Bewußtwerden ein, das noch durchaus schlafhaft

ist: der Mensch ist zum ersten Male nicht mehr nur in der Welt,

sondern es beginnt ein erstes, noch schemenhaftes Gegenüber-

sein. Und damit taucht keimhaft auch jene Notwendigkeit auf: nicht mehr nur in der Welt zu sein, sondern die Welt haben zu müssen. Je stärker er sich aus dem Ganzen, aus der Identität mit ihm

herauslöst,

1n dem

Maße

nàmlich,

wie ein Teil dieser

Identität ihm »bewußt« wird, desto mehr beginnt er ein Einzel-

ner zu werden, eine Unität, dıe ın der Welt vorerst noch nicht

die Welt als Ganzes zu erkennen vermag, sondern jeweils nur die Einzelheiten (oder »Punkte«), die sein noch schlafhaftes Bewufstsein treffen und die dann jeweils für das Ganze stehen.

Die magische Welt ıst somit auch die Welt des »pars pro toto«, im dem »der Teil für alles« stehen kann und steht. Und die Wirklichkeit des magischen Menschen, sein Bezugsgeflecht, sind diese in der Unität punktartig voneinander geeinzelten Gegenstände, Geschehnisse oder Taten, die beliebig miteinander

vertauscht werden können: eine Welt des bloßen, aber sınnreichen Zufalls, nämlich eine Welt, wo alles dem Menschen Zu-

fallende von wirkender Gültigkeit ist, da zu allem und unter allen ein Bezug besteht: das noch nicht zentrierte Ich ıst noch über die Welt der Erscheinungen zerstreut. Alles, was noch in der Seele schläft, ıst für den magischen Menschen vorerst nur spiegelmäßig im Außen wach. Dieses Außen geschieht ihm so blind

und

so verworren,

wie

dem

Schlafenden

der

wirkende

Traum geschieht. Hier liegt die Wurzel der Seelenvielzahl, die dem magischen Menschen eine Wirklichkeit ist (jene Seelenvielzahl, die wir noch zu betrachten haben). In einem gewissen Sinne kann man sagen, daß in dieser Struktur das Bewußtsein noch nicht 1m Menschen ist, sondern noch in der Welt ruht. Die

allmähliche Umlagerung dieses Bewußtseins, das auf ihn einströmt, und das er assimilieren muß, oder von ihm aus gesehen: diese erwachende Welt, der er gegenúberstehend allmahlich bewufst wird — und in Jedem Gegenüber liegt zugleich etwas Feindliches —: beides muß er meistern. Und er antwortet auf die ihm entgegenströmenden Kräfte mit den ıhnen entsprechenden eigenen: er stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu lenken, er versucht, unabhängig von ıhr zu werden; er beginnt

zu wollen. Bannen und Beschwörung, Totem und Tabu sind die naturhaften Mittel, mit denen er sich von der Übermacht der Natur zu befreien, mit denen sıch die Seele ın ıhm zu verwirklichen, sich ihrer bewußt zu werden versucht. Trieb und Instinkt

Die magische Struktur

89

entfalten sich und bringen ein durch sie bedingtes und betontes Bewufitsein

hervor,

ein naturhaftes

vitales Bewußtsein,

das es

ihm trotz seiner Ichlosigkeit móglich macht, infolge seiner Hineingebundenheit ins Gruppen-Ich, das seinen Rückhalt im »Wir«, dem

Clan,

der Sippe

oder dem

Stamm

hat, die Erde

und

die

Welt zu bestehen. Hier, in diesen Befreiungsversuchen des magischen Menschen aus der Eingeflochtenheit und der Gebanntheit in der Natur, mit der er anfanglich noch eins ist — eben eine Unität —, hier beginnt der seit jener Zeit nicht mehr endenwollende Kampf um die Macht; hier wırd der Mensch zum Macher. Und hier liegt die Wurzel der tragischen Verflochtenheit des Kämpfenden mit dem Bekämpften: um das Tier zu bannen, das ıhn bedroht (um nur eın Beispiel zu nennen), macht er sich ın der Verkleidung zu diesem Tier; oder er macht das Tier, indem er es zeichnet, und erhält dergestalt Macht darüber. So entstehen die ersten Entäußerungen innerer Kräfte, die ıhren Niederschlag ın den vorgeschichtlichen Fels- und Höhlenzeichnungen finden?®. In welchem Maße diese Zeichnungen vornehmlich bannenden, magischen Charakter haben, geht aus der Schilderung hervor, die Leo Frobenius im Jahre 1905 in seinem Werke »Unbekanntes Afrıka« gab??. Dort beschreibt er, wie ım Kongo-Urwald Leute des zwerghaften Jägerstammes der Pygmäen (es handelt sich um drei Männer und eine Frau) vor der Antilopenjagd im Morgengrauen eine Antilope in den Sand zeichnen, um sie beim ersten Sonnenstrahl, der auf die Zeich-

nung fällt, zu »töten«; der erste Pfeilschuß trifft die Zeichnung in den Hals; danach brechen sie zur Jagd auf und kommen mit einer erlegten Antilope zurück: der tödliche Pfeil traf das Tier exakt an der gleichen Stelle, wo Stunden zuvor der andere Pfeil die Zeichnung traf; dieser Pfeil nun, da er seine bannende — den Jäger sowohl wie die Antilope bannende — Macht erfüllt hat, wird unter Ritualen, welche die möglichen Folgen des Mordes von den Jägern abwenden

sollen, aus der Zeichnung entfernt,

worauf dann die Zeichnung selbst ausgeloscht wird. Beide Rı-

tuale vollziehen sich, sowohl das des Zeichnens wie das des Auslöschens, was festzustellen äußerst wichtig ist, unter absolutem

Schweigen. | Daß diese Sandzeichnung der Pygmäen mit den erwähnten Höhlenzeichnungen ın allerengster Verbindung steht, geht aus einem Funde hervor, der in der Höhle von Niaux gemacht wurde. In ihr wurde eine prähistorische, aus dem Quartär stammende Zeichnung entdeckt, die einen von Pfeilen »getroffenen«

90

Die vier Bewuftseinsmutationen

Büffel darstellt (Abb. 4). Hugo Obermaier, der sie kommentiert%, verweist auf ihren magischen Charakter, sowie darauf, daß auch in anderen Höhlen ähnliche Zeichnungen entdeckt wurden und daß noch heute an einigen Orten, so ın Annam, diese Jagdmagıe ausgeübt wird. Wir dürfen also das von Frobenius beobachtete und geschilderte Jagdritual durchaus als ein,

Abb. 4: Prähistorische Büffel-Zeichnung (in Schwarz) von Niaux in den französischen Pyrenäen (Verkleinert)

aus der Höhle

wenn auch sehr spätes, Beispiel für die magische Struktur be-

trachten, obwohl es sich von den Ritualen, die an den Höhlen-

zeichnungen vorgenommen wurden, in einem äußerst wesentlichen Punkt unterscheiden dürfte. Höhlenzeichnungen der Art, wie die von uns abgebildete, finden sich nur in den allerdunkelsten Teilen der Höhlen,

wo

kein Licht, geschweige

denn

die

Zweifel insofern bewußtseinsbildend,

als

Sonne hindringt, während bei den Pygmäen gerade der Sonne eine entscheidende Rolle ım Ritual zugewiesen wırd. Demzufolge müssen die in der Höhle vollzogenen Beschwörungen einer wesentlich früheren Epoche der magischen Welt angehören. Diese Beschwörungen, die man vom heutigen rational-psychologisierenden Standpunkt aus als Konzentrierung der Libido (der psychischen Energie) auf ein bestimmtes Objekt bezeichnen könnte,

waren

ohne

das Zentrieren des menschlichen Wollens auf ein Objekt gleichzeitig eine Zentrierung der psychischen Energie im Menschen mit sich bringen mußte. Wie sehr diese Vorgänge aus dem Dunkel des Unbewußtseins heraus geschahen, zeigt der Ort der

Die magische Struktur

ΟἹ

frühen magischen Handlungen: die Dunkelheit der Höhle — selbst wenn ein Feuer bei der Beschwörung die Sonne »ersetzt« haben sollte — deutet auf die große Bewußtseinsferne, auf die Unerwachtheit des Bewußtseins in jenen frühen magischen Zeiten hın.

Obgleich also, verglichen mit der Höhlenzeichnung, die Sandzeichnung der Pygmäen »spät« ıst, da das sıe begleitende Rıtual schon eine gewisse Herausgelöstheit aus der Natur, eın beginnendes freies Ihr-Gegenüberstehen erkennen läßt, bringt sie doch,

falls wir es wagen,

diese Szene zu deuten,

einige der

wesentlichsten Charakteristika des magischen Menschen zum Ausdruck:

Diese (fünf) Charakteristika sind: 1. die Ichlosigkeit des magischen Menschen,2. seine punkthaft-unitäre Welt, 3. seine

Raum- und Zeitlosigkeit, 4. sein Eingeflochtensein in die Natur, 5. seine magische (Macht gebende und ihn zum Macher machende) Reaktion auf dieses Eingeflochtensein. In diesem Jagdritual und in dieser Jagdszene kommt erstens die Ichlosigkeit insofern zum Ausdruck, als die Verantwortung für den Mord, der durch das Gruppen-Ich an einem Teil der Natur begangen wird, einer schon als »außenstehend« empfundenen Macht, der Sonne, überbunden wird. Nicht der Pfeil der

Pygmäen ıst es, der tötet, sondern der erste Pfeil der Sonne, der auf das Tier fällt, und für den der wirkliche Pfeil nur Symbol ist (und nicht umgekehrt, wie man heute zu sagen versucht ist: für den der Sonnenstrahl Symbol ist). In dieser Uberbindung 5 der Verantwortung durch das Gruppen-Ich (das in den vier das

Ritual vollziehenden Menschen Form

annimmt)

an die Sonne

fassen ıst) wird deutlich, ın welchem

Maße

das Bewußtseins-

das sittliche Bewußtsein,

das eine Verant-

(die ıhrer Helligkeit wegen stets als Bewußtseinssymbol aufzu-

vermögen dieser Menschen noch im Außen ist oder dem Außen überbunden

wird:

wortung zu tragen imstande wäre, weil es auf einem klaren Ich beruht, liegt für die Ichlosigkeit dieser Pygmäen noch in der

Sonne; ıhr Ich (und damit ein wesentlicher Teil ıhrer Seele) ıst

noch, dem Lichte der Sonne gleich, über die Welt ausgestreut. Dieser Sachverhalt deutet bereits das zweite Charakteristikum an, die punktbezogene Unitat. Sie kommt schon in der sichtbar gewordenen Austauschbarkeit des real verursachenden Elementes

mit

dem

irreal

verursachenden

Elemente,

das

heißt,

sie

kommt in der Spiegelwertung von Sonnenstrahl und Pfeil zum Ausdruck. Dieser punktbezogenen Unitat liegt, wie wir es be-

92

Die vier Bewußtseinsmutationen

zeichnen möchten, ein naturhafter Vitalkonnex (und nicht der

rationale Kausalkonnex) zugrunde. Diese punktbezogene Unität, ın der, eben wegen ıhrer Unität, alles und jedes miteinander wirkend vertauschbar ıst, wırd dann nach dem Jagdritual ın dem Jagdergebnis insofern wieder sıchtbar, als die symbolische Tötung genau mit der tatsächlichen koinzidiert: in der raumund

zeitlosen

Welt

bildet das eine wirkende

Unitat,

was

von

unserer Raum-Zeit-Welt aus gesehen ohne Kausalkonnex abläuft, also irreal ist, so ırreal wie für »unsere Welt« beispielsweise der Zufall ıst. Damit sind wir zu dem dritten Charakteristikum gekommen, der Raum- und Zeitlosigkeit des magischen Menschen. Nur in einer Welt der Raum- und Zeitlosigkeit hat die dargestellte punktbezogene Unität wirkenden Realitäts-Charakter; außerhalb ihrer ist sie eine Irrealitat. Diese raum-zeitlose Unitat macht, daf jeder »Punkt« — und dieses Symbol steht hier ununterscheidend für ein Ding, ein Geschehnis oder eine Handlung —, daß also gewissermaßen Jede Unitat in der Unitat, un-

abhangig von Zeit und Ort (wie in der Jagdszene) und damit durchaus unabhängig von jedem rationalen Kausalkonnex, für einen andern »Punkt« Geltung erhalten kann. Jeder Punkt, seı er nun real, sei er irreal, sei er nur kausal verknüpfbar oder nur symbolisch verknüpfbar, kann nicht nur mit einem andern ganz und gar beliebigen Punkt konnektiert werden, sondern wird mit ihm identifiziert, besser noch: er wird mit ihm geeint. Der

eine kann vollgúltig und vollwirkend an die Stelle eines andern treten. Damit wird den Phänomenen, deren einigende Koppelung uns als irreal erscheinen muß, da diese Koppelung in der vegetativen psychischen Energetik verläuft, ein absoluter Realıtäts-Charakter verliehen. Dieser Wirkungs-Charakter verliert jedoch seine Wirksamkeit in dem Moment, da er durch rationale Kausalisierung seiner vitalkonnexen Grundlage und Bezogenheit beraubt wird, weil die Einschaltung des Bewufstseins dann die unbewußt verknüpfende psychische Energetik stört und unterbricht. Alles magische Geschehen spielt sich, selbst noch heute, in der naturhaft-vitalen, ichlosen und raum-

sowie zeit-

losen Sphäre ab. Diese fordert (von uns Heutigen aus gesehen) eine Preisgabe der Bewußtseinsfähigkeit, wie sie beispielsweise in der Trance statthat, oder wie sie infolge der Infektion durch Massenreaktionen oder durch Schlagwörter und Ismen ausge-

löst wird. Wird uns diese Sphäre in uns nicht bewußt, so bleibt

sie ein immer noch aktivierbares Einfallstor für alle magischen

Die magische Struktur

93

Einflüsse. Dabei ıst es gleichgültig, ob diese nun wissentlich von Menschen ausgehen, oder unwissentlich von Dingen, die aber ın dieser Sphäre ein ihnen eigenes oder ein ihnen überbundenes magisches Vitalwissen haben; und es ist weiter gleichgültig, ob diese Preisgabe des Bewufstseins von unbewuft-hintergriindigen

Vorstellungen ausgelöst wird *. Es handelt sich in solchen Fal-

len dann um Menschen, Dinge oder Vorstellungen, die es vermochten, uns zu veranlassen, einen Teil der ungeordneten und deshalb negativ-schattenhaft gebliebenen psychischen Energie durch Projektion (Ubertragung) an sie zu binden, und die derart jene Macht über den Teil unseres Ich erhielten, den wir selber nicht mächtig genug waren, unter unsere eigene Macht zu stellen. Auf diese raum- und zeitlosen Vorgänge, die aus der vegetatıven Verflochtenheit alles Lebendigen resultieren und die ın der ich-losen magischen Sphäre jedes Menschen Realitáten sind, spielen wir hier durchaus absichtlich an; die Einsicht in diese Realitäten könnte manche Zusammenhänge beleuchten. Sie vermögen freilich nur dann bewußt zu werden, wenn der heutige Mensch trotz seiner rationalen und perspektivischen Haltung die Mächtigkeit der Raum- und Zeitlosigkeit realisiert und mit dieser Realisierung das vollbringt, was gerade der magische Mensch zu leisten noch nicht imstande ist, weil er noch bewußt-

seinsfern und

tief ın diese ıch-, zeit- und raumlose

Welt der

unbewußten Unität eingeflochten ist *!. Dieses Eingeflochtensein, das wir als das vierte Charakteristikum bezeichnet haben, dieses Verflochtensein geht ebenfalls aus der Jagdszene hervor. Es bringt seinerseits die Unität zum Ausdruck, aber auch die in ıhr enthaltene Diskrepanz des Unitatsbezuges. Diese wurde bereits durch die Betonung seiner Punkthaftigkeit angedeutet und wird an dem Eingeflochtensein insofern sichtbar, als diese Unitat einerseits auf die einzelnen

Erscheinungen,

Geschehnisse und Handlungen,

also auf den

»Punkt«, andererseits aber, und damit der raum-zeitlosen Wi-

derspruchslosigkeit entsprechend, auch auf die tatsächliche Mensch-Natur-Einheit bezogen ist. Wir werden auf diesen Aspekt der unitáren Verflochtenheit sowie auf gewisse Darstellungen aus der magischen Zeitepoche, die diese Verflochtenheit äußerst anschaulich machen, sogleich zurückkommen. Hier mússen wir nur noch hervorheben, daß die unitáre Verflochtenheit

in dieser Jagdszene insofern zum Ausdruck gelangt, als nicht ein einziger Vorgang in ihr als Folge oder Ursache aufgefaft werden darf: das gesamte sich in ihr darstellende magische Ge-

94

Die vier Bewußtseinsmutationen

schehen

bildet eine unlösbar

ineinander verflochtene Einheit.

Und diese Einheit wird durch keine Raumlichung oder Zeitlichung zerstört, sie wird wegen der Unbetontheit aller Handelnden, die alle, seien es nun die Menschen,

die Zeichnung,

die Pfeile, die Sonne,

der Wald, die Antilope, ichlos sind, in keiner

Weise aus dem Gleichgewicht gebracht. Und trotzdem tritt gerade in dieser Tatsache die Widersprüchigkeit des Unitätsbezuges, nàmlich die unbewußte Diskrepanz zwischen den Teilen (den Punkten) und der tatsächlichen Einheit hier deutlich zu-

tage. Denn, wenn auch ungemein versteckt, so 1st hier doch der Mensch oder die Menschengruppe der Handelnde, der sich zwar dem verflochtenen Geschehen einfúgt, aber gerade durch diese Einflechtung und dieses Eingefügtsein dem Geschehen eine bestimmte Richtung verleiht. Wir werden noch sehen, daß alles Richten ein Bewußtwerden einschließt. Insofern schimmert hier jener Bewußtwerdungsprozeß hindurch, der in dem Kampf des magischen Menschen gegen dıe Natur, der ın den Versuchen, sie zu meistern und sıch damit von ıhr zu befreien, sıchtbar wird.

Der Ansatzpunkt für diese Möglichkeit liegt in der aufgezeigten Doppelbezogenheit der Unität, die auf sıch selber und ın sıch auf jeden mit ihr ıdentischen Punkt bezogen werden kann. Sie liegt in der Austauschbarkeit, in der Auswechselbarkeit der unıtaren Punkte, derzufolge sowohl der Teil als das Ganze stets fiir alles stehen kann: das pars pro toto ist zugleich auch immer ein totum pro parte (wobei im totum merkwürdig, wahrscheinlich durchaus nicht etymologisch, sondern »zufallig« das Totem aufklingt); ja, die Austauschbarkeit geht noch weiter, indem man den Satz in ein pars pro parte, und in diesem Sinne selbst in ein totum pro toto auswechseln kann, ohne daß er dadurch seine Gültigkeit verlore. Wie sehr diese Austauschbarkeit wirksam ist, erhellt vielleicht am deutlichsten jene, die im Opfer, mit

seinem stellvertretenden Leiden im Ritual, statthat. Tausch ist

im magischen Bereich noch keinesfalls Tauschung, sondern Ausdruck echter Gültigkeit des »Gleichen«. In dieser gleichen Gültigkeit des Ganzen und des Teiles kommen zwei zusätzliche Wesenszüge der magischen Welt zum Vorschein, die in der (perspektivelosen) Gleich-Setzung und GleichGültigkeit bestehen. Die Gleich-Setzung bringt das mit sıch, was wir analogisierendes oder auch assoziatives Denken nennen können, das weniger ein »Denken« als vielmehr ein bloßes zufälliges Assoziieren ist, das sich auf das Analogem stützt. Hier liegt auch

die Wurzel des sympathetisierenden Gleichsetzens, das der magi-

Die magische Struktur

95

sche Mensch mit allem zu vollziehen vermag, was einander nicht nur áhnlich ist, sondern einander auch nur zu ähneln scheint. Das

will besagen: hier liegt die Wurzel dafür, daß der magische Mensch die Dinge, die einander zu ähneln scheinen, als einander »sympathisch« oder als miteinander sympathisierend empfindet und

sie durch

den

Vitalkonnex

(und

nicht durch

den Kausal-

konnex) miteinander verknüpft. Was nun die Gleich-Gültigkeit anbelangt, so ıst sie sowohl die Vorstufe für jede Analogisierung, in stärkerem Maße jedoch der Ausdruck dafür, daß die magische Welt eine Welt ohne Werte ist, 1n der alles gleiche Gültigkeit hat?. Daf$ dies jedoch nur für die frühe Zeit zutrifft, braucht nicht betont zu werden, da

sich beispielsweise in. der Jagdszene schon Wertungsmomente andeuten. Trotz dieser Gleich-Setzung und dieser Gleich-Gültigkeit liegt aber in der magischen Unitat latent auch jene Diskrepanz verborgen, die dem Richtungsmoment zum Durchbruch verhilft. Diese Diskrepanz ıst entscheidend, weil sie das auslösende Moment für eine Bewufstseinssteigerung ist. Sie wird in der Widersprüchigkeit des Unitätsbezuges sichtbar, von der wir bereits sprachen. Diese Diskrepanz gebiert das, was wir als letztes der Charakteristika ftir den magischen Menschen anführten: seine magische Reaktion, seinen Bannwillen, um dem Bann des Eingeflochtenseins begegnen und ihm dadurch entgehen zu konnen. Diese magische Reaktion (das fiinfte Charakteristikum) ist der

eigentliche Inhalt des Jagdrituals. Schon die Tatsache des Rituals, das dem nur naturhaften Chaos eine geformte und gerichtete Handlung überstellt, zeigt, in welchem Maße unser Jagdbeispiel einer bereits späten Entfaltungsepoche des magischen Menschen entspricht. Der Mensch, vielmehr: die Menschengruppe ist hier zwar noch Mithandelnde, aber auch schon Fur-sich-Handelnde. Der Schritt aus der vollstandigen Unitat heraus ist hier schon weitgehend vollzogen: die selbst als eine Unität (als Gruppen-Ich) sich dunkel ihrer selbst bewußt werdende Gruppe beginnt sich aus der Naturverflochtenheit herauszulósen und deren Bann durch den Gegenbann zu brechen. In diesem

Zerbrechen

der Bindung, ı in diesem

allmählıchen

Sich-

Gegenüberstellen deutet sich jene Polarisation der Welt an, die ın der mythischen Struktur dann weltbildend und bewußtseins-

bildend werden wird. Die magische Reaktion schafft jenes Gegenüber, das den Kampfplatz oder das Spielfeld des Handelnden ermöglicht. Diese Herauslösung aus der Natur ist der

96

Die vier Bewußtseinsmutationen

Kampf, dem jener merkwürdige

Zwang

zum

Wollen, jener ın

einem sehr gewissen Sinne tragische Zwang zur Macht, zugrunde liegt. Dieser Zwang ist es, der den magischen Menschen befähigt, sich gegen die Übermacht der Natur zu stellen, um der bindenden Macht des Eingeflochtenseins zu entgehen. Damit leistet er jenen weiteren Sprung in die Bewufitwerdung, welche das eigentliche Thema der Menschheitsmutationen 1st. Dieser seltsame, dem Menschen wohl doch zutiefst eingeborene Drang zum Freisein, der, wenn wir an die archaische Struktur

zuruckdenken, sich in der magischen gleichsam als ein Fall, ja als ein Abtall aus der einst gegebenen ganzlichen Ganzheit darstellt — dieser Freiheitsdrang und das aus ıhm resultierende, ständige Gegen-etwas-sein-Müssen (denn nur dieses »Gegen« schafft Distanzierung und damit Bewufstwerdungsmoglichkeiten) ist vielleicht, sei es nun Fluch, Gnade oder Auftrag,

eine auf die Macht

des Menschen,

der

der Erde antwortende

auf diese Erde

verschlagen

Reaktion

wurde:

wer

die Erde bestehen will, der muf$ sich von ihrer Macht befreien

konnen. In der magischen Struktur, die zutiefst noch, jedenfalls an-

fanglich, erdgebunden und erdverhaftet ist, naturhaft und ver-

waldet, so daf$ der Mensch kaum aus dieser Verquicktheit des Urwaldes herauszutreten vermag — noch heute steht ja der Wald, der nicht zufällig an das Wort »Welt« anklingt, für das dunkle,

unbewußte Leben —: mit oder infolge dieser magischen Struktur vollzieht der Mensch den fast übermenschlichen Versuch, sich aus der dschungelhaften, verquickten, bindenden und bannenden

Naturverflochtenheit

zu lösen. Alle Mantik,

aller Zauber

(wie das Regenmachen), das Ritual und alle jene unzahlig vielfaltigen anderen Formen, in denen der magische Mensch der Natur zu begegnen versucht, haben hier ıhre Wurzel. Und nicht nur unsere Maschinen und unsere Mechanık, auch die heutige Machtpolitik entspringen letztlich dieser magischen Wurzel: die Natur, die Umwelt und die Anderen müssen beherrscht werden,

damit

der

Mensch

nicht

von

ıhnen

beherrscht

werde;

diese

Furcht, daß man gezwungen sei, das Außen zu beherrschen (um nicht von ıhm beherrscht zu werden), ıst symptomatisch gerade auch für unsere Epoche. Diesem Zwang verfällt jeder, der nicht realisierte, daß er sıch selbst zu beherrschen habe. Die notwen-

dige Leistung, die im Meistern und Richten unseres eigenen Wesens läge, über das wir nicht Macht, wohl aber, eingedenk der vergessenen Herkunft, richtendes Recht erhalten sollten, wird

Die magische Struktur

97

noch immer ins Außen projızıert. Das magische Erbe, der Machtanspruch, ist, eben auch in dieser aufgespaltenen Form, noch immer nicht überwunden.

Unser Versuch, an Hand einer spáten magischen Szene dem heutigen Menschen die magische Struktur deutlich zu machen, indem

wir auf mentale

Weise Verhältnisse darstellten, die von

uns aus gesehen nicht etwa nur irrational, sondern praerational sind, trägt das Stigma aller jener Bemühungen, die mit ınad-

äquaten Mitteln zu arbeiten gezwungen sind. Praerationales ist

rational nicht darstellbar. Andererseits können wir nicht prae-

rationalisieren, also bloß das Emotionale, Gefühlsmäßige, Vitale

evozieren, wenn wır über dıese Komponenten des Praerationalen, die den magischen Menschen ausmachen, Klarheit erhal-

ten wollen. Da wır es vermeiden müssen, zu jenen Mitteln zu

greifen, deren sich die sogenannten Okkultisten bedienen, und

da es nıcht statthaft

ıst, die Methoden

der Dunkelmänner

zu

gebrauchen, mußten wır uns auf den vorstehenden Versuch beschränken, der gewiß ein merkwürdiges Gemisch von RationalMentalem und Praerationalem ist. Und wohlbedacht beschrankten wir uns hier auf dies eine kleine Beispiel. Einem anderen, vielleicht stärkeren, werden wır noch begegnen. Wır entbanden nıcht dıe wohlgefesselten Mächte. Das heutige psychische Chaos wuchert schon genug, als daß man gerade dieses Chaos noch aktivieren sollte. Denn die Vielzahl der magischen Manifesta-

tionen aufzureißen, die durchaus der Vielzahl, ja der Unzahl der

naturhaften Manifestationen entspricht, wáre zudem ein nutzloses Beginnen: diese endlose Welt, dieser Dschungel urwaldhaften Verquicktseins wáre kaum in Bücherreihen, vielleicht nur in Zettelkatalogen fixierbar4. Allein

schon

die

nicht

darstellbare

Fülle

alles Akustischen,

die Unevozierbarkeit des Magisch-Akustischen setzt der Schilderung dieser magischen Welt Grenzen: die Wirkung des schicksalhaft

beschwörenden

Pochens

der

Urwaldtrommeln,

dieses

überdimensionierte Schlagen des Herzens und des Pulses eines Gruppen-Ichs, diese geballte, geladene Zusammenfassung der diesem Gruppenherzen innewohnenden Vitalitat, welche die Stimmen und Regungen des nächtlichen Urwaldes zum Schweigen bringt — wer wollte allein nur diesen kleinen und doch schon

so mächtigen Ausschnitt der magischen Ausdrucksformen beschreiben? Da wir schließlich hier keine Vorhörung dieser Ausdrucksformen geben können, mußten wir die blassere Vorstel-

lung in Anspruch nehmen, um zu versuchen, einen bleichen Ab-

98

Die vier Bewußtseinsmutationen

glanz dessen zu vermitteln, was und welcher Art diese magısche

Welt ıst. Hier nun möchten wir an die Darstellungen erinnern, auf denen rein bildhaft die Naturverflochtenheit des magischen Menschen anschaulich wird. Es handelt sich dabei um jene spä-

ten Zeichnungen, Malereien und Fresken der magischen Zeiten, auf denen dieses Eingeflochtensein des Menschen in die Natur insofern bildstark zum Ausdruck kommt, als das ganze Bild nichts anderes ist als ein pflanzenhaft verquickter Grund, auf dem die dargestellten Menschen durchaus wie in ihn eingeflochtene Leiber und wie hineingewirkt erscheinen. Das Teppichhafte dieser Darstellungen, das teilweise in geometrisierter Form heute noch in den Fliesen- und Mosaikbéden, in den Tapetenmustern (der Jugendstil hat darin des Guten mehr als genug getan) weiterlebt, kommt natürlich in den Teppichen** am stärksten zum

Ausdruck. Wir mussen das Bildmaterial, das diesen Aspekt der magischen

Struktur

veranschaulichen

kann,

etwas

ausführlich

MAGd lev

= v -

SOs Dan

a

o

7,

"e

Du

.

/

en. A

%e 2

|

e

co.



φ

A ϑ oe

Ld

9,

Π

1)

% P4

%

^

᾿

LÀ d

é

.

e 0

0

Abb. 7: Fragment einer böotischen Vasenzeichnung; etwa 1000 v. Chr. (Verkleinert)

betrachten, weıl dieser Aspekt bisher noch niemals deutlich hervorgehoben worden ıst und weil er, mehr als ein bloßer Aspekt, wohl als der Grundcharakter des Magischen angesprochen werden darf?. Belege dafür finden sich zahlreich bis in

die neueste Zeit hinein. Außer in den schon erwähnten Höhlen-

Die magische Struktur

99

zeichnungen leuchtet uns diese teppichhafte Naturverwobenheit

des Menschen zum Beispiel aus jenem Wandgemälde entgegen,

das sich in dem Grabe des Weserhét bei Theben**? befindet und zwei Edelfrauen darstellt; dieses Wandgemälde stammt aus der

Zeit um 1300 v. Chr. Aus etwa der gleichen Zeit datiert die » Negerschlacht«, die eine Truhe im Grabe des Tut-ench-Amuns schmückt (s. Abb. 5 auf Tafel 2). Der Ausschnitt^", den wir

reproduzieren, bringt dieses Ineinandervertlochtensein anschaulich zur Darstellung. Weniger gekonnt, im Gewollten jedoch schon durch die Geometrisierung und Vertikalisierung mehr geordnet und gemeistert als diese ägyptische Darstellung, ıst jenes Zeichnungsfragment auf einer Tonscherbe, die böotischer Her-

kunft ist (Abb. 7) und aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. stammt48,

Diese sowohl wie eine » Wagenfahrt«, die möglicherweise den »Raub der Helena« darstellt und sich auf einem Tongefäß,

einem

Krater attischer Herkunft

findet*?,

gemahnen

noch

deutlich

des 8. Jahrhunderts an

die

frühesten

v. Chr.

Höhlen-

zeichnungen, dıe aber nun von der Innenwand der Höhle auf die Außenwand (!) des die Höhlung enthaltenden Gefäßes übertragen sind. Und die »Artemis als Herrin der Tiere« (Abb. 8), die sich auf

Abb. 8: »Artemis als Herrin der Tiere«; Malerei auf einem korinthischen Salbengefäß des 7. Jhdts. v. Chr. (Verkleinert)

100

Die vier Bewußtseinsmutationen

einem korinthischen Salbgefäß des 7. Jahrhunderts vor Christi findet°®, geht fast in einem Meere von blumenhaften Rosetten und Füllstücken unter, oder anders gesehen: sie ist in einen Teppich eingewoben. Diesen teppichhaften Charakter hat auch eine Darstellung von »Herakles’ Hochzeitsfahrt«, die auf einer melischen Amphora der gleichen Zeit zu sehen ıst°!. Dieses Hineingewobensein kommt ebenso bildstark auf zwei iberischen

Vasen des 3. Jahrhunderts v. Chr. zum Ausdruck, die aus Liria (bei Valencia) stammen ??.

Nachklänge dieser magischen Verwobenheit finden sich dann

in der arabischen, mongolischen, persischen, indischen, ja selbst

in der frühchristlichen Miniaturmalerei?? und sogar noch in

manchen Fresken des 14. Jahrhunderts, wie jenen in der »Tour

de la Garderobe« des »Palais des Papes« zu Avignon (s. Abb. 6 auf Tafel 3). Unsere Abbildungen werden eine erlebbare Vorstellung vom Grundcharakter dieser magischen Welt gegeben und unsere Versuche, durch Heranziehung eines magischen Rituals die magische Welt rationalisierend darzustellen, ergánzt haben. Man kann sich das Verflochtensein der magischen Welt nicht verflochten genug vorstellen: es enthält alles, was das Wesen der magischen Struktur ausmacht: die Ichlosigkeit, den Schimmer des noch gleichsam schlafhaften, unerwachten Bewufstseins, die Raum- und Zeitlosigkeit und die Unitätsverschmolzenheit. Wird dieses Verflochtensein aber im Bilde dargestellt, wie es unsere Abbildungen zeigen, enthált es auch schon die bewußtseinsmäßig aufdämmernde Distanzierung von dieser

Eingeflochtenheit in die Natur und in die Bannkraft ihrer Übermächtigkeit. Wir müssen uns aber die Bezugsdichte, oder doch wenigstens die Jederzeit und jedenorts aktivierbare Bezugsmöglichkeit zwischen allem und allen vergegenwärtigen und müssen dies zudem ohne Rücksicht auf jedwede Wertung der einzelnen aufeinander bezogenen »Punkte« tun, wenn wir auch nur einen geringen Abglanz des magischen Lebensgefühls nacherleben

wollen. Dieses Eingeflochtensein, das in seiner Raum- und Zeit-

losigkeit auch eine merkwürdige Schrankenlosigkeit enthält, macht die verbürgten Fähigkeiten des magischen Menschen verständlich (der heute noch ın der Form des medialen Menschen

oder als Medium weiterlebt). Der magische Mensch besaß nicht nur die Fähigkeiten des Fernsehens und Fernwissens, er war

auch in stärkstem Maße telepathisch. Erklart sich die Telepathie, ein Phänomen, das heute auf Grund des erdrückenden Beweis-

materials selbst von den geeichtesten Rationalisten nicht mehr

Die magische Struktur

ror

abgeleugnet werden kann**, teilweise durch die Bewußtseinsausschaltung, die das Ich auslöscht oder verdunkelt und es ın die raum-zeitlose »participation inconsciente« mit der Gruppenseele zurück versetzt, so erklärt sich das Hellsehen auf die gleiche Weise. (Es sei hier angemerkt, daß eine primitive Form der »participation inconsciente« der Gruppenseele im Ameisen- und Bie-

nenstaat lebt, da das einzelne Tier jeweils »weif$«, wo und wann

ein das Leben der Gruppe tangierendes Ereignis stattfindet, so daß selbst weit voneinander entfernte Tiere desselben Volkes gleichzeitig dieselbe Reaktion auf Ereignisse zeigen.) Die Naturnähe des Menschen, das noch weitgehende Ungeteiltsein von

Natur

und

Mensch,

sein noch

fluidalerer Zustand

und

seine

schärferen Sinne ermöglichen diese Phänomene raum-zeitloser Art. Bildhaft kommen sıe auf gewissen frühen Darstellungen der magischen Zeit ın jenem wie traumwandlerischen, fast trancehaften Verwobensein des Hauptes, ja manchmal des ganzen Körpers, mit seinem Umraum zum Ausdruck. Wir haben drei Darstellungen gefunden, auf denen dieses sinnhaft-korperliche und naturhafte Mehrwahrnehmen, das der magısche Mensch uns voraus hatte, anschaulich wird. Sıe stammen von verschiedenen, durch Ort und Zeit getrennten Menschengruppen und zeugen für deren jeweilige magische Haltung und dıe daraus entspringenden Fähigkeiten. Die ältere Darstellung (s. Abb. 9 auf Tafel 4) ist eine prähistorische Höhlenzeichnung aus Australien’; die Aura kommt auf ihr klar zum Ausdruck und wird noch durch die leider hier unreproduzierbare

Farbgebung betont ?®. Die andere Darstellung (s. Abb. 10 auf Tafel 4) stammt aus dem 9. Jahrhundert n. Chr., ist irischer

Herkunft und ein Ausschnitt aus einer ganzseitigen Miniatur, die eine »Kreuzigung« darstellt und einem Psalter aus Dover entnommen ıst?’. Die dritte Zeichnung (Abb. 11)% stammt wie die erste aus Australien und stellt in gewisser Hinsicht ein Bindeglied zwischen den beiden anderen dar. Aus ihr geht jedenfalls hervor, daß es sıch bei den deutlich gezeichneten Ausstrahlungen weder um einen Kopfschmuck handelt, wie Kühn meinte, noch um das Attribut einer Sonnengottheit, wıe Winthuis glaubte, denn sie tritt hier bei einer Gruppe von nicht weniger als neun Häuptern ın Erscheinung. Was aber in diesen Malereien vielleicht am stärksten berührt,

das ıst die Mundlosigkeit der Dargestellten. In einer neueren Arbeit bringt Kühn zahlreiche Abbildungen aus erdgeschichtlich frühen Zeiten sowie aus geographisch weit auseinanderliegenden

ro2

Die vier Bewußsttseinsmutationen en.

alii |

s} i r A y N ia.i

i

Abb. 11: Prähistorische Felszeichnung aus Nordwest-Australien (Verkleinert)

Fund- bzw. Ausgrabungsorten; viele der abgebildeten Zeichnungen und Statuetten sind mundlos. Darunter befindet sich

eine Mammut-Elfenbeinschnitzerei,

Westen

Frankreichs

ausgegraben

»Weibliches

wurde

Idol«,

das im

und aus der Eiszeit

stammt (Abb. 12 und 13)^*, sowie eine desgleichen als »Weib-

Abb. 12:

Profil- und En-face-Ansicht

Abb.13:

eines »Weib-

lichen Idols« sakralen Charakters; Fundort Brassempouy, Dép. Landes (WestFrankreich); Elfenbein, nat. Größe; Zeit: mittleres oder oberes Aurignacien, eine der Epochen der Jüngeren Eiszeit (Jungpalaolithikum), ca. 40000 v. Chr.

Abb.

14:

»Weibliches

Idol«;Fundort:Gagarıno

am

oberen

Don,

Gouv.

TambowimKreiseLipezk (Rußland); Stein, nat. Größe; Zeit: Aurignacien-Périgordien (Jungpaläolıthıkum), ca. 30000 v. Chr.

Die magische Struktur liches

Idol«. bezeichnete

Statuette

aus

Stein,

die

103

in Rußland,

desgleichen einem eiszeitlichen Fundort angehörend, gefunden wurde (Abb. 14). Einer sehr viel späteren Epoche dagegen entstammen mundlose Darstellungen aus Sumer und China, während die beiden Statuetten aus Aleppo und Bagdad anscheinend als ım 4. und 3. Jahrtausend entstanden zu datieren sınd (s. Abb.

15 u. 16 auf Tafel 5)62. Noch jünger sind zwei chinesische Beispiele, »Masken«, die noch heutigentags in der Peking-Oper Verwendung finden. Bei ıhnen handelt es sich um eine Schmink- und

um eine Bart-Maske. Die Schminkmasken, es gibt deren 1200 verschiedene, die alle starke Farben aufweisen, kamen in der Zeit

der »Sechs Dynastien« (220 bıs 589 n. Chr.) auf. Die Bartmaske

(By-hu-hsu), die den Mund unsichtbar macht, wird nur von den

zwei höchsten und mächtigsten, den geheimen und weisen Ratgebern (Ministern) des »Himmelssohnes«, des chinesischen Kai-

sers, getragen, deren sakral-rituelle Rolle offensichtlich ist: vom

»Chang-Chian«, dem »Schreiber« (Schriftgelehrten) und vom

» Ying-Hsiung«, dem »Fechter« (Beschützer) des »Himmelssoh-

nes« (5. Abb. 17 u. 18 auf Tafel 6)62 υ. 63,

Was diese Mundlosigkeit bedeutet, wird ersichtlich, wenn man

realisiert, reien und und nicht erst dort,

in welch betontem Maß diese Darstellungen (MaleStatuetten) Ausdruck, ja Kennzeichen der magischen etwa der mythischen Bewußtseinsstruktur sind. Denn wo Mythos ist, ıst auch der ıhn aussagende Mund.

Übrigens überschneiden sich diese verschiedenen Strukturen seit

etwa dem 3. Jahrtausend selbst ınnerhalb der gleichen Kultur-

kreise, da sich bereits seit jener Zeit neben mundlosen Darstel-

lungen auch zahlreiche finden, die nicht mehr mundlos sind, während die ganz frühen, die eiszeitlichen, durchgehend das magische Charakteristikum aufweisen *. Unserem Deutungsversuch für das Fehlen des Mundes liegt die Tatsache zugrunde, daß dieses Fehlen, besonders in den ganz frühen, mehr schematischen Darstellungen, ein Hinweis darauf ist, in welchem Maße noch nicht das Gesprochene Bedeutung hat, sondern, wie wir sogleich sehen werden, das Gehörte, d. h. die Laute der Natur,

die auf den magischen Menschen einwirken. (Adolf Portmann bringt diese hier dargestellte Mundlosigkeit des frühen magischen Menschen

als »Gesichtsschema«

und

»Gestaltmerkmal«

typischer, urbildhafter Art zu dem »vorsprachlichen Sozıalkon-

takt« des Sauglings in Beziehung®>.) Die Parallelitat zwischen den Menschheits- und den Individual-Stadien ist hinsichtlich der

104

Die vier Bewußtseinsmutationen

verschiedenen Bewußtseinsstrukturen inzwischen auch von anderer Seite (Max Burchartz, Oskar Küst u. a. ) nachgewiesen worden.

Jedenfalls

ist das Fehlen

des Mundes

ein Zeichen

dafür, daf das Organ, das eine Aussage ermóglicht, für den magischen Menschen noch irrelevant ist. Die Verständigung innerhalb des Gruppen-Ich, des »Wir«, bedarf noch nicht der Sprache, sondern erfolgt gewissermaßen »subkutan« oder telepa-

thisch, da die Ichlosigkeit des einzelnen, der kein einzelner ist,

die Teilhabe und Kommunikation an den kollektiven und vitalen

Intentionen fördert, weil die untrennbare Verflochtenheit der

Sippe das vorherrschende Prinzip ist. Welche außerordentliche Rolle das Schweigen innerhalb der magischen Struktur und deren Auswirkung spielt, wurde gelegentlich der Beschreibung der beiden, mit der Jagd zusammenhängenden Rituale (s. S. 89) deutlich. Es sei noch betont, in welch starkem Maße die Machtigkeit des magischen Menschen, der den Kampf mit der Erde und der

Natur besteht, wirksam

ist. Denn

sie ist auch heute noch selbst

bei uns akut, aber der Entfaltung des Bewußtseins entsprechend, äußert sie sich, weil sie jetzt relikthaft ist, vorwiegend in einer negativen Form. Diese Negativitát ergibt sich zudem aus dem Umstand, daf eine Überaktivierung der magischen Komponente im heutigen Menschen ein Zurücktauchen in die magische Struktur mit sich bringt, die uns aber, im Gegensatz zu früheren Zeiten, nicht mehr

allein und

dominierend

konstituiert.

Aus

der

magischen Struktur sind seither die mythische und die mentale herausmutiert, und beide haben die magische in uns geschwächt. Das Zurücktauchen in diese magische Struktur ist deshalb ein

Verfall, freilich nur, wenn sie überaktiviert wird und mit Aus-

schließlichkeits-Charakter verbunden ist. Es ist ein uns und unserer Bewufstseinsstruktur ungemäßer Akt der Preisgabe, der aber viel häufiger vollzogen wird, als man vermutet: es ist jene heute oft beobachtbare Flucht nach »rückwárts« in die Vitalität und Unität des Magischen, wobei deren heutiger Mangel diese Rückfälligkeit auslöst, welcher zudem die Angst vor der neuen

Mutation

innewohnen

mag. Alle diese negativen Phànomene,

um die sich die heutige »Massenpsychologie« kümmert, haben wohl in der reaktivierten magischen Disponibilitat des heutigen Menschen ihre Wurzel.

Eine gute Definition dessen, was Magie auch sein kann, und als was sie sich zudem in den Massenreaktionen zu erkennen gibt, formulierte Meyrink, der Autor einst vielgelesener magi-

Die magische Struktur

10;

scher Romane: »Magie ist Tun ohne Wissen« 67, In die heutige Ausdrucksweise übertragen, würde dieser Satz lauten: Magie ist Tun

ohne

Wach-Bewußtsein.

Insofern

ist alles, was

heute

beispielsweise als Massenmanifestation aus dieser Struktur erwächst, gleichzeitig auch verantwortungslos, weıl das Zurücksinken ins Kollektiv den Verlust des Wach-Bewußtseins und damit zugleich die Ausschaltung des verantwortlichen Ich einschließt. Die heutigen Massenreaktionen und Massenpsychosen sind ein beunruhigendes Beispiel dafür. Nur wo die magische Struktur heute im einzelnen noch trieb- und instinktgesichert sich auswirkt, erfüllt sie ıhren eminenten und lebenspendenden Wert. Solange hinter dem magischen Menschen, zu seiner Zeit, noch die unbewußte Weisheit des archaischen Erbes stand, drohte

ihm keine Gefahr aus seinem gewissermaßen schlafhaften Tun, zumal sich das erwachende Trieb- und Instinktbewußtsein vom Intellekt unkorrigiert auswirken konnte. Das Gegenteil von dem, was heute aus der magischen Massengestimmtheit heraus geschieht, war bei ıhm der Fall: er entrann einer Gefahr, denn die durch ıhn geleistete Befreiung von der Natur wurde Wirklichkeit; er ging nicht in der Bewußtlosigkeit der Natur unter, sondern trat langsam aus ihr heraus. Heute freilich, da diese Weisheit sich in Wissen aufgesplittert hat, und da dieses Wissen zu Machtzwecken degradiert wırd (»Wissen ıst Macht«), droht aus dem blinden Tun jene Bedrohung, von der wir hoffen möchten, daß wir ıhr — zumindest wir Europäer — schon entronnen sind. Solange diese Zusammenhänge nicht eingesehen werden, können wir ıhr gar nicht entrinnen. Diese Einsicht zu leisten, ist die Arbeit jedes einzelnen. Daher war es wichtig, die blinde Mächtigkeit der magıschen Struktur zu betonen: denn ob man sie »weiße« oder »schwarze« Magie nennt — welchen Unter-

schied es nicht gibt —, sie ist immer mit Machtstreben € verbun-

den. Aber nur das hat Macht über uns, dem wir diese Macht einräumen. Sie wandelt sich dort in dienende und erhaltende Kraft, wo es uns gelingt, ihr wieder und ausschließlich jenen Bereich zuzuweisen, der ihr gehört, anstatt daß wir ıhr hörig werden. In dem sich hier ganz natürlich ergebenden Gebrauch von

Verben,

die auditiven

Charakter

haben,

klingt jene

aku-

stische Betontheit des Magischen an, die deutlich zeigt, in wel-

chem

Maße

die

Macht

sich

nicht

im

Tastbaren,

sondern

im

Auditiven ausspricht, vielmehr an das Unfaßbare, Praerationale appelliert: Gehören, Gehorchen, Hörigsein sind immer Unterstellungen unter die Macht, die wir den Dingen, Geschehnissen

106

Die vier Bewußtseinsmutationen

oder Menschen sei es besitzlüstern, sei es autorıtätsgläubig, sei es sexuell (was jeweils mit einem Ich- und Verantwortungs-Verlust verbunden ist), zubilligen. Nicht das Auge, das sonnenhaft

ist — das Ohr, das labyrinthisch ist, ist das magische Organ. Dabei steht die Sonne durchaus für die taghafte Helligkeit des Wach-Bewuftseins, dasLabyrinth durchaus für die náchtlich-hóh-

lenhafte Dunkelheit des Schlaf-Bewußtseins.

Aber das Vitale,

das zwar hellhorig ist, aber blind und aus dieser Blindheit heraus auch zerstórend, kann dann durch uns entblindet werden, wenn

es uns gelingt, diese machtvolle Kraft, diese uns konstituierende

Macht einzusehen. Geschieht dies aber nicht, so führt die unbewußt aktivierte magische Struktur — wenigstens uns heutige

Menschen — in letzter Konsequenz über die Atomisierung der Vitalitát, der Psyche und des Ich in den Untergang. 4. Die mythische Struktur

Es gehört zu den Eigenheiten des Europäers, daß es ihm nicht genügt, ein Ereignis oder Faktum als solches zur Kenntnis zu nehmen; er muß es in der Zeit und im Ort, oder doch wenigstens in einem von beiden, fixieren kónnen,

weil anders es für ihn

keinen realen Vorstellungswert erhält. Daß diese Betrachtungsweise eng mit der ihm eigenen Perspektivität zusammenhängt, dürfte nach dem bisher Gesagten deutlich sein. So betrachtet, muß

aber

alles

das,

was

über

die

archaische,

besonders

aber

was über die magische Struktur vorgebracht worden ist, für die heutigen Ansprüche in einem wichtigen Punkt unbefriedigend geblieben sein.

Was die Ortung anbetrifft, so geht sie zur Genüge aus unserem Bildmaterial hervor: die magische Struktur vollzieht sich überall auf der Erde; aber jeweils zu der dem Ort gemafsen Zeit. Von uns aus gesehen, spielt sie sich in der Vorzeit ab. Dieser äußerst glückliche, von der Wissenschaft geprágte Ausdruck, mit dem man die praehistorische, vorgeschichtliche Zeit. bezeichnet, macht uns eines der wesentlichen Elemente des Magischen deut-

lich: er weist uns darauf hin, daß es vor der Zeit, vor dem Zeit-

bewußtsein liegt. Wie weit oder tief man nun diese magische

Zeit in die Vorzeit zurückverlegen will, ist wahrscheinlich nicht nur Anschauungssache, sondern auch wegen ihres zeitlosen Cha-

rakters ziemlich illusorisch. Die einen werden geneigt sein, sie auf

Hunderttausende

von

Jahren

zurückzudatieren,

andere

Die mythische Struktur

107

werden sıch begnügen, sıe ın die Nach-Eiszeit zu verlegen, wieder andere werden unsere »Vier Bewußtseinsmutationen« vielleicht nur auf die nachatlantische Epoche, also vermutlich auf die letzten 12000 Jahre, ansetzen und höchstens der archaischen Struktur und dem Anfang der magischen eine voratlantische

Datierung zubilligen. Es ist reine Spekulation, etwas zu fixieren, was als Zeitloses in einem von uns nachträglich konstruierten Zeitraum geschehen ist. Was bedeuten ım Zeitlosen Begriffe wie Tag, Monat oder

Jahr? Waren die »Jahre« damals so »lang« wie unsere heutigen?

Wahrscheinlich waren sie — eine Vermutung, die aber am objektiven Zeitablauf wohl kaum etwas ändert — »langsamer«. Ungefähr vermögen wir aber die Zeit zu fixieren, wann der Sprung aus der magischen in die mythische Struktur geschah, weil sich ein zwar noch äußerst primitives Zeitbewufstsein bereits manifestiert haben mußte, bevor dieser Sprung moglich wurde. Der magischen Struktur entsprechend ist es mehr ein Zeitgefühl als ein Zeitwissen, ein Zeitgefühl, das durchaus naturhaften Charakter hat. Sobald wir »Zeit« sagen, sagen wir auch »Seele«. Beiden ist eines gemeinsam: die Energetik. Und beide sind — soweit sie trennbar sein mögen — Vorformen der Materie. Wir

werden

auf diese Wesensverwandschaft,

wenn

nicht We-

sensgleichheit, noch zurückkommen. Hier sei nur das Entscheidende festgehalten: war das Charakteristische der magischen Struktur die Bewußtwerdung der Natur, so war das Charakteristische der mythischen Struktur die Bewußtwerdung der Seele. Die im magischen Menschen schlafhaft bewußt gewordene Natur-Zeit ist die Voraussetzung für die Bewußtwerdung der Seele im mythischen Menschen. Überall dort, wo wir in der Spätzeit der magischen Struktur Jahreszeiten-Riten, vor allem aber astronomischen Äußerungen und Kalenderformen begegnen, wieschon in der babylonischen Kultur, dann in der ägyptischen, mexikanischen und in anderen, bereitet sich bereits die mythische Struktur vor. In diesen Tatsachen drückt sich die zum Abschluß kommende Bewußtwerdung der Natur aus, durch die der Rhythmus der Natur, der deutlich eine akustische Betontheit trägt, auf eine naturhafte Weise zeithaft wird. Dies ıst der entscheidende Schritt, den der magische Mensch aus der Naturverflochtenheit heraus tut.

Bildhaft läßt sıch dieses Heraustreten aus der magischen Naturverflochtenheit an gewissen abendländischen Kunstwerken

ablesen, die dem 2. Jahrtausend v. Chr. entstammen. Ungemein

108

Die vier Bewußtseinsmutationen

anschaulich wird diese vollzogene Leistung zum Beispiel auf

einem farbıgen Stuckreliet, das einen »Prinzen mıt Federkrone« darstellt und

aus dem

Palast des Minos

stammt;

es wurde

im

ersten Viertel unseres Jahrhunderts ın Knossos auf Kreta ausgegraben und dürfte ın der ersten Hälfte oder um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. entstanden sein 9? (s. Abb. 19 auf Tafel 7). Es bringt das Heraustreten aus der Naturvertlochtenheit zweifach

zum

Ausdruck:

einmal

indem

es, da es ein Relief ist,

den irdischen Menschen (und nicht eine Gottheit) zur Hälfte aus

dem ihn beherbergenden Grunde löst und seinen Körper teil-

weise

aus

ihm

befreit;

dann

indem

es zur

andern

Hälfte

den

Oberkörper vor den »Himmel«

stellt — und: »der Himmel

ist

von der Leibmitte zu den Füßen

reicht, ist in die Natur, in die

zugleich mit der Seele«; und er ist auch zugleich mit der Zeit. (Daß diese »Zeit« Zeithaftigkeit ist und nicht unsere mentale Zeit, wird spáter noch auszuführen sein.) Der Oberkorper ist wie befreit, nur noch seine eigentliche vegetative Vitalzone, die Lilien, also in eine schon erhellte Natur, bereits nicht mehr ein-

geflochten, sondern nur noch von ihr umgeben. Den selbst noch fast blumenhaften und naturhaft anmutigen Körper krónt ein über die Erde hinsehendes Haupt, in dessen Augen sich schon der Himmel spiegeln kónnte, und das von keinen Blumen oder Früchten oder Ranken geschmückt ist, sondern von schwerelosen, luftleichten Federn.

Auch in Griechenland finden wir neben Vasenzeichnungen, die eine Bewußtwerdung der Naturverflochtenheit zum Ausdruck bringen, indem sie sie darstellen, andere, die noch einen weiteren Schritt aus dieser Verflochtenheit heraus in die Wirklichkeit des mythischen Bewußtseins sichtbar machen. Dieser Vorgang erscheint in einem Detail sowohl auf der bóotischen Tonscherbe (s. S. 98, Abb. 7) als auch spáter in der griechischen Vasenmalerei: es ist der kleine Rankenzweig in der oberen rechten Ecke. Er dürfte einen Teil jener Girlanden oder Ranken

bilden, die, sehr deutlich die Figuren miteinander verknüpfend,

auf einer Vasenzeichnung áltesten Stils auftauchen. Diese stellt Hermes dar, wie er die drei Góttinnen Hera, Athene und Aphrodite zu Paris geleitet (Abb. 20). Creuzer, der die Zeichnung kommentiert, sieht in diesen Ranken bloßes »Laubwerk«, (das),

den Hintergrund umziehend, dem Beschauer bezeichnet, daß die Szene im Freien vorgeht« 7°. Diese Erklärung dürfte, wenn überhaupt stichhaltig, zumindest unzulänglich sein. Wir vermuten, daß diese Ranken,

die wie eine Nabelschnur

die Gestalten

Die mythische Struktur

109

zu einer Unität zusammenfassen, durchaus die unter den Dar-

gestellten herrschende Verbundenheit, und sei es auch nur unbewußt, zum Ausdruck bringen sollen. Solche Girlanden finden sich nämlich nur bis etwa zum Anfang des 6. Jahrhunderts

v. Chr., einer Zeit, in der sich die mentale Struktur durchzuset-

zen beginnt. In der Literatur suchten wir vergebens nach einer Deutung dieser Girlanden, die noch in wenigen anderen Beispielen auftauchen.?! Uns scheint, daß wir diesem Detail durchaus

eine Bedeutung zukommen lassen dürfen, die über eine bloße Interpretation perspektivistisch-rationaler Art hinausgeht. Die Interpretation bei Creuzer, der diese Girlanden allegorisierend als Laubwerk

auffaßt, oder die von

Pfuhl, der sie als »lose,

dekorative Zweige« bezeichnet, dürften der mythischen Struktur, der diese Zeichnungen entstammen, nicht entsprechen. In der magischen und auch noch in der mythischen Zeit war zwar unserer Anschauung nach vielleicht alles wie »zufällig«, aber im Sinne jener Strukturen war es von sinnreichem Zufall: alles,

an y) e

Abb. 20: Frühe griechische Vasenzeichnung (8. Jhdt. v. Chr.?): Hermes mit Hera, Athene, Aphrodite (und sitzender Muse?) (Verkleinert)

auch das Geringste, hat dort seinen Sinn. Schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Religion«, das sich von »relegere« herleitet, sagt das aus; denn es bedeutet »sorgfáltige Beachtung« und ist der Gegenpol zum »neglegere«, der négligence, dem vernachlässigenden »Nichtbeachten« ??. Da uns die christliche Interpretation des Wortes »Religion« als »Rück-Bindung« später

noch beschäftigen wird, seı hier lediglich erwähnt, daß ın einer

Welt, die auch in ihrem sprachlichen Ausdruck alles aufs sorg-

rro

Die vier Bewußtseinsmutationen

faltigste beachtete und daher unerhört nuancıert war”, nichts willkürlich sein konnte; dies gilt auch vom bildlichen Ausdruck, der für jene Welt noch verbindlicher war als der sprachliche, da das Bildhafte der Manifestationsform der Seele am nächsten steht. Insofern sind diese Girlanden nicht ein bloßer naturalistischer oder dekorativer Firlefanz, sondern sinngeladen. Wo kurz zuvor das Teppichhafte oder das geometrisch-rituale Gespinst?* einflechtenden Charakter hatte, dort ist nun auf freiem Grunde der freie und gleichzeitig verbindende Schwung der Girlanden. Sie deuten auf den angeführten Zeichnungen jenes bewußtwerdende Herausgelöstsein aus der Natur an, von dem wir gesprochen haben: statt des einst teppichhaften Eingewobenseins ist es nun das vielaspektige, vergöttlichte Abbild der Seele, das als in sich verbundene Einheit dem Menschen gegenübersteht und das von ıhm ın dem Moment dargestellt wırd, da es sıch auf ıhn, den Menschen Parıs, zubewegt. Und gegenüber der Bewegungsrichtung nach links, die stets eine Betonung des Unbewufsten anschaulich macht und die noch der »Prinz mit der Federkrone« zum Ausdruck bringt, ist es hier eine Bewegung nach rechts, das aber heißt, eine Bewegung der Bewufstwerdung. Diese kurze Veranschaulichung eines äußerst sublimen Vor-

ganges, wie er sich von diesen Bildern ablesen läßt, wollen wir

nicht abschließen, ohne vor einer möglichen Mißdeutung gewarnt

zu haben. Denn ın späterer Zeit, von etwa 650 v. Chr. ab, fın-

den sich dann zahlreiche Vasenzeichnungen, die Rankengewinde aufweisen. Sie dürfen mit den von uns geschilderten Girlanden keinesfalls verwechselt werden, denn diese späteren Ranken

sind

deutlich

Weinranken,

die

zudem

nur

auf

Vasenbildern

dionysischen Charakters auftauchen. Sie erscheinen also ausschließlich dort, wo Dionysos selbst in Erscheinung tritt, oder wo sie seine immanente Präsenz durch den dem Weinlaube überbundenen dionysischen Sakralcharakter, wie in den SatyrTanzdarstellungen, evozieren sollen”?. Am anschaulichsten jedoch wird im bildlichen Ausdruck die mythische Struktur auf einer Vasenzeichnung des 6. Jahrhunderts v. Chr. Erinnert ıhre Linienführung zwar noch leise an die magische Struktur, vor allem an die der ırıschen Auraminiatur, so unterscheidet sie sich

doch in einem wesentlichen Punkte von ihr: denn die Muse ist nicht mundlos (Abb. 21)76. Sie, die seit Homer angerufen wird,

wenn es gılt, den epischen oder hymnischen Gesang zu beginnen,

in dem das mythische Geschehen seine sprachliche Gestaltung erfährt, trägt den mythos-aussagenden Mund. Doch nicht von

Die mythische Struktur

111

der Muse soll jetzt gesprochen werden, sondern vom Mythos. In der magischen Zeit, wir wiederholen es, gibt es noch keinen Mythos. Die innere Kraft des Menschen entäußert sich dort nicht durch den Atem des Singenden, sondern durch die noch sichtbare Ausstrahlung des Hauptes, ja des ganzen Körpers,

durch welche er in das fluidale Geschehen der Dinge und der

fr

IX [X 11%

x [x [x yc px po psi

YA XIX

xx P< Px Px]

«(ὦ ω.

Abb. 21: Die Muse »Kalliope« von der sog. »Frangois-Vase«; 6. Jhdt. v. Chr. (Verkleinert)

X2 DSTX EXTAT: xTx]x [X 1 [XX XX XX [A] | DX

un

x AX

XDD

ps

.

JE X Bw:

|x

Natur wie übergangslos hineingewebt wird. Dort, wo der Mund

erscheint, verblaßt die Stärke der Aura, und der Mund tritt an

ihre Stelle.77 So ist die Muse auf unserer Zeichnung auralos. Die Mundlosigkeit, die Wortlosigkeit einschließt, ist magisch. Wo kein aussagender Mund ist, da ist auch noch kein Mythos. Mund und Mythos gehoren zusammen. Das geht auch aus einer etymo-

logischen Ableitung hervor, von der J. Ellen Harrison spricht?8,

wenn sie auf die Verwandtschaft des englischen Wortes »mouth« mit dem

griechischen

Wort

μῦϑος

(mythos)

hinweist, das im

Griechischen ursprünglich die Bedeutung » Rede, Wort, Bericht«

hatte.

Doch mit dieser Ableitung ist die Bedeutungsfúlle des Wortes

112.

Die vier Bewußtseinsmutationen

»Mythos« noch nicht ausgeschöpft. Als wir den Wurzeln dieses Wortes in den einschlägigen Wörterbüchern nachgingen ??, begegneten wir einer auf den ersten Blick durchaus verwirrenden widersprüchlichen Grundstruktur, dıe sıch jedoch klärte, als wır realisierten,

in welchem

Maße

Charakter eines Urwortes trägt.

dieses

Wort

den

ambivalenten

Das Verbum zu μῦϑος ist μυϑέομαι (mytheomai), das »reden, sprechen, sagen« bedeutet; seine Wurzel lautet »mu-«, was »laut werden,

tönen«

bedeutet.

Aber

ein

anderes

Verbum

der

gleichen Wurzel »mu-«, das jedoch das erstgenannte, das eın langes »u« hat, durch eın anscheinend kurz ausgesprochenes »u« ambivaliert, haben wir in dem Worte uveiv (myein) vor uns δῦ, Dieses uveiv bedeutet jedoch »sıch schließen«, und zwar ein Siehschließen der Augen, des Mundes, der Wunden; im Sanskrit

bildete sich aus dieser Wurzel das Wort »mukas« mit langem »u«, das »stumm«

geworden,

bedeutet; im Lateinischen ist es zu »mutus«

dessen Bedeutung

ebenfalls

»stumm«

ist; und im

Griechischen kehrt es in den Wörtern μύστης, der Myste, und in μυστήριον, das Mysterium, wieder, um noch in der christlichen

Zeit den Begriff der » Mystik« zu prägen, der wortlosen Versenkung bei geschlossenen, also nach innen sehenden Augen.

Wir dürfen nun nicht in den Fehler verfallen, uns für eine

dieser beiden Wurzelbedeutungen entscheiden zu wollen. Ihre

Widersprúchigkeit ist nur rational betrachtet eine solche; ele-

mentar betrachtet ist sie durchaus mehr als das. Beide Bedeutungen sind gültig. Es geht nicht an, nur den Aspekt des »Schweigens« gelten zu lassen, wie es die Traditionalisten tun, die nur die esoterische Uberlieferung anerkennen; sie freilich müssen aus ihrer Rückwärtsgewandtheit heraus das vorwortliche Schweigen unterstreichen. Und so geschieht es denn auch bei den beiden heute wohl bedeutendsten Publizisten dieser Richtung, bei Guénon und Ziegler?!. Man darf aber auch nicht nur den Aspekt des »Sagens« gelten lassen, wie es die Evolutionisten tun, die nur die exoterische (profan-wissenschaftliche) Fortschrittsgerichtetheit anerkennen; sie freilich müssen aus ihrer Vorwärtsgerichtetheit heraus die worthafte Sprache unterstreichen. Und

so geschieht es denn auch, sowohl bei Harrison als auch bei Prellwitz, die lediglich die naturalistische Tatsache heranziehen, daß das Sprechen ein Öffnen und Schließen der Lippen bedinge®?. Nur

wenn

wır beide Wurzelbedeutungen

gelten lassen, er-

schließt sich uns der Grundcharakter der mythischen Struktur.

Die mythische Struktur

113

Denn erst beide zusammen, nicht rational als Widerspriichigkeit aufgefaßt, sondern als elementare Ambivalenz, konstituieren sie. Insofern es sich hier aber um eine Konstituierung handelt, ist es angezeigt, einen Ausdruck zu wählen, der ein stärkeres Spannungsfeld verdeutlicht, als es bei dem Begriff der Ambivalenz der Fall ıst. Wır dürfen vom Polarıtäts-Charakter des Wortes »Mythos« sprechen, dessen urwortliche Struktur der mythischen Struktur wirkende Prägung gibt. War die archaische Struktur der Ausdruck der nulldimensıonalen Identität und der ursprünglichen Ganzheit, war die magische der Ausdruck der eindimensionalen Unität und naturverwobenen Einheit — so ist die mythische Struktur Ausdruck der zweidimensionalen Polaritat. Führte die archaische Struktur durch den Verlust der Ganzheit zur Einheit der magıschen Struktur und war damit eın erstes dämmerhaft zunehmendes Bewußtwerden des Menschen als einer Einzelung vorgegeben, so brachte die magische Struktur

durch den in ihr sich abspielenden Befreiungskampf gegen die Natur eine Herauslösung aus der Natur und damit die Bewußtwerdung der Außenwelt. Die mythische Struktur nun führt zu einer Bewußtwerdung der Seele, also der Innenwelt. Ihr Symbol ist der Kreis, der stets auch Symbol der Seele war. Der geeinzelte Punkt der magischen Struktur erweitert sich zu dem zweidimensionalen, die Fläche einschliefSenden Ring. Er umfaßt alles Polare und bindet es ausgleichend ineinander, so wie im ewigen Kreislauf das Jahr über seine polaren Erscheinungsformen von Sommer und Winter ın sich zurückkehrt; so wie der Sonne Lauf

über Mittag und Mitternacht, Licht und Dunkelheit umschlie-

Send, in sich zurückkehrt; so wie die Bahn der Planeten in Aufund Niedergang, sıchtbare und unsichtbare Wege umfassend,

ın sıch zurückkehrt. In diesem

naturhaften

Zeitcharakter des Kreises, ın ıhm be-

gegnen wir der Verwandtschaft der Zeit mit der Seele wieder. Und mehr noch: war das »Resultat« der magıschen Struktur die Bewuftwerdung der irdischen Natur, also vornehmlich der Erde, so bringt die mythische den Gegenpol der Erde, nämlıch die Sonne

und

den Himmel,

zum

Bewufstsein.

Damit

wird

die im

magischen Kampfe angeeignete Erde gleichsam umfangen von den beiden polaren seelischen Wirklichkeiten: von dem unter-

erdhaften Hades und dem über-erdhaften Olymp. Diese beiden Wirklichkeiten spiegeln sich auch in der antiken Architektur. Wir kónnen das jetzt erkennen, da wir beginnen,

114

Die vier Bewußtseinsmutationen

die mythische Struktur aus sich heraus darzustellen und sie nicht nur als bloße »unperspektivische Welt« vom perspektivischen Blickpunkte aus betrachten. Die rationalisierend aufgezeigten

zwei architektonischen Grundformen der Antike (s. S. 37), die

auf Uterus und Phallus zurückgeführt werden, haben eine tiefere Wurzel, als daß man in ihnen lediglich Übertragungen physischer Grundformen ins Architektonische sehen dürfte. Zudem erfolgt von diesem Standpunkt aus die Anwinkelung dieser Grundformen durchaus im Sinne der Dualitat; jede duale Auffassung verrät aber die rationale Einstellung. Wirklich dual werden diese Formen erst in ihrer Auseinanderreifßung zu Turm und Schiff in der christlichen Baukunst. In der Antike machen sie vor allem die seelische Realıtät und ihre Polarıtät sichtbar, denn Hades und Holle haben Gewolbecharakter, vor allem Hohlencharakter; dies ist der Nacht-Aspekt, die Mutterdunkelheit, die

Geborgenheit, das gebärende Prinzip; Säulencharakter, der in der Architektur vor allem das Wesen des lichten Zwischenraumes ausdrückt, hat in diesem Sinne der Himmel,

der Olymp;

dies 1st der Tag-Aspekt, die Vaterhelligkeit, das Ausgesetztsein, das zeugende Prinzip. Auch in der Architektur spiegelt sich also die polare Konzeption des mythischen Menschen; und in Griechenland ergänzten die Höhlenheiligtümer, wie jenes des Tro-

phonios in Bóotien, die ersten Sáulentempel,

bevor sich diese

Höhlen, der Erde entwachsen, in die rómischen, von Säulen ge-

tragenen Kuppelbauten umgestalteten: in ihnen schloß sich sicht-

bar der Kreis. In der Architektur, in ihren harmonischen Maßen,

in diesem stummen Tönen des Steines spiegelt sich das sagende Tónen des mythischen Wortes; der singende Stein der antiken Heiligtümer ist der geschwiegene Mythos und ergánzende Pol des wortgewordenen mythischen Berichtes. Mythos: das ist ein Schließen von Mund und Augen; und da es damit ein schweigendes Nach-Innen-Sehen (und ein NachInnen-Hören) ist, ist es ein Ansichtigwerden der Seele, die ge-

sehen, dargestellt, die gehórt, hórbar gemacht werden kann. Und Mythos: das ist dies Darstellen, dies Hórbar-Machen; es

ist: die Aussage, der Bericht und — wieder stoßen wir hier auf das bewufstseinandeutende » Richten« — über das Erblickte und Gehorte.

Was

das eine Mal

stummes

Bild war,

ist das andere

Mal tónendes Wort; das Innen-Erschaute und gleichsam Erträumte findet seine polare Entsprechung und Bewußtwerdung in der dichterisch gestalteten Aussage. So ist das Wort stets Spiegel des Schweigens; so ist der Mythos Spiegel der Seele. Erst

Die mythische Struktur

115

die blinde Seite ermöglicht die sehende. Und da alles Seelische vor allem auch Spiegelcharakter hat, trágt es nicht nur naturhaften Zeitcharakter, sondern ist stets auf den Himmel bezogen; die Seele ist ein Spiegel des Himmels — und der Hölle. So schließt

sich der Kreis von Zeit — Seele -- Mythos — Hölle und Himmel — Mythos — Seele — Zeit.

Zu diesen Ausführungen ist noch zu sagen, dafs es das gibt, was wir als eine »speculatio animae« bezeichnen (davon wird später noch zu sprechen sein), und daß der Schlußsatz des vor-

angegangenen Absatzes kein rationales Folgern ist, sondern ein

mythisches Kreisen; also keine Schluß-Folgerung, sondern eine dem Mythischen gemáfie kettende Kreisung. Und noch eins ist zu erwähnen, ehe wir uns den Mythen zuwenden: wenn wir sie vom Standpunkt der Bewufstwerdung aus betrachten, was bisher noch nicht geschah, so wird dies überraschende und aufhellende Ergebnisse zeitigen. Die mythische Struktur wird durch die Imagination (vom lateinischen »ımago« = Bild) geprägt und hebt sich dadurch von der magischen Struktur ab, die durch die Emotion geprägt ist. In der magischen Struktur werden die gefühlten Zusammenhänge bewußt und entäußern sich in emotionalen Formen: in trieb- und instinktbetonten Handlungen, die den Gesetzen und Ausweitungen der affektiven Reaktion wie Sympathie und Antipathie unterstellt sind. Diese magische eindimensionale Struktur, die wir vorperspektivisch nennen, weil die mythische zweidimensionale Struktur unperspektivisch ist und somit, wenn auch in der verneinten Form, das perspektivische Moment latent enthält — diese vorperspektivische Struk-

tur ist raum- und zeitlos und hat ein emotionales Trieb- und

Instinktbewußtsein,

das

auf die Natur

und

die Erde

Antwort

den antiken Kosmos,

antwor-

gibt. Die mythische dagegen hat ein imaginatives Bildbewufstsein, das sich in dem Bildcharakter des Mythos spiegelt und auf

die Seele und auf den Himmel, tet. Sie ist noch raumfern,

aber sie 1st schon zeitnah. Dies Bild-

bewufstsein pendelt noch zwischen der magischen Zeitlosigkeit und

der

allmählich

bewußtwerdenden,

kosmisch-natürlichen

Zeithaftigkeit. Je bewufstseinsferner ein Mythos ist, desto zeit-

loser ist er; sein Grund ist so zeitlos blind wie die Rückseite des

Spiegels. Je bewufstseinsnáher er ist, desto zeitbetonter ist er;

seine Höhe reicht an die Helligkeit der Sonne. In den frühesten Mythen erinnert sich die Seele der Weltwerdung; das sind die grofien kosmogonischen Bilderberichte. In den späteren Mythen

erinnert sich die Seele der Geburt der Erde und des Menschen

116

Die vier Bewußtseinsmutationen

und spiegelt die dunklen und hellen Kräfte in den Göttergestalten. Zeitloses wird allmählıch zeithaft; zeitferne Zeitlosigkeit geht langsam in zeitnahe Zeitlichkeit über. Und in dieser ambivalenten Zeit- beziehungsweise Zeitlosigkeitsform äußert sich, unserem rationalen Verstehen trotzend, von neuem die Polaritat

der mythischen Struktur, denn beide Formen bestehen sich erganzend neben-, ja miteinander. Diese Polaritat kommt selbst in der mythischen Aussage zum Durchbruch. Es gilt von ihr, was von jeder Aussage gilt, die sich des Wortes bedient: daß namlich das Gesagte allein nicht entscheidend ist. Entscheidend wird es erst — und Ent-Scheidung bedeutet Aufhebung des Scheidenden — durch die Mitbeachtung des im Gesagten Verschwiegenen. Nur dort, wo das Nichtgesagte seine stumme Mitsprache hat, erhalt das Gesagte jene Tiefung und Polung, die es in die Spannung des wirkenden Lebens tragen. Bloßes Schweigen ist magische Gebanntheit; bloßes Reden ist rationaler Leerlauf. Nur dort hat das Wort Wert und ist nicht mehr bloß Macht (also magisch) oder Formel (also ratio-

nal), wo sich der Sprechende von diesen Zusammenhängen Rechenschaft gibt. Und wer gut hinhort, hort die (vielleicht nicht nachweisbare) Verwandtschaft von » Wort« und »Wert«.

In einem gewissen Sinne sind die Mythen wortgewordene Kollektivtraume der Volker. Solange sie nicht in dichterischer Form dargestellt werden, sind sie unbewufite Vorgänge; ihre bloße Aussage ist noch kein Indiz für ihre Bewuftwerdung, sondern lediglich für ihre Bewußtwerdungs-Möglıchkeit. Jeder Bewußtwerdung geht die sie erst ermöglichende Entäußerung dessen voraus, was bewußt werden soll oder will. Das Bewußt-

werden hat stets nachholenden und zurücknehmenden Charakter; und vor allem ıst es von einer gewissen Kraft der Formulierung und Gestaltung abhängig. Im geformten Mythos erschließt sich das Bewußtsein dıe Seele, und damit eın unsicht-

bares und zugleich erweitertes Gebiet der Natur, den Kosmos:

also alles das, was Materie wurde und sich nun in den bildhaften

seelischen Vorgängen als Mythos darstellt und ınfolge seiner Formwerdung bewußt wird. Die bisherigen Mythendeutungen, wenn wir von jenen der reinen Kosmogonien absehen, stützen sich hauptsächlich auf zwei vorwiegend inhaltliche Aspekte des Mythos: auf den astralen und auf den naturhaften Aspekt, wobei der naturhafte eine deutliche sexual-erotische Betonung erfuhr. Die astral-mythologische Interpretation wurde durch Dupuis$3 eingeleitet und

Die mythische Struktur hatte ihre letzten Vertreter in Drews

und

Eisler8^;

117

die natur-

mythologische Interpretation, die da und dort ohne Zweifel noch magısche Anklänge aufweist, begann mit Creuzer®°, dem so verschiedengeartete Interpreten wie Freud und Rank, Klages, Jung und Kerenyı® folgten. Beide Richtungen haben, trotz unvermeidbarer einseitiger Überspitzungen, Entscheidendes zur Klärung des Phänomens Mythos beigetragen. Welchen Aspekt man nun auch betont, stets bringt die Mythen-Interpretation eine Lebens-Erhellung mit sich, die aber manchmal infolge einer Supervitalisierung in verwirrende und alles auf den Kopf stellende Verdunkelung umschlägt, wie beispielsweise bei Klages, den wir einen »Metabolisten« nennen mochten. Diese Formulierung charakterisiert jene Interpreten, die der defizient mythischen Haltung verfallen sind. Bei ihnen handelt es sich um eine falsche Metabolé (μεταβολή = Umschlag)

— also um ein falsches Umschlagen, das kurzschlufartig wurde und sich in einer Gleichgewichtsstörung zu erkennen gibt, die fur unsere Zeit bezeichnend ist. Sie ist die defizient gewordene Form des einstigen, organisch sich abspielenden, ausgleichenden Umschlagens des einen polaren Extrems in sein anderes, wie es das Jahr, die Sonne, die Planeten, der Herzschlag und der Atem vollziehen. Heute jedoch fallt der Metabolist aus einem Extrem

ein fur allemal in das andere. (Der Opportunist, der aus Charakterlosigkeit, und der, den wir als »rancuniste« bezeichnen

wollen, derjenige, der aus Ressentiment handelt, sind nur zwei

seiner substanzlosen Spielarten.) Der Metabolist bleibt Gefange-

ner der einen Seite des Kreises, da ihm die Mitte fehlt, die den

Kreis erst ermöglicht, und da er dem organischen Geschehen des Kreises keine Gestaltung, sondern bloße Dynamisierung hinzufügt,

wodurch

er den

Kreis,

ihn

tiberdrehend,

zu

tödlichem

Stillstand bringt. Die Lebens-Erhellung durch die Mythen-Interpretation ist der gegliickten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt. Aber ftir uns liegt der Akzent nicht mehr auf dem Worte »Leben«, sondern auf dem Worte »Erhellung«; diese Erhellung macht das wesentliche Moment des mythischen Prozesses aus. Denn ob astral deutbar, und damit vor allem kosmo-

logisch, ob vital, und damit vor allem anthropologisch, unserer Meinung nach enthält fast jeder Mythos das BewußtwerdungsElement, insofern er den Bewußtwerdungs-Prozeß der Seele spiegelt. Aus der unabsehbaren Fülle dieser Bewußtwerdungs-

Mythologeme, als welche wir sie bezeichnen wollen, seien fünf

118

Die vier Bewußtseinsmutationen

herausgegriffen, an denen dieser Grundwesenszug des Mythologems sichtbar wird. Es sind die Meerfahrtmythologeme und die Narzifmythologeme, die Sonnenmythologeme und jene Hadesfahrtmythologeme, die als Nekyia-Berichte auf uns gekommen

sind; und schließlich seı unter vielen einzelnen noch ein beson-

ders markantes Beispiel genannt: das Mythologem von Athenes Geburt. Diese Mythologeme nehmen Gestalt an, sobald der Mensch der Seele ansichtig wird; sie sind das sichtbarste Zeichen einer Bewufitwerdung, die zugleich die Tendenz zur Ichwerdung einschließt. Sie spiegelt sich in den Meerfahrtmythologemen. Jede Meerfahrt ist das Sinnbild dafür, daß der Mensch eine gewisse

Herrschaft über die Seele erreichte, denn Seele und Wasser ste-

hen, noch bei Heraklit ?, in engster Beziehung zueinander. Auch berichtet zum Beispiel die »Siebzehnte Rune« der »Kalewala«, daß der große Sänger Wäinämöinen sein Boot nicht fertigstellen kann, ehe er nicht noch einige Wörter weıß, die er nicht zu finden vermag; erst als er sie von dem Urriesen Wipunen erfahren hat, erst als er fähig ist, alle Urphänomene auszudriikken, was einem Realısierungs-Prozeß, einem Bewußtwerdungs-

Vorgang gleichkommt, ist er imstande, den Bau des Bootes zu

vollenden und die Meerfahrt anzutreten (die in der » Achtzehnten

Rune«

geschildert wird)*.

Nach

Durchmessung

Seele, nach dieser Meerfahrt, die wir als Symbol

der eigenen

für eine Be-

wufstwerdung auffassen, findet der mythische Mensch den andern Menschen, findet er den Partner, vielmehr die ihm personlich Bestimmte. Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du, erwacht im Du die ganze Welt, in die er zuvor ichlos magisch eingeflochten war. Erst wer es erlernte, zu sich selber »Ich« zu sagen und sich damit nicht mehr an alle

Welt austeilt oder sich aller Welt entzieht, erst der ist fähıg, sich auch ganz zu verlieren — und sich damit, um das Du bereichert, wıederzugewinnen. Doch das Geheimnis dieses »Gewinnes«, der zugleich ein Verlust ist, ist vielleicht das tiefste Le-

bensgeheimnis und so tief und unauslotbar wie das Meer. Waina-

möınen findet nach Überstehung des Meeres am anderen Strande Annikki, Theseus findet nach Durchquerung der Ägäis Arı-

adne auf Kreta?? (in eben jenem Palast, in dem der »Prinz mit

der Federkrone« ausgegraben wurde), die Griechen finden nach langem Segeln Helena wieder in Troja, Odysseus begegnet nach der Errettung aus dem Schiffbruch Nausikaa??; Gunther findet

Brunhilde,

die

»Küniginne

gesezzen

über

sé«?!,

und

Tristan,

Die mythische Struktur

119

nach Uberstehung vieler Meeresstürme, Isolde und erfährt damit sich selber, denn jede Meerfahrt ist ein Sich-Erfahren. Dem Thema der Meerfahrt?? begegnen wır ın allen Kulturkreisen: dem nördlichen, dem griechischen, dem germanischen. Auch im vorderasiatischen treffen wir auf diese Erlebnis- und Ausdrucksform einer Bewußtwerdung. Sie ist uns in einem der mythologisierenden Märchen der persisch-indisch-túrkischen Märchensammlung »Tuti-Nameh« 933 überliefert. In der »Geschichte des Königs von China« wird erzählt, wie dieser König in das Land Medinet-el-Ukr reıst, um die Königstochter zu gewinnen. Von dem weisen Alten, seinem ersten Vezir, begleitet, gelangt er ans

Meer; und dann heifst es wörtlich: »Am Meeresufer bestiegen sie ein Schiff und fuhren viele Tage und Nächte, bis sie an einer reizenden Küste landeten.« Und so harmlos dieser Satz auch anmuten mag, so liegt doch ın ıhm der Schlüssel für das darauf folgende Geschehen. Denn an der Küste überläßt der Weise den König sich selber; mit anderen Worten: der König fand sich und bedarf des Begleiters nıcht mehr. Und da er sıch selber fand,

findet er nach vier Tagen die Kónigstochter und bringt sie in weiteren vier Tagen nach China zurück, um sie zu seiner Frau zu machen. Dazu sei angemerkt, daß hier der Bewufitwerdungsprozeß noch durch die Erfüllung der Acht deutlich gemacht wird, denn es sind zweimal vier Tage (die Zahl wird ausdrücklich genannt), in denen sich Findung und Bindung vollziehen. In mythischen Texten wie diesem dürfen wir genauso wie bei einem symbolisierenden Akt, welcher Art ja auch die Inthroni-

sierung der »achten Muse« (siehe vorn S. 48) war, diese Acht, da sie symbolischen Wert hat, deuten; Ja, wir sind sogar dazu

verpflichtet, wollen wir dem mythischen Inhalt gerecht werden, und insbesondere dann, wenn die vorgeschlagene Deu-

tung neues Licht auf strukturelle Zusammenhänge zu werfen vermag. Dem gleichen Wasser-Aspekt wıe ın dem Meerfahrtmytholo-

gem begegnen wir in dem Narzıfßmythologem. Auch hier spielt

die Wasser-Seele-Symbolik die entscheidende Rolle und wird zu einer mythischen Aussage über die Bewußtwerdung: Narziß,

der, das Wasserelement in seinem Namen bergend?^4, seiner selbst ım Spiegel des Wassers ansıchtig wird, der also (mythisch

gesprochen) in die Seele schaut, schaut damit sich selber und wird sich seiner eigenen Existenz bewußt. In den Spiegel der

Seele

sehen:

das

ist Bewußtwerden;

sie erblicken,

wie

sie der

mythische Mensch im spiegelnden Mythos erblickte, das heißt

120

Die vier Bewußtseinsmutationen

nichts anderes, als sich seiner bewußt werden. Und das »Corpus

Hermeticum« hat dieses Mythologem sogar in seine Kosmogonie verflochten: der »Erste Nous«, der höchste Gedanke, schuf aus sich

den

göttlichen

Menschen,

den

Ur-Menschen,

der

in die

Sphäre des Demiurgen hinabstieg, wo ıhm die einzelnen Planeten von

ihrem

Wesen

mitteilten; dann

zerrif er den Kreis der

Sphären und erschien der darunterliegenden Physis. Und als er im Wasser sein Bild sah, verliebte er sich in dieses Bild, stieg in

die vernunftlose Natur hinunter und vereinigte sich mit ihr?5. Diese kosmogonische Parellele zum griechischen Narzifmythologem macht die den Parallelen innewohnende Spiegelung

deutlich, selbst dann, wenn sıe sıch auch erst ın der Unendlich-

keit kreuzen, einer Unendlichkeit, die ja eine ausgesprochen seelische Konzeption ıst. Die Parallelisation des griechischen Narzıßmythologems mit der Hermetischen Kosmogonie spiegelt es deutlich, daß nıcht nur der Mensch, sondern auch der einst göttliche Mensch, durch Spiegelung seiner selber bewußt wurde. Durch diese Spekulation — ein Begriff, der das lateinische »speculum«, zu deutsch »Spiegel« enthält 96 — enthüllt sich von neuem der Polarıtäts-Charakter des Mythos. In diesen Mythen spiegelt sich nicht nur die menschliche Seele, sondern auch eine außermenschliche, also göttliche Seele: so jedenfalls erschien es dem mythischen Menschen, wie die Mythen beweisen. Doch verfolgen wir diese Spekulationen (diese Spiegelungen) nicht weiter; sie führen in jene Uferlosigkeit der Seele, um die schon ein Heraklit wußte. Wenn

er jedoch die Seele mit dem

Wasser in Beziehung setzte, so hielten sie andere, wie Demokrit, als mit dem Feuer ıdentisch. Alle diese Spekulationen mögen uns heute als eitel Aberglauben erscheinen. Aber die Polung, die sich in der erfolgten naturhaften Gleichsetzung der Seele mit Wasser und Feuer oder mit Luft und Stein ausdrückt, 1st zumin-

dest symbolisch richtig. Zudem ıst es gleichgültig, ob wır diese Dinge nun rationalisierend verstehen oder nicht; ıhr damaliger Wirkungs-Charakter bleibt bestehen. Mag es sich also um bloße Spekulationen handeln oder um ein irrationales Wissen, so bringen diese Spekulationen doch das zum Ausdruck, was das Wesen der Seele ausmacht: daß sie selber eine Spiegelung und eın Spiegelndes ist und aus der polaren Ambivalenz lebt. Wenden wir uns Jetzt den Sonnenmythologemen zu: wo immer wir ıhnen begegnen, dort wird es licht, dort wird das Bewufstsein hell. Wir können feststellen, daß sie in Ost und West

um etwa die gleiche Zeit ihre Formung erhalten; und 1m Augen-

Die mythische Struktur

121

blick ıhrer Formung in die Wortaussage Wirklichkeit und damit wirkend wurden. Vorher hatten die sonnenmythologischen Vorstellungen, wie beispielsweise jene naturhaften, die sich seit 2500 v. Chr. in der ägyptischen Horus-Symbolik zu erkennen gaben, noch Traumcharakter. Aber im Bericht geformt, im gestalteten Mythos geworden.

Und

ausgesagt, sind sie zu erinnerten Träumen

schon

Seneca, wohl

im Anschluß

an Platon 97,

weıst darauf hin, daß nur der Wache über seine Träume berichten könne. Dies aber heißt, daß nur er sie zu richten, zu beur-

teilen vermag und damit ihres Inhaltes bewußt werden kann. Im Osten nun, ın China, finden sıch erste Andeutungen eines Sonnenmythologems im »Hiho«-Mythologem, das uns in dem nur sehr bruchsttickhaft erhaltenen »Kouei Tsang«?8 überliefert ist. In Griechenland ist es die »Odyssee«, in der wir dem Helios-Mythologem begegnen. Kouei Tsang aber und Odyssee entstanden beide um etwa 800 v. Chr. Gleichzeitig mit diesem Mythologem tritt in Ost und West ein anderes bedeutsames Motiv in Erscheinung: der Ausbruch des Zornes. Es handelt sich um jenen »heiligen Zorn«, der oft als heiliges, dem Menschen innewohnendes Feuer bezeichnet wor-

den ist. Die Gleichzeitigkeit der Formung der Sonnenmythologeme und der Schilderung des Zornausbruchs will fast besagen (sofern wir dem mythischen Ambient treu bleiben, den wir zu schildern haben), daß die Sonne in den Menschen herabstürze,

um sich in ihm durch diesen Zorn zu manifestieren. Er ist jene Kraft, die das Gemeinschafts- und Clangefühl sprengt, insofern

sie sich im einzelnen, dem »Helden«, manifestiert und ihn im-

mer weiter in die Einzelung, in die Selbstbehauptung und damit in die Ichwerdung treibt. Wir wiesen schon anderwärts?? auf die Gleichzeitigkeit der entscheidenden Rolle hin, die der Zorn sowohl in der »Bhagavadgita« wie in der »Ilias« spielt, die mit den Worten beginnt: Μῆνιν (menin) ἄειδε, ted, Πηληιάδεω ᾿Αχιλῆος (»Zorn singe, Göttin, den des Peleiaden Achilleus«). In diesen Worten können wir jetzt einen Anruf zur Bewußt-

werdung erkennen.

Dieser Zorn, dieses Initial-Motiv der »Ilias«, führt dann — und zwar, wie Jetzt ersichtlich ist, äußerst sinnhaft, nachdem

Odysseus der Nausikaa begegnet war — zu jenen erschütternden Worten des Odysseus, in denen die ganze Größe des Griechentums aufleuchtet und in denen bereits der Grundton der abendlandischen Welt enthalten ist: es sind jene stolzen Worte: ᾽Οδυσσεὺς,

es ist Jenes

»Bin

Odysseus« 100. das aber noch

εἴμ

kein

122

Die vier Bewußtseinsmutationen

»Ich bın« 1st: das »Ich« wird zwar schon im Zusammenhange mit dem Namensträger sichtbar, aber nur insofern es noch im Verbum ist, dem aktiven, handelnden Prinzip im Satze. Noch heute sind im Italienischen und Spanischen, deren Völker noch stärker sıppengebunden leben und dem Affektiven vehementer zuneigen als andere europäische Völker, die Pronomina nicht eigenständig, sondern ım Verbum, also noch ın der Handlung enthalten, beziehungsweise bei passiven Verbformen im Erleiden. Nur handelnd oder erleidend beginnt der Mensch sich stärker als einzelner zu fühlen. Daß diese Sprachen, darin der größeren Ursprungsnahe der antiken Sprachen ähnlich, die

starken Verbalendungen, durch welche die Pronomina noch fest an die Verben gebunden werden, aufrechterhielten, hat in

dieser Ich-Geartetheit seinen Grund; andere Sprachen lösten das Ich aus der es anfänglıch alleın darstellenden Handlung heraus, perspektivierten es stärker und ließen die Endungen verblassen. Das »Eım Odysseus« beruht auf zweı Eigenschaften, die durch Homer immer wieder betont werden: darauf, daß Odys-

seus πολύμητις (polymetis) ıst, der (durch Vernunft) Erfindungsreiche, und darauf, daß er πολύτλας (polytlas) ist, der »Dulder«. »Metis« aber ist der Name der Mutter Athenes, jener Athene,

die nıcht

nur

als Schutzgöttin

des Achilleus,

sondern

auch als die des Odysseus handelt. In der doppelten Charakterisierung spricht sich aus, was unverlierbare Begleiterscheinung jeder Bewufstwerdung ist, die ja stets auch durch die denkende Vernunft mitbewirkt wird: jeder Bewußtwerdung,

und handle

es sich um die geringfügigste des alltäglichsten Alltags, und mit ihr auch jeder Ich-Gewinnung, ist das erduldende Leiden eingefügt: das passive Moment ergánzt gegenpolig das aktive: der Freude am denkend-handelnden Finden entspricht das Leid des duldenden Verlierens. Und es ist dieser Anspruch der Bewußtwerdung, das Leid zu ertragen, den der abendländische Mensch, selbst wenn er sich selber dazu die Vorbedingungen schuf (wie

in den Jahren 1930 bis 1950), kaum mehr zu erfüllen vermag, da er einseitig dem aktivierenden, dynamischen Prinzip verfallen scheint.

Gerade die erlittene und erduldete Leidensfülle befähigt Odysseus, auf der Heimfahrt von Troja seiner Gefährten »Psyche« zu retten!°1, Andere

retten kann

jedoch

nur, wer sich selber

gerettet hat. Was aber verbirgt sıch hinter dieser Rettung der

ψυχήν Hier scheint ein eminent wichtiger Aspekt der mythischen

Die mythische Struktur

123

Ausdrucksweise des griechischen Menschen durch, denn »Psyche« ist, nicht nur hier, sondern

ja noch

noch

bei Heraklit

und

bei Platon,

im Johannes-Evangelium!? gleichbedeutend

mit Le-

ben und Seele. Deshalb konnten wir sagen, dafí aus der echten Mythen-Interpretation stets eine Lebens-Erhellung erwachst, weil sie gleichzeitig eine Seelen-Erhellung, eine Bewußtwerdung ist. Dabei brauchen uns die verschiedenen Bedeutungen des Wortes »Psyche« durchaus nicht zu verwirren: Psyche, als Atem oder Hauch gedeutet, steht nicht in Widerspruch zu ihrer Gleichsetzung und Gleichwertung mit Leben, und auch nicht mit den Zuordnungen,

die Heraklit, Demokrit

und andere ihr gaben,

wenn sie die verschiedenen Elemente mit der Seele gleichsetzten.

Denn ob Sonne oder Wasser, Stein oder Luft: die Seele und das

Leben binden diese Polaritaten ineinander, und im mythischen

Bericht wird einmal dieser, einmal jener Aspekt sichtbar und

enthullt in der verschwiegenen Komponente, auf der uns unsichtbaren Rückfläche des Spiegels, jeweils den ihn polar ergänzenden Aspekt. Die wirkende Bewußttwerdung, die sich in den erwähnten Mythen spiegelt, macht aber auch deutlich, daß nicht nur die Sonne im Menschen sichtbar wird, sondern daß

auch die Dunkelheit in ihm sichtbar wird. Das Ansichtigwerden des abgrundtief Dunklen kommt in jenen Mythologemen und Schilderungen zum Ausdruck, die uns unter dem Namen »Nekyıa« als Nachtmeerfahrt, Hadesfahrt und Hollenfahrt úberliefert wurden. Diese Nekyia wird im Gilgamesch-Epos beschrieben und in der Hollenfahrt Istars dargestellt; Odysseus hatte sie zu bestehen, von den Orphikern wird sie erwähnt, das Y-Symbol der Pythagoräer weist auf sie hin; von Vergil wurde sie geschildert, in den Evangelien geoffenbart;

Plutarch

berichtet von

thr, Dante

schildert

sie, Don

Quijote besteht sie; und in der »Nigredo« der mittelalterlichen

Alchimisten

schaft

vom

lebt sie weiter,

wiederentdeckt,

»Schatten«

zu

um

von

der

modernen

in der Tiefenpsychologie

werden.

Diese

Nekyia

ist in

zur

Wissen-

Lehre

hóchstem

Maße Ausdruck der Integrierung der Seele, da sie den Hades im Menschen sichtbar macht und ihm die Moglichkeit gibt, sich dieser dunklen und somit polaren Entsprechung der lichten Manifestationsform der Seele bewußt zu werden. Wir besitzen eine mythische Aussage über die Entstehung dieser neuen Fähigkeit des Menschen, auch das Schattenhafte, das Dunkle (man nennt es heute das Unbewufte),

also Näch-

124

Die vier Bewuftseinsmutationen

tige zu sehen, einer Fähigkeit, die vorerst traumhaft den Grundcharakter der mentalen Struktur andeutet und als ein im Mythologem berichteter Traum dem Erwachenden und dann dem Erwachten allmählich bewußt geworden sein mag. Die Wirklichkeit des mythischen Traumes aber war von einer solchen Intensität, daß sie mit dem, was wir heute Wirklichkeit nennen,

fast noch ıdentisch war: der Mythos war dıe polare Entsprechung des Lebens, der Traum die polare Entsprechung der Wachheit; der Mensch,

der mythische

Mensch,

der des Traumes

ım

Mythos ansıchtig wurde, wurde aus seiner Polarıtät heraus auch der Wachheit ansıchtig: er stand ım Kreise, und kreisend war er

bald Traum, bald Wachheit: ein Erwachender. Dschuang Dsi 103

spricht diesen uns rational schwer faßbaren und nur mühsam vorstellbaren Vorgang (es seı denn, wır dächten an unsere eigene Kindheit) in der Ungewißheit des Fragenden aus: »Sind nicht vielleicht gerade ıch und du ın einem Traum befangen, von dem wir noch nicht erwacht sind?« Und fast gleichzeitig mit Dschuang Dsi formuliert in Griechenland Sophokles im »Aias« den gleichen Gedanken: »All, die wir leben, seh ich, sind nicht mehr

als

/ Gebild

von

Traum,

wie

eines

Schattens

Dünne.«

Und zweitausend Jahre später wird diese Erwachensfrage sich nochmals formulieren: zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Spanien, das keine »Renaissance« gekannt hat, das »unperspektivisch« am Rande Europas verharrte, dort schreibt Calderón »La vıda es sueno«, »Das Leben ist Traum«, gleichzeitig formuliert Shakespeare diesen Gedanken im »Sturm« 10%, Diese Aussage, diese mythische Haltung, die noch ganz in der Seele beheimatet ist, kehrt bei Novalis und in unseren Tagen in Hofmannsthals »Der Tor und der Tod« wieder sowie fast wörtlich ın eınem der Romane von Virginia Woolf, die das Kreisende liebte: »The Years« und »The Waves« bringen schon ın den Titeln, noch deutlicher ın ıhrer Struktur und Thematik die mythische Konstellation zum Ausdruck. Das Erwachen und die Fähigkeit, das Dunkle zu sehen, wurden ın einem festumrissenen Mythologem gleichsam vorausgeträumt und sichtbar: in dem Mythologem von der Geburt der Athene. Athene entspringt— es war ein Sprung, eine Mutation — dem Haupte des Zeus; sie ist das Bild des Gedankens, des bewufsten Denkens, das auch die dunklen Zusammenhänge, auch die in der Nacht liegenden Wirklichkeiten zu sehen vermag: denn Athene ist eulenäugig; ihr Attribut ist die Eule, der Vogel — und als Vogel ist die Eule ein Polaritáts-Symbol der Seele —,

Die mentale Struktur

125

der auch im Dunkeln sieht, dem die Nacht Tag 1st1%5. Und

Athen wird es sein, in dem die ersten abendländischen Menschen

völlig zum wirklichen Denken erwachen; Athener werden es sein, deren Stimme unsere Welt bestimmen, deren Denken unsere

Zeit fixieren, deren Weitblick unserer mentalen perspektivischen

Welt Gestalt und Gesicht geben wird: Sokrates, Euklid, Platon,

Aristoteles.

In diesem Bestimmen — und daß es ein Bestimmen genannt

werden darf, ın dem noch einmal der akustische Unterton des

magisch-mythischen Erbes durchklingt — zeigt sıch gleichzeitig der vollzogene Schritt aus der magischen Welt des Ohres und Hörens ın die mythische Welt des sagenden Mundes. Und ebenso kündet sich in dem »Gestalt geben« und in dem »Gesicht geben« eine der wesentlichen Eigenschaften der Perspektivität an: sie ist eine gesehene Welt.

Alles, was uns gehört, ıst Ausdruck unserer Macht und gehört

der magischen Struktur an und stimmt mit ıhr überein; alles, was

uns entspricht, ıst Ausdruck unserer Seele und entspricht der mythischen Struktur; alles, was wır sehen, ıst Ausdruck unseres

Verstandes und ist ein Sehen und Vorstellen, die der mentalen

Struktur gemäß sınd. Es dürfte vielleicht gut sein, einer Wirklichkeit eingedenk zu bleiben: zwar schloß sich die Wunde ım Haupte des Zeus, aber es war da einst eine Wunde. Immer reißt jeder »neue« Gedanke

Wunden auf. Der unendlichen Schmerzen — und seien diese, da

das »unendlich«

ıhre seelische Betontheit hervorhebt,

auch nur

ırrationale, seelische Schmerzen -, ıhrer sollte man nicht ver-

gessen, wenn man des mythischen Menschen und seiner Leistung gedenkt. Und jeder, der nıcht nur dıe Erde, sondern auch das

Leben würdig bestehen will, der das Leben leben will, statt von

ıhm gelebt zu werden, muß einmal durch diese Schmerzen der

Bewußtwerdung gehen.

5. Die mentale Struktur

Wir haben die mentale Struktur zum Teil schon geschildert, als wir die »perspektivische Welt« darstellten. Dabeı mußten wir aber alles mehr oder weniger vom perspektivischen Blickpunkt des Entscheidungsjahres 1500 aus ansehen, dem Augenblick, ın dem aus der europäischen unperspektivischen Welt (dem Mittelalter) die europäische perspektivische Welt endgültig heraus-

126

Die vier Bewußtseinsmutationen

mutierte. Wenn wir ın dem jetzt erreichten Zusammenhange die mentale Struktur zu beschreiben versuchen, so müssen wır von

einem anderen Ausgangspunkt ausgehen: wir werden nicht aus

unserer Zeit ruckwartsblickend das Entstehen der perspektivi-

schen Welt schildern, sondern versuchen, den Weg zu gehen, der vom Ursprung her auf unsere Zeit zuführt, die mit der abendländischen mentalen Strukturierung unseres Bewußtseins beginnt. Aus diesem neuen Ansatzpunkt könnten sıch für das Verständnis Schwierigkeiten ergeben. Sıe verschwinden aber, wenn wir uns Klarheit über die Beziehungen verschaffen zwischen dem, was wir über die unperspektivische Welt und über die (desgleichen unperspektivische) mythische Struktur ausgesagt haben: wir müssen im Auge behalten, daß die unperspektivische Welt nur einen Teil der mythischen Struktur darstellte, gewissermaßen den europäischen Teil. Und wir müssen uns über einen grundlegenden Umstand klar sein: um 500 v. Chr. vollzog sich in Griechenland 196. was seit etwa 1250 n. Chr. durch den

europäischen Menschen nachgeholt wurde, wobei aber für ihn die Absprungbasıs durch drei große Leistungen, die alle den perspektivischen Ansatzpunkt bereits enthielten, verbreitert war: durch die griechische Wissenslehre, die jüdische Heilslehre und dıe römische Rechts- und Staatslehre.

Würden wır ın unserer Betrachtung ausschließlich von dieser

europäischen perspektivischen Welt ausgehen, so dürften wir sie bereits als eine »rationale« bezeichnen. In ihr ist die lateinische »ratio« bereits richtungweisend; schon in der scholastischen Aussage über den Menschen,

dıe auf Arıstoteles zurückgeht, ıst der

Mensch ein »anımal rationale«, ein verstandbegabtes Tier. Denn ın dem Worte »ratio«, das sowohl »rechnen« wıe »berechnen«

im Sinne.von »denken« und »Verstand« bedeutet, ist das Hauptcharakterıstikum der perspektivischen Welt enthalten: dıe Gerichtetheit, die Perspektivitat und damit aber auch die sektorierende Teilung. Doch handelt es sich bei ihr um die bereits defiziente Phase der perspektivischen Welt; denn derart wie wir fiir die magische Struktur sowohl eine effiziente als auch eine

defiziente Phase unterscheiden können, eine, die unter dem Zeı-

chen des Bannens, und eine andere, die bereits defizient unter dem Zeichen des Zauberns steht, so kónnen wir auch fur die

mentale Struktur zwei derartige Phasen unterscheiden: die effiziente mentale Phase, aus der die rationale als defiziente resultiert, gibt dieser perspektivischen Welt das volle Gepräge, das auch heute noch Gültigkeit hat oder wenigstens haben könnte.

Die mentale Struktur

127

In diesem Sinne stellt die europäische, perspektivisch-rationale Welt lediglich die Defizienzphase, wahrscheinlich die Endphase für die ausschließliche Gültigkeit der mental-rationalen Struktur dar. Der Leser wird nun bei der Bezeichnung »mental« sogleich den Begriff »Mentalitát« assoziieren, und zwar der deutschsprachige Leser in einer ausschließlicheren Weise als zum Beispiel der englische, französische, italienische oder spanische Leser, für den das Wort »mental« ja noch einen lebendigen Inhalt besitzt. Durch eine so einseitige Assoziation wird der Sınngehalt, den das Wort »mental« birgt, auf eine unzulangliche Weise eingeschränkt, weil das Wort »Mentalitat« mehr als nur die moralische Komponente einer Gesinnung und Einstellung zum Ausdruck bringt; dabei haben aber ıhrerseits die beiden Begriffe »Gesinnung« und »Einstellung« bereits durchaus perspektivischen Charakter. Wir wählen diese Bezeichnung »mental« aus zweierlei Gründen zur Kennzeichnung unserer heute noch vorherrschenden Bewußtseinsstruktur.

Erstens

enthält

das

Wort

in seiner ur-

sprünglichen Wurzel, die ım Sanskrit »ma« lautet, aus welcher sekundäre

Wurzeln

wıe

»man-«,

»mat-«,

»me-«

und

»men-«

hervorgingen, nicht nur eine außerordentliche Fülle von Bezügen, sondern vor allem drücken die mit dieser Wurzel gebildeten Wörter sämtlich entscheidende Charakteristika der mentalen Struktur aus. Zweitens ist dieses Wort das Anfangs-

wort

unserer

abendländischen

Kultur,

denn

es

ıst

das

erste

Wort der ersten Zeile des ersten Gesanges der ersten großen abendländischen Äußerung: dieses Wort, »mental« ist in dem unvıv (dem Akkusativ von: Menis) enthalten, mit dem die »Ilıas« beginnt.

Bei den Äußerungen, die aus der mythischen Struktur hervorgehen, ist nichts zufállig, sondern alles sinnentsprechend. Und sinnentsprechend ist es also wohl auch, wenn gerade mit diesem Wort der uns bekannte früheste Bericht beginnt, der zum ersten Male innerhalb unserer abendländischen Welt nicht nur ein Bild evoziert, sondern eine geordnete, von Menschen und nicht ausschließlich von Göttern getragene Handlung in einem gerichteten, also auch kausalen Ablauf beschreibt.

Das griechische Wort μῆνις, das »Zorn«

und »Mut«

bedeu-

tet, ist stammverwandt mit dem Wort uévoc (menos), das »Vor-

satz,

Zorn,

Mut,

Kraft«

bedeutet

und

mit

dem

lateinischen

»mens« urverwandt ist, das ungemein komplexe Bedeutung hat:

128

Die vier Bewußtseinsmutationen

»Absicht,

Zorn, Mut, Denken,

Gedanke,

Verstand, Besinnung,

Sinnesart, Denkart, Vorstellung«. Mit diesen Inhalten ist bereits das Grundlegende gegeben: es handelt sich um das ansatzmäßıge In-Erscheinung-Treten des gerichteten Denkens. War das mythische Denken, soweit man es als ein »Denken« bezeichnen darf, ein imaginierendes Bilder-Entwerfen, das sich in der Eingeschlossenheit des die Polarıtät umfassenden Kreises abspielte, so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein grundsätzlich andersgeartetes: es ıst nıcht mehr polarbezogen, in die Polarıtät, diese spiegelnd, eingeschlossen und gewinnt aus ihr seine Kraft, sondern es ist objektbezogen und damit auf die Dualitat, diese herstellend, gerichtet, und erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich. Dieser Vorgang ist ein außerordentliches Geschehen, das buchstäblich die Welt erschútterte. Mit diesem Ereignis wird der bewahrende Kreis der Seele, die Eingeordnetheit des Menschen in die seelische, natur- und kosmisch-zeithafte polare Welt des Umschlossenseins gesprengt: der Ring zerreißt, der Mensch trıtt aus der Fläche hinaus in den Raum; ıhn wird er mit seinem

Denken zu bewältigen versuchen. Etwas bisher Unerhortes ist geschehen, etwas, das die Welt grundlegend verändert. Der Mythos von der Geburt der Athene malt es ın Bildern und Bezügen, die eine deutliche Sprache sprechen: Zeus vermählt sich mit der Metis, die als Personifikation der

Vernunft und der Intelligenz aufgefaßt wird, und als eine der

Töchter des weltumschließenden Okeanos (-Stromes) dıe Gabe

der Verwandlung besitzt 10. Zeus jedoch verschlingt Metis, weil er die Geburt eines Sohnes befürchtet, der mächtiger werden könnte als er, so daß Metis, schon mit der Tochter schwan-

ger, in seinen Leib versetzt wird. Diese Tochter Athene wird aus dem Haupte des Zeus geboren, wobeı ihm Hephästos oder Prometheus oder Hermes mit einem Belle das Haupt spalten. Pindar beschreibt diese durch den Beilschlag ausgelöste Geburt, die unter furchtbarem Aufruhr der ganzen Natur und unter dem Staunen aller Götter erfolgte. Das Meer (die große, umfassende Seele) wallt hoch empor; der Olymp und die Erde (die bislang polar einander zugeordnet waren) erbeben (und das sorgsam beobachtete Gleichgewicht ist gestört); ja selbst Helios unter-

bricht seinen Lauf (der Kreis ist tatsächlich unterbrochen worden, und aus der Lücke, der Wunde, tritt eine neue Weltmóglichkeit hinaus).

Die mentale Struktur

129

In dem Namen Athene ist die Wurzel »ma« : me« nicht sichtbar; aber dem Mythischen entsprechend ist sie unsichtbar gegenwärtig:

die

Mutter,

Metis,

die

Geburtshelfer,

Prometheus

und Hermes, sowie eines der Attribute der Athene neben Eule und zielsicherer Lanze, das Medusenhaupt, enthalten diese Wur-

zel. Und die römische Pallas Athene heißt: Minerva, ursprüng-

lich Menerva; ihr frühester etruskischer Name ist Menerfa und

Menrfa?°8, Und der Schützling dieser kampferischen, kriegerischen und zugleich hell, atherklar denkenden Gottin, die das

Dunkle

erkennt

und

die ihr Ziel immer

trifft, ist Achilleus,

dessen Menis die »Ilias« besingt; sie ist die Göttin, die diesen Zorn des Achilleus bestarkt und die ihm in seinen Kampfen beisteht, die durch diesen Zorn ausgelóst und siegreich bestanden werden. Dem entscheidenden Bewußtseinssprung in der griechischen Welt steht um 1225 v. Chr. ein Beispiel gegenüber, in einer Kultur, die ebenfalls fiir die unserige konstituierend geworden ist, und in dem das zurnende Element eine bedeutende Rolle

spielt: der zürnende Moses, der mit der Schuld des Totens behaftet ist, ıst der Erwecker des Volkes Israel, dem er folgerichtig den strafenden, einzigen Gott gegenüberstellt. Das ist die Geburt des Monotheismus: die Gegengeburt zu dem ım Menschen erwachten Ich. Und damit ıst es die Geburt des Dualismus: hier Mensch, dort Gott, die sich dualistisch gegenüberstehen und sich nicht mehr polar entsprechen oder ergänzen; denn der einzelne Mensch ist nicht der Gegenpol zu Gott; wäre er es, bedürfte es nicht

des

Mittlers.

Hier

entsteht

bereits

die Trinitát,

welche

die dreidimensionale mentale Struktur mitcharakterisiert. Wir deckten den Bezug auf, der zwischen dem Denken und dem Zorn, zwischen dem griechischen »Menos«, dem lateinischen »mens« und der griechischen »Menis« besteht. Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem Denken und der Handlung Richtung; und er ıst rücksichtslos, das will besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort von der bisherigen mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist vorwärtsgerichtet, wie die zielende Lanze, wie der in den Kampf stürzende Achill. Er einzelt den Menschen von der bis anhin gültigen Welt — der Ton liegt auf Mensch — und ermöglicht sein Ich. Diese Betonung des Wortes Mensch ist durchaus nicht zufällig. Denn ob »mens«, »Menis« oder »Mensch« — sie sind aus der gleichen Wurzel. Gehen wir diesen Zusammenhängen nach 199, so ergibt sich

130

Die vier Bewußtseinsmutationen

die folgende Grundbezüglichkeit, in der die mentale Struktur gründet: aus der Wurzel »ma«, dıe »Denken« und »Messen« bedeutet, und

»men«

gehen

die Sekundär-Wurzeln

»man«,

»mat«,

»me«

hervor.

Der Wurzel »man-« entspringt das altindische (Sanskrit-)Wort

»manas«, das »innerer Sınn, Geist, Seele, Verstand, Mut, Zorn«

bedeutet; und ihr entspringt das Wort »manu«, das im Sanskrit

den »Menschen, Denker und Messenden« bezeichnet; auf dieses

Wort gehen ferner zurück (um nur einige zu nennen): das latei-

nische »humanus«, das englische »man«, das deutsche »Mann«, aus dessen Adjektivform »männisch« das Wort »Mensch« entstand. | Sehen wir davon ab, daß selbst das lateinische »humus«, das

»Erde« bedeutet, hierher gehört 110. so muß doch betont werden, daß außer dem Namen des indischen Gesetzgebers »Manu« auch der des kretischen Königs »Minos« und der des ersten »geschichtlichen« Königs Ägyptens, »Menes«, auf diese Wurzel »man« zurückgehen dürften. Jedenfalls kann es als erwiesen gelten, daß »Minos« geradezu der »Wäger« beziehungsweise der »Messer« (der Wägende oder Messende) bedeutete !!!, womit auch inhaltlich seine Verwandtschaft mit dem indischen »Manu« gegeben ıst. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man in dem fast gleichzeitigen Auftauchen dieser drei legendären Gestalten, die ein menschheitliches Mutationsprinzip verkörpern, einen Hinweis auf eine erste Sichtbarwerdung der mentalen Bewufstseinsstruktur erkennen wollte: denn wo der Gesetzgeber in Erscheinung tritt und nötig wird, da ıst das alte Gleichgewicht (das ein polar-mythisches war) gestört, und es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll. Nur die men-

tale Welt bedarf des Gesetzes, die in der Polarıtät geborgene mythische Welt bedarf seiner nıcht und kennt es nıcht. Im frühgriechischen Kulturkreis dürfte dieses mentale Prinzip nicht nur in den Namen

»Menerfa, Metis, Hermes und Prometheus«

auf-

leuchten; vielleicht enthält auch der Name des Königs von Mykene, Agamemnon, sıcher wohl aber der des Königs von Sparta, Menelaos,

dieses mentale Prinzip, da alle diese Namen

die Wurzel »ma:me« beziehungsweise deren Sekundärwurzel enthalten. Auch mag es nicht zufällig sein, daß um des Menelaos’ Gemahlın Helena, welche die Schwester der Klytaımnestra und die Schwägerin des Agamemnon war, jener Trojanische Krieg entbrannte, der den Sıeg des Vaterprinzips über das Mutterprinzip darstellen dürfte (s. S. 223 42 v. #3),

Die mentale Struktur

1 31

Gehen wir jedoch den anderen Sekundärwurzeln nach. Als zweite haben wir die Wurzel »mat« genannt. Aus ihr entspringen die Sanskritwörter »matar« und »matram«: »matar« wird zum griechischen μάτηρ und μήτηρ (mater und meter gleich »Große Mutter«); aus ıhm bildet sich unter anderen unser Wort »Materie«;

»matram«,

das

ein

»Musikinstrument«

bedeutet,

kehrt in diesem Sinne im griechischen μέτρον (metron) wieder; aus ıhm bildet sich unser Wort »Meter«. Schon hier sei darauf hingewiesen, was uns später (s. S. 301 u. 333) ausführlicher beschäftigen wird: daß die ursprüngliche Wurzel »ma :me« latent und komplementär auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für »Mond«, μήν (men), geht auf diese Wurzel zurück. Und die Sekundärwurzel »mat« erlebt ja in der heutigen patriarchalen Welt ihre Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen

durch die »Materie« und den »Materialismus« zu erkennen gibt11?. War der Mond für den frühen Menschen der zeitliche Maßstab, so ıst die Materie für den heutigen Menschen der räumliche Maßstab.

Schließlich gehen aus den Wurzeln »me-« beziehungsweise »men-« nicht nur die zahlreichen griechischen Verben 113 her-

vor, die alle in mehr oder minder starker Form einerseits: »zürnen, grollen«, andererseits »verlangen, begehren, trachten, streben, im Sinne haben und ersinnen« bedeuten, wobei die Tatsache

betont werden muß, daß sie ein gegen jemanden gerichtetes Trachten, Streben und Ersinnen zum Ausdruck bringen. Und auf diese Wurzel geht durch alle germanischen Sprachen hin-

durch über das griechische μέδομαι (medomai), das »an etwas, auf etwas denken« (also ein durchaus gerichtetes Denken) bedeutet, unser »ermessen«

zurück, das sowohl

»messen« wie »er-

wägen« und »bedenken« ausdrückt. Sie bildetete das englische Wort »mind«, aber auch das lateinische »mentiri«, das »lügen« bedeutet (!). Und es sei noch erwähnt, daß sie das griechische Fragewort tí in der Wendung ti μὴν (ti men) = »Warum?« als verstärkendes Element begleitet und so die Frage mitformt, die am Anfang aller Wissenschaften steht, zu deren Schutzgöttinnen sowohl

Athene

wie Minerva

erhoben

wurden !!^, Die Wurzel,

die dem Worte »mental« zugrunde liegt, enthält keimhaft eine ganze Welt, die in der mentalen Strukturierung Gestalt, Form

und Wirkcharakter annimmt. Wenn wir jetzt auch nur an die

wichtigsten Begriffe zurückdenken, so kónnen wir ohne Zuhilfenahme weiterer Begriffe das tatsächliche Wesen dieser mentalen

132

Die vier Bewußtseinsmutationen

Struktur ausdrücken: Es ıst eine Welt des Menschen; das will

sagen, es ist eine vorwiegend menschliche Welt, in welcher »der Mensch das Maß aller Dinge« ıst (Protagoras); ın welcher der

Mensch

selber denkt und dieses Denken

richtet; und es ıst eine

Welt, die er mißt, nach der er trachtet, eine materielle Welt,

eine Objektwelt, die ihm gegenübersteht. Im Keime sind die großen formgebenden Begriffe hier enthalten, Begriffe, die mentale Abstrakta sind und die an die Stelle der mythischen Bilder treten, Abstrakta, die in einem gewissen Sinne Götterschemen,

also Götzen sind: Anthropomorphismus, Dualismus, Rationalismus, Finalismus, Utilitarismus, Materialismus:

kurzum

die ra-

tionalen Komponenten der perspektivischen Welt. Verglichen mit der zeithaft-seelisch betonten mythischen Struktur, mutet der Ubergang in die mentale an wie ein Fall aus der Zeit in den Raum. Aus der Geborgenheit des zweidimensionalen Kreises und aus dessen Einschlieffung tritt. der Mensch hinaus in den dreidimensionalen Raum: da ist kein InSein polarer Ergänztheit mehr; da ist das fremde Gegenüber, der Dualismus, der durch die denkerische Synthese, diese mentale Form der Trinität, überbrückt werden soll; denn von Ein-

heit, Entsprechung, Ergänzung, geschweige denn von Ganzheit ist nun nicht mehr die Rede.

Freilich, die sich nach rückwärts neigen, die Traditionalisten,

die religiösen Menschen, ja selbst die heutigen Mystiker, sie

werden hier und da noch Funken oder Sterne oder Sonnen, aber

schon nıcht mehr diese selbst, sondern nur noch als Abglanz einer untergegangenen Erlebnis-, Erfühlungs- oder Einbildungsform der Ergänzung oder Einigung, doch kaum mehr die Ganz-

heit selbst zu erleben vermögen oder auch erlebt haben. Um die Wende des 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. vollzieht sich der

Umschwung, der im Bilde vom Sprung der Athene vorausge-

träumt wurde: Parmenides, der etwa um 480 v. Chr. sein nur

fragmentarisch erhaltenes Lehrgedicht »publizierte«, spricht das

Wort aus: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν te καὶ εἶναι, »Denn dasselbe

ist Denken und Sein«!!5, das zum Hauptmotiv der abendländischen Welt werden wird. Damit ist das Mythische durchbrochen: statt der Gleichwertung von Seele und Leben, die das Wort »Psyche« enthält, gilt von nun an die Gleichsetzung von Denken und Sein; der erste philosophische Satz, die erste, und zwar räumlichende, mentale Äußerung ıst damit formuliert.

Diese Formulierung bereitete sich in vielen Dingen vor, die, be-

trachtet man sie vom Gesichtspunkt der Bewußtwerdung, ıhren

Die mentale Struktur

ı 33

Zufälligkeitscharakter verlieren und dann durchaus nicht mehr rätselhaft erscheinen, sondern bedeutungsvoll werden. Sie kommt

in der Plastik, der Architektur, der Vasenmalerei, sie kommt in

der Schrift und der Gesetzgebung, in dem orphischen Mysterienwesen und der ionischen Naturphilosophie zum Ausdruck. Beschränken wir uns auf diese Gebiete und nennen wir kurz die hauptsächlichsten Züge und deren Wandlung, denn es entsteht dort ın Griechenland und ın jenen Jahrhunderten unsere nun

vielleicht zu Ende gehende Welt. Und es soll um den Anfang

wissen, wer, das Ende sehend, an dessen Schmerzen teilhat.

Drei Merkmale charakterisieren die griechische Plastik, vornehmlich des 7. und 6. Jahrhunderts. Erstens das erwachende Körpergefühl, das sie zum Ausdruck bringt und das die Voraussetzung für die spätere Bewußtwerdung des Raumgefühles ıst; zweitens das, was man das »archaische Lächeln« genannt hat, jenes rätselhafte Lächeln, das noch fern von Schmerz und Freude ist: es spiegelt ein Erwachen, es ist ein erster Abglanz des licht werdenden menschlichen Antlitzes; und drittens das allmahliche

Frei- und Klarwerden der Stirn. Auf den frühesten Plastiken ıst sie noch fast bis zu den Augenbrauen von dem kunstvoll geflochtenen Haar überdeckt, dessen Schutz die träumende um-

hegt. (Noch heute findet man diese vom Traum unerwachte Stirn hin und wieder einerseits bei der Bauernbevölkerung, vor

allem des Balkans und Spaniens, deren Männer das Haar leicht

ın die Stirn fallend tragen, andererseits auf eine fast noch vorherrschende

Weise

in Latein-Amerika

und

Ostasien.)

Doch

schon im 6. Jahrhundert und dann gänzlich bei Praxiteles ist die Stirn frei, klar und erwacht,

und der Schlaf der Schlafen ist

nicht mehr von der natürlıchen Fülle des Haares beschützt. Dieses Erwachen

des menschlichen Antlitzes — und es ist das

menschliche Antlitz, das ausschließlich gestaltet wird, und nicht mehr das Götterbild — ist vielleicht einer der erschütterndsten Vorgänge, zumal er sich schweigend vollzieht: Schritt um Schritt und Schmerz um Schmerz läßt sich an thm die BewufStwerdung ablesen, dieses Zu-sich-selber-Erwachen des Menschen.

Nur an ein solches Antlitz konnte sich, zu Beginn des 6. Jahr-

hunderts,

ein Thales

von

Milet wenden,

der letzte der sieben

Weisen der Frühzeit Griechenlands und der erste ionische Na-

turphilosoph, um jene Inschrift am Tempel des Apollon ın Delphi anbringen zu lassen, die noch heute nichts an Gültigkeit verloren hat. An diesem Tempel des Sonnengottes, an dieser raumwerdenden Gliederung sıngender Säulen und Steine steht

134

Die vier Bewußtseinsmutationen

das lapidare: γνῶϑι σεαυτόν (gnothi seauton), das »Erkenne dich (selbst)«.

Mit diesen zwei Wörtern am Sonnentempel hat es zudem

noch

eine

besondere

Bewandtnis.

Seit Urzeiten

schrieb

man,

der Schrift die Richtung entweder von oben nach unten gebend,

wie teilweise noch heute in China, oder von rechts nach links, wie noch heute unter anderem im Islam. Jener Aufruf zur Bewußtwerdung aber, jenes »Erkenne dich«, ıst von lınks nach

rechts geschrieben. Bindet die erste Schreibweise gewissermaßen Himmel und Erde, wendet die zweite den lebendigen Bezug

immer von neuem der linken, unbewußten Seite zu, die auch die

Vergangenheit enthält, so vollzieht sich hier, im Schutze des wachen Gottes, zum ersten Male jene Bewegung, die dem Sinngehalt ihrer Worte gemäß eine Bewegung in die Bewufstwerdung ıst. Diese »Kleinigkeit«, die man bisher eher als Kuriosum betrachtete, hat also ıhren Sinn. Und vergessen wir nicht, was

es bedeutet, wenn wir einem Phänomen Sinn geben: es sagt aus, daß wir es richten. Diese Bedeutung kommt im Deutschen noch in der Formulierung »im Uhrzeigersinn« zum Ausdruck; stärker

jedoch ın anderen europäischen Sprachen; denn »ın diesem Sinne« hat das Wort »sens« noch heute im Französischen die Doppelbedeutung von »Sınn« und »Richtung«, und das gleiche gilt für das Englische, Italienische und Spanische. Bei dieser Gelegenheit dürfen wir auf die mehrfache Erwähnung des Wortes »richten« zurückkommen. Seit alters her ist die linke Seite die Seite des Unbewufsten, des Ungekannten; die rechte Seite dagegen die Seite der Bewußtheit, der Wachheit. In welchem Maße sich diese Wertung verstärkte, geht daraus hervor, daß ın den heutigen europäischen Sprachen »rechts« eben nicht nur einfach rechts, sondern auch »richtig, gerade«, im

Sinne

»droit«

des

und

Zum-Ziel-Führens,

Ȉ

la

droite«,

das

bedeutet.

englische

Das

»right«

französische

und

»to

the

right«, das spanische »derecho« und »a la derecha«, ja schon das griechische ὀρϑός (Orthos) beweisen es. Was die Rechtsphilosophie bislang, wie es scheint, übersah, daß das »Recht«

und

das »Rechtsprechen« in diesem Sinne ausschließlich »richtende«

Handlungen sind, Bewußtseinsakte, die einseitig nur auf das mentale Wachbewußtsein abstellen, dürfte hier deutlich wer-

den. Wo »Recht« entsteht, wo also eine fixierende Gesetzgebung zum ersten Male ın Erscheinung tritt, da vollzieht sıch eın Akt, der nur durch ein erwachtes Bewußtsein vollzogen werden kann.

Die mentale Struktur

135

»In diesem Sinne« ıst die Gesetzgebung durch Moses mehr

als ein bloßes Geben

der Gesetze.

Und

in Griechenland,

am

Ende des 7. Jahrhunderts, ist es Lykurg, der das harte Gesetz, das spartanische, und spáter 1st es Solon, der das athenische verfügt. Als natürliche Begleiterscheinung, die dann natürlich ist, wenn wir daran denken, daß die rechte Seite nicht nur für das

wache, sondern auch für das mánnliche Prinzip steht, ergibt sich aus jeder Gesetzgebung, aus jedem Richten, die Betonung des väterlichen Prinzips. Die gerichteten Worte am delphischen Tempel stehen unter dem Schutze Apollons, das mosaische Gesetz unter dem des Vatergottes. Mit Moses und mit Lykurg trıtt das Patriarchat in Erscheinung; das Matriarchat, die bergende Welt der schützenden Dunkelheit, wırd abgelöst durch das Ausgesetztsein ın der Wachheit: von nun an muß der Mensch sich selber richten. Und hierin liegt die fast übermenschliche Größe des Zeitalters, das mit der Mutation in die mentale Struktur um

etwa 500 v. Chr. in Griechenland Wirklichkeit wird. Wie sehr diese Vorgänge einem Gesetz der Erde entsprechen, deuteten wır schon zweimal indirekt an. Und da wir uns anschicken, abzuschweifen, sei es gestattet, zuvor noch auf jene Antwort hinzuweisen, die am Schlusse des Gilgamesch-Epos der Schatten des Enkidu aus dem Totenreiche herauf Gilgamesch gibt.116

»Rede,

rede, mein Freund!

du sahst, verkünde

Das Gesetz der Erde, die

mır jetzt!«, bittet Gilgamesch,

sıch an den

Schatten des gestorbenen Freundes wendend. Und die Antwort lautet: »Ich kann es dır nıcht sagen, Freund, ıch kann es dır nicht sagen. Kündete ich dir das Gesetz der Erde, die ich schaute, du würdest dich niedersetzen und weinen.« Dieses Gesetz der Erde vollzieht sich unerbittlich: aber darin liegt kein Grund zu Angst oder Weltuntergangs-Phantasıen. Nur wer das. Unrecht

vollzieht,

ganz

der Erde

zu verfallen, der er

schon mittels der magischen Struktur hätte entwachsen sollen, wird ın dem Strudel der blinden Angst untergehen. Jedentalls sind jene Worte vom »Gesetz der Erde« ein Anruf, das Gesche-

hen richtig zu sehen. Und dies gehört auch dazu: zu sehen, wie das irdische Gesetz sich vollzieht. In jenem Spielraum von etwa 500 Jahren, zwischen der Zeit des Moses und der Lykurgs,

scheint dieses Gesetz der Erde sichtbar zu werden:

es ist die

Gleichzeitigkeit, mit der ın China und in Griechenland die Sonnen-Mythologeme Gestalt gewinnen, und die andere Gleichzei-

tigkeit, mit der in Indien und Griechenland der Zorn als bewufstseinsweckende Kraft zwei grofsen Berichten, der Bhagavad-

136

Die vier Bewußtseinsmutationen

gita und der Ilias, die Richtung gibt. Aber es gibt noch mehr Parallelen: nur wenig später als Lykurg in Griechenland führt Kungfutse in China das Patriarchat ein; fast gleichzeitig erfolgt in China durch Dschuang-Dsi und in Griechenland durch Sophokles die Formulierung jener Sätze, die, ein Erwachen aus der mythischen Struktur spiegelnd, sich auf Leben und Traum beziehen (sıehe Seite 124); und Zarathustra bringt ın Persien jenen Dualismus zur Geltung, der, wenn auch verschieden von dem

platonischen und manicháischen, doch schon der Seinslehre des Parmenides innewohnt, der dem Sein ein Nichtsein gegenüberstellt. Das ist eine letztlich unlósbare Problemstellung, insofern als der unvollziehbare Versuch aus der Mythennáhe, aus der mangelnden Distanz zur mythischen Welt heraus, unternommen wird. Denn das parmenidische »Nichtsein« 1st vornehmlich unmeßbare Raumlosigkeit, also ein mythisierender Gedanke, während sein Seinsbegriff durchaus raumbetont, ein erster mentaler,

messender Begriff 1st. Um zu unserem Ausgangspunkte zurückzukehren, sei erwahnt, daf das berühmteste indische Gesetzbuch »Manavadharmasastra«, dessen Abfassung durch die Legende dem göttlichen Ur-

menschen Manu zugeschrieben wird, ein Gesetz enthált, das den Tschandala, den Parias, verbietet, von links nach rechts zu

schreiben.!!7 Aber jedes Verbot, zumal wenn es die Erfüllung

dessen hindert, was wir als Gesetz der Erde bezeichnen, unter-

steht auch diesem Gesetz, dem es anscheinend widerspricht. Und wie jedes Verbot, so erfüllt es seinen Sınn; denn es bewirkt eine Stauung und Kräftigung jener Anlagen, die — wurden sie ihrer selber sicher und damit richtbar — schließlich zum Durchbruch kommen und dann ihrer chaotischen Herkunft entwachsen sind. Dieser Richtungsanderung, oder besser: dieses In-Erscheinung-Tretens der Richtung — da ja nur die Wendung nach rechts eine Richtung enthält — wurden wir bereits auf einer der Vasenzeichnungen (s. S. 109) ansichtig. Und je stärker diese Rechtsbetonung zum Durchbruch kommt, wie in der richtenden Gesetzgebung Lykurgs, wie in der Richtung der Schrift, wie in der aufgerichteten Stellung der Sáulen, wie in dem richtungweisenden »Erkenne dich«, desto stärker hellt sich in der Vasenmalerei

jener Jahrhunderte der Untergrund auf, bis die Gestalten aus dem richtungslosen Verquicktsein ganz herausgelóst vor einen einfarbigen Hintergrund gestellt werden. Alle Beispiele der griechischen Vasenmalerei vom 7. bis ins 5. Jahrhundert legen

Die mentale Struktur

137

von diesem Vorgang Zeugnis ab, um schließlich zu jenem ersten raumandeutenden Darstellungsstil zu gelangen, dem keimhaft schon die später verwirklichte Perspektive innewohnt!18, Sie wird dann andeutungsweise sowohl in den »Odyssee-Landschaften« des Esquilin ım 1. Jahrhundert v. Chr. als auch ın der pompejanischen Wandmalerei sichtbar, von der wir bereits (S. 38) gesprochen haben. Doch ehe wir uns diesem Raumproblem zuwenden, das von so entscheidender Bedeutung für das Verständnis der mentalen Struktur ist, wollen wir noch einmal in die Untiefen der Raum-

losigkeit zurücksteigen. Denn nur wenn wir verfolgen, wie sich die Herauslösung aus der seelischen Raumlosigkeit der mythıschen Struktur vollzog, vermögen wir diese vielleicht zu »ver-

stehen« und andererseits die tatsächliche Bedeutung dieser Überwindung des Raumlosen zu erkennen. Abgesehen davon, daß Raum nur dort seın kann und ist, wo das Vermögen des Richtens und der Richtung besteht — ein Umstand,

der bisher durchaus

übersehen

wurde —, ist wohl

der

Bezug zwischen gerichtetem Denken, Bewußtwerdung und Raum deutlich geworden. Dieser Prozeß des Abstreifens der Raumlosigkeit wurde durch die »Dionysien«, auch die »Lenaien« genannt, die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. in Athen stattfanden,

gestärkt. Dort wurde neben der rauschhaften Entäußerung letzter Reste der Dunkelheit, die durch Tanz und Trank geschah, die Ernüchterung bewirkt; und dort entstand das Drama. Dieses Wort heißt »Handlung«. Aber sie meint nicht das Kunstwerk, sondern den ın ıhm dargestellten, dem Dionysos geltenden Gottesdienst. In diesem Drama stand der Chor den einzelnen Darstellern gegenüber und kritisierte oder erklärte ihre Handlungen; das aber wıll doch vornehmlich besagen, daß es hier gegensätzlich zur »Allgemeinseele« und von ihr distanziert der einzelne ist, der, wenn auch noch im Namen

des Gottes, handelt; denn

selbst die Chorführer entpersönlichen sich durch das Tragen

einer Maske, und nur der einzelne war »Persona«, ein Durch-

klungener, eın vom Gott Durchklungener; »per-sonare« bedeutet ja »durchtönen, durchklingen«. Diese Ableitung ist eine Sinndeutung, dıe aber bereits ın der Antike Gültigkeit hatte; etymologisch dürfte das wahrscheinlich etruskische Wort »persona« mit dem griechischen πρόσωπον (prosopon) verwandt sein, das »Maske« bedeutet!!?. Die Herkunft unseres Wortes »Person« ım Sınne des einzelnen aus dem Begriff »Maske« ıst jedoch äußerst

aufschlußreich

für das, was sıch heute ın der Masken-

138

Die vier Bewußtseinsmutationen

losıgkeit ausspricht, besonders wenn man die These von J. Gregor gelten läßt, daß die »Maske als eine von Zeit und Raum gelöste Welterscheinung« aufzufassen se1!?9. In der Maske dürfen wir jedenfalls ein magisches Relikt wiedererkennen. Sie ist ihrer Raum- und Zeitlosigkeit wegen magisch, aber bereits im griechischen Theater Relikt, da dort der maskentragende Schauspieler dem Chor gegenúbergestellt wird. Dieser Schauspieler heißt ὑποκριτής (Hypokrités), was soviel wie der »Antworter«

bedeutet. In der griechischen Frühzeit bildet er als antwortende Einzelseele mythisch den ergänzenden Pol zu der Gesamtseele; er ant-wortet, das heißt, er ent-wortet, ent-spricht dem Worte des Chores: er hebt es auf und stellt das polare Gleichgewicht und die polare Ergänztheit her. Doch schon in der Tragödıe ändert sich dieser Vorgang. Dort ıst er nicht mehr nur Antwortender ım mythischen Sınne, sondern stellt als einzelner (Bewußtwerdender) mental den Gegensatz zum Chor (dem »Unbewußten«) dar. Jene Maske, die auch Ausdruck der magischen Ichlosigkeit ıst, wird allmählich zu der »Maske« in unserem heutigen Sınne: denn diese entpersönlicht oder verdeckt das wahre Ich, das sich hinter ihr, in der neugewonnenen Tiefendimension, verbirgt, die das Magische so wenig kennt, wie es ein raumliches » Hinter« kennt. Und in diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, in welchem Maße die magische Komponente im Theater allein schon strukturmafsig 1n Erscheinung tritt. Sie geht aus dessen

frühester

Bauform

hervor,

dıe man

nıcht mit Unrecht

als steinerne Muschel bezeichnet. Muschel aber ist auch das Ohr. In dieser akustisch-labyrinthischen, magıschen Betontheit gründet jedwedes Theater. Diese magische Wurzel aber wird einerseits bereichert durch die mythische Polaritát, andererseits durch

die mentale Gerichtetheit. Das mythische Element kommt in der Polarıtät zum Ausdruck, welche die Zuschauer (als die Er-

leidenden) zusammen mit den Schauspielern (als den Handelnden) bilden. Das mentale Element dagegen äußert sich in der mentalen Gerichtetheit (der dramatischen Handlung), derzufolge sich Zuschauer und Schauspieler, Erleidende und Handelnde, aus gegensätzlichen Haltungen heraus in der gleichen Spannung auf ein Ziel, auf das Ende hin befinden. Das echte Theater ist, wie

jede

echte,

vom

Menschen

geschaffene

Darstellungs-

form, ein Querschnitt durch wenigstens drei Strukturen; un-

echt und damit auch unmenschlich wird es, wie jede andere Ausdrucksform, wenn es eine der Strukturen überbetont, weil diese

einseitige Überbetonung unserer heutigen Bewußtseinsstruktur

Die mentale Struktur

1 39

nicht gemäß ist und somit eine Fälschung darstellt. Die Wurzel für die heute so häufigen Umfalschungen liegt bereits im antıken Theater, weıl dort dıe Polarıtät ın dıe Dualıtät umgeformt wurde, die zu rationaler Isolation führte. Aber in ıhm nahm

jene mutationsbedingte Akzentverschiebung Gestalt an, die allmählich den einzelnen auf Kosten des Chores ins Licht stellte. Das aber bedeutete ja nıchts anderes, als daß der Mensch aus

der bergenden Gemeinschaft heraustrat, die ihn bis dahın gleichsam hohlenmafig umfaßte und schützte. Im Chor kommt diese Gemeinschaft zum ersten Male zu einer Art Eigenbewußtsein: in ihm wurde sie Stimme und Wort; anders ausgedrückt: sie, die in sich geschlossen war, begann sich zu äußern, sie trat aus dem In-Sein ins Außen hinaus, wurde handelnd und damit teilend;

teilend aber stellt sie das Ich aus sich heraus 121, Damit erfolgte eine weitere Festigung der mentalen Struktur. Das Erwachen zu ihr spielte sich Jedoch in den Dionysien ab. In ıhnen vollzog sich unter dem Schutze des männlichen Gottes jener Integrations-

prozeß der Seele, jene Bewußtwerdung ıhrer Polaritát, die durch

die Menis ausgelöst wurde und derart das rıchtende Denken ermóglichte. Dabei ist anzumerken, daß sich dieser Prozeß nur dann als integrierend darstellt, wenn wir ıhn, wie es hier geschieht, von der mentalen Struktur aus, also rückläufig, betrachten. Von der archaıschen Struktur aus gesehen mag er sıch sehr wohl als ein Desintegrationsprozeß, als ein Auflösungsprozeß darstellen; in ıhm verlor die Seele für lange Zeit ıhre polare Fraglosigkeit, und damit ihre Gesichertheit und ungetrübte Wirkungsmöglichkeit, da an Stelle ihrer Vorherrschaft das mentale Denken ın den Vordergrund trat. Betrachten wır aber diesen Prozeß rückläufig als Integrationsprozeß des Bewußtseins, so wird eines der Worte Heraklits verständlich, das immer als eines

der dunkelsten dieses »dunklen Denkers« galt. Jenes: würög δὲ “Avdys

καὶ

Διόνυσος,

ὅτεωι

μαίνονται

καὶ

Anvaitovow:

»Der-

selbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie da toben und ihr Lenaientest feiern« 122. Diese Dionysien sind ganz und gar nicht das, wozu sie die Klages-Schule machen will, auch damit ıhre metabolistische Charakterlosigkeit unter Beweis stellend. Sie behauptet námlich, diese dionysische Bewegung in Griechenland 561 eine Rückkehr aus der »Geistigkeit«« in den »Untergrund des Lebens«. Sie ist genau das Gegenteil 12%. Sie ist die Herauslösung aus diesem Urgrund des Lebens und der Seele, die ın der Aussage über den Polarıtäts-Charakter des Dionysos, daß er auch der Hades seı, anschaulich wird: deshalb gehen ın den

140

Die vier Bewufstseinsmutationen

Dionysien der Rausch, in dem sie »toben« (das Verbum ist das uns nicht mehr unbekannte μαίνομαι [mainomai], das die Wurzel »ma:me« enthält), und das Drama, das gestaltete, ge-

richtete Handlung ist, eines das ändere bewußtmachend und ergänzend, nebeneinander einher. Ein ähnlicher Vorgang muß sich in den orphischen Mysterien vollzogen haben. Dafúr sprechen die »lamellae orphicae«, die » Orphischen Täfelchen«, die in den Gräbern der süditalienischen Stádte Thurioi und Petelia sowie in Eleutherniae auf Kreta gefunden wurden. Sie entstammen dem 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr., jener Zeit, da die pythagoräischen,

mit Eleusis zusam-

menhángenden Mysteriengemeinschaften in Blüte standen. Sie verraten mit Worten den Sinn des großen pythagoräischen Geheimzeichens, das die griechische Letter für Ypsilon (Y) war 724: das Bild des bewußten und wissenden Entschlusses, das Bild des denkenden Unterscheidens, das Symbol fiir die Situation, die sich mythisch in jener des »Herkules am Scheidewege« ausdrückte. Denn hier ist abstrakt das Wesen der mentalen Struktur gefaßt: die aus der Lebens- und Seelen-Einheit hervorgehende bewußte Unterscheidung des dualen Links und Rechts. Herkules nahm richtig den rechten Weg. Und dieses Wissen, dem lebenden Mysten mit den »unausgesprochenen Worten« (den ἀπόρρητα)

ins Ohr geraunt, wurde dem

Gestorbenen

in diese

Goldplättchen geritzt gleichsam als Ausweis für das Totenreich mitgegeben. Auf ihnen stehen unter anderen die Sätze: »Dort im Reiche des Hades wirst du zur linken Hand eine Quelle finden und daneben eine weiße Cypresse; hüte dich, ıhr zu nahen. Dort ist auch eine zweite Quelle mit kaltem Wasser, das aus dem See der Erinnerung fließt. Den Wächtern, die ıhn behüten, sage: ‚Ich bin der Sohn der Erde und des vielgestirnten Hımmels«.«

Dieses geheime Wissen und dieser Bezug des Menschen zu den Wächtern, also den Wachen, die eine primordiale Fähigkeit des Bewufstseins, die Erinnerungstáhigkeit, hüten (wobei die grie-

chischen Verben für erinnern μιμνήσκω und μέμνημαι [mimnesko und memnemai] deutlich die Wurzel »ma:me« enthalten), sowie das Unterscheiden von links und rechts, das die Folge

des Wissens um die irdisch-himmlische, seelisch-polare Bezogen-

heit des Menschen ist, all dies kommt noch in einem anderen Satz jener »lamellae« zum Ausdruck: »Wenn deine Seele. das Licht der Sonne verläßt, gehe zur Rechten, wie es dem Weisen

geziemt. Freue dich, freue dich! Gehe zur Rechten...«.125 Diese Rechtsbetonung kommt auch in jener Vorschrift des

Die mentale Struktur

141

Pythagoras zum Ausdruck, »daß man auf der rechten Seite in das Heiligtum trete und den rechten Schuh zuerst anziehe«,126 womit der Akzent für die initiale Handlung auf die bewußtseinsbetonte Seite gelegt wird. Und dieser Bewußtheit entsprechend gehen im »Gastmahl« Platons die Reden zum Lobe des Eros rechtsherum 127, was zudem dem Wesen des Eros gemäß ist, stellt er doch eine bewußtwerdende Intention (also eine Gerichtetheit) dar. Mit dem »Gastmahl« befinden wır uns schon

im Bereich des erwachten mentalen Bewufstseins. Was 1m Vergleich zu ihm die »lamellae« zu spiegeln vermögen, sind Vorgänge, die das Erwachen dieses mentalen Bewußtseins ankünden. Wenn diese Vorgänge auch noch ın das Gewand des Mythos oder der Mysterien gekleidet sind, so scheint doch nicht mehr nur das bildmäßige Element, das nur imaginative der mythischen

Struktur durch sie hindurch, sondern es zeichnet sich an ıhnen

bereits die gedachte und gerichtete mentale Vorstellung ab. Mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatte, vermag dann deutlich zu werden, wenn wir daran denken, ın welchem Maße zu jener Zeit jedes Wort noch von seelischer und lebendiger

Fülle erfüllt war 128: ein jedes ist das Aufscheinen eines Aspektes der Seele und der geschauten seelischen Wirklichkeit, das ununterschieden den einen oder die anderen Aspekte desselben Wortes mitschwingend mitenthält. Diese Bedeutungsfülle jedes einzelnen Wortes, diese uns heute irritierend als Überlebendigkeit erscheinende Trächtigkeit des Wortes, derzufolge selbst der von ıhm verschwiegene Aspekt durch das Wort hindurchwirkte, stellte die ersten philosophischen Versuche vor fast unüberwindliche Ausdrucksschwierigkeiten. Ungemein deutlich wird dieser Sachverhalt jedem, der in die uns überkommenen Texte der frü-

hesten, der ionischen Naturphilosophie blickt. Und gerade die Lehre vom Seienden eines Parmenides 129 ist dafür ein beredtes Beispiel. Es bedurfte der Jahrhunderte, um das Wort so weit zu entvitalisieren und zu entmythisieren, damit es, nicht mehr von der Fülle des Bildes belastet, den klargedachten Begriff zum Ausdruck zu bringen vermochte, um schließlich heute, da dieser Prozeß sich selbst zu weit in das rationalistische Extrem getrieben hat, das Wort, das einst Macht war und dann Bild, zur

bloßen Formel zu degradieren. Bleiben wir jetzt bei Parmenides,

vor allem beı seinem Schüler Zenon, der um 450 v. Chr. die

Lehre vom Sein, die Ontologie seines Lehrers in Athen verteidigte. Und was ist das Ergebnis dieser Verteidigung? Die mit dem Denken gegebene Vorstellung des Seins enthält die Frage

142

Die vier Bewufstseinsmutationen

nach dem Raum. »Zenon versteht unter dem Seienden nur das räumlich ausgedehnte Seiende«, überschreibt zwar W. Capelle eine Zusammenfassung dieser Fragmente!?? Zenons, aber das Ausschlaggebende ıst die Tatsache, daß der Raum in der Vorstellung und ın der philosophischen Aussage und Formulierung wirkende Gestalt annımmt. Und dies geschah zu Athen durch Zenon um das Jahr 450 v. Chr.

Diese große, äußerst komplexe Problematik des Zusammenhanges von Denken, Sein und Raum, die einige Überlegungen der heutigen Existenzialphilosophistik als Scheindiskussion entlarven würde, da sie sich in leerem Formalismus gefällt (wobei das Verbum ge-»fallen« zu Recht steht), diese Problematik führte Zenon zu jenen Auseinandersetzungen, die ihn als ersten Relativisten erscheinen lassen; sie nótigten ihn zu jenen scharfsinnigen Formulierungen, durch die bereits die Dialektik geformt

wird, die dann in der nachsten Generation durch Sokrates zur

Logik fúhrt. Mit ihr beginnt jene Gedankenklarheit, in die wir

nun aufatmend hinaustreten können, nachdem wir uns dem ma-

gischen Dunkel und dem mythischen Zwielicht lange genug hingegeben haben. Freilich

ist zu jener Zeit, da Platon

Schüler

des Sokrates

wird und der athenischen Akademie sein Gepräge aufdrückt, noch nicht die Rede von einer vollständigen mentalen Klarheit. Klarheit ıst, wo kein Suchen ist. Aber gerade das Suchen nach der Weisheit, das an die Stelle der Weisheit selber trıtt, war

schon für Pythagoras und ist auch für Sokrates charakteristisch. Und auf Pythagoras, den ersten »Messer« des Abendlandes, geht eine der Maxımen Platons zurück. Pythagoras, der erste

Mathematiker, war auch der erste Geometer, und vor allem: er

stellte eine Verbindung zwischen dem magischen Tönen und dem mentalen Sehen und Zählen her, indem er auf dem Mono-

chord die Töne maß. Dort liegt der Ursprung der heute wieder-

erstehenden Harmonik 151. Die Maxime Platons jedoch, die er (angeblich) über seine Tür schrieb, lautete: »Mnóeis ἀγεωμέTONTOS εἰσίτω μοῦ τὴν oveynv (Kein der Geometrie Unkundi-

ger trete unter mein Dach)«: es muß messen können, wer etwas

ermessen will. Und vor allem: es muß die Erde messen können

(Geo-metrie ist eigentlich Erd-messung) 32, wer sich patriarchalısch über dıe Mutter stellen und des Menschen Maß mental bestimmen will. Hıer kommt deutlich, noch in einer qualitativen

Form, das Verhältnis des sıch mental findenden Menschen zur

Erde zum Ausdruck. Dieses Verhältnis aber kehrt sich seit dem

Die mentale Struktur

143

endgültigen Siege der defizient mentalen, der rationalen Struktur (seit etwa 1790) um. Seitdem ist das Primat vom Menschen

auf die Erde übergegangen; ihr Rot leuchtet in den Fahnen der

Revolutionen, und der einzelne droht in die chaotische Masse zurückzusinken, nachdem er ihr, die er einst geordnet hatte,

entstiegen war, ein Vorgang, den die Köpfe auf den alten Münzen bildlich spiegeln. War die Ausdrucksform der mythischen Struktur das Mythologem, so ıst die der mentalen das Philosophem. Hatte das Mythologem durchaus allgemeine Gültigkeit, so hat jedes Philosophem nur noch individuelle Gültigkeit. In dem Maße, in dem die philosophischen Systeme sich vermehren, nimmt das Mythische ab, um in abgeschwächter Form in der Religion und in der Legende, in diffuser Form im Märchen weiterzuleben, und in bereits rationalisierter Form in der Sage fast gánzlich abzuklingen. Doch die ersten großen Philosopheme, die der Ionier und Pythagoräer, selbst die Heraklits und auch noch die eines Platon, zeichnen sich durch ihre Mythennáhe aus. Wir haben schon von

dem Versuch des Parmenides gesprochen, der das Neue, das Denken, mit dem Sein ıdentifizierend, diesem Sein das Nichtsein

gegenüberstellte, das sich deutlich nur auf die mythische Haltung bezieht, deren Raumlosigkeit nun mental mit dem Nichtsein bezeichnet wird. Der Übergang von der mythischen Aussageform zur mentalrationalen

Denkform,

wie er sich, nehmen

wir nur Heraklit,

Platon und Aristoteles als Beispiel, äußerst aufschlußreich an diesen Philosophen darstellen läßt, wird uns noch ausführlich (s. Teil I, Kap. VII, 3 und 4) zu beschäftigen haben. So möge hier der Hinweis auf dieses Problem vorerst genügen. Ein gleiches gilt von dem Raum-Zeit-Problem, wie es allerdings einseitig raumbetont und dualistisch bereits bei Parmenides in Erscheinung tritt. Auch auf dieses Problem wird noch (s. Teil I, Kap. V) zurückzukommen sein. Denn die móglichst klare Herausarbeitung der bisherigen. Denkformen und der bisherigen Aussagen über Raum und Zeit ist unerläßlich, wenn wir der Fundamente ansichtig werden wollen, die der aperspektivischen Welt zugrunde liegen.

Uns bleibt hier noch das darzustellen, was zwischen den bei-

den je etwa 200 Jahre umfassenden »Zeitráumen« geschah, dem

Zeitraum des Pythagoras und des Aristoteles (etwa 550—350

v. Chr.), und dem des Petrarca und des Leonardo (etwa 1300 bis

1500 n. Chr.). Zwischen beiden besteht eine tiefgreifende Kor-

144

Die vier Bewußtseinsmutationen

respondenz. Man möge sich dabeı nicht an der lediglich einen Ordnungsversuch darstellenden Zeitabgrenzung stoßen, die sowohl nach vorwärts als nach rückwärts überschritten wird. Diese typische Fixierung konstruierenden Charakters ist ein bloßes Hilfsmittel und mag der mentalen Übersicht bis zu einem gewissen Grade dienlich sein. Die Verknüpfungen überschneiden durchaus diese beiden Zeiträume, wıe wır an dem Bezuge Zenons zu Einstein, an jenem Plutarchs zur modernen Psychologie, sowie an jenem der ionischen Philosophen, Herodots und Platons zu Augustin werden feststellen können. Zum Teil hat das seine Ursache darin, daß nicht nur die griechische Wissenslehre, sondern vor allem auch die jüdische Heilslehre den Jahrhunderten

nach Christus das entscheidende Gepräge gegeben haben, wobei die Festigung des Ich, die immer deutlicher in Erscheinung tritt, noch durch die römische Rechtslehre und durch den Gebrauch der lateinischen Sprache gestärkt wird, die eindeutiger und gerichteter ıst als die griechische. Bevor wir jedoch auf das eingehen, was man als »rinascımento« der Antike bezeichnet hat, das weniger eın rınascere als ein riannodare war, ein »Riannodamento«, — weniger also eine Wiedergeburt als eine Wiederanknüpfung, und zwar an die

charakterıstischen Formen

der mentalen Ansätze der Antike, —

müssen wir noch einige Wesenszüge dieser mentalen Struktur

näher untersuchen.

Die Gerichtetheit, die der mentalen Struktur innewohnt,

aus

der um 1500 n. Chr. durchaus »sınn«-gemäß und folge-»richtig« die Perspektive als Sıgnatur unserer perspektivischen Welt resultierte und damit ihre Sektorierung einleitete, sowie ihre Spezialisierung und endgültige Spatialisierung (lateinisch: spatium = Raum), diese Gerichtetheit enthält von allem Anfang an jene Einseitigkeit, die die Größe und das Verhängnis dieser Struktur ist. Diese Einseitigkeit liegt in der Identifizierung von rechts

mit dem Gerichtetsein; dadurch wird zwar das Bewufstseinsmäßıge, das, was das Bewußtsein mifst, ungemein gestärkt, jedoch durchaus auf Kosten dessen, was man heute als das Unbewußte bezeichnet, das unmafsig, unmefsbar ist. In der vom Men-

schen gemessenen und gedachten Welt hat die ungemessene und sich selbst denkende Welt, also die mythische Bilderwelt, keinen

Platz; im besten der Fälle wird ihr der Gegenplatz zugewiesen; denn für das messende Denken gibt es keine Brücke zu dem Un-

ermeßlichen; im Sinne des Mafses ist es nicht oder bestenfalls ist

es ein »Nichtsein«. Zudem wendet sich der denkende Mensch

Die mentale Struktur

145

durchaus von der Vergangenheit ab, darin von der Religion und ihrem Erlösungsgedanken gestützt, jener Religion, die ihm eine letzte Rúckbindung ins Unmeßbar-Irrationale durch den Glauben vermittelt, der dual dem Wissen gegenübergestellt wird. Die Vergangenheit ist für den denkenden Menschen nur insoweit existent, als er sie mit Jahreszahlen messen und fixieren kann;

er selbst richtet sich einseitig dem Zukünftigen zu. Dies um so mehr, als er aus seiner anthropomorphen Einstellung heraus der

Ansicht ist, daß die Gestaltung dieses Zeitsektors durchaus von ihm abhängig sei und durch ihn geleistet werden könne und müsse: ein Fehlurteil, das sich aus seiner Einseitigkeit von selbst ergeben muß. Hinzu kommt die tiefere Bezüglichkeit der mentalen Struktur zur magischen, die besonders in unseren Tagen überall in ihrer defizienten Form zum Durchbruch kommt, und

die auch in der Überzeugung des heutigen Menschen, er vermöchte der Macher der Zukunft zu sein, deutlich wird.

Die teilweise Negierung des Vergangenen, insofern es unmeßbar ist, die desgleichen aus der Gerichtetheit resultiert, welche das Zukünftige eo ipso anstrebt, ist eines der vielen dualen Ausdrucksmerkmale der mentalen Struktur. Und die Dualitat ist in dem Maße für diese Struktur kennzeichnend, wie es die Pola-

rıtät für die mythische Struktur ist. Alles Duale unterscheidet

sich in einem wesentlichen Punkte vom Polaren. In der Polari-

tät hat die Entsprechung Gültigkeit; jede Entsprechung ist ein ergänzender, ein ganzmachender Vollzug, da das Gesprochene durch das unsichtbar vorhandene Ungesprochene aufgehoben wird: ihm wird ent-sprochen. Die Stimme und das Stumme, die dem Mythos eignen, das Geschwiegene und Gesprochene sind in der polaren, unperspektivischen Welt der mythischen Struktur einander entsprechende Ergänzung, sind Aufhebung der Polarıtät und deren Rückführung in eine angenäherte Ganzheit, in eine jedoch immer reduziert bleibende Identitát, deren archaische

Echtheit nicht mehr annäherbar scheint: sie ist eine ergänzte, keine ganze. Und trotz allem drückt sich darin eine tiefe Bezüglichkeit zwischen der archaischen und der mythischen Struktur aus, so wie andererseits Jene zwischen der magischen und der mentalen

besteht.

Bei der Dualitát jedoch

kann

niemals,

im

Gegensatz zur Polaritát, von Entsprechung oder Ergänzung die Rede sein. Wie denn überhaupt im mentalen Bereich niemals

»von etwas die Rede sein kann«, sondern immer nur etwas fest-

oder vorgestellt zu werden vermag. Die Dualıtat ist die mentale Aufspaltung und Zerreifsung der Polaritát, aus deren Entspre-

146

Die vier Bewufstseinsmutationen

chungen sie messend die Gegensätze abstrahiert. Ist aus der mythischen Struktur heraus eine wenn auch defiziente Ganzheit in Form der Ergänztheit rückwärtigend vollziehbar, so ıst aus der Dualität heraus höchstens eine defiziente, weil nicht beständige

Form der Einheit als Einigung der Gegensätze in einem Dritten zu verwirklichen. Und hier spielt wieder der Bezug der mentalen zur magischen Struktur deutlich herein, insofern das versöhnende

(!) Dritte

eine Einigung anstrebt. Diese nıchtbeständige Form der Einheit, der Unität, drückt sich darın aus, daß dıe Gegensatzpaare ımmer nur in einer vorübergehenden leidvoll-glückvollen Vereinigung das Dritte zu gebären vermögen, ein Drittes, das, im Mo-

ment seines Erscheinens bereits wıeder gesondert, durchaus keine neue Einheit darstellt, sondern lediglich eine von ihrem Gegensatz abhängig werdende Größe, die zusammen mit ihrem Gegensatz wiederum nur ein momentan einigendes Drittes bewirken kann. Und damit ıst ein weiteres Moment unserer Zivilisation vorgegeben: die Quantifizierung; denn die Einigung oder Synthese im Dritten ist niemals in der Zeit, sondern nur im Augenblick vollziehbar, und das sich loslösende Dritte wird fortzeugend selber zum Träger eines der Gegensatzteile, die eine neue Einigung oder Synthese auslösen können. Kreativ (und nicht etwa dogmatisch) gesehen geht aus dem Dualismus

das

Bewußtsein

des

Sohnes,

die

kreative

Trinitat

hervor; die gültigste Form dafür ist die Geburt des Menschensohnes. Damit ıst der Zukünftige und alles Zukünftige gegeben. Am deutlichsten drückt sıch dies ın der seitdem einsetzenden Abwendung von der Vergangenheit aus: ın der Aufgabe des Ahnenkultes zugunsten des neuen, dem Bethlehemkinde geltenden Kindkultes. Die Ahnen sind stets die Vergangenen, das Kind ist stets Ausdruck des Kommenden, Zukünftigen. Spekulativ gesehen geht aus dem Dualismus die spekulative Trinitat hervor, die sich in dem äußert, was wir gelegentlich unserer Untersuchung der Denkformen als Dreiecks- oder Pyramiden-Denken eines Platon zu charakterisieren haben werden, das seine prágnanteste Formulierung durch Hegels Satz von These, Antithese und Synthese erhielt (s. S. 354). Wenn auch das Hegelsche Axiom die rationalste Form der Trinitat darstellt und deshalb nur bedingt in einem Atemzuge mit der mentalen christlichen Trinitat genannt werden darf, so müssen wir doch hervorheben,

daß die mentale

trınıtäre Form

nıcht mit den praementalen ternären Formen verwechselt wer-

Die mentale Struktur

147

den darf. Mit anderen Worten: Dreiheit und Dreieinigkeit, Trias also und Trinität, unterscheiden sıch grundlegend voneinander. Nur die Trinitat hat mentalen Charakter: in ihr vollzieht sich die Einigung der einst polaren Elemente nicht mehr auf mythische Art, sondern sie muß sich zur Herstellung der Einigung des »dritten« Elementes bedienen. Die Dreieinigkeit ist also keinesfalls mit der blofen Dreiheit zu verwechseln, wie sie in frühen

sogenannten religiösen Vorstellungen sichtbar wird. Bestenfalls darf die Dreiheit oder Trias als ternäre Vorform der Trinitat angesprochen werden. Alle ternáren Formen zeichnen sich dadurch aus, daß ihre drei Elemente zumeist beliebig austauschbar sind und trotz ihrer Zusammengehörigkeit auch einzeln als ganze Prinzipien bestehen können, wie es in der indischen Trimurti der Fall ist. Die vielfachen Darstellungen dreiköpfiger Gottheiten vorchristlicher »Religionen« bieten dafür ein gutes Anschauungsmaterial 133, Und es kommt noch ein weiterer grundlegender Unterschied hinzu. Wir vermuten, daß die ternáren Formen vorwiegend lunaren Charakters sind, den trinitáren jedoch solarer Charakter eignet. Für die trınıtäre Form dürfte der solare Charakter offensichtlich sein. Hinsichtlich des lunaren der ternären Formen sind der Dreizack des Poseidon sowie das Dreigespann der Dais (s. S. 253f.) aufschlußreich. In der Dreiheit dürfte sich die Dreiphasigkeit des nächtlichen Mondes spiegeln. Bei dieser Unterscheidung muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir damit keinesfalls einer einseitig naturhaften Interpretation der Symbolik das Wort reden wollen. Der naturhafte Aspekt eines Symboles ist stets nur einer unter mehreren, denn die Reichweite jedes symbolischen Ausdrucks ist mit dem naturhaften Gleichnis niemals erschópft. Dies gilt besonders auch deshalb, weil wir zwar

nicht wissen, wohl

aber ver-

muten dürfen, daß das Symbol, soweit es sich um spezifische

Grundformen

wie Punkt,

Kreis, Dreieck, Viereck

handelt,

der

Natur vorausging, so, als wären diese Symbole vorgedachte (oder vordenkende) Urmuster, die vorübergehend in den Erscheinungen, die sie strukturieren, sichtbar werden (s. S. 316). Dieses »Vorgedachtsein« bedingt aber keinesfalls, daß ihnen,

weil man glaubt, kausal folgern zu müssen, ein Demiurg (Weltschöpfer) beigegeben werden müsse, noch besteht ein Grund, daß man meinen dürfte, die Welt magisch mit Geistern, beziehungs-

weise mit sublunaren oder kosmischen Entitäten (Wesenheiten) bevölkern zu können, die jeweils Träger oder Auslöser dieser Formen zu seın hätten.

148

Die vier Bewußtseinsmutationen

Hatten wir nun der magischen Struktur als Signatur den Punkt zugeordnet, der ihre Eindimensionalitat, ihre Raum-Zeitlosigkeit zu veranschaulichen vermag, hatten wir der mythischen Struktur den Kreis zugeordnet, der thre Polaritat und thre Flachenhaftigkeit, die schon das Moment des Zeithaften in Gestalt der Ausdehnung oder in Gestalt des in sich zurückkehrenden Kreises enthielt, so ist es nur folgerichtig, wenn wir der dreidimensionalen Struktur das Dreieck als Signatur zuordnen, da die mentale Gerichtetheit nur infolge der Richtungsmöglichkeit auf ein gegenüberstehendes gegensatzliches Objekt moglich ist, ein dualer Bezug, der jedoch wieder folgerichtig zur Trinitat führt. Dabei steht die Basis des Dreiecks mit ihren beiden gegensatzlichen Punkten fiir das duale Gegensatzpaar, das in der Spitze geeint wird. Hatten wir als Charakteristikum der magischen Struktur die Emotion feststellen kónnen, als Charakteristikum der mythischen die Imagination, wobei die emotionale Haltung der Naturbezogenheit des magischen Menschen, die imaginative Haltung der Psychebezogenheit des mythischen Menschen entsprechen, so mússen wir als Charakteristikum der mentalen Struktur

die Abstraktion bezeichnen: sie entspricht der Menschbezogen-

heit dieser Struktur insofern, als alles auf das menschliche, mes-

sende Denken abgestellt wird, das den Menschen sowohl von der

Triebwelt, dem Emotionalen, als auch von der Bilderwelt, dem

Imaginativen, fortreißt, um an ihre Stelle die mentale, gedachte

Welt zu setzen, die immer zu einer Abstraktion führt. In welchem Maße das Dreieck ein sehr viel abstrakteres, weil

durchaus ausgemessenes Symbol ist als der Punkt oder der Kreis, und wie sehr es der mentalen Struktur gemäß ist, geht auch aus der Tatsache hervor, daß die chinesische Symbolik bis auf den heutigen Tag das Dreieck überhaupt nicht kennt, sondern lediglich den Kreis und das Quadrat. Der chinesischen Kultur, die noch heute eine vorwiegend mythische Kultur ist, ist das Dreieck wesensfremd. Ihr Quadratsymbol, in dessen vier Punkten sich die Befreiung aus der einpunktigen magischen Welt andeutet, ist als Erdsymbol die irdische Ergánzung zu dem ihm entsprechenden kreisformigen Himmels- und Seelensymbol. Und in welchem Maße der Kreis jedem rationalen Erfassen unzugánglich ist, geht auch daraus hervor, daß er mit rationalen Mitteln überhaupt nicht gemessen werden kann, es sei denn, man nimmt unmeßbare Zahlen wie x zu Hilfe. Was nun aber die oben angedeuteten Konsequenzen der

Die mentale Struktur

149

Trinitát betrifft, daß sie nämlıch einerseits zur Abstraktion, wie

beispielsweise ım synthetisierenden Denkakt, andererseits zur Quantifizierung führen, da dieser Akt nur durch dauernde Wiederholung oder wiederholende Neuleistung Bestand haben kann, so gehen diese auf den ersten Blick unvereinbaren Konsequenzen aus der Dualitát hervor, die das Gegenüber und den Gegensatz mifit, eine Dualitát, die erst die Trinitat ermöglicht. Jede Abstrahierung ist das Resultat des messenden Denkens in der Scheinunsichtbarkeit des gedanklich Ermessenen, jede Quantifizierung ist das Resultat des messenden Denkens in der Scheinsichtbarkeit des realiter Gemessenen 13. In der Wirklichkeit der Gedankenwelt spiegelt sich dieser Prozeß wider, indem aus dem Symbol, das stets polaren Bildwert hat, zuerst die Allegorie, dann die bloße, vornehmlich physikalisch-chemische, aber auch die philosophische Formel entsteht, die, als extreme Formel von

jedem Lebensbezug durch ıhre übertriebene Abstrahierung abgeschnitten, autonomen Charakter erhält, und dıe dann inhalts-

los geworden und kein Zeichen mehr, sondern nur eine mentale Bezeichnung darstellend, vornehmlich destruktiv wirkt. In der Wirklichkeit der Ding-Welt spiegelt sich dieser Prozeß wider, indem aus der Dualitát, welche die Polarıtät zerstörte, fortzeu-

gend das Dritte geboren werden muß, um wenigstens eine duale

Kontinuität zu erhalten; damit wird jedoch bewirkt, daß aus

dem ursprünglich noch qualitativen monotheistischen Moment, und über dessen Aufspaltung in die bereits quantitativ betonte Dualitát, das bloß quantitative, immer neu zu schaffende Dritte hervorgeht: nur mehr das Zählbare, móglichst ın Statıstiken Erfaßbare gilt. Und es ist sicher kein Zufall, daß inmitten der Jahre, da sich die Perspektive zu bilden begann, anfangs des 15. Jahrhunderts n. Chr., sich dieser Umschlag aus der qualitatıven Wertung in die quantitative Beurteilung vollzog. Die Zerschlagung des Templerordens, der noch im Gelde, das aber heißt im geprägten Golde, den letzten Rest jener polaren Wirksamkeit anerkannte, die den Goldmünzen der Antike eigen war, geschah

ja wahrscheinlich deshalb, weil er der bloßen Quantifizierung des Goldes Widerstand entgegensetzte. Die antıken Goldmün-

zen, die im Thesauros, der Schatzkammer der Athener, aufbewahrt wurden -- und diese war durchaus nicht eme Bank, sondern eine dem Zeus und Apollon geweihte Stätte —, waren zu ihrer

Zeit wirkende Symbole der sonnenhellen Bewußtheit. Die goldene Münze war identisch mit der Sonnenscheibe und spiegelte die polare Einheit, wobei beide Seiten der Münze sıch ergänzten.

150

Die vier Bewußtseinsmutationen

Und in diese Münzen waren die Köpfe, die denkenden Köpfe der Götter, und später jene der Herrscher geprägt'?°. Damals hatte das Gold noch qualitativen Charakter, jenes Gold, das seit der Zerschlagung des Templerordens quantitativen Charakter annahm und damit überhaupt jedweder Quantifizierung Vorschub leistete, die seit jener Zeit immer stärker zunimmt, wobei

die Erfindung der doppelten Buchführung durch Luca Pacioli nur einen der dorthin führenden Meilensteine bildet. Er ıst übrigens jener Freund Piero della Francescas und Leonardo da Vincis, dem wir als einem Lobredner der Perspektive schon begegnet sınd. Abgesehen

davon,

daß

jeder Abstraktion

eine

isolierende

Perspektivierung innewohnt und daß Perspektivierung andererseits zu Sektorierungen führen und somit die Erscheinungen, seien sie nun mentaler, seien sie dinglicher Realitát, durch fortschreitende Unterteilung oder Subsektorierung nicht nur teilen und damit mefibar machen, sondern auch quantifizieren, führen beide, sowohl die Abstraktion wie die Quantifizierung, letztlich in die Leere, ja in das Chaos. Dort, wo sie das ihrem Wesen

gemafse Deutlichmachen überschreiten, schlagen sie, durchaus metabolistisch, in das Gegenteil der Deutlichmachung um, die dann, ihrem quantitativen Charakter gemäß, nicht nur bloße Verfinsterung mit sich bringt, sondern eben die »absolute Leere« und das absolute Chaos. Von einem gewissen Punkte ab, dem der Uberdeutlichkeit, sei sie nun mentale Erhellung, sei sie meß-

bare Sichtbarmachung der Dinge, beginnt der unaufhaltsame Absturz in das Massenhafte, beginnt das einsetzende Gefälle, wo die autonom gewordene Inhaltslosigkeit die der Erde ungemäßen Kettenreaktionen auslöst, die in die Auflösung führen 136. Dieser Atomisierungsprozeß spielt sich nicht nur in der atomaren physikalischen Wirklichkeit ab; diese ist nur die handgreiflichere Form der bereits begonnenen mentalen Atomisierung, die ihren auflósenden Charakter in einem philosophistelnden Formeljargon zu erkennen gibt, denn von philosophischer Sprache ist da nichts mehr vorhanden. Doch kehren wir zu dem Ausgangspunkt dieser Folgerungen zurück. Er bestand in unserer Feststellung, daß in der initialen Gerichtetheit der mentalen Struktur die Dualitát mitgegeben ist. Und

aus dieser Dualitat,

die wesensverschieden

von

der

Polaritat ist, geht mitgegeben, ja zwangsweise, die Trinitat her-

vor. Wir sprachen von der kreativen und von der spekulativen

Trinität. Wir vermieden es, die dogmatische zu erwähnen, die

Die mentale Struktur

ı 51

der religiösen Sphäre angehört, eine Trinitat, die magische und nicht mentale Betonung trägt, denn sie 1st die einzige Trinitátsform, die durch das Dogma, das freilich bereits ein mentaler

Akt ist, zur Einheit oder Unitat, die stets magischen Charakter

hat, erhoben wurde. Dabeı wird hier dieser magische Charakter noch ın der Konzeption des Schöpfergottes hervorgehoben, des Demiurgen, der auch bei Platon in Erscheinung tritt, und der ein Weltmacher ist; und dem Religiósen gemäß wird hier die irdisch-magische Struktur in eine kosmisch-magische transzendiert. Grundsätzlich müssen wir jedoch zum Trinitatsthema

feststellen, daß überall dort, wo wır ternären Formen begegnen, 561 es in Mythologemen, sei es im Sprachbau oder sonstwo, diese ternären Formen vorbildend und vorausträumend die Moglichkeit des mentalen Bewufstseins andeuten. Wir sprachen von dem Symbol für diese mentale Struktur, dem Dreieck, sowie von dem Wesenszug dieser Struktur, die

durch die Abstraktion, damit aber auch durch die Quantifizie-

rung charakterisiert wird. Wir könnten jedoch das Thema un-

serer Untersuchung,

die Bewußtwerdung,

leicht aus dem Auge

verlieren, wenn wir der dogmatischen Trinitat nachgingen. Kreative Trinitat ist ein Teil der Bewußtwerdung, weil sie das Kommende sichtbar macht, spekulative Trinitat ist ein Teil der Bewußtwerdung, weil sie den denkenden Menschen im Gedachten konfrontierend sichtbar macht. Wichtiger jedoch als diese Teilsichtbarmachungen ist ihr Vollzieher. Und dieser Vollzieher, dieser Träger des mentalen Bewufstseins, ist das Ich, — wir befinden uns jetzt in der mentalen Struktur, die durchaus anthro-

pozentrisch ist und in der sich das Bewufstsein zentriert. Wir sind diesem Ich, das aus der Integrierung der Seele, aus der Meerfahrt hervorgeht, bereits begegnet: im »Bin Odysseus«. War nun der mythologische Bewußtseinsträger der Sonnengott Helios, der als »Sol invictus«

Attribut der romischen

Casaren

wurde, so ging dieses Attrıbut später an Christus über 12. Christus aber ist der wirkliche Bewußtseinsträger und damit in ver-

stärktem Maße der Kraft fahig, die Seele zu führen. Alle, die noch heute in seinem Namen handeln, vor allem die katholische Geistlichkeit, betonen durchaus diesen wesentlichen und heilsa-

men hermeneutischen Aspekt; denn zählt der Staat die Indivi-

duen, die Kirche zahlt die Gemeinde noch heute nach Seelen.

Christus ist der Erste, der gegen das drohende Zurückgleiten, gegen den Untergang in die Seele bereits gefeit ist, jenen Untergang, gegen den als Schutz Platon das erste große mentale phi-

152

Die vier Bewußtseinsmutationen

losophische Netzwerk flocht. Symbolisch drückt sich das Gefeitsein Christi gegen den Untergang in der Seele darın aus, daß er den Schiffbruch übersteht. Ihn trägt das Meer nıcht an das Land, wie es einst Odysseus an das Ufer der Phäaken warf (oder sollte man meınen, daß die »Weltseele« ıhn, den Odysseus, gewisser-

mafßen ausspie? — auch dieser Aspekt ist ablesbar, dieser dunkele neben dem hellen, der die Bewußtwerdung andeutet). Odysseus

fand sıch, aus dem Schlafe erwachend, am rettenden Ufer. Und in diesem Satz steht jedes Wort an seiner dienlichen Stelle; denn

er fand sıch selber, aus dem Schlafe, dem Unbewußtsein, zum Bewußtsein erwachend, am rettenden Ufer, an jenem neuen Rande, wo er, buchstäblich festen Boden unter den Füßen ha-

bend, auf das Meer, auf die immer schwankende Seele zurückblicken konnte. Und erst nach diesem Sichfinden, erst nachdem

das Meer, die große heraklitische Seele, ıhn entlassen hatte, konnte er, selber zutiefst erschüttert, jenes uns noch erschütternde

Wort, das »Bin«, finden.

Christus aber übersteht den Schiffbruch: er vermag auf dem Wasser zu gehen; er überwindet damit das Grundchaos und darf nıcht nur sagen: »Ich bin Christus«, sondern: »Ich bın das Licht der Welt.« Die erste große, gänzlich in sich gesicherte Helligkeit ist damit in der Menschheit zum Durchbruch gekommen, jene Helligkeit, die es zum ersten Male auszusprechen wagen dart,

daß sie das Dunkele, das Leid der Welt, auf sich zu nehmen

wage. Hier, an diesem Punkte, trennen sich in der Menschheit die Wege von Ost und West. Zwar gibt es eine indische mythologische Parallele zu jener souveränen Tat Christi; einer der Namen

Vishnus ist Närävayana,

auf dem Wasser geht« magischen Möglichkeit als Wunder erscheint; Christus die magische

was wortlich übersetzt »Der

bedeutet!?8. Gehen wir hier nicht der dessen nach, was unmagisch betrachtet selbst wenn für Närävayana und für Realität in dieser Tat Wirkung gehabt

haben sollte, so wurde sie bei Christus dank seiner Geschichtlich-

keit wiederum weitgehend entmagisiert. Wichtiger als die Abklárung dieses magisch erklärbaren Sachverhaltes ist die Offensichtlichkeit des bewußtseinssteigernden Sachverhaltes. Die gleıche Tat, die bei Christus zur Akzeptierung des Leides durch das bewußte Ich führt, führt im Buddhismus zur Verneinung des Leides, zur Aufhebung des Ich und zu seiner verwandelten Zurückführung in den Anfang des unmateriellen Nirwanas. Im Christentum ist die Akzeptierung, das Ertragen des Ich, das Ziel. Im Buddhismus gilt die Aufhebung des Leides und des Ich,

Die mentale Struktur

153

wobei diese Aufhebung des Leides und des Leidens durch Abwendung von der Welt realisiert wird. Im Christentum dagegen gilt es, die Akzeptierung des Leides und des Leidens durch die Liebe zur Welt zu gewinnen. Der gefährliche Weg, der schwere, den das Abendland gehen wird, ıst vorgezeichnet. Und durch unsägliche Mühsal geht es ıhn. Da die mittelmeerische Kraft erlahmt, verlegt sich das vitalisierende Schwergewicht weiter nach Nordwesten. So, wie es einst vom Zweistromland und vom

Nil sich auf die griechischen Inseln übertrug, wie es dann, hilfreich unterstützt von der jordanischen Kraft, sich mit der griechischen vereinend, in Rom neu erstarkte, so verlagert es sich langsam im Laufe der Jahrhunderte nach Franken. Doch damit stehen wir schon in der europäischen Welt. Bevor wir nochmals kurz auf diese bereits geschilderte perspektivischmentale Welt zurückkommen, müssen wir noch den Linien nach-

gehen, die sich im patristischen Zeitalter, in dem der Kirchenváter, zu jener Kraft bündeln, welche endgültig die letzte grófiere Mutation bewirkte, jene in die Perspektivität. Das Thema dieser Schrift ist eine Geschichte der Bewußtwer-

dung,

und

es kann

nicht ihre Aufgabe

sein, auch

nur einen

Abrıß einer Geschichte der Philosophie zu geben, obwohl der Gedanke naheliegt, weil das Philosophem die wichtigste Äußerungsform der mentalen Struktur ist. Aber es handelt sich hier eben nicht so sehr um die Frage nach den Philosophien, sondern um die nach dem Philosophem. Und dieser Frage gedenken wir keineswegs auszuweichen. Hier geht es jedoch zunächst um die Bewufstseins- Thematik, insofern wir die symbolische Befreiung aus der psychischen Befangenheit, wie sie sich in dem Gehen auf dem Wasser darstellt, auch in exakten Aussprüchen Christi feststellen konnen. Doch möchten wir es vermeiden, uns als Interpreten einzelner Stellen

des Neuen Testaments aufzuspielen; es sei jedoch auf eine kleine Szene hingewiesen, die sich am Rande der kanonisierten Schrift abspielt, auf jene Szene von »Johannes und dem Rebhuhn«g, die uns in den apokryphen Johannesakten überliefert worden ist !??. Dort kommt in dem Tadel, den Johannes gegen einen Priester ausspricht, der sich in Gedanken über ein Rebhuhn ärgert, das vor Johannes einherláuft, dieses souveräne Wissen über die Seele

zum Ausdruck. Denn er sagt zu dem, der Árgernis nimmt: »Das Rebhuhn námlich ist deine Seele.«

Diese klare Einsicht, dieses klare Wissen um die Projektion

(wenn wir es mit modernen, aber ungemäßen Worten ausdrük-

154

Die vier Bewuftseinsmutationen

ken) zeugt von einer außerordentlichen Bewußtseinshelle und

Distanzierung zur Psyche. Hier ist mentale Wirklichkeit, welche die mythisch-psychische Symbolwirklichkeit überblickt. Von ıhr werden wir noch zu sprechen haben, wenn wir der Seelen- und Geistsymbolik nachforschen, innerhalb derer der Vogel einen Pol der Seelensymbolik darstellt. Dieselbe Klarheit des Verstandnisses für psychische Vorgänge, ein Verständnis, das eo ipso einen starken Grad von Bewußtseinswachheit und Ichzentriertheit voraussetzt, kommt gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hin und wieder ın den Schriften Plutarchs zum Durchbruch. Er wendet sıch

nicht nur gegen den Zorn, gegen die Menis und warnt zweimal, in einer größeren Abhandlung und in einer seiner Tischreden, vor diesem Zorn**%; und es ist der defizient gewordene Zorn, nicht der ursprüngliche, der heilige, vor dem er warnt; es ist jener Zorn, der zerstórt, was der andere aufzubauen begann, den Plutarch anprangert und damit versucht, das nur triebhaftpsychische Gefälle seiner Zeit zu richten. Nicht genug mit dieser zweimal vorgetragenen Warnung, findet sich in seiner Schrift »Erotikos« eine Stelle, welche die gesamte psychologische Pro-

jektionslehre der modernen Tiefenpsychologie vorausnimmt, und die jene Souveränität des Mentalen überdeutlich spiegelt, welche die Psyche zu richten vermag. Die Plutarch-Stelle lautet 111: »Chrysippos ... leitet nàmlich den Namen (des Gottes) Ares von anhairein ab, das heißt töten, und gibt dadurch denen eine Handhabe,

welche

meinen,

daß

das Kampflüsterne

in unserer

Natur und das Streitsüchtige und Jähzornige Ares genannt werde...»Wie nun

nahm

mein Vater das Wort, »den Ares hältst

du für einen Gott oder für einen unserer Affekte? Darauf erwiderte Pemptides, seiner Meinung nach sei Ares ein Gott, der die zürnende und mànnliche Komponente unsrer Natur ausmache.« In den auf Plutarch folgenden Jahrhunderten, in denen das

Christentum durch Verfolgungen gestärkt wird, und in denen sich der Einbruch einer letzten großen magisch-mythischen Welle

vollzieht, die aus dem Orient über Rom

hereinbricht, und die

die bereits defizient gewordenen mythischen und mysterienhaften Reste der griechischen Kultur synkretistisch assimiliert, wird das Christentum außerdem gezwungen, sich gegen diesen Einbruch zu behaupten. Hier vollzieht sich die Ablósung der mentalen Struktur von der mythischen nochmals. Was hier erreicht wird, spiegelt sich in der neuen Interpretation des Wortes »Re-

Die mentale Struktur

155

ligion«, wie sie in der Zeit der Kirchenvater Gültigkeit erhält. Denn dieses Wort wird jetzt durchaus mental wıllkürlich etymologisierend auf das Verbum »religare«, das heißt rückbinden, zurückgeführt. Darin spiegelt sich das Herausgewachsensein des christlichen Menschen aus der polaren mythischen Struktur, für die das sorgfältige Beachten, das »relegere« Gültigkeit hatte. Die Möglichkeit eines solchen Beachtens ıst weitgehend verloren, weil die Struktur, die es fordert, nicht mehr ausschlaggebend ist. An Stelle des »relegere« tritt das »religare«, der Versuch, der nun durch zweitausend Jahre Aufgabe der Kirche sein wird, den Menschen oder doch wenigstens seine Seele in den archaischmagisch-mythischen Bereich zurückzubinden, dem er mental weitgehend entwuchs 122, Hier entsteht die Forderung des Glaubens, die dual dem Wissen gegenübergestellt wird. Diese »religio« ıst der einzige Versuch einer Aufrechterhaltung der Tradition,

der

im

Abendlande

ment,

Machtelement,

von

Dauer

war;

nicht

zuletzt

ja selbst

blutig,

wohl auch deshalb, weıl zu gewissen Zeiten das magische Eledas

vielleicht

zu

stark,

von der Kirche in ihrem Kampf gegen jede andere Gemeinschaft traditionserhaltenden Charakters betont wurde. Daß diese Sorge um die Rückbindung äußerste Berechtigung hatte, geht aus einer kleinen Überlegung hervor: gerade das Ermessen und Erfahren der Seele, das eine Distanzierung zu ıhr auslösen mußte, brachte das Wissen um sie mit sich; aber alles Wissen ıst stets von dem

Vergessen bedroht und alle Distanzierung durch eine immer mögliche abschneidende Isolation. Heute haben viele ıhrer Herkunft vergessen, wenn sie nicht sogar dieser Herkunft verlustig gegangen sınd. Sehen wir jetzt von allen außer-europäischen Beiträgen zur Festigung des Christentums ab, also sowohl von den syrıschen wie koptischen, aber auch von den keltisch-irischen, die alle ungemein interessant sind; beschränken wir uns auf eine zentrale Gestalt der europäischen Welt, auf Augustin. Er hat stärker als andere

die

Polarıtät

der

Seele

durchmessen,

ein

Metaboliker

(und kein Metabolist), wıe Paulus auch, auf den er sıch, ıhm wahlverwandt, vornehmlich stützt; er war aus der erfahrenen

Metabolé heraus fähig, nochmals die Einsichten in die Grenzenlosigkeit des Seelischen zu erweitern. Er, ein Bekehrter, der die »andere Seite« nicht nur gekannt, sondern erlebt hatte, er war gezwungen, immer von neuem seine Metabolé, seinen Umschlag

aus dem Manichäertum ıns Christentum, vor sıch selber zu recht-

fertigen, um die neugewonnene Haltung behaupten zu können.

156

Die vier Bewufstseinsmutationen

Diese dauernde psychische Spannung, die sich in seinem zornigen Eifer, wie bei Paulus, verrät, gab ihm die mächtige Wirkungs-

kraft, die ihm, wie Paulus und allen echten Metabolikern, eıgnet;

der Kraftaufwand, der nötig ist, um die neue Einstellung zu

halten, fordert das Letztmögliche an mentaler Intensität, um der

rein psychischen Metabolé entwachsen zu können. Nur jene, die sıch derart immer selber bestärken müssen, gewinnen Proselyten und sınd gemeindebildend. Das der echten Herznot entwachsene Wort, das das cigene Herz stärken soll, stärkt auch die Herzen der Hörenden 123. Augustin sah als erster deutlich die Zeitbezogenheit der Seele.

Da wir noch auf die Art dieser Zeitbezogenheit der Seele zurückkommen werden, sel jetzt nur festgehalten, was Augustin und sein einzigartiges Werk zum Brennspiegel des patristischen Zeitalters machte, der alle Bewußtseins-Ansätze der Vergangenheit auffing, zusammenschmolz und sie an die kommenden Generationen weitergab. In Augustin laufen die drei großen Komponenten, die unsere Zivilisation möglich machten, zusammen: die griechische, die

jüdische, die lateinische. Er selber war Afrıkaner, aber ım Lateı-

nischen beheimatet, und brachte endgültig die beiden großen Monologien, sie verknüpfend, zu christlicher Verwirklichung: den jüdischen Monotheismus, die jenseitige Ein-Gott-Lehre und die diesseitige ein-elementare Ursprungslehre der ionischen Naturphilosophie. Hier bildet sıch letztgültig der erweiterte Dualısmus, der später durch Descartes und in der europäischen Aufklarung seine radikalste Form durch die Gegensätzlichung von

»Geist« und »Materie« fand. Zur ıonıschen Elementenlehre, dıe

durchaus monistische Züge trägt, ist zu bemerken, daß die ersten Philosophen den Weltursprung jeweils aus einem Element ableiteten: für Thales von

Milet war das Urelement

das Wasser,

für Anaximenes die Luft, für Heraklit das Feuer: die gerichtete Herkunft wird diesseitig in ezn Element verlegt, das freilich auch noch numinosen Charakter hat. Dieses Wort »Element« enthält nicht zufällig, in seiner lateinischen Form, die Wurzel ma : me.

Im mosaischen Monotheismus wird die gerichtete Herkunft numinos in einen Gott verlegt, der freilich auch in gewisser Hinsicht diesseitigen Charakter hat, da ıhm später, in der christlichen Lehre, der Satan als dualer Gegenspieler gegenübergestellt wırd. Enthält nun der ionische Initialbegriff, wohlgemerkt in der lateinischen Form,

die Wurzel

ma:me,

so spiegelt der jüdische

Inıtialbegriff ın seiner griechischen Form, dem Wort »Monos«,

Die mentale Struktur der

»Alleinherrschende«,

noch

einen,

seinem

religiösen

157 Bezug

entsprechenden polaren Anklang: die Wurzel des Wortes »Monos« ıst die ur-ındoeuropäische Wurzel »me/mo«. Hier gehen also in zweifacher Hinsicht der Glaube, insofern er mythenmäßig seelische Rückbindung ist, und das mentale Wissen die Synthese miteinander ein, die durch Rom und durch das Lateinische für das Christentum ermöglicht wurde. Doch keine Synthese hat Dauer. Sie muß immer von neuem gestaltet werden, und aus diesem Zwang zur dauernden Neugestaltung ergibt sich ganz natürlich eine allmähliche Zuspitzung, eine immer deutlichere Gerichtetheit und Fixiertheit, die dann über Petrarcas Entdeckung der Landschaft, bei der Augustin ja eine Rolle spielte, zur Perspektive führte, zur Perspektivität.

Damit sind wir an dem Punkt angekommen, von dem wir bei unserer ersten informierenden Betrachtung der perspektivischen Welt ausgegangen waren. Wir haben jetzt nur noch das Riannodamento ersichtlich zu machen, um zu zeigen, wie die perspektivistischen Ansätze der Antike ın der Renaissance jene Anknúpfung erfuhren, aus der heraus ihre perspektivistische sektorenhafte Weiterung und Einengung erfolgte. Wir können uns hier auf wenige Namen beschränken, da wir schon einige der vielen nannten: die bei der Sappho zum ersten Male aufklingende lyrische Ichform klingt erst wieder in Dantes »Vita Nuova« und bei den Minnesängern auf; unnötig zu sagen, in

veränderter

Form

und

vor einem,

wie inzwischen

ersichtlich

wurde, veränderten Hintergrund. Der Gedanke des Pythagoras, daß die Erde eine Kugel sei, der über Aristarch bis zu Aristoteles unter den griechischen Philosophen Geltung hatte — noch Thales

von Milet hielt sıe ja für eine auf dem Urwasser schwimmende

Scheibe (eine Anschauung, der auch der Jainismus heute noch

huldigt 14*), sah sie also noch durchaus 1m mythischen Symbol -,

wird durch Kopernikus neu gedacht. Was Alkmaion begann, die Sezierung des Gehirns und des Körpers, wurde durch die Anatomie des Vesale fortgesetzt. Euklids Geometrie, die flächenbezüglich war, wurde durch die Erfindung der Perspektive geräumlicht. Diese Perspektive, die sich zum ersten Male als vages Raumgefühl in der griechischen Vasenmalerei des 5. vorchristlichen Jahrhunderts andeutete, die in den Odyssee-Landschaften Esquilins und dann in der pompejanischen Wandmalereı über das Landschaftliche zu perspektivierenden Versuchen der Räumlichung führte, wird durch Leonardo da Vinci vollendet. Platon,

158

Die vier Bewußtseinsmutationen

der erste große systematische Dualist, wird durch Augustin in dieser Hinsicht übertroffen. Aristoteles (und in seinem Gefolge der große islamische Einfluß, den wir nur streifen konnten) wird in Paris von Albertus Magnus und von Thomas von Aquin, die mit Augustin Vorbereiter der christlichen Renaissance. waren, neu interpretiert und weitergeführt. Die durch Herodot begonnene Geschichtsschreibung wird, desgleichen durch Augustin, auf Grund des geschichtlichen Christentums und seiner Wurzel in der jüdischen Geschichtsschreibung des Propheten Amos zu gerichtetem und gesichertem christlichen Bewußtsein. Und dieser selbe Augustin schrieb die persönlichen »Confessiones« und nicht wie Platon jene biographischen Briefe, deren Echtheit heute von neuem angezweifelt wird 1”. Der größte Bogen Jedoch spannt sich — vielleicht einen Anfang mit einem Ende verbindend? —

von Zenon

zu Einstein, von dem ersten Entwurf eines relativi-

stischen Gedankens zu seiner Verwirklichung in unseren Tagen 1%; wobei wir die Atomisten, Sophisten und viele andere nicht einmal erwähnten 117, Damit wäre die Anknüpfung der pythagoraisch-aristotelischen Zeit an die Zeit Petrarcas und Leonardos vollzogen. Die betontere Räumlichung des Weltbildes, wie sie sich bei Leonardo durch die Ausgestaltung der Perspektive zu erkennen gibt, leitet die Defizienzphase der mentalen Struktur ein. Wir benannten sie bereits: es ist die durch die Ratio charakterisierte Phase. Hat das Wortpaar Menis:Menos, das ja am Anfang der mentalen Bewufstseinsstruktur steht, einen durchaus qualitativen Akzent, so hat das Wort »ratio« einen durchaus quantitativen. Die griechische Welt ıst zur Zeit der antiken Klassık die Welt des Maßes par excellence, die spät-europäische, vor allem auch die von ihr ausgehende amerikanische und russische Welt, sind Welten der Maßlosigkeit. Eine ähnliche Defizienzform, wie sie die rationale Phase ftir die mentale Struktur darstellt, konnten wir ja bereits

innerhalb der magischen feststellen; das Bannen hat durchaus

Maficharakter, erst das Zaubern ist maßlos. So wie das Bannen

die Natur richtet — und die eigene organische Natur des Menschen besteht ja aus gerichteten organischen Funktionen und vermochte somit gerechterweise den Bannenden aus seiner eigenen Substanz heraus zu stützen —, in dem gleichen Maße richtet die Menis den Menos, das Denken.

Und so, wie das Zaubern

maßlos die gesetzten Grenzen des bloßen Bannens überschreitet und sıch fremder Mittel und fremder Substanzen zur Erreichung

seiner Zwecke bedient, so überschreitet auch die Ratio maßlos

Die mentale Struktur

159

die durch die Menis und den Menos gesetzten Grenzen der ermessenen Richtung und des Maßes, indem sie alles rationiert, also teilt, zerstückelt und zur Erreichung ıhrer Zwecke über fremde, ihr unangemessene Substanzen verfügt. Allein schon die Zwecksetzung hebt bei den beiden Defizienzformen der magischen und der mentalen Struktur ihre negative Wirkung hervor. Denn jede Zwecksetzung ist immer machtgeladen, und vor allem auch betont eigennützig, und steht somit im Gegensatz zum Weltganzen. Hierin ıst der Grund zu suchen, warum man diese beiden Defizienzformen,

das Zaubern und das Rationieren, be-

ziehungsweise das Rationalisieren, die an Stelle des Organischen jeweils das Ritual oder das Organisierte setzen, als dämonische Mächte bezeichnen kann. Denn die Wurzel des griechischen

Wortes δαίμων (daimon) verrät es; sie lautet »da-« und hat im

Sanskrit als »dayate« den Sinn von »er teilt, schneidet ab«, während das stammverwandte griechische Verbum Saona: (daiomai) nicht nur einfach »teilen«, sondern »zerteilen, zerlegen, zerreißen, zerfleischen« bedeutet 1%. Bleiben wir jedoch bei der Perspektive. Ziehen wir jetzt die bereits im zweiten Kapitel festgestellten wesentlichen Folgerungen heran, so überblicken wir, wie seit der Renaissance der ne-

gative Aspekt der mentalen Struktur in Erscheinung zu treten beginnt. Dieser Negativitat leihen wir durchaus keine Affekt-

betonung; wir stellen nur ganz sachlich fest, was aus dem Wesen

des Mentalen heraus gegeben ist, vergessen dabei aber nicht, daß das Mentale, trotz einer teilweise erreichten Emanzipation vom Psychischen, auch eine psychische Funktion ist. (Übrigens ist jede Emanzipation ein Prozeß, der die Gefahr der Perspektivierung und Sektorierung enthält, die stets dort akut wird, wo die Emanzipation defizient wird, wo sıe also nicht eine bloße Umlagerung oder Ausgleichung des Schwergewichtes anstrebt, sondern eine Vor- oder Allein-Herrschaft.) Wie eng oder wie locker die Bande sein mögen, die das Mentale mit der Psyche verbinden, hängt von der Stärke des Mentalen ab: solange es maßhaltend und richtend ıst, besteht eine gewisse Abhängigkeit der Psyche vom Mentalen; sowie aber das Mentale, in Form des Rationalen,

maßlos wird und richtungslos sich ausstreut, verkehrt sich das Verháltnis des Mentalen zur Psyche, und der negative Aspekt der Psyche erlangt, durchaus unbemerkt und ungesehen, die Herrschaft über das Rationale. Weil die mentale Weltmöglich-

keit aus der seelisch betonten, mythischen Welt erwuchs, trägt

sie notgedrungen den Doppelaspekt alles Psychischen latent in

160

Die vier Bewußtseinsmutationen

sich, und sei es auch nur in der reduzierten und mentalisierten

Form des Dualen. Mit diesem Stichwort, dem Dualen, haben wir eine der Folgen der Perspektive wieder in unser Blickfeld gezogen, und zwar handelt es sich nun, im Gegensatz zu dem Dualismus der friiheren Jahrhunderte, um einen wesentlich verstärkten Dualismus.

Denn war er dort noch fließend, so ist er jetzt kompromiflos fixiert. Die Perspektive fixiert sowohl den Betrachter als das

Betrachtete; sıe fixiert einerseits den Menschen, andererseits die Welt. Auf der einen Seite der Mensch, der durch diese ısolie-

rende Fixierung sein Ich immer stärker betonen muß; und ıhm

gegenüber, und zwar feindlich gegenüber, die Welt, die sich in ihrer Art bestärkt, indem sie immer stärkeres ráumliches Volu-

men annımmt (wie beispielsweise ın der Entdeckung Amerikas), das vom erstarkenden Ich zu bewältigen versucht wird. Die Erstarkung des Ich, die später zur Ego-Hypertrophie führt,

wird im Condottiere, 1m Renaissance-Menschen, in seinem Sich-

selber-wichtig-Nehmen sichtbar und spiegelt sich auch in den zahllosen Tagebüchern, die damals Mode wurden. Dieser duale Gegensatz, dessen Positivum in der Konkretisierung sowohl des Menschen als des Raumes besteht, enthält aber gleichzeitig die negative Komponente, welche sich in der Fixierung und in der Sektorierung zu erkennen gibt. Die Fixierung führte zur Isolation, die Sektorierung zur Vermassung. Damit schließt in unseren Tagen ein Prozeß ab, der als negative Möglichkeit bereits ın den Anfängen der mentalen Struktur vorgegeben war und der seine Wurzel ın der Unzulänglichkeit der Synthese des Dualen hatte, eine Unzulänglichkeit, die sich in der Abstraktion und in der Quantifizierung zu erkennen gab. Solange das Maßvolle des mentalen Bewußtseins noch wirksam war, bargen Abstraktion und Quantifizierung nur latent die negativen Auswirkungsmöglichkeiten. In dem Moment, da das Maßvolle vom Maßlosen der Ratio abgelöst wurde, was am deutlichsten durch Descartes geschah, begann sich die Abstraktion in ihre äußerste negative Manifestationsform zu wandeln, die durchaus mit dem Begriff der Isolation umschrieben werden darf, während der gleiche Prozeß von der Quantifizierung zur Vermassung führte. Diese Folgen der Perspektivierung der Welt, wie sie sich in der heute herrschenden Isolation und Vermassung zeigen, sind durchaus kennzeichnend für unsere Zeit. Die Isolation kommt

überall zum Ausdruck: Isolation des einzelnen, der Volker, der

Die mentale Struktur

161

Kontinente; Isolation im Physischen als Tuberkulose; im Politi-

schen als ideologische oder monopolistische Diktatur; im Alltag als maßlose, geschäftige, nicht mehr sinngerichtete, noch sinnoder weltbezogene Handlung; im Denken als geblendetes, kurzschlußartiges Folgern oder als vom Weltbezug abgeschnittenes hypertrophiertes

Abstrahieren.

Nicht

anders steht es mit der

Vermassung: Uberproduktion, Inflation, Parteiwesen, Technisierung, Atomisierung.

Alle diese Folgen sind so offensichtlich, daß sie uns der Mühe entheben, Beispiele anzuführen. Dagegen lohnt es sıch, danach zu fragen, was in den letzten vierhundert Jahren Träger und Bestärker der »Entwicklung« war, dıe zu diesen Folgen führte. Auch darauf haben wir indirekt schon eine Antwort gegeben: es ist der » Technisierungsgedanke«, der mit Hilfe der perspektivischen technischen Zeichnung das »Zeitalter der Maschine« bewirkte; es ist der »Fortschrittsgedanke«, der das »Zeitalter des Fortschritts« bewirkte; und es ıst der radikale Rationalismus, der, wie man es wohl nennen darf, das »Zeitalter der Welt-

kriege« hervorrief. Es mag Verlegenheit bereiten, daß wir der Ratio das Maßlose zuordnen. Aber dieses Wort Ratio darf nicht nur perspektivisch im Sinn von Verstand gedeutet werden, es bedeutet auch »berechnen« und vor allem auch »teilen«, ein Aspekt, der in dem Begriff der »rationalen Zahlen« zum Ausdruck kommt, mit dem Brüche, Dezimalen, also geteilte ganze Zahlen oder Teile eines Ganzen bezeichnet werden. Dieser teilende Aspekt der Ratio und

des Rationalismus, der inzwischen alleingültig geworden ist, wird immer noch übersehen, obwohl er von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung unserer Epoche geworden ist. Damit wird nıcht eın Urteil ausgesprochen, sondern nur eine Feststellung getroffen, die um so mehr Gewicht haben dürfte, als wir die nicht defiziente Form des Rationalen, die wir als das

Mentale bezeichnen, durchaus nicht negativ sehen, denn nicht nur thre außerordentlichen Qualitäten, sondern auch ihre erhellenden Fähigkeiten sind nachdrücklich hervorgehoben worden. Diese positiven, welterhellende Einsicht vermittelnden Eigenschaften des Mentalen sind ja auch heute noch hier und da wirksam. Sie sind aber doch, wie uns scheinen will, im Verhaltnis

zur Wirksamkeit des Rationalen durchaus reduziert. Die wenig-

sten bringen den Mut auf, gegen philosophische Autoritaten oder gegen die herrschende Meinung ihre eigene mentale und somit nicht rational eingeengte oder vermasste Ansicht auszu-

162

Die vier Bewußsttseinsmutationen

sprechen. Das ıst immer erst dann einfach, wenn diese Meinung allgemein geworden ist, vorher ist es ein höchst undankbares Unterfangen. Es sei denn, die Dinge, die zu sagen sind, lägen dem unvoreingenommenen Blick offen zutage, so daß ein Hinweis genügte; dieser unvoreingenommene Blick scheint allerdings in unserer Zeit der perspektivischen Scheuklappensicht selten geworden zu sein. Die ratıonale Phase der mentalen Struktur ıst noch nicht zu Ende gegangen. Wann sıe tatsächlich zu Ende gehen wird, ıst nıcht abzusehen. Keine der geschilderten Strukturen »endete« gänzlich. Und hinsichtlich der rationalen Phase der mentalen Struktur stehen noch ungeahnte, aber wahrscheinlich nur einsei-

tig technische und entmenschlichende »Fortschritte« ım Bereiche des Möglıchen. Werden diese Fortschritte nıcht ın ıhrer destruktiven Mächtigkeit geschwächt, dann werden sie, so autonom

wie sie bereits wurden, automatisch das Gesetz der Erde erfüllen. Das kann je nachdem Jahrzehnte oder Jahrhunderte ın

Anspruch nehmen. Ist das Gesetz der Erde jedoch noch nicht

erfüllbar, so wırd das Herauswachsen, das Herausmutieren einer

neuen

Struktur der alten, defizient mentalen

so viel Energie,

Kraft, Sublimierung, Substanz oder wie immer man es nennen will,

entziehen,

daß

die dann

überwundene

nicht

schädlicher

wirken kann, als heute beispielsweise die defizient mythischen oder die defizient magischen Reste in uns und in der Welt wir-

ken. Diese Reste sind freilich heute wırksamer, weıl dıe Zeit-

phase, in der sie wirken, selber defizient ist. Und über die Auswirkungen dieses Tatbestandes sollte sich heute nıemand auch nur den geringsten Illusionen hıngeben. Sollte keine neue Mutation wirksam werden — denn nur eine ganzliche Neueinstellung und nicht irgendwelche sektorhafte Teilreformen (Reformen sind ja stets nur Wiederbelebungsversuche) würde einen Weiterbestand der Erde und der Menschheit verbürgen —, dann werden die Auswirkungen der defizienten Reste einer selber defizienten Epoche wie der unseren bald Formen annehmen, ja dann müssen sie Formen annehmen, denen gegenüber die bisherigen Ereignisse wahrscheinlich ein Kinderspiel gewesen sind. Wenn man nüchtern darauf vorbereitet ist, liegt darin nichts Erschreckendes. Erschrecken werden nur die, die sich getroffen fühlen; und sie werden auch die Betroffenen sein.

Dem Thema dieses Abschnittes gemäß wollen wir ihn mit einer Gegenüberstellung der drei bekanntesten Definitionen oder Aussagen über das Denken abschliefen.

Die mentale Struktur

163

Die erste, die schon erwähnte des Parmenides, leitet, philoso-

phisch gesehen, die mentale Bewufstseinsstruktur ein. Es ist der Satz: »Denn dasselbe ist Denken und Sein.« Hier ist Gleichsetzung, und damit Maß und Gleichgewicht. Anders steht es mit den beiden anderen Sätzen, welche, philosophisch gesehen, die rationale Phase des mentalen Bewußtseins einleiten. Der erste stammt von Hobbes. Er lautet: »Denken ıst Rechnen ın Worten.«

Das

Messende

des Denkens,

seine Qualität, ıst durch die

Pluralisierung, die dieser Satz enthält, und durch das numerische

»Rechnen« zu einer Quantität geworden. Der andere Satz, der

des Descartes, lautet: »Cogito, ergo sum«, »Ich denke, folglich bin ıch.« Hier hat nur noch das individuelle, isolierte Denken Gültigkeit, und das ráumlich betonte Sein des Parmenides wird,

noch dazu als Folge des Denkens, mit dem persönlichen Sein identifiziert 149. Was sich hier abspielt, ist symptomatisch für alle in der extremen Abstraktion verlaufenden » Denkprozesse«: sie denaturalisieren und stülpen die echten Abhängigkeiten um. Das anfängliche »Bin« (das Sein) des Odysseus wird zur Folge einer Fähigkeit dieses Ich, das außer vitalen und psychischen Fähigkeiten auch jene des Denkens besitzt. Daß derartige Sätze wie der des Descartes verschieden interpretiert werden können, zeigt die unserer Interpretation teilweise entgegengesetzte von Betrand Russell!5?9, Er erblickt in dem Satz des Descartes eine Gewißmachung des Mentalen (mind) gegenüber der Materie (matter). Aber selbst die Heranziehung dessen, was das »cogito« für Descartes selbst bedeutete, nàmlich: »zweifeln, verstehen, begreifen, bejahen, verneinen, wollen, einbilden, fühlen, träumen«, selbst diese Definition führt aus dem

Dilemma der Mehrdeutigkeit nicht heraus. Vergleicht man jedoch mit diesem Axiom des Descartes die Frage des Augustin in seinen »Soliloquia«: »Du, der du zu wissen wünschest, weıßt du,

daß du bist? Ich weif es nicht«, so wird deutlich, daß bei ihm

die von uns aufgezeigte cartesische Abgespaltenheit noch nicht akut 1st. Man sollte auch nicht vergessen, daß der Satz des Descartes eine Antwort auf Gassendis »Ambulo, ergo sum« darstellt. Dieses »Ich gehe umher, folglich bin ich« bringt jene Ichform zum Ausdruck, die ihr Bewußtsein vornehmlich im Handelnden

hat, und von der wir sahen, daß sie sich auch strukturmafig in der pronominalosen Konjugation (s. S. 121f.) der antiken und heutigen lateinischen Sprachen wie dem Italienischen und Spanischen zu erkennen gibt. Descartes verlegt mit seiner Prämisse des »cogito« also vornehmlich die das Ich bestátigende Hand-

164

Die vier Bewufstseinsmutationen

lung oder Bewegung aus dem Physisch-Vitalen in das PhysischMentale: eine bloße Ubersteigerung, die aber das »ergo« nicht

eliminiert. Den oben erwähnten Kommentar Russells zogen wir

absichtlich aus der Unzahl derartiger individueller philosophischer Kommentare dieses cartesischen Axioms als Beispiel heran. Die Tatsache, daß derart vielfältige Interpretationen überhaupt moglich sind und es selbst dann noch bleiben, wenn man auch weitgehend die Definitionen jedes einzelnen Philosophen dabei in Rechnung stellt, ist daraus erklärbar, daß alle derartigen Axiome auch psychisch mitbedingt sind und in der verdünnten Luft der Abstrahierung eine Vieldeutigkeit, manchmal auch nur eine Doppeldeutigkeit zurückgewinnen, eine allerdings schemenhafte Viel- oder Doppeldeutigkeit, die dem Psychischen innewohnt. Wie sollte dies gerade bei Descartes nicht der Fall sein, der in seinen »Discours de la Méthode«

sich rational be-

grenzend nur die »vérités«, die Wahrheiten, ermessen kann. Die Tragik des defizient Mentalen wird schon hier offenbar — wir werden noch anderen Beispielen begegnen —: die Ratio wird, metabolistisch in eine überspitzte Rationalisierung umschlagend, ohne es selber zu bemerken oder auch nur zu ahnen, zum min-

deren Spielball der Psyche. Denn es gibt das, was ein überzeugter Rationalist nie einzuráumen gewillt sein wird: es gibt dieses rationale Zerrbild der speculatio animae, námlich eine speculatio rationis, die eitel Spiegelfechterei ist und die ihre Spiegelung auf der blinden Seite des Spiegels vollführt. Dieser negative Bezug zur Psyche, der die Stelle des echten, des mentalen Bezugs

usurpiert, er zerstort, was der echte vollzog: die Einsehbarkeit

der Psyche. Und in jeder extremen Rationalisierung liegt nicht nur eine Vergewaltigung der Psyche durch die Ratio, also auch ein negativ magisches Element, sondern die weitaus gefahrlichere, weil rächende und unmeßbare Vergewaltigung der Ratio durch die Psyche: beide werden defizient. Der echte, der mentale Bezug zur Psyche ist zum Nachteil des in der Isolation blind gewordenen Ich in seinen Gegensatz verkehrt. Der Mensch hat sich isoliert und damit von seinen Grundbezügen abgeschnitten. Das maßvoll messende Band von Menis und Menos ist zerrissen.

Abgeschnitten, zerrissen: was bedeutete doch die Wurzel »da-«?

» Abgeschnitten, zerrissen, geteilt«: das » Damonische«. Den »dämonischen Mächten« ist die Tür geöffnet worden. Nichts ist mehr aus sıch selber, alles ıst bloße Folge geworden. Folge: wohin?

6. Die integrale Struktur

Aber nicht alle folgten. Nicht postulierte Trennung, in diese urverwandt zusammengehört: das Entscheidende. Und zwar

alle willigten in die von Descartes rationale Teilung dessen ein, was Mentales und Materie. Dies ist ist es entscheidend für die Mani-

festationen einer neuen Bewußtseinsstruktur; sıe sınd das Anzeı-

chen dafür, daß sich 1m Menschen jene Bewußtseins-Mutation vollzieht, aus der heraus sich die aperspektivische Welt gestal-

ten mag. Diese jetzt zu schildern, ıst hier nicht der Ort. Vorerst haben wir ıhrer Fundamente ansıchtig zu werden. Ohne einen Überblick über sıe wäre die Schilderung unverbindlich. Zudem widerstrebt es uns, perspektivisch zu entwerfen oder zu postulieren. Wir können es hier lediglich wagen, kurz auf jene ersten Ansätze hinzuweisen, die unserer Meinung nach zu einer neuen Mutation, zu jener in die integrale Struktur, führen könnten, obwohl sich diese Ansätze nur vom »Standpunkt« der integralen Struktur

aus

erkennen

lassen,

nämlich

zurückschauend.

Aber

schon ihre Erwähnung kann Mißverständnisse auslösen, weil der Bezug jedes einzelnen Ansatzes zu der sıch bildenden ıntegralen Bewuftseinsstruktur auf Grund unserer bisherigen Ausführungen noch nicht ersichtlich werden kann. Wır werden jedoch trachten, die Fundamente der ıntegralen Struktur so deutlich zu umreißen, daß sıch aus ıhnen selber das ergibt, was das Wesen eines Fundaments ausmacht: die genauen Ansatzpunkte des erstehenden

Gebäudes,

das

diesmal

Jedoch

nıcht

mehr

bloßen

Raumcharakter trägt, sondern auch konkreten Zeitcharakter, das. also bereits rein strukturmäßig wesensverschieden von dem bisherigen Begriff eines Gebäudes ıst; und dies ın besonders starkem

Maße

auch aus dem

Grunde,

weil der mentale Prozeß

der Zeitkonkretisierung über eine bloße Synthese von Zeit und Raum »hinausführen« dürfte. Denn von Synthese, welcher Art

sie auch sei, und nenne man sie, unbewußt dem einheitlich Ma-

gischen huldigend, eine Raum-Zeit-Union oder Raum-Zeit-Eınheit, kann nach dem bisher Gesagten nicht die Rede seın. Synthetisierend fallen wir trotz jedes Einigungsversuches in die Dualitat zurück. Die neue Struktur läßt sich zudem durchaus nicht vermittels

der Reaktivierung ıhr zugrunde

liegender Strukturen realısıe-

ren. Damit stehen wir wohl in Widerspruch zu den beiden heute geltenden Grundauffassungen, die im Bereiche der Wissenschaften das duale Spannungsfeld unserer heutigen perspektivischen

166

Die vier Bewußtseinsmutationen

Welt bilden: zu den Natur- und Geisteswissenschaften einer-

seits, zu den Geheimwissenschaften andererseits. Der intolerante

Ausschließlichkeits-Anspruch der beiden ıst bedauerlich, und

auch ihre fehlende Einsicht dafür, daß sıe, einander dual be-

dingend, feindlich voneinander abhängig sind. Denn dieser duale Gegensatz-Charakter dürfte offensichtlich sein: auf der einen Seite die Naturwissenschaften mit den ıhrem Niveau mehr und mehr angeglichenen Geisteswissenschaften, auf der anderen Seite die Geheimwissenschaften. Sind die einen lediglich vorwärts, so sind die anderen ausschließlich rückwärts gerichtet; die einen betonen heute durchaus den quantitativen Aspekt, die anderen angeblich den qualitativen; die einen sind vorwiegend materialistisch, die anderen vorwiegend psychistisch; hier der Versuch, alles zu teilen, dort der Versuch, alles zu einigen. Die einen sehen das Heil in der Synthese oder in irgendeinem »Dritten«, sei dies nun ein »Drittes Reich« oder ein »Dritter Weg« (Röpke) oder ein »Dritter Humanısmus«

(Thomas Mann), dıe anderen

»er-

schauen« das Heil in der ruckwartigend zu vollziehenden Einigung, wobei dann defiziente Formen des Mythischen und Magischen derart aktiviert werden, daß die meisten Anhänger der

Traditionalisten des Okzidents, infolge ihrer »Mentalitat«, nur

abwertig psychisiert und magisiert werden, um »bestenfalls« in einen Zustand (und das Wort ıst durchaus symptomatısch) kosmischen Verschlungenseins zu geraten. Auf der einen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen durch rationales Auflösen, das suprarationalisiert atomisierend auf die Materie wirkt; auf der anderen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen — eine Souveränität, die unserer Zivilisation gemäß ist und durch Jahrtausende hindurch erworben wurde —, durch Zurücksinken ins Irrationale, also durch irrationales Auflösen, das dementalisiert atomisierend auf die Psyche und das Mentale wirkt. Keiner dieser Wege ıst gangbar. Alle Wege führen nur dort-

hın, von wo aus sıe auch wıeder wegführen: entweder laufen wir im Kreise, unentrinnbar gefangen und befangen, oder wir laufen hın und her, von Gegensatz zu Gegensatz, und glauben, in diesem bindenden Hinundherlaufen läge eine Synthese. Es handelt sich also nicht um einen Weg. Es handelt sich um einen Sprung. Vielleicht spricht die allgemeine Unsicherheit dafür, daß wır heute wıe auf dem Sprunge sınd? Denn der Abgrundtiefen wird man nur gewahr — und genügend Abgründiges wurde ın all den letzten Jahrzehnten ja sichtbar — wenn man springt.

Die integrale Struktur

167

Doch mit der Erreichung oder Erspringung einer nur »anderen Seite« ıst es nicht getan.

Die Ansätze zu einer neuen Bewußtseins-Mutatıon stellen die aufs äußerste vorgetriebenen Positionen dessen dar, was ın einem » Beitrag zu einer Geschichte der Bewufitwerdung« gerade noch andeutend aufgezeigt werden kann. Wir haben bereits vor Jahren einige dieser Ansatzpunkte ge-

nannt!5!, Hier wollen wir uns, unter Bezug auf unsere Ausfüh-

rungen im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels, die am Beispiel Picassos einen Grundwesenszug der aperspektivischen Welt andeuten

sollten,

wieder

der Zeit beschränken.

auf das

Thema

der

Konkretisierung

Dieses Konkretisieren ıst eine der Voraussetzungen der ınte-

gralen Struktur. Denn es kann nur das Konkrete, nıemals das Abstrakte integriert werden. Und wir verstehen dabeı unter Integrierung den Vollzug einer Gänzlichung, die Herbeiführung eines Integrum, das heifit die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter bereicherndem Einbezug aller bisherigen Leistung. Die Konkretisierung dessen, was sıch ın der Zeit entfaltend

und

ım Räumlichen

erstarrend

auffächerte,

ıst

der integrale Versuch, die »Gróffe« Mensch so weit aus ihren

Teilen wiederherzustellen, daß sie sich selber bewußt dem Gan-

zen integrieren kann. Der Integrierende muf also nicht nur die Erscheinungen, seien diese nun dinglicher, seien sie mentaler Art, konkretisiert haben, sondern er muf es vor allem auch vermocht

haben, seine eigene Struktur zu konkretisieren. Das aber bedeutet

unter anderem auch, daß ihm nicht nur die verschiedenen Struk-

turen durchsichtig und bewußt werden, die ihn konstituieren, sondern daß er auch ıhrer Auswirkungen auf sein eigenes Leben und Schicksal gewahr wırd und die defizient wirkenden Komponenten durch eigene Einsicht derart meistert, daß sie jenen Grad an Reife und Gleichgewicht erhalten, der Vorbedingung jeder Konkretisierung 1st. Nur die Komponenten, die auf diese Weise in sich selber gleichgewichtige, gereifte und gemeisterte Konkretionen sınd, vermögen Bausteine der Integration zu seın. Das Schwierige daran ist — wir werden noch im nächsten Kapitel davon zu sprechen haben —, daß es sich jeweils um ein Sich-adaptieren-Kónnen unseres Bewufstseinsvermógens

an die verschie-

denen Bewufstseinsgrade der einzelnen Strukturen handeln muß. Denn eignet der archaischen Struktur der Tiefschlaf, der magi-

schen Schlafcharakter, der mythischen Traumcharakter, der mentalen Wachheits-Charakter, so ist mit einer bloßen bewufst-

168

Die vier Bewußtseinsmutationen

seinsmäßigen Erhellung dieser zum größten Teil bewuftseinsschwachen Zustände nicht nur nichts getan, sondern ım Gegen-

teil: diese Zustände vom Bewußtsein her bloß aufzuhellen, hieße

sie zerstören. Erst wenn sie infolge einer Konkretion integriert sind, kónnen sie, zwar nicht mental erhellt, wohl aber integral durchsichtig und gegenwártig werden: das heißt transparent oder diaphan. Indirekt resultieren aus dem soeben Gesagten zwei nicht unwichtige Folgerungen: erstens, daß die Intelligenz oder die rationale Schärfe nicht mit dem Bewußtsein identisch sind; zweitens, daß es sich beim Vollzug der Integration niemals um eine Bewußtseins-Erweiterung handeln kann, von der vor allem die heutige Tiefenpsychologie und auch gewisse »geistige« Gesellschaften halb-okkulten Charakters sprechen; Bewußtseins-Erweiterung ist lediglich räumlich gedachte Quantifizierung des Bewußtseins, wodurch sie illusorisch wird. Es kann sich nur um eine Bewußtseins-Intensivierung handeln, und dies nicht deshalb, weil ihr etwa qualitativer Charakter zugesprochen werden könnte, sondern weil sie ihrem Wesen nach »außer-

halb« einer nur qualitativen Wertung oder einer quantitativen Entwertung steht.

Kommen wir jedoch abschließend zu den erwähnten Ansätzen

der integralen Struktur. Kein Geringerer als ein Schüler des Leonardo da Vinci war es, der über die bloße perspektivische Spatialisierung hinausging. Es handelt sich um Jacopo da Pon-

tormo und betrifft vor allem einige seiner Portráts. Wir kónnen

jetzt noch intensiver als früher formulieren, was sie auszeich-

net!52: der Blick der Menschen auf diesen Porträts entspricht, obwohl der Maler die perspektivischen Mittel verwendet, nicht der perspektivischen Epoche: dieser Blick ist nicht raumfixiert, sondern zeitbezogen; er geht aus dem Bildraum hinaus und trifft nicht einen gegebenen oder einen ıdeellen Punkt innerhalb dieses Raumes. In dieser Zeitbezogenheit, die hier gleichzeitig mit

der Raumbezogenheit auftritt, liegt ein Ansatzpunkt zu der temporischen Moglichkeit einer Zeitkonkretisierung. In der auf Pontormo folgenden Generation, der auch Des-

cartes angehórt, werden bei Desargues, der mit Descartes be-

freundet war, weitere temporische Ansátze deutlich. Im Jahre 1636 veróffentlicht Desargues seine Arbeit über die »Zentralperspektive«, der er bezeichnenderweise bereits 1639 eine »Lehre von den Kegelschnitten« folgen läßt. Das aber bedeutet nichts anderes als ein Hinübergehen vom blof$ dreidimensionalen Raum in den erfüllten Kugelraum. Er verläßt damit die »Leere« des

Die integrale Struktur

169

nur linearen Raumes und rührt an jene Dimension, die als Er-

fulltsein die zumindest latente Präsenz des Zeitlichen voraussetzt. Hier begegnen wir zudem erstmals sinnfállig dem Symbol der integralen Struktur: der Kugel. Sie hat insofern für die Vierdimensionalitat dieser Struktur Signaturwert, als man sie als eine sich bewegende Kugel aufzufassen hat. Übrigens führt diese Kegelschnittlehre kein Geringerer als der sechzehnjährige Blaise Pascal in seinem 1640 geschriebenen »Essai pour les coniques« weiter. Die beiden Arbeiten von Desargues, der damit die projektive Geometrie in dem Moment begründet, da Descartes die analytische Geometrie entwirft, waren außerordentlich folgenreich. Diese projektive Geometrie löst dank Christian von Staudts (1798-1867), er nennt sie »Geometrie der Lage«, die letzten Bindungen metrischen Charakters, die sie noch beı Desargues und Pascal zur alten messenden Geometrie hatte, die teils auf der Leonardesken Perspektive, teils auf der Euklidischen Geometrie beruhte. Diese Geometrie wird Jetzt, einst alleinherrschend, zu einem bloßen Anhängsel der projektiven Geometrie,

welche dıe »Elemente ın Bewegung setzt: Punkte durchlaufen Linien, drehen sich um feste Punkte oder wälzen sich als beweg-

liche Tangenten um krumme Linien herum, Ebenen drehen sich

um feste Achsen und so weiter«. So charakterisiert sie M. Zacharias!5?, Nicht das rechnende Verfahren der analytischen Geometrie, sondern das Verfahren der projektiven Geometrie erhált Gültigkeit, das die Lage der Elemente und ihre Bewegung zueinander ohne Messen berücksichtigt. Damit ist ein weiterer Ansatzpunkt für eine spätere Zeitkonkretisierung gegeben /?*. Und wieder eine Generation später, also auf Descartes und Desargues folgend, schreibt Leibniz jene Sätze, die dem Dualismus entgegentreten, den Descartes in seinem Traktat »Les passıons des ämes«, wenn auch widersprüchlich, postuliert hatte, demzufolge Seele und Körper beziehungsweise Mentales und Materie unabhängig voneinander ihre eigene Welt bilden 5. Leibniz schreibt: »Es besteht eine genaue Entsprechung zwischen dem Körper und allen Gedanken der Seele, mögen sie vernünftig sein oder nicht; und die Träume haben ebensogut ıhre Spuren im Gehirn wie die Gedanken der Wachenden.« 156 Wenn wir uns an das erinnern, was wır ın dem Abschnitt »Die mythische Struktur« über die Interdependenz von Seele und Zeit gesagt haben, so dürfte aus der mental durch Leibniz eingeraumten und durch ıhn gezeitigten Interdependenz von Seele und Körper zur Genüge

hervorgehen,

daß

hier, allein durch

die Anerken-

17o

Die vier Bewußstseinsmutationen

nung der zeitseelischen Komponente, ein temporischer Ansatzpunkt für die spätere Zeitkonkretisierung in Erscheinung tritt (und dies obwohl Leibniz das Seelische, dem Zeitgeist entsprechend

noch

auffaßt).

materiegebunden,

nämlich

dem

Gehirn

verhaftet,

Und nochmals eine Generation später bricht bei Mozart ein

neues Zeitempfinden durch. Inwiefern es im »Don Juan« und im zweiten Satz der »Jupiter-Symphonie« zum Ausdruck kommt, haben wir bereits an anderer Stelle geschildert 15”. Hier sei auf eines seiner unvollendet gebliebenen Spätwerke

verwiesen, auf die »Phantasie in c-moll«

für Klavier, sowie auf

seine »Varıationen über eın Thema von Gluck« aus dessen Oper »Der Pilger von Mekka«. Besonders ın der »c-moll-Phantasıe« herrscht eine sowohl harmonikale als auch rhythmische und melodiemafsige Auflockerung, die kaum mehr an die hierarchische Strenge und Gebundenheit der Klassık denken läßt. Um auch nur entfernt andeuten zu können, was wir meinen, müssen

wir uns zumindest über den Sinn einer der Grundregeln der klassischen Musik klarwerden: die Forderung, daß jeder musikalısche Satz in der gleichen Tonart zu enden habe, in der er begann, weist uns deutlich auf den Bezug hin, den diese Musik zum naturhaft-kosmischen Zeitablauf hat: der Kreis muß geschlossen werden, und das Hauptthema bindet ın der gleichen Tonart Anfang und Ende ineinander: so war jeder Sonatensatz ein Abbild eines von Gott geschaffenen Tages oder Jahres, oder das Bild eines auf seiner Bahn ın sıch zurückkehrenden Planeten, oder des Weges eines anderen gottgeschaffenen Gestirnes. Diese naturhafte Gesetzmäßigkeit, die dem gesetzgebenden Schöpfergotte, den die Töne zu loben und zu preisen haben,

gesetzvoll entspricht, dieser bloß naturhafte Zeitaspekt wird in dieser Musik Mozarts sowohl in der inneren Struktur als auch

durch

ihre Unvollendetheit

voller

Schmerzen

— sie ist

in Moll geschrieben — durchbrochen: tritt Mozart hier, sich anscheinend von Gott, dem perspektivisch fixierten, personi-

fizierten

Gott

anderer,

der

ein?

Liegt

entfernend,

hier die Wurzel Gleiches

in den

wagte,

Berich

seines frühen Holderlin,

des

Gottheitlichen

starb

sich ja selber

Todes?

Auch

ein

voraus. Wie dem auch sei: das Abstreifen des nur naturzeithaften Charakters

in der Musik, eine bis dahin wortwortlich

unerhorte Leistung, birgt die Moglichkeit eines temporischen Ansatzpunktes fiir eine spater zu vollziehende Zeitkonkretisierung.

Die integrale Struktur

171

Und wieder eine Generation später begegnen wir bei Leopard:

einem

Phänomen,

das

zwar

bisher

durchaus

mißverstanden

wurde, in diesem Zusammenhange aber sınnvoll erscheinen dürfte. Er ist, wie sein »Zibaldone«, seine Tagebücher zeigen, der Philosoph, der die »noia«, die Langeweile, über alles stellt und verherrlicht. Aber die Prásenz und Akzeptierung der Lange-

weile dürfte nichts anderes sein als die in zwar noch negativer Form — heute würde man sagen: in unbewußter Form — sich in den Vordergrund drängende, zeitträchtige Psyche. Es ist die gleiche individuelle Psyche, der Stendhal, sein Zeitgenosse, mit

seinem »psychologischen Realismus« als »Egotist« huldigt: Stendhal, einer der ersten, der aus der Isolation den positiven Schritt vollzog: der für sich, nachdem die Abschnürung von der

Welt, wie er sie in » Armance« schildert, effektiv geworden war,

in seiner Ich-Verbanntheit die eigene »innere Welt« entdeckte: also auch hier wieder, wenn auch in durchaus anderen Formen,

nunmehr die Herstellung einer neuartigen Beziehung nicht zu der allgemeinverbindlichen natur-zeithaften Seele, sondern zu der eigenen, zeitlos-zeithaften Seele. Und damit zeigt sich auch hier der Ansatzpunkt für eine mögliche, später vollziehbare Zeitkonkretisierung.

Und nochmals eine Generation spáter treffen wir auf Schliemann, den Zeitgenossen des schon erwähnten Christian von Staudt, der die projektive Geometrie vollendete. Die Ausgra-

bung Trojas durch Schliemann

in den Jahren

1870-1883, die

zivilisationsgeschichtlich als Parallele zu der seelengeschichtlich bedeutsamen Ausgrabung des Unbewuften durch Freud erscheint, enthält freilich noch, betrachten wir diese Leistung wie die vorangegangenen vom temporischen Ansatzgehalt aus, vornehmlich

ein raumverhaftetes

Zeit-Sehen.

Aber

die in Troja

aufgedeckten Schichten vermitteln weder ein bloß naturhaftes Zeitwahrnehmen, noch ermöglichen sie eine bloße Zeitabstrak-

tion; diese Schichten

erweitern

die Geschichtlichkeit

des euro-

päischen Menschen und bereichern damit jene Bewußtseinsfähig-

keit, die ihm die Möglichkeit anderer Zeitformen als der nur psychegebundenen oder der nur abstrakt gemessenen Naturzeit nahelegt. Also auch hier ein temporischer Ansatzpunkt: nochmals ein Ansatz zu einer möglichen, später vollziehbaren Zeitkonkretisierung. Und insofern diese Zeitkonkretisierung auch zu einer diaphanen Gegenwart und zu einem durchsichtigen Gegenwartigsein führt,

mögen

hier die Worte

Hölderlins

stehen,

der

auf dem

172

Die vier Bewußtseinsmutationen

Heimwege von Bordeaux die Sonne traf!°® — auch er traf sie, die große Messerin der Zeit, wie einst Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, und wie nach ıhm van Gogh —, jene Worte, die wir vielleicht auf die sich bildende Bewußtseinsstruktur beziehen dürfen, deren Wesen Hölderlin in vielem vorausnahm: »Denn siehe! es ist der Abend

der Zeit, die Stunde, wo die Wanderer

lenken zu der Ruhstatt. Es kehrt bald ein Gott um den anderen

heim... Darum seı gegenwärtig...«

Viertes Kapitel Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen Eıne zusammenfassende Zwischenbetrachtung 1. Querschnitte durch die Strukturen

Haben wir bisher die verschiedenen Bewufstseinsstrukturen in ihrem zeitlichen Nacheinander darzustellen versucht, so scheint

es jetzt geboten, ehe wir uns ihren wichtigsten Problemen zuwenden,

sie, die als Längsschnitte

betrachtet

werden

können,

zu-

sammenzufassen, um sie von einem anderen Durchblick her in Querschnitten darzustellen. Dies wird uns nicht nur einen ord-

nenden Überblick einbringen, sondern auch eine wichtige Tatsache anschaulich machen: daß es sich nàmlich bei den dargestellten und uns konstituierenden Strukturen um ein ganzheitliches Phänomen handelt. Jeder einzelne Mensch ist nicht etwa eine Summe, ein bloßes Resultat der dargestellten Mutationen, sondern deren ganzheitliche Verkórperung, die latent auch die mógliche noch folgende Mutation enthält (nämlich die in die Aperspektivität, die im zweiten Teile dieser Schrift dargestellt wird). Für diese zusammenfassende Betrachtung sind zwei Uberlegungen maßgebend. Die eine betrifft die Art ihrer Durchführung, die andere den ordnenden Hauptgesichtspunkt. Wir müssen uns darüber klar sein, daß sich der gesamte Querschnitt, der das bisher gebotene Material ordnen kónnte,

aus

verschiedenen thematisch umschriebenen Querschnitten zusammensetzen

muß.

Wir

werden

also die verschiedenen,

einander

bedingenden Charakteristika der einzelnen Strukturen in ihrer

jeweiligen Entfaltung durch die Mutationsreihe

hindurch

zu-

sammenzufassen haben. Damit ist auch bereits der ordnende Hauptgesichtspunkt, unter welchem diese Zusammenfassung erfolgt, genannt: wir werden der Entfaltung der einzelnen Charakteristika, Aufferungsformen und Bezüge nachzugehen haben. Grundlegend für diese Betrachtungsweise ist der Umstand, daß wir den einzelnen Strukturen in ihrer jeweiligen RaumZeit-Bezogenheit gewisse Zuschreibungen machen konnten, die diese Bezogenheiten charakterisieren. Wir brachten diese Bezogenheiten durch zwei Kategorien zum Ausdruck: durch die der Dimensionen und durch die der Perspektivität. Fassen wir jetzt im Querschnitt das zusammen, was wir über Jede einzelne Struktur ausgeführt haben, so ergibt sich für jede einzelne der ge-

174

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

nannten Kategorıen folgende Strukturierung, die querschnittmafsig gelesen eine sich entfaltende, längsschnittmäßig gelesen eine sich erganzende Strukturierung ist: Struktur

1. Raum- und Zeitbezogenheit a) Dimensionierung | b) Perspektivitat

c) Betontheiten

Archaisch:|

nulldimensional

keine

vorráumlich/ vorzeithaft

Magisch:

|eindimensional

vorperspektivisch

raumlos / zeitlos

Mythisch: | zweidimensional

unperspektivisch

| raumlos / naturzeithaft

Mental:

|dreidimensional

perspektivisch

raumhaft / abstrakt zeithaft

Integral:

|vierdimensional

aperspektivisch

raumfrei / zeitfrei

Wir können jetzt übersehen, wie eine jede Bewußtseins-Mutation, durch die sich jeweils eine neue Bewußtseinsstruktur

konstituierte, das In-Erscheinung-Treten und Wirksamwerden

einer neuen Dimension mit sich brachte. Diese Tatsache macht

eine Interdependenz zwischen Bewußtsein und Raum-Zeit-Welt deutlich. Der Entfaltung des Bewußtseins entspricht eine Entfaltung der Dimensionen. Der Zunahme des einen entspricht die Zunahme der anderen. Bewußtwerdung und Dimensionierung bedingen sich gegenseitig. Das, was wir als Perspektivität bezeichnen,

ıst somit

ein

bloßer,

aber

nicht

unwesentlicher

Aspekt der jeweiligen Raum-Zeit-Bezogenheit; ein Aspekt, der sich erst von der heutigen, perspektivisch fixierten Welt aus gesehen ergibt und durch den des weiteren anschaulich wird, daß Bewufstseins-Entfaltung und Dimensionierung eine Zunahme der Dinglichung (oder Materialisation) der Welt mit sich bringen. Aus beiden Tatsachen ergeben sich gesetzmafig anmutende neue Tatsachen, die auf eine überraschende Weise Licht

auf das mehrschichtig sich darstellende Problem werfen, das wır als das Maß-Masse-Problem bezeichnen können. Es wird uns weiter eine vierte Tatsache erhellen, namlich die der Gesetz-

mäßıgkeit, mit der sich die Mutationen ablösen, eine Gesetzmä-

Bigkeit, die nicht nur für die Mutationen als Ganzheit aufschließenden Charakter hat, sondern auch für die Bezüge der einzelnen Strukturen unter sich und die damit für unsere heutige Situation erhellend wirken kann.

Querschnitte durch die Strukturen

175

Diese kurze Andeutung mag einen Hinweis darauf darstellen, dafs wir mit dieser Zusammenfassung keine Systematisierung anstreben, sondern die lebendigen und wirkenden Bezüge ersichtlich zu machen wünschen, und daß wir die aus diesen Be-

zügen resultierenden lebendigen und wirkenden Tatsachen anschaulich gestalten wollen. Bevor wir uns den Querschnitten weiterer sıch entfaltender Charakteristika der einzelnen Strukturen zuwenden, die als nächste Gruppe deren Signatur, Wesen und Charakter umfassen, müssen wir noch einen Blick auf jene

der soeben erfolgten Zuschreibungen werfen, die sich für die ıntegrale Struktur hinsichtlich ihrer Raum-Zeit-Bezogenheit ergeben. Ihre Vierdimensionalitat stellt in letzter Konsequenz eine Integration der Dimensionen dar; damit wird sie zu einer aperspektivischen Welt, die sowohl raumfre: als zeitfrez ist, d. ἢ. in

der unser Bewußtsein frei (bzw. befreit) über alle latenten und

akuten Formen des Raumes und der Zeit verfügen kann, ohne sie abzuleugnen, aber auch ohne ihnen gänzlich unterworfen zu sein.

Inwiefern diese Raum-Zeit-Freiheit im Leben realisierbar ist,

inwieweit sie sich mit dem Vorgang der Gegenwärtigung verträgt, inwiefern sie mit dem, was wir als das Diaphainon (das Durchscheinende)! umschreiben, in Beziehung zu setzen ist — diese Fragen lösen sich in dem Maße, als wir noch weiterer

Elemente,

welche

die einzelnen

Strukturen

konstituieren,

an-

sichtig werden. Wenden wir uns deshalb den weiteren Querschnitten zu.

Erinnern wır uns an die bisher geschilderte Sıgnatur, an das Wesen und an den Charakter jeder einzelnen Struktur, so ergibt sich folgender neue Querschnitt: Struktur

2. Signatur

Archaisch:

keine

Magisch: | Der Punkt Mythisch: | Der Kreis O) |

Mental:

[Das Dreieck A

Integral:? | Die Kugel O

3. Wesen

4. Charakter

Identität

Ganzheitlich

Unität

Richtungslose, einheit-

(Ganzheit)

(Einheit)

Polaritát

liche Verflochtenheit

Kreishafte,

(Ambivalenz)

polare Ergánzung

Dualitat (Gegensatz)

Gerichtete, duale Gegensatzlichkeit

Diaphanitat (Transparenz)

Gegenwartigende, diaphanierende Gänzlichung

176

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

An der Aufeinanderfolge der Signaturen wird nochmals deutlich, was bereits die Dimensionierung ersichtlich machte: daß wir durch die Mutationsreihe hindurch eine Zunahme, eine Auswei-

tung beobachten können. Die Wahl der Sıgnaturen stellt keinen Willkürakt dar, sondern ergibt sich organisch aus der Schilderung der einzelnen Strukturen. Durch sie werden die objektiv gegebenen Sachverhalte nicht mehr und nicht weniger über-

schritten oder denaturiert, als es der Fall sein muß, wenn wir etwas schildern oder darstellen, da jedes Schildern oder Darstellen ein dem Geschilderten wesensfremdes Moment

enthält, weil

wir ordnen müssen, wo sich widerspruchslos ein organischer Sachverhalt unseren sprachlichen und nachdenkenden Mitteln gegenüber befindet, und weil wir ablaufmafsig aneinanderreihen müssen, was an sich ein komplexes Geschehen ist. Die Signaturen bringen uns die Ausweitung des Punktes zum Kreise, die Zerbrechung

des Kreises durch

das Dreieck,

bezie-

hungsweise die Aufteilung des Kreises ın Sektoren und damit die quantitätsmäßige Zunahme und Reichweite der Mutationen zur Anschauung. Dagegen zeigt sich in den Umlagerungen, die das jeweilige Wesen der Strukturen bestimmen, eine gegenläufige Bewegung: denn in dem Maße, in dem das Bewußtsein durch die Dimensionenzunahme an Reichweite und Umfang gewinnt, erfährt qualitativ der Grundcharakter der einzelnen Strukturen

jeweils eine Wert- oder Intensitatsminderung. Der BewufStseins-

zunahme entspricht nicht eine Zunahme innerhalb des Ganzheitsbezuges (insoweit eine solche überhaupt móglich wäre), sondern eine Minderung oder Schwachung des Ganzheitsbezuges. Das sich ausweitende Bewußtsein reduziert, qualitativ gesehen,

sein eigenes Bezugssystem. Die Einheit ist nur eine reduzierte Ganzheit, aber erst die Einheit ermöglicht einen BewuftseinsAnsatz im Menschen. Die Polarıtät erweitert dann zwar das Spielfeld des Bewußtseins und gibt ihm die Spannung, deren alles lebendig

Sichentfaltende

bedarf;

aber die Ursprungsge-

genwärtigkeit des Ganzheitlichen wird dabei getrübt: sie ist nicht mehr in dem ursprünglichen Maße als Ganzheit, sondern nur noch durch einen Akt der Ergánzung erfahrbar. Und die weitere Dimensionierung, die das polar Sich-Erganzende in die dualistische Geteiltheit und Meßbarkeit des Gegensätzlichen zwingt, läßt in der mentalen Struktur, wie bereits ausgeführt wurde, nicht einmal mehr den Akt der Ergänzung zu, sondern höchstens den stets nur fragmentarischen der Einigung. (Wir werden diese sich reduzierenden »Moglichkeiten der Strukturen«

Querschnitte durch die Strukturen

177

sogleich noch querschnittsmäßig aufführen.) Der quantitativen Anreicherung des Bewufstseins, das sich dimensionierend sein eigenes Bezugssystem schafft, scheint qualitativ eine Minderung der Ganzheit zu entsprechen. Die mutationsmäßig sichtbar werdende Ausweitung, Erweiterung oder Zunahme des Bewufstseins steht in einem

reziproken (umgekehrten) Verhàltnis zur Ver-

minderung des ihm anscheinend verlorengehenden ganzheitlichen Bezugssystems. So betrachtet, scheint die dimensionierte Welt als eine vom Ganzen abgespaltene. In dem Maße, in dem das Bewußtsein wächst, mehrt sich das quantitative raum-zeitliche Bezugssystem, was sich in der Zunahme der Dimensionen und der Dinglichung zu erkennen gibt; aber in dem gleichen Maße mindert sich die vorräumliche und vorzeithafte Ursprungsgegenwärtigkeit: der Mensch ist nicht mehr im Ganzen;

er nimmt nur noch, in scheinbar immer schwächerem Maße, teil am Ganzen, das letztlich unverlierbar ist, da die archaische

Struktur, da der Ursprung unverlierbar gegenwärtig ist. Was

sich abspielt, ist aber vielleicht nicht so sehr eine Schwächung,

ein Entferntwerden von ihm, sondern eine Umlagerung merkwürdiger Art. Für uns, die wir nicht anders als im Subjekt-Ob-

jekt-Bezug zu denken gewohnt sind, wenn wir, mental gewertet,

denkfähig sein wollen, stellt sie sich als eine Umlagerung bewußtseinsähnlicher Intensitáten dar, wobei das Sich-U mlagernde

sich aus der Objektwelt, dem Ganzheitlichen oder dem All, in die Subjektwelt, den Menschen, überträgt. Der Mensch wird

Träger des ursprünglichen »Bewußtseins« (oder wie immer man dies benennen mag), und seine irdische Bedingtheit macht durch Raumzeitlichung das irdisch, was allbezogen und ganzheitlich ist. Aber der Mensch ist nicht nur ein Geschöpf der Erde, sondern auch ein Geschopf des Himmels. Er ist es allein schon deshalb, weil er, grob-physikalisch gesprochen, mit jedem Atem-

zuge diesen Himmel mitatmet, da in jedem Atemzuge noch die

»Substanz« selbst der fernsten Himmel, wenn auch in unvorstellbar minimem Maße, enthalten ist. Insofern er auch ein Ge-

schópf des Himmels ist, erscheint das, was sich uns soeben als Minderung und Mehrung oder als Verlust und Gewinn dargestellt haben mag, vorerst vielleicht rätselhaft. Noch rätselhafter wurde es erscheinen, wäre der Mensch nur ein Geschopf der Erde und des Himmels. Da er noch mehr — und weil hier messende Bezeichnungen irrelevant sind, kónnte man auch sagen: da er noch weniger — als nur dies ist, können wir im weiteren Verlaufe unserer Zusammenfassung diesen Sachverhalt, der sich,

178

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

mental betrachtet, als eine Gewinn- und Verlustrechnung darstellt, vielleicht aus seiner dualistischen Ausweglosigkeit befreien — dies

um

so mehr,

als wır

zahlreiche

Ansätze,

selbst

solche, die uns aus dem dualistischen Denkzwang herauslösen, werden nachweisen können. Fassen wir jetzt in einer dritten Gruppe das zusammen, was uns der moglichen Lösung aller bisher aufgeworfenen Fragen um einen Schritt näher bringen kann, so muß der Querschnitt durch das gegeben werden, was wir als die »Möglichkeiten der Strukturen« bezeichnet haben. Insofern es sich um jene Möglichkeiten handelt, die sich das Bewußtsein durch seine Mutationen

erschließt, müssen wır uns darüber klarwerden, auf welche Welt-

aspekte sich die jeweiligen Bewufitseinsmoglichkeiten vornehmlich konzentrieren; das heißt, welcher Weltaspekt fiir die jeweilige Struktur Bewußstseins-Charakter erhält. Ferner müssen wir uns über die Energetik klarwerden, die im Menschen Träger oder Auslöser der jeweiligen Bewußtwerdung ist. So gesehen, können wir die Akzentsetzungen des Bewußtseins mental in die beliebten Kategorien des Objektiven und des Subjektiven ein-

ordnen und erhalten dann folgenden zusammenfassenden Querschnitt (auf die in Klammern gesetzten Zuschreibungen werden wir erst später eingehen können): 6. Akzentuierung Struktur

5. Möglichkeit

a) objektiv (außen) (Weltaspekt)

Archaisch:

Ganzheit

Unbewußter Geist

Magisch: Mythisch: Mental: Integral:

Hier

nun

Einheit durch Einigung und Erhörung

wird

keine bzw. Latenz

Natur

Emotion

Seele

Imagination

Raum-Welt

| Abstraktion

(Bewußter Geist)

(Konkretion)

o

Einigung durch | Ergánzung und Entsprechung Einigung durch Synthese und Versöhnung Ganzheit durch Gänzlichung undj Gegenwärtigung

| b) subjektiv (innen) (Energetik)

anschaulich,

daß

die

Bewußtseinszunahme

eine »Minderung« des realisierbaren Ganzheitsbezuges mit sıch bringt, dessen wir nur deshalb nicht gänzlich verlustig gehen, weil die Ursprungsgegenwartigkeit unverlierbar ist, und weil

Querschnitte durch die Strukturen

179

aus ıhrer Unverlierbarkeit heraus, aus der alle uns konstituieren-

den Strukturen herausmutierten, auch diese selber unverlierbar

werden. Dagegen zeigt der nächste Querschnitt, wie in der Aufeinanderfolge der durch das Bewußtsein erschlossenen Weltaspekte eine Mehrung eintritt, die zugleich auch eine Mehrung der bewußtwerdenden Kräfte mit sıch bringt, wodurch das Bewufstsein zunehmende Wirklichkeit zu werden vermag. Liegt der Ton beı der magischen Struktur noch durchaus auf der emotional realisierten Natur, bei der mythischen auf der bildmafig realisierten Seele, so liegt er bei der mentalen Struktur auf der

denkend

realisierten

Raumwelt.

Gewiß:

die

Kräfte,

die diese

Realisationen ermöglichen, werden in zunehmender Anzahl bewußt und verwendbar, aber gleichzeitig — und auf den ersten Blick höchst widersinnigerweise — engt sich der realisierte Weltaspekt ein. Natur und Seele, die beide unmeßbar sind, sind um-

fassender als die durch das messende Denken erfaßbare Raumwelt, die zur Perspektivierung führte. Dieses Dilemma wird sich

vielleicht lösen lassen, wenn wır noch einen Blick auf das werfen,

was wir unter den Begriffen des Bewußtseinsgrades und des Bewufstseinsbezuges der einzelnen Strukturen zusammenfassen können. Wir begegnen dabeı einer bereits angedeuteten GesetzmäBigke1t, die uns dort einen Anhaltspunkt zu geben vermag, wo die scheinbare Widersprüchigkeit der Phänomene beginnen könnte, uns zu verwirren. Diese Gesetzmäßigkeit wird aus dem folgenden Querschnitt ersichtlich: 7. Bewußtseins-

truktur Struk

a) -Grad

Archaisch:

Tiefschlaf

All-bezogen:

Magisch:

Schlaf

Aufs »Außen« (die Natur) bezogen: ausatmend

Mythisch:

Traum

Aufs »Innen« (die Seele) bezogen: einatmend

Mental:

Wachheit

Aufs »Außen« (die Raumwelt) bezogen: ausatmend

Integral:

(Durchsichtigkeit)

b) -Bezug

Atempause

(Auf

eın

»Innen«

bezogen: einatmend? Oder: Atempause?)

180

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Inwieweit es berechtigt sein mag, den Tiefschlaf und den Schlaf in diesem Querschnitt in der Bewußtseinskategorie aufzuführen, ergibt sich daraus, daß wir diesen beiden Zuständen nicht einfach Bewußtseins-Charakter zusprechen, sondern im Hinblick auf den Erwachensvorgang, den die Mutationsreihe spiegelt, ihnen lediglich eine Bewuftseinsform oder einen Bewufstseinsgrad zuschreiben, die man als Schlaf- und als Traumbewuftsein bezeichnen darf, wodurch auch die dualistische Aus-

drucksweise von Unbewußt :Bewußt hinfällig wird (s. S. Die Gesetzmäßigkeit, von der wir soeben gesprochen stellt sich uns in dem dar, was wir, betrachten wır die tionen als Ganzheit, als ihren Herzrhythmus bezeichnen

290f.). haben, Mutakönn-

ten, der sie durchpulst, oder als das Atemhafte, das ihnen eignet. Die archaische Struktur dürfen wir als die schweigende Pause vor dem Atem betrachten, und wenn wir sie, scheinbar einseitig, als »schweigende Pause« apostrophieren, so müssen wir uns das unhörbare Singen gegenwärtigen, welches jede Pause enthält, jene »musica callada«, jene »geschwiegene Musik«, von der einst ein Juan de la Cruz gesprochen hat. Die magische Struktur ist dann, da sie durchaus aufs Außen, nämlıch auf die Natur bezogen ist, ein erstes Ausatmen, und zwar ist es ein Ausatmen, von

dem wir vorerst nicht postulieren wollen, daß es zugleich auch ein Ausgeatmetwerden sei, da uns dies, infolge der heute herrschenden dualistischen und anthropozentrischen? Denkweise, sogleich den unangebrachten Vorwurf des Animismus eintragen kónnte. Die mythische Struktur aber, da sie durchaus auts Innen, die Seele, bezogen

ist, mutet uns, halten wir sie gegen die

magische, wie ein Einatmen an; hier spielt sich psychisch jenes »Einatmen der Himmel« ab, von dem wir vorhin gesprochen haben. Daß sich in der mythischen Struktur gewissermaßen ein Einatmen vollzieht, wird noch deutlicher, wenn

wir an die auf

sie »tolgende« mentale Struktur denken, die ja durchaus wieder

auf das Außen, auf die Welt bezogen ist, und somit durchaus Ausatmungs-Charakter hat. Unsere Folgerungen aus dem AußsenInnen-Bezug der einzelnen Strukturen gehen mit jenen Tatsachen parallel, die wir im vorigen Kapitel geschildert haben: mit der Erschließung, Meisterung und damit Bewufstwerdung der Natur durch den magischen Menschen, jener der Seele durch den mythischen Menschen, jener der objektivierten Raumwelt durch den mentalen Menschen. So schließt sich in der Gesetzmäßıgkeit, die sich ım Wechsel des Atmens, in der organischen Ablósung des Ein- und Ausatmens oder im Pulsschlag der Struk-

Querschnitte durch die Strukturen

181

turen zu erkennen gibt, die Mutationsreihe zu lebendiger Ganz-

heit zusammen.

Dieser Gesetzmäßigkeit haben wir einen anscheinend organıschen Charakter verliehen und würden dem Mutationsgeschehen damit einseitig einen biologisierenden Aspekt geben, der, ınsofern am Biologischen vorwiegend das Naturhafte ın Erscheinung trıtt, magische Färbung erhalten müßte. Wir können diese Gesetzmäßigkeit jedoch auch als polares Geschehen auffassen, also nicht so sehr das einheitliche, sondern das ergänzende Moment an ihr unterstreichen. Dann jedoch laufen wir Gefahr, zu my-

thisieren. Wir werden

mäßigkeit gemäß zu erfaßbar wäre. Da heute

uns also bemühen

müssen,

diese Gesetz-

unserer heute noch vorherrschenden Bewufstseinslage betrachten, da uns mental nur ın einem Nacheinander ist, was diaphanierend ganzheitlich wahrnehmbar aber diese Bewufstseinslage und ihre Realisationsform

noch

nicht erreicht,

sondern

erst ım

Entstehen

ıst, so

müssen wir uns gerechterweise auf die mentale Basıs einigen. Wir erreichen eine Mentalisation oder Rationalisierung dieser Gesetzmäßigkeit und damit ihre Herauslösung aus der biologisch-naturhaft-magischen sowie aus der psychisch-polar-mythischen Sphäre, ındem wır Einatmung und Ausatmung nicht als ein einheitliches Geschehen, nämlıch als ununterschiedenes Atmen werten, auch nicht als ein sich ergänzendes Geschehen, ob-

wohl es auch das ıst, sondern indem wir sie als Gegensatz betrachten. Aber das allein genügt noch nicht: wir müssen diese Gegensätze auch messen können, denn nur Meßbares ist gegeneinander oder überhaupt setzbar; und wir haben, wie nun deutlich wırd, einen ersten Schritt zur mentalen Setz- und Meßbar-

keit in dem Moment getan, da wir von einer Gesetzmafigkeit gesprochen haben. Um dem Erfordernis der mentalen Struktur nach begrifflicher Meßbarkeit zu genügen, können wir die ın Frage stehende Gesetzmäßigkeit unter das Begriffspaar: Maß

und Masse stellen.

Wır wählen dieses Begriffspaar erstens, weil es trotz seiner Aufgespaltenheit doch noch ın der ıhm gemeinsamen Wurzel den nur selten zu eruierenden Urwortcharakter aufweist. Zwar erhält alles, was unter einem Begriffspaar zusammengefaßt wird,

den Akzent der mentalen Gegensätzlichung, aber nur insofern es ausgesprochen wird; unausgesprochen ist ein solches Wortpaar jedoch auch Träger des polaren, unitären und ursprünglichen Elementes. Wir wählen das Begriffspaar Maß und Masse auch

deshalb,

weil sich noch

andere

Phänomene

aufschlußrei-

182

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

cher Art unter diesem Gesichtspunkt betrachten lassen: wir erinnern an die Bewußtseinszunahme und die Dimensionszunahme,

an die Dinglichung der Welt (s. S. 176), sowie an die scheinbar gegenläufige Bewegung von Mehrung des Bewußtseins und Minderung des Ganzheitsbezuges (s. S. 176f.). Hier nun ergibt sich ein Knotenpunkt: alle bisher aufgeworfenen Fragen und Probleme, die aus den bisherigen Querschnitten ersichtlich wurden, haben wir vereint und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, den wir mit dem Begriffspaar Maß — Masse umschrieben haben. Dieses Resultat verknüpft als Abschluß unsere bisherigen Ausführungen mit den Folgerungen, die wir aus ihnen ziehen müssen. Wir unterbrechen deshalb zunächst

die begonnene Zusammentassung der einzelnen Charakteristika,

um eine Zwischenbilanz zu ziehen. Um sie zu erleichtern, stel-

len wir in einem Schema alle bisher erarbeiteten Querschnitte zusammen. Sie wollen nicht nur querschnittmäßig (also von oben nach unten), sondern auch längsschnittmäßig (also von links nach rechts) gelesen sein. Und wir ergánzen unsere »Synoptische Übersicht« durch den Querschnitt 8 (s. 5. 212 und die Übersicht am Schluß des zweiten Bandes), der noch einen weiteren Aspekt des Maß-Masse-Problemes

veranschaulicht,

einen

Aspekt,

der

sich auf die effizienten und defizienten Phasen der einzelnen Bewußtseinsstrukturen bezieht und somit deren qualitative und quantitative Manifestationsformen zum Ausdruck bringt.

Um dieses Maß-Masse-Problem klären zu können, eine Kla-

rung, die uns eine erste Zwischenbilanz ermóglichen wird, müssen wir uns in einem kurzen Exkurs über die Urwörter und über den Hintergrund klarwerden, der dem Wortpaar Maß — Masse

eigen ist.

2. Exkurs über die Einheit der Urworter

Schon zu Beginn dieser Schrift (s. S. 24) haben wir darauf hingewıesen, daß wır das sprachliche Moment ın besonderem Maße zur Erhellung unseres Themas heranziehen würden. Die Sprache ist nicht nur grundlegend für jedes einzelne Leben, sondern auch

verbindlich und verbindend. Von der Art, wıe wır von ıhr Ge-

brauch machen, hängt es weitgehend ab, ob uns unsere Darstellung gelingt. Dies gilt besonders dann, wenn mit den bisherigen Mitteln der Sprache auch neue Sachverhalte dargestellt und geschildert werden sollen.

Exkurs über die Einheit der Urwórter

183

Die vorliegende Schrift bemüht sich um etwas »Neues«, zumindest um neuartige Gegebenheiten; sie begnügt sich nicht damit, ein scharfumrissenes Thema, das sich rational gliedern und demgemäß in einer festen und fixierten Terminologie ausdrükken ließe, abzuhandeln. Das Aufzeigen einer ganzheitlichen Struktur, innerhalb welcher praerationale und irrationale Elemente die gleiche gewichtige Rolle spielen wie die rationalen, erfordert eine Einstellung zur Sprache, die ihre Ganzheitlichkeit berücksichtigt. Und so, wie jeder Mensch strukturmäßig die ganze Mutationsreihe der Menschheit darstellt und lebt, so spiegelt innerhalb der Sprache auch jedes Wort ıhre mutative Entfaltung.

Wir überbanden den Wörtern nicht, wie es heute üblıch ist, vor allem den Schlüsselwörtern, mental oder rational einen Sinn

oder Inhalt und fixierten sie damit weder einseitig noch einsinnig, sondern versuchten, das ausfindig zu machen, was das Wort

von sich aus aussagt; anders ausgedrückt: wir beschränkten uns nicht darauf, die jeweilige allmähliche begriffliche Fixierung eines Wortes als seinen einzig gültigen Ausdruckswert aufzufassen. Dieses Vorgehen wird zwar manchen vor den Kopf gestoßen haben,

besonders

aber jene, die sich nur in der rationalen

Struktur glauben bewegen zu dürfen, wenn sie »objektive« Wissenschaft treiben, und die die subjektive Bedingtheit und Abhängigkeit der durch sie geleisteten Objektivierung von ihrer eigenen vitalen und psychischen Konstitution noch nicht einmal ahnen*. Damit aber soll unser Vorgehen nicht in einen wertmafsigen Gegensatz zu dem heute herrschenden gestellt werden; es soll nur kenntlich gemacht werden, inwiefern und warum es sich von diesem unterscheiden muß. Die Aufgabe, die sich uns stellt, ist eine andere als die, welche sich dem Nichts-als-Ratıo-

nalisten stellt, der teılen und unterteilen muß und will, der also

Teilresultate anstrebt, während

wir das Ganzheitliche sichtbar

zu machen suchen. Und genau so, wie die bloß rationale Durchführungsweise nicht nur ıhre Mängel, sondern auch ıhre Grenzen hat, so hat die unsere ıhre Mängel, Grenzen und darüber hınaus

ihre Fristen; und zwar hat sie ihre Fristen insofern, als diese die

zeitlichen Grenzen bezeichnen. Aber allein schon die Tatsache,

daß hier die Frist mit hereinspielt, verweist uns auf einen gewissen temporischen Ansatz in der Sprachbehandlung: uns soll, zumindest

an den

Schlüsselwörtern,

das sichtbar werden,

was

sie in ihrem zeithaften Aspekt enthalten. Dieser Zeitaspekt des Wortes ruht in der Grundbedeutung seiner Wurzel, die ihm la-

184

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

tent oder potentiell auch heute noch das Gepräge gibt; es ist das

Anfänglıche, das durch den gewandelten, entfalteten Sinn, den

es annahm oder den wır ıhm gaben, hindurchscheint. Denn eın jedes Wort ist nicht nur Begriff (und fixierte Buchstabenschrift), sondern auch Bild, also mythisch, sondern auch Laut, also ma-

gisch, sondern auch Wurzel und somit archaisch und dadurch, durch seinen Wurzelgehalt, ursprunghaft gegenwärtig. Die Gefahren einer solchen Betrachtungsart sind natürlich groß. Sie lassen sich nur dann vermeiden, wenn ein der menschlichen Struktur, in der das Mentale die Führung hat, entsprechendes Gleichgewicht auch in der realisierten Struktur der angewandten Sprache herrscht, mit der diese ganzheitliche Struktur dargestellt werden soll: mit anderen Worten: gehen wir, wie wir es getan haben, auf die Wurzeln zurück; hören wir auf jene Wörter, die zusammengehören; ergänzen wir andere, die einander zu entsprechen scheinen, zum Bilde, und richten wir uns und sie nach den Maßstäben, die unser Denken uns auferlegt oder die wir ihm auferlegen — so können wir gewiß sein, daß wir im jeweiligen Rahmen der Gegebenheiten jeder einzelnen Struktur blieben, so wie diese Gegebenheiten, von unserem heutigen men-

talen Standpunkte aus gesehen, Wirkcharakter haben.

Es gilt aber nicht nur dieser Gefahr zu entrinnen, dafs näm-

lich in der jeweiligen Interpretation des einzelnen Wortes eın

Aspekt, sei es sein magischer, mythischer oder rationaler, überbetont werde, sondern der noch größeren Gefahr: nicht zu wissen, wo selbst dieser ganzheitlich orientierten Betrachtungsweise zwar weniger eine Grenze, wohl aber eine Frist gesetzt ist. Diese befindet sıch ın der »tiefsten« Vergangenheit, dort, wo aus dem Ursprung der Anfang herausmutiert; und sıe befindet sıch ın der Gegenwart, da diese immer auch Ursprungs-Charakter hat. Sehen wir jetzt jedoch nur nach rückwärts, zumal wir mental vorgehen, also messend und methodisch, nicht aber diaphanierend,

so finden wir jenen Anfang dort, wo die Wurzeln der einzelnen Wörter in nachtigem Verquicktsein aus dem »All« herausmutieren. Denn

so wie wir nicht ermitteln können,

wo

und

an wel-

cher befristeten Stelle die bereits unsichtbaren Wurzelfasern Erde werden oder wo das Erdreich die Form der Wurzelfasern annimmt, so wenig kónnen wir diesen entscheidenden Vorgang in der Wortbildung verfolgen; ja, die früh einsetzende Dunkelheit, Schlafhaftigkeit, Verquicktheit und ineinander übergehende Ununterschiedenheit der Urlaute oder Urwurzeln läßt es bestenfalls zu, daß wir gerade noch

ahnen, was sich hinter jener

Exkurs über die Einheit der Urworter

185

Frist abspielt, die auch ın der Wortbildung als einst übersprungene Frist zwischen der archaischen und der magischen Struktur besteht.

Mit diesen Hinweisen hoffen wir, jene Bedenken zerstreut zu

haben, dıe sich über unser Vorgehen für den oder jenen ergeben könnten: in dem Maße, in dem wir uns stets gegenwärtig halten, daß wir das Ganzheitliche anstreben, schaltet sich die Überbe-

tonung einer einzelnen Struktur von selbst aus, und die Erkenntnis, dafs selbst diesem Ganzheitlichen eine Frist gesetzt ist (in-

soweit es die Manifestationen betrifft), durfte uns davor bewah-

ren, in Abgrúnde und Dunkelheiten zu tauchen, denen unsere mentale Helligkeit und Tageswachheit nicht gewachsen ist. Aber auch die Mangel unserer Betrachtungsart sind offensichtlich und ergeben sich aus dem Zwang, daß wir, gehen wir schon auf die Wurzeln zurtick, mental ordnend jeweils aus dem Dik-

kicht des Wurzelwerkes jene Wurzelstrange aussondern müssen, die mit der Funktion, welche wir der jeweiligen Wurzel zuzubilligen haben, vor allem dem Weltaspekt entsprechen miissen, den sie erhellen sollen. So erklart sich unser Vorgehen bei den Wurzeln der Worter Magie, Mythos und Menis. Das also, was sich auf einen ersten Eindruck hin möglicherweise als willkiirliche Interpretation dargestellt haben mag, dürfte gerechtfertigt sein, wenn wir den jeweiligen Bezug als gültigen Auslöser der getroffenen Auswahl und Betonung anerkennen. Die Tatsache, dafs wir irrationale und praerationale Zusammenhänge aufdekken, darf noch keinesfalls mit einer bloßen Irrationalisierung verwechselt werden. Jeder Versuch, zu den Wurzeln zurückzu-

gehen, ruft jedoch eine Abwehr hervor: ıhre Dunkelheit und Unmefbarkeit widersprechen der mentalen Haltung und aktivieren durch die Annäherung nur allzuleicht und dazu noch in negativer Weise gerade die praerationale Wurzel, die affektiv und emotional ist. Wer es wagt, an diese Dinge zu rühren, stößt notwendig auf eine berechtigte Abwehr, besonders dann, wenn sich der Leser nıcht wenigstens bis zu einem gewissen Grade auf den vorerst nur angedeuteten aperspektivischen »Standpunkt« stellen kann und — da ja die ratıonale Haltung weder der praerationalen, noch der irrationalen gewachsen ist — sich gegen ein Abgleiten in sie schützen will, anstatt sich »über« beide zu stellen. Und an diesem Punkt ıst darauf zu verweisen, daß

diese Schrift, obwohl sie auch die vitalen und psychischen Bezüge berücksichtigt, nichts damit zu tun hat, was man als »Lebensphilosophie« bezeichnet; zu ıhren Vertretern müssen die

186

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

Vitalisten gezählt werden, vor allem Klages und Spengler, ganz zu schweigen von den Emotionalisten, wie wir sie bezeichnen möchten, die noch üppiger im Irrationalen baden und zu denen man unter anderen Ernst Bergmann und Fritz Klatt rechnen dart. Wenden wir uns nun trotzdem unserer Aufgabe, der Untersuchung der Wurzeln, zu, wie sie in den Urwörtern selbst heute

noch am stárksten lebendig sind. Von diesen Urwortern hat K. Abel in seiner bereits erwähnten großen Arbeit (s. S. 253) ge-

zeigt, daß sie »gegensinnig« seien, und Sigmund Freud spricht demzufolge in der erwähnten Anzeige dieses Werkes von ihrem »antithetischen«

Charakter.

Uns

will scheinen,

als wáre

diese

Definition, wenn nicht unangemessen, so doch zumindest einsei-

tig. Sie ist nur so lange stichhaltig, als wir uns damit begnügen, das Phänomen des Urwortes mental-rational ausdrücken zu wollen. Das Wort »gegensinnig« bringt die rein rationale Einstellung der Definierenden klar zum Ausdruck, und dies sowohl in dem »gegen« als auch in dem »sinnig«, das hier deutlich jenen Richtungs-Charakter hat, der dem Worte »Sinn«, wie wir (s. S. 134) gezeigt haben, innewohnt. Bei Urwörtern aber, wie

überhaupt bei allen Urphänomenen, von Gegensatz und Richtung zu sprechen, ist unsinnig, es sei denn, man gábe sich mit der Erklárung des rationalen Teilaspektes der Welt zufrieden und verzichtete darauf, durchaus wider seine menschliche Natur,

das Ganzheitliche zu gegenwärtigen. Insofern alles Urhafte in dem Maße, in dem es sich bereits manifestierte, vornehmlich der

effizienten Phase des Magischen angehört, in welcher der Ton weder auf dem begrifflichen Gegensatz, noch auf der mythischen Ergänztheit liegt, sondern auf der magischen Einheit, müssen wir die rationale Vorstellung von der Gegensinnigkeit der Urwörter als »Einheit der Urwörter« bezeichnen: es ist eine Silbe, eine Wurzel oder ein Stamm, die gegensatzlos etwas, das einheitlich ist, zum Ausdruck bringen, etwas Einheitliches, das sich erst später polt und noch später durch unser Denken eine Gegensätzlichung erleidet. Dai} der Beginn einer solchen Polung und Gegensätzlichung bereits in der defizienten Phase der magischen Struktur eingesetzt oder sich zumindest dort vorbereitet habe, ist anzunehmen. Anfänglich jedoch waren die Urwörter von genau der richtungslosen, ja »sinnlosen« Ununterschiedenheit, die wir als für die magische Struktur charakteristisch feststellen konnten. Dem Urwort wurde nun keineswegs, wie Abel es nach dem Referat von Freud annimmt, der positive oder ne-

Exkurs über die Einheit der Urwórter

187

gative »Sinn«, beispielsweise bei den Ägyptern oder Griechen, durch begleitende Zeichen beim Aussprechen verliehen, sondern dieser »Sınn« dürfte jedenfalls vor der ägyptischen und griechischen Epoche, durch Dehnung oder Kürzung des Stammvokales, also durch die lautliche Differenzierung, zum Ausdruck gebracht worden sein. Die Wurzel »mu«, die dem Worte »Mythos«

(s. S. 112) zugrunde liegt, mit ıhrem kurz oder lang ausgespro-

chenen Stammvokal, der dadurch »gegensätzliche« Bedeutung annahm, dürfte für unsere Ansicht ein gültiges Beispiel sein.

Denn es ıst stets das auditive Moment und nicht das bildzeichen-

mäßıge, welches wir den anfänglichen Phänomenen zuschreiben müssen,

wenn

wir

uns

an

die von

uns

erarbeiteten

Resultate

halten. Die magische Struktur ıst anfänglich durchaus auditiv, das heif$t, das Ohr, nicht das Auge, das Bilder und Zeichen erkennt, ıst das magische Organ. Klang und Musik, nicht Bild oder Zeichen, sind die anfänglichen Manifestations- und gleichzeitig auch Realisationstormen, die dort beide noch eine Einheit bilden. Nirgends ist größere Zeitlosigkeit als in den Augenblikken, da wir, uns der Macht der Musik hingebend, selber zeitlos werden: als Anhörende sind wir fast so zeitlos, wie es der ma-

gische Mensch war. Nur hórte er noch differenzierter als wir:

alle Sprachen, die noch nicht so rationalisiert sind wie die euro-

päischen und somit dem magischen Bereiche nachbarlicher, zeichnen sich, wie zum Beispiel die chinesische, durch die klangliche Differenzierung aus, welche den »Stammsilben« oder Lauten völlig verschiedene Bedeutungen verleiht. Denn je nachdem, ob der Stammvokal gedehnt, kurz, ım Ton aufsteigend oder ım Tone fallend ausgesprochen wird, erhält das betreffende Wort ım Chinesischen einen anderen Sınn. So betrachtet, könnte man

übrıgens von auditiver Gerichtetheit sprechen, der auch das »Gegen-die-Natur-Sein« des magischen Menschen zugrunde liegt, wovon wır schon gesprochen haben. Und selbst noch ım Altgriechischen, ja noch im Lateinischen, wo sich bereits das Metrum, also das mentale, messende Moment gegenüber dem organısch vorhandenen des Rhythmus manifestiert (man denke nur an Homer und Vergil), begegnen wir jener uns heute fast verlorengegangenen auditiven, magischen Fähigkeit, die es den Griechen ermöglichte, beim Vortrag einer Hymne oder eines epischen Gesanges nicht nur das Versmaß, den Hexameter, zum Ausdruck zu bringen, sondern auch die einzelnen Wörter des jeweiligen Verses ıhrer natürlichen Akzentuierung entsprechend

zu betonen, eine Gehörleistung, die um so größer war, als der

188

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

metrische Akzent selten mit den einzelnen Wortakzenten über-

einstimmt?.

Diese Primordialitat des Ohres ermöglicht es uns, dem Phanomen der Urwörter die ıhnen gemäße Definition zu geben. Der auditive Sinn ist vielleicht physiologisch gesehen nicht der erste, wohl aber ist er der betontere und spielt im Magischen die größere Rolle als der visuelle; besser ausgedrückt: beide waren noch ununterschieden, und insofern das Auge arbeitete, nahm es mehr das Klangfarbliche im Sichtbaren wahr, wie es beispielsweise auf den Aurabildern in Erscheinung tritt, die sich, ım Original,

durch ihre Farbdifferenziertheit stärker auszeichnen als durch

ihre Konturierung. Creuzer, von der Zeit sprechend, die noch

vor der Wirksamkeit der »áltesten Religionsstifter« liegt, macht die Bemerkung, daß damals »Sinnbildnerei für das Obr ... noch

nicht von der für das Auge geschieden« $ sei; er fühlt also zu-

mindest für das, was wir als effiziente Phase des Magischen bezeichnen, noch die Ununterschiedenheit von Ohr und Auge, eine Ununterschiedenheit, die dort ja auch generell gúltig ist, zumal die scharf konturierten Felszeichnungen erst im Ausgang der defizienten Phase der magischen Struktur entstanden sein dürften.

Jedoch: wir begegnen noch heute selbst in unseren rationalisierten Sprachen Wortpaaren, an denen der Doppelaspekt (Polarıtät) oder die Doppelwertigkeit (Ambivalenz) der Ursilbe, die

eine Einheit darstellt und

ausdrückt,

manifest ist. Dies ist beı-

spielsweise bei jenem Wortpaar der Fall, von dem unsere Betrachtung ausging. Denn »Maß« und »Masse« verhalten sich zueinander wie » Weg« und »weg« und wie »Muß« und » Mufe « (s. S. 112%).

Bei allen klingt in Dehnung

und

Kürzung

des

Grundvokales die Doppelwertigkeit dessen durch, was eınst eine

ununterschiedene Einheit bildete. Das gleiche gilt für ein anderes Wortpaar, das in diesen Ausführungen, die ja immer die Frage des Bewufstseins und damit auch die des » Unbewuften« betref-

fen, eine gewichtige Rolle spielt: das Wortpaar »Höhle — Helle«. Beide Wörter gehen auf die indogermanische Wurzel »kel« zu-

rück ; urverwandt mit dieser Wurzel sind unter anderem die lateı-

nıschen Wörter »clam«, »heimlich«, und »clamare«, »schreien«;

ferner die deutschen Wörter »hehlen, Halle, hohl, Höhle, Hülle,

Hülse« 7.

Die Wurzel des Wortpaares »Maf$ — Masse« ist jene, die der

mentalen Struktur konfigurierend zugrunde gelegt wurde, nám-

lich die Wurzel

»ma:me«.

An ihr dürfte uns klargeworden

Exkurs über die Einheit der Urworter

189

sein, daß die Urwörter anfänglich weder gegensinnig noch ambivalent (und somit auch nicht polar) sind, sondern daß sie gegensinnig wurden; zuerst polarisiert sich ihre Einheit, um dann zum Gegensatz gemacht zu werden. Die Wirksamkeit dieses Aufspaltungsprozesses — man könnte von einer Dimensionierung des Urwortes sprechen — dürfen wir nıcht übersehen, wenn wir eine ganzheitliche Betrachtung durchführen wollen. Denn fortrationalisieren läßt sıch der derartigen Wörtern eigene anfängliche Einheits- und spätere Polcharakter so wenig, wie sich am Menschen Trieb, Gefühl und Einbildungskraft fortrationalisieren

lassen,

ohne

daß

er dadurch

zu

einem

Unmenschen

würde. Und eine bloße rationale Analyse kann zwar einiges

erklären, ist aber der Tatsache der Einheit oder der Polaritat

gegenüber reichlich machtlos. Zudem: es kommt nicht auf das »Erklären«

an, sondern auf ein »Klären«.

Halten wir also fest: die Präsenz des Ursprünglichen, die sich in der anfänglichen Einheit, der aus ihr mutierenden Polaritat

und der aus dieser mutierenden Dualitat manifestiert, ist in den Schlüsselwörtern noch erkennbar. Gebrauchen wir sie, indem

wir uns diesen Ursprung gegenwärtig halten und sie ganzheitlich zur Anwendung bringen, so werden auch alle durch sıe dank ihrer bezeichneten und bezeichenbaren Phänomene einen zumin-

dest ganzheitlichen Schimmer erhalten können; aber freilich: es müssen dann unser Gehör, unser Herz und unser Denken gleichzeitig wach sein; und es soll, innerhalb des naturgegebenen Maßes, keines stärker vorherrschen, als es unserer derzeitigen Bewufstseinslage gemäß ist. Da das Vermögen, die Dinge so zu betrachten, wie wir es soeben geschildert haben, vielleicht eine Vorstufe dafür bildet, was wir als aperspektivisches Wahrnehmen

oder als konkreti-

sierendes und damit integrierendes Durchsehen oder Durchblikken bezeichnet haben, seien noch einige sprachliche Beispiele genannt, welche die Funktion dessen deutlich machen konnen,

was Wortpaare wie die bisher aufgeführten für diese Realisationsweise zu bedeuten vermogen. Denn die Welt ist, wenigstens

für uns, nicht nur ein Begriff, sondern stets und gleichzeitig auch Bild und Klang, und »hinter« diesen »steht« die Ursprungsgegenwärtigkeit, die aber nur dann auch für uns durchscheinend wird, wenn wir diese Weltaspekte gegenwärtigend als Ganzheit betrachten. Jene Wortpaare wie »Maf$ — Masse« oder » Weg — weg« oder »Muß - Muße« oder »Hohle — Helle«, in denen noch die anfäng-

190

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

liche Einheit dessen sichtbar ist, was sich später zuerst polarisierte, um dann im Gegensatz zu erstarren, sind verhältnismäßig selten. Sie aufzufinden ıst zudem nicht leicht, da uns nur etymologische Wörterbücher zugänglich sind, welche die heutigen Wörter auf ihre vermutete indoeuropáische Wurzel zurückführen; wır verfügen noch nicht über solche, dıe wır Wurzelwörterbücher nennen möchten, in denen die Entfaltung der Wurzeln durch die Sprachen hindurch aufgezeigt wird ?. Bei einem derartigen Wurzelwörterbuch sollte man auch das berücksichtigen, was wir als die »Spiegelwurzel« bezeichnen wollen. Wir verstehen darunter jene Umkehrung der Wurzellaute,

welche

die

»andere

Seite«

des

Wurzelsinnes

zum

Aus-

druck bringt. Um ein Beispiel dafür zu geben, möchten wir kurz beschreiben, wie wir selber im Anschluf an das Wortpaar »Hohle (hehlen) — Helle« zur Auffindung dieser Spiegelwurzel gelangten. Seit langem beschäftigte uns schon die wahrschein-

liche Wurzelverwandtschaft der Worter »Logos, Licht und Lüge«. Die indogermanische Wurzel von »Logos« (λόγος, dessen

Verbum Aéyo) ist »leg«, die des Wortes »Licht«: »le(u)k«, und

die des Wortes »Lüge« dürfte, wie wir vermuten, auf die gleiche Wurzel »leg:le(u)k« zurückzuführen sein.? Diese aber ist ja nichts anderes als die Umkehrung der Wurzel »kel«. Mit anderen Worten: im Spiegel, der alles verkehrt, ist das dunkel Verborgene (das Verhehlte, die Hölle und die Höhle, die stumm sind) Licht (das auch Stimme ist); oder noch anders ausgedrückt: das Dunkel, »kel«, ist in seiner Umkehrung »leg«. Die Wirksam-

keit dieses Spiegelgesetzes innerhalb der Wurzeleinheit korrespondiert durchaus mit dem, was wir als die speculatio animae bezeichnet haben: was »innen« ist, wird »außen« 1m Spiegelbild sichtbar;

was

ein Wort

direkt

ausdrückt,

ist das eine; was

es

außerdem noch »innen« unausdrückbar jedoch nicht als Gegensatz, sondern als »Ergänzung« enthält (und wodurch es eine Einheit ist), wird nur indirekt, nämlich in der Spiegelung (des Wurzellautes) ausdrückbar und damit horbar.

Auch das Wortpaar »Stimme — Stumme«, auf das wir eben wieder anspielten /?, bringt die ehemalige Einheit der Urworter zum Ausdruck. Sie schimmert in den heutigen Wörtern nicht nur in Kürzung oder Dehnung des Stammvokals durch, wie es bei den Wortpaaren »Maß — Masse« und »Weg — weg« der Fall ist, sondern auch im Vokalwechsel, wie er beispielsweise über das

Verbum »Hehlen« zu dem Worte »Höhle« führt, die mit »hell«

wurzelgemein sind; oder wie er in »Stimme — Stumme« statthat.

Exkurs über die Einheit der Urwórter

ı 9I

Ein anderes Wortpaar, das uns auffiel, lautet: »Tat — tot«. Zuerst überraschte uns lediglich der Wechsel des initialen »A« zum schliefenden

»O«, dem Alpha-Omega

des Griechischen, sowie

seine Verbindung mit dem »T«, das schon in Agypten und nicht erst als das griechische t (tau) ein Lebenssymbol war. Doch diese bloß mythisierende (weil symbolisierende) Interpretation genügt unserem heutigen Denken nicht ". So gingen wir den Wurzeln der beiden Wörter nach und fanden, daß es die gleiche Wurzel ist, der diese »gegensinnigen« Worter entsprangen. Denn das Verbum »tun«, von dem das Wort »Tat« abgeleitet ist, geht auf die indogermanische Wurzel »dhe:dho« zurück; das Wort » Tod« geht auf die indogermanische Wurzel »dheu : dhou« zurück. Und wie eine ausdrückliche Betonung der Ureinheit dieser Wörter

mutet

es an, wenn

wir erfahren,

daß

sich von

ihrer

Doppelwurzel das Wort »dad« ableitet, das im Altsächsischen »tun«, im Altfriesischen »tot« bedeutet 12.

Es ist nicht zufällig oder willkürlich, daß wir gerade auf dieses Wortpaar eingehen. Wir werden auf die sich in ihm aussprechende Grund- oder Urkonzeption, daß das Leben auch den Tod beherberge, später noch zurückkommen. Sie ist für unsere Betrachtung von gleicher Wichtigkeit wie jene, die sich in der

anfänglichen Einheit von »Höhle« und »hell« zu erkennen gibt. Streifen wir abschließend nur noch jene bekanntere Form, in welcher das, was wir als »Einheit der Urwörter« bezeichneten,

in der Gegensätzlichung unserer rationalisierten europäischen Sprachen sichtbar wird, beispielsweise das Wort

»kalt«, das als

»caldo« und »chaud« im Italienischen und Französischen nicht »kalt«, sondern »heif$« bedeutet. Dieses Wechselspiel, das in der einen Sprache den einen Aspekt, in einer anderen den »gegensätzlichen« Aspekt der einst einheitlichen Bedeutung des Urwortes aufklingen läßt, ist häufiger, als man vermuten kónnte?”.

Und des Überdenkens wert dürfte dieser Prozef sein, wenn er

sich bei einem Schlüsselwort der abendländischen Vorstellungswelt zu erkennen gibt: das lateinische »deus« und das französische »dieu« gehen auf das gleiche Sanskritwort »deva« zurück, wie das englische »devil« und das deutsche » Teufel« !^. Zu den Rückschlüssen,

welche die Einheit der Urworter uns

nahelegt, záhlt vor allem der bereits erwáhnte: innerhalb des Mediums, dessen wir uns zur Darstellung des Ganzheitlichen bedienen müssen, also innerhalb der Sprache, finden wir ganzheitliche Anklänge, die »hinter« der Einheit der Urwörter hervorleuchten, wodurch der Sprache selbst jener Ganzheits-Cha-

192

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

rakter wiedergegeben wird, der Voraussetzung für das Gelingen einer das Ganzheitliche »anstrebenden« Darstellung ist. Ein weiterer Rückschluß,

der sich vor allem

auch

aus der

auditiven Akzentuierung des Magischen ergibt, besteht darin, daß wir durch die Sprache selbst Aufklärung über gewisse primordiale Zusammenhänge erhalten können, so wir auf sie hören und ihr in dem gleichen Maße folgen, wie wir sie selber zu formen glauben. Denn es gibt Wörter, die zueinander gehören,

andere, die einander zu entsprechen scheinen, andere, die, sich

ergänzend, ein Bild formen, andere, die folgerichtig im Gegensatz zueinander stehen. So ist es beispielsweise nicht zufällig, daß man von einer Bitte oder einem Gebet sagt, es werde erhört;

daß »erhört« wırd, daß beı der Bitte also und dem Gebet eın

Hörendes Antwort gibt, dieser auditive Vorgang weist uns darauf hin, daß er, wie alles, was mit dieser Auferungsform zu tun hat, magischen Charakter trägt. Genau so wenig zufällig dürfte es sein, daß Wünsche erfüllt werden; »erfüllen« läßt sich jedoch nur etwas, was sıch schließen kann, also vornehmlich der Kreis, also das Psychische, das auf den Wunsch

Antwort

gibt, wobei

die Tatsache, daß man von einem Wunschbild oder Wunsch-

traum spricht, ja sogar dem Worte »Traum« den gleichen Inhalt wie dem Worte »Wunsch« zubilligt (»es ist mein Traum...« für »es ist mein Wunsch«), es uns deutlich macht, in welchem Mafse

alles Wunschmäßige der psychisch-mythischen Struktur in uns, der das Bild- und Traumhafte eignet, entspricht. Und es ist gewiß auch kein Zufall, wenn die Sprache mit dem Worte »Wille« weder ein Erhórtwerden noch ein Inerfüllunggehen

verbindet, sondern den »Willen« sein Ziel erreichen läßt, womit

sie ihn der mentalen Struktur zuordnet 73. Denken wir an diese urtümlichen Zusammenhänge und vergessen wir dabei nicht, daß »denken« und »danken« stammverwandt sind/6, und vergessen wir auch nicht, daf$ »leben« und »lieben« desgleichen stammverwandt sind?”, so mag aus der Anregung, auf die Sprache zu »achten«, eine noch weitere Wachheit als nur eine Achtsamkeit (den Ausdrucksgehalt der Zahl 8 betreffend siehe oben S. 48f.), nämlich die gewissermaßen überwache Durchsichtigkeit, entstehen, der vielleicht nıcht nur das Vergangene, sondern auch das Künftige gegenwartig zu sein vermöchte 78. Schließen wir diesen Exkurs mit dem einzigen Beispiel eines vollständigen Urwortes ab, dem wir in unserem heutigen Deutsch

begegneten, dem Worte »All«, von dem bereits in den bisher

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

193

gegebenen Querschnitten ersichtlich wurde, ın welchem Maße es für die archaische Struktur von Wichtigkeit sein dürfte. Dieses Wort bietet uns in der deutschen Umgangssprache, die wenıger rationalisiert ist als die Schriftsprache, ein Beispiel des reinen Urwortes, das ohne Ton- und Vokaländerung seinen urwörtlichen Einheitsaspekt zum Ausdruck brıngt. Dieses Wort, welches das umfassendste Vorhandensein bezeichnet, kann gleichzeitig auch ein gänzliches Nichtvorhandensein ausdrücken: sagt man doch, wenn von dem, was man suchte, nichts mehr vorhanden ist, es sei »alle«.

3. Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse Die Querschnitte, die sich im ersten Abschnitt dieses Kapitels ergaben, und die wir in dem ersten Teil der »Synoptischen Übersicht« zusammenfaßten, führten uns zu der Aufzeigung verschiedener Fragen und Gesetzmäßigkeiten, die wir unter dem Sıgnum Maß — Masse vereinigen konnten. Als Gesetzmäßigkeiten stellten wir vor allem vier fest: 1. die Bewußtseinszunahme und die Dimensionenzunahme bedingen einander und führen zudem zu einer wachsenden Dinglichung der Welt; somit stellt sich das Maß-Masse-Problem hier ın der Form des Überganges des Maßvollen ın die Mehrung und in die

(materielle)

Massung;

es stellt sich

also vornehmlich

unter seinem Masseaspekt und damit anscheinend als ratıonales

Problem;

2. ein Wechsel von Maßvollem und Maßlosem zeigt sich in

dem, was wır den Atmungs-Charakter der Strukturen nannten;

hier stellt sich dieses Problem nicht unter einseitiger Betonung

eines seiner Aspekte (nämlich wie ım vorhergehenden Falle unter dem der Masse), sondern als ein polares, insofern das Ausatmen dem Einatmen naturnotwendig folgen und damit entsprechen muß; und es stellt sich insofern unter einen biologischen Aspekt, da es den Atem betrifft, dem wır aber auch psychisch polare Werte überbinden dürfen; es stellt sich hıer also vornehmlich als psychisches Problem (s. S. 122f.); 3. ein gewisser Ausgleich (der immer die Voraussetzung einer Einheit ist) vollzieht sich zwischen dem, was wir als Minderung des Ganzheitsbezuges bezeichneten, die jedoch durch die Mehrung der Bewußtseinskräfte, die sich ıhr eigenes Bezugssystem erschließen, anscheinend aufgehoben wird. Hier stellt sich das

194

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Maß-Masse-Problem in seinem Einheitsaspekt und somit also vornehmlich als magisches Problem; 4. Maf und Masse sind es, die die zweı Hauptphasen jeder Struktur charakterisieren, denn gesetzmafsig wiederholt sich in

jeder einzelnen Struktur, daß die qualitative (maßvolle) Form,

die effizient ist, von der quantitativen (malslosen) Formlosigkeit, die defizient ıst, abgelöst wird. Hier nun stellt sich dieses Problem anscheinend in seiner mentalen Form, da wir dieser Gesetz-

mafsigkeit einen Kausalkonnex anmessen könnten; wir werden jedoch sehen, daß er sich hier als ganzheitlicher Ausdruck manifestiert, denn einzig eine Vermassung,

welche die Erschopfung

des jeweils wirksamen Qualitativen anzeigt, ist die Gewáhr einer

neuen Mutation, die »dem Ganzen« selbst zu entspringen scheint, das an jeder Mutation ausschlaggebend mitbeteiligt ist; andererseits darf man

vermuten,

daß die 1m Menschen

sich vollzie-

henden Mutationen die Integrierung ins Ganze »anstreben« oder ermöglichen sollen.

In dieser Aufzählung wird deutlich, warum

wir uns nicht

damit begnügten, ohne Umschweife unter dem Motto des gegensätzlichen Begriffspaares Maß — Masse an die Betrachtung dieser vier »Gesetzmafiigkeiten« heranzutreten. Wir hätten dann nur

mental

sachlich

meßbare

Wirkende

Teilresultate

entstellt hätten.

erzielt,

die

zudem

das

tat-

Da

wir jetzt wissen, daß

so können

wir mit der Ganzheit

sich 1n dem Wortpaar Mafs$ — Masse nicht nur jene Gegensatzlichung findet, die wir als Rationalisten damit ausdrücken, sondern daß es auch das polare Moment und grundlegend das einheitliche Element

mitenthält,

dieses Wortpaares sowohl einzelne Aspekte als auch das Ganzheitliche der Dinge und Probleme

ermitteln, die sich uns, mental

bezeichnet, als Gesetzmäßigkeiten darstellen. Wenn es uns also gelingt, uns gegenwärtig zu halten, daß dieses Wortpaar Maf} — Masse durchaus nicht nur einen Gegen-

satz bezeichnet, sondern auch als Ergänzung gilt und anfänglıch

eine Einheit darstellt, so werden wir, obwohl wir uns jeweils nur mit einem Teilaspekt beschäftigen können, doch das Ganzheit-

liche, das sowohl dieses Wortpaar als auch das Insgesamt der Teilaspekte darstellt, bewußt zur Wirkung brıngen können. Ein bloßes Aufzeigen von Gesetzmäßigkeiten muß unbefriedigend sein, zumal es sich bei ıhnen meist um von uns in die Dinge

gesetzte Maße

handelt,

um

Dinge,

die wir so schildern,

dafs dieses Setzen der Maße moglich wird. Wir räumen diesen Gesetzmäßigkeiten nur insofern einen Wert ein, als sie etwas zu

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

195

zeitigen vermögen: räumliches Denken soll durch die Zeit-In-

tensität (s. Teil II, Kap. I, 1) ergänzt werden. Gelingt uns dies,

so nähern wir uns nochmals dem Ganzheitlichen. Es sei also der Versuch gewagt, aus dem bisherigen Resultat, das ın den Querschnitten 1-8 der »Synoptischen Übersicht« und in der Aufzählung der vier »Gesetzmafigkeiten« besteht, die sich von den Querschnitten ablesen lassen, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wir wollen sehen, welche Folgerungen die einzelnen Gesetzmäßigkeiten zeitigen können, und sıe der Reihe nach auf ıhre mög-

lichen Ergebnisse hın betrachten.

Es ist heute wohl mehr denn je üblich, Bilanzen zu ziehen,

nach Verlust und Gewinn zu fragen. Und das, was wir als Dimensionsgewinn bezeichneten, führt uns sogleich mitten hinein in Überlegungen, die sich aus der festgestellten Bewußtseins- und

Dimensionszunahme ergaben. Mutation eine neue Dimension wird. Es wird also durch jede gewinn erzielt. Dieses jeweilige

Wir sahen, wie mit jeder neuen in Erscheinung tritt und wirksam neue Mutation ein DimensionsMehr einer Dimension stellt nun

ohne Zweifel einen »Fortschritt« dar, und zwar einen, den wir

vielleicht als Fortschritt vom Maß zur allmählichen Mafilosig-

keit der Masse bezeichnen könnten, besonders dann, wenn wir eine immer weitergehende Dimensionierung, Ausweitung oder

Erweiterung des Bewufstseins für wünschbar hielten. Aber nicht auf eine Bewußtseins-Erweiterung, sondern auf eine Bewufstseins-Intensivierung kommt es an. Wir haben soeben den Begriff »Gewinn« im Zusammenhang mit dem Begriffe »Fortschritt« gebraucht, der ja einen Verlust ausdrücken dürfte. In dieser Figuration spricht sich das aus, was wir von einem dualistischen Standpunkt aus positiv bewerten kónnen, da sie ein »Mehr« einschließt; es spricht sich in ihr zugleich aber auch ein Nega-

tivum aus, da diesem Mehr bilanzmäßig ein Weniger gegenübersteht: denn das Überhandnehmen des fortschreitenden Mehr führt zur Auflósung und kann in letzter Konsequenz zur Átomisierung führen. Damit aber befinden wir uns genau an der Stelle, an der sich die Angst unserer Epoche manifestiert: das dualistische Entweder-Oder wird hier als unüberbrückbare AIternative überdeutlich und stellt drohend alles in Frage: ent-

weder Fortschritt, wie ihn die »Exoteriker« (z. B. die Technolo-

gen) versprechen und prophezeien, also nur weitere Quantifizierung und Abwendung vom Ursprünglichen -- oder Rückwendung zum Ursprünglichen, wie sie die »Esoteriker« (die Geheimwissenschaftler) predigen. Aber beides, einerseits ein Überdrehen

196

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

des Rades (nach vorwärts), andererseits der Versuch, das Rad zurückzudrehen, ist illusorisch, wie jedes bloße Vorwärts oder

Rückwärts illusorisch ist. Diese Alternative, die symptomatisch fiir die Situation der defizient gewordenen mentalen Struktur ist, nämlich für ihre quantitative, rationale Phase, hat also nur bedingte Gültigkeit. Ihre Gültigkeit erschöpft sich in der Gültigkeit des Dualisti-

schen. Diese Alternative ıst vom Ganzheitlichen aus gesehen

eine

bloße

Pseudoalternative,

»lösbar«

höchstens

durch

einen

synthetisierenden Kompromiß, der fast nur in der mentalen Vorstellungswelt Wirksamkeit hat — also letztlich unlósbar ist: die dualistisch-trinitare Weltkonzeption ist an ıhren eigenen Grenzen angelangt, und selbst ein Transzendieren dieser Konzeption, wie es die Philosophie immer von neuem anstrebt, ist insofern illusorisch, als jedwedes Transzendieren

senden

Raumcharakter

hat. Nur

räumlich

bloßen

Begrenztes

mes-

kann

transzendiert, das heißt: überschritten werden. Zeitliches, also

Fristen, werden

höchstens

in der Banksprache

überschritten.

Der Raumcharakter, der somit jedem Transzendierungsversuch anhaftet, richtet diesen Versuch selbst — und er richtet ıhn in des

Wortes doppelter Bedeutung: er zielt auf weitere bewuftseinsbetonte und rechthabende Vertiefung ab, also auf weitere per-

spektivische Fixierung; und gleichzeitig verurteilt er sich selbst.

Bei der Dimensionierung der Strukturen, ın der sıch das Maß-

Masse-Problem darstellt, handelt es sıch also, sollen wır nıcht ın

der dualistischen Sackgasse (die jeweils nur die Extreme kennt)

steckenbleiben, nicht um Verlust oder Gewinn; auch handelt es sich, nehmen wir diese Dimensionszunahme als Bild oder Aus-

druck einer Entfaltung der Menschheit, weder um einen Abstieg derselben noch um einen Aufstieg, wie es einerseits die Tradi-

tionalisten, andererseits die Evolutionisten darzustellen sich bemühen, wobei die einen den Akzent auf den nachweisbaren

Verlust gewisser Fahigkeiten des Menschen legen, die anderen auf die nachweisbaren neuen technischen Errungenschaften hinweisen. Dabei übersehen aber beide, daf$ nicht nur Verlust oder

Gewinn entstand, sondern daf eine Umlagerung stattfand. Einst war der Mensch selber, das heifst sein Körper, das Instrument, mit dem er beispielsweise fernsehen und ferndenken oder die Feinstrahlung der Aura wahrnehmen konnte; heute fertigt er sich für diesen Zweck Instrumente. Damit soll nichts über den Wert des einen, des natürlichen Instruments, oder den Un-

wert der anderen, der gefertigten Instrumente, ausgesagt sein.

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

197

Aber schon die Tatsache der Quantität, ja der Quantifizierung

der gefertigten Instrumente könnte nachdenklich stimmen, und dies selbst da, wo es sich um hochwertige Präzisionsinstrumente handelt. Ihre Bekämpfer werden sıe zwar alle als Ersatz bezeichnen, ıhre Verteidiger von Bereicherung sprechen; und beide können gewichtige Gründe für ihre Ansichten anführen. Doch dieser Kampf der Meinungen bringt keine Lösung dieses Problems, sondern nur ein jeweils befristetes Obsiegen der einen oder anderen Meinung. Insofern aber die Maschine eine Entiufferung ist, nàmlich die Hinausstellung eigener menschlicher Fähigkeiten, ist sie, psychologisch ausgedrückt, eine Projektion.

Auf die entscheidende Rolle der Projektion für die Bewußtwerdung wiesen wir schon hin: erst dank ihrer, die im Außen sichtbar werden

läßt,

was

im

Innen

schlief,

wird

der

Mensch

— oder

besser: kann dem Menschen dieses Innen bewußt und damit denk- und richtbar werden. Alles Machen, sei es nun magisches Zaubern,

seı es rationale

technische

Konstruktion

einer Ma-

schine, ist eine Entäußerung innerer Kräfte oder Gegebenheiten und damit ıhr Sıchtbarmachen ım Außen. Jedes Werkzeug, jedes Instrument, jede Maschine ist nur die Nutzanwendung (also auch perspektivisch gerichtete Anwendung) der im Außen wiedergefundenen Gesetze des »Innen«, und zwar der Gesetze des

eigenen Körpers. Alle physischen und physikalischen Grundgesetze wie Hebel, Zug, Lager, Bindung, alle Konstruktionen wie Labyrinth, Gewölbe

und so weiter, alle diese technischen

Errungenschaften oder Erfindungen sınd ın uns vorgegeben. Jede Erfindung ist vor allem ein wiederfindendes, nachahmendes Herstellen jener organmafig und physiologisch in der Struktur des Menschen vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten, die dadurch, daß sie ins Außen, ins Werkzeug projiziert wurden, bewußt werden können. Dies gilt auch für die soeben erwähnten Fähigkeiten des Fernsehens

und Fernwissens oder -denkens, über die

der magische Mensch von Natur aus verfügt — und nicht wie wir, durch Radio oder Fernsehapparate. Die Überwindung von Zeit und Raum, das heißt: ıhre Ausschaltung, wird heute durch diese Apparate geleistet, da der heutige Europäer, der in der bewußtseins-erhaltenden Raum-Zeit-Welt befangen ist, sie durch sich selber kaum mehr zu leisten vermag. Dieser Ausschaltung bedarf der magische Mensch überhaupt nicht: ihm ıst das Ausgeschaltetsein von Raum und Zeit natürlich, da er selbst in der

raum-zeitlosen Welt lebt und webt, da er zutiefst in diese eingeflochten ist. Die Taten der Yogis sind so gesehen keine Wunder,

198

Dic Mutationen als ganzheitliches Phänomen

sondern naturgemäße Vorgànge/?; ein Wunder dagegen wäre es, wenn in einer raumzeitlosen Welt derartige an Raum und Zeit nicht gebundene Vorgänge oder Phänomene nicht statthätten. Durch die Bewufstseinsentfaltung begab sich der Euro-

päer weıtgehend dieser Fähigkeiten, aber er ersetzte sie durch die projizierte Entäußerung in den Fernsehapparat und das Radio (dıe Rıesenteleskope gehören auch hierher, denn der magische Mensch

»sah«

und

»wufSte«

um das, was wir durch sie

allerdings nur optisch und ausschnitthaft entdecken). So betrachtet, kann man auch sagen: wir hätten keine derartigen

Apparate, waren wir genuin nicht aus uns selbst zu jenen Leistungen fähig, die mit ihnen vollbracht werden können. Diese

Überlegung zeigt auch die Grenzen der Technik auf, insofern sie nämlıch durchaus nicht zu der eingebildeten Allmächtigkeit des Menschen verhelfen kann; sie muß im Gegenteil zu einer Allohnmächtigkeit führen, sofern dieser Vorgang der physıschen Projektion 29 nicht realisiert wird. Denn es gehört zu den Erfordernissen der Projektion, daß sie nicht unbefristet bleiben darf, sondern daß sie integriert werden muß. Diese Integrierung ıst aber nur durch Rücknahme der Projektion möglıch, eıne Rücknahme, die jedoch stets nur aus einer neuen Bewufstseins-

struktur heraus realisierbar ist: psychische Projektionen können

nur durch das mentale, bewußte Verstehen aufgelöst werden; materielle (physische) Projektionen also vielleicht durch die ın-

tegrierende geistige Fähigkeit des »Durchscheinens«? Jedenfalls mag sich hier eine Möglichkeit für die Lösung des Problems der

Technik zeigen, ein Problem, das ja in keinem Falle durch wei-

teres Fortschreiten der Technik gelost werden kann. Die erwähnte Rücknahme braucht, dies sei ausdrücklich angemerkt,

durchaus nicht zur vollständigen Annullierung — die eine Auf-

lösung und keıne Lösung wäre — der Ratıo und damit auch der

Technik zu führen; die Rücknahme der psychischen Projektionen führt ja in diesem Sinne auch nicht zu einer Annullierung der Psyche; aber sıe stellt dank der Kraft der neuen zusätzlichen Struktur ein neues Gleichgewicht her. Daß dies nötig ıst, wird wohl kaum bestritten werden. Die Umlagerung gewisser Fahigkeiten aus der qualitativ betonten, natürlichen Instrumentenhaftigkeit des frühen Menschen in die entäußerte Instrumentenhaftigkeit der Maschine brachte jedoch nicht nur eine Quantifizierung mit sich. Denn es sollten durch die EntaufSerung Kräfte für die Leistung neuer Aufgaben frei geworden sein und frei

werden. Ein Beispiel dafür ist, daß der bloß vitale, also magische

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

199

Mensch nicht in unserem Sinne denkbefähigt ist. Diese Befahigung jedoch als Negativum zu betrachten, wie es hin und wieder vornehmlich seitens der Traditionalisten geschieht, heißt lediglich die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen — ist also nur ein Kampf des Sinn- und damit Richtungslosen (Irrationalen) gegen das Sinn-, also Richtungshafte, das nicht nur mentalrational ıst, sondern, bereits dem organischen Geschehen eingelagert, in der mentalen Struktur bewußt wird. Trotzdem besteht die heutige Fragestellung nach dem »Sinn« unserer heutigen Welt zu Recht, da die bloße Quantifizierung oder die Isolierung zu einer materiellen Sinnlosigkeit führen, ja bereits weitgehend geführt haben. Daß aber diese Frage nach dem Sınn überhaupt gestellt werden kann, dürfte doch wohl nichts anderes heißen, als daß der Sinn — in Frage gestellt ist. Die Sprache sagt immer mehr

aus, als wir mit unserem

und Erfassen realisieren.

fixierten, sektorhaften

Denken

Sei dem, wie ihm wolle, was uns hier interessiert, ist die Fest-

stellung: die evolutionistische Vorstellung, die nach vorn, auf die Zukunft gerichtet ist, ist aus ihrer Einseitigkeit heraus genau so

illusorisch, wie es die traditionalistische Einstellung ist, die sich, nur das Einheitliche erfühlend und erhörend, nach rückwärts

wendet. Diese heute die Menschheit ängstigende Fragestellung, die sie in die Enge, nämlich in die engste Enge, also in die Angst treibt, entwuchs dieser Angst selber. Diesem Angstproblem, das gleichzeitig Licht auf unsere Darstellung werfen kann, wollen wir einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Vor allem sei auf den Zusammenhang von »Angst« und »eng« hingewiesen?!, weil in letzter Zeit mit der sogenannten »Urangst« eine teils magisierende, teils mythisierende Aufbauschung getrieben wird, die unnótig die defizienten Mächte und keineswegs etwa die effizienten Kräfte der magischen und mythischen Bewußtseinsstrukturen in uns aktiviert und damit die heutige Situation nur verworrener macht, statt sie zu kláren. Die Schürer dieser Angst sind, den jeweils vorherrschenden Strukturen entsprechend, teils die Vitalisten und Emotionalisten, teils die Psychisten, wenn nicht sogar weitgehend die Nichts-als-Psychologen, sowie jene Okkultisten, welche die nicht eingesehenen Grundkräfte dieser Strukturen ununterschieden aktivieren; nachher sind sie freilich, falls es ihnen

überhaupt je zum Bewußtsein kommt, höchlichst überrascht, wenn das unwissend Getane, das immer magisch ist, bedrohend auf sie zurückschlägt. So werden sie Opfer ihres eigenen Tuns;

200

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

und

unfähig,

gehen

den

entfesselten

sıe, selbst schon

Mächten

Getriebene,

alleın standzuhalten,

mit der dann

auftretenden

»Urangst« hausieren, um doch irgendwo sich als Treiber, sei es

selbst nur einer Herde, zu fühlen.

Angst entsteht immer dort — seı es nun ım Einzel-, ım Sıppen-,

ım Völker- oder ım Menschheitsleben —, wo aus der Erschöpfung

einer Haltung die Ausweglosigkeit aus dieser Haltung bewußt

oder unbewußt evident wird, weil diese Ausweglosigkeit nun nicht mehr den Machtcharakter, sondern den Ohnmachtcharak-

ter der betreffenden erschöpften, also kraftlos gewordenen Haltung spiegelt. Angst ıst stets das erste Anzeichen dafür, daß eine Mutation in ihren Ausdrucks- und Wirkungsmoglichkeiten zum Ende gekommen

ist, so daß sich neue Kräfte stauen, die, da sie

sich stauen, Beengung hervorrufen. Im Kulminationspunkt der

Angst werden diese Kráfte sich jeweils befreien; das aber ist dann stets gleichbedeutend mit einer neuen Mutation. So gese-

hen ist die Angst die große Gebärerin??. Und auch die Hohlen-

enge, welche die Helle potentiell enthält, gehört zu ihr, sowie der jeder Angst innewohnende Wunsch, daß das, was man sich

anängstet, Durchgang zum Gegenpol: zur Weite und Helle sei. Die Angstorgien der Renaissance, beispielsweise ihre Totentánze

und ihre maßlosen Weltuntergangsphantasien, brechen durchaus nicht zufällig genau in dem Moment ab, da die Perspektive

durch

Leonardo

da

Vinci

wirkende

Gestalt

annimmt.

Jene

Angstorgien stehen in einem ursächlichen Konnex mit dem Durchbruch zu einer notwendigen, neuen Weltdimension, durch welche die dreidimensionale perspektivische Welt endgültig konstituiert wurde. Und die heutigen Angstorgien, Weltuntergangsphantasien und Massenpsychosen dürften parallele Erscheinun-

gen der gleichen Art sein, wie es jene der Renaissance waren’. Auch die Dionysien, insoweit sie rauschhaft waren und sich bereits teilweise von dem urtümlichen numinosen Schauder (s. Teil I, Kap. VI, 2) gelöst hatten, der selber nichts mit Angst zu tun hat, mögen

schon diesem Angstcharakter entsprungen sein, der

in dem Moment abklingt, da die damals neue Struktur gewon-

nen ist: mit der klassischen antiken Tragodie.

Jene Fragestellung, die einerseits den Fortschritt, andererseits

die Wiederanknüpfung an das Vergangene in Frage stellt, lost sowohl die Angst aus, wie sie auch selber durch die Angst ausgelöst wird. Und insofern dieses Problem heute alternativ. ge-

stellt wird, 1st jede einseitige Lösung ıllusorisch; sie ist es, weil

sie zeitbedingt und mental, ja mentalıtätsbedingt ist. Die einen

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

201

stellen auf das nur Meßbare ab, dıe anderen auf das Unmeßbare;

positiv oder negatıv sind beide jedenfalls der mental-rationalen Weltkonzeption verfallen, die einseitig messend, dualistisch und aufteilend, und 1m übrigen vorübergehend ist, woran die wenigsten zu denken scheinen. Es handelt sich weder um Verlust noch Gewinn; es handelt sich weder um Abstieg noch Aufstieg. Es handelt sich um eine Umlagerung, um eine mutierende Entfaltung, die auf dem irdischen Schauplatz, also innerhalb der Raum-Zeit-Welt,

in der sie, sich vollziehend,

in Erscheinung

tritt, sowohl negativ als positiv ist; aber sie ist es nur hinsichtlich der Erde, hinsichtlich dieses Kampfplatzes, Spielfeldes, Schauplatzes, Bewahrungsortes; »außerhalb« dieses Bereiches — inso-

fern wir überhaupt von einem unzulässig räumlichenden » Außer-

halb« sprechen dürfen — findet sich, fast untangiert vom Irdi-

schen, da selber das Irdische nur tangierend, jener »Kern«, der

wahrscheinlich mit der Ursprungsgegenwart ıdentisch ıst und der als solcher auch den Menschen, und zwar jeden Menschen als einzelnen, bildet oder formt, gestaltet oder richtet.

Was hier notdürftig als »Kern« bezeichnet wird, um Begriffe

wie Essenz, Wesenheit,

Substanz,

Über-Ich,

Selbst, göttlicher

Funken und andere zu vermeiden, móchten wir mit dem Ausdruck »das Sich« umschreiben, das in der Reflexivitat des Ich sichtbar werden kann, ohne in den Autismus oder in den Narzif-

mus eines »Selbst« zu verfallen, und ohne die psychische Färbung des mystischen »göttlichen Funkens« anzunehmen, der sich durch seine Feuer-Geist-Symbolik

(s. Teil I, Kap. VI, 6)

als der psychisch-mythischen Struktur verhaftet zu erkennen gibt. Das Unpersönliche, das in der Reflexivitát seine Bindung an das Persönliche evident macht, sowie die Distanz

zu sich

selber, die in unserem Sinne das »Sich« auszeichnen, legen uns diesen Ausdruck nahe. Zwischen dem bloßen »Ich« und dem »Sich« besteht jener Gradunterschied, der am besten anschau-

lich wird, wenn wir an das denken, was ein »ich sehe« im Ver-

haltnis zu einem

»sich sehen«

ausdrückt. Und insofern als im

dem

trifft dieser Befund

grammatischen Sinne eine Abhängigkeit zwischem dem Sich und Ich besteht,

durchaus

zu: denn

die

grammatische Struktur ist Ja, insofern sie Ausdruck innerer Gegebenheiten ist, deren Spiegel. Zu diesen inneren Gegebenheiten sind in unserem Sinne, da es sich bei ihnen um »unsichtbare«

handelt, auch die sogenannten »auferplanetaren« zu rechnen. Daß auch die grammatische Struktur ein Spiegel »ınnerer« Gegebenheiten

ıst,

sagt

aus

und

bedeutet,

daß

das

Ich

ın

der

202

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

eigentlich wirksamen Sphäre von dem Sich abhangig ist. So betrachtet, liegt hier eine Mutatiorismóglichkeit: jene aus dem hypertrophierten Ich-Bewufstsein, das heute entweder im Wir»Unbewußtsein« (der Vermassung) untergeht oder in seiner Eigen- oder Selbststeigerung sich hoffnungslos isoliert, in das

Sich-Bewuftsein, das sich nicht nur auf jedes Ich, sondern auch auf jedes Du, jedes Es und auf alle Wir bezieht. So gesehen ist

dieses Sich das alles Durchscheinende, und es vermag in ıhm das » Diaphangeistige« in seiner Ursprungsgegenwartigkeit durchsichtig zu werden. Jene Ursprungsgegenwärtigkeit, die an sich vorraumlich und vorzeithaft ist und nicht etwa magisch raumund

zeitlos, nimmt

mit threr Vorraumlichkeit

und Vorzeithaf-

tigkeit die magische Raum-Zeitlosigkeit auf die gleiche Weise voraus, wie diese Raum-Zeitlosigkeit 1hrerseits, wenn auch

scheinbar

formlos,

Raum

und

Zeit vorausnimmt.

Im

mensch-

lichen Sich und durch das menschliche Sich kónnte das mit ihm » Korrespondierende«, die Ursprungsgegenwartigkeit, diaphan sichtbar werden.

Diese Sichtbarmachung ist möglicherweise das Entscheidende und würde das »Neue« bringen, das heißt, sie brächte oder ware

der Ausdruck der neuen Mutation. Und hıer seı nochmals darauf hingewiesen, daß das Diaphainon, also das Durchscheinende, nichts mit alledem zu tun hat, was mental mit den Begriffen Essenz, Existenz, Substanz und ähnlichem bezeichnet, was psychisch mit den Bildern oder Symbolen des Feuers, der Sonne, des

Funkens,

des

Lichtes

umschrieben,

oder

was

magisch

als

durch eine irgendwie geartete oder abgestempelte Einheit ausgedrückt wird. Diese Begriffe, Bilder und Einheiten fristen nur ein Jeweils rational gerechtfertigtes, mythisch gegründetes oder magisch geeintes Scheindasein; denn sıe haben — vor allem dıe Begriffe — ıhre räumliche Begrenztheit, da sıe aus der sıe erst ermöglichenden Seins-, Raum- und Denkwelt hervorgehen, die selber nicht nur befristet, sondern auch begrenzt ıst. Das Diaphainon reiht sich also weder in eine Symbolık noch in eine Methodik ein; es ist weder psychisch noch mental, noch ist es magisch abstempelbar. Im Menschen und durch den Menschen hindurch mit sıchtbar werdend, 1st es der Ausweis einer neuen

Mutation, durch welche die vorhergehenden raumzeitlichen Entfaltungen, wie sie sich in der zunehmenden Dimensionierung des Bewußtseins darstellten, integriert und »sinnvoll« werden. Insofern nun diese raum-zeitlichen Entfaltungen oder Aufblät-

Eine Zwischenbilanz: Maf und Masse

203

terungen die Bewußtwerdung der Ursprungsgegenwärtigkeit er-

möglichen, tritt diese aus der unbewußten und ungesehenen Wirksamkeit diaphan in die bewußte und gesehene ein; sie mu-

tiert im Menschen selber — oder ist es der Mensch, der auf sie hin

oder in ıhr mutiert? —; und

zwar

mutiert sie in ıhm

aus ıhrer

Vorräumlichkeit und Vorzeithaftigkeit zu einer sich im mensch-

lichen Sich wirkend darstellenden raumfreien und zeitfreien Gegenwärtigkeit des Ursprünglichen. Das Sich ist also, versuchen wir es rational gegensätzlichend zu definieren: einerseits unser »tiefster Wesenskern«, die Inten-

sitát »in« uns, die sowohl raum- als zeitfrei ist und die mit der

vorräumlichen und vorzeithaften Ursprungsgegenwärtigkeit korrespondiert; und es ıst andererseits diese Ursprungsidentität

selbst, welche überall hindurchscheint, die alles durchscheint, und die für uns — mutieren wir aus dem bloßen Ich-Bewufstsein, das raum-zeithaft gebunden ist, heraus —, auch für uns durch-

sichtig wird wie die ganze Welt, ja wie selbst das, was man als die Un-welt bezeichnen kónnte. Bei dieser Definition — und dies Wort drückt ja bereits ein Abgrenzen aus, das dem Diaphaınon inkongruent ist — dürfte das rationalisierende »einerseits-andererseits«, also die Teilung, es deutlich gemacht haben, wie wenig der dualistische Ausdruckszwang unserer heutigen Sprachen der Annäherung an das Ganze förderlich ist, während eine bloß regredierende Ausdrucksweise, die sich der psychischen (polaren) oder der magischen (einheitlichen) Momente bediente, durchaus

zu Recht wegen ihres ırrationalen Charakters einseitig ıst!) dem heutigen Menschen zweifelhaft Mit diesen Andeutungen streiften wir bereits der aperspektivischen Welt. Diese Vorausnahme

(der seinerseits erscheint. Möglıchkeiten soll als Orıen-

tierungsblick auf eine sich erst allmählich erschließende und nur

allmählich darstellbare neue Landschaft gewertet werden. Aber wir streiften zudem in der aufgeworfenen Problematik von Aufoder Abstieg Geheimnis und Schicksal des Menschen; möglı-

cherweise nıcht nur des Menschen. Was aber besagen dıe Wörter: Geheimnis und Schicksal? Vor allem: wo haben sie Gültigkeit? Es sind Wörter einerseits der Unfreiheit, andererseits der Frei-

heitslosigkeit, und sie gehören zwei verschiedenen Bewußtseinsstrukturen an, die ihr Wesen durch sie aussprechen: das Geheimnıs entspringt dem magischen Bereich, es ıst der unlösbare Bezug zur Verborgenheit und zur Geborgenheit der dunkelen Höhlenwelt, es ist das Heimliche, das durch das Unheimliche, nämlıch durch das Schicksal, abgelöst wird; und das Schicksal ist seiner-

204

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

seits der mythischen Struktur zugesellt: denn Schicksal ıst nichts Geheimes oder Heimliches, es ist nicht Geborgenheit der Höhlenwelt, sondern ist Ausgestoßensein aus dieser, ist unheimlich sich erfüllendes Geschehen, das unabänderlich erscheint, da der mythische Mensch, dem der mentale Wille noch nicht eignet, an den sich schicksalsmäßig erfüllenden und vollziehenden Ablauf der Geschehnisse gebunden ist.?^ Für die integrale Struktur sind diese Wörter ebenso ırrelevant wie das mentale Urteil darüber, ob die Menschheit einen Auf-

stieg oder Abstieg absolviere, oder wie die Frage nach Verlust oder Gewinn: Aufstieg und Abstieg bezeichnen Gerichtetsein, Gewinn und Verlust bezeichnen polarisierend Leben und Tod, gegensätzlichend Maß und Masse: ob Geheimnis oder Schicksal, ob Aufstieg oder Abstieg, ob Gewinn oder Verlust: sıe haben Geltung nur innerhalb der Bewufstseinsstrukturen, denen sie als Bild oder Begriff entsprangen, und haben in uns nur insofern Wirklichkeit, als diese Strukturen uns ganzheitlich mitkonstituieren. Das aber besagt: sie verlieren in dem Moment einer neuen Mutation den einstigen Ausschließlichkeitsanspruch und -wert, der ihnen zuvor eigen war. Aber es ist gut, hin und wieder der Schmerzen zu gedenken, die wir durch die Spannung dieser Wirklichkeiten erfuhren:

vorbereiten,

die eine

neue

ohne sie kónnte sich nie jene

Mutation

auszulósen

und

uns

von

früheren Schmerzen zu befreien vermag. Vielleicht haben wır uns mit diesen Ausführungen zu weit über das heute Gegebene hinaus vorgewagt, da wir das Morgige, das im Heutigen schon sichtbar zu werden beginnt, hier noch nicht aufzeigen kónnen. Eines aber sei festgehalten: das Gesagte enthält keinen Anlaß zu neuer, zusätzlicher Beängstigung, obwohl es vorerst manchem als Ungewißheit erscheinen mag. Es enthält im Gegenteil durchaus die Gewähr für eine befreiende

Entängstigung, immer vorausgesetzt, daß es uns im folgenden gelingt, die Manifestationen eines neuen Bewufstseins aufzuzeigen, das auf den Fundamenten jener Bewußtseinsstrukturen gründet, die wir hier zusammenfassend darzustellen versuchen. Vielleicht wird es moglich sein, die Gewißheit einer Entangstigung, wenn auch nicht faß- und greifbar zu machen, wohl aber durchscheinen zu lassen. Und nochmals vermittelt uns das Stichwort »Angst« den Anknüpfungspunkt für die Weiterführung unserer Überlegungen, wie sie sich aus der von uns gewählten Art, die Mutationen zu schildern, ergeben haben. Die Angst?? ist ja eine vorwiegend

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

205

ım »Unbewußten« sıch stauende Kraft, dıe nur dort, wo ıhre Herkunft unbewußt bleibt, negativen Machtcharakter annımmt,

der sich dann als Panık oder Psychose, also als Ohnmacht, äußert. Da wir einen Beitrag zur Geschichte der Bewußtwerdung geben wollen, steht das Problem des Bewußtseins im Vor-

dergrund, ein Problem, das sich auch als ein Maß-Masse-Problem stellt, da man dem messenden Bewußtsein das maßlose, bezie-

hungsweise unmeßbare »Unbewußte« gegenübergestellt hat. Wir haben nun darlegen können, daß eine allmahliche BewufstseinsErstarkung mit jeder Bewuftseins-Mutation stattfand, die in der mentalen Bewußtseinsstruktur zum Ich-Bewuftsein führte. Diese Zunahme des Bewuftseins geht parallel mit der Zunahme der Dimensionen. Und die Dimensionen selbst sind wieder nichts anderes als das allmahliche Inerscheinungtreten des Raum-Zeit-

haften. Es besteht also eine einander bedingende Beziiglichkeit, ja Abhängigkeit zwischen Bewußtsein einerseits und der RaumZeit-Welt andererseits. Auch hier also spielt, wie wir bereits gesehen haben, das Maf}-Masse-Problem herein. Insofern nun das Bewufstsein eine ungreifbare Gegebenheit, ja eine Intensität ist, stellt die Raum-Zeit-Welt die dazu greifbare Gegebenheit,

also eine Extensitat dar: sie ist gleichsam die korrespondierende

Bühne,

dank derer das Bewußtsein

selbst Wirkcharakter

anzu-

nehmen vermag. Die Dinglichung, die sich dadurch vollzieht,

ist evident, denn das zunehmende Bewußtsein ruft eine zuneh-

mende Materialisierung hervor: nimmt im magischen Bereich die Natur Gestalt und dingliche Form an, so findet im mythischen eine bildliche oder bildhafte Dinglichung der Seele statt, da diese in Bildern, und wären diese auch nur feinstgesponnene Traum- und Mythenbilder, sichtbar wird, sich also in ıhrer Art für den bewußtwerdenden Menschen dinglicht; und im mentalen Bereich wird diese Dinglichung greifbar, denn dort ist es die Welt, die durch die Bewußtwerdung und Handhabung der dritten Dimension, durch die Dinglichung des Gedankens und durch die Perspektivierung faßbar wird. Dieser Prozeß der zu-

nehmenden Dinglichung oder Materialisation ist einerseits ein

erschreckender Prozeß;

er verliert andererseits seinen Schreck-

charakter in dem Augenblick, da man sich darúber klar wird,

daß er als Prozeß, der sich im Irdischen, das aber heißt: der sich

auf der Erde abspielt, die der Erde und ihrer Natur gemafse kreative und kreatürliche Spannung mit ıhrer Polung und Gegensätzlichkeit aufweisen muß. Gehen wir diesen Gedankengang zu Ende, so ergibt sich aus

206

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

der Tatsache, daf$ sich heute innerhalb der Vierdimensionalitat eine Raum-Zeit-Einheit anbahnt, die eine Konkretion der Zeit

ermöglichen könnte, ein weiterer Sprung: denn die bisher nicht eingesehene Zeit, von der die bloß gemessene oder abstrahierte

Naturzeit nur Teilaspekte sind, bringt, da sie Energie ist, die

Überbrückung des dualistisch aufgerissenen Gegensatzeszwischen dem, was als »Unbewußtes« und »Bewuftsein« begrifflich kon-

frontiert worden ist, mit sich. Dabei stellte das BewufStsein fast

nur Und das der

den beleuchteten Teil des sogenannten Unbewufsten dar. dieser Teilcharakter macht das Rationale selbst dieser auf Psychische gerichteten Betrachtungsweise deutlich. Wer wie moderne Psychologe nur die Alternative von Bewußtseins-

helligkeit und

Unbewuftseinsdunkelheit

kennt,

die aber eine

bloße begriffliche Transposition der bildlichen Gegebenheit von Säulentempel und Höhle sein dürfte (!), der wird uns nur kopf-

schüttelnd auf diesen befremdlichen Wegen folgen und uns bestenfalls Glück zu der Waghalsigkeit wünschen, das »Unbewußte« integrieren zu wollen, womit er natürlich die Vorstellung des

Bewuftmachens

verbindet.

Das

Maßlose

aber,

das

dem

»Unbewußten« eignet, ist verschlingend: es ist also integrierend, wenn auch auf eine negative Weise. Wenn man Jedoch um dieses reziproke Geschehen weiß, das immer in der aktiven und passi-

ven Form statthat und statthaben muß, so erübrigt sich eine Diskussion auf der dualistischen Plattform. Worauf es ankommt,

ist die konkrete Tatsache:

zu wissen, daß eine Integrierung

statthat, sei diese aktiver oder passiver Natur,

seien wir als

Menschen der Erde dabei handelnd oder erleidend: einzig das Wissen um den Vorgang gibt uns die Distanz und die Gewähr, daß wir weder der Held noch das Opfer dieses Vorganges sind.

Das Entscheidende ist, jeweils zu »wissen«, wo und wie wir

uns geschehen-machend

oder geschehen-lassend

haben. Mit anderen Worten:

was uns geboten was uns gen 1st:

zu verhalten

es handelt sich darum,

zu wissen,

als kreatürlich-magisch-naturhaften Wesen erlaubt und ıst: dem natürlichen Ablauf der Dinge zu gehorchen; als mythisch-psychischen Wesen erlaubt und aufgetradem seelischen Ablauf der formenden Bilder zu entspre-

chen; was uns als beobachtenden, mental-abstrahierenden Wesen

erlaubt und gemäß ıst: dem naturhaften und seelischen Ablauf der Triebe und Empfindungen eine Richtung zu geben, sie also und uns zu richten. Auf dieses Wissen um das Geschehenlassen und Geschehenmachen kommt es an. Und lediglich diese »Ein-

stellung« kann uns vor dem bewahren, was auswegslos den dua-

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

207

listisch eingestellten Psychologen ängstigt: entweder vom Bewußtsein geblendet, ja überblendet, oder vom Unbewufsten verschlungen zu werden in dem Moment, da man innerhalb der

Bewußtwerdungsentfaltung und der Bewußtwerdung gezwungen ist, sich mit diesen begrifflich erarbeiteten Vorstellungswelten auseinanderzusetzen. Aber dieses Problem sollte sıch überhaupt nicht stellen, hielten wir die den einzelnen Strukturen gemäße Haltung ein. Eine Auseinandersetzung ist ein rein rationaler Vorgang, unanwendbar auf Psychisches und höchstens regredierend eine entweder magisch betonte Einigung oder eine rational betonte Versöhnung herbeiführend. Es sei deshalb noch-

mals gesagt: die Integrierung, sei es der Vierdimensionalitat, sei

es der Zeit, sei es des Zeithaften, und damit bis zu einem gewis-

sen Grade auch des Unbewufsten,

ist nicht daran gebunden, ob

wir dabei Handelnde oder Erleidende sind, sondern sie ıst davon

abhängig, ob wir aus der Distanzierung heraus um den sich vollziehenden Vorgang wissen. Dieses Wissen jedoch ıst fast schon gleichbedeutend mit dem, was wir das Diaphainon nannten, das

nicht an das Handelnde, nicht an das Erleidende, das auch nicht

an das Licht, nicht an die Dunkelheit gebunden ist, sondern sie

alle durchscheint. Denn gleichgültig, ob Tag oder Nacht, ob Bewußtsein oder Unbewußtes, ob Handlung oder Duldung: dem Wesen des Diaphainon, soweit es überhaupt Wesens-Charakter hat, eignet, soweit ıhm etwas eignen kann, daß es ungebunden

an die Erscheinungsformen diese durchscheint. Es ist damit weder ein Drittes, welches die Gegensätze einigt, geschweige denn ein Zweites, und dadurch ergänzender Pol; noch ist es ein Erstes, aus dem es einheitlich besteht und hervorging. Es ist die Ursprungsgegenwärtigkeit, die selber Bewußtsein erreicht, da einer ihrer Trager, der Mensch, durch die raum-zeitlich bedingte Bewußtseins-Entfaltung gegangen ist, sich durch diese hindurchgefreut hat, aber auch durch sıe hindurchgelitten wurde. Denn die Gegenwart kann nur der realisieren, der Vergangenheit und Zukunft, die beide stets psychisch betonten Freude- und Leidcharakter haben, integriert hat und der sıch damit, insofern jede Integrierung ein Uberwinden ist, von diesen Spannungen und Befangenheiten der einst unbewußten psychischen Struktur löste.

Man könnte meinen, die Lösung dieser Spannung bedeute den Tod. In jedem Falle bedeutet sie die Realisierung des Todes, der mıt dem Sterben selbst nıcht ıdentisch ıst. Die Lösung dieser Spannung bedeutet nıcht Sterben. Wer anders folgert, vergißt

208

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

zwei Tatsachen. Die eine wurde bereits ausgeführt: so gewiß es ist, daß kein Leben ohne Spannung lebbar ist, so gewiß ist es, daß das Leben den Tod einschließt (oder umgekehrt). Die andere Tatsache, die jene vergessen, die einwenden sollten, daß die Aufhebung der psychischen Spannung, die sich durch die Gegenwärtigung vollzieht, zum Tode führen müsse, vergessen der eigenen Fundamente, welche sie im Leben halten, solange sie der

Erde teilhaftig sind. Sie vergessen, daß keine der Strukturen

Ausschließlichkeits-Charakter hat, daß, insofern auch die natur-

hafte uns mitkonstituiert, die Gefahr einer tödlichen Wirkung der Gegenwärtigung oder des Diaphainon ausgeschlossen ist. Aber freilich: sie ist nur dort ausgeschlossen, wo uns die einzelnen Strukturen in der ihnen gemäßen Wirksamkeit bewußt sind; jedes Ungleichgewicht bringt im Moment der erfolgenden Mutation die Gefahr des Ich-Verlustes und des Unterganges mit sich. Doch der Sprung wird, wie anzunehmen ist, nur von jenen gewagt, die seiner fáhig sind; oder besser: nur in ıhnen wagt er sich. Jene aber, die aus rationaler Hybris heraus glauben oder kalkulieren (ein Kalkulieren, das eine rationale Form des Glau-

bens ist), daß sie wıllensmäßig zum Sprung imstande seien, werden von dem zu überspringenden Abgrund verschlungen wer-

den;

denn

sıe müssen

aus ıhrem

dualistischen

Glauben

heraus

annehmen, daß es der Erreichung der nur mental existierenden »anderen Seite« bedürfe. Die Form dieses unzeitigen Sprunges wurde ja bereits sichtbar: es ist die Atomisierung. In thr drückt sich der negative Aspekt der Spannung aus, die úberspannt nicht Leben erzeugt, sondern den Tod zur Folge hat, und nicht bloß den Tod, sondern die Vernichtung. Und Uberspannung tritt stets dort ein, wo ein Extrem

zu Ende

kommt:

am

Punkt

der

angstgebärenden Ausweglosigkeit. Jede Ausweglosigkeit ist nicht nur ein Hinweis darauf, daß

es keinen Weg mehr gibt und daß eine Entfaltung ihre größt-

mögliche und damit stets quantitativ betonte Spannweite erreicht hat, die nun jederzeit zu einem vernichtenden Spannungs-

verlust führen kann, sondern sie ist ein Anzeichen dafür, daß

einzig und allein ein Sprung, also allein eine Mutation, die Losung bringen kann. Ohne Zweifel stehen wir heute an einem solchen Punkt. Dies nicht nur im Hinblick auf die in uns vor-

herrschende mentale Struktur, sondern auch hinsichtlich. aller bisherigen Strukturen, da sie ja, eine Ganzheit bildend, uns

ganzheitlich konstituieren. Die Zunahme des Bewufstseins, die materiell ihre Spiegelung in der Zunahme der Dimensionen hat,

Eine Zwischenbilanz: Maß und Masse

209

bewirkt auf dem, was wir die dimensionengewinnende Bühne nannten, eine zunehmende Objektivierung der bewußtseinsmäfig erschlossenen Wirklichkeit. Das aber bedeutet: sie fördert eine immer weitergehende Dinglichung der Welt. Somit wird, auch im großen gesehen, námlich durch alle Mutationen hindurch, die Spannung immer größer: dem Mehr an erschlossener Welt, einem Mehr, das seinen Niederschlag in zunehmender Dinglichung oder Materialisation gefunden hat, entspricht ein Mehr an Bewußtsein. Der Fehler, der heute gemacht wird und der seinen Anlaß in der quantitativ betonten ratıonalen Haltung hat, besteht darin, daß man meint, dem materiellen Mehr müsse

ein bewußtseinsmäßiges Mehr gegenübergestellt werden. Dies Mehr betrifft jedoch nur das spiegelnde Wissen, das quantitativen Charakter hat: es darf aber niemals das Bewußtsein betreffen, das stets qualitativen Charakter hat. Alleın aus diesem Grunde mußten wir betonen (s. S. 167f.), daß wir nicht in den

Fehler verfallen dürfen, eine Bewußtseins-Erweiterung anzustreben, sondern daß es auf eine Bewußtseins-Intensivierung ankommt. Eine bloße Bewufstseins-Erweiterung führt genauso in den Untergang wie die materielle Quantifizierung: sie entsprache auf dem sogenannten unmateriellen Plane der materiellen Atomisierung, sıe wäre letztlich nıchts anderes als die psychische Atomisierung, wie sie bis zu einem gewissen Grade bereits Ungestalt angenommen hat; nicht nur der Surrealismus, nicht nur der Dadaismus, nicht nur die Existentialphilosophistik, vor allem auch gewisse Strömungen der heutigen Tiefenpsychologie sind dafür Beweises genug.?® Auf das Thema der Bewufstseins-Intensivierung zurückkommend, haben wır wıeder den Ton auf das Maß-Masse-Problem

gelegt. Und die vorstehenden Ausführungen zu diesem Thema, dem die festgestellte Tatsache der Dimensionierung zugrunde lag, konnten uns ein Bild davon vermitteln, wie vielschichtig dieses Problem aufklingen kann, wenn wir es nicht nur antithe-

tisch in Rechnung stellen, sondern wenn wir es ganzheitlich anzuwenden versuchen. Jedenfalls eröffnet es uns Überblicke, Eınblicke und Ausblicke: Überblicke über das, was wir, mental die

Geschehnisse fixierend, als Sinnhaftigkeit der Mutation bezeich-

nen könnten, eine Sinnhaftigkeit, die aber immer wieder durch

die Frage nach dem Aut- oder Abstieg der Menschheit illusorisch

wird; und es vermittelt uns Einblicke ın den Teilhaber des Be-

wußtseins, nämlıch ın das »Unbewußte«; und Ausblicke auf eine mögliche neue Mutation, deren »Landschaft« wir mıt Wörtern

210

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

wie: das Diaphainon, das Sich, die Ursprungsgegenwartigkeit,

vorerst nur anzudeuten versuchten. (Was den Begrift des »Unbewuften« betrifft, so werden wir später [s. Teil I, Kap. VI, 2] noch sehen, daß er wegen seines dualistischen Charakters unserer Betrachtungsweise nicht standhält; es gibt kein das Bewußtsein

negierendes Unbewußtsein, sondern nur jeweils dimensionen-

armere Vorformen des Bewufstseins schlechthin.) Wenden wir uns nun noch den drei anderen Gesetzmafigkeiten zu. Als zweite Gesetzmafsigkeit ist die von uns als Atemcharakter der Mutationen bezeichnete zu nennen (s. S. 180). Wir

ordneten sie systematisierend in die Maß-Masse-Problematik

ein, weil

hier auch

der Polcharakter

ersichtlich werden

kann,

der diesem Wortpaar ebenfalls eignet, denn es handelt sich be: dem Atemphánomen um den sich ergänzenden Wechsel eines lebendigen Geschehens. Aus der rhythmisch anmutenden Gesetzmäßıgkeit, welche die Mutationsreihe als Ganzes durchpulst,

ergibt sich als nächstliegende Frage: Welcher Art könnte die

neue Mutation sein? Wird sie wieder auf ein »Innen« bezogen sein, wie es die mythische war? Und wenn ja, welcher Art wird dieses »Innen« sein? Oder: wird eine neue Atempause einsetzen? Belassen wir es vorerst bei dieser Frage.7/ Sie jetzt postulierend

beantworten zu wollen, wáre Vermessenheit. Diese Fragen werden sich fast fraglos beantworten, je deutlichere Formen die Fundamente und damit die aus ihnen hervorgehenden Ansatzpunkte des Neuen annehmen werden. Dagegen kónnen wir schon jetzt die Fragen, welche die dritte Gesetzmäßigkeit hervorruft, leichter beantworten. Diese Gesetzmäßıgkeit stellte sich uns einerseits als Minderung des Ganzheitsbezuges, andererseits als Mehrung der Bewußtseinskräfte dar. Hier wird das Einheitsmoment des Maß-Masse-Problems

sichtbar, weil wir das, was wir rational auseinanderrissen, um es

begreifbar zu machen, nicht als divergierenden Vorgang, sondern als einheitliches Geschehen auffassen müssen. Das Schlüsselwort dafür wurde schon gegeben: es handelt sich um eine innerhalb der Einheit sich vollziehende Umlagerung. Mit anderen Worten: die scheinbare Minderung unseres Bezuges zur Ganzheit (1nsofern man hier von einem Bezug sprechen darf) wird durch die Mehrung des am Ganzheitlichen teilnehmenden bewußten Bezuges ausgeglichen: es findet eine Umlagerung aus dem sogenannten Objektiven in das sogenannte Subjektive statt. Und die

Unverlierbarkeit der archaischen Struktur in uns, eine Struktur,

die ja nicht zeitverhaftet anfänglich, sondern ursprünglich ist,

Eine Zwischenbilanz: Maf und Masse

211

bringt es mit sich, daß alle aus ıhr heraus erfolgenden Mutationen ebenfalls unverlierbar sind. Von unserer heutigen Bewufstseinsstruktur aus gesehen, sind wir selber nur in dem Maße

Mensch, als uns diese Ganzheit bewußt ıst; andernfalls sind wir

nur Teilaspekte dieser Ganzheit; das aber will besagen: sind nicht im Gleichgewicht, oder mental ausgedrückt: wir nicht im Maß, sondern in dessen negativem Gegensatz: in Masse, die stets auch unpersönlicher Zustand ist und an Unmenschliche grenzt. Es handelt sich also auch hier nicht, so wenig wie bei

wir sind der das der

Dimensionierung, um Mehrung oder Minderung, wenn wir den

ganzheitlichen Gesichtspunkt gelten lassen. Es hängt lediglich von uns ab, ob wir es vermögen, die Phänomene nicht nur messend in Rechnung zu stellen, nicht nur bildmäßig zu erfahren, nicht nur einheitlich zu erleben, sondern sie ganzheitlich zu durchblicken. Wie aber gelangen wir zu einer solchen Haltung? Diese Frage muß wohl gestellt werden, denn die Erfahrung lehrt, daß sich durch rationale Überlegungen das, was wir als menschliche Haltung bezeichnen, bisher noch selten ändern ließ oder geändert hat. Der Grund dafür ıst leicht einzusehen: die menschliche Grundhaltung, also die Haltung jedes einzelnen Menschen, gründet in erster Linie im Vitalen und Psychischen, also ın dem, was wir die magische und mythische Struktur nen-

nen; Bitte und Wunsch, dıe als Forderung somit jeder Haltung meist »unbewuft« ihr Geprage geben, können nur teilweise von dem rationalen Willen gerichtet werden, es sei denn, daß wir uns ihrer bewußt würden. Es gibt nun ein Anzeichen dafür, ob dies durch einen Menschen erreicht wurde oder nicht: wer fähig wurde, bei Ungemach, Zerwürfnissen, Streit, Unglücksfällen nıcht den anderen oder der Welt oder den Umständen oder dem

Zufall Vorwürfe

zu machen,

sondern

wer es vermag,

zu-

allererst den Grund oder die Schuld, in ihrem ganzen Umfange, bei sich selber zu suchen, der dürfte auch fähig sein, die ganze Welt und alle ıhre Strukturen zu durchblicken. Anderenfalls

wird er von der in ihm vorwiegenden Struktur entweder trieb-

oder affekt- oder wıllensmäßig vergewaltigt, und er dann kompensatorisch (oder sich rächend) seinerseits zu vergewaltigen. Der Satz, daß es so zurücktönt, in den Wald ruft, ist ohne Zweifel richtig. Und der die Welt.

So ist alles, was

uns geschieht,

nur Antwort

Echo dessen, was und wie wir selber sind. Und heitliche

Antwort

wird

uns

nur,

wenn

wir

versucht die Welt wie man Wald ist

in uns

und

eine ganzselber

uns

212

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

dem Ganzheitlichen annáherten. Ein Weg dorthin aber ist der, daß wir jeweils versuchen, auch die Schuld zuerst einmal ganzheitlich auf uns zu nehmen; bei affektloser Prüfung

wird sich dann herausstellen, in welchem Maße wir schuldig sind, und der Ausgleich oder das Gleichgewicht, die nur der Ganzheit eignen (insofern ıhr etwas eignen kann), wer-

den sich wiederherstellen.

Überrascht

werden

wir am

Ende

eines solchen nicht immer leichten Prozesses, der nicht nur ein Sehen ist, sondern auch ein Sich-Sehen, feststellen, daß

uns die Welt und daß wır uns selber um einige Grade durchsichtiger wurden. Und nur wenn wir den ganzheitlichen Gesichtspunkt gelten lassen oder zur Geltung bringen, vermag uns das in einer »positiven« Weise klarzuwerden, was sich in der erwähnten vierten

Gesetzmäßigkeit scheinbar, betrachten wir es fälschlicherweise mental, als ein sich nur einsinnig abspielender Prozeß, als Negativum, darstellt. Jeder Struktur scheint es zu eignen (siehe Querschnitt 8 der »Synoptischen Übersicht«), daß sie anfänglich qualitativ betont ist und dann eine allmählich zunehmende quantitative Entwertung einsetzt. Innerhalb der magıschen Struktur tritt uns als qualitative Äußerung zuerst das Bannen entgegen, das im quantitativ betonten Zaubern detizient wird; innerhalb der mythischen Struktur begegnen wır cınem parallelen Vorgang: der geschwiegene Urmythos2® beginnt sich in ausgesagte Einzelmythen aufzusplittern, dıe wıeder ın neue partielle Aspektierungen zerfallen, bis die Unzahl der psychischen Manifestationen und Realisationen ıhren Sınngehalt derart ın Frage stellen, daß infolge einer neuen Bewuftseinsstruktur, der mentalen, die »Sinngebung« durch das richtende Denken (durch Menis und Menos) erfolgt. So betrachtet, hat die Gewinnung der neuen Struktur durch die griechischen Denker das Abendland vor dem bewahrt, was man als psychische Atomisierung bezeichnen könnte. (Das wird noch deutlicher werden, wenn wir [s. Teil I, Kap. VII] die Realisations- und Denkformen

ausführlicher betrachten werden.) Aber auch die Menis entging nicht der Quantifizierung; wir haben bereits ausfúhrlich auf diesen Ablauf hingewiesen, der sich in der Rationalisierung der Welt spiegelt. Da diesmal, für unsere heutige Struktur, vorwie-

gend die Raumwelt zur Frage steht, so betrifft die Quantifizierung vornehmlich diese; aber von ıhr aus sınd auch alle anderen Weltaspekte mitbetroffen, also sowohl der psychische wie der vitale. Diesmal also droht in erster Linie die Atomisierung

Eigenart der Strukturen der materiellen

Raumwelt:

und

es ıst nıcht schwer,

213

festzustel-

len, daß sıe bereits »greifbare« Formen angenommen hat. Würden wir nun die Gesetzmäßigkeit, mit der innerhalb jeder einzelnen Struktur effiziente und defiziente Phase aufeinander folgen, nur rational betrachten, so müßten wir dem rationalen Denken gemäß von einem natürlichen Prozeß sprechen, der unerbittlich seinem Endresultat entgegeneilt; damit sind Schicksal, Angst, Ausweglosigkeit gegeben, zumal das einzig mögliche Re-

sultat, die Vernichtung, kein Ausweg ist. Andererseits dürfte es offensichtlich sein, daß der heutige Zustand eın Zustand der Erschöpfung ıst; mit anderen Worten: das, was als Kraft unsere

Struktur anfänglich konstituierte, hat sich, bewußtwerdend,

in

der Auseinanderfaltung erschöpft. Die Erschöpfung aber birgt keine Kontinuitatsmoglichkeit, keine Evolution, es 561 denn im

Sinne des Fortschrittes. Hier wird vielleicht nochmals deutlich,

warum wir den Evolutionsbegriff ablehnen und von Mutationen sprechen. Was Folgecharakter hat, beschränkt sich auf einzelne Strukturen;

in den

Mutationen

aber dürfte das Ganzheitliche

enthalten sein. Aus der erschópften Struktur geht keine neue hervor; aber aus dem, was ursprungsgegenwartig ist, aus der Ganzheit heraus, kann sehr wohl eine Mutation entspringen.

»Hinter« dem, was das Wortpaar Maß — Masse sowohl als Gegensatz, als Polarıtät, als auch als Einheit ausdrückt, steht

sein ursprünglicher ganzheitlicher Gehalt. Nur wenn wir dies berücksichtigen, verfallen wir nicht in den Fehler, sondern wer-

den davor bewahrt (bleiben also im »Wahren«),

uns einseitig

der heutigen Masse-Erscheinung, also der weiteren rationalen Quantifizierung

und

ihren einseitigen Konsequenzen

zu ver-

schreiben. Und nur wenn wir uns vor ihr bewahren, vermag es Gewißheit zu werden, daß auch die, diesmal materielle Atomi-

sierung, welche sonst die Welt betreffen würde, überwunden

werden kónnte.

4. Eigenart der Strukturen (Weitere Querschnitte) Wir müssen uns über zwei Schwierigkeiten klar sein, mit denen

wir bei unseren Überlegungen zu kämpfen haben: die eine besteht darin, daß jede Abhandlung nur ein Nacheinander zuläßt und damit jedem ganzheitlichen Zugleich widerspricht. Mit anderen Worten: in dem Augenblick, da wir mehrschichtige Pro-

214

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

bleme darzustellen haben, überkreuzen sich in jedem Moment

nicht nur die verschiedenen Aspekte der Probleme, sondern diese selbst; reißen wir nur einen der Aspekte heraus, so gewinnen wir zwar durch das geordnete Nacheinander der Darstellung ein Teilresultat, aber inzwischen ging uns das Ganzheitliche des Problems verloren. Wir haben versucht, diese Schwierigkeit zu lósen, indem wir bei der Abhandlung eines Problems sogleich auch auf seine Mehrschichtigkeit hinwiesen. Dadurch ergab sich eine große Zahl von Bezügen; es ergaben sich vor allem aber nicht nur dauernd Bezugnahmen auf bereits in anderem Zusammenhange Ausgeführtes, sondern es mußten sich auch Vorausnahmen einstellen, wollten wir nicht in den dualistischen Sack-

gassen stecken bleiben. Die Mehrschichtigkeit der Probleme, in

welcher ihre Ganzheit durchschimmert, führte zu einer mehr-

schichtigen Methodik der Darstellung; da man aber eine mehrschichtige Methode als etwas in sich Widersprüchiges auffassen

kann, weil jede Methode jeweils nur einen Sachverhalt auf ein-

mal zu messen vermag, haben wir unsere mehrschichtige Methodik »Diaphanik« genannt, mit der im Gegensatz zur Methode das ganzheitliche Zugleich wenigstens durchsichtig gemacht

werden

kann.

Diese

bezeichnet

also die Art und

Weise,

wie

trotz des erzwungenen Nacheinander das ganzheitliche Zugleich wenigstens zum Durchscheinen gebracht werden kann, da es sich einer sprachlichen Darstellung entzieht. Die andere Schwierigkeit besteht darın, daß wir etwas »Neues«

herauszuarbeiten

unternehmen,

wofür

wır uns

aber

noch der »alten« sprachlichen Mittel bedienen müssen. Die Wörter und Begriffe unserer heutigen Sprache sınd weitgehend

der perspektivischen Welt gemäß fixiert.?? Freilich versucht (wie wir bereits im »Grammatischen Spiegel« andeuteten) zumindest die dichterische Sprache sich bereits dem Neuen, das

Gestalt gewinnen will, anzupassen. Aber es handelt sich dabeı

nur um erste Ansätze, dıe außerdem

bisher zumeist unbeachtet

blieben. Wir bemühten uns diese sprachliche überwinden, indem wir eine Auflockerung der ten und nicht nur ıhren heutigen perspektivisch lichen Ausdruckswert in Rechnung stellten, ihren Ganzheits-Charakter bezogen. Wir

wollen

nun

nochmals

bestimmte

Schwierigkeit zu Wörter anstrebfixierten begriffsondern uns auf

Charakteristika,

Zu-

schreibungen und Eigenheiten der verschiedenen Strukturen in

vier Gruppen

querschnittsmäßig zusammenstellen;

das ıst um

so dringlicher, als wir schon öfters gezwungen waren, auf Sach-

Eigenart der Strukturen

215

verhalte anzuspielen, die erst durch eine Zusammenfassung deutlich und übersehbar werden können. Holen wir also jetzt nach,

was in dem Nacheinander nicht zugleich ersichtlich werden konnte. Die »Synoptische Ubersicht«, die durch diese Querschnitte ergänzt wird, wird uns jenen ganzheitlichen Überblick vermitteln können, jenes Zugleich-Vorhandensein, dessen die Darstellung mehr oder weniger entbehren mußte. Wir werden das Material wieder unter Stichwörtern zu ordnen versuchen und fassen es ın folgende vier Gruppen zusammen:

1. die Grundhaltungen der einzelnen Strukturen sowie ihre psychischen und physischen (organischen) Betontheiten, 2. die Realisations- und Denkformen,

3. die Ausdrucks- und Äußerungsformen,

4. die zeithaften, sozialen und generellen Bezüge, welche die einzelnen Strukturen auszeichnen. Stellen wir in einem

Querschnitt

das

zusammen,

was

bisher

hinsichtlich der Grundhaltung der einzelnen Strukturen ausgeführt wurde, und berücksichtigen wir dabei das, was wir

einerseits als Energetikträger, andererseits als Organbetontheit

bezeichnen kónnen, so ergibt sich folgende Übersicht (wobei die Zuschreibungen für die »Integrale Struktur« Vorausnahmen

sind, für die sich erst ım weiteren Verlauf unserer Abhandlung der Nachweis ergeben kann und die wir deshalb vorerst in Klammern () setzen; vgl. dazu auch S. 175 ?): Struktur

Archaisch:

9. Grundhaltung und Energetikträger

10. Betonte Organe

Ursprung:

Weisheit



Magisch:

Vital:

Instinkt Trieb Gefühl

Eingeweide — Ohr

Mythisch:

Psychisch:

Empfinden

Herz — Mund

Mental:

Zerebral:

Reflexion Abstraktion Wille

Gehirn — Auge

Integral:

(Integral:

Konkretion) Diaphanieren) Wahren)

Imagination

Gemüt

(Scheitel)

216

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

Diese Zusammenstellung wırd nach dem bisher Ausgeführten kaum überraschen: daß das Magische im Vitalen gründet, daß es durch den bewußtseinsschwachen Instınkt gesteuert, durch den bewußtwerdungsfähigen Trieb getragen und durch das Ge-

fühl, vor allem des Einheitlichen, Ausdrucksform erhält, bedarf

so wenig eines Kommentars wie die Zuschreibungen für die psychisch betonte Grundhaltung der mythischen Struktur oder wie die für die zerebral betonte mentale Struktur. Dagegen wird vielleicht der Querschnitt 10 auf den ersten Blick hın verwundern. Inwiefern wır das auditive Organ, das Ohr, das ja zudem mit dem Labyrinth und der Höhle korrespondiert, der magischen Struktur zuordnen, wird bereits deutlich geworden seın. Aber die Zuordnung der Eingeweide zur magischen Struktur wird wohl erst verständlich, wenn wir uns einige Tatsachen in Erinnerung rufen: das Wahrsagen auf Grund der Eingeweideschau gehört der Zeit an, die wir als die magısche bezeichnen; das Labyrinthische, das sich in ihm darstellt, ist offensichtlich?, und vor allem entspricht das ıntestinale Verquicktsein, seine fast richtungslose Gelagertheit durchaus dem magischen Lebensgefühl. Innerhalb der Eınheit aller anderen Organe spielen die

Eingeweide in der magischen Struktur lediglich eine betontere Rolle, ihre Funktionen sind ausschlaggebender als die der anderen Organe?! ; wie ausschlaggebend die Eingeweide waren, geht

daraus hervor, daß sie den Magiern und Medizinmannern

zur

Deutung des Schicksals und der Ereignisse dienten?^. Rational

können wir uns jene sonderbare Prozedur, die aber nur scheinbar

unsinniger Aberglaube ist, verständlich machen, wenn wir daran denken, daß diese Organe jene Verflochtenheit und Einheit des Magischen darstellen, die wir als für diese Bewußtseinsstruktur

charakteristisch

nachweisen.

konnten.

Es mochte

einem

Men-

schen, der zutiefst in der vollständigen lebendigen Verflochtenheit wob und in diese Einheit eingewoben war, wohl moglich sein, im Geflecht, so wie es vor ihm ausgebreitet lag — eine Ausbreitung, die nichts Zufälliges an sich haben konnte, da dem Magischen alles zufállt —, der Stórung oder der Indisposition

inne zu werden, um derentwillen diese Art des Orakels und des

Wahrsagens ausgeführt wurde ?. Andererseits geht aus der uralten Vorstellung von der »Empfängnis durch das Ohr« ** die Bedeutung dieses Organes für den magischen Menschen hervor:

der Laut oder Ton ist zeugend, das Ohr, das schon aufs Außen

gerichtete Abbild der Höhle und des Labyrinths, ist empfangend und damit gebärend. Es gebiert die magische Welt.

Eigenart der Strukturen

217

In welchem Maße es zutrifft, daß der Ton eine primordiale

Kraft ist, die durch die magische Struktur weltgestaltend wirkt,

geht auch aus der Bedeutung des lateinischen Wortes »carmen« hervor, das »Gedicht, Lied« bezeichnet, ursprünglich aber »relıgidse und magische Formel« ist35. Singen in diesem Sinne ist Zaubern und Bezaubern, das aber heıßt, es ist ein Wirken durch

den Ton. Und noch heute lebt diese Grundvorstellung in Wörtern weiter, die, wie das franzósische »charme«, das spanische »encantado«, das englische »charming« den »Zauber« oder die »Bezauberung« ausdrücken, die ein Mensch oder ein Ding auf

uns auszuüben vermógen?6. Zeigt der Bezug zwischen Ton und Zauber die Zusammengehörigkeit beider und damit den Ton als

vornehmlich magisch, so nimmt es nicht wunder, wenn wir neben den inneren Organen dem Ohr die praedominierende Rolle in der magischen Struktur glauben zusprechen zu dürfen. Die magische

Welt,

und

mit ihr ein wesentlicher

Teil dessen,

was

uns heute konstituiert, entsprang dem magischen Ton, der durch

das Ohr wirksam, im Ohr weltauslósend wurde. Und es ist der

Ton, wie jener der Urwaldtrommeln,

dessen Rhythmus

einer

der vitalsten Ausdrücke des magischen Menschen ist und der den Tanz gebiert: er ist sichtbar gewordener Ton, der nicht nur der Beschwörung, sondern auch dem Erhörtwerden von der tieferen Weltwirklichkeit dient: in ıhm vollzicht sich die Einigung des

Menschen mit dem Weltrhythmus.?” Sind die Eingeweide — die Vorsilbe »Ein« ist nicht nur ein »in«, sondern eben auch ein »ein« — einheitlich, so ist das Schla-

gen des Herzens der Ausdruck der Polhaftigkeit, genauso, wie es der Mund ist, der sowohl schweigen als reden kann. (Das Ohr kann

nur einheitlich hóren.)

Über die Wurzelverwandtschaft

der Wörter »Mythos« und »mouth« wurde bereits berichtet. Ob das Wort »Mund« auf die gleiche Wurzel »mu« zurückgeht, konnte von den Etymologen noch nicht ermittelt werden. In jedem Falle aber glauben wir die Primordialitat des Mundhatten für die mythische Struktur aufgezeigt zu haben. Und hinsichtlich des Herzens

heißt es, durchaus

mythisch,

im

Lukas-

Evangelium (II, 19): »Maria bewegte diese Worte in ihrem Herzen«, und im Matthaus-Evangelium (XII, 34) kommt der mythische

Herz

Bezug,

und Mund

die mythische

Entsprechung,

herrscht, klar zum Ausdruck:

die zwischen

»Wes das Herz

voll ist, des geht der Mund über«??. Es ist jenes Herz, das noch heute als das Organ des Mutes und des Gemütes angesprochen wird. Weder sagt man zufällig: »Fass’ Dir ein Herz« und meint

218

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

damit: »Fasse Mut«, noch gebraucht man etwa aus Willkür die Wörter »beherzt« und »mutig« als Synonyma. Abgesehen davon mag auf seine Weise jener etymologisierende Bezug nicht ganz abwegig sein, den Creuzer zwischen dem griechischen Worte »Mythos« und dem deutschen »Gemüt« herstellt32.

Wie dank der mythischen Struktur die Dinge im Herzen bewahrt oder behalten werden, so spricht man heute (aus der mentalen Struktur heraus) wahrscheinlich nıcht zufällig davon,

dafs) man etwas »ım Auge behalten« wolle. Diese Redensart ist nur einer der geringsten Hinweise auf die Primordialitat des Auges, die für die mentale Struktur Geltung erhált. Die perspektivische Welt ist eine vornehmlich gesehene Welt, so wie die unperspektivische eine vornehmlich empfundene, die vorperspektivische magische eine vornehmlich gefühlte ist. Aber die perspektivische ist gleichzeitig auch die gedachte Welt, so wie

die unperspektivische

eine geschaute*%,

die vorperspekti-

vische eine gehörte ist. Und in der Welt des Denkens ist das Gehirn das betonte innere Organ der mentalen Struktur. Dabei

deutet sich wieder einmal die engere Verwandtschaft der men-

talen mit der magischen Struktur an, denn auch das Hirn hat Labyrinth-Charakter; solange seine Funktionen vorherrschen, wird das Denken seiner Vieldeutigkeit, der es durch die Abstrahierungen zu entgehen versucht, nicht entfliehen können (s. Teil I, Kap. VII).

Wir haben bei dieser neunten und zehnten Querschnittgruppe vorerst nur andeutend Zuschreibungen für die integrale Struktur gegeben. Solche, die wir ihr zubilligen könnten, werden aus unseren weiteren Ausführungen, besonders aus jenen Manifestationen hervorgehen, die wir im zweiten Teile darzustellen haben. Vielleicht können wir es aber wagen, ohne allzugroße Mifs-

verstándnisse auszulósen, bei der folgenden Gruppe Zuschreibungen auch für die integrale Struktur vorzunehmen. Diese 11. Gruppe umfaßt einen Querschnitt durch die Realisationsund Denkformen der Strukturen, der gelegentlich unserer Ausführungen (s. Teil I, Kap. VII) noch zu ergànzen sein wird. Er vermittelt uns von ihnen, fassen wir das bisher darüber Ausgeführte zusammen, folgendes Bild (s. Querschnitt 11 auf S. 219). Diese Zuschreibungen erweisen ihre Berechtigung, wenn sie auch längsschnittmäßig unter Berücksichtigung der anderen Zuschreibungen gelesen werden, was durch die »Synoptische Übersicht« am Schlusse des zweiten Bandes ermöglicht wird. Das ein-

heitliche Einfthlen und Einstühlen dürfte das Grundlegende der

Eigenart der Strukturen

219

magischen Realisationsform einigermaßen umschreiben, so wie

das sich entsprechende polhafte Einbilden und Aussagen, das Schauen und das Stimme-Werden des Mythos für die mythische Realisationsform stehen mag; und im gegensätzlichen Vorstellen und Nachdenken, ım Sehen und Messen mag die Grundlage der rationalen Denkform ersichtlich werden. Was die integrale Struktur betrifft, so dürften die Zuschreibungen, die wir hier zusammenfaßten, bereits so weit dargestellt worden sein, dafs sich eine nochmalıge Erklärung erübrigt, jedenfalls für die des Querschnittes 11a. Die für die integrale Struktur im Querschnitt 11b gegebenen Zuschreibungen werden vor allem ım Zusammenhang mit denen der anderen Strukturen verständlich. 11. Realisations- und Denkformen

Struktur

a) Grundlagen

b) Art und Weise

Archaisch:

-

ursprünglich

Magisch:

Einfühlen und Einsfühlen Hören

vor-(prae-)rational: praekausal, analogisch

Mythisch:

Einbilden und Aussagen Schauen und Stimmen

irrational: unkausal, polar

Mental:

Vorstellen und Nachdenken Sehen und Messen

rational: kausal, gerichtet

Integral:

(Konkretisieren und Integrieren Wahren und Durchsichtigkeit)

(arational: akausal, ganzlichend)

Es ist von grundlegender Wichtigkeit, genauestens zwischen

»irrational«

und

»arational«

zu unterscheiden.

Diese Unter-

scheidung ist das Herzstiick unserer Untersuchung. Arationalitat hat nichts zu tun mit Irrationalitat; das einzige, was zwischen ihnen statthat, besteht darin, daß ohne das Irrationale das Ara-

tionale so wenig möglich wäre wie ohne das Vor- oder Praerationale oder das Rationale. Diese drei sind die Fundamente des Arationalen. Unser ganzes Bemühen, die einzelnen Strukturen

unterscheidend

sıchtbar

zu

machen,

will

ın

allererster

Linie dazu dienen, einer Verwechslung des Irrationalen mit dem

Arationalen vorzubeugen. Natürlich wird es dem bloßen Rationalisten schwerfallen, den grundlegenden Unterschied zwi-

schen beiden zu erfassen, da sich seine messenden Mittel fast nıcht auf das anwenden lassen, wodurch die aratıonale Struktur

realisierbar wird: auf das Durchblicken. Er wird möglicherweise ın den Fehler verfallen, den Mangel an Meßbarkeit, der das

Diaphainon kennzeichnet, mit der Unmeßbarkeit des Irrationa-

220

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

len zu verwechseln. Und dabei ist es noch nicht einmal erwiesen,

ob wir berechtigt sind, hinsichtlich des Diaphainon von einem Mangel an Maß zu sprechen, denn es könnte sehr wohl sein, daß es sich bei ihm um Freiheit vom Maß handelt. Aber wie auch immer man es bezeichnen möge, so sollte das Irrationale oder womöglich das Praerationale keinesfalls mit dem, was wir als

Aratıonales

bezeichnen,

ıdentifiziert

werden.

Denn

es besteht

ein grundlegender Unterschied darin, ob man über das Meßbare, es kennend und achtend, hinauszugehen versucht und damit

eine Maßfreiheit anstrebt, oder ob man, das Meßbare nicht an-

nehmend

und nicht achtend, ın das Maßlose und Unmeßbare

der nicht nur ambivalenten, sondern in der Aufsplitterung multivalenten psychischen und naturhaften Bezüge zurückfällt. Daß ein Verzicht auf Meßbarkeit noch längst nicht Maflosigkeit

bedeutet, das hat dıe »Projektive Geometrie« bereits unter Be-

weis gestellt. Vielleicht vermag dieser Hinweis vorausnehmend zu erklären,

was

wir

nur

allmählıch

im Nacheinander

dieser

Seiten und der des folgenden Teiles hoffen, so deutlich, so

transparent machen zu können, daß es evident wird.

Die dritte Gruppe nun, welche die Ausdrucks- und Äußerungsformen der einzelnen Strukturen zusammenfaßt, läßt sich durch die beiden folgenden Querschnitte 12 und 13 darstellen: Struktur

12. Ausdrucksformen

13. Äußerungsformen

Archaisch:

-

-

Magisch:

Mythisch:

Zu

Magie:

| Mythologem:

Mental:

Philosophem:

Integral:

(Eteologem:

diesen Querschnitten

Gótzen

Idol Ritual

Bitte (Gebet): Erhórung

Götter Symbol Mysterien

Wunsch (Wunschbild: Erfüllung Wunschtraum)

Gott

Dogma (Allegorie, Formel) Methode

| Wille: Erreichung

Gottheit) Synairese) Diaphanik)

ist zu bemerken,

(Wahren: Gegenwart)

daß die Zuschrei-

bungen für die magische Struktur nicht in herabwúrdigendem Sinne gebraucht werden dürfen. Der verunglimpfende Charak-

Eigenart der Strukturen

221

ter, der durch eine einseitige religiöse Betrachtungsweise heute beispielsweise dem Begriffe »Götzen« anhängt, verdirbt die heilige Intensität dessen, was sich anfänglich in den Gótzen darstellte. Wir haben keın Recht — zumal wir selber noch »abergläubisch« sind, und äußerte sich dieser Aberglaube auch nur in seiner Verneinung und Bekämpfung —, hochmütig auf diese Form des erwachenden religiösen Bewufstseins zu blicken. Die sich aus dem Querschnitt 12 von selbst ergebende Aufeinanderfolge: Götzen — Götter — Gott, enthält kein Werturteil, sondern macht lediglich die Fixierung und das zunehmend dinglichende Erfassungsvermögen des Bewufstseins anschaulich. In der Zen-

trierung auf einen Gott kündigt sich die Zentrierung des mensch-

lichen

Ich an, die in der mentalen

Struktur im Ichbewußtsein

Gestalt annımmt. Eın ähnlicher Vorgang der Fixierung stellt sıch uns ın der Ablösung des Idols durch das Symbol dar, das seinerseits durch das Dogma abgelöst wird. Das Idol ist uneingeschränkt einheitlich gültig, das Symbol ist stets polar und ambivalent, also sowohl doppelsinnig wie auch doppeldeutig, das Dogma ist einseitig fixiert und stellt den Gegensatz zu jenen her, die es nicht anerkennen. Der Aufsplitterung in einzelne Sektoren gemafs, wie sie in der mentalen Struktur statthat, erhält

das Dogma nur Gültigkeit für einen sogenannten Teilbezirk, nämlich für den religios-theologischen; andere aufgesplitterte und rationalisierte Teilaspekte des Symbols geben sich sowohl

in der Allegorie zu erkennen, dieser rationalisierten und damit weitgehend entpsychisierten Vorstellungsform, die nicht den religiösen, sondern den bildmafiglehrhaften Ausdruck gegensatzlicht und rationalisiert, als auch in der Formel,

welche die

rationale Prägung der Natur- und Geisteswissenschaften ermöglicht. Und schließlich spiegelt sich die Konsolidierung des Bewufstseins in der Transposition, die vom Ritual über die Myste-

rien zu Zeremonie und Methode führt; das eine ist jeweils die

bewußtseinsschwächere und dimensionsármere Vorform des auf ıhn folgenden.

So betrachtet, dürfte der zwischen

hende Zusammenhang

für manche Phänomene

ıhnen beste-

und Einsichten

aufschlußreich sein. Wenn wir es nun schon wagten, auch der ıntegralen Struktur teilweise solche Zuschreibungen zu geben, so muß gleich betont werden, daß der unter den Ausdruckstormen erscheinende Begriff »Gottheit«

(s. S. 170) nicht als eine

Bezugnahme auf die religiöse Sphäre betrachtet werden darf.

Wir werden noch sehen, inwiefern das »Gottheitliche« kein aus-

gesprochen »religiöser« Begriff ıst, sondern das zur Grundlage

222

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

hat, was wir mit dem Worte »Praeligio« umschreiben. Und es sei schon jetzt hinzugefügt, daß die Praeligio weder eine Religionsfeindlichkeit noch einen Religionsersatz darstellt; die praeligidse aperspektivische Welt kann des Religiósen sowenig entraten, wie die religiöse Welt der »relegio« oder deren magischer Vorform, der »proligio«, entraten kann. Die Praeligio drückt lediglich die aperspektivische Form der »Religion« aus: sie inte-

griert die archaische Präsenz, sie ist gegenwärtigend und nicht zukünftig oder rückwärtigend; aber die »Religion« bildet ihre unabdingbare Mitgrundlage. Und wenn wir in diesem Zusammenhang daran erinnern, was wir sowohl über die Gegenwärtigung, die eine Wirklichung der Präsenz ıst, als auch über das Diaphainon ausführten, so wird dieser Hinweis auf den praeligiósen Charakter des Gottheitlichen nicht überraschen. (Wir werden darauf noch gelegentlich der Erläuterung unseres Querschnittes 16 [s. Teil I, Kap. VII, 1] zurückkommen.) Und genausowenig wird der Querschnitt 13 überraschen, den wir darstellend schon im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (s. S. 192) vorausgenommen haben.

Auch das, was wir abschließend ın einer vierten Gruppe zusammenfassen, wurde zum größten Teile bereits ausgeführt. Die drei Querschnitte, die dafür noch zu geben sind, betreffen die zeithaften, sozialen und generellen Bezüge der verschiedenen Strukturen und vermitteln uns folgende Übersicht: Struk t

t

14. Bezüge

a) zeithafte

b) soziale

c) generelle

Archaisch:

u

u

All-bezogen [»kosmisch«]

Magisch:

ununterschieden

[Clan / Sıppe]

Stammeswelt

ıchlos

naturhaft

irdisch

Mythisch:

vorwiegend | vergangenheitsbezogen

Elternwelt [Ahnenkult]

ıchlos wirhaft

Mental:

[Erinnerung, Muse] vorwiegend zukunftsgerichtet [Zweck und Ziel]

|vorwiegend: Matriarchat | Sohnes- bzw. Individualwelt [Kindkult] vorwiegend: Patriarchat Menschheit:

Integral: Bra:

(gegenwartig) δε

B

-

weder Matriarchat noch Patriarchat,

sondern Integrat

psychisch

| hhaf Iennart u Ι | Materie chfre;

amateriell

apsvchisch

psy

Eigenart der Strukturen

223

Für den Querschnitt 14a glauben wir bereits ausführlich die in ihm zusammengefaßten Zeitbezüglichkeiten der Strukturen herausgearbeitet zu haben. Auch für den Querschnitt 14b dürfte das weitgehend der Fall sein. Trotzdem müssen wir ıhn noch durch einige Hinweise ergänzen. Sie betreffen das Patriarchat. Auf den Zusammenhang zwischen Rechtsbetonung, gerichtetem Denken, Recht- und Gesetzgebung und Patriarchat haben wir gelegentlich Lykurgs und Solons (s. $. 135) hingewiesen. Übrigens war Solon der erste, der Münzen prägen ließ. Durch die mentale

Struktur erhält das männliche Prinzip die Betonung.

Und die Gesetzgebung Solons steht ın einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Muttermord, wie er uns in der Orestie überliefert wurde41 und selbst ım Bereiche der Götter geschah: Zeus verschlingt eine Mutter, jene Metis, die mit Athene schwanger ging. Anders ausgedrückt: sowohl Gesetzgebung als Muttermord entspringen der gleichen, neu sich bildenden Bewufstseinsstruktur. Die Erschütterungen, die dieser Mord auslóste, müssen ungeheuer gewesen sein: sie klingen noch in der antiken Tragödie des Aischylos, in seiner Trilogie der Orestie nach; sie klingen selbst heute noch nach, ja die Konsequenzen werden immer deutlicher. Der Muttermord ist gleichbedeutend mit der Beseitigung und dem Untergange des Matriarchats. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daf$ das Matriarchat damals bereits defiziente Formen angenommen hatte. Denn »das ist nicht aus der Erinnerung des Menschengeschlechtes geschwunden, daß die Zeit der Weiberherrschaft Erfahrungen der blutigsten Art über die Erde heraufgeführt hat«^?. Durch den Muttermord wurde nicht nur das bis damals Heilige, das zum Verruchten geworden war, durch ihn wurden auch die letzten Fundamente der einst

gültigen mythischen Struktur wenn auch nicht zerstórt, so doch weitgehend reduziert ?. In der Handlung des Orest geht eine Welt unter und eine neue bricht an: und dies mit all den Begleiterscheinungen, die ein Weltuntergang an sich hat. Jener Sturz der Seele, von dem die damaligen Menschen durchfahren wur-

den, muß furchtbar gewesen sein, zumal die neue Struktur sich erst nach diesem Zusammensturz voll entfalten konnte. Welche Mühe sie forderte, spiegelt sich in der Anstrengung der antiken Helden, sich in der Welt zu behaupten **. Die Haltung eines Odysseus oder die irgendeines anderen griechischen Helden, die sich auch in Prahlerei und Selbstlob äußert, ist symptomatisch für den Zwang, den Rif, der durch den Muttermord entstanden war, nicht nur ausfüllen, sondern sich auch behaupten zu müs-

224

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

sen. Jene Ruhmredereien, die immer eher als peinliche Prahlerei und geschwätzige Aufschneiderei der Griechen aufgefaßt wur-

den, sind das durchaus nicht, sondern sie sind Ausdruck für die

Sucht und Notwendigkeit, sich selber so wichtig zu nehmen, wie es die sich vorbereitende oder bereits erfolgte Mutation erheischte. Denn

nur der noch Unsichere prahlt, weil er nur so

sich selber bestätigen kann; und so mußte sich der antike Mensch prahlerisch bestätigen, nachdem er die Geborgenheit der Mutterwelt zerstört hatte und ın die Tageshelle der säulenen Sonnentempel hınausgetreten war. Das, was damals maßvoll geschah, da es immer noch durch die Demeter- und Artemiskulte und später durch die Marıenverehrung ausgeglichen wurde, das nahm mit der einsetzenden Rationalisierung immer bedrohlichere, weil immer einseitigere Formen an. Es will fast so scheinen, als ob der materiewütige Mensch unserer Tage ein letztes Opfer der sich rächenden Mutter wäre, jener Mater, deren negativ-maßloser Aspekt ın der überhandnehmenden Materie und Materialisierung wırksam wurde. Und zudem: eine Welt, ın der nur der Mann, der Vater gilt (oder der Sohn als sein Stellvertreter), ist letztlich eine

unmenschliche Welt. Hier ıst auch die Wurzel der gefährlichsten Erscheinung des sogenannten humanıstischen Zeitalters, des Militarismus, zu suchen; die patriarchale Unmenschlichkeit besteht vor allem darın, daß im Vater nur der Vater gesehen wird;

er ist nichts als Vater, und was an thm betont wird, ist sein Vatersein, nicht aber sein Menschsein; dementsprechend

giltja

auch dieser Zeitepoche die Frau — sofern sie ihr überhaupt etwas gilt — nur als Frau, nicht als Mensch. Das »humane« Zeitalter,

vor allem jenes, das mit der Perspektive beginnt, ist wahrscheinlich das unhumanste, das

unmenschlichste

gewesen, das es je gab.

Doch mit dieser Feststellung machen wir uns nicht etwa wie Mereschkowski; oder Bergmann zum Rufer nach einer neuen matriarchalen Welt 9. Das hiefe das Rad zurückdrehen. Wohl

aber wird der Mann auf manche Anmaßungen verzichten müs-

sen, so auf jene, alles 561 sein Besitz, selbst Frau und Kind - er wird darauf verzichten müssen, damit eine Welt entstehen kann,

die weder mutter- noch vaterbetont und auch keine bloß ver-

männlichte Welt ist, sondern die in Frau und Mann den Menschen ehrt, und nicht nur menschlich, sondern menschheitlich denkt. Das aber würde bedeuten, daß, nachdem das Matriarchat

von

dem

Patriarchat

abgelóst worden

ist, nunmehr

aus dem

Patriarchat, wie wir es ausgedrückt haben: das Integrat hervor-

Eigenart der Strukturen

225

gehen würde, in dem, wie ausgeführt, weder die Frau noch der

Mann, sondern beide, einander ergänzend, und somit der Mensch

als solcher in Frau und Mann zur »Herr«-schaft gelangte. Die fahrlässigen Propagandisten des Heraklitfragmentes: » Der Krieg ist der Vater aller Dinge«*”, also die machtlüsternen, vaterbesessenen Militaristen und

Politiker, und

selbst die von deren

Mentalität infizierten Interpreten der Heraklitfragmente, kamen alle aus ihrer patriarchalen Einseitigkeit heraus noch niemals auf den Gedanken, daß es sich bei jenem autoritären Satze

des Heraklit um ein Bruchstück handeln könnte. Sie gaben, scheint es, sich noch nie darüber Rechenschaft, daß er, wie wohl

alle Aussprüche des Heraklit, nur vollsinnig ist, wenn er durch den ergänzenden Pol vervollständigt wird. Uns wurde nur das Bruchstück eines wahrscheinlich größeren Satzgefüges überliefert; und es ist symptomatisch, daß uns gerade dieses Bruchstück überliefert wurde. Denn jener Halbsatz: »Der Krieg ıst der Vater aller Dinge«, dürfte in der oder jener Fassung einstmals durch einen anderen Halbsatz ergänzt gewesen seın, dessen Sınn sich vielleicht so ausdrücken ließe: »Der Friede ist die Mutter aller Dinge.« Und selbst wenn dieser ergänzende Satz ın der oder jener Formulierung niemals von Heraklit geschrieben worden wäre, so hat er ıhn doch schweigend deutlich ausgesprochen:

denn das Buch »Über die Natur«, aus dem die uns bekannten Fragmente stammen, weıhte Heraklıt der Artemıs von Ephesos,

der »Großen Mutter«, derselben, deren Bild einst Orest, um sich

von den Erinnyen zu befreien, und auf Apollons (!) Geheif$, aus dem Lande der Taurer nach Griechenland brachte “8, Wir verweilten ausführlich bei diesem Mutter- Vater-Problem: einmal, weil es in der heutigen abendländischen Menschheit eine bedeutsame Rolle spielt, über die jeder Beichtvater und jeder Psychotherapeut Bände füllen könnte; dann aber auch, weil mit ihm das Sohnproblem,

wähnten,

das wir bereits (s. S. 146) er-

aufs engste verquickt ıst. Doch

lange nıcht Mensch

der Sohn wird so

sein, als er fähıg ıst, im Namen

des Vaters

oder des Sohnes Menschen zu töten ?: ein Vergehen, das die abendländische Menschheit Jahrhunderte hindurch auf sıch geladen hat und das, wıe jede Tat, einmal auf den Täter zurück-

schlägt. Und wer gut zu hören versteht, hört schon das sıch nahernde Echo, das aus dem »Walde« (der unlichtigen »Welt«) zurückzutönen beginnt. Und man beginnt sich zu fragen: waren der lebendigen Taten ebensoviele wie der tötenden? Aber vor allem beginnt man sich zu fragen, ob man überhaupt die Frage

226

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

so messend

und dualistisch, so unverantwortend

stellen darf;

unverantwortend, weil unbeantwortbar, es 561 denn, man über-

bände irgendeinem Vatergott von neuem rächende und strafende Gewalt. Damit Jedoch begrenzt man die Antwort auf eine bloße Entgegnung und stellt das Problem in das nie lösbare kausale und dualistische Bezugssystem. Jene Antwort aber, also jenes Wort, das unsere Fragen und Taten aufhebt %, geht gewiß nicht aus einer solchen Fragestellung hervor; denn hierbei fragt nur das sich ängstigende Ich, das Spiegel des massenhaften oder massenhaft

gewordenen

»Wir«

ist; diesem Ich wird nie Ant-

wort, wohl aber dunkles Schweigen: eın stummes Echo, das furchtbarer sein könnte als ein klingendes. Mit dem »Ich« kommen wir zu dem vorläufig letzten Quer-

schnitt (14c). In ıhm mag anschaulich werden, was wir bereits

darzustellen versuchten: die Ichwerdung des Menschen, wie sie von Mutation zu Mutation stárker in Erscheinung tritt, um schließlich in der defizienten Phase der mentalen Struktur zu jener Ich-Überbetonung zu führen, die zwischen Ich-Vereinsamung und Ich-Verhartung (der Egozentrik) schwankt, wovon

bereits des öfteren gesprochen worden ist. Im Anschluß an diese Gedankengänge mag es nicht wundernehmen, wenn wir es wagen, von der integralen Struktur als von einer »ich-freien« Struktur zu sprechen?/. Und was die beiden Begriffe »apsychisch« und »amatericll« anbetrifft — wir werden uns spáter mit ıhnen zu beschäftigen haben —, so bringen sie die aperspektivische Art, sowohl die Psyche wie die Materie zu betrachten, in dem gleichen Maße zum Ausdruck, wie der Begriff »arational« diese Betrachtungsweise ın bezug auf das Rationale umschreibt.

Die bisher erläuterten Querschnitte 1 bis 11a/b und 12 bis 14

haben wir in der »Synoptischen Übersicht« (s. S. 695-699) zu-

sammengefafst, ohne dabei Wert auf eine sowieso nie erreichbare Vollständigkeit zu legen. Sıe können uns aber trotzdem als Grundlage für die folgenden Ausführungen dienen, die gleich-

zeitig Licht auf den weiteren. Weg werten werden.

unserer Untersuchungen

5. Abschließende Zusammenfassung:

Der Mensch als Ganzes seiner Mutationen

Es ist wohl offensichtlich geworden, daß die Aufzeigung der uns

konstituierenden

Strukturen

nicht

nur

eine

theoretische,

Abschließende Zusammenfassung

227

sondern auch eine praktische Handhabe zur Klärung unseres

eigenen Lebens sein kann. Alle Überlegungen, die wir anstellen,

sind ja zuerst einmal nur das, was das Wort besagt: ein räum-

lichendes Legen, nämlich des Gedankens, über etwas, nàmlich über die Erscheinungen und Dinge. Sie sind, so gesehen, teils ein

Zudecken,

teils ein Überbauen.

Aber wir dürfen

dabei

nicht

die von

uns

stehenbleiben. Wir müssen uns davon Rechenschaft ablegen, daß mit dem Überlegen, das so betrachtet nur ráumlichende Kon-

struktion ist, rein gar nichts erreicht wird. Wir

haben

deshalb

immer

wieder

betont,

daß

geschilderten Strukturen nicht nur auf dem Papiere stehen, son-

dern daß sie Wirklichkeiten

sind, Gegebenheiten,

die uns kon-

stituieren. Gewiß enthalten sie, so wie wir sie dargestellt haben

und so wie alles Dargestellte, ein Ordnungsschema, das, wie jedes Schema, etwas Vergewaltigendes an sich hat; aber unser Schema bezieht sich auf lebendige Vorgänge, die aus sich heraus dort den schematischen Zwang korrigieren, wo dieser zu stark werden sollte. Diese dem Lebendigen innewohnende Kraft zum Korrigieren haben wir bei der sich allmahlich ergänzenden Auf-

stellung unserer »Synoptischen Übersicht« berücksichtigt: sie ist keine ZwangsJacke rationaler Stückelungen, sondern ist in den

nachprüfbaren Überschneidungen der Versuch, auf mentale Art

den ganzen Menschen in seinen Hauptkomponenten sichtbar zu machen. Und

auf dieses Sichtbarmachen,

auf dieses Klären, nicht aber

auf Erklärungen oder Überlegungen, kommt es uns an; ebenso-

wenig, wie es uns gelüstet, Deutungen zu geben, da sie sich, wie

es das Wort aussagt, nur einseitig auf das Bildmafige in uns, also auf das Mythisch-Psychische beziehen, so wenig interessiert

es uns, Auffassungen

oder Begreifbarkeiten zu vermitteln, da

sich diese, wie es die beiden Wörter aussagen, nur einseitig auf

das Messende und Meßbare in uns und in der Welt, also auf das

Rational-Materielle beziehen. Angenommen, unsere Ausführungen vermittelten uns tatsäch-

lich die Übersicht über uns und unsere Reaktionen und Hand-

lungen, die wir erhoffen, — was schon ist dadurch erreicht? Das

ist eine rationale, also eine perspektivische und zweckgerichtete Frage. Gerade deshalb stellen wir sie. Nämlich selbst vom ein-

seitigen Nützlichkeitsstandpunkt aus betrachtet, kann die Ubersicht über das, was unserem Leben die Hauptakzente leiht, klarend wirken. Wenden wir die Erkenntnisse, die in der »Synopti-

schen Ubersicht« fixiert wurden, direkt auf uns und andere an,

228

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

so werden wir manche Handlungen und Reaktionen besser verstehen, weil wir ihrer Wurzeln und Bedingtheiten ansichtig wurden. Dies ist vielleicht nicht unwichtig, denn es wird klar, daß ın jedem Menschen die eine oder andere Struktur stärker betont ıst als diese oder jene. Daraus erwachsen uns zumeist

äußerst hinderliche Folgen, und zwar deshalb, weil wir auf gewisse Geschehnisse mit inadäquaten Reaktionen antworten, ohne zu bemerken, daß diese Reaktionen inadáquat und deshalb für uns selber negativ sind. Wer beispielsweise vorwiegend im Magischen beheimatet ist, wird nur schwer den Forderungen des Lebens gerecht werden kónnen, die ihm aus der mythischen, geschweige denn aus der mentalen Struktur zugetragen werden; er wird auf eine rationale Anforderung statt diszipliniert und gerichtet oder auf einen mythischen Anspruch statt umfassend und ausgleichend, stets nur triebhaft antworten können,

affektgeladen, unbezogen-chaotisch,

also vornehmlich

magisch; das aber bedeutet, daß er in wichtigen Fragen des

Lebens

scheitern

muß.

(Dieses

Scheitern

drückt

sich zumeist

ın schweren, vorwiegend chronisch werdenden Erkrankungen aus.) Hinzu

kommt,

daß

das

Leben

die Tendenz

hat,

sich

ins

Gleichgewicht zu bringen. Da wir nun in einer Bewuftseinsstruktur leben, die wie die unsere bis zur perspektivischen Konzeption durchgebrochen ıst, müssen wir dıese Struktur ıns Gleichgewicht mit den anderen bringen können, wollen wir nicht dem Leben selbst zuwiderhandeln. Daß dieser Ausgleich vollzogen wird, indem wir ein ganzes und nicht nur ein fragmentarisches Leben führen, dies ist die Grundbedingung dafür, daß jene Mutation ermöglicht wird, die möglicherweise die dualistische Sackgasse überwinden könnte, in die wir uns hineinmanövriert

haben. Halten wir das Entscheidende fest: der Mensch ist das Ganze seiner Mutationen, und nur insofern es ıhm gelingt, die Ganzheit zu leben, ist sein Leben ein ganzheitliches. Doch wir können noch einen Schritt weitergehen: erst wenn es in diesem Sinne ganzheitlich ist, nämlich im Hinblick auf die gleichgewichtige Auslebung der uns konstituierenden Strukturen, umfaßt es nicht mehr nur potentiell, sondern zumindest bereits akut werdend die kommende Struktur. Es mag nun klargeworden sein, daf wir uns keinem bloßen Gedankenspiel

hingaben,

Hauptschwierigkeiten

sondern

mental

denkend

auf

die

hinweisen wollten, die der Realisation

Abschließende Zusammenfassung

229

eines ganzheitlichen Lebens entgegenstehen. Das Leben erschöpft sich eben nicht in dem bloß Vitalen, dessen einseitig magischen Grundcharakter die Vitalisten nicht erkannten. Und hier müssen wir noch einmal zusammenfassend auf ein Phänomen eingehen, das durchaus etwas Erschreckendes an sich hat, solange wir uns darüber nicht klargeworden sind. Es handelt sich um den heute überall feststellbaren Einbruch des defızient Magischen in unsere Welt, beziehungsweise um den Rückfall, um das Regredieren unserer rationalen Haltung ın die defizient magische. Es ıst nıcht so, daß heute nur die mythische Haltung überaktiviert würde — allein schon das Bildmäßige des Films oder die Inflation bewußtgemachter psychischer Bilderwelten sprechen eine deutliche Sprache für diesen Vorgang eines ungehemmten und unkontrollierten Rückfalls in die defizient mythische Struktur —; stärker als diese Regression ıst jene in die defizient magische: die Bezogenheit beider auf ein Außen, das heißt die Naturbezogenheit des Magischen und die Weltbezogenheit des Mentalen, bedingt zwischen diesen beiden eine stärkere Verwandtschaft als zwischen ıhnen und dem Mythischen.

Unsere Hinweise auf dieses Phänomen waren zahlreich. Wir erinnern lediglich an unsere Ausführungen über die magische

Grundkomponente des Vitalismus (s. S. 93 70). ferner an unseren

Hinweis auf die Defizienz der einander parallelen Formen des Zauberns und des Utilitätsdenkens, die beide zweckgerichtet sind (s. S. 158f.). Weiter erinnern wir an die merkwürdige Korrespondenz, die hinsichtlich des Labyrinthhaften zwischen den Eingeweiden und dem Gehirn besteht (s. S. 217 f.), worauf auch T.S. Eliot hingewiesen hat°?. Und schließlich, sehen wir ganz von dem betonten Mach-

und Machtcharakter

ab, der beiden

Strukturen in ihren defizienten Phasen eignet, so finden wir einen Hinweis auf defizient magische Äußerungsformen selbst in dem, was wir einerseits als die

Vermassungs- Tendenz,

ande-

rerseits als die Vereinsamungs- Tendenz oder Isolierung erkannten, deren gegensátzliche Spannung unsere perspektivische Welt

zu zerreißen, ja aufzuspalten droht. Denn Vermassung dürfte nichts anderes sein, als ein reaktiviertes, aber defizient geworde-

nes magisches Clangefühl; die politischen Parteien, besonders die extremen, sind ein treffliches Beispiel dafür, zumal in ihnen auch noch die fanatisch blinde Punktbezogenheit alles Magischen herrscht. Und die Vereinsamung dürfte kaum etwas anderes sein als die reaktivierte, aber defizient gewordene ma-

230

Die Mutationen als ganzheitliches Phinomen

gische Punkthaftigkeit oder Einzelung. Was in der magischen Struktur eine Einheit bildete: Clan und doch einsetzende Einzelung,

das

ist

heute,

rational

auseinandergerissen

und

ins

Extrem getrieben, defizient, also auflósend wirksam. Oder anders ausgedrückt: die Uberobjektivierung, die durch die Ratio erreicht werden kann, führt in die Isolation; die Über-

subjektivierung, die Überbetonung des Ich, führt an die Grenze der Ich-Moglichkeit, dorthin, wo das Ich in seine auch psychische Bedingtheit zurückschlägt und dadurch nicht mehr das Psychische richtet, sondern von ihm gerichtet und verurteilt wird: aufgesogen vom »Unbewußten«, Maßlosen, der Masse.

Alle jene Remeduren, die man gegen diese Gefahren vorge-

schlagen

oder eingeführt

hat, entpuppen

sich als unangemes-

sen: der Vereinsamung und Vermassung versucht man durch Einheitsparteien oder Einheitsstaaten zu steuern, die bereits durch ıhren einseitigen Machtanspruch ıhren defizienten Charakter offenbaren. Man will also defizient magische Verhältnisse durch defizient magische Maßnahmen verbessern. Mit anderen Worten

heıßt das, den Teufel durch

Beelzebub

austreiben. Be-

gnügen wir uns mit diesem Beispiel. Es enthält einen grundsätzlichen Hinweis: überall, wo wir einem Vorwiegen der Bitte — und Fanatismus ist blind gesteigerte Bitte, die nicht mehr nur erfleht, sondern erzwingen will —, überall, wo wir einem Vor-

wiegen des Einheitsgedankens begegnen, gleichgültig ob sich dieser als Lehre von der Unität, als Vereinsgründung, als Großorganisation, als Einparteistaat und so fort zu erkennen gibt, überall, wo wir dem Vorwiegen der Begriffe des Gehorchens, wie im übertrieben Militàrischen, des Gehorens, wie im Besitz-

anspruch kapitalistischer Trusts oder patriarchalischer Familien-

väter, überall, wo wir dem Vorwiegen des Emotionalen, wie bei

Volksversammlungen, Propaganda, Schlagwörtern und so wel-

ter, begegnen, überall da dürfen wir weitgehend auf vorwiegend defizient magische Äußerungsformen schließen. Und zwar sind sie defizient deshalb, weil ihr Ausschließlichkeitsanspruch (daß nämlich nur sie Gültigkeit hätten) im Widerspruch zur Gültigkeit der Äußerungsformen der übrigen Strukturen steht. Was aber, so wird man nun fragen, ist schon damit getan, womóglich: was 1st damit gewonnen, daß wir derartige Erscheinungen als defizient magisch klassifizieren kónnen? Die Antwort lautet: in jedem Falle so viel, daß wir ihnen nicht mehr wehrlos gegen-

überstehen, daß wir um ihr Zustandekommen wissen, ihre Be-

Abschließende Zusammenfassung

231

dingtheiten kennen. Und wenn wir selber auch nichts gegen sie tun könnten,

so doch

immerhin

so viel, daß

wir selber diesen

Phänomenen nicht verfallen. Wir können sıe aus der Distanz heraus übersehen und wissen, daß defizient angestrebte Einheit zu brutaler Macht und keinesfalls zu einer Kraft, aber natur-

notwendig zur Ohnmacht führen muß. Dieses eine Beispiel möge

genugen.

Beispiele, die sich hinsichtlich des Uberwiegens mythischer Konzeptionen anbieten, dürften sich nach dem Gesagten von

selbst einstellen. Überall dort nämlich, wo wir einem unmafi-

gen Vorwiegen des Bildmafsigen, Ambivalenten, Psychischen, der ungeziigelten Phantasie, Imagination oder Einbildungskraft begegnen, dürfen wir auf eine weitgehende, das Ganze oder das Ganzheitliche bedrohende, defizient mythische Haltung schlieBen. Und überall dort, wo wir in das labyrinthische Netzwerk bloßer Begriffe geraten oder betont voluntaristischen Äußerungen begegnen, also nur einseitig willensbetonten, und überall dort, wo wir krampfhaft synthetisierender (trinitárer beziehungsweise dreigliedrig-dialektischer) Versuche oder der Isolierung oder Vermassung ansichtig werden, da dürfen wir getrost auf eine defizient mentale, also extrem rationale Herkunft schließen. Diese Art, die Äußerungen, denen wir begegnen, zu betrachten, darf jedoch keinesfalls klischee- oder schablonenmäßig angewandt werden;

nur das Unmaß

ist defizient; wo sie maßvoll

ın Erscheinung treten, sind diese Phänomene alle auch heute noch effizient. Das darf nıemals vergessen werden; vergäßen wir es, so würden wir uns selber in Frage stellen. Nicht das Maß allein gibt den Ausschlag; es ist das Maßvolle, das in Maßen auch das Mafslose enthält, so wie es die Wurzel des Wortpaares Maß — Masse zum Ausdruck bringt. Diese Zusammenfassung mag ersichtlich gemacht haben: 1. alle Strukturen konstituieren uns;

2. alle Strukturen müssen ihrem konstitutionellen Werte gemäß

gelebt werden, wenn wir ein ganzes Leben leben wollen; 3. keine Struktur darf deshalb negiert werden; die Negierung tritt aber in dem Moment

ein, da die eine oder die andere

Struktur überbetont wird, was zur Folge hat, daß sich die Akzentuierung auf ihre defizienten Äußerungsformen verlagert, die stets quantitativer Art sind;

232

Die Mutationen als ganzheitliches Phänomen

4. gewisse Grundzuschreibungen und charakteristische Begriffe, die wir den einzelnen Strukturen zuteilen, machen ıhre Wir-

kung deutlich.

Mit diesem Ergebnis können wir dieses Kapitel abschließen. Die

Fundamente

dessen,

was

uns

selber

und

damit

auch

eine

mögliche neue Mutation konstituiert, dürften auf eine gewisse Weise deutlich geworden sein. Doch ehe wir uns den Moglichkeiten, beziehungsweise den ersten Manifestationen des neuen

Bewußtseins oder der neuen Mutation zuwenden, sollen in drei

kurzen Kapiteln noch zusätzliche vorbeugende Maßnahmen getroffen werden. Dieser Maßnahmen können wir nicht entraten,

weil es der neuen, modernen Manifestationen zu viele gibt, die nichts anderes sınd als reaktivierte, aber vergessene Äußerungsformen.

Da

sie vergessen

wurden,

muten

sie, wenn

sie wieder

auftauchen, wie neu an und werden irrtümlicherweise auch als

neu bewertet. Gewisse moderne Kunstrichtungen sind dafür ein gutes Beispiel. So handelt es sich beispielsweise beim Surrealismus und beim Dadaismus lediglich um Regressionen und keineswegs etwa um neue Mutationsansätze. Sie sind gewissermaßen der Schutt, der die Fundamente überlagert; sie sind hier und da sogar eine meist nicht einmal unbewußte Bemühung, diese Fundamente zu zerstören. Wir müssen uns also noch zusätzliche Unterscheidungsmittel erarbeiten, wollen wir mit Sicherheit das nur neu Erscheinende von dem tatsächlich »Neuen« unterscheiden können. Dafür aber ist es nötig, vor allem drei Betrachtungen anzustellen, die unsere bisherigen Ausführungen ergánzen sollen. Die erste betrifft das Raum-Zeit-Problem, dıe zweite das Seele-Geist-Problem, die dritte schließlich die Realisations-

und Denkformen. zeit-bedingt

Ohne eine Klarstellung dessen, was raum-

ıst, ohne

Herausarbeitung

dessen,

was psychisch

und was vermutlich geistig ıst, ohne die Einsicht, welcher Art die Realisations- und Denkablaufe innerhalb der einzelnen Strukturen

sind, können

wir keinesfalls

das

»Neue«

evident

machen. Ohne diese Abklärungen würde ımmer wieder die Ge-

fahr drohen, daß wir in das bloß Einheitliche einer Raum-Zeit-

losıgkeit, also ın das Praerationale, oder ın das Maßlose des Nichts-als-Psychischen, also in das Irrationale, unvermerkt zurückfielen, oder im bloß messenden Denken, also im Rationalen,

steckenblieben. Und gerade dies gilt es streng zu vermeiden,

wenn wir des Arationalen und des Aperspektivischen ansıchtig

werden wollen. Erst dieses Ansıchtigwerden der sich vorberei-

Abschließende Zusammenfassung

233

tenden Mutation in die integrale Struktur könnte unser Bewußtsein und unser Menschsein ın die wirkende Ganzheit wandeln. Denn diese Struktur umfaßt auch das Zukünftige, das auch uns

heute schon mitkonstituiert. Nicht nur wir formen es, es formt

auch uns. In diesem Sinne ist auch die Zukunft Gegenwart.

Fünftes Kapitel

Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

1. Die Raum-Zeitlosigkeit der magischen Struktur Wenn wır von Raum und Zeit sprechen, so müssen wir uns daran

erinnern, daß diese Begriffe von unserem Bewußtsein erarbeitet

wurden

und daß vornehmlich sie es sind, die es konstituieren

und seine Wirksamkeit ermöglichen. Der Ausgangspunkt für diese Leistung aber war die Raum-Zeitlosigkeit. Diese RaumZeitlosigkeit, die wir für die magische Struktur als charakteristisch begreiflich zu machen versuchten und die von grundlegender, ja ausschlaggebender Bedeutung fiir sie ist, gerade die Raum-Zeitlosigkeit ist nicht darstellbar. Darstellen heißt Räumlichen; wıe aber soll man

Unräumliches

räumlichen,

ohne daß

es seinen raumlosen Charakter verlóre? Wir müssen uns also nach einem anderen Verfahren umsehen. Wir kónnten versuchen — und dies Verfahren deuteten wir bereits (S. 96) an —, die praerationalen Begebenheiten

zu evozieren,

aufzurufen,

zu be-

schwören. Das aber würde zur Folge haben, daß wir uns zwar

in den magischen Zustand zurückversetzt fänden, ihn erlebten, uns aber, wenn wir aus ihm wieder auftauchten, durchaus keine

Rechenschaft über ihn abzulegen vermöchten. Sein bewußtseins-

schwacher

Schlafcharakter,

seın der Trance

ähnlicher Bewußt-

seinszustand, würde unser eigenes Bewußtsein so infiziert oder herabgedrückt haben, daß wir auf seine messenden Fähigkeiten nicht mehr zählen könnten. Erlebnis, wir wären

Wir hätten zwar ein emotionales

aber nicht fähıg, uns über das tatsächlich

Geschehene Rechenschaft abzulegen, geschweige denn, es zu beurteilen. Dieser Weg ist also auch nicht gangbar; aber vielleicht führt ein anderer zum

Ziele: wenn

es uns nàmlich

ge-

lànge, die positive Wirkung deutlich zu machen, die ein Absinken in die Raum-Zeitlosigkeit zur Folge hat, so könnten wir wenigstens eine Ahnung von dem Wesen und dem Zustande-

kommen der Raum-Zeitlosigkeit vermitteln. Denn solange wir nur auf ihre defizienten Manifestationen hinweisen, haben wir

zur Klárung dieses fundamentalen Phànomens nicht das geringste erreicht. Also scheiden wir Jetzt alle defizienten Manifestationen aus, wie zum Beispiel die Maschinenmagie unserer

Tage, etwa die Wirkung des Radios, dessen annähernd raumzeitloses Funktionieren und ausschließliche Gebundenheit an das

Die Raum-Zeitlosigkeit der magischen Struktur

235

Auditive seine magische Wurzel in dem gleichen Maße zu erkennen gibt wie die Bildwirkung des Films dessen relikthaft mythische Wurzel. Defiziente Anwendungen oder defiziente Wirkungen des Magischen können uns keinen Aufschluß über die effiziente magische Wirkmoglichkeit der Raum-Zeitlosigkeit geben. Suchen wir also nach einer positiven Manifestation. Wir haben schon früher! auf ein Phänomen hingewiesen, das sich mit rationalen Mitteln oder auf rationaler Grundlage nicht erklären ließ: die Wunderheilungen von Lourdes. Wir führten eine Be-

obachtung des Arztes Alexis Carrel an, dem es aufgefallen war, daß »die einzige unentbehrliche Bedingung für diesen Vorgang (der Heilung) das Gebet« 1st?. Im Zusammenhang damit verwiesen wir auf uns vorderhand noch unbekannte Vorgänge, die bei diesen Heilungen eine Rolle spielen und die wir als »kommunionhaft« bezeichneten. Wir haben gesehen, daß das Gebet eine magische Äußerungsform und auch eine »communio« ist (das lateinische Wort setzt sich aus dem »con« [»mit«] und dem »unio« [»Einheit«] zusammen), also ein »Mit-eins-Sein«. Das echte Gebet, das aus Not erwachst, bei den Schwerkranken aus einer

Lebensnot,

und

somit

nicht

zweckverhaftet

ıst, hat

kommunionhaften Charakter und Funktion. Es stellt die an-

fängliche Einheit wieder her; das betende Versunkensein ist ein Versunkensein in die naturhafte Eınheit alles dessen, was sich

gleichzeitig ın diesem Zustand befindet. Der einzelne erlischt gleichsam und bildet eine wirkende Einheit mit den Hunderten,

die mit ihm beten. Dabei ist der Ort Lourdes, an dem es geschieht, von entscheidender Hilfe: seine mythische Konfiguration, die wir sogleich erklären werden, ermöglicht den Ubergang von der alltagswachen mentalen über die traumartig mythische

Bewußtseinslage

in die bewußtseinsschwache,

schlat-,

fast trancehafte der magischen Raum-Zeitlosigkeit. Die magischmythische Konfiguration von Lourdes spricht sich einerseits in den Urgegebenheiten der Grotte aus, die bergende Hohle ist, andererseits in der Heiligen, die schützende und »Große Mutter« 1st, und schließlich in der Quelle,

aus der das lebendige

Wasser entspringt: magische und psychische Grundgegebenheiten, die ım Namen des einigen Gottes von der Kirche verwaltet werden. Der Heilungsvorgang ist ein Hinuntersteigen: im Glauben an den einigen Gott, hinunter zu der Dunkelheit der Quelle,

über welche die bergende Mutter gebietet, zu jener Einheit, in

welcher der einzelne ununterschieden mit allem eins ist. Sinkt

236

Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

das Tages- oder Wachbewufstsein erst einmal so weit ab, daß

die bloße Umwelt für den Betenden nicht mehr vorhanden ist, sınkt der Betende noch weiter hinunter, so daß auch die seelische

Traum- und Bilderwirklichkeit versinkt, so erlischt »unten«

ım

und wird eins mit der Einheit, der das Geeinzelte fremd

ist.

magischen Bereiche (der Grotte, der Höhle) das Einzelwesen Räumliche Grenzen und zeitliche Fristen sınd dort aufgehoben;

eines wirkt auf das »andere«, das mit ıhm eins ist; das einzelne

Organ, auch das einzelne kranke Organ, erlischt und ist (beispielsweise) nur mehr noch Hand oder Arm, insofern die Hunderte von Armen und Hánden nun grenzenlos ununterschieden und ungeeinzelt ein Arm und eine Hand sind. Jene Kraft — und der Not gehorchend ist es die effiziente Kraft, nicht die defiziente Macht des Magischen, die Gehór schenkt —, jene Kraft

zur natürlichen Heilung, die der einzelne Körper für das erkrankte Organ nicht mehr aufzubringen vermochte, wird aufbringbar durch die Einheit aller Organe. Aus den gesunden

Händen,

die mit den kranken eine Einheit bilden, fließt den

kranken Händen die Kraft zu, derer sie geeinzelt ermangelten. Ein einigendes, kommunizierendes Fluten durchstrómt ausgleichend diese Einheit der Betenden, die als einheitlicher Körper gesundet: von sich aus bringt die Natur in diesen Einheit gewordenen Organismus aller Betenden das Gleichgewicht, das herzustellen der geeinzelte Organismus nicht mehr imstande war.

Taucht

der Betende

dann

aus der Versunkenheit

wieder auf,

erwacht er wieder zu seiner rationalen Alltagswachheit, so bringt er aus der magischen Tiefe die Gesundung mit herauf. Stätten wie Lourdes sind wahrhaft religiöse Stätten, denn sie stellen die

»religio«, die Rückbindung,

her, die sich in diesem

Falle bis zum Anfänglıchen in uns, dem Magischen, erstreckt. Beschränken wir uns auf dieses Beispiel, das die Wirksamkeit

des Raum-Zeitlosen allen jenen sichtbar machen kann, die sich

aus der bloß rationalen Fixierung zu lösen vermögen, ohne deshalb sogleich in die Untiefen des ırrationalen Ausdrucks zu

sturzen.

Vielleicht ist es uns gelungen, die Raum-Zeitlosigkeit an diesem einen Beispiel ihrer Wirkung »darzustellen«. Dennoch darf nicht außer acht gelassen werden, daß sich die Heilvorgange von Lourdes auch noch anders deuten lassen. Wie immer man sie aber auch deute, ihr Hauptcharakter besteht darın, daß sich alle diese Vorgánge in der Náhe des »Zustandes« der RaumZeitlosigkeit abspielen. Es ıst allgemein bekannt, daß der ırra-

Die Raum-Zeitlosigkeit der magischen Struktur

237

tionale und praerationale Charakter dieser Heilungen, die sich in der Nichtmeßbarkeit

der Raum-Zeitlosigkeit

ereignen, die

heutige rationale Wissenschaft dazu ermächtigte, von okkulten oder parapsychischen Phänomenen zu sprechen 3. Beispiele für solche Phänomene

finden sich zu Tausenden;

im Hinblick

auf

Lourdes seı hier noch auf jenes Beispiel verwiesen, das E. Bozzano anführt^. In dem von ihm geschilderten Fall spielt die Abgabe psychischer und vitaler Energetik eine Rolle: es erfolgt die Übertragung der Vitalität eines Gesunden auf einen Kranken, die sich, durch die Ambienz des Ortes gefördert, unbewußt

vollzieht und zur Folge hat, daß der Kranke gesundet, während der Gesunde — hier eine Helferin — auf Tage hinaus sowohl psy-

chisch als physisch entkräftet ist. Hier leistet eine einzelne in

Form einer Kraftabgabe, was sonst die »Gemeinde« in Form eines Kraftaustausches leistet. Die psychische »participation ınconsciente« deutet auf den Vorgang hın, der sich fern der RaumZeithaftigkeit abspielt, aber seinen sichtbaren Niederschlag ı im raum-zeitgebundenen Körper findet. Dieser eine Hinweis auf parapsychologisch deutbare Vorgänge möge genügen. Es bieten sich zwar eine Unzahl anderer an, aber alle nur parapsychologisch erklärten Phänomene bergen

die Gefahr psychologischer

Trugschlüsse in sich, zumal ein meist falsch interpretiertes magisches Element bei ihnen eine mitentscheidende Rolle spielt. Dies Element aber ist nicht einmal mehr psychisch erfahrbar. Erklart man diese Phänomene psychologisierend, so bleiben sie einseitig, wahrend es uns auf den ganzen Zustand und Vorgang ankommt. Es stehe also das LourdesBeispiel für alle anderen und ähnlichen, zumal uns hier, im Wesen

des

Gebetes?,

ein

bereits

abgeklärter

Ausgangspunkt

zur Verfügung stand. Ein bewußtmachendes Zurückgreifen auf die Wirksamkeit des Magischen, wie es sich Stunde um

Stunde als erhaltende Kraft an uns bewährt, hätte nur dann einen »Sinn« (denn wir leben in der mentalen Struktur),

wenn es für die Lebensführung in dieser mentalen Struktur eine Kräftigung erwarten ließe. Das aber ist keineswegs der Fall; das Magische erscheint der mentalen Struktur vorwiegend chaotisch. Bricht es in das Bewußtsein ein, so erhält es Macht darüber und steigert zumeist durchaus nicht seine Kraft,

sondern

verwirrt

sie.

Deshalb,

allein

schon

deshalb,

ist die rationale Abwehreinstellung gegenüber dem Magıschen berechtigt. Es hängt ganz und gar von der Art der Gebundenheit des einzelnen ab, ob er fáhig ist, das vielfaltige

238

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

Gewebe zu durchschauen, in dem er zugleich Same ist und Blüte und Frucht. Von diesen Dingen zu sprechen, ıst nıcht ungefährlich; zumindest bringen sie die »Seele« in Gefahr; jede Gefahr ist aber entweder Untergang (in dem Meere der Seele) oder Erfahrung. Die Erfahrung, wo das Magische beginnt und wie es wirkt, kann jeder nur selber machen, und die Gefahr liegt noch »hinter« der Erfahrung und droht dem Ungewappneten mit dem Verlust seiner selbst; denn die Einheit ist nicht nur einend; vom Indivi-

duum, dem Vereinzelten 6 aus gesehen, ist sie auflösend, ist sie ein Aufgelöstwerden und Aufgelöstsein im Raum-Zeitlosen. Es soll aber an diese Dinge nicht rühren oder an sie herangetührt werden, wer seiner selbst nicht sicher ist. Auch deshalb griffen wir auf das allgemeinere Beispiel von Lourdes zurück. Erschöpfend läßt es sich nicht darstellen; innerhalb der magischen Struktur, die wir damit streiften, beginnt die für das rationale

Bewußtsein äußerst gefährliche Bezugsdichtigkeit, wo alles mit einem jeden übereinzustimmen beginnt; und zudem nähern wir uns dabeı jener Schwerkraft der Erde, der zu entfliehen das Flehen” jedes Gebetes unternimmt. Einer Kraft aber entflieht man

— dies ıst das

»Geheimnis«

—, indem

man

durch

sie hin-

durchgeht. Andere Formen dieses Durchganges sınd die alchımistische »unificatio«, die »chymische Hochzeit« der Rosenkreuzer und manche andere; die magische Raum-Zeitlosigkeit spielt nicht nur beı ıhnen eine ausschlaggebende Rolle.

Verlassen wir jedoch diese Welt des Raum-Zeitlosen, die für

unsere rationale Alltagswachheit in des Wortes bester Bedeu-

tung — ungemútlich ist. Wenden wir uns jener Welt zu, die das Gemüt und den Mut beherbergt, das Schlagen des Herzens, den

schweigenden und den sıngenden Mund: der mythischen Welt und ihrer beginnenden Zeithaftigkeit. 2. Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

In dem Moment, da das Polaritatsphanomen auftaucht, entsteht das Sich-Erganzende. Und das ist: Tag und Nacht, Helle und Dunkelheit, Himmel und Erde, Säule und Höhle. Am Athene-

Mythos haben wir gesehen, daß diese Art der Spätmythen schon

nıcht mehr reine Träume sınd, sondern bereits eine Art von Er-

wachens-Traumen, in denen das mentale Weltbild vorausgeträumt wird. Um der Zeithaftigkeit, die naturbedingt scheint,

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

239

ansichtig zu werden, dürfen wir uns also nicht zu sehr auf diese Mythen verlassen, sondern müßten zu den geschwiegenen Mythen zurückgehen. Aber ıhrer werden wir mit unserem messenden Verstande nicht habhaft; und so müssen wir versuchen, uns

auf eine andere Weise diesem Problem zu nähern. Wenn wir von der Zeithaftigkeit der mythischen Struktur sprechen, dürfen wir ıhre noch andauernde Raumlosigkeit nicht unbeachtet lassen. Aus der ununterschiedenen Helle und Dunkelheit wird der Mensch jener Kräfte ansichtig, die sich langsam aus der Bewegung herauslösen und zu bewegten Urbildern werden; diese Urbilder spiegeln die inneren und damit dunkelen und ungreifbaren Kräfte des Menschen, die man die seelischen

Kräfte nennt. Die anfängliche Bewußtseins-Schwachheit schließt

eın Dunkelsein

ın sıch; ın dem Maße,

ın dem die Bewußtseins-

Stärke zunimmt, hellen sich auch jene Kräfte auf, die sich als

Bewegung darstellen. Es ist ein raumloser oder doch raumferner flächenhafter Grund, auf dem sich dieser Prozeß abspielt.

Er ist raumlos,

wie die Nacht

raumlos

ist, die keine

ráum-

liche Tiefe, sondern nur flachige zweidimensionale Dunkelheit kennt.

Es muß anfanglich ein tiefer Zusammenhang zwischen der ersten Wahrnehmung gesetzmafiger, also stets wiederkehrender Bewegungen und der Entdeckung der Seele bestanden haben. Es ist der nachtige Himmel, von dem sich diese Bewegungen ablesen ließen; und das früheste Zeitgefühl mag daher mit der korrespondierenden eigenen Rhythmik und Energetik zusammenfallen. Platon verriet es uns in dem dunklen Worte, wonach

Himmel und Seele zugleich entstanden seien. Die Gebundenheit an das raumlos Dunkle, herauslöst,

spricht

aus dem die Bewegung

sich auch

darin

aus, daß

sich langsam

die früheste

Art,

die Zeit zu zählen, auf Nacht und Mond basiert®. Reste davon

sınd selbst noch ın unseren heutigen Sprachen erhalten: das englische »fortnight«, das »vierzehn Nächte« für »vierzehn Tage« aussagt, das gleichfalls englische »sennight« für »acht

Tage« sowie im Deutschen: »Fastnacht« und »Weihnacht« sind

hierfur Belege?.

Diesen dunklen Grund

darf man

nicht übersehen, aber er ist

bis jetzt weitgehend übersehen worden, vielleicht weıl er ım Dunkel der Raumlosigkeit liegt. Nach der Entdeckung der Punkthaftigkeit der Natur und der Punkthaftigkeit des Menschen — wir drücken uns absıchtlich abstrakt aus, weıl eın kon-

kretes Erfassen dieses Vorganges schwierig sein dürfte — stellt

240

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

sich Jetzt im Menschen die Bewußtwerdung der Eigenbeweglichkeit des Punktes ein, 561 dieser Stern, Mensch oder fliegendes Blatt. In dieser Eigenbeweglichkeit des Punktes setzt sich die Einheit in polare Bewegung um, in ein korrespondierendes Geschehen, das der Himmel spiegelt und das die Seele spiegelt. Diese

Komponenten:

Bewegung,

Geschehen,

Seele

und

auch

Himmel, die in einem gewissen Sinne das gleiche sind, gebären

am Ende der mythischen Epoche jenen Chronos und jene Zeit,

durch die der Raum erst erfahrbar wurde. Vermeiden wir es, die bereits mentale Problematik vorwegzunehmen, die vom Geschehen über die Vorstellung »Zeit« zu threr Spaltung in Werden und Sein führt! Das sind schon mentale Gedankengänge, die in der griechischen Titanologie vorformenden Bildcharakter annahmen. Wir haben es hier mit der Zeithaftigkeit der mythischen Struktur zu tun, wie sie aus der Raumlosigkeit des Punktbewufstseins entstanden sein mag. Und diese Zeithaftigkeit gründet in der Bewegung, die noch ungebunden an den Raum ıst und der Art entspricht, ın der dıe griechischen Götter sich bewegen: mıt Gedankenschnelle ungehindert den noch nicht bewußten und damit inexistenten Raum überwindend, so wie wir noch heute als Träumende die Raumlosigkeit erfahren. Solcher Art ist diese Bewegung, in der alles Zeithafte gründet. Und sie ist eine Bewegung, die von Mondphase zu Mondphase führt, von Neumond zu Neumond, von neun Monden

zu neun

Monden,

von

Geburten

zum

Sterben, vom

Frühling zum Winter, von den äußeren Gezeiten zu den inneren Gezeiten, die innen aufblühen, Frucht tragen und sich vollenden, so wıe das Jahr aufblüht, Frucht trägt und sıch vollendet, so wie dıe Sterne aufgehen, ım Zenith stehen und untergehen. So schließt sich die Welt zum Kreise: sie kreist und erhält die Kraft

des Kreisens aus ıhrer Polhaftigkeit. Dem mythischen Menschen wird die Bewegung der eigenen Seele im Spiegel des Trau-

mes, des Mythos, sichtbar und damit auch die tatsächliche Be-

wegung der Welt. Um etwas im »Außen« zu finden, muß man es erst »ınnen« gefunden haben. Die weitgehende Identifizierung der Seele mit Zahl und Stern, dıe Platon ın seinem Spätwerk aus der pythagoräischen Schule übernahm, deutet auf die Nachtgeburt des Zeitbewufstseins hin, das anfänglıch naturzeithaft, aber auch weltzeithaft war: kreisende Bewegung der inneren Kräfte, die sich in den Mythen

darzustellen

begannen,

Kräfte,

die mit den natürlichen und welthaften im Außen in komple-

mentárer und polarisierender Wechselwirkung standen. Diese

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

241

noch in ıhrer Bewegung geborgene Welt, die wiederum wie be-

wegungslos war, da ja jede Bewegung in sich selber zurückkehrte und sich aufhob 19, barst entzwei, als der zıelende Ge-

danke den Kreislauf der Sonne vorübergehend zum Stillstand

brachte: damals als Helios, entsetzt über die Geburt der Athene, seinen Lauf unterbrach, als der Gedanke, das Gleichgewicht der

Erscheinungen zerschneidend, den Kreis zerschnitt, da erst wurde unsere »Zeit« und unser »Raum« geboren, damals entstand die Gerichtetheit, derer der Kreis entbehrt, da er anfanglos und endlos ist. Erst die gerichtete Bewegung gebar das, was wir heute »Zeit« nennen.

Wenn wir von einer Zeithaftigkeit des Mythischen sprechen,

so bedienen wir uns eines den Gegebenheiten nıcht völlıg ent-

sprechenden Begriffes. Wir suchten den Fehler durch die eınschränkende Bezeichnung »Natur- und Weltzeit« zu mildern, welche die Bewegung und Bewegtheit des Hımmels und der Seele gleichermaßen umfaßt. Es ist diese Bewegung, die dem Zeithaften und dem Seeli-

schen gemeinsam ist. Schildert die eine sich in Tag, Monat, Jahr und Weltenjahr, so schildert die andere sich ın der Geburt der

inneren Bilder und ın ıhrem Vergehen oder Versinken. Diese Seele wird, gleichgültig wie man sie anschaut, stets im Bilde des Bewegten gesehen: ım Bilde des Wassers oder der Luft. Seine Gezeiten oder ihr Atem sind in dem gleichen Maße lebenformend und -erhaltend, wie es die täglichen und jährlichen Gezeiten sind. An dieser stets zeithaften Bewegung wird die Zeitart des genuin Mythischen sichtbar, an thr, die ein sich selber schließendes Geschehen ist, das sich dauernd erfüllt und in dem wi-

derspruchslos das statthat, was heute in das Wortpaar »Weg: weg« auseinandergerissen ist. Denn dieses Wortpaar, oder das Wort »bewegen«, ist der gemeinsamen indogermanischen Wurzel »wegh« entsprungen, die »bewegen« und »tragen« bedeutet und der unter vielen anderen

auch das Wort γαιήοχος (gaieochos)

entsprang, das »Erdbeweger« bedeutet. Es ist ein Beiname des Poseidon, der in der geburtentrachtigen Tiefe und náchtigen Dunkelheit der Meere herrscht!!, in jenem Meere, dessen Gezei-

ten der nächtige

Mond

bestimmt,

jener Mond,

der eın Spiegel

der Sonne ist, jener Sonne, die auch das Herz unseres Univer-

sums genannt werden könnte und welche die Bilder und Ge-

danken

weckt,

jene bewegten

Gedanken,

die einst Marıa

ın

ihrem Herzen bewahrte, jene Maria, deren Mantel das Sternenzelt ıst.

242

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

Diese Betrachtungsart mag assoziativ erscheinen, sie ist aber der Versuch, von den Dingen so zu berichten, wie sie sich in der raumlosen Zeithaftigkeit der in sich geschlossenen, bewegten Bilderwelt des Mythischen abspielen. Würden wir rationalisieren, indem wir bloß darstellten, so zerschnitten wir das Sich-

Erganzende und flachenhaft Ineinandergreifende; das, was sich als reine Bewegtheit bewährt, zerfiele dann in bloße zeitliche Aufeinanderfolge und wäre dann bloßer Ablauf. Wenn wir mit diesen spielerisch anmutenden Hinweisen, dıe aus einem lebendigen Kreis, aus einem Aufdunkeln heraus, einige der ineinanderfließenden Begebnisse aufzuzeigen vermochten und damit den Vorgang der unsichtbaren Geburt des Zeithaften antönen konnten, so wäre Bild geworden, was sich ım Bilde dem mythı-

schen Menschen anschaubar machte. Wir haben zwar nichts dargestellt, aber wir sind im Bilde geblieben (und »sind somit im Bilde«), womit wir den Gegebenheiten dieser Bewegtheit und dieser Zeithaftigkeit entsprochen haben. Verlassen wir jedoch das mythische Zwielicht, nachdem wir wahrzunehmen vermochten, daß ın ıhm das anfänglıche Element des Zeithaften so lange schlafend lag, bıs das erwachende Bewußtsein es spiegelte, so daß aus der punkthaften, eindimensıonalen Raum-Zeitlosigkeit die zweidimensionale, schon zeitnahe Welt entsprang, die mythische, die sich bewegende Welt. Sich vorzustellen, wie dieser Sprung geschah, ıst nun ohne Zweifel nicht leicht. Nach dem soeben Ausgeführten mag es moglich

sein, einzusehen, daß er geschah, ja, daf$ er geschehen

mußte. Obwohl sich dieser Vorgang in einer Welt abspielt, die unserem heutigen Denken kaum mehr erreichbar ıst, weıl die

dritte Dimension, die das mentale Denken ja erst ermöglicht, in

thr noch gar nicht existiert, so müssen wir doch den Versuch unternehmen,

uns das bisher bloß beschriebene Phänomen

anschaulich zu machen.

noch

Es gibt nun gewiß nicht viele Wege noch Mittel, um dies zu erreichen. Ja, auf den ersten Blick hin mag es scheinen, daß es überhaupt keine gibt. Bescheiden wir uns Jedoch damit, im bloß

Anschaulichen

bleiben

zu

wollen,

das

dem

Bildcharakter

der

mythischen Phänomene entspricht, so mag die Aussıcht bestehen,

daß wir zwar keine Vorstellung von diesem Vorgang, wohl aber ein Bild von ıhm gewinnen. Und es gibt in der Tat ein Bild, an dem uns vielleicht die Zeithaftigkeit des Mythischen, so wıe wir sie zu beschreiben

versuchten, auch anschaulich werden kann. Und darüber hinaus

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

243

gibt es möglicherweise einen Ton oder Klang, aus dem wir einen Hinweis darauf heraushóren kónnen, welcher Art der Vorgang war, demzufolge aus der Raum-Zeitlosigkeit des Magischen die raumlose Zeithaftigkeit des Mythischen entsprang. Betrachten wir zuerst das Bild, um uns nachher dem Klang zuzuwenden. Sehen wir zuerst auf das Gewordene und dann erst auf das Werden.

Das Bild, das wir meinen, ist die Titanen-

gestalt des Kronos. Wir übersehen dabeı durchaus nicht, daß es sich hier um einen spätmythischen Bildbericht handelt. Aber es scheint doch so, als gewinne in ıhm eine Erinnerung Bildcharakter, die ja bereits ein »zeitliches« Phänomen ist. Hınzu kommt,

dafs diese Gestalt auch Merkmale mentaler Prägung trägt; so gesehen 1st sie nicht nur ein erinnerndes Nach-Träumen, das im Bilde das einst Geschehene oder das Geschehende schildert, son-

dern sie ıst gleichzeitig auch vorausnehmendes Vor-Träumen. Das will besagen: das Kronos-Mythologem ist nicht nur Ausdruck der mythischen Zeithaftigkeit, sondern enthält keimhaft bereits die mythisierend vorausgeträumte Vorform des Begriffes Zeit. Das Wesentliche aber ist, daß es uns ein Bild des Zeithaften

vermittelt, das nicht mit unserem heutigen Begriff Zeit (úber den im folgenden Abschnitt zu sprechen sein wird) verwechselt

werden darf.

Die früheste Überlieferung des Kronos-Mythologems verdan-

ken wir dem bereits utilitaristischen Hesiod. Und wenn wir allen Quellen nachgehen, so können wir aus der sehr komplexen Bil-

der- und Geschehensfolge, in der sich sein Wesen darstellt, einige wichtige Charakteristika herauslösen, die nicht nur das Wesen der mythischen Zeithaftigkeit deutlich machen, sondern auch Hinweise, oder besser: Hınklänge auf den Entsprung dieser mythischen Zeithaftigkeit aus der magischen Zeitlosigkeitenthalten.

Kronos ist der Sohn des Uranos und der Gaia, also Kind des

Himmels

und der Erde. In späteren Zeiten, denen der Orphik,

wird, wie uns die Inschrift der »lamellae« gezeigt hat (5. 5. 140), dieses

Wissen

nicht

nur

Bild,

sondern

integriertes,

bewufstes,

personliches Wissen werden. Kronos ist der jiingste der Titanen

und der Vater nicht nur der Hera und des Zeus, sondern der Demeter, des Hades, Poseidons und Cheirons; also

jener Götter

und

Halbgotter,

die der Nachtsphäre

auch auch

der Welt

angehören. Um die Erfüllung einer Weissagung zu verhindern, derzufolge eines seiner Kinder die Herrschaft über ıhn erringen würde, verschlang er sie. Aber keine andere als Metis, die Mutter Athenes, gab ıhm einen Trank, so daß er die verschlungenen

244

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

Kinder wieder ausspie. In dem später folgenden großen Kampfe der Titanen mit den Göttern sıegte dann der Sohn Zeus über

den Vater, und Kronos wurde in die Schattenwelt verbannt?2.

Hierbei handelt es sich deutlich um den Sieg des Wachheitsprinzips über das Nacht- und Hohlenprinzip. Und die Verbannung

in die Unterwelt ist nur eine Verbannung, wenn wir sie von der

Welt des Zeus aus betrachten; sıe ıst eın Verharren ın der Höh-

len- und Nachtwelt, wenn wir die magisch-mythische Konfiguration in Betracht ziehen. Daß Kronos vorwiegend dieser Welt angehórt, geht aus den Darstellungen hervor, die auf uns gekommen sind: er trägt die Sichel (s. Abb. 22), die ein Mondsymbol ist; und er wird verschleiert dargestellt (s. Abb. 23). Der Schleier aber ist das Symbol des verhüllenden Nachthimmels.!*

Abb. 22: Kronos mit Sichel (Aus einer hellenistischen Kupferschale) Abb. 23: Verschleierter Kronos (Nach einem pompejanischen Wandgemälde)

Merkwürdigerweise verdeckte

Haupt,

konnte dieses Charakteristikum,

bisher

nicht

gedeutet

werden,

das halb-

obwohl

Hild

selbst den Ausdruck gebraucht: die von hinten über das Haupt gelegte »draperie« sei »en forme de voile« 15, Da in dieser Form

aber auch die Nacht, soweit sie personifiziert dargestellt wurde,

verhüllt wird, wobei diese Verhüllung oder Verschleierung den

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur Nachthimmel

245

symbolisiert, dürfte es nicht abwegig sein, diese

Gewandung des Kronos als eine Nachtsymbolik zu deuten. Daß dieser »Schleier« auch hier ein Nachtsymbol ist, geht noch aus

einer anderen Tatsache hervor. In der allerfrühesten, einer archaischen Darstellung, ist Kronos nämlich noch unverschleiert;

aber dafür umgibt seinen Kopf eine Einfassung, die, soweit sie erhalten ıst, eine Doppelreihe heller Punkte aufweist, welche aus dem dunklen Kreis hervorleuchten (der untere Teil mag ládiert oder ausgelöscht sein). Man darf wohl vermuten, daß

Abb. 24: Kronos (als Schildzeichen; von einer archaischen Ton-Pinax ın Eleusis; nach einer Pause Roschers)

dieser Kreis den gestirnten Nachthimmel symbolisierte, der in

späteren Darstellungen dann als Schleier oder Mantel das Haupt verdeckt. Diese Deutung wird noch durch die Tatsache gestützt,

daß diese Zeichnung ein Schildzeichen ıst, also die Kreistorm

par excellence aufweist (s. Abb. 24) 16. Der mythische Bericht von Kronos läßt seine Nachtbezogenheit erkennen. Es schildert sich in ihm nicht nur das Wesen der

Zeithaftigkeit, die erzeugt und vernichtet (kenntlich gemacht 1m Verschlingen und Wiederausspeien seiner Kinder), sondern vor

allem handelt er im nächtlichen Bereich, über den der Mond ge-

bietet, der sich desgleichen

mehrt,

wenn

er zunimmt,

sich um

die Mehrung vermindert, wenn er abnimmt. Dieses Moment der

Bewegung und die weiteren Momente: dafs er aus der mythischen

Polarıtät von Himmel und Erde hervorging, daß er den Impuls

der Zeithaftigkeit durch Metis empfing, deren Trank aus dem Verschlingenden einen Gebenden macht (der zudem das Leben bewahrt, denn die ausgespienen Kinder leben), — all diese Momente stellen Kronos in die Konfiguration jener erwachenden Zeithaftigkeit, die sich in seinen. Taten und Leiden schildert.

246

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

Hier wird

die mythische

Polaritat sichtbar, welche

die Seele

weckt; oder, wie man es auch ausdrücken kann: bier erwacht die Seele, deren Bewegung kreisschliefSend ist, und damit erhält

die Polarıtät Wirkcharakter. Im Kronos-Mythologem spielt sich ab, was wir eingangs dieses Abschnittes zu deutlichen versuchten: daß das Zeithafte nicht

nur

nächtlicher

Herkunft,

sondern

nächtlicher

Art

sei.

Und es zeigt sıch von neuem der enge Bezug zwischen der Ener-

getik der Seele und der bewegten Zeithaftigkeit. Auch in dem

Anklang des griechischen Wortes für Zeit, χρόνος (chronos), mit dem Namen des Titanen Κρόνος (Kronos) kommt das zum

Ausdruck. Und zwar auch dann, wenn nicht alle Etymologen gewillt sind, die beiden fast homonymen Wörter auf die gleiche Wurzel zurückzuführen, die ohne Zweifel »gher« ist. Diese Wurzel bedeutet »begehren, streben, bedürfen« und enthält so-

mit bereits von sich aus eine Bewegungstendenz, welche in einem zielhafteren Maße jener Wurzel »ma:me« innewohnt, die einen Teil des Namens »Metis« bildet. Und Metis war es ja, die mit ihrem. Trank bei Kronos das wechselnde Geschehen ausloste 17, Das Kronos-Mythologem ıst also vornehmlich eine Bildfolge

nächtlichen Geschehens: es macht uns die Zeithaftigkeit der Nacht anschaulich. Damit hätten wir aus dem mythischen Beispiel den Charakter dessen abgelesen, was »mythische Zeit« ıst: nämlich das immerwährende

Sich-Erfüllen des Kreises, der ja

von sich aus Symbol der Seele ist. Und so mag am Bilde die Zeithaftigkeit des Mythischen anschaulich geworden sein.

Wie aber können wir der Entstehung dieser Zeithaftigkeit ansichtig werden? Das heıßt, welche Mittel stehen uns zur Ver-

fügung, um jene Mutation zu deutlichen, mit der aus der magischen Zeitlosigkeit die mythische Zeithaftigkeit entstanden ist?

Und es sei angemerkt, daß wir hier in des Wortes reiner Bedeu-

tung von Ent-Stehung sprechen dürfen; es handelt sich ja bei der Bewufitwerdung der Zeithaftigkeit um den Vorgang, wie aus der Zeitlosigkeit, die ein Zustand ist, die Zeithaftigkeit ent-steht, die diesen Zustand durch Bewegtheit auflost, die also ein echtes Beseitigen des Be-Stehenden, ein Ent-Stehen ist.

Sobald wir uns der magischen Struktur nahern, verblassen die

Bilder. Ihre Raum-Zeitlosigkeit ist nicht nur vorstellungsfern, sondern auch bildfern. Es gibt nur ein letztes Mittel, sich ihr anzunahern: den Klang. Oder, wenn wir so wollen: wir müssen

versuchen, gewisse sehr differenzierte »Ur-Klange« horbar zu

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

247

machen, denn vornehmlich das Ohr und die ıhm wahrnehmba-

ren auditiven Werte vermögen

uns die magısche

Welt zu er-

schließen. Wo aber finden wir diese Werte? Es durfte nicht verfehlt sein, sie im Klang der Wurzeln zu suchen. Wenn wir das zu tun wagen, dann freilich werden Zusammenhänge und Vorgänge hörbar, von denen wir uns auf andere Weise keine Rechenschaft ablegen können. Deshalb kann zum Beispiel eın gravierender Klangwandel ın einer Urwurzel im besten Sinne des Wortes aufschlußreich sein, da er uns Vor-

gänge der magıschen Struktur erschließt, die wir bild- oder vorstellungsmafsig weder anschaubar noch nachdenkbar machen können. Allerdings ist es für unser grob gewordenes Gehör kaum mehr moglich, die ursprüngliche Laut-Differenziertheit wirklich zu werten. Dieser Mangel an Nachhorbarkeit wird manchen hindern, den Vorgang zu realisieren, wie er sich in einem gewis-

sen Klangwechsel, der sogleich zu beschreiben ist, darstellt. Wir werden noch sehen, dafs die Wurzelgruppe »gher: ger: ker:qer«, von der selbst Walde sagt, daß ihre gutturalen Anlaute in engster Nachbarschaft zueinander stehen/?, äußerst komplexen Charakters ist und einen sehr bestimmten Lebensbezırk zum Ausdruck bringt. Bevor wir jedoch darauf eingehen,

müssen wir eine ergänzende und entscheidende Überlegung an-

stellen.

Wir lernten bereits die Wurzel »kél« kennen (s. S. 188). Sie hat die Bedeutung »bergen (in der Erde), verhüllen«!?. Die

Fülle der Worter, die aus ihr hervorgegangen ist, trágt ein Cha-

rakteristikum, das sich mit » Geborgenheit, Finsternis« umschrei-

ben läßt und im Bilde der »in sich ruhenden Hohle« anschaulich

wird, jener Höhle, die ja auch Sinnbild des Magischen ist. (Eine

Zusammenstellung der wichtigsten Worter, die auf diese Wurzel

»kél« zurückgehen, findet sich im Kommentarband, und zwar in der ersten unserer »Anmerkungen zur Etymologie«.) Ganz anders dagegen verhält es sich mit der Wurzel »ker« bzw. mit den Wurzeln »gher, ger und ger«. Sie drücken samtlich eine Bewegung aus, teilweise, wie Walde-Hofmann sagt, »bezeichnen sie eine heftige Gemütsbewegung«, vor allem aber: die aus ihnen hervorgehenden Wörter umschreiben eine ganz bestimmte Bewegungsart: ein Drehen. Spiegelt sich in der Wurzel »kel«

die in sich ruhende

Höhle,

die raum-

und

zeitlos ist, so

spiegelt sich in der Wurzel »gher:ker« der sich bewegende Kreis. In dem Moment, da sich das Kronos-Mythologem bildet,

entspringt aus der magischen Hohlenwelt die mythische Nacht-

248

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

und Traumwelt, aus der heraus dann später die mentale Tag-

welt mutieren wird. (Sıehe im Kommentarband die zweite und

dritte unserer »Anmerkungen zur Etymologie«, welche die Wörter der Wurzelgruppe »qer:ger(gher):ker« ihr verwandten »kel :gel :qel« aufführen.)

sowie

die der mit

Anders ausgedrückt: im Moment, da das L der Wurzel »kel« sich in das R der Wurzel »gher:ker« verwandelt, wird die Zeithaftigkeit, die eine Bewegtheit ıst, geboren. Es ıst, als beginne die in sich ruhende Höhle sich zu bewegen, eine Bewegung, die zu ihrer Darstellung einer Dimension bedarf, welche die nur eındımensionale Höhle noch nicht besıtzt: ım Kreisen wird sıe sichtbar,

im Kreisen

des nächtlichen

Hımmels,

in jenem

χορός

(choros) und jenem κύκλος (kyklos = Kreis, Scheibe!), die aus

der Wurzel »gher« und der dieser benachbarten Wurzel »qel« hervorgingen und das Raumlose in die Fläche verwandelten. Zyklische Bewegung und Chorhaftes, das nicht nur »Reigen und

Tanz« bedeutet, sondern auch »Sternenreigen, die regelmäßige

Bewegung der Sterne«, schneiden (um es paradox auszudrücken)

aus dem Raumlosen die polare Flache heraus. In dem Klangwechsel vom L zum R, der uns heute geringfügig erscheinen mag, vollzog sich, heute noch nachhörbar, die Geburt

der Zeithaftigkeit. Denn darüber, daf das L vor dem R war,

dürfte kein Zweifel bestehen. Noch heute fállt es Volkern, wel-

che dem magischen Bereiche nàher stehen als wir Europaer,

schwer, das R zu bilden, das sie, wie beispielsweise die Chinesen,

wie ein L aussprechen. Wenn

wir auf die Qualität der drei Konsonanten (bzw. So-

nanten) K, L und R achten, so wird die Mutation deutlich, mit

welcher die mythische Struktur Wirklichkeit wurde. Das K, ein

Kehllaut, wird an der geborgensten, hintersten, an der dunkel-

sten Stelle der Mundhöhle gebildet 2°. Schließt sich ihm das L an, so wird der ganze Ton (solange es sich um ein E handelt),

der durch das gutturale K erzeugt wird, noch im aufgefangen: kel ist ein gewissermaßen in sich der innen in der Mundhóhle tönt. Schließt sich das R an, das anfänglıch stets ein dentaler und

Munde drinnen ruhender Laut, dem K dagegen kein gutturaler

Laut war, so dringt der ganze Ton, der vom K ausgeht, vibrie-

rend nach außen. Das K ist ein geborgener Laut, das L ein bergender, das R ein aggressiver. Schon Ebner, der ein gutes Ohr

für diese

Zusammenhänge

hatte,

ist der

gravierende

Unter-

schied zwischen dem L und dem R aufgefallen, wenn er schrieb: »Das R, lautlich der Gegensatz zum reibungslosen L, scheint

Die Zeithaftigkeit der mythischen Struktur

249

tatsächlich das Lautzeichen für das Erlebnis eines Widerstandes oder auch dessen Überwindung zu sein« 2. Noch in den Aus-

drücken, mit denen (um

nur ein Beispiel herauszugreifen) die

deutsche Musikterminologie die Tonarten bezeichnet, tragen die dunklen

Tonarten

L-Charakter,

dıe helleren R-Charakter,

einen werden »Moll/«-, die anderen »Dur«-Tonarten genannt.

die

Im Moment, da das R entsteht, löst sich aus dem einheitlichen

KL der Gegenpol. So gehört, kann man das R auch als den PolLaut oder als den polaren Laut zum L bezeichnen. Oder auf unser Bild angewandt: Kronos ıst der erwachende Pol der ruhenden,

geborgenen

Finsternis. Und

als solcher ıst er, ja kann

er nichts anderes sein als die bewegte Nacht. Das aber heißt: er ist die mythische Zeithaftigkeit, das Bild des in sich zurückkehrenden

Kreises, der erzeugend

ıst und vernichtend,

und wieder

erzeugend und wieder vernichtend, dem Reigen der auf- und untergehenden Sterne gleich, dessen Rhythmus sıch noch ın manchen Volkstänzen darstellt, beispielsweise der katalanıschen »sardana«, die wie so viele andere ein Reigentanz ist, in dem die mythische Zeithaftigkeit sichtbar ausgedrückt noch heute weiterlebt.

Es mag nun scheinen, daß wir diesen Wurzelverhältnissen zu viel Wert beimessen. Das ist richtig, insofern wir sagen, daß wir ihnen einen Wert beimessen, weil der echte Wert nicht gemessen

werden kann. Was wir tun, ist lediglich der Versuch, den auditiven Werten, welche der magischen Struktur eignen, die adäquate Rolle zuzuerkennen. Wie wenig zufällig die Bildung des R ist, ın dem sich oder durch das sich gewissermaßen eine neue Dimension konstituiert, die erst den zweidimensionalen, polaren Bildcharakter des Mythischen ermöglicht, geht daraus hervor, daß aus der Wurzel »regh«, welche die Spiegelwurzel von »gher« ist, jene Wörter entspringen, welche die der Spiegelwurzel eigene Sinnumkehrung ausdrücken. Was aber ıst denn die Umkehrung, besser, der Gegensatz zu der Drehbewegung und zum wachsenden Kreisen, welche der Wurzelgruppe »qer:ger (gher) :ker« eignet, wenn nicht die gerade Bewegung? So kann es auch nicht wundernehmen, daß im Gegensatz zur Bedeutung des zeithaften, richtungslosen Kreisens, welche diese Wurzelgruppe hat, die Spiegelwurzel »regh« eine »Bewegung ın gerader Linie« bezeichnet 22. Und jene Wörter, welche ın den abendländischen Sprachen »rechts« und »gerichtet« bedeuten, gehen auf diese Spiegelwurzel »regh« zurück (siehe im Kommentarband die vierte » Anmerkung zur Etymologie«).

250

Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

Mit der Erwähnung dieser Spiegelwurzel (die ja auch deutlich das männliche Prinzip, das für die mentale Struktur charakteristisch ist, erkennen läßt) haben wir uns bereits von der mythıschen Zeithaftigkeit entfernt und nähern uns dem mentalen Begriff »Zeit«, der eine Gerichtetheit enthält. Diese Spiegelwurzel »regh« wird freilich erst aktiv in dem Moment, da die Rechtsbewegung einsetzt, die wir im zweiten Kapitel geschildert haben.

Verlassen wir jetzt Jene rhythmische Zeithaftigkeit, aus der heraus und in der die Sterne leben und unser Herz. Verlassen

wir diesen Bezirk, in dem der unerbittliche Ablauf des Gesche-

hens das Schicksal des Menschen in die Gezeiten eınspannt, ın dem das unentrinnbare Schicksal waltet, aufgehend und untergehend. Wenden wir uns nochmals jenem Versuche zu, den das Abendland unternahm, um aus der Schicksalsgebundenheit und aus der Befangenheit in der Seele hinauszutreten. Wenn wir diesen Versuch jetzt unter dem Aspekt des Zeitlichen betrachten,

so wird vielleicht deutlich werden, wie der Schritt aus dem kreis-

haften Bild des Zeithaften zur Vorherrschaft des mentalen Zeitbegriffes zu führen vermochte. 3. Die Raumbetontbeit der mentalen Struktur

Hatten wir, um die Zeithaftigkeit des Mythischen ersichtlich zu machen, auf die Raumlosigkeit des Mythischen zurückgreifen müssen, so müssen wir nun zuerst nach der Zeitart des Mentalen

fragen, um die Raumbetontheit des Mentalen darstellen zu können;

das

heißt

aber,

nach

der

»Zeit«

fragen,

eine

Frage,

die

durch die philosophischen Anstrengungen während zweitausendfünfhundert Jahren nıcht gelöst wurde — oder höchstens individuelle Lösungen, Erklärungen oder Abstraktionen zutage förderte. Wir werden uns keineswegs bemühen, eine philosophische Lösung zu geben, noch werden wir sie in naturwissenschaftlichen Forschungsresultaten suchen; und selbst der psychologische Ansatzpunkt wäre hier irrelevant, da er nur ein

Teilaspekt teils des philosophischen, teıls des naturwissenschaft-

lichen Aspektes 1st. Wir müssen also nach einem anderen Ansatz-

punkt suchen.

Mythische Zeithaftigkeit ıst etwas anderes als mentale Zeitlichkeit. Die natur- und weltzeithafte Bewegung kennt noch keine Zeitphasen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft;

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

251

sıe kennt nur das polare, sıch ergänzende Kommen und Gehen,

durch das sie jederzeit erfüllt ıst; denn sie ıst richtungslos, während Vergangenheit und Zukunft, von der jeweiligen Gegenwart des jeweiligen Menschen aus gesehen, Zeitrichtungen sind. Der Richtungs-Charakter der »Zeit« unterstreicht, daß sie

ein mentales Phänomen

ist und damit konstitutionell verschie-

den von der naturzeithaften Bewegung, die ein mythisches Phänomen ist. Oder anders ausgedrückt: die Zeit ist infolge ihrer Gerichtetheit verschieden von der Zeithaftigkeit. Mit einem blof{en Regredieren in die mythische Bewegung ist deshalb die

Frage nach der Zeit, jene nach unserer mentalen Zeit, weder beantwortbar noch losbar. Gehen wir einen Weg, den wir schon Ofters gegangen sind: fragen wir nach der Wurzel dieses Wortes »Zeit«. Da ergibt sich nun, daß alle Wörter unserer Sprachen, die »Zeit« bedeuten,

also sowohl das deutsche »Zeit« als das englische »time«, das lateinische »tempus« so gut wie das französische »temps« und so fort, auf die indogermanische Wurzel »da« zurückgehen25. Dieser Wurzel sınd wır bereits begegnet: es ıst jene, dıe auch das griechische Verbum δαίω (daio) bildet, das im lonischen, der ursprünglichen Sprache der griechischen Philosophie, »teilen,

zerteilen, zerlegen, zerreifsen, zerfleischen« bedeutet. Diese Wur-

zel »da« formt im Sanskrit »dayate und dayatı«, das heißt: »er teilt, er schneidet«; aus ihr ging auch unser Wort »Teil« hervor;

und sie ist, wie wir bereits gesehen haben (s. S. 159 u. 191 7%), in dem Worte »dämonisch« enthalten.

»Zeit« will also sagen, daß sie Teiler ist, daß sie sowohl ein-

teilt als zerschneidet. Jedoch: Einteiler und Zerschneider wes-

sen? Wir dürfen ohne Zweifel so fragen, obwohl wir heute wissen — und es wird dies noch auszuführen sein — daß die »Zeit« zu einem Abstraktum wurde. Es erging ıhr nıcht anders als anderen mythisch konkreten Bildern; es gibt nicht eines, das sich im mentalen Bereich nicht in den rationalen Begriff verwandelt hátte. Auf unsere Frage nun, was die Zeit, die teilend ist, konkret zerschneide, finden wir eine Antwort, wenn wir uns der mythischen Konfiguration bewußt bleiben. Wir haben des öfteren

darauf hingewiesen, daf$ sich das Magische im Dunklen, ja im Finstern abspielt, daß das Mythische sich in Nacht und Traum vollzieht, denen bereits das Zwielichtige angehört. Das Mentale aber stellt sich in der Tageshelle dar. Anfänglich bestand ein enger Bezug zwischen »Tag« und »Zeit«, ja, bis zu einem ge-

252

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

wissen Grade eine Identität, denn beide Wörter gehen auf die gleiche Wurzel zurück. Was aber kann es in einer auf die Nacht bezogenen Welt heißen, wenn für die Bildung des Wortes, das Tag (lateinisch: dies) ausdrückt, die Wurzel dienstbar gemacht wird, die von sich aus »teilen«, »zerschneiden«, bedeutet — doch

nıchts anderes, als daß ım Anfang der mentalen Struktur der »Tag« nicht in unserem heutigen Sinne aufgefafst wurde, sondern als ein Teiler und Zerschneider der Nacht. In dem Maße nun, in dem das Taghafte mit dem Erwachen der mentalen Struktur das Übergewicht über das Nächtige und Zwielichtige erhält, werden auch die »táglichen Dinge« mehr betont. Nicht nur erhält die Rechtsbewegung, wie wir gesehen

haben, das Übergewicht über die stets ıns Dunkle zurückführende Linksbewegung. Auch das Gerichtete sıegt (das Rechte usurpierend) über das kreishaft Ungerichtete. Oder: das durch

den Menschen Zubereitete überwiegt gegenüber allem ıhm bloß Bereiten. Es ist kein Zufall, daß wir von »Gerichten« spre-

chen, wenn wir die Mahlzeit meinen. Sie sind Dinge des Tages; sind durch die Zeit bestimmte Verrichtungen; die Mahlzeiten sind die täglichen Dinge par excellence, »die Essenszeit war die Zeit κατ᾽ ἐξοχήν (= schlechthin)« 25. Schon unser Wort »Mahlzeit« ıst ın dieser Hinsicht aufschlußreich, enthält es doch die

beiden Wurzeln ma:me und da:dı. Mit anderen Worten: sie mifst und teilt, und auf sie hin sind die Handlungen des Tages gerichtet 2°.

In diesem Zusammenhang können wir auf Ausführungen von Claude-Sosthene Grasset d’Orcet zurückgreifen, dıe auf eıne Opferhandlung Bezug nehmen. (Dabei wollen wir nicht einmal

der wichtigen Tatsache Beachtung schenken, daß Opfer und Opferhandlung ursprünglich von der Mahlzeit ungetrennt waren, während heute ein Opfer meist nur noch eın bloßer Verzicht ist.) Er schreibt: »Doush nannten die Hebräer jene Todes-

strafe, dıe sıe gleich den anderen Völkern des Altertums über die Kriegsgefangenen verhängten. Sie legten sie auf die Tenne, auf welcher der Weizen gedroschen wurde, mitten in die Garben und ließen über sie jene tranchants«) bestückten heute im ganzen Orient Dreschen bedient. Diese

mit schneidend scharfen Steinen (silex Schlitten fahren, deren man sich noch zum Zerkleinern des Strohs und zum Schlitten trugen im Griechischen den

Namen >tribolos: und im Hebräischen den Namen »doush«. Die Reinigung durch den Tribolos war eines der Hauptdogmen des

Bacchus-(Dionysos-)Kultes,

und für seine Adepten waren Tri-

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

253

bolos und Hades Synonyme. Auf den griechischen Vasen ist der Tribolos als Wagen dargestellt, der von drei Pferden gezogen wird, und den eine Gottin lenkt, die TIS oder DAIS

heißt, das

besagt: die Teilende (celle qui divise). « 26 Wir haben diese Stelle angeführt, weil sie Einblick in einen Vorgang gewährt, der für den Begriff Zeit wesentlich ist. Und dieser Vorgang ıst die Geburt, besser: die Mutation der Zeit aus der Zeithaftigkeit, die sich aus diesem Bericht herauslesen läßt. An dem Kronos-Mythologem, vor allem aber an dem Lautwandel, wie er in den Wurzeln »kel« und »gher« hörbar wird, haben wir uns die Entstehung der mythischen, nachtbezogenen Zeithaftigkeit aus der magisch in sich geschlossenen dunklen und

zeitlosen Höhlenwelt zu deutlichen versucht. An den Ausführungen d'Orcets, in deren Kontext sich allerdings das Wort oder

Thema

»Zeit«

nicht

findet,

wird

ersichtlich,

welcher

Art

der

Vorgang war, in dem sich aus der mythischen Zeithaftigkeit die » Zeit« zu lösen vermochte.

Ehe wir auf diesen Text eingehen, der Wort für Wort äußerst aufschlußreich ist, sei noch vorausgenommen, daß dats (dais)

im Griechischen »Portion, Mahl, Mahlzeit, Anteil« bedeutet. Leider läßt sich nicht feststellen, woher Grasset d’Orcet Kennt-

nıs von der Göttin TIS oder DAIS

hatte. Alles was wır ın der

uns zugänglichen mythologischen Literatur über sıe ausfindig machen konnten, beschränkt sıch auf zweı ergänzende Fakten:

dafß das Wort beziehungsweise der Name dieser Göttin auf die Wurzel da:dı zurückgeht, der ja auch das Wort »Zeit« ent-

sprang; und daß uns, bezeichnenderweise, nur aus der griechischen Spätzeit eine Göttin dieses Namens überliefert ıst. Eın Fragment des Sophokles nämlıch lautet: ἦλϑεν δὲ Δαῖς ϑάλεια πρεσβίστη dev, was nichts anderes heißt, als: »es kam aber die blühende Dais, die Älteste der Gotter« 27.

Mit den Interpretationen bei Roscher, Pauly-Wissowa und jener von Gruppe, daß Dais lediglich als Personifikation der Mahlzeit in den Stand der Göttin erhoben wurde, wird übersehen, daß es Dais ist, welcher der bestimmende Rang der ältesten

Göttin

zugesprochen

wird.

Mit

anderen

Worten:

wichtig

ıst

nicht nur, daß personifiziert wird, sondern was personifiziert

wird. Wenn Sophokles dieser Göttin, die in der Mythologıe an-

scheinend keine offensichtliche Rolle gespielt hat — daß sie eine geheime gespielt haben muß, geht aus den Ausführungen von Grasset d’Orcet hervor und aus der Bemerkung von Harrison, daß sie wie Thaleia ein dämonisches Prinzip im magischen Op-

254

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

ferritual dargestellt habe —, eine solche Betonung verlieh, so geschah dies entweder, weıl er um ıhren kronos-tötenden Bezug

wufte, oder, da die Mahlzeit die Zeit κατ᾽ ἐξοχήν ist, weil er dieser Zeit, die eine gerichtete und richtende ist, in seiner Welt-

vorstellung, der mentalen, die bedeutendste Rolle zusprach. Denn dies dürfen wir aus der Schilderung Grasset d’Orcets herauslesen: Dais ist die Uberwinderin des Kronos und somit Vorbild der Uberwindung der mythischen Struktur durch die mentale. Darauf weist die Art des Opfers hin. Es ist kein reines Opfer; es ist keine vollständige Preisgabe eines lebenswichtigen Elementes der eigenen Konstitution; es ıst Loskauf und trägt in seiner Grausamkeit Züge jener defizienten Opferhandlungen, wie sıe für alle Rituale, ja selbst für gewisse Mysterienhandlungen der sıch erschöpfenden mythischen Struktur charakteristisch sind 78, Daß es sich jedoch in diesem Ritual um eine Auseinandersetzung der erwachenden mentalen Zeit mit der mythischen

Zeithaftigkeit handelt, dies geht aus dem Kontext deutlich her-

vor: Dais, die das teilende Prinzip sinnbildlicht, imitiert einerseits Kronos, der das kreisende Prinzip repräsentiert, andererseits

tötet sie aber dank der Kraft des teilenden des Kronos-Prinzips: nıcht Garben werden schen«!), sondern der lebendige Mensch: der noshaft ist die nächtliche Konfiguration, die der Pferde gegeben ist. Wir wiesen bereits (s. daß

die

Dreizahl

lunaren

Charakter,

Prinzips die Macht geopfert (»verdroGefangene 2°. Krodurch die Dreizahl S. 147) darauf hın,

erst die Trınität

solar-

mentalen Charakter hat‘. Dieser Kronos-Aspekt wird verstärkt durch den Ort, an dem das Opfer stattfindet: die Tenne, und durch die Gleichsetzung der Geopferten mit den Garben,

die, wıe wır gesehen haben, Kronos-Charakter tragen. Und er wird zusätzlich, in der orphischen Tradition, durch die Gleichsetzung des Tribolos mit dem Hades

betont. Der Hades aber

ıst der Lebensbereich des Kronos. Dorthin wurde er »verbannt«,

in jenen Weltteil oder Weltbezirk, der vom »Acheron« durchflossen wird; und dies will besagen, daß die bereits zeithaft geartete, nächtliche Unter- und Schattenwelt ihr Leben, ihre Quelle in der Zeitlosigkeit habe. Denn »Acheron« bedeutet ja nichts

anderes

als

»nichtzeithaft«,

oder

wie

Grasset

d'Orcet,

ohne es zu erklären, schreibt: »(Land), wo man die Zeit nicht

záhlt« ?!. Andererseits

verweist

der

Wagen,

die griechische

ἅρμα (harma), zu welcher der Tribolos im orphischen Kult wird,

auf den initialen Charakter dieser Opterhandlung hın, denn die Wurzel dieses Wortes ist »ar:(r)«32. Diese Opferhandlung,

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

255

die eine Reinigung war, war eine der bedeutsamsten jener Orphi-

ker, ın deren »lamellae« sıch, wıe wır gesehen haben, bereits das

mentale Prinzip manifestierte. Welches aber war die Schuld, von der sıe sıch reinigen mußten, wenn nıcht ein Vergehen gegen das Mythische, das auch Kronoshafte, das für sie das Althergebrachte war, und aus dem sie, sich nach rechts wendend, hinaus-

traten? Da sie selber nicht mehr in Übereinstimmung mit dem zeithaft Mythischen lebten, opferten sie diesem Prinzip jene Gefangenen, jene, die ıhnen unterlegen waren (und die damit

ihnen Unterlegene waren) und als solche noch dem mythischen

Bereich angehörten, den sıe selber bereits verlassen hatten. Sie

opferten mit diesen Gefangenen, mit diesem ihrem Besitz, ihre mythische Struktur, um sıch, und dies ıst doppeldeutig genug, zu reinigen.

Im

mythischen

Bilde jedoch

vollzieht

Dais

dies

Opter, das sie selber darbringen. Also ist Dais das Prinzip, das in ıhnen herrscht, wenn sie das Kronos-Opfer begehen. Hier zerbricht der behütende Kreis, und das teilende Prinzip wird sichtbar. Hier löst die »Zeit« die Zeithaftigkeit ab. Und es sei nicht vergessen, daß Dais die drei Pferde, also die drei Phasen

der Zeithaftigkeit lenkt. Das aber ist Triumph der erwachten »Zeit« über keit. Oder anders ausgedrückt: es ist Siege des mental-hellen Tages uber

gleichbedeutend mit dem die mythische Zeithaftiggleichbedeutend mit dem die mythisch-zwielichtige

Nacht.

Dafs der »Tag« (lateinisch »dies«) und daß Zeus, der (helle!) Gott, der auf dem Berge (dem Olymp) wohnt und nicht mehr

im Berge (der Höhle), der gleichen Wurzel sind wie Dais und Zeit, zeigt noch einmal, daß die »Zeit« und daß der »Tag« im Keim das gleiche sınd: Teiler der Nacht. Tag und Nacht sind anfänglıch keine Gegensätze; dazu machte sıe erst unser Denken. Die Entsprechung der Nacht ist die »Acht« (s. S. 49), s wie Schlaf und Wachsein einander entsprechen. Die teilende

Tageshelligkeit 1st lediglich ein Ausdrucksprinzip der Achtsamkeit und Wachheit. Hier also klärt sich der bisher der Forschung unerklàrbar und undeutbar verbliebene Zusammenhang, der zwischen »Zeus« und »Tag« bestanden hat; und darüber hinaus wird auch der Zusammenhang zwischen »Dais« und »Zeit« ersichtlich. Wenn wir aber den Tag und die Zeit so betrachten,

so dürfen wir die mythische Zeithaftigkeit auch als bloße »Nachtzeit«, die mentale Zeit als bloße »Tagzeıt« ansprechen. Da wir jedoch nicht den Eindruck hervorrufen

wollen, als ob

wir die eine zur anderen in Gegensatz stellen dürften, so belassen

256

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

wir es bei den Bezeichnungen »Zeithaftigkeit« und »Zeit«, die sıch auch darin unterscheiden, daß andere metrisch (also messend) ist 23.

die eine rhythmisch,

die

Zur Zeit, da die mentale Struktur zum Durchbruch gelangte, hatte das Dais-Prinzip als das Teilende nicht nur den zerstörenden Aspekt, sondern einen vornehmlich konstituierenden. Die Wurzel da:dı hat anfänglıch dıe Doppelbedeutung von »Geben« und von »Zerteilen«. In dem Moment, da dieses Doppelprinzip wırksam wird, ist die mentale Struktur mit ihrem Zeitcharakter gegeben, aber das Weltbild ist damit geteilt, also vernichtet, und an seine Stelle tritt die Weltvorstellung 34. Ver-

lassen wir jetzt den mythischen

Bereich,

in dessen Bildern, sei

es dem der Dais, 561 es dem der Athene, der Metis oder des Zeus,

die Zeit vorausgeträumt wird. Um dieses traumhafte Gewebe,

aus dem die Zeit herausmutierte, zu beschreiben, haben wir uns

bemüht, das Dais-Bild in die Sprache unseres rationalen Ver-

stehens

zu

übersetzen,

andeutend,

was

möglıcherweise

hinter

den Schleiern, den nächtig verhüllenden, der anderen Dais, der zu Sais, liegt: das unergründbar Geheime der magischen Einheit. Verlieren wir jetzt nicht aus dem Auge, da wir die Finster-

nisse und Dunkelheiten noch einmal streiften, welches der erhel-

lende Ausgangspunkt für unsere Wanderung durch die letzten Seiten war: daß alle Wörter unserer Sprachen, die das Zeitelement zum Ausdruck bringen, auf die Wurzel da:dı zurückgehen (siehe im Kommentarband die Zusammenstellung der diesbezüglichen Wörter ın unserer fünften »Anmerkung zur Etymologie«).

Zeit also, wir wiederholen es, will sagen, daß sie Teiler ist, daß sie sowohl einteilt als auch zerschneidet. Sie zerschneidet nicht etwa sich selbst, sondern das Ker-, Gher-Prinzip, das zeit-

haft mythische Weltbild. Den gleichen Vorgang haben wir ja in dem Wechsel vom ausgeglichenen »Mu«-Prinzip zum scharfen »Me«-Prinzip kennengelernt. Und so wie das Damonische — nicht zu Unrecht schreibt Harrison der Dais Dàmoncharakter zu — anfänglıch nichts anderes ist als das »Zerreißen des Mythischen«, so ist Zeit als gerichteter Ablauf des Geschehens, der dimensionsmäßig durchaus etwas anderes ist als die rıchtungslos in sich zurückkehrende

Bewegung

des Mythischen,

der Zer-

schneider dieser Bewegung, der Teiler des Kreises: die Zeit, unsere mental gerichtete Vorstellung »Zeit«, zerreißt die Zweidimensionalitát des Kreises und ermöglicht damit den dreidimensionalen Raum. Die unmeßbare »dauernde« Bewegtheit ist eine

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

257

Ausdrucksform, und zwar die der mythischen Struktur; die Zeitlosigkeit ist eine andere Ausdrucksform, und zwar jene der magischen Struktur. Die Zeit (als Vorstellung, Begriff und messendes Element) ist eine weitere Ausdrucks- beziehungsweise Vorstellungsform, und zwar die der mentalen Struktur. Die mythische Ausdrucksform ist dimensionenreicher als die magische, die mentale dimensionenreicher als die mythische, insofern die magische Zeitlosigkeit vordimensional, die mythische Zeithaftigkeit undimensional und erst die mentale Zeitlichkeit eindimensional ist. Diese Dimensionsgewinne diirfen nicht aufer acht gelassen werden. Ebensowenig ist es erlaubt, die mythische Bewegtheit, Zeithaftigkeit oder »Dauer« in Gegensatz zu unserer Begriffszeit zu setzen: damit würden lediglich die mentalen Faktoren ın Rechnung gestellt, ohne daß man sıch der Struktur der ganzheitlichen Gegebenheiten und Begebnisse bewußt wäre. Denn mythische Zeithaftigkeit und mentale Zeitlichkeit oder Begriffszeit in Gegensatz zueinander zu stellen, ist ein ungemäBes Dualisieren. Sie sind nicht gegensatzlich, sondern konstitutionell voneinander verschieden. Seit Platon ist diese Dualisierung der Zeit ein beliebtes Gedankenspiel der Philosophen. Er

unterscheidet im »Timaios« zwischen der mythisch betonten » Einheit« des Aion und den Teilen und Formen des Chronos: er

leitet damit die Umfälschung der mythischen kosmischen Zeit in eine Zeitart um, die als » Weltzeit«

bezeichnet wurde. Dieser

aber konnte dann die sogenannte »Individualzeit« als Gegensatz gegenübergestellt werden. Doch schon der Begriff αἰών (aion), der mit »Zeitdauer, Zeitalter, Weltperiode« übersetzt

wird, hat auch rationalen Charakter, denn das Wort Aıon geht auf die Wurzel »ai« zurück, die desgleichen »teilen« bedeutet 3. Es lebt zudem in unserem mittelalterlichen »ewe« fort, das unse-

ren Begriff »Ewigkeit« bildete 36. Die Ewigkeit ist nur ein groSer Ausschnitt oder Abschnitt dessen, was wir als kronosbetonte

Zeithaftigkeit darstellten.

Im Beginn der mentalen Welt bewahrt die »Zeit« noch einen

gewissen Bezug zur ungeteilten Zeithaftigkeit oder Bewegtheit. So verweist noch Aristoteles 7 auf die Berührung der Zeit mit

der Seele, und Plotin ?? sagt: »Die Zeit ist das Leben der Seele«; auch Augustin erinnert sich, wie wir gesehen haben (s. S. 44),

dieses Zusammenhanges. Bei ihnen ist jedoch diese Seele bereits auch individuelle Seele, und somit ist auch die auf sie bezogene

Zeit tatsächliche »Zeit«: teilende und zerschneidende »Individualzeit«. Diese Berührung und Interdependenz von Seele und

258

Über die Raum-Zeit-Konstitution

der Strukturen

Zeit sah wohl Nicolaus von Cusa am deutlichsten und definierte

dabei die Zeit in einem Sinne, der ihr als mentalem

Phänomen

gerecht wird. In seinem Gespräche »De ludo globi« schreibt er: »So ist die Zeit, als Maf der Bewegung, Werkzeug des messen-

den Verstandes. Es hängt also nicht die verständige Seele (ratio

animae) von der Zeit ab, sondern das verständige Maß der Bewegung, welches Zeit heifst, hängt von der verständigen Seele ab. Die verständige Seele ıst daher auch nicht der Zeit unterwor-

fen, sondern geht der Zeit vorher (ad tempus se habet anterioriter), wie das Sehen dem Auge; obgleich das Sehen des Auges bedarf, so kommt das Sehen doch nicht vom Auge her, da das Auge nur das Organ ist.«?? Die hier erwáhnte »verstándige Seele« dürfte den Denkprozeß bezeichnen beziehungsweise jenen λόγος ψυχῆς

(Logos

der Psyche),

von

dem

Platon

spricht, der

die Dreiteilung der Seele postulierte^? — eine Dreiteilung, die

ja nicht nur, wie Jede trinitáre Form, für die mentale Struktur

charakteristisch 1st, sondern zudem in unmittelbarem Bezug zu der durch Parmenides vollzogenen Dreiteilung der Zeit stehen dürfte, der als erster die Dreiphasigkeit der Zeit formuliert hat. Damit aber war sowohl die Problematik der Zukunft als auch

des Werdens gegeben und überhaupt die Dimensionierung der Zeit (die in der Romantik, etwa bei Baader, Schelling und Fichte, eine so große Rolle spielte). Die Dimension der Zukunft aber reißt das Räumliche vorwärts, und beide, Raum und Zeit,

erscheinen nun gerichtet. Halten wir unser Ergebnis fest: unsere Begriffszeit ist kein psychisches Phänomen, sondern ein mentales, das aus dem Psy-

chischen hervorging; sie ist die den Kreis zerschneidende Linie und als solche die grundlegende Dimension eines vierdimensionalen Raumes.

Dadurch,

daß sie selber zerteilt wurde,

wurde

sie

zwar meßbar, aber sie verlor dadurch ihren ursprünglichen Charakter. Sie wurde in den philosophischen Spekulationen

weitgehend geráumlicht, eine Räumlichung, durch die sie, da sie selber raumlichende Eigenschaft hat, weitgehend dementalisiert wird. Diese Umkehrung ist eine typische speculatio rationis:

das Teilende,

statt als Teilendes

gehandhabt

zu werden,

wird

selber geteilt. Dieser Umkehrung gemäß: mußte eine Entwertung des Zeitbegriffes eintreten. Und diese Entwertung der Zeit

dürfte, vor allem nach der Erfindung der Perspektive, nachdem die vollständige Räumlichung der Welt gesiegt hatte, zu einer

offensichtlichen Deklassierung der Zeit geführt haben.

Damit sind wir bei der Raumbetontheit der mentalen Struk-

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

259

tur, die wir in unseren Ausführungen über die perspektivische Welt bereits ausführlich erörterten. Da diese Raumbetontheit vor allem für die rationale Phase der mentalen Struktur charakteristisch ist, verweisen wir noch darauf, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Zeitproblems wie W. Gent *! unsere Ausführungen über diese Raumbetontheit unterstreicht, wenn er

wiederholt auf die »Tendenz

der Neuzeit«

hinweist, eine »De-

klassierung der Zeit« zu realisieren; so, wenn er schreibt: »Man kann sich eigentlich nicht wundern, auch bei Thomas Hobbes die Mißachtung alles Zeithaften anzutreffen, weil auch ihm ... die Raumwelt ... ungleich náher steht«; oder wenn er über Descartes schreibt: »Wenn

er die Zeit eın »ens in anima« nennt,

so will er sie damit ohne Zweifel dem Raume gegenüber herabsetzen. Das 1st Naturalismus als Weltanschauung. Die Zeit hat keinen rechten Platz in seinem System«; oder wenn er ausführt:

»Männern wie William Gilbert, Johann Kepler und G. Galilei bedeutet die Zeit kein Sonderproblem, lediglich als Rechnungsgrófse tritt sie bei ihnen auf, zum Beispiel in der Form unendlich kleiner Zeitteile«? .

Die Raumbetontheit dieser mentalen Struktur kommt auch

darin

zum

Ausdruck,

daß

sie die Zeit dualisiert.

Seit Duns

Scotus bis zu Locke und Kant und dann bis zu Bergson und

Volkelt* wird sie in die objektive Zeit der Dinge und die sub-

jektive Zeit der Seele aufgeteilt, oder ein anderer begrifflicher Dualismus hergestellt; das ist, wie gesagt, eine speculatio rationis. Aber gerade diese immer wiederholten Versuche einer Dualisierung der Zeit, sei es nun, daß diese zur naturhaften » Dauer« in Gegensatz gesetzt wird wie bei Bergson, sei es, daß

sie in sich selbst gegensatzlich gemacht wird wie durch Aristote-

les und von da an immer von neuem bis hinunter zu Volkelt ^^,

bergen eine grofse Gefahr in sich: die Gefahr ihrer defizienten Psychisierung oder Mythisierung. Wir wollen nicht auf die unzahligen Beispiele zurückgreifen, die uns jede Philosophiegeschichte für den Nachweis dieser Psychisierung der Zeit an die Hand gibt, sondern nur auf ein symptomatisches Beispiel hinweisen. Es findet sich bei Aristoteles. Er geht von der Uberlegung aus, daß das »Jetzt« inexistent sei, da es stets zugleich Ende

der Vergangenheit und Anfang der Zukunft ıst, und deutet es als bloßes »Zwischenhinein«, das als Raumpunkt eine anfangslose und endlose Zeit unterbricht oder ineinanderkettet. Bei dieser Apostrophierung dürfte es sich um einen unbewußten Rückfall ın das Mythische handeln, einen Rückfall, der

260

Über die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

auch dadurch nicht gemildert wird, daß Arıstoteles implicite Vergangenheit und Zukunft einander entgegensetzt, sıe also ın dem Moment dualisiert, wo er sie dadurch psychisiert, daß er ihnen Anfangs- und Endlosigkeit zuspricht. Durch diese Dualisierung, oder wie Volkelt es nennt: in dieser Zweidimensionalitát, wird die Zeit linear »geráumlicht«. Sobald das Jetzt als ein Zwischenhinein zwischen Vergangenheit und Zukunft gesetzt wird, 1st es keine reine mentale Zeitmodalitát mehr, sondern eine bereits spatialisierte: sie ist nicht bloß gerichtet, sondern zusätzlich, aber defizient, geräumlicht. Das Jetzt ıst, ın diesem Sinne, als »Zwischenhinigkeit« eine begriffliche Setzung eines Teiles der Zeit und als solche durchaus ein raumlichender, rationaler Bewußtseinsakt, der aber nicht auf den Raum, son-

dern auf die den Raum räumlichende Zeit angewandt wird. Dieser Räumlichungsaspekt kommt auch ın der Sprache zum Aus-

druck, und dies zeigt, wıe tief das verräumlichende Denken von der europäischen Mentalität Besitz ergriffen hat. So beispiels-

weise im französıschen »maintenant«, das soviel heißt wie »in

der Hand haltend«; Gemessensein der Zeit Stunde« bedeutet, zur spiegelt das deutsche Charakter hat %. Die

ferner im deutschen »Augenblick«; das kommt im spanischen »ahora«, das »zur Geltung, und eine abstrakte Vorstellung »jetzt«, das als Adverb abstrahierenden »zwischenhinige« Fixierung der Zeit ist

eine Pervertierung der Zeit, weil sie dadurch Raumlichkeit er-

hält, anstatt, infolge ıhres Teil- und Schneidecharakters, Aus-

loser und Funktion des Raumes zu sein. Die Zeit ist aber, und mit ihr das Zeithafte und auch das Zeitlose, die Grundkompo-

nente des Räumlichen: sie ist nicht Teil des Raumes, also disqua-

lifizierte Dimension, sondern seine Grundlage und damit seine

grundlegende Dimension (von der wir noch sehen werden [s. 5 457,

518,

609f.],

daß

sie, über

das

Dimensionale

hinausrei-

chend, besser als »A-mension« zu bezeichnen ist), die aber erst heute als solche bewußt wird, vielmehr: die erst dann bewußt

werden kann, wenn sie nicht mehr als »Zeit«, »Bewegung« oder » Zeitloses Sein« aufgefafst wird, sondern als Ursprungs-Gegenwärtigkeit. Übrigens liegt ein Ansatzpunkt für eine derartige

Konkretion der Zeit in der Tatsache, dafs man sie heute als »re-

versibel« (umkehrbar) betrachtet, worın sich eine weitgehende Überwindung sowohl des Rationalen als auch des Perspektivi-

schen zu erkennen gibt, da sie somit nicht mehr teilend, aber auch nicht mehr ein-sinnig gerichtet ist.

Die mefibare Zeit in Vergangenheit und Zukunft zu zerrei-

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

261

ßen, das bedeutet, sie sowohl defizient räumlichen als defizient psychisieren; und dies schon deshalb, weil Vergangenheit und

Zukunft stets sowohl freude- als leidbetont sind. Durch diesen erfahrungsmäßigen Spannungs-Charakter verrät sich die Dualisierung als defizient-psychisch: wer so denkt, ist von der Psyche bis in seine mentalen Abstraktionen hinein befangen. Er ist Psychist: der unbewußstte Gegenspieler des bloßen Materialisten. Bei Volkelt kommt das zum Ausdruck, wenn er eine »Erlebnis-

Zeit« zur Verteidigung der Zweidimensionalitat der Zeit erfindet. Erlebnis-Zeit 1st jedoch ein Unding. Man kann ein Phänomen der magischen Sphäre, námlich das Erleben, nicht derart mit einem Phänomen der mentalen Sphäre, der Zeit, koppeln, ohne daß beide Phänomene und damit beide Sphären defizient werden. Diese Defizienz führt konsequenterweise zu einer rationalen Zeitzertrümmerung, zu jenem amorphen (gestaltlosen) Nichts, in das, aus einem »besorgten« Jetzt, der Mensch Heideggers »geworfen« wird. Nehmen wir Heidegger beim Wort — da

er es liebt, die Worte derart beim Wort zu nehmen, daß er sie

rationalisierend bis zur Inhaltsentleerung ins Formelhafte einer Zerwortung unterzieht —, so läßt dieses »Geworfenwerden« das Unmenschliche seiner Philosophie erkennen. (Bisher wurden nur

Tiere

»geworfen«.)

Heideggers

Philosophie

ist ein deutliches

Beispiel für die Konsequenzen defizienter Psychisierung: denn dem »Seienden Sein« ein »Nichtendes Nichts« als rationalen Gegensatz hinzuzuerfinden, dürfte wohl nichts anderes sein als eine Rebellion des einstigen Deuters des Duns

Scotus*®. Wer

voller Ressentiment die religiöse Sphäre verläßt, die mit Duns Scotus gegeben war, und ihrer bewahrenden Polhaftigkeit entgehen möchte, indem er diese rational gegensátzlicht, muß aus der nicht realisierten Ubertragung heraus in die Irre gehen, wenn er in seiner psychischen Befangenheit nicht merkt, daß er sich in einer anderen Struktur bewegt und die mentale mit dem negativen Zerrbild der religiós gebundenen mythischen verwech-

selt. Damit wird sein Ansatzpunkt nicht transzendiert, sondern

defizient

annulliert;

das

aber

bedeutet

bestenfalls:

dieser An-

satzpunkt wird negativ überschritten; die Null, der aktivierte

amorphe Staub, siegt ın dem negativ-aktivierten, dem »nichtenden Nichts«. Was Wunder, daf$ die »Sorge« bei Heidegger eine

Hauptrolle spielt ^. Diese kurzen Hinweise mógen genügen, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus ungemafsen Vorstellungen und Anwendungen des rein mentalen Zeitbegriffes für unsere ràum-

262

Uber die Raum-Zeit-Konstitution der Strukturen

liche Welt und unser len, die von sich aus diese nun die Ratio führt zu defizienter

Abstraktion;

Leben erwachsen kónnen. Die Zeit zu teiteilend ist, führt zur Atomisierung, betreffe oder die Raumwelt; sie zu psychisieren, Mythisierung unter dem Deckmantel der

sie zu räumlichen,

zu spatialisieren, beraubt den

Raum selbst seiner Grundlage. In welchem Maße die ratıonale labyrınthhafte Verwirrtheit

sich zu äußern vermag, geht auch aus dem Tatbestand hervor,

daß seit Parmenides, vor allem aber seit Platon, teıls der Raum,

teils die Zeit oder die Dauer mit dem Sein gleichgesetzt werden.

Wir haben bereits mehrmals (s. u. a. S. 163) auf diesen funda-

mentalen Irrtum hingewiesen, der zu der Postulierung des NichtSeins oder des Nicht-Seienden führte: eine Gegensätzlichung, die sich selbst vernichtet, da ihr der kongruente Widerpart fehlt, und die zudem

eine Gegensätzlichung ist, aus der heraus

dieses Nicht-Sein in ein »nichtendes Nichts«

aktiviert werden

konnte. Die zielsichere Lanze der Athene, die den Raum ereilt, droht in Staub zu zerfallen, — aber damit zerfällt auch der durch

sie beherrschte und erschlossene Raum. Aus dem Gesagten dürfte unser »Standpunkt« ersichtlich ge-

worden

sein, daß die Raumbetontheit

der mentalen

Struktur

dort mit der Vernichtung der mühsam genug erworbenen Dreidimensionalitat durch eine amorphe Nullenhaftigkeit bedroht ist, wo der Zeitbegriff psychisiert oder defizient mentalisiert, namlich spatialisiert wird, eine Raumlichung, die immer durch die Auflösung bedroht ist, da mit der Raumlichung der Zeit die Grundlage des Raumes zerstórt wird. Wir werden noch sehen, in welchem Maße unser rationales Denken ein raumlichender Vorgang und ein räumlichender Ausdruck ist. Abschließend

seı hier nochmals auf das Phänomen des »Nicht-Zeit-Habens« hıngewiesen, das für unsere materielle, raumbetonte Welt so

bezeichnend

ıst: Wie

sollte denn

der Zeit haben,

der die Zeit

zerreißt! Uns sei Genüge, daß die Zeit den mythischen Kreis zerrif und damit unsere Welt des Denkens und der Distanz ermöglichte. Achten wir darauf, daß die ungemäße Handhabung der Zeit nicht zur Zerstörung ihrer selbst und des durch sie Bedingten führe. Achten wir darauf, daß sie ihrem Wesen gemäß zur Wirkung kommt: in jener Vierdimensionalıtät, in der sie, kon-

kretisiert und integriert, die bloße Raumbetontheit des Mentalen überwindend, eine neue Weltmöglichkeit begründen kann. Denn dort, wo sie »Gegenwart« zu werden vermag, dort würde sie

Die Raumbetontheit der mentalen Struktur

263

»gleichzeitig« das magisch Zeitlose, das mythisch Zeithafte, das mental Zeitliche durchsichtig werden lassen. Ansätze zu dieser

Mutation sınd heute schon aufzeigbar. (Sıe aufzuzeigen, ıst Auf-

gabe des zweiten Teiles dieser Schrift.) Das bisher Gesagte sollte

die Raumbetontheit

der mentalen

Struktur, diesmal

nicht nur

von der Perspektive her, sondern von ıhrer ın Frage gestellten Grundkomponente her, der »Zeit«, ersichtlich machen. Denn der Raum wird sich ändern. Ja: er ändert sich bereits.

Er wird dann die vorgestellte materielle Betonung verlieren, wenn die Gegenwärtigung ıhn durchscheint. Unsere Ausführungen über die Dimensionierungen gelten den Fundamenten der neuen Bewußtseinsmutation, welcher die Fähigkeit der Diaphanıe und der Gegenwärtigung entspringen könnte. Diese Gegenwärtigung wird nur denen, die ausschließlich magisch, my-

thisch oder mental befangen sind, als Unmöglichkeit erscheinen, und sie werden infolgedessen fanatisch oder affektvoll oder sophistisch auf unsere Ausführungen reagieren müssen. Aber das sind nur Bedingtheiten, Befangenheiten, Begrenztheiten. Wichtiger ıst jedenfalls der Versuch, nachzuweisen, daß dıe Menschheit gerade dann ırgendwelcher Werte oder Ansätze ansıchtig

werden

kann,

wenn

sie sich

einem

Bankrott

und

Selbstmord

gegenübersieht: denn das Abendland ist auf dem besten Wege, auch geistig endgültig Selbstmord zu begehen. LafSt es Ansätze

erkennen,

die »über«

diese abendländische

Zivilisation hinaus-

weisen? Die Antwort lautet positiv: Nirgends liegt das »Neue«

so sichtbar da, wie dort, wo etwas »zugrunde« geht — zu Jenem »Grunde«, der von sich aus immer auch das »Neue« enthalt.

Sechstes Kapitel

Zur Geschichte der Phänomene Seele und Geist

1. Methodologische Überlegungen Was wır über Raum und Zeit dargelegt haben, besonders darüber, wıe sıe als konstitutionelle Elemente

ın latenter oder er-

wachender Form den einzelnen Strukturen eıgnen, hat ersıchtlich gemacht, daß eine Orientierung über dieses Problem nötig

ist, wenn wir uns über die Fundamente des Bewußtseins klar-

werden wollen. Der Befund, daß unsere »Zeit« ein von uns geschaffenes Instrument ist, auf Grund und mit Hilfe dessen wir die dreidimen-

sionale, perspektivische Welt gestalteten und Wirklichkeit werden lassen konnten, legt einige Vermutungen nahe. Da nämlıch die »Seele« eine gewisse Affinitat vor allem zur mythischen Zeithaftigkeit hat, das Denken dagegen vorwiegend eine solche zum Raume, so sollten sich über Seele und Denken auch Schlüsse

ziehen lassen, die möglicherweise

und Raum zogen, gen, daß sie diesen erwarten, daß sie sprächen, die wir

mit jenen, die wır für Zeit

parallel gehen könnten. Das will nicht besagleichen müßten. Aber immerhin darf man in bezug auf die Seele jenen Schlüssen entfür die Zeithaftigkeit fanden, in bezug auf

das Denken jenen, die wir für den Raum fanden.

Die Bedingtheit jedes mehrdimensionalen Weltkonzeptes steht in exaktem Verhältnis zu den Möglichkeiten, die in ihm realısierbar sind. So ist das Mythische — was paradox klıngen mag — an seine Grenzenlosigkeit gebunden; rational ausgedrückt: es ıst die negative Form der Begrenztheit, die ihr das Gepräge gibt. So 1st das Mentale an seine Begrenztheit gebunden, was nicht hindert, daß es in seiner rationalen Form aber immer wieder der

Versuchung erliegt, diese Grenzen zu sprengen: sei es durch Rückfall in die Irrationalitát oder Praerationalitát, seı es durch

Vorwärtsflucht in die transzendierende Ausweitung, 561 es durch die Unwissenheit úber seine eigene Zeitkonstitution; diese weist trotz ihrer Uhrenmafsigkeit eine gewisse gerichtete Dynamik und Energetik auf, die uneingesehen zerstörend wirken muß. Und sie zerstört

in dem

Moment,

da sie sich selbst überlassen

und

nicht ıhrem Wesen gemäß gehandhabt wird: námlich als richtender Faktor, der das Raumlose in die Ráumlichung richtet.

Dort, wo sie, statt zu teilen, selber geteilt oder zu stark sekto-

Methodologische Uberlegungen

265

riert wird, zerstört sie den Raum, führt also zu einer negativen Raumlosigkeit, statt ıhm ordnend die Richtung zu geben.

Es hat also seine guten Gründe, wenn wir uns ın diesem ersten

Teil noch der Aufgabe unterziehen, einige grundlegende Fragen

zu klären: einerseits die Frage nach »Seele und Geist«, anderer-

seits die nach den »Realisations- und Denkformen«. Darüber hinaus aber ıst die Aufzeigung der Bedingtheit, Befristetheit

und Begrenztheit der einzelnen Strukturen, und vornehmlich die

unserer heutigen mental-rationalen, unumgänglich, wenn wir einen Überblick über die Möglichkeiten des neuen Bewuftseins gewinnen wollen. Nach der Schilderung der vorwiegend räumlichen Bedingtheit der mentalen Struktur sowie nach der Aufzeigung des Zustandekommens

ihrer Raumbetontheit ist es ge-

wif einleuchtend geworden, daß zum Beispiel innerhalb einer neuen Bewußtseinsstruktur, der Freiheit statthaben kann, ja muß.

integralen,

eine

Raum-Zeit-

Ebenso hoffen wir, abklären zu können, inwiefern und worin

die psychische Influenz wirksam ist und inwieweit eine apsychische, also eine von der psychischen Abhangigkeit (Versklavung)

befreite Weltmöglichkeit besteht, die deshalb aber keineswegs die Psyche negiert, sondern der sie durchsichtig wird; ferner inwiefern und worin die rational-materielle Influenz wirksam ist und

inwieweit

eine aratıonal-amaterielle

Weltmöglichkeit

besteht, für die hinsichtlich der Materie das gleiche gilt wie für die Psyche, daß namlich auch sie, die Materie, nicht etwa negiert,

wohl aber durchsichtig wird. Es mag nun auch ersichtlich werden, warum wir die Kapitel

und damit dıe Abfolge unserer Darstellung so ordneten, wie es geschah: brachten die drei ersten Kapitel eine Darstellung der Strukturen, wobei wir von ıhrer Dimensionierung und damit ihrer jeweiligen Raum-Zeit-Konstitution ausgingen, so brachte

das vierte Kapitel die Zusammenfassung dieser Strukturen und gleichzeitig erste Hınweise auf die Schlüsse, die sich aus ıhrer ganzheitlichen Betrachtung ergeben. Diese verwiesen uns darauf,

dafs die Zeit- und Raumvorstellungen von ausschlaggebender Bedeutung sind, nicht zuletzt, weil mit der Zeit die psychischen,

mit dem Raum die mentalen, denkerischen Äußerungsformen

auf das engste verknüpft sınd. Der generellen Darstellung der

Strukturen folgen die ergänzenden Kapitel V bis VII, die den genannten Themen gewidmet sınd. Wır hoffen, durch ıhre Behandlung dıe Fundamente so weıt klarzulegen, daß wir beı der Mehrzahl

der uns begegnenden

Manifestationen

vornehmlich

266

Zur Geschichte der Phinomene

Seele und Geist

»neuer« Art jeweils imstande sind, zu unterscheiden, ob es sich

bei ihnen tatsächlich um »neue« Manifestationen handelt, oder

ob wir uns lediglich gut maskierten, weil in moderne Verkleidung gehüllten Äußerungen bisheriger Bewußtseinsstrukturen gegenübersehen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn wir uns jeweils genauestens darüber klarzuwerden vermögen, welcher Dimensionierung sie zuzuordnen sind, welchen vitalen Bedingtheiten, welchen psychischen Befristetheiten und welchen mentalen Begrenztheiten sıe entspringen. Andernfalls werden wir uns ın einem labyrınthischen Irrgarten bewegen, denn sowohl dem Psychischen als dem Mentalen (von der Verstrickungstendenz des Magisch-Vitalen ganz zu schweigen), jedoch vor allem dem Rationalen (der Defizienzform des Mentalen), ist das Irrlichtern

inharent: dem einen aus seiner Vieldeutigkeit, dem anderen aus seiner sektorhaften Facettenhaftigkeit heraus. Und der Verfih-

rung, sei es das Erleben, sei es das Schauen, sei es das Sehen zu

betonen, sind wir alle ausgesetzt, denn ohne diese Realisationsformen kónnten wir nicht einen Tag unseres Lebens zu Ende leben, da die Strukturen,

die ihnen

zugrunde

liegen, und

ihre

Realisationsformen uns ganzheitlich konstituieren. In dem Maße

jedoch, in dem wir uns über sie klar sind, in dem Maße, in dem

wir sie also überblicken, mehr noch: in dem sie uns durchsichtig werden, sind wir nicht mehr ihr Spielzeug, sondern sie werden zu unserem Werkzeug. Die Darstellung der Seele-Geist-Problematik ist ein Wagnis. Wir wissen ja, dafs sich die Seele weitgehend einer messend rationalen Darstellung entzieht, da diese ihr, der das Unmeßbare

eignet, ungemäß ıst. Doch dies ıst noch nicht die größte Schwie-

rigkeit; be1 weitem größer ist jene, die diese Unermeßlichkeit

selbst einschließt. Die psychischen Manifestationen sind durch-

aus endlos. Das Material, das es zu sichten gilt, ist letztlich unerfaßbar: fließendem und stetig sich verwandelndem Wasser,

das durch

unsere Hände

rınnt, und einem

ununterbrochenen

Wehen der Luft vergleichbar. Auch hier also, und ganz beson-

ders hier, ıst es nötig, sich zu bescheiden, sich nıcht von der

irrlichternden, faszinierenden Manifestationsfülle berücken, verlocken oder betören zu lassen, in dem Moment, da sie uns schein-

bar schon die Zusammenhänge aufschliefit. Aber just in diesem

Moment,

da

wır

nach

einem

entzieht sie sich unvermerkt

verbindlichen

unserem

Ergebnis

gewalttätigen

greifen,

Zugriffe,

da das soeben Aufgehellte eindunkelnd in seinen Gegenpol umschlägt. Nirgends wie hier scheint, rational gesehen, die eine

Methodologische Uberlegungen

267

mogliche Aussage durch die sofort auftauchende und sie polar ergänzende der Lüge geziehen zu werden. Man muß sich also darüber klar sein, daß das, was rational als Gegensatz erscheint,

psychisch eine Polaritat ist, der man, während man sie betrachtet, nicht verfallen, die man

aber durch rationales Schneiden

auch nicht zerstören darf. Sich mit diesem Weltaspekt auseinandersetzen oder sich mit ihm einlassen zu wollen, birgt zwei Gefahren: daß man ihn entweder zerstort: dies geschieht, stellt man sich ihm rational gegenüber; oder daf$ man von ihm gefangen wird: dies geschieht, uberlaf{t man sich ihm. Wo bleibt also eine Moglichkeit, sich seiner ohne diese Gefahrdungen klarzuwerden? Es ist notwendig, daf$ wir uns selber über die uns konstituierenden Strukturen klar sind. Das aber will besagen: es bedarf sowohl einer vitalen

und einer psychischen, als auch einer mentalen Diszipliniertheit oder Sicherheit, um den drohenden Gefahren zu entgehen. Diese Diszipliniertheit, die mehr ist als ein blofes Wachsein, gibt die Gewáhr oder eine Chance, das Abenteuer zu bestehen, das bisher noch jeder Versuch eınschloß, sich mit dem Unmeßba-

ren messen zu wollen. Eine bloße Beherztheit, die vermeint, sie

könne sich gegen die Untiefen der Seele oder angesichts ihrer ikarischen Flüge behaupten, genügt nicht. Gerade ein nur versuchsweises Sıcheinlassen müssen wır vermeiden. Dazu soll uns

jene zumeist

nur vorübergehend

mäßen

zu verweisen,

erreichbare

Sicherheit oder

Diszipliniertheit verhelfen, die es uns ermöglicht, die jeweils zu schildernden Phänomene nicht nur ordnend an den ıhnen gePlatz

sondern

sie auch

in die ihnen

ent-

sprechenden Begebnisse einzugliedern; es ist jene Diszipliniertheit, der das dunkle Schluchzen des Kreatürlichen, das doppeldeutige Bild der Seele und der zerreifjende Gegensatz des Denkens durchsichtig wird.

Daß wir überhaupt eine Ausgangsposition aufzeigen können, die sich der gestellten Problematik als gewachsen erweisen könn-

te, ist selbst dann hilfreich, wenn es zu schwer werden sollte, sie

jederzeit auch zur Wirkung

zu bringen; denn diese Sicherheit

ist nur dann wirksam, wenn sie aus sich heraus wirkt, nicht aber, wenn wir uns anstrengen und damit die Dinge und Pha-

nomene vergewaltigen; denn in dem Moment, da einseitig das zudem noch ich-betonte Willenselement aktiviert und damit die mentale Struktur überaktiviert wird, stellen wir die übrigen uns

konstituierenden Strukturen in Frage, denen diese Diszipliniertheit mitentspringen sollte.

268

Zur Geschichte der Phänomene

Seele und Geist

Von dieser Ausgangsposition aus wollen wir das unermeßliche

Material, das sich uns anbietet, sichten. Nicht auf die verführe-

rische Vielfaltigkeit, — auf das klarende Sichten kommt es dabei

an. Um die Gefahr des bloßen Rationalisierens zu vermeiden, wollen wir die Phänomene Seele und Geist unter dem Gesichts-

punkt ıhrer Geschichte »darstellen«. Dadurch ordnet sıch ın unserem

Sinne, was von sich aus seine eigene, nämlıch kreis-

fórmige Struktur hat. Wir werden also zuerst einen Blick auf

das Phänomen Geschichte zu werfen haben und hoffen, daß wir

daran anschließend auch eine Klärung der Phänomene

Seele

und Geist erreichen werden. Achten wir darüber hınaus auf die Gefahren, die uns aus den anderen Strukturen erwachsen könn-

ten, so wird diese ganzheitliche Achtsamkeit uns vor diesen Ge-

fahren im besten Sınne des Wortes — bewahren !. 2. Das Numinose, das Mana und die Seelen

Dieser erste Teil unserer Schrift trägt den Untertitel: »Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung.« Überall dort aber, wo wir auf geschichtliche Thematik stoßen, befinden wır uns durchaus ın der mentalen Zone. Der magısche Mensch, ja noch der mythische Mensch, sind geschichtslos. Der Ägypter beispielsweise kennt noch keine »Historik«, sondern lediglich Annalıstik^. Wenn wir also von einer »Geschichte der Phänomene

Seele und Geist« sprechen (wıe wır von einer »Geschichte der Perspektive« gesprochen haben), müssen wır uns über den Sınn des Wortes »Geschichte« klar sein 7. Die Geschichtsphilosophie der letzten Jahrzehnte bietet uns

eine Anzahl von Betrachtungsweisen, die als rationale Speku-

lationen sicher nicht ohne Reız sind, aber sich letztlich zumeist

als einseitig herausstellen. So steht die Auffassung von Karl Joél* durchaus einer biologisch-mythischen Haltung nahe, wenn für ıhn Geschichte, um überhaupt Geschichte seın zu können, in Perioden verläuft. Anders verhält es sich mit den Vita-

listen wie Spengler, die das Machtprinzip in den Vordergrund rücken,

also

vorwiegend

magisch

denken.

Und

Benedetto

Croce?, sich hauptsächlich auf Vico und Hegel stützend, spricht

der Geschichte zwar, sie streng rationalisierend, jedweden Bezug

zu dem Felde der ırrationalen Geschehnisse ab, legt thr aber die

Einheit von Gedanke und Tat zugrunde. Doch jeder Gedanke ıst (als tätliche Absıcht) vorwiegend mental gegründet, jede Tat

Das Numinose, das Mana und die Seelen

269

(als einheitlicher Akt und damit als Vollzug der Einheit) vor-

wiegend magisch; sie können in der rationalisierten Geschichte ἃ la Croce schon deshalb keine Synthese eingehen, weil diese dann die Aufhebung von Gedanke und Tat zugunsten der Geschichte mit sich brächte; es seı denn, man verfiele in den Fehler,

das Zusammenspiel dieser drei Komponenten, Gedanke, Tat und Geschichte, lediglich als dauernden Prozeß aufzufassen; das jedoch führt zu bloßem Vitalismus und Voluntarismus, wobei die

Leugnung oder Ausschaltung der (gerade von Vico betonten) mythischen Wirklichkeit die Verfälschung und Verflachung dieser Art von Geschichts- Theorie mit sich bringt.

Alle diese und ähnliche Geschichtstheorien scheinen jeweils

nur Teilgültigkeit zu haben. Denn gleichgültig, ob wir von einer Geschichte der Völker sprechen, von einer der Philosophie oder

einer der Seele, immer handelt es sich darum, sichtbare oder un-

sichtbare Geschehnisse als einander ın irgendeiner Weise bedingend in der Zeitlinie zu ordnen. Dabei unterläuft selbst noch der heutigen politischen Geschichtsschreibung weitgehend der Fehler, daß sıe sıch nur auf die Ereignisse stützt, dıe aber stets Machtcharakter tragen, und dabei die »ereignislosen« Zeiten, in denen sich das tatsächliche Ereignis bildet, als unwesentlich übergeht; wesentlich sind ihr die Geschehnisse: Inthronisierungen, Abdankungen, Kriege, Verträge, Revolutionen: eine höchst

einseitige Akzentuierung perspektivischer und materieller Art.

Die heute noch zumeist übliche Geschichtsschreibung steht vor-

wiegend unter dem männlichen Gesichtspunkt der Macht, und

selbst dort, wo sie nach sogenannten Kräften fragt, dinglicht sie

dıe undıngbaren Faktoren: sıe geht durchaus der perspektivischen Sehweise gemäß vor, und trotz allen Rechnens legt sıe sich gerade von dieser Art des Rechnens keine Rechenschaft ab. Das

gleiche

gilt für jede

Geschichtsschreibung

geisteswissen-

schaftlicher Verhältnisse: Daten®, also Zeitpartikel, spielen die

Hauptrolle.

Wenn wır nun nach eıner »Geschichte der und Geist« fragen, so dürfte die Koppelung schichte« mit diesen beiden Phänomenen auf widersprüchlich erscheinen, da zumindest die

Phänomene Seele des Wortes »Geden ersten Blick Seele ein vorwie-

gend zeithaftes, nicht aber ein zeitliches Phänomen ist, eine Zeitlichkeit, die jedoch für alles, was man als »Geschichte« be-

trachtet, Grundbedingung zu seın scheint. Und trotzdem ıst es

erlaubt, von eıner »Geschichte« dıeser Phänomene zu sprechen.

Geschichte ist nicht bloß, wie das Wort vermuten läßt, ein »Ge-

270

Zur Geschichte der Phänomene

Seele und Geist

schehen«, sondern auch das » Geschehene«. Insofern wir ihr diese

beiden Aspekte zugrunde legen, erhált die Interpretation Gültigkeit, die ihr von Theodor Lessing verliehen wurde. Jener Freund,

der ihm

den Titel für sein Werk

über die Geschichte

eingab, hat uns für sie ein Schlüsselwort an die Hand gegeben. Der Titel des Werkes von Theodor Lessing lautet: »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Sinngebung aber schließt, wie wir ausgeführt haben, Richtung-Geben ein. So gesehen ist Geschichte ein Richtunggeben, das dem Richtungslosen zuteil wird oder das wir ihm zuteil werden lassen. Wenn wir Geschichte so betrachten, ist sie auch ganzheitlich und nicht einseitig magisch, mythisch oder mental, denn sie schlieft das Richtungslose als Gegebenheit nicht aus, stützt sich nicht nur auf faß- und greifbare Daten, sondern auch auf das Datenlose. Es besteht demzu-

folge auch mehr als eine Affinitat zwischen dem, was wir als Geschichte einerseits, als Bewufstwerdung andererseits bezeich-

nen. Damit wird der Geschichtsbegriff seiner bloßen Zeitlichkeit

entkleidet, seines bloßen perspektivischen Folgecharakters, und

ordnet sich in die Mutationen ein. Und wir kónnen diesen Sachverhalt noch stärker »gänzlichen«. Denn die Bedeutung eines Richtunggebens wohnt ursprünglich sowohl dem Worte »Historie«

als dem

Worte

»Geschichte«

inne, ohne

daß

dieses Rich-

tunggeben einseitig den Menschen als Auslöser bezeichnete. Das Wort »Historie«, das auf das griechische ἱστορία (historia) zurückgeht, wurzelt im griechischen Verbum iotog&w (historeo)”, das »forschen nach etwas« bedeutet und damit ein Gerichtetsein zum Ausdruck bringt. Und das deutsche Wort »Geschichte« will ursprünglich soviel besagen wie »Schickung, Zufall, Ereignis«: es ist das verstärkte alt- und mittelhochdeutsche »gesciht«, das

eine Ableitung von »scehan« ist: »durch höhere Schickung sich ereignen«®, Es handelt sich also bei dem Wort »Geschichte« deutlich um die verstárkte Form eines Partizipiums des Stammwortes »geschehen«. Diese Lautverstärkung schließt aber auch eine Sınnverstärkung ein: das will sagen, es handelt sich nicht um irgendein Geschehen, sondern um ein besonderes Geschehen. Diese Sinnverstárkung verweist uns auf eine beachtenswerte Tatsache: das, was von sich aus, da es eine »Schickung« ist, Richtung

auf uns zu erhált, ist nicht irgendeine,

sondern

eine

besondere »Schickung«; durch diese Besonderheit schimmert ein numinoser Hintergrund durch. An der Bildung dessen, was zu Geschichte wird, ist das Erin-

nern ausschlaggebend beteiligt. Sehen wir zunächst davon ab,

Das Numinose, das Mana und die Seelen

271

auf die Rolle einzugehen, die innerhalb der Bewußtwerdung dessen, was man Geschichte nennt, die Erinnerung spielt. Wir werden von dieser Erinnerung, die durch die Muse symbolisiert wurde, im Zusammenhange mit einer anderen Art »Geschichte« zu sprechen haben, jener, die »Dichtung« heıßt. Beiden aber, sofern sıe qualifizierte Geschichte und nıcht bloße Datenreihung, sofern sıe qualifizierte Dichtung und nicht bloße Wortreihung sind, eignete bisher, dafs sie so wenig der Erinnerung wie der mit ihr korrespondierenden Entäußerung entbehren konnten. In dem Wechselspiel von Erinnerung und deren Entäußerung gibt sich ein mythisch gefärbter Prozeß der Bewußtwerdung zu erkennen: denn handle es sich nun um sıchtbare Ereignisse, wie in der Geschichte,

oder um

gewissermaßen

unsichtbare,

wie in

der Dichtung: sıe müssen erinnert werden, sıe müssen schweigend

ıns Innen genommen werden, um ın das Gesprochene, ın den »Bericht« entäußert werden zu können. (Erinnerung aber und

Entäußerung, insofern sie dem dichterischen Prozeß im weitesten Sinne des Wortes zugrunde liegen, werden uns noch ausführlich im zweiten Teile zu beschäftigen haben.) Es hat den Anschein, als ob der schöpferische Prozeß, der sich bislang vorwiegend im Psychischen abspielte, sich aus diesem Bereich in einen anderen zu verlagern beginne. Knupfen

wir an ein Stichwort

an, das für das Phänomen

Geschichte mindestens ebenso wichtig ist wie die Erinnerung: an das »Numinose«. Dieser Begriff geht auf den Herrnhuter Pietisten Zinzendorf zurück, der in seinem Aufsatz »Naturelle Gedanken vom Religionswesen«, den er 1745 verfafste, zum

erstenmal den Begriff »Sensus numinis« gebrauchte. Er wurde dann 1917, unabhàngig von Zinzendorf, durch Rudolf Otto in seiner Schrift »Das Heilige« neu formuhert und in der darauffolgenden Arbeit Ottos »Das Gefühl des Überweltlichen (sensus numinis)« vertieft?. Diese Arbeit ıst eine Auseinandersetzung mit der positivistischen Religionstheorie Wilhelm Wundts, wie sie dieser in seiner großen »Volkerpsychologie« gegeben hat, sowie mit dem seit E. B. Tylor (1875) einsetzenden Animismus und mit dem von R. R. Marett (1909) formulierten Präanımismus. »Numinos CW f=\ Ox

SS |

PT



co

“O

„a >.

Ὸ Oo No

\ 7

.

n

"ul if |

LA J

35: Ani, neben

einem

Strom oder Teich fließenden

᾿ M

^ "O^ OS

et ? Auf wissenschaftlichem Gebiet äußert sıch diese Vertauschungs-Tendenz in den Bemühungen der Tiefenpsychologie (Freud) und der »Komplexen Psychologie« (Jung), die beide, jede auf ihre Art, es versuchen, einen Umstellungsprozeß hinsichtlich der »bewufsten«, rechten, gerichteten und der »unbe-

wußten«, linken, ungerichteten Komponenten

ın uns zu ver-

wirklichen. Auch hier nur ein Ansatz, eın Versuch, der noch dualistisch rational betont ist, der deshalb noch nicht einmal

seine teils magische (Freud), teils mythische (Jung) Bedingtheit und Befristetheit erkannte. Infolge dieser Unklarheit über die eigenen Wurzeln ist vieles, was heute unter dem Namen Psychologie segelt oder schwimmt, eine mindere, aber jedenfalls zerstörende Dàmonologie; denn das Unklare, solange es ungekannt uns beherrscht, wirkt heute zerreißend. Aber trotz aller möglichen. Fehlauswirkungen und Fehlversuche findet sich auch hier ein. vorerst noch fragwürdiger Ansatz zu einer LinksRechts-Vertauschung, die mit der Formulierung des Begriffes »unbewußt«, ausgangs des 18. Jahrhunderts, einsetzte. Und schließlich sei noch einer jener Ansätze gestreift, der auf künstlerischem Gebiete sichtbar wird. Diese künstlerischen Ansätze sind, soweit wir die Situation zu übersehen vermögen, die

einzigen, die weder positiv noch negativ zu werten sind, weil sie bereits integral sind. (Deshalb wird von ihnen im zweiten Teile ausführlich zu sprechen sein.) Es handelt sich dabei unter anderem um eine Darstellungsweise in der modernen Malerei — vor allem seit Picasso und Braque —, wo das, was wir als ausgesprochen »linke Werte« bezeichnen möchten, wie sie beispielsweise der Totenschädel und andere Dinge »symbolisieren«, erstmals in der rechten Bildhalfte dargestellt wird. Die paradoxale Aussageform, die eine Rechts-Links- Vertau-

schung enthält, 1st teilweise noch an die Vorstellung gebunden. Sie kann

aber nicht durch das Denken,

oder jedenfalls nicht

allein durch das Denken und die Ausdrucksformen der anderen

Bewußtseinsstrukturen, die im Erleben oder Erfahren, oder eben

durch das denkende Vorstellen, geleistet werden, sondern nur, wenn auch das hinzukommt, was wir als das Wahren bezeich-

net haben. Die tatsáchliche Wirkung des apokryphen Wortes Jesu vollzieht sich nicht in der raumzeitlichen, gedachten und vorgestellten Welt, auch nicht in der nur zweidimensionalen

364

Die bisherigen Realisations- und Denkformen

oder eindimensionalen. Doch dort, wo die Welt raumfrei und zeitfrei wird, wo das Wabren Gültigkeit erhált, wo die Welt

und wir uns selber, also das Ganze, durchsichtig werden, dort,

wo das Diaphane und das Diaphanierende zur. Weltwahrung werden, da wird diese » Welt« konkret und integriert.

Achtes Kapitel

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

1. Ursprung und Gegenwart (Ergänzende Querschnitte) Eine Schwierigkeit, die vielen unüberwindlich

dünken

wird,

besteht darın, daß die aperspektivische Welt nicht »vorgestellt« werden kann. Diese Welt geht uber unsere Vorstellung hinaus.

Auf die gleiche Weise ging einst die mentale Welt über die Erfahrbarkeit des mythischen Menschen hinaus; und trotzdem wurde unsere mentale Welt Wirklichkeit. Wer der aperspektivischen Welt den Vorwurf macht — und dies wird ausgiebig geschehen —, daß sie unvorstellbar, unbegreiflich, unfaßlich, un-

beweisbar und nicht raumlichend zu Denkendes sei, der scheitert

nur an der Begrenztheit der eigenen, an das Erfassen und das Sehen gefesselten Weltvorstellung. Außerdem wird es irritieren, daß wir von arationalen Möglichkeiten sprechen, und davon, daß dieses Arationale nicht mit dem Irrationalen, noch mit dem

Praerationalen verwechselt werden darf. Aus unseren Ausführungen dürfte hervorgegangen sein, daß wir weder die Rationalisten noch die Irrationalisten ablehnen. Diese gegenseitige Ablehnung überlassen wır ıhnen selber, da sie ja nichts anderes ist als eine Huldigung an den Dualismus, den es zu überwinden gilt. Denn ist für den Rationalisten alles Nicht-Rationale nichts als das mißbillige Irrationale, so ist für den

Irrationalisten

das

Rationale

so irrational,

wie

fiir den

Inder unsere Raumwelt »Maya« (Schein) ist. Nicht diesem ge-

gensatzlichenden Verneinen und Ablehnen reden wir das Wort,

wohl aber haben wir auf die Jeweils defizienten Aufferungsformen hingewiesen. Ja, wir gingen noch weiter: wir haben selbst

das Praerationale nicht nur als einst gültig, sondern als selbst heute noch aus seiner uns mitkonstituierenden Struktur heraus

als wirksam ersichtlich gemacht. Und darüber hinaus haben wir von der Unverlierbarkeit der archaischen Struktur gesprochen, die infolge ihrer Ursprungsgegenwärtigkeit auch heute stets gegenwärtig ist.

So wenig nun die magische Struktur vorstellbar ist, sondern

nur erlebbar, so wenig die mythische vorstellbar ist, sondern

nur erfahrbar, so wenig die rationale erlebbar oder erfahrbar ist, sondern nur denkbar und vorstellbar, so wenig ist die inte-

366

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

grale Struktur vorstellbar, sondern nur wahrnehmbar. Dieses Wahrnehmen oder Wahren ıst dann keine Unmöglichkeit, wenn das vierdimensionale Koordinatensystem Bewußtseins-Charakter erhält (es herauszuarbeiten,

es wahrnehmbar

zu machen,

wird Aufgabe des zweiten Teiles sein). Hıer seı nur nochmals darauf verwiesen, daß die aperspektivische Welt, die arational ist, keine Synthese darstellt. Eine Synthese könnte sie nur sein, wenn sie versuchte, zwei Welten zu einigen: beispielsweise die irrationale und die rationale: ein Versuch, der, wie wir gesehen

haben, im paradoxalen Denken unternommen wird. Hier aber handelt es sich um zumindest vier Welten oder Strukturen, von

denen jede einzelne nicht nur gültig, sondern nótig ist; die fünfte aber ist notwendig. Angesichts dieser vier Strukturen, angesichts dessen, dafs außer der Ursprünglichkeit auch das Erlebnis und die Erfahrung und die Vorstellung oder das Denken durch uns geleistet werden müssen, kann eine fünfte nicht durch eine Synthese, sondern nur durch eine Integrierung erreicht werden. Und einer der »Wege« zu dieser Integrierung ist, die bisherigen Strukturen, so wie sie uns konstituieren, zu konkretisieren; das aber heißt gleichzeitig auch, daß sie uns in ihrem jeweiligen Bewußtseinsgrade bewuft und gegenwärtig werden. Denn nur das Gegenwärtige ıst wahrnehmbar, so wie jedes Wahrnehmen eın wahrgebendes Gegenwärtigen ıst. Das Wahrnehmen oder Wahren ist nicht an das Sehen gebunden, das vornehmlich die mentale Struktur prägt, sondern es ıst, durchaus nicht übersinnlich, eın Gegenwartigen aller Erscheinungsund Äußerungsformen und deshalb fähıg, das Diaphane wahrzunehmen,

das weder durch eın bloßes Sehen noch Hören oder

Fühlen realisiert werden kann. Nochmals seı es deshalb betont: das Wahrnehmen ist kein übersinnlicher Vorgang. Begriffe wie Intuition und ähnliche wären zu seiner Charakterisierung durchaus fehl am Platz. Es ıst ein ganzheitliches Geschehen und, wenn

man will, ein ganzheitlicher Zustand des »Sich«; es ıst gegenwärtigend und selber diaphanierend; und dies Diaphane kann man weder hören, noch schauen, noch sehen. Mit anderen Wor-

ten: durch das Wahrnehmen wird die nur hörbare und die nur schaubare und die nur sehbare Welt als Ganzheit gegenwärtig. Und diese Gänzlichung gilt es zu wirklichen. Eine Wirklichung dieser Ganzheit ist jedoch nur mögliıch, wenn die Teile, die zusammen nur ein Insgesamt bilden, durch einen entscheidenden Vollzug, den des Wahrnehmens und Wahrgebens, gegänzlicht werden können. Dafür bedarf es einer

Ursprung und Gegenwart

367

grundlegenden Voraussetzung: dıe Teile müssen ıhrem eigenen Wesen gemäß, seı es erhört oder erlebt, seı es geschaut oder erfahren, 561 es gesehen oder gedacht werden: denn nur konkretisierte Teile sind integrierbar; das Abstrakte, vor allem das Absolute, bleiben immer abgetrennte Teile, womit jedoch nichts

gegen den klärenden und Erkenntnis ermöglichenden Wert der Abstraktion innerhalb der ihr gemäßen mentalen Struktur gesagt sein soll. / Dieser Konkretisierung der Teile galten die Ausführungen

der letzten drei Kapitel (V, VI und VII). Sie ergänzten unser erstes zusammenfassendes Kapitel (IV) und waren den Muta-

tionen entsprechend geordnet. Diese Kapitel mógen anschaulich und wahrnehmbar gemacht haben, welcher Art die Bedingtheit des Magischen ist, die sich uns in seiner Punkthaftigkeit zu erkennen gab; sie mógen anschaulich und wahrnehmbar gemacht haben, welcher Art die Befristetheit des Mythischen ist, die sich als Gegenpol zu seiner Unbegrenztheit ergibt und die darin zum

Ausdruck

kommt,

daf$ aus dem

Mythischen

heraus der

Gedanke entspringen konnte?; zudem muf die mythisch-psychische Welt befristet sein, denn anders wáre die geforderte und

versuchte Links-Rechts-Vertauschung unerfüllbar. Und schlieflich mögen diese Kapitel außer der jeweiligen Bedingtheit und

Befristetheit der magischen und der mythischen Strukturen es uns vorstellbar gemacht haben, welcher Art dıe Begrenztheit des Mental-Rationalen ıst, die uns in ıhrer Einseitigkeit nachdenkbar ist, das heißt in ihrer bloßen Rechtsbetontheit, welche weit-

gehend mit jedweder Gerichtetheit verwechselt wurde; eine Begrenztheit, die auch ın der dreidimensionalen Zeitvergewaltigung sichtbar geworden ist. Auf Grund dieser Befunde konnten wir in den einzelnen Kapiteln implicite klarwerden lassen, daß die bisherige »Zeit« eine deklassierte Zeit war. Statt als funktionale und konstituierende Dimension belassen zu werden, wurde sie, die richtet und räum-

licht, ihrerseits gerichtet und geräumlicht: dieser Irrtum ist innerhalb einer nur räumlichenden Weltvorstellung unvermeidlich. Und ebenso konnten wir hinsichtlich des Geistes implicite klarwerden lassen, daß das, was bisher als »Geist« angesprochen wurde, ein deklassierter Geist ıst, der entweder psychisiert oder abstrahiert wurde: ein Irrtum, der für eine nur im Psychischen befangene Weltanschauung unvermeidlich ist; innerhalb einer Weltvorstellung aber ist kein Platz für ihn, da das Geistige eine arationale »Größe«

ist; als »Geist« mußte und wurde er aus ihr

368

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

ausgeschieden, abgetrennt, absolutiert. So wie die Zeit eine de-

klassierte Form des »Zeitigenden« ist, ist der Geist eine deklassierte Form des »Geistigen«. Beide sind erst von der Amaterial:tát der integralen Struktur aus zu wirklichen, so wie der Raum

nur aus der materiellen Struktur heraus, die Seele nur durch die

immaterielle zu wirklichen sind. Um in der »Synoptischen Übersicht«, wenn auch keine »vollständige«, so doch eine kommentierte Übersicht über die Fundamente der aperspektivischen Welt geben zu kónnen und um einige Resultate festzuhalten, die sich aus den Kapiteln V, VI und VII ergeben, wollen wir diese Resultate nun noch in ergánzenden Querschnitten zusammenfassen.

Beginnen wir mit den Querschnitten, die jene ergánzen kón-

nen, die wir bereits (s. S. 218ff.) für die Realisations- und Denk-

formen im Querschnitt 11 (a und b) gegeben haben. Wir erhalten dann folgende zusätzliche Übersicht: Strukt ruktur Archaisch:

Maeisch: BEN:

Mythisch:

c) Vorgang Ahnen

11. Realisations- und Denkformen d) Ausdruck] e)Formulierung Grenzen Ahnen

Assoziatives,

Integral:

Welt-

analogisierendes, | Erlebnis

Erkenntnis:

sympathisierendes Verflechten

die »erkannte« Welt

Erinnerndes

Welt-Bild oder

Schauen -

Entäußerndes Sagen

Erfahrung

“oo wicrendes Mental:

|Welt-Ursprung

okeanisches, paradoxales dann perspekti-

|

A

vee

***22UUnE-

die angeschaute u.gedeutete Welt

| bedingt

| befristet

-

| uni-

valent

ambivalent

Welt-Vorstellung: Vorstellung | die gedachte und vorgestellte

visches Denken

Welt

|

Welt-Wahrung: die wahrge-

Integrierendes Diaphanieren

-

8) Valenz

Wahrung

nommene u. wahrgegebene

Welt

|begrenzt | trt valent

offen und frei

| multi-

valent

Ursprung und Gegenwart

369

Auch bei dieser Gelegenheit verweisen wir darauf, daß die hier und in den noch folgenden Querschnitten vorgenommenen Zuschreibungen fúr die integrale Struktur wieder nur andeutende Hinweise darstellen, keinesfalls aber perspektivische Postulierungen oder Setzungen sınd. Da wir diese Querschnitte textmäßıg auf den vorstehenden Seiten zusammengefaßt haben, glauben wir, daß sich ihre nochmalige Erläuterung erübrigt. Anders dagegen verhält es sich mit den nachstehenden Querschnitten 15, 16 und 17:

15. Lokalisationen

Struktur Archaisch: Magisch:

Mythisch:

Mental:

16. Formen

der Seele

|

Bindung

der

17. Motto

(All)

-

Same und Blut

Proligio (prolegere): fühlend und punkthaft

| Zwerchfell und Herz Rückenmark

und

Gehirn

All

»relegio« (relegere): beachtend, erinnernd | und entäußernd (aussagend) Religion (religare): glaubend, wissend und deduzierend

Pars pro toto

Seele gleich Leben (und Tod)

Denken ist Sein

Praeligio(n) Integral:

Hirnrinde und Humorale

(P raeligare) gegenwártigend, konkretisierend und integrierend

PLE: Gegenwart (Wahrgeben: Wahrnehmen)

Den Querschnitt 15 glauben wir geben zu müssen, weıl er die Querschnitte 9 und 10 (5. 5. 215) ergänzt, und weil es nicht un-

wichtig sein dürfte, daß wir uns über die »numinose« Rolle, die unsere Organe innerhalb der Bewufitwerdung spielten, Rechenschaft ablegen, zumal Reste dieser einstigen numinosen oder manahaften Wirksamkeit selbst heute noch hier und dort wirksam sind. (Die defizient magische Blut-und-Boden-Parole des in zwölf Jahren zugrunde gegangenen »tausendjährigen Reiches« war dafür nur ein Beispiel unter vielen.) Wenn wir hinsichtlich der Lokalisation der Seele für die magische Struktur nur Samen und

Blut

nennen,

so deshalb,

weil

die

anfänglıch

punkthafte

370

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

Verstreutheit der Seele auf alle für den magischen Menschen erlebbaren »Punkte« durch diese Zuschreibung am deutlichsten zum Ausdruck gebracht werden kann, und weil sowohl das Blut als der Same Seelenträger waren, da diese Stoffe die Lebenskräfte par excellence sind. Bis hinauf in unsere mentale Zeit wirkt ja die numinose Eigenschaft dieser Stoffe oder Säfte nach: das Blut ım Blute Christi, das symbolisch und sakramental ım Wein gespendet wird; der Same in der Vorstellung des λόγος σπερματικός (logos spermaticos; sperma = Same), der besonders in gnostischen Schriften eine große Rolle spielt. Und noch ın Griechenland nennt Hippon als Seelensitz den Samen, Kritias das Blut. ?

Daß dann mit der mythischen Struktur eine Aufwärtswanderung in der Betonung der als numinos bewerteten Organe eintrat, eine Umlagerung aus der Vitalsphäre in die Empfindungssphäre, die durch das Zwerchfell und das Herz symbolisiert und gekennzeichnet wird, das konnten wir beobachten, als wir dem Bedeutungswandel der einzelnen numinosen griechischen Begriffe nachgingen und dabei beispielsweise fanden, daß ἦτορ (etor) anfänglich »Blut«, später »Herz« bedeutete. Zudem hängt

das Zwerchfell mit dem Atem zusammen, der dem Herzschlage gleich ein polhaftes Geschehen ist; und das Herz ist es, das gehört und mit dem ın der mythischen Sphäre gesprochen wird. Denn das Sehen spielt hier noch nicht die entscheidende Rolle, und es hat seinen guten Grund, wenn mythische Sänger wie Homer blind vorgestellt wurden; denn um der Seele ansıchtig zu werden, bedarf es nıcht der Augen, sondern des Schauens; das aber ist nicht auf die sichtbare Welt gerichtet, sondern wird,

nach innen gewandt, der inneren Bilder (der Seele) ansichtig. Und daß schließlich infolge der mentalen Struktur Rückenmark und Gehirn als Sitz oder Organ der sogenannten psychischen Abláufe angesehen wurden, ist allgemein bekannt. Alkmaion? war der erste, der es tat, und die heutigen materialistischen Psychologen werden die letzten sein und dürfen sich dabei noch immer auf Descartes berufen. Auch im Querschnitt 16 dürften die Zuschreibungen ohne weiteres verstándlich sein. Was die mythische »relegio« anbelangt, sowie die mentale »Religion«, so ergibt sich aus ihnen für die magische Struktur Jene »Proligio«, die uns das Wesen dessen, was man bisher als »primitive Religion« bezeichnete, sorgsamer auszudrücken scheint: es 1st die Bindung zu dem »Punkt«, der jeweils »für« (pro) den magischen Menschen im Sinne des »pars

Zusammenfassung und Ausblick

371

pro toto« Gültigkeit hat; und die Ursprungsnähe des magischen Menschen macht eine »Religion«, die zudem die mentale Bewußtseinsstruktur voraussetzt, illusorisch. In dem gleichen Maße können wir auch hinsichtlich der ıntegralen Struktur nıcht von bloßer »Religion« sprechen: Gegenwartigung ist »mehr« als bloße Rückbindung. Gegenwärtigung ist auch Hereinnahme des Zukünftigen. Insofern Gegenwärtigung sowohl präsente Vergangenheit als präsente Zukunft integriert, ıst die Bindung für diese integrale Struktur die » praeligio«. Diese Praeligio schließt alle Befangenheiten aus; sie ist ohne Erwartung, ohne Hoffnung auf etwas — denn alles zu Erhoffende ist latent in uns und wird durch die Praeligio realisiert; das gleiche gilt von der Erinnerung, das gleiche gilt von der Vertauschung des bedingten Oben und Unten, und es gilt von der Vertauschung des befristeten Links und Rechts sowie des begrenzten Vorn und Hinten. Praeligio ist damit die Bindung zu der durchscheinend werdenden Ursprungsgegenwartigkeit, die, wird sie dem Menschen bewußt, ihm die Wahrnehmung und die Wahrgebung des Ganzen ermöglicht: die Praeligio schaltet keine der anderen Formen der Bindung aus, sondern bindet sie alle »in« das Ganze. Und

was schliefllich den Querschnitt

17 anbetrifft, so ver-

wiesen wir des öfteren auf das magische »pars pro toto«; und wir erinnern an die für das Mythische charakteristische Doppelbedeutung des griechischen Wortes »Psyche«, das nicht nur

»Seele« bedeutet, sondern auch »Leben«; wobei jenes Leben, das

die mythisch-psychischen Sinnbilder symbolisieren, immer auch polhaft den Tod enthált. Im ersten »Motto« kommt also das einende Moment zum Ausdruck, im zweiten das polhafte, im

dritten, dem Satz des Parmenides, finden wir das setzende »ist«, und im vierten deutet sich an, daß das Wahren weder ein Einen,

noch ein Polarisieren, noch ein Setzen oder eine Synthese ist, wohl aber ein Integrieren, durch welches der das Ganze prägende Ursprung wahrgenommene Gegenwart wird. 2.

Zusammenfassung und Ausblick

Schließen wir hier unseren Versuch, die Fundamente einer neuen Mutation darzustellen, ab. Insoweit wir sie deutlich zu machen

vermochten, dürfte es klargeworden sein, daß die vier den Menschen konstituierenden Strukturen als Ganzheit aufgefaßt werden müssen. Ihre Mutationen sind eine Bewußtwerdung; ihre

372

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

» Geschichte«, wie wir sie dargestellt haben, ist ein Beitrag zu einer Geschichte der Bewufstwerdung. Sie macht es uns bewußt, in welch lebendiger Fülle alle Strukturen ıhre Wirksamkeit ausüben. Diese Strukturen miteinander und ihrem jeweiligen Bewußtseinsgrad entsprechend zu leben, dürfte zu einer Annäherung an ein ganzheitliches Leben befähigen. Und zu wissen, aus welcher der Strukturen dieser oder jener Lebensvorgang, diese oder jene unserer Reaktionen oder Ansichten oder Urteile stammen, kann uns ohne Zweifel behilflich sein, um das Leben zu

klären. Klarheit jedoch, die auch um die Dunkelheiten weiß, Wachheit, die um den Schlaf weıß, sind Voraussetzungen, welche die Durchsichtigkeit der integralen Struktur fordert. Wir haben in unseren Ausführungen über die Fundamente bereits auf das Bezug genommen, was sıch in einer neuen Mutation wirklichen könnte. Das war ein Wagnis, denn diese Bezugnahmen mußten unverbindlich bleiben und entbehrten der Beweise. Man möge sie als Hınweise werten, so wie man die Schilderung einer Landschaft zur Kenntnis nımmt, die einem noch fremd ıst, und deren Schilderung deshalb eher befremdend wirken muß, solange man ıhrer nicht selber ansichtig wurde. Trotzdem glauben wir, nıcht falsch gehandelt zu haben, wenn wir diese »neue Landschaft« der aperspektivischen Welt hın und wieder anzudeuten versuchten: nicht eine Vorstellung sollte von ihr gegeben werden, sondern eine Andeutung. Jedenfalls aber lassen

sıch erste Manifestationen

nachweisen,

welche

sıch

auf

die angedeutete Landschaft beziehen. Sie ist keine Verheißung, sondern eine Aufgabe. Wie nun auch immer diese Landschaft beschaffen sein mag, sie kann keine Wiederholung des schon Gewesenen sein. Vier große umfassende Weltmodalitaten, denen wir entsprangen und entspringen, die wir erlebten und erleben, die wir erfuhren und erfahren, die wir dachten und denken: vier große, umfassende und dazu intensive Bereiche möglicher und bereits ermöglichter Manifestationsformen scheiden für die »neue Landschaft« von vornherein

(oder ım nachherein)

aus. Das vereinfacht unsere

Aufgabe gewiß nıcht; aber es klärt sıe. Die dargestellten Mutationen machten ferner deutlich: daß ein jeweilig Unerfahrbares erfahrbar, eın Unvorstellbares vorstellbar, ein Undenkbares denkbar wurden. Denn dem magischen Menschen ist die Erfahrbarkeit oder Denkbarkeit der mentalen Struktur nicht realisierbar. Dem bloß mentalen Menschen wird die Wahrnehmbarkeit der integralen Struktur nicht vor-

Zusammenfassung und Ausblick

373

stellbar sein; aber wir befinden uns bereits in ıhren Anfängen;

und dieser Umstand wird vieles erleichtern, was jetzt noch unrealisierbar scheint.

Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte dürften deutlich ge-

macht haben, daß eine neue Mutation

heutige Not zu Zertrümmerung setzt hat, bedarf es gut sein, sich

notwendig

ist, um die

wenden. In welchem Unmaß eine allgemeine der materialisierten Werte und Unwerte eingeheute keiner Beschreibung mehr. Und da mag daran zu erinnern, daß eınst, als die mythische

Struktur zu verblassen begann, der griechische Mensch sich einer ähnlichen Chaotisierung gegenübersah, wie es heute für uns

wieder der Fall ist. Jene damalige Chaotisierung betraf die mythische Welt, die auseinandergeborsten war: es war die drohende psychische Zertrümmerung. Ihrer wurde der Grieche dank des gerichteten Denkens Herr. Heute betrifft die Chaotisierung unsere materielle Raumwelt. Ihrer können wır vielleicht durch die »Wahrung« Herr werden. Die Ideen Platons fixierten die seelischen Denkinhalte, ohne die sich der griechische Mensch nıemals aus der Seele und dem Mythos hätte befreien können. Diese Fixierung ermöglichte die Raumwelt, die ihrerseits durch die Perspektive Leonardo da Vincis fixiert wurde, denn ohne

den gesetzten perspektivischen Punkt hätte sıch der europäische

Mensch ım Raume verloren, so wie sich ohne die gesetzten ıdeellen Punkte der griechische Mensch ın der Seele verloren hätte. Und nun, da diese Raumwelt ın Trümmer zu gehen droht, weil die aus ihr hervorbrechenden Kräfte zuerst einmal stärker sind als der Mensch,

der sie realisiert, bildet sich in ihm das

neue Vermögen, das gerade durch diese scheinbar negativen Kräfte und Mächte geweckt wird. So wie das sinngerichtete

Denken

von

dem

zerberstenden

wurde, jenes Denken,

durch

mythischen

das die Griechen

Kreise

vor dem

geweckt

Unter-

gang in der bewußtwerdenden Innenwelt, in der Seele, bewahrt

wurden, so könnte das sinnvolle Wahrnehmen von der zerberstenden Raumwelt geweckt werden, jenes Wahrnehmen, das uns

vor dem Untergang in die bewußtgewordene Außenwelt, in die Materie, zu bewahren vermöchte. Doch die zerborstene Raumwelt, dıe eine Welt unserer Vorstellung ist, was wir niemals vergessen dürfen, sie erst ist Gewähr

für die Möglichkeit einer raumfreien aperspektivischen Welt. Wenn es uns gelingt, das Geschehende unter diesem Gesichtspunkt der Mutationen zu betrachten, dann wird auch ersichtlich, daß es sich bei dem soeben angeführten Vergleich nicht um

374

Die Fundamente der aperspektivischen Welt

ein Wiederholen

handelt,

sondern

um

ein

»neues«

Geschehen.

Denn inzwischen, seit den frühesten Tagen bıs auf die heutigen, mehrten sich die Strukturen. Und uns ist aufgegeben ihre vorerst

letzte Mehrung, diesmal durch Integrierung, zu leisten.

Als den defizient mythisch-magischen Mexikanern der mentale Spanier gegenúbertrat, versagte die magisch-mythische Macht vor der mentalen Kraft; und es versagte das Clanbewußtsein vor dem mannbetonten Ichbewußtsein. Wenn dem defizient mentalen Menschen der ıntegrale Mensch gegenüberzutreten vermöchte — würde dann die defizient materielle Macht nicht vor der integralen Kraft versagen? Würde das mannbetonte Ichbewußtsein nicht vor dem menschheitlichen Sich-Bewußtsein, würde das Mental-Rationale nicht vor dem Geistigen, würde die Geteiltheit nicht vor der Ganzheit versagen? Es ist heute nicht mehr die Frage, ob »Reformen« nützen könnten. Dies ıst ım Verlauf unserer Darstellung deutlich geworden. Aber es bleibt eine andere Frage: Was kann der Mensch

zu dieser Mutation tun? Auf diese Frage wagten wir bereits eine

Antwort:

was

not

tut, ist, zu wissen,

wo

wir

uns

geschehen-

machend und wo wir uns geschehen-lassend zu bewähren haben:

wo wir nur wahrnehmen sollen, und wo Denn auch damit gegenwartigen wir realisieren, daß wir im gleichen Maße auch Duldende, und im gleichen Mafse auch Zukünftige sınd. Der Mensch

wir wahrgeben dirfen. das Ganze: indem wir sowohl Handelnde als sowohl Vergangene als

aber ıst ın der Welt, um sıe

und sıch zu wahren. Dies aber nicht um seınet- oder ıhretwillen,

wohl aber um der geistigen Gegenwart willen. Sie ist es, die das

Ganze in die Durchsichtigkeit hebt und die uns von unserer ver-

gehenden Zeit befreit. Denn diese unsere Zeit ist keine Gegen-

wart, sondern Teil und Flucht, ja fast schon Ende. Doch nur wer um den Ursprung weiß, hat Gegenwart und lebt und stirbt ım Ganzen.

Bildtafeln

Tafel 1

Abb. 2zu S. 65: Pablo Picasso, » Le chapeau de paille (Der Strohhut)« (1938).

y

ser

|

Abb. 3 zu S. 66: Georges Braque, »Femme au chevalet (Frau vor der Staffelei)« (1936).

Tafel 2

Abb. 5 zu S. 99: »Die Negerschlacht«; Gemälde auf einer Truhe

im Grabe

des Tut-ench-Amuns;

Chr. (Verkleinerter Ausschnitt).

1300 v.

Tafel 3

Abb. 6 zu S. 100: Fresko aus der »Tour de

la Garderobe« im »Palais des Papes« von Avignon; ca. 1300 n. Chr. (Verkleinert).

Tafel 4

| Bis,

EIee

nb.

E

Fat

|

ἢ SE E

AG

ae

\)

|

4

ἢ}

1

|,

Abb. 9 zu S. 101: Prähisto-

fische Felszeichnung aus Australien (Verkleinert).

Abb. 10 zu 5.101: Irische Miniatur aus einem Psalter in Dover; 9. Jahrh. n. Chr. (Ausschnitt; verkleinert).

¿

y

d nnd d ios REA i

i

Tafel 5

Abb. 15 zu S. 103: Idol; Sumer;

4. bis 3. Jhtsd.

v. Chr.;

Aleppo.

Museum

Abb.

16 zu S. 103: Idol; Sumer;

4. bis 3. Jhtsd. v. Chr.; Museum

Bagdad.

Tafel 6

Abb. 17 zu S. 103: Chinesische Schminkmaske der Peking-Oper; ihr Ursprung fállt in die Zeit der »Sechs Dynastien« (220 bis 589 n. Chr.)

Abb.18 zuS. 103: Bartmaske der Peking-Oper, getragen von dem derzeit größten chinesischen Schauspieler, Tschu-Hsin-fang, in der Rolle eines Ministers der T’ang-Dynastie (618 bis 907 n. Chr.); Peking, Dezember 1961.

Tafel 7

Abb. 19 zuS. 108: »Prinz mit der Federkrone«; farbiges Stuckrelief aus Knossos auf Kreta (ergánzt); um 1500 v. Chr. (Verkleinert; Original-

höhe 2,10 m).

Tafel 8

Abb. 40 zu S. 322: Gefliigelter Ephebe und Delphin (Hellenistische Bronze); Henkel eines Aschenkruges aus den Grábern von Myrina.

Abb. 41 zu 5. 322: Bild auf einer griechischen Schale (um 500 v. Chr.).