Urbanität: Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern 9783412216894, 9783412222727

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Urbanität: Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern
 9783412216894, 9783412222727

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¨ DTEFORSCHUNG STA Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster begru¨ndet von Heinz Stoob in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, M. Kintzinger, B. Krug-Richter, A. Lampen, E. Mu¨hle, J. Oberste, M. Scheutz, G. Schwerhoff und C. Zimmermann herausgegeben von

We r n e r F r e i t a g Reihe A: Darstellungen Band 90

¨T URBANITA FORMEN DER INSZENIERUNG IN TEXTEN, KARTEN, BILDERN

herausgegeben von M a r t i n a S t e r c k e n und U t e S c h n e i d e r

2016 ¨ HLAU VERLAG KO ¨ LN WEIMAR WIEN BO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die ‚Scena Comica‘ des italienischen Architekturtheoretikers Sebastiano Serlio (1475–1554) pra¨sentiert eine o¨konomisch bestimmte, gescha¨ftige Vorstellung des Urbanen an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Sebastiano Serlio, ‚Scena Comica‘, in: Zweites Buch u¨ber die Architektur, Venedig 1569 (1. Aufl. Paris 1545), S. 68.

© 2016 by Bo¨hlau Verlag GmbH & Cie, Ko¨ln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Ko¨ln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzula¨ssig. Redaktion: Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte, Mu¨nster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Peter Kramer Buch & Satz, Mu¨nster Druck und Bindung: Strauss, Mo¨rlenbach Gesetzt aus der Linotype Stempel Garamond 10pt. Gedruckt auf chlor- und sa¨urefreiem Papier. Printed in the EU ISBN 978-3-412-22272-7

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Adressen der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Martina Stercken und Ute Schneider Urbanita¨t. Formen der Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Gerhard Fouquet Urbanita¨t. Stadtbilder vom Spa¨tmittelalter bis in die Fru¨he Neuzeit . . . .

21

Frank Rexroth ‚Wissenschaft‘ und ‚Unmoral‘ in den mittelalterlichen Vorstellungen von der Bildungsmetropole Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Gabriel Zeilinger Behauptete Sta¨dte. Urbanisierung und Urbanita¨t in Texten adliger Herrschaftspraxis aus dem Oberelsass um 1300 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Pia Eckhart und Birgit Studt Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt. Die Verhandlung von Wissen u¨ber die Vergangenheit in der sta¨dtischen Geschichtsschreibung am Oberrhein im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Tanja Michalsky Die Stadt im Buch. Die Konstruktion sta¨dtischer Ordnung am Beispiel fru¨hneuzeitlicher Beschreibungen Neapels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Ferdinand Opll Der Festungsbau als Initiator des Stadtplanes. Zur Entwicklung der Wiener Stadtpla¨ne im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

6

Inhalt

Jo¨rg Schweinitz Maschinen, Rhythmen und Texturen. Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt von Walter Ruttmann. Die filmische Imagination einer Metropole . .

157

Julika Griem Text – Spektakel – Praxis. Begriffliche Konjunkturen kulturwissenschaftlicher Stadtforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Jens Martin Gurr Zur literarischen Modellierung von Urbanita¨t und urbaner Komplexita¨t. Literaturwissenschaft im Kontext disziplinenu¨bergreifender Stadtforschung .

193

Enrico Chapel Visions d’urbanite´ et paysages sensoriels. Le concours Europan en France .

209

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

VORWORT

‚Urbanita¨t‘ ist ein Begriff, mit dem im Verlaufe der Geschichte jeweils Verschiedenes, immer jedoch eine besondere Qualita¨t des Lebens verbunden worden ist. Akzentuiert wird er vor allem in soziologischen, urbanistischen, architektonischen und geographischen Auseinandersetzungen mit Verdichtungsprozessen in der Stadt und auf dem Land, mit einer differenzierten Gesellschaft und der Vielfalt an Angeboten. Dabei wird ‚Urbanita¨t‘ nicht nur als diffuse Beschreibungskategorie des ‚Sta¨dtischen‘ verwendet, sondern gilt auch als zukunftsgerichtetes Ziel von Planung. Anliegen des vorliegenden Bandes ist es indes nicht in erster Linie, den Begriff zu scha¨rfen oder die mit ihm verbundenen Prozesse zu beschreiben, sondern vielmehr in interdisziplina¨rer Perspektive und auf eine zeitlich lange Sicht Momente in den Blick zu nehmen, in denen ‚Urbanita¨t‘ vermittelt wird. Anknu¨pfend an eine kulturgeschichtlich gepra¨gte Mediengeschichte wird der Frage nachgegangen, auf welche Weise, in welchen Kontexten und mit welcher Wirkmacht Texte, Bilder, Karten und Filme zeitspezifische Imaginationen und Konzepte des Urbanen erzeugen. Versammelt werden dabei, zusammen mit anderen Aufsa¨tzen, Ergebnisse einer Tagung am Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster im Ma¨rz 2012. Den Beitra¨gern, aber auch allen, die sich im Rahmen der Veranstaltung an den Diskussionen um den medialen Zugang zur ‚Urbanita¨t‘ beteiligt haben, gilt unser großer Dank. Herzlich bedanken mo¨chten wir uns auch bei Prof. Dr. Werner Freitag, der uns nicht nur aufgefordert hat, Tagung und Band zu konzipieren, sondern auch unseren Vorschlag verbindlich befo¨rdert hat, bei Dr. Mechthild Siekmann, Redakteurin der Reihe Sta¨dteforschung, fu¨r ihre hochkompetente und immer konstruktive Betreuung des Bandes und bei Gian Peter Ochsner (Zu¨rich), der die redaktionelle Bearbeitung der Texte engagiert unterstu¨tzt hat. Zu¨rich und Essen 2015

Martina Stercken und Ute Schneider

ADRESSEN DER AUTOREN

Prof. Dr. Enrico Chapel, Laboratoire de recherche en architecture, E´cole nationale supe´rieure d’architecture de Toulouse, 83 rue Aristide Maillol, BP 10629, F-31106 Toulouse Cedex 1 [email protected] Pia Eckhart, M. A., Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universita¨t Freiburg, Platz der Universita¨t, D-79085 Freiburg i. Br. [email protected] Prof. Dr. Dr. h. c. Gerhard Fouquet, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universita¨t zu Kiel, Olshausenstraße 40, D-24098 Kiel [email protected] Prof. Dr. Julika Griem, Institut fu¨r England- und Amerikastudien, Goethe-Universita¨t Frankfurt am Main, Norbert-Wollheim-Platz 1, D-60629 Frankfurt am Main [email protected] Prof. Dr. Jens Martin Gurr, Institut fu¨r Anglophone Studien, Universita¨t Duisburg-Essen, Universita¨tsstraße 12, D-45141 Essen [email protected] Prof. Dr. Tanja Michalsky, Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut fu¨r Kunstgeschichte, Via Gregoriana 28, I-00187 Rom [email protected] Prof. Dr. Ferdinand Opll, Franz-Garnhaft-Gasse, A-2380 Perchtoldsdorf [email protected] Prof. Dr. Frank Rexroth, Seminar fu¨r Mittlere und Neuere Geschichte, Kulturwissenschaftliches Zentrum, Georg-August-Universita¨t Go¨ttingen, Heinrich-Du¨ker-Weg 14, D-37073 Go¨ttingen [email protected] Prof. Dr. Ute Schneider, Historisches Seminar, Universita¨t Duisburg-Essen, Universita¨tsstraße 12, D-45117 Essen [email protected]

Adressen der Autoren

Prof. Dr. Jo¨rg Schweinitz, Seminar fu¨r Filmwissenschaft, Universita¨t Zu¨rich, Affolternstrasse 56, CH-8050 Zu¨rich [email protected] Prof. Dr. Martina Stercken, Historisches Seminar/NCCR Mediality, Universita¨t Zu¨rich, Ra¨mistrasse 42, CH-8001 Zu¨rich [email protected] Prof. Dr. Birgit Studt, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universita¨t Freiburg, Platz der Universita¨t, D-79085 Freiburg i. Br. [email protected] PD Dr. Gabriel Zeilinger, M. A., Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universita¨t zu Kiel, Olshausenstraße 40, D-24098 Kiel [email protected]

9

¨ RZUNGEN UND SIGLEN VERZEICHNIS DER ABKU

ARG BllDtLG DA FMSt HZ JbFrkLdF MGH DD FI MGH SS ¨G MIO MittVGNu¨rnberg MMS MPL ObrhStud RhArch StF A VHKomHess VHKomNass VHKomNds VHKomThu¨r VKomGLdkdBW VMPI VSWG VuF ZGO ZHF ZRGG ZWu¨rttLG

Archiv fu¨r Reformationsgeschichte Bla¨tter fu¨r deutsche Landesgeschichte Deutsches Archiv fu¨r Erforschung (bis 1944: Geschichte) des Mittelalters Fru¨hmittelalterliche Studien Historische Zeitschrift Jahrbuch fu¨r fra¨nkische Landesforschung MGH DD Friedrich I. MGH Scriptores ¨ sterreichische Geschichtsforschung Mitteilungen des Instituts fu¨r O Mitteilungen des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Nu¨rnberg Mu¨nstersche Mittelalter-Schriften Migne, Patrologia Latina Oberrheinische Studien Rheinisches Archiv Sta¨dteforschung, Reihe A: Darstellungen Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Hessen und Waldeck Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Nassau Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Niedersachsen und Bremen Vero¨ffentlichungen der Historischen Kommission fu¨r Thu¨ringen Vero¨ffentlichungen der Kommission fu¨r geschichtliche Landeskunde in Baden-Wu¨rttemberg Vero¨ffentlichungen des Max-Planck-Instituts fu¨r Geschichte Vierteljahrschrift fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vortra¨ge und Forschungen Zeitschrift fu¨r die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift fu¨r Historische Forschung Zeitschrift der Savigny-Stiftung fu¨r Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift fu¨r wu¨rttembergische Landesgeschichte

URBANITA¨T Formen der Inszenierung von Martina Stercken und Ute Schneider

Mit der Urbanita¨t wird ein schillernder Begriff in den Blick genommen, der seit der Antike verschiedene Bedeutungsverschiebungen erfahren hat. Wa¨hrend er in der Ro¨merzeit die kultivierte Lebensart und elegante witzige Rhetorik der Stadtbewohner bezeichnete, im hohen Mittelalter hingegen der ho¨fischen Gesellschaft und seit dem spa¨ten Mittelalter insbesondere in den romanischen La¨ndern wiederum den Sta¨dtern zugewiesen wurde, hat sich die Vorstellung, von dem was Urbanita¨t darstellt, in ju¨ngerer Vergangenheit weitgehend von den urspru¨nglichen Bedeutungshorizonten gelo¨st.1 Der Begriff ist zu einer allgemeinen Chiffre fu¨r das ‚Sta¨dtische‘ geworden. Analog zum Stadtbegriff hat er an Kontur verloren und wird in vielfa¨ltigen Perspektiven ausgedeutet. Dabei ist bemerkenswert, dass die historische Forschung sich zwar seit langem mit dem Stadtbegriff und mit den Verschiebungen im Stadt-Land-Verha¨ltnis insbesondere seit dem industriellen Zeitalter befasst hat, Begriff und Konzepte von Urbanita¨t dabei indes eine geringe Rolle gespielt haben.2 Vielmehr hat sich Urbanita¨t vor allem fu¨r Soziologen, Urbanisten, Architekten und Geographen zur zentralen Kategorie der Beschreibung von Verdichtungsprozessen, von wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, baulicher oder auch olfaktorischer und akustischer Vielfalt, von besonderen Qualita¨ten und Formen des Lebens, von Mobilita¨t und differenzierten Befind¨ berlegungen zur Urbanita¨t knu¨pfen vielfach am Pha¨nomen lichkeiten entwickelt.3 U

1 Thomas Zotz, Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der

ho¨fischen Kultur des hohen Mittelalters, in: Curalitas. Studien zu Grundfragen der ho¨fisch-ritterlichen Kultur, hg. v. Josef Fleckenstein, Go¨ttingen 1990, S. 392–451; Christoph G. Leidl, Urbanitas, in: Historisches Wo¨rterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tu¨bingen 2012, Bd. 10, Sp. 1344–1364; Thomas Wu¨st, Urbanita¨t. Ein Mythos und sein Potential, Wiesbaden 2004; Susanne Rau, Urbanita¨t, in: Enzyklopa¨die der Neuzeit, hg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart 2011, Bd. 13, Sp. 1120–1123. 2 Vgl. etwa Stadt und Land. Die Geschichte einer gegenseitigen Abha¨ngigkeit, hg. v. Georges Grosjean, Bern 1988; Peter Johanek/Franz-Joseph Post, Vielerlei Sta¨dte. Der Stadtbegriff (StF A 61), Ko¨ln/Wien 2004; Ulrich Rosseaux, Sta¨dte in der Fru¨hen Neuzeit, Darmstadt 2006; Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europa¨ische Stadtgeschichte seit 1850, Mu¨nchen 2013; Industrial cities. History and future, hg. v. Clemens Zimmermann, Frankfurt a. M. 2013. 3 Vgl. etwa Georg Simmel, Die Großsta¨dte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vortra¨ge und Aufsa¨tze zur Sta¨dteausstellung, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hg. v. Theodor Petermann, 9

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Martina Stercken und Ute Schneider

der Großstadt an, die als faszinierende Mo¨glichkeit modernen Lebens im Spannungs¨ ffentlichkeit, aber auch als Gegenentfeld zwischen Privatheit und (schwindender) O wurf eines idealen Zusammenlebens, als obsolete Daseinsweise oder als Gruppen pra¨gende Lebensform begriffen wird. Urbanita¨t wird zugleich entkoppelt von der historischen Stadt und im Kontext der Diffusion sta¨dtischer Eigenschaften – insbesondere von Bauweisen und eines bestimmten Habitus’ – in die Landschaft verwendet.4 Urbanita¨t fungiert hier nicht nur als hermeneutischer Begriff, mit dem Verha¨ltnisse erfasst und differenziert werden, sondern ist gleichzeitig handlungsorientiert und beschreibt das Ziel konkreter Projekte, die Visionen gesellschaftlichen Zusammenlebens umsetzen wollen. In der folgenden Auseinandersetzung mit Urbanita¨t wird es nicht so sehr um die Begrifflichkeit gehen oder um den Umgang mit faktischen Entwicklungen. Vielmehr stehen Formen der Inszenierung des unscharfen Pha¨nomens zur Diskussion. Der Blick soll auf Situationen in der Geschichte gelenkt werden, in denen Urbanita¨t vermittelt wird – auf solche Momente, in denen u¨ber Texte, Bilder, Karten und Filme einpra¨gsame sowie nachhaltige Imaginationen des Urbanen erzeugt werden und Imagepflege der Stadt betrieben wird. Insofern wird eine andere Perspektive eingenommen als diejenige, die Clemens Zimmermann fu¨r den Zugang zu Stadt und Medien vorgeschlagen hat. Ist dieser von der Stadt als Standort von Verbreitungsmedien, als Ort kommunikativer Verdichtung und spezifischer Praktiken, als Knotenpunkte von Netzkommunikation sowie als Gegenstand von Medien ausgegangen,5 so liegt der Akzent nunmehr nicht auf Medien als quantitativ qualifizierbaren Technologien, sondern vielmehr auf der Qualita¨t und den Modi, in denen urbane Eigenarten vergegenwa¨rtigt und etabliert werden. Dabei ermo¨glicht es die lange Perspektive, die in den technologisch ausgerichteten Auseinandersetzungen mit Medien mehrheit¨ berlegungen lich ausgeklammerte Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks in die U (1903), S. 185–206; Louis Wirth, Urbanism as a way of life, in: The American Journal of Sociology 44,1 (1938), S. 1–24; Kevin Lynch, The image of the city, Harvard 1960; Michael R. G. Conzen, Thinking about urban Form. Papers on urban morphology 1932–1998, Bern 2004; Anton C. Zijderveld, A theory of urbanity. The economic and civic culture of cities, New Brunswick/London 2009; Angelus Eisinger, Urbanita¨t: Ein Element zeitgema¨ßer Standortpolitik?, in: Stadtidentita¨t. Der richtige Weg zum Stadtmarketing, hg. v. Maria Louise Hilber/Ayda Ergez, Zu¨rich 2004, S. 93–103; Malte Friedrich, Urbane Kla¨nge. Popmusik und Imagination der Stadt (Materialita¨ten 14), Bielefeld 2010; Stadt und Urbanita¨t: transdisziplina¨re Perspektiven, hg. v. Markus Messling/Dieter La¨pple/Ju¨rgen Trabant (The New Metropolis 1), Berlin 2011. 4 Vgl. z. B. Wolf Gaebe, Urbane Ra¨ume (UTB 2511), Stuttgart 2004; Die europa¨ische Stadt, hg. v. Walter Siebel, Frankfurt a. M. 2004, insbesondere Kapitel II; Peter Dirksmeier, Urbanita¨t als Habitus. Zur Sozialgeographie sta¨dtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld 2009; Gunilla Lindholm, ‚Visible gestures‘. On urban landscape perspectives in planning, in: Planning Theory 11 (2012), S. 5–19. 5 Clemens Zimmermann, Einleitung: Stadt und Medien, in: Stadt und Medien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Dems. (StF A 85), Ko¨ln/Weimar/Wien 2012, S. 1–18; vgl. auch Urban Fictions. Die Zukunft des Sta¨dtischen, hg. v. Manfred Fassler/Claudius Terkowsky, Paderborn 2006; Andreas ¨ ffentlichkeit in London. Zur Entwicklung einer GroßKrischer, Politische Kommunikation und O stadt im 17. Jahrhundert in mediengeschichtlicher Perspektive, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Reden, Schreiben und Schauen in Großsta¨dten des Mittelalters und der Neuzeit, hg. v. Irmgard Christa Becker (Stadt in der Geschichte 36), Ostfildern 2011, S. 55–87; Franz Dro¨ge/Michael Mu¨ller, Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Zu¨rich 2004; Richard J. Brook/Nick Dunn, Urban Maps. Instruments of narrative and interpretation in the city, London 2011.

Urbanita¨t – Formen der Inszenierung

13

einzubeziehen und Kontinuita¨ten und Diskontinuita¨ten von Vermittlungsformen zu erkennen. Mit diesem Ziel wird an eine kulturgeschichtlich gepra¨gte Mediengeschichte angeknu¨pft, die – u¨ber Technologien der Verbreitung von Wissen und Vorstellungen hinaus – die kulturellen Bedingungen akzentuiert, welche Vermittlung ermo¨glichen, und vor allem solche Konstellationen in der Geschichte untersucht, in denen ¨ berlieferung ist in den geisetwas zum Medium gemacht wird.6 Dieser Zugang zur U teswissenschaftlichen Disziplinen jeweils in unterschiedlicher Weise rezipiert und fu¨r die Erschließung urbaner Verha¨ltnisse fruchtbar gemacht worden. Literaturwissenschaftliche Ansa¨tze setzen den technisch-mathematischen Modellen der Erfassung urbaner Komplexita¨t die Sinnlichkeit der Literatur entgegen, die als jeweils sprachlicher Entwurf simultaner und komplexer Verha¨ltnisse untersucht wird.7 Gefragt wird zugleich, was die Stadt im Text von anderen Formen der Stadterfahrung – im Spekta¨ berlegungen zu Sta¨dtekel und in der allta¨glichen Praxis – unterscheidet.8 Neuere U bildern haben u¨ber die Frage nach Entstehungskontexten, Abbildungscharakter und Aussagekraft hinaus auf deren vielschichtige Anlage als Imagination eines komplexen Gebildes aufmerksam gemacht und den Blick fu¨r die Eigenarten bildlicher Wissensspeicher geo¨ffnet.9 Der Aspekt der Vermittlung von Urbanita¨t wird aber auch ¨ berlegungen der Geschichtswissenschaft zu Situationen bu¨rgerlicher greifbar mit U Kommunikation: Er wird zum Beispiel mit den vielfa¨ltigen Formen beru¨hrt, in denen

6 Die Medien der Geschichte. Historizita¨t und Medialita¨t in interdisziplina¨rer Perspektive, hg. v. Fabio

Crivellari/Kay Kirchmann/Marcus Sandl/Rudolf Schlo¨gl, Konstanz (2004); Christian Kiening/Martina Stercken, Einleitung, in: Modelle des Medialen im Mittelalter, hg. v. Dens. (Das Mittelalter 15,2 2010), Berlin 2011, S. 3–15; Martina Stercken, Medien und Vermittlung gesellschaftlicher Ordnung. Beitra¨ge der schweizerischen Geschichtsforschung zum Spa¨tmittelalter, in: Traverse 1 (2012), S. 212–225. 7 Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (Mu¨nchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 88), Mu¨nchen 1986; Ju¨rgen Lehmann/Eckart Liebau, Stadt-Ansichten (Bibliotheca academica 1), Wu¨rzburg 2000; Klaus Garber, Literatur in der Stadt – Bilder der Stadt in der Literatur. Eine kleine europa¨ische Revue, in: Johanek/ Post, Vielerlei Sta¨dte (wie Anm. 2), S. 71–90; Babylon or New Jerusalem? Perceptions of the city in literature, hg. v. Valeria Tinkler-Villani (DQR studies in literature 32), Amsterdam/New York 2005; Utopie und Urbanita¨t. Die Wechselbeziehung zwischen Architektur, Literatur und Philosophie, hg. v. Jochen Witthinrich, Mu¨nchen 2009; Die zersto¨rte Stadt. Mediale Repra¨sentation urbaner Ra¨ume von Troja bis SimCity, hg. v. Andreas Bohn/Christine Mielke, Bielefeld 2007; Jens Martin Gurr, Zur literarischen Modellierung von Urbanita¨t und urbaner Komplexita¨t. Literaturwissenschaft im Kontext disziplinenu¨bergreifender Stadtforschung, in diesem Band; vgl. auch aus der Perspektive der Sta¨dtebaugeschichte: Vittorio Magnago Lampugnani, Stadt & Text. Zur Ideengeschichte des Sta¨dtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert, Berlin 2011. 8 Julika Griem, Text – Spektakel – Praxis. Begriffliche Konjunkturen kulturwissenschaftlicher Stadtforschung, in diesem Band. 9 Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Ferdinand Opll (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas 19), Linz 2004; Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004; Stadtbilder der Neuzeit, hg. v. Bernd Roeck (Stadt in der Geschichte 32), Sigmaringen 2006; Schweizer Sta¨dtebilder. Urbane Ikonographien (15. – 20. Jahrhundert)/Portraits de villes suisses. Iconographie urbaine (XVe-XXe sie`cle)/Vedute delle citta` svizzere. Iconografia urbana (XV–XX secolo), hg. v. Bernd Roeck/Martina Stercken/Franc¸ois Walter/Thomas Manetsch/Marco Jorio,Zu¨rich 2013; Susanne Rau, Ra¨ume, Frankfurt 2013.

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Martina Stercken und Ute Schneider

sich die Stadt und ihre Bu¨rger vorstellen und fu¨r die Gegenwart, aber auch zukunftsgerichtet Selbstversta¨ndnis zur Schau stellen.10 Urbanita¨t kann sich ebenso mit der Genese von bu¨rgerlicher Erinnerung und Identita¨t manifestieren, die insbesondere in Auseinandersetzung mit der sta¨dtischen Geschichtsschreibung und ihren Wahrnehmungs- und Erkla¨rungsmustern im Kontext der Frage nach den Mechanismen symbolischer Kommunikation diskutiert worden sind.11 Sie la¨sst sich aber auch mit der a¨sthetischen und historiographischen Markierung des Stadtraums durch Bilder und Schrift beobachten, die in der Vormoderne vor allem den Interessen der sta¨dtischen Fu¨hrungsschicht Ausdruck verleiht.12 Sie wird fassbar in den Mustern der Diskurse u¨ber die Stadt, mit kollektiven Sinnbildern und Zuschreibungen an das Gemeinwesen, seien diese vor Ort produziert oder aus dem Blickwinkel von Fremden entwickelt.13 Urbanita¨t kann zugleich mit bildlichen Darstellungen und performativen Situationen ausgestellt sein, die die Stadt zum Schauraum zeitspezifischer Ordnungsund Wertevorstellungen werden lassen.14 Und sie ist Stoff des Stadtmarketings, das in

10 Stadt und Repra¨sentation, hg. v. Bernhard Kirchga¨ssner/Hans-Peter Becht (Stadt in der Geschichte

21), Sigmaringen 1995; Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Jo¨rg Oberste (Studien/ Forum Mittelalter 4), Regensburg 2008; Inszenierter Stolz. Stadtrepra¨sentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), hg. v. Adelheid von Saldern Stuttgart 2005, S. 185–239; Wolfgang Sonne, Hauptstadtplanung 1900–1914. Die Repra¨sentation des Staates in der Stadt, Zu¨rich 2006. 11 Gu¨nther Lottes, Stadtchronistik und sta¨dtische Identita¨t. Zur Erinnerungskultur der fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Mitteilungen des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Nu¨rnberg 87 (2000), S. 47–58; Memoˆ ge, hg. v. ria, communitas, civitas. Me´moire et conscience urbaines en Occident a` la fin du Moyen-A Hanno Brand/Pierre Monnet/Martial Staub (Beihefte der Francia 55), Ostfildern 2003; Sta¨dtische Geschichtsschreibung im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Peter Johanek (StF A 47), Ko¨ln/Wien 2000; Susanne Rau, Sta¨dtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Ko¨ln (Hamburger Vero¨ffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 9), Hamburg/Mu¨nchen 2002; Peter Johanek, ¨ berlieferung in den deutschen Sta¨dten Inszenierte Vergangenheit. Vom Umgang mit geschichtlicher U des Mittelalters, in: Ferne Welten – freie Stadt. Dortmund im Mittelalter, hg. v. Matthias Ohm/Thomas Schilp/Barbara Welzel (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 7), Bielefeld 2006, S. 39–48; Identita¨t und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrung, hg. v. Christoph Dartmann/Carla Meyer (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 17), Mu¨nster 2007; Regula Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2009. 12 Lucas Burkart, Die Stadt der Bilder. Familiale und kommunale Bildinvestition im spa¨tmittelalter¨ ffentliche Geschichte. Kommunale Inschriften in lichen Verona, Mu¨nchen 2000; Regula Schmid, O der fru¨hneuzeitlichen Stadt, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Rudolf Schlo¨gl (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 409–448; Stadtgestalt ¨ ffentlichkeit, hg. v. Albrecht Stephan, Ko¨ln 2015. und O 13 Die inszenierte Stadt. Zur Praxis und Theorie kultureller Konstruktionen, hg. v. Bernd Henningsen, Berlin 2001; Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten hg. v. Adelheid von Saldern (Beitra¨ge zur Kommunikationsgeschichte 17), Stuttgart 2006, S. 83–101; Inszenierung der Stadt. Urbanita¨t als Ereignis, hg. v. Ralf Bohn/Heiner Wilharm (Szenografie & Szenologie 6), ¨ ffentliche Inszenierungen im spa¨tmittelalBielefeld 2012; Martina Stercken, Die Stadt als Bu¨hne. O terlichen und fru¨hneuzeitlichen Zu¨rich, in: Stadtkultur – Kultur(haupt)stadt, hg. v. Ferdinand Opll (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas), Wien 2012, S. 1–30; Martina Stercken, Spaces for Urban Drama, in: Cities and their spaces. Concepts and their use in Europe, hg. v. Michel Pauly/Martin Scheutz (StF A 88), Ko¨ln/Weimar/Wien 2014. 14 Visualisierung sta¨dtischer Ordnung. Zeichen – Abzeichen – Hoheitszeichen, hg. v. Hermann Maue (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums und Berichte aus dem Forschungsinstitut fu¨r Reali-

Urbanita¨t – Formen der Inszenierung

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der Absicht, die innere Identita¨t und die Attraktivita¨t nach Außen zu steigern, Sta¨dte zum Produkt erkla¨rt und konkurrenzfa¨hig positioniert.15 Das in diesen Kontexten verhandelte Interesse an Prozessen der Strukturbildung wird mit der Frage nach der Inszenierung von Urbanita¨t aufgegriffen und im Hinblick auf ein vielgestaltiges Pha¨nomen und die Praktiken seiner Zurschaustellung zwischen Mittelalter und Gegenwart zugespitzt. Wird Urbanita¨t nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas Vermitteltes betrachtet, so lassen sich verschiedenartige, jeweils zeitgebundene Formen, Strategien und Momente beschreiben, in denen die Stadt insgesamt oder hervorragende urbane Eigenschaften konzipiert und vermarktet werden. Das Titelbild des vorliegenden Bandes, die ‚Scena Comica‘ des italienischen Architekturtheoretikers Sebastiano Serlio (1475–1554), steht fu¨r einen architekturtheoretischen Entwurf von Urbanita¨t an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Sie entwirft eine o¨konomisch bestimmte, gescha¨ftige Vorstellung des Urbanen, die der durch die Repra¨sentation der Fu¨hrungsschicht bestimmte ‚Scena tragica‘ und der als pastorale, in der freien Natur angesiedelte ‚Scena satirica‘ zur Seite gestellt ist.16 Damit wird Urbanita¨t als architektonisch geformter Bu¨hnenraum zur Schau gestellt, also in einem Modus, der Zeigen, Wahrnehmung und Erfahrung aufs engste miteinander verbindet.17 Sta¨dtisches Leben wird nicht nur durch bauliche Elemente, Hauszeichen oder Banner angedeutet, sondern im Auftritt derer erwartet, die aus den Kulissen hervortreten oder die zentral angelegte Treppe nutzen, um sich in Szene zu setzen. Wesentlich im Hinblick auf die Einscha¨tzung des Vermittlungscharakters des Holzschnitts sind aber auch die Kontexte der Konzeption von Serlios ‚Scena Comica‘: Sie stellt die Stadt als Welt im Kleinen zur Schau und la¨sst sich insofern als Teil eines auf verschiedenen Ebenen gefu¨hrten Diskurses im 16. Jahrhundert betrachten, der die Stadt als Abbild der Welt und die Welt als Bu¨hne menschlichen

enkunde), Nu¨rnberg 1993; Gerrit Jasper Schenk, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzu¨ge im spa¨tmittelalterlichen Reich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 21), Ko¨ln/Weimar/Wien (Bo¨hlau) 2003; Vergnu¨gungen und Inszenierung. Stationen sta¨dtischer Festkultur in Halle, hg. v. Werner Freitag/Kathrin Minner (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 4), Halle (Saale) 2004; Schlo¨gl, Interaktion (wie Anm. 12); Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, hg. v. Peter Johanek/Angelika Lampen (StF A 75), Ko¨ln 2009; Mark Mersiowsky, Wege zur ¨ ffentlichkeit. Kommunikation und Medieneinsatz in der spa¨tmittelalterlichen Stadt, in: Stadtgestalt O ¨ ffentlichkeit. Die Entstehung politischer Ra¨ume in der Stadt der Vormoderne, hg. v. Stephan und O Albrecht, Ko¨ln/Wien 2010, S. 13–58. 15 Gerhard Jaritz, Das Image der spa¨tmittelalterlichen Stadt. Zur Konstruktion und Vermittlung ihres a¨ußeren Erscheinungsbildes, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beitra¨ge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Helmut Bra¨uer/Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, S. 471–485; Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nu¨rnbergs Entdeckung in Texten um 1500 (Mittelalter-Forschungen 26), Ostfildern 2009; Carla Meyer, ‚City Branding‘ im Mittelalter. Sta¨dtische Medien der Imagepflege bis 1500, in: Stadt und Medien (wie Anm. 5), S. 19–48; Bernd Radtke, Stadtslogans zur Umsetzung der Markenidentita¨t von Sta¨dten. Eine theoretisch-konzeptionelle und empirische Untersuchung, Wiesbaden 2013. 16 hier: Sebastian Serlio, Scena Comica, in: De architectura libri quinque, quibus cuncta fere architectonicae facultatis mysteria docte, perspicue, uberrimeque explicantur (2. Buch), Venedig 1569, S. 68. 17 Ulrike Hass, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bu¨hnenform, Mu¨nchen 2005, bes. S. 15–20.

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Daseins auffasst.18 Dabei fixiert die ‚Scena Comica‘ modellhaft eine gelehrte Sicht auf urbane Verha¨ltnisse, denn Serlio u¨bertra¨gt damit differenzierte theoretische Abhandlungen seiner Vorbilder – vor allem Vitruvs – in ein memorables Sinnbild. Und gerade wohl deshalb hat Serlios Werk eine beeindruckende Rezeption erfahren und offenbar ungleich viel mehr auf die gebaute Architektur – und womo¨glich auch ihre Repra¨sentationen – eingewirkt als andere theoretische Abhandlungen.19 In ihrem Umgang mit Inszenierungen von Urbanita¨t akzentuieren die folgenden Beitra¨ge zu Texten, Bildern, Karten und Filmen im Wesentlichen drei der mit diesem Beispiel bereits angedeuteten Aspekte eines Zugangs, der von den Bedingungen der Vermittlung ausgeht: Sie beschreiben zum einen jeweils Modelle, mit denen zu bestimmten Zeiten Reflexionen u¨ber das Wesen eines vielschichtigen und sich stetig wandelnden Pha¨nomens festgehalten werden. Sie analysieren zum anderen die pragmatischen, gelehrten oder ku¨nstlerischen Strategien, mit denen Urbanita¨t entworfen wird und Stereotype produziert werden. Und sie nehmen schließlich die spezifischen historischen Settings in den Blick, in denen mediale Formen entstehen, gebraucht und wirksam werden, um Differenz herzustellen, Sinn zu stiften und eine besondere Sicht der Dinge zu lancieren.

Verstetigungen Die vielfa¨ltigen Imaginationen und Konzeptionen von Urbanita¨t verstetigen jeweils unterschiedliche Perspektiven auf ein komplexes, vielgestaltiges und sich konstant wandelndes Pha¨nomen und verleihen zugleich zeitspezifischen Deutungen von Stadt Ausdruck. In unterschiedlichen Kontexten wird Urbanita¨t dabei als Anspruch in der Hierarchie des Siedlungswesens verhandelt; sie wird als Chiffre fu¨r die feinen Unterschiede zwischen Sta¨dtischem und La¨ndlichem in Anspruch genommen; und sie wird als Verfu¨genko¨nnen u¨ber vielfa¨ltiges Potential inszeniert: Urbanita¨t kann behauptet werden, wie in der Fru¨hzeit der Urbanisierung im Su¨dwesten des Reiches, als der Stadtbegriff in schriftlichen Quellen genutzt wurde, um zentrale Orte mit einer Ordnung des o¨ffentlichen Lebens auszuzeichnen und ihre Anziehungskraft zu steigern.20 Urbanita¨t wird aber auch als a¨sthetische und technisch-funktionale Kategorie entworfen, wie Stadtdarstellungen des ausgehenden Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit und damit aus einer Zeit deutlich machen, in

18 Lynda Gregorian Christian, Theatrum mundi. The history of an idea (Harvard dissertation in com-

parative literature), New York 1987; Dimensionen der Theatrum-Methapher in der Fru¨hen Neuzeit. Ordnung und Repra¨sentation von Wissen. Dimensions of the Early Modern Theatrum-Metaphor. Order and Representation of Knowledge, hg. v. Flemming Schock/Oswald Bauer/Ariane Koller, Erlangen 2008, S. 341–388; William N. West, Knowledge and performance in the early modern Theatrum Mundi, in: metaphorik.de 14 (2008), S. 1–20. 19 Hanno Walter Krufft, Geschichte der Architekturtheorie, 3. Aufl. Mu¨nchen 1991, S. 87; Sabine Frommel, Sebastiano Serlio Architect, Mailand 2003. 20 Gabriel Zeilinger, Behauptete Sta¨dte. Urbanisierung und Urbanita¨t in Texten adliger Herrschaftspraxis aus dem Oberelsass um 1300, in diesem Band.

Urbanita¨t – Formen der Inszenierung

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der die Sta¨dte bereits ausgepra¨gt waren.21 Mit Urbanita¨t kann die Produktion von Chroniken in bestimmten Situationen der Geschichte – so zur Zeit des Konstanzer Konzils – verbunden werden, die Wissen u¨ber die Stadt verhandeln und organisieren, zugleich aber auch die chronikalischen Verfahren, der Stadtgeschichte Sinn und Bedeutung einzuschreiben.22 Dabei schreiben Chroniken, aber auch dichterische ¨ berlieferung teilweise nachhaltige Vorstellungen von den besonderen Eigenarten U der Sta¨dte fest, so etwa fu¨r Paris, wo sich seit dem 12. Jahrhundert, mit der Entfaltung der Wissenschaften zu einem autonomen gesellschaftlichen System und der Entstehung eines neuen Lebensstils, Imaginarien einer Bildungsmetropole und das Stereotyp des Rive-Gauche-Milieus entwickeln.23 Wie hier die soziale Ordnung, sind daru¨ber hinaus aber auch a¨sthetische Aspekte Referenz fu¨r die Blicke historisch-topographischer Beschreibungen der beginnenden Neuzeit auf den sta¨dtischen Raum, der nicht nur als Projektionsfla¨che gesellschaftlicher Strukturen, sondern selbst als Ko¨rper und Resultat kultureller Anstrengungen begriffen wird.24 Zur gleichen Zeit werden Plandarstellungen genutzt, um ein Versta¨ndnis der Stadt als moderne verteidigungsstarke Festung in Zeiten besonderer a¨ußerer Gefahren sinnlich erfahrbar zu machen.25 Neue, das bis ins 19. Jahrhundert geltende geschlossene System geradezu umkehrende Konzeptionen des Urbanen werden durch den fru¨hen Film inszeniert, der nervo¨se Wahrnehmungen der Metropole als Ort beschleunigten, Massen bestimmten Lebens und technischer Innovationen kunstvoll amalgamiert.26 Im Unterschied dazu stehen aktuelle Architektur und Sta¨dtebau-Wettbewerbe nicht nur fu¨r die große Vielfalt an Mo¨glichkeiten, die moderne Stadt zu entwerfen, sondern auch fu¨r dezidierte Vorstellungen vom o¨kologischen, o¨ffentlichen und attraktiven Leben im idealen architektonischen Rahmen.27 Als zukunftsweisender Vorschlag fu¨r eine prinzipiell kontingente Situation tragen sie aber auch die Mo¨glichkeit des Scheiterns in sich und verweisen mithin darauf, dass Inszenierungen von Urbanita¨t eine Halbwertzeit haben, dass sie umgedeutet oder auch abgebrochen werden konnten. Eben diese Momente der Umdeutung lassen sich etwa auch in den hier verhandelten Beitra¨gen zur Neuakzentuierung des Rive-Gauche-Milieus seit dem 19. Jahrhundert und zum Spannungsfeld zwischen Utopie und Dystopie in der amerikanischen Fernsehserie „The wire“ beobachten. 21 Gerhard Fouquet, Urbanita¨t. Stadtbilder vom Spa¨tmittelalter bis in die Fru¨he Neuzeit, in diesem

Band.

22 Pia Eckhart/Birgit Studt, Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt. Die Verhandlung von Wissen u¨ber

die Vergangenheit in der sta¨dtischen Geschichtsschreibung am Oberrhein im 15. und 16. Jahrhundert, in diesem Band. 23 Frank Rexroth, ‚Wissenschaft‘ und ‚Unmoral‘ in den mittelalterlichen Vorstellungen von der Bildungsmetropole Paris, in diesem Band. 24 Tanja Michalsky, Die Stadt im Buch. Die Konstruktion sta¨dtischer Ordnung am Beispiel fru¨hneuzeitlicher Beschreibungen Neapels, in diesem Band. 25 Ferdinand Opll, Der Festungsbau als Initiator des Stadtplans. Zur Entwicklung der Wiener Stadtpla¨ne im 16. Jahrhundert, in diesem Band. 26 Jo¨rg Schweinitz, Maschinen, Rhythmen und Texturen. Die filmische Imagination einer Metropole: Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt von Walter Ruttmann, in diesem Band. 27 Enrico Chapel, Visions d’urbanite´ et paysages sensoriels. Le concours Europan en France, in diesem Band.

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Komplexe Anlagen Texte, Bilder, Karte, Filme etc. sind mediale Formen, die Eigenarten der Stadt nach je eigenen, zeitspezifischen Logiken pra¨sent machen und zur Schau stellen. Sie bieten jeweils einen Zugang zu komplexen Anlagen der Vermittlung von Urbanita¨t, die simultane Verha¨ltnisse homogenisieren, an den Diskursen ihrer Zeit partizipieren, die mit anderen Traditionen der Ausstellung von Stadt interagieren und zwischen Kunstform und pragmatischem Marketing oszillieren. Dabei ko¨nnen sie eine neue, hoch reflektierte Sicht auf das Urbane entwickeln, wie Walter Ruttmanns dokumentarisch anmutender Film u¨ber Berlin aus dem Jahre 1927, der eine ganz und gar filmische Imagination der deutschen Großstadt entfaltet, die aktuelle sta¨dtische Entwicklungen und a¨sthetische Diskurse ihrer Zeit verarbeitend eine dynamisierte Gesellschaft als Textur entwirft und optisch rhythmisiert.28 Hier ero¨ffnet die noch junge Technologie einen neuen Zugang zur Komplexita¨t der Metropole, der – u¨ber die bisher u¨blichen Bilder und Beschreibungen hinaus – bildliche, musikalische und gesellschaftliche Bewegung verschmilzt. Zwar lassen sich heutige filmische Auseinandersetzungen mit der Stadt grundsa¨tzlich als Fortsetzung solcher Ansa¨tze begreifen, doch unter vera¨nderten Bedingungen, die nicht nur den Film selbst und seine Formate, sondern auch die Stadt betreffen. Beispiel dafu¨r bietet die erfolgreiche amerikanische Fernsehserie „The Wire“ von David Simon, die journalistische Beschreibungen der Stadt Baltimore u¨berbietend, eine literarische und gleichzeitig wissenschaftliche Stadt-Darstellung versucht und dabei die Mo¨glichkeiten von Text, Inszenierung und praktischen Verfahren der Wahrnehmung und Aneignung von Stadt erprobt.29 Anders und doch mit Beru¨hrungspunkten in den a¨sthetischen Strategien der Inszenierung funktioniert die architektonische und sta¨dtebauliche Auseinandersetzung mit Urbanita¨t im Rahmen von Wettbewerben und damit in Momenten, in denen gezielt Lo¨sungen fu¨r preka¨re Situationen im Stadtgefu¨ge gefunden werden mu¨ssen.30 Weniger in ku¨nstlerischer Verschmelzung, als vielmehr in einem Nebeneinander unterschiedlicher medialer Formen inszenieren Wettbewerbe wie „Europan“ Urbanita¨t.31 Architekturzeichnungen, Flugbilder, Massenpla¨ne, Modelle und Abbildungen von Modellen, Konzeptschemata etc. loten – jeweils fu¨r sich und als unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand – die Mo¨glichkeiten ¨ ber der Vermittlung brisanter architektonischer und sta¨dtebaulicher Probleme aus. U visuelle Effekte – unter anderem Hyperrealismus, Farbigkeit, filmische Mittel und einer Terminologie, die sich Oxymora wie ‚Gartenstadt‘ bedient – werden sinnliche Wahrnehmungen gesteuert und fu¨r bestimmte Lo¨sungsvorschla¨ge sensibilisiert. Das hier fassbare Spiel mit bereits verbu¨rgten bildlichen und schriftlichen Imaginationen von Stadt, das innovative Perspektiven auf das Urbane u¨berhaupt erst ver¨ berlieferung beobachten. Aus der mittelbar macht, la¨sst sich auch an der a¨lteren U 28 Schweinitz, Maschinen (wie Anm. 26). 29 Griem, Text (wie Anm. 8). 30 Zum Problem der Planbarkeit des Einzigartigen vgl. Gurr, Modellierung (wie Anm. 7). 31 Chapel, Visions (wie Anm. 27).

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Perspektive der Vermittlung betrachtet, erweisen sich vormoderne Texte, Bilder und ¨ berlieferungstypen, sondern interagieren jeweils auf Karten nie als vo¨llig autonome U vielfa¨ltige Arten und Weisen mit anderen Traditionen, in denen die Stadt ausgestellt wird. Dies zeigt sich mit der chronikalischen Tradition, die sich dynamisch im Fortschreiben und in der Neuakzentuierung einer a¨lteren Geschichtsschreibung entwickelt und dabei andere mediale Formen wie Bilder und Wappen integriert.32 Dies la¨sst sich aber auch im Hinblick auf die Sta¨dtebilder beobachten, die Scho¨nheit und Ordnung des Gemeinwesens am Ende des Mittelalters herausstellen und dabei in engem Austausch mit den zeitgeno¨ssischen Sta¨dtelob-Texten stehen,33 wa¨hrend sich Stadtbeschreibungen in ihrer performativen Systematik sowohl an Karten wie auch an gesellschaftlichen Ordnungssystemen orientieren34 und kartographische Darstellungen der sta¨dtischen Befestigung vom Beginn der Neuzeit wiederum nicht nur die Kartenu¨berlieferung beru¨cksichtigen, sondern auch an der Festungstraktat-Literatur ihrer Zeit partizipieren.35

Lancierung von Eigenart Die einzelnen, durch eine je eigene, kulturell aufgeladene Eigenlogik charakterisierten medialen Formen werden von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen dazu genutzt, Unterschiede hervorzuheben und Differenz festzuschreiben – vor allem in besonderen Momenten der Stadtgeschichte. Dabei treten zuna¨chst die Stadtherrschaft und die sta¨dtische Elite als diejenigen hervor, die Vorstellungen von Urbanita¨t lancieren. Das zeigt sich bereits in der Zeit, in der die Qualita¨ten der mittelalterlichen Stadt fassbar werden und die Bezeichnung eines Ortes als solche Machtanspruch und Verheißung sein kann, selbst wenn die Bedingungen fu¨r eine Stadtwerdung tatsa¨chlich preka¨r sind.36 Mit Wachstum und Ausbildung der Sta¨dte werden nicht nur die Formen der Vermittlung von Urbanita¨t vielfa¨ltiger, sondern auch die Gruppen, die diese propagieren. Als wesentlicher Promotor der Vorstellungen von Urbanita¨t in der Vormoderne wird die bu¨rgerliche Fu¨hrungsschicht klarer fassbar, die – wie Stadtdarstellungen und Sta¨dtebau an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit deutlich werden lassen – nicht nur materiellen und immateriellen Vorstellungen von Scho¨nheit und Funktionalita¨t, sondern gleichermaßen dem Ordnungswillen und dem Regiment des Rates Ausdruck verleiht.37 Starke Betreiber eines Stadtmarketings stehen auch hinter fru¨hneuzeitlichen Festungspla¨nen, so der Stadt Wien, die in 32 Eckart/Studt, Konzil (wie Anm. 22). 33 Fouquet, Urbanita¨t (wie Anm. 21). 34 Tanja Michalsky, Gewachsene Ordnung. Zur Choreographie Neapels in der Neuzeit, in: Ra¨ume der

Stadt. Von der Antike bis heute, hg. v. Cornelia Jo¨chner, Berlin 2008, S. 267–288; vgl. auch Anja Rathmann-Lutz, Historiographische Topographie und chorographische mindscapes. Raumkonstruktionen in den „London Chronicles“, in: Sta¨dtische Ra¨ume im Mittelalter, hg. v. Susanne Ehrich/Jo¨rg Oberste (Studien/Forum Mittelalter 5), Regensburg 2009, S. 49–58; Martina Stercken, Schriftbilder der Stadt, in: Schweizer Sta¨dtebilder (wie Anm. 9), S. 85–95. 35 Opll, Festungsbau (wie Anm. 25). 36 Zeilinger, Behauptete Sta¨dte (wie Anm. 20). 37 Fouquet, Urbanita¨t (wie Anm. 21).

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einer Zeit a¨ußerer Bedrohung durch die Tu¨rken ein kaiserliches und bu¨rgerlich-sta¨dtisches Versta¨ndnis dieser Stadt als moderne verteidigungsstarke Festung zur Schau stellen. Ist in diesen Fa¨llen die obrigkeitliche Sicht pra¨gender Faktor der je spezifischen Wahrnehmung von Stadt, so werden hinter anderen Formen der Vermittlung von Urbanita¨t diffusere Kontexte von Herstellung und Konzeption erkennbar. Dies gilt fu¨r die Chronistik des ausgehenden Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, die kulturell geformtes Wissen u¨ber die Vergangenheit darstellt, das von verschiedenen Gruppierungen in besonderen Momenten der Geschichte angeeignet, aktualisiert und transformiert wird.38 Das hier fassbare gelehrte Moment der Inszenierung urbaner Eigenart tritt in den fru¨hneuzeitlichen Stadtbeschreibungen noch sta¨rker hervor, die kunstvoll komponierte Blicke auf den Stadtraum als Resultat, Abbild und Bu¨hne gesellschaftlicher Verha¨ltnisse werfen.39 Dass Vorstellungen von Urbanita¨t nicht notwendig auf bestimmte Gruppeninteressen zuru¨ckgehen mu¨ssen, zeigt sich aber auch mit den Betreibern einer Sicht von Paris als Metropole der Bildung und des Rive-Gauche-Milieus, die seit dem Mittelalter und vor allem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen Selbstbeschreibung und Zuschreibungen oszilliert und mit einer Neuakzentuierung der Wissenschaft eine Umsemantisierung des Bildes vom armen Scholaren hin zum Bohemien zeitigt. Mit Filmen und Architekturwettbewerben ist die große Spannbreite der Konzepteure von Urbanita¨t in der Moderne angedeutet. Diese wird in beiden Fa¨llen markiert durch eine ku¨nstlerische und intellektuelle Sicht auf urbane Verha¨ltnisse, die aber in je unterschiedlichem Ausmaß auch immer beeinflusst ist durch diejenigen, die diese o¨konomisch ermo¨glichen.40 Die Entwu¨rfe urbaner Situationen in europa¨ischen Architektur- und Sta¨dtebauwettbewerben lassen dies in besonderer Weise erkennen, denn hier steht der individuelle, sowohl durch Ku¨nstlertum wie durch Pragmatik gepra¨gte Zugang der einzelnen Entwerfer zur Attraktivita¨t der Stadt in einem internationalen Regelwerk zu erfu¨llender Bedingungen.

38 Eckart/Studt, Konzil (wie Anm. 22). 39 Michalsky, Stadt im Buch (wie Anm. 24). 40 Schweinitz, Maschinen (wie Anm. 26); Chapel, Visions (wie Anm. 27).

URBANITA¨T Stadtbilder vom Spa¨tmittelalter bis in die Fru¨he Neuzeit von Gerhard Fouquet

I.

Die Urbanitas der mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Sta¨dte des ro¨misch-deutschen Reiches entsprach nur bedingt den Wirklichkeiten jener ‚realistischen‘ Stadtbilder, wie sie wa¨hrend des 14. Jahrhunderts in Raumkonstruktion und Maltechnik durch die Kunst der Sienesen vorgepra¨gt wurden und im folgenden Sa¨kulum auch no¨rdlich der Alpen zum Durchbruch gelangten.1 Allerdings – diese Kunstgattung stellt lediglich Stadtabbreviaturen vor. Diese zeugen von der kunsttheoretischen wie -praktischen Perzeption der Idee von der ‚scho¨nen‘ Stadt, wie sie auch in den literarischen Genera von ‚Sta¨dtelob‘ und ‚Stadtbeschreibung‘ ihren Ausdruck fand.2 Die ‚scho¨ne‘ Stadt war Imagination, Stereotyp und Versatzstu¨ck von Realita¨ten zugleich. Sie wurde freilich zumindest in den großen Sta¨dten der Zeit unter den Vorzeichen des

1 Bernd Roeck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revo-

lution, Go¨ttingen 2004, S. 102–104. Zu Planung und Organisation sta¨dtischen Bauens: Gerhard Fouquet, Bauen fu¨r die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spa¨tmittelalters (StF A 48), Ko¨ln/Weimar/Wien 1999; Peter Johanek, Die Mauer und die Heiligen – Stadtvorstellungen im Mittelalter, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit: 1400–1800, hg. v. Wolfgang Behringer/Bernd Roeck, Mu¨nchen 1999, S. 26–38; Gerhard Fouquet, ‚Bauho¨fe‘ – Bauen als o¨ffentliche Aufgabe deutscher Sta¨dte (14. bis 16. Jahrhundert), in: L’edilizia prima della rivoluzzione industriale secc. XIII–XVIII, hg. v. Simonetta Cavaciocchi (Istituto internazionale di storia economica „F. Datini“, Prato, ser. II – Atti delle Settimane di Studie altri Convegni 36), Florenz 2005, S. 813–832. Der Text bietet eine geku¨rzte und unter einer anderen Fragestellung neu justierte Variante des in japanischer Sprache erschienenen Aufsatzes: Gerhard Fouquet, Chuusei Kohki kara Kinsei ni kaketeno Toshi to Toshizo [Stadtbauten und Stadtbild vom Spa¨tmittelalter bis in die Fru¨he Neuzeit, u¨bers. von Hironobu Sakuma, Yuta Kikuchi, Yuichi Watanabe], in: Hikaku-Toshishi Kenkyu, The Comparative Urban History Review 25 (2006), 2, S. 35–55. 2 Gerhard Fouquet, Mit dem Blick des Fremden: Stadt und Urbanita¨t in der Wahrnehmung spa¨tmittelalterlicher Reise und Stadtbeschreibungen, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Ferdinand Opll (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas 19), Linz 2004, S. 45–65; Rolf Hammel-Kiesow, Hansesta¨dte im Sta¨dtelob der Fru¨hen Neuzeit, in: Das Bild und die Wahrnehmung der Stadt und der sta¨dtischen Gesellschaft im Hanseraum im Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Roman Czaja, Torun´ 2004, S. 19–55.

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‚Gemeinen Nutzens‘, der ‚verdinglichten Form‘ sta¨dtischer Genossenschaft, allenthalben gebaute Wirklichkeit.3 Zur ‚scho¨nen‘ Stadt geho¨rten dabei nicht nur die von Rat und Gemeinde finanzierten o¨ffentlichen Geba¨ude, insbesondere die Kirchen, Ratha¨user, Bru¨cken und Wehranlagen,4 sondern auch die Sicherstellung der Holzund Lebensmittelversorgung, die Hygienisierung des Stadtraums, die Feuersicherheit sowie die Wasserver- und Abwasserentsorgung.5 Diese gemeindlichen Leistungen im Prozess der Zivilisation werden vielfa¨ltig in den Stadtbildern der Vormoderne dargestellt.6 Fu¨r etliche derartige Stadtimagines mo¨gen die reizvollen Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/37 3 Zum ‚Gemeinen Nutzen‘ als Politikmodell sta¨dtischer Genossenschaft: Jo¨rg Rogge, Fu¨r den Gemei-

nen Nutzen. Politisches Handeln und Politikversta¨ndnis von Rat und Bu¨rgerschaft in Augsburg im Spa¨tmittelalter (Studia Augustana 6), Tu¨bingen 1996, S. 286 (Zitat); Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, in: HZ 243 (1986), S. 591–626, hier S. 597. Zuletzt im Hinblick auf den Zusammenhang von Fro¨mmigkeitspraxis und sta¨dtischer Verwaltung in Go¨rlitz: Christian Speer, Fro¨mmigkeit und Politik. Sta¨dtische Eliten in Go¨rlitz zwischen 1300 und 1550 (Hallische Beitra¨ge zur Geschichte des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit 8), Berlin 2011, S. 338–348. Zur Stadtplanung in der Vormoderne: Frank G. Hirschmann, Stadtplanung, Bauprojekte und Großbaustellen im 10. und 11. Jahrhundert. Vergleichende Studien zu den Kathedralsta¨dten westlich des Rheins (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 43), Stuttgart 1998; Klaus Humpert/Martin Schenk, Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der „gewachsenen Stadt“, Stuttgart 2001; Paul Niedermaier, Sta¨dtebau im Mittelalter. Siebenbu¨rgen, Banat und Kreischgebiet (1242–1347), Ko¨ln/ Weimar 2002; Eva-Maria Seng, Stadt – Idee und Planung. Neue Ansa¨tze im Sta¨dtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, Mu¨nchen/Berlin 2003. 4 Als U ¨ berblick: Cord Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 1982, S. 89–104 u. 200–243. Beispielhaft fu¨r sta¨dtische Kirchenbauten und die Obsorge sta¨dtischer Genossenschaft fu¨r den Kirchenbau: Barbara Schock-Werner, Das Straßburger Mu¨nster im 15. Jahrhundert. Stilistische Entwicklung und Hu¨tten-Organisation eines Bu¨rger-Doms (Vero¨ffentlichung der Abteilung Architektur des Kunsthistorischen Instituts der Universita¨t zu Ko¨ln 23), Ko¨ln 1983; Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des spa¨ten Mittelalters (VSWG Beih. 177), Stuttgart 2005. 5 Zu den Ordnungsvorstellungen z. B. Louis Carlen, Baurecht in Schweizer Sta¨dten vom 12. bis 18. Jahrhundert, in: L’homme dans son environnement. Mensch und Umwelt. Festgabe zum schweizerischen Juristentag (Arbeiten aus dem Juristischen Seminar der Universita¨t Freiburg i. Ue. 49), Freiburg i. Ue. 1980, S. 3–23. Beispielhaft: Norbert Huse, Venedig. Von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen, Mu¨nchen 2005. 6 Vgl. dazu die U ¨ bersichten: Friedrich Bachmann, Die alten Sta¨dtebilder. Ein Verzeichnis der graphischen Ortsansichten von Schedel bis Merian, 2. Aufl., Stuttgart 1965; Alois Fauser, Repertorium a¨lterer Topographie. Druckgraphik von 1486 bis 1750, 2 Bde., Wiesbaden 1978. Schweizer Sta¨dtebilder. Urbane Ikonographien (15.–20. Jahrhundert), hg. v. Bernd Roeck/Martina Stercken/Franc¸ois Walter/Marco Jorio/Thomas Manetsch, Zu¨rich 2013. Zur methodischen Bewertung: Frank-Dietrich Jacob, Historische Stadtansichten. Entwicklungsgeschichtliche und quellenkundliche Momente, Leipzig 1982, bes. S. 18–41; Florens Deuchler, Siena und Jerusalem. Imagination und Realita¨t in ¨ sterreichische Akademie der Duccios neuem Stadtbild, in: Europa¨ische Sachkultur des Mittelalters (O Wissenschaften, phil.-hist. Kl. SB 374: Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r mittelalterliche Realien¨ sterreichs 4), Wien 1980, S. 13–20; Michael Schmitt, Vorbild, Abbild und Kopie. Zur Entkunde O wicklung von Sehweisen und Darstellungsarten in druckgraphischen Stadtabbildungen des 15. bis 18. Jahrhunderts am Beispiel Aachen, in: Civitatum Communitas. Studien zum europa¨ischen Sta¨dtewesen. Festschrift fu¨r Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, hg. v. Helmut Ja¨ger/Franz Petri/Heinz Quirin (StF A 21), Ko¨ln/Wien 1984, S. 322–354; Wolfgang Behringer, Stadtgestalt und Stadtbild im Alten Reich. Ein Projekt zur vergleichenden Ikonographie deutscher Sta¨dte, in: Die Alte Stadt 21 (1994), S. 56–69; ders., Die großen Sta¨dtebu¨cher und ihre Voraussetzungen, in: Bild der Stadt (wie Anm. 1), S. 81–91; Liliane Chaˆtelet-Lange, Strasbourg en 1548. Le plan de Conrad Morant, Strasbourg 2001; Opll, Bild und Wahrnehmung der Stadt (wie Anm. 2); Yvonne Leiverkus, Ko¨ln. Bilder einer spa¨tmittelalterlichen Stadt, Ko¨ln/Weimar/Wien 2005; Peter Johanek, Bild und Wahrnehmung

Urbanita¨t

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stehen (Abb. 1 im Farbteil). Das Bild zeigt die um 1300 gegru¨ndete Stadt Pilsen in Westbo¨hmen, ein zu klein geratenes Stadtgebiet in weitgehend fiktiver Berglandschaft. Innerhalb der Mauern ragen in leicht verschobenen Orientierungen die Bartholoma¨uskirche und der Turm der Minoritenkirche heraus, davor liegt eine unbefestigte Vorstadt, ein ba¨uerliches Gespann zieht auf das Feld hinaus.7 Solche und andere Stadtbilder erscheinen dabei nicht nur als vielfach sorglos kopierte und idealistisch ausgestaltete Konstruktionen von Wirklichkeit, sie sind vielmehr zugleich auch Abbildungen funktionaler Vorstellungen, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Handlungsmo¨glichkeiten sowie organisatorischer Modelle, von denen sich Magistrate bei der Realisierung sta¨dtebaulicher Maßnahmen leiten ließen.8 Methodisch handelt es sich im Folgenden um den Versuch, das Kunstwerk, den Vogelschauplan etwa, die Stadtvedute und die Bilder vom sta¨dtischen Leben, sowohl genetisch zu verorten, mithin nach Bernd Roeck „aus den funktionalen Zusammenha¨ngen zu verstehen, fu¨r die es urspru¨nglich bestimmt war“, als auch die unabsichtlichen Mitteilungen des Kunstwerks, seinen realienkundlichen Quellenwert etwa, analytisch nutzbar zu machen.9 Die theoretische Leitvorstellung ist dabei das Pha¨nomen der langfristigen ‚Inneren Urbanisierung‘. Dieses Modernisierungsmodell ist historisch mit den bekannten Entwicklungsunterschieden zwischen dem Su¨den und dem Norden Europas10 im Reich no¨rdlich der Alpen wa¨hrend des 14. Jahrhunderts auffindbar. Der Prozess selbst beschleunigte sich seit den 1470/80er Jahren und brachte die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts geltende vormoderne ‚Sta¨dtetechnik‘ hervor. Unter dem Modell ‚Innere Urbanisierung‘ sollen dabei vornehmlich die Wandlungsvorga¨nge innerhalb sta¨dtischer Lebensverha¨ltnisse verstanden werden, die vor allem in den materiellen und rechtlichen Daseinsbedingungen der Sta¨dte erzielt wurden. Die kommunalen Fu¨hrungsgruppen und ihre Lebensformen beeinflussten diese Prozesse entscheidend,

der Stadt. Anna¨herungen an ein Forschungsproblem, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. dems. (StF A 63), Wien/Ko¨ln/Weimar 2012, S. 1–23. 7 Die Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/37 von seinem Ritt von Neuburg a. d. Donau u¨ber Prag nach Krakau und zuru¨ck u¨ber Breslau, Berlin, Wittenberg und Leipzig nach Neuburg, hg. v. Angelika Marsch, Weißenhorn 2001, S. 153–161 (Jan Pelant). 8 Wegweisend zum Selbstversta¨ndnis und zu den Handlungsperspektiven sta¨dtischer Ratsregierungen: Eberhard Isenmann, Ratsliteratur und sta¨dtische Ratsordnungen des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit. Soziologie des Rats – Amt und Willensbildung – politische Kultur, in: Stadt und Recht im ˆ ge, hg. v. Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle (VMPI 174), Mittelalter/La ville et le droit au Moyen A Go¨ttingen 2003, S. 215–479. 9 Roeck, Auge (wie Anm. 1), S. 102. Vgl. daru¨ber hinaus die vielfa¨ltigen Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Realienkunde des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit. 10 Peter Moraw, U ¨ ber Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und euro¨ ber Ko¨nig und Reich. Aufsa¨tze zur deutpa¨ischen Mittelalter. Ein Versuch (1987), in: Peter Moraw, U schen Verfassungsgeschichte des spa¨ten Mittelalters, hg. v. Rainer Christoph Schwinges, Sigmaringen 1995, S. 293–320; Gerhard Fouquet, Hauptorte – Metropolen – Haupt- und Residenzsta¨dte im Reich (13. – beginnendes 17. Jahrhundert), in: Ho¨fe und Residenzen im spa¨tmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, hg. v. Werner Paravicini (Residenzenforschung 15 I), Ostfildern 2003, S. 3–15, hier S. 7f.

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sie fanden in der Leitvorstellung des ‚Gemeinen Nutzens‘ ihren zeitgema¨ßen Ausdruck.11 Der Grad Innerer Urbanisierung bestimmte die Lebensqualita¨t der Stadtbewohner, er legte auch schon im spa¨ten Mittelalter den Rang einer Stadt fest. Bei der Beschreibung der Stadtveduten, Vogelschaupla¨ne und Detailansichten des 15. und 16. Jahrhunderts, geht es im Folgenden nur um einige Aspekte jenes Prozesses Innerer Urbanisierung, mithin in einem ersten Teil darum, wie sich der gebaute und raumbildende ‚Gemeine Nutzen‘ im Blick von oben ausnimmt. Dabei wird lediglich das Verha¨ltnis von unmittelbarem sta¨dtischen Umland und Kernstadt thematisiert. In einem zweiten Teil soll nach raumgestaltenden Momenten gefragt werden, die durch die Imagination der ‚scho¨nen‘ Stadt in Stadtansichten als Zeichen innersta¨dtischen Friedens und guten Regiments sinnfa¨llig sind. Der Blick richtet sich zuna¨chst auf materielle und immaterielle Aspekte der Inneren Urbanisierung: insbesondere auf die Zentralpla¨tze und die Bedeutung ihrer o¨ffentlichen Geba¨ude fu¨r die Sinnstiftung sta¨dtischer Gemeinde. Danach werden handfeste materielle Aspekte der Inneren Urbanisierung untersucht: die Straßenpflasterung und Hygienisierung des Stadtraums, die Dachgestaltung, die Feuersicherheit und die o¨ffentliche Wasserver- und Abwasserentsorgung.

II.

Ein Blick auf Nu¨rnberg, auf eine Gouache, wie sie der durch seine Deutschlandkarte, der a¨ltesten europa¨ischen Straßenkarte (1492), bekannte Uhrmacher und Kartograph Erhard Etzlaub 1516 im Auftrag des Rates malte. (Abb. 2 im Farbteil) Der Vogelschauplan erscheint als imaginierte Utopie, bestenfalls als gelehrte Abstraktion ¨ berblick verschaffen wollte, konnte der artes mechanicae.12 Wer sich einen realen U damals nur einen hohen Turm oder einen Berg besteigen. Hoch von der Veste, der alten Ko¨nigsburg, auf Nu¨rnberg schauend, floss es Hans Sachs, dem nicht minder beru¨hmten Nu¨rnberger Spruchdichter, in die Feder: Do sah ich abwa¨rts auf einen Platz,/Darauf lag der edle Schatz/Innerhalb einer Ringmauer im Tal.13 Der Nu¨rnberger Rat ließ auf dem Vogelschauplan von 1516 einen besonders edlen Schatz zur Schau stellen: seine Reichswa¨lder. Ihre Darstellung u¨bertrifft in der detaillierten Komposition die nur in wenigen Signaturen entworfene Stadtansicht. Die Reichswa¨lder umgaben und umgeben heute noch auf einer Fla¨che von ca. 23 500

11 Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 433 u. passim. 12 Herbert Kru ¨ ger, Des Nu¨rnberger Meisters Erhard Etzlaub a¨lteste Straßenkarte von Deutschland, in:

JbFrkLdF 18 (1958), S. 1–286; Fritz Schnelbo¨gl, Zur Geschichte der a¨lteren Kartographie: Erhard Etzlaub, in: MittVGNu¨rnberg 49 (1959), S. 170–176. 13 Hans Sachs, „Ein lobspruch der statt Nu¨rnberg“, in: Hans Sachs, hg. v. Adalbert von Keller, Bd. IV, Stuttgart 1870 (ND Hildesheim 1964), S. 189–199, hier S. 192 (Zitat). Dazu Prospekt der Reichsstadt Nu¨rnberg des Hieronymus Braun 1608, hg. v. Helmut Pfadenhauer, Nu¨rnberg 1985, S. 4 (Kommentar).

Urbanita¨t

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Hektar nach Osten hin halbkreisfo¨rmig das mit Mauern und Tu¨rmen bewehrte Nu¨rnberger Stadtgeha¨use. Geteilt von der Pegnitz liegt nach Nordosten zu der Sebalder, nach Su¨dosten hin der Lorenzer Wald. Entsprechend heben sich der Flusslauf der Pegnitz und die beiden Pfarrkirchen St. Sebald und St. Lorenz, die den Wa¨ldern wie den innersta¨dtischen Pfarreien bzw. Stadtteilen ihre Namen verliehen, u¨berdeutlich vom Umland bzw. von der Stadt ab – die Pegnitz in ihrer hellblauen Farbfassung, die Kirchen mit ihren hoch aufragenden, perspektivisch u¨berrissenen La¨uttu¨rmen. Mit den Wa¨ldern entfaltete sich der sta¨dtische ‚Gemeine Nutzen‘ im Umland. Wa¨lder na¨mlich waren – gleich wie Weiden, Wiesen und Ackerfeld sowie die Landschaft u¨berhaupt – nicht vor den Menschen existent. Sie sind vielmehr Resultat von wirtschaftendem bzw. kulturellem Tun; sie sind Ergebnis zielgerichteter menschlicher Arbeit. Sta¨dte beno¨tigten als Basis jeglichen Versuches Innerer Urbanisierung aus dem Wald nicht allein Bau- und Werkholz. Zahlreiche holzverarbeitende Handwerksberufe wie Wagner, Drechsler, Tischler und Bo¨ttcher waren vielmehr auch ¨ berdies brauchten Gewerbe wie auf eine ausreichende Holznutzung angewiesen. U Ba¨cker, Bader, Schmiede, Lebku¨chner, Schuhmacher, Gerber, Seiler, Sattler, Beutler und Riemenschneider den Wald und seine Produkte wie Kohlen, Honig, Pech, Lohrinde und Bast zur Brenn- und Rohstoffversorgung. Der Wald diente freilich nicht nur der gewerblichen Produktion, er war fu¨r die sta¨dtische Lebensfu¨hrung u¨berhaupt unentbehrlich: Die sta¨dtischen Haushalte versorgten sich daraus mit Brennholz, man nutzte Holzungen als Viehweide.14 Die neuere Forschung hat mit Recht darauf hingewiesen, dass ohne Holz Stadt, Gewerbe und Handwerk keine Entwicklungschancen besessen ha¨tten.15 Marburg etwa reklamierte 1535 vor Landgraf Philipp von Hessen den Mangel an Holz mit dem nicht nur taktisch zu wertenden

14 U ¨ berblicke bei: Ernst Schubert, Der Wald als wirtschaftliche Grundlage der Stadt, in: Mensch und

Umwelt im Mittelalter, hg. v. Bernd Herrmann, Stuttgart 1986, S. 257–274, hier S. 258–261; Joachim Radkau/Ingrid Scha¨fer, Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 19–22; Franz Irsigler, Bu¨ndelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saeculum 42 (1991), S. 308–318, hier S. 312; So¨nke Lorenz, Wald und Stadt im Mittelalter. ¨ kologie, in: Wald, Garten und Park. Vom Funktionswandel der Natur Aspekte einer historischen O fu¨r die Stadt, hg. v. Bernhard Kirchga¨ssner/Joachim B. Schultis (Stadt in der Geschichte 18), Sigmaringen 1993, S. 25–34; Elisabeth Vavra, Der Wald im Mittelalter. Funktion, Nutzung, Deutung, in: Das Mittelalter. Perspektiven media¨vistischer Forschung 13, 2 (2008), S. 3–7 und 8–11 (Auswahlbibliographie); Hansjo¨rg Ku¨ster, Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Mu¨nchen 2008; Arne Paysen, Nachhaltige Energiewirtschaft? Brenn- und Kohlnutzung in SchleswigHolstein in Mittelalter und fru¨her Neuzeit, Phil. Diss., Kiel 2009; Michel Pauly/Martin Uhrmacher, Das Versorgungsgebiet der Stadt Luxemburg im spa¨ten Mittelalter, in: Sta¨dtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift fu¨r Franz Irsigler zum 70. Geburtstag, hg. v. Rudolf Holbach/Michel Pauly, Ko¨ln/ Weimar/Wien 2011, S. 211–254, hier S. 224–231. Als Beispiele fu¨r die Waldnutzung von Sta¨dten, die zuna¨chst ohne eigene Wa¨lder auskommen mussten, aber auf den genossenschaftlichen Rechten ihrer Bu¨rger aufbauend seit dem 14. Jahrhundert damit begannen, „eine offensive Politik der Waldaneignung mit dem Ziel“ der Verdra¨ngung konkurrierender fremder Anspru¨che zu verfolgen: Bettina Borgemeister, Die Stadt und ihr Wald. Eine Untersuchung zur Waldgeschichte der Sta¨dte Go¨ttingen und Hannover vom 13. bis zum 18. Jahrhundert (VHKomNds 228), Hannover 2005, S. 313 (Zitat). 15 Schubert, Wald (wie Anm. 14), S. 261.

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Hinweis: Wenn nichts geschehe, mu¨ssten viele aus der Stadt entlaufen16. Die Versorgung mit ho¨lzernen Brenn-, Bau- und Werkstoffen war daher einer der Kernbereiche jedweder sta¨dtischen Ordnung und Administration.17 Wald war ein wesentliches, aber stets bedrohtes Element sta¨dtischer Umwelt: Um 1300 fiel einem Colmarer Dominikanerchronisten auf, dass die Wa¨lder infolge der rasanten Urbanisierung des Elsass wa¨hrend des vergangenen Sa¨kulums zuru¨ckgegangen seien. Dadurch habe der Wasserstand in den Gießba¨chen zugenommen.18 Nu¨rnberg versuchte schon 1294, gegen die Devastierung seiner Reichswa¨lder vorzugehen. Nach 1427 kommunalisierte es diese Wa¨lder. Der Rat erließ Ordnungen fu¨r die in zahlreiche (auch von Erhard Etzlaub wiedergegebene) Forsthuben eingeteilten und in Mittelwaldwirtschaft gepflegten Holzungen. Die Ratsherren verbannten um 1450 das holzkohlenverschlingende Saigerhu¨ttengewerbe nach Mitteldeutschland an die erznahen Standorte.19 Schon seit 1368 hatte der Nu¨rnberger Stadtadlige Peter Stromer ¨ . in den Reichswa¨ldern die ku¨nstliche Nadelholzsaat eingefu¨hrt, eine auch wirtd. A schaftlich erfolgreiche Methode, von der die Gouache Etzlaubs mit ihren Nadelba¨umen gleichfalls eindru¨ckliches Zeugnis ablegt.20 16 1535 April 26, in: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg, hg. v. Friedrich Ku ¨ ch, 2 Bde.

(VHKomHess 13, 1–2), Marburg 1918–1931 (ND Marburg 1991), hier Bd. I, Nr. 227, S. 308. Diese Klage war wohl Folge der hessischen Forstordnung von 1532, die starke Einschra¨nkungen enthielt. Fortan sollte Brennholz nur noch aus Fallholz gewonnen werden ko¨nnen: Kersten Kru¨ger, Finanz¨ bergang vom Doma¨nenstaat zum Steuerstaat (VHKomstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im U Hess 24, 5), Marburg 1980, S. 154. 17 Stellvertretend fu¨r viele sei auf die Stadtordnungen von Heidelberg und Wien verwiesen: Regesten zur Geschichte Friedrichs des Siegreichen, hg. v. Karl Menzel (Quellen und Ero¨rterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte AF 2), Mu¨nchen 1862 (ND Aalen 1969), Nr. 321, S. 458–465, hier S. 463f. (1471); Die Rechtsquellen der Stadt Wien, hg. v. Peter Csendes (Fontes rerum Austriacarum III, 9), Wien/Ko¨ln/Graz 1986, Nr. 77, S. 314 (1564). 18 De rebus Alsaticis ineuntis saeculi XIII, in: Annales aevi Suevici, hg. v. Georg Heinrich Pertz u. a. (MGH SS XVII), Hannover 1861 [ND 1990], S. 232–237, hier S. 236. Die Zusta¨nde des Elsasses im Beginn des 13. Jahrhunderts, in: Annalen und Chronik von Kolmar, u¨bers. von Hermann Pabst (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 75), 3. Aufl., Leipzig 1940, S. 123–135, hier S. 134. 19 Zum Waldschutz in Nu¨rnberg: Gerhard Pfeiffer, Wasser und Wald als Faktoren der sta¨dtischen Entwicklung in Franken, in: JbFrkLdF 32 (1972), S. 151–170, hier S. 163–165; Die Reichswa¨lder bei Nu¨rnberg – aus der Geschichte des a¨ltesten Kunstforstes, Mu¨nchen 1968; Siegfried Epperlein, Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter. Zweite Ha¨lfte 11. Jahrhundert bis ausgehendes 14. Jahrhundert (VSWG Beih. 109), Stuttgart 1993, S. 70–76 u. 85f. Allgemein zu diesem Problem z. B.: Rolf-Ju¨rgen Gleitsmann, Aspekte der Ressourcenproblematik in historischer Sicht, in: Scripta Mercaturae 15 (1981), 2, S. 33–89; ders., Der Einfluss der Montanwirtschaft auf die Waldentwicklung Mitteleuropas, in: Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, Wege und Aufgaben der Forschung, hg. v. Werner Kroker/Ekkehard Westermann (Der Anschnitt Beih. 2), Bochum 1984, S. 24–39; Gertrud Schro¨der-Lembke, Waldzersto¨rung und Walderneuerung in Deutschland in der vorindustriellen Zeit, in: Zeitschrift fu¨r Agrargeschichte und Agrarsoziologie 35 (1987), S. 120–137. Zur Saigerhu¨ttenindustrie: Wolfgang von Stromer, Eine „Industrielle Revolution“ des Spa¨tmittelalters?, in: Technik-Geschichte. Historische Beitra¨ge und neuere Ansa¨tze, hg. v. Ulrich Troitzsch/Gabriele Wohlauf, Frankfurt a. M. 1980, S. 105–138, bes. S. 115f. u. 119f.; ders., Gewerbereviere und Protoindustrien in Spa¨tmittelalter und Fru¨hneuzeit, in: Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spa¨tmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Hans Pohl (VSWG Beih. 78), Stuttgart 1986, S. 39–111, hier S. 92–98. 20 Lore Sporhan/Wolfgang von Stromer, Die Nadelholz-Saat in den Nu¨rnberger Reichswa¨ldern zwischen 1469 und 1600, in: Zeitschrift fu¨r Agrargeschichte und Agrarsoziologie 17 (1969), S. 79–106.

Urbanita¨t

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Den Raum zwischen Wald und Stadt gestaltete Erhard Etzlaub als Wu¨stenei, ja als menschenleer. Kurz zuvor, im Jahr 1512, hatte Johannes Cochlaeus in seiner „Germania“, einem typischen Stadt- und La¨nderlob humanistischer Provenienz, geschrieben, Nu¨rnberg liege auf unfruchtbarem Boden, und „das Volk“ ko¨nne „sich daher nicht lediglich von seinem Ackerland erna¨hren“.21 Johannes Cochlaeus kontrastiert den Gewerbefleiß der Nu¨rnberger mit „dem milden Klima, der vorteilhaften Lage und der fruchtbaren Scholle“ der Sta¨dte am Mittelmeer, um die Wirtschaftskraft der deutschen Stadt, seines imaginierten „centrum Europe“, rhetorisch nur umso wirksamer herauszustellen. Und ganz a¨hnlich kommt es Erhard Etzlaub in der Argumentation seines Bildes offenbar allein auf das durch den ‚Gemeinen Nutzen‘ unter den Vorzeichen der Inneren Urbanisierung getragene vielfa¨ltige Beziehungsgefu¨ge zwischen den Reichswa¨ldern und der volks- wie gewerbereichen Stadtgemeinde an. Große wie kleine mitteleuropa¨ische Sta¨dte waren na¨mlich selbstversta¨ndlich keineswegs von Brachland umgeben. Urbanita¨t und arbeitsteilige Stadtwirtschaft haben sich seit dem Hochmittelalter, um die unvergessene Edith Ennen zu zitieren, nur „dank gewisser allgemeiner Voraussetzungen demographischer Natur und auf dem agrarischen Sektor“ entwickeln ko¨nnen.22 Mit anderen Worten: Die Versorgung des sta¨dtischen Marktes mit Viktualien und gewerblich genutzten agrarischen Rohprodukten aus dem direkten, von seinen naturra¨umlichen Bedingungen gepra¨gten Umland war ein Erfordernis des ‚Gemeinen Nutzens‘ und zugleich ein stark wachstumslimitierender Faktor. Franz Irsigler machte mit Recht darauf aufmerksam, dass Trier mit seinen „7000–8000 Einwohnern (...) um 1500 fu¨r die Erna¨hrung seiner Bewohner ebensoviel Land wie das von extrem fruchtbaren Bo¨rdelandschaften umgebene Ko¨ln“, das ca. 40 000 Menschen Heimstatt bot, beno¨tigte.23 Und so zeigt denn auch die um 1600 entstandene „erste, detaillierte, parallelperspektivische Darstellung der Reichsstadt“, gefertigt von dem Ratsschreiber Hieronymus Braun, mit den unbefestigten Vorsta¨dtchen, den Landgu¨tern und Bauernho¨fen, auch mit ihren Signaturen von Ga¨rten und verzelgter Ackerflur die dichte Besiedlung sowie die intensive Garten- und Landwirtschaft im unmittelbaren Umland Nu¨rnbergs seit dem 13. Jahrhundert (Abb. 3). Die „Facies Urbis Norimbergae“ wird mit Recht als „ein Ho¨hepunkt Nu¨rnberger Kartographie“ bezeichnet.24 21 Johannes Cochlaeus, Brevis Germanie Descriptio (1512) mit der Deutschlandkarte des Erhard Etz-

laub von 1501, hg. u. u¨bers. v. Karl Langosch (Ausgewa¨hlte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Geda¨chtnisausgabe 1), 3. Aufl., Darmstadt 1976, S. 76f. 22 Edith Ennen, Wechselwirkungen mittelalterlicher Agrarwirtschaft und Stadtwirtschaft aufgezeigt am Beispiel Ko¨lns, in: Cultus et Cognitio. Festschrift A. Gieysztor, Warschau 1976, S. 133–143, hier S. 133. 23 Zitat: Franz Irsigler, Saarburg. Leben in einer mittelalterlichen Kleinstadt, in: Pro multis beneficiis. Festschrift fu¨r Friedhelm Burgard. Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums, hg. v. Sigrid Hirbodian/Christian Jo¨rg/Sabine Klapp/Jo¨rg R. Mu¨ller, Trier 2012, S. 447–461, hier S. 449. Daru¨ber hinaus ders., Ko¨ln extra muros 14. – 18. Jahrhundert, in: Siedlungsforschung. Archa¨ologie – Geschichte – Geographie 1 (1983), S. 137–149; ders., Bu¨ndelung (wie Anm. 14). 24 Gerhard Rechter, Scha¨tze der Kartographie in Mittelfranken, in: ARX. Burgen und Schlo¨sser in Bay¨ sterreich und Su¨dtirol 2 (2011), S. 15–20, hier S. 16 (Zitat). Ungna¨dig nahm u¨brigens der Nu¨rnern, O berger Rat diese verha¨ltnisma¨ßig genaue, großmaßsta¨bliche Darstellung Brauns auf, bot sie doch neben ¨ berblick u¨ber Besiedlung und Wirtschaft direkt vor den Mauern einen zu eingehenden Eindem U blick in die Befestigungsanlagen, mithin in die streng gehu¨teten Arkana der Stadt: Peter Fleischmann

Quelle: Franz Schiermeier, Stadtatlas Nu¨rnberg. Karten und Modelle von 1492 bis heute, Mu¨nchen 2006, S. 83

Abb. 3: Hieronymus Braun, Facies Urbis Norimbergae, um 1600

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Urbanita¨t

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Die moderne Stadtgeschichtsforschung konnte mannigfach zeigen, dass sich um Sta¨dte wie Basel, Straßburg, Speyer, Worms, Mainz, Wu¨rzburg, Metz, Ko¨ln und London agrarische Intensita¨tsinseln bildeten, von denen wichtige Neuerungen im Landbau ausgingen.25 Wu¨rzburg beispielsweise war im Spa¨tmittelalter umgeben von Weinbergen; sie pra¨gten das sta¨dtische Wirtschaftsleben. Die um 1550 von unbekannter Hand gezeichnete Stadtansicht (mit dem Ausschnitt des Rebgela¨ndes zwischen Wu¨rzburg und Randersacker) zeigt dies deutlich (Abb. 4 im Farbteil). Im Jahre 1471 fu¨hlte sich Agostino Patrizzi, in der Gesandtschaft des Kardinals Francesco Todeschini-Piccolomini unterwegs zum Regensburger Reichstag, von den die Stadt erfu¨llenden Ausdu¨nstungen der frisch gedu¨ngten Weinberge sehr bela¨stigt.26 Und John Stow schildert 1598 den Norden Londons als teilweise unansehnliches, aber sehr fruchtbares Land „like the fertile plains of Asia, which produce abundant crops, and fill the barns of their cultivators with ‚Ceres‘ plenteous sheaf“27. In Nu¨rnberg legten sich die La¨ndereien und Do¨rfer der stadtadligen Geschlechter wie ein Kranz um die Stadt. Der Fachwerkturm auf hohem steinernen Sockel, inmitten eines aufgestauten Teichs gelegen, wie ihn Albrecht Du¨rer als Gouache malte,28 steht stellvertretend in Bautyp und Anlage fu¨r die kleinen, seit dem 14. Jahrhundert errichteten Herrensitze des Nu¨rnberger Stadtadels, fu¨r die sogenannten „Weiher-Ha¨user“ (Abb. 5 im Farbteil). Sie sind Zeichen zugleich fu¨r die Herrschaft dieser Geschlechter u¨ber ihre Bauern wie fu¨r die im Versta¨ndnis des ‚Gemeinen Nutzens‘ und als Fundament Innerer Urbanisierung errichtete wirtschaftliche Vorherrschaft der Stadtgemeinde, insbesondere der sta¨dtischen Eliten, u¨ber ihr Umland.29 Die mittelalterlichen Anlagen des Stadtadels im Umland genu¨gten am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht mehr. Man ließ seine Burgsta¨lle zu Schlo¨sschen, zu Sommerwohnungen im Stil der Fru¨hrenaissance, umgestalten. Ein Beispiel dafu¨r bieten die „Augsburger Monatsbilder“. Dieser Zyklus von vier Tafeln, die jeweils drei Monate des Jahreskreises umfassen, ist wohl um 1530/31 entstanden. Er wurde wahrscheinlich von dem Stadtadelsgeschlecht Rehlinger in Auftrag (Bearb.), Die handgezeichneten Karten des Staatsarchivs Nu¨rnberg bis 1806 (Bayerische Archivinventare 49), Mu¨nchen 1998, S. 144, Nr. 113. 25 Siehe Anm. 23. Daru¨ber hinaus Franz Irsigler, Intensivwirtschaft, Sonderkulturen und Gartenbau als Elemente der Kulturlandschaftsgestaltung in den Rheinlanden (13. – 16. Jahrhundert), in: Agricoltura e Trasformazione dell’Ambiente, secoli XIII–XVIII, hg. v. Annalisa Guarducci (Istituto internazionale di storia economica ‚F. Datini‘, ser. 2, 11), Florenz 1984, S. 719–747; Christian Reinicke, Agrarkonjunktur und technisch-organisatorische Innovationen auf dem Agrarsektor im Spiegel niederrheinischer Pachtvertra¨ge 1200–1600 (RhArch 123), Ko¨ln/Wien 1989; Otto Volk, Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (VHKomNass 63), Wiesbaden 1998. 26 Zur Stadtansicht: Wu¨rzburg. Geschichte in Bilddokumenten, hg. v. Alfred Wendehorst, Mu¨nchen 1981, Bild Nr. 94, Beschreibung S. 138. Fu¨r den Hinweis danke ich meinem Kollegen Peter Johanek, Mu¨nster. 27 John Stow, The Survey of London (1598), ND London/New York 1929, S. 502. Den Hinweis auf Stow verdanke ich meinem Go¨ttinger Kollegen Frank Rexroth. 28 Dazu Jan Simane, Die Welt im Bild – Sta¨dte- und Landschaftsdarstellungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Bild der Stadt (wie Anm. 1), S. 56–65. 29 Gerhard Fouquet, ‚Anna¨herungen‘. Große Sta¨dte – Kleine Ha¨user. Wohnen und Lebensformen der Menschen im ausgehenden Mittelalter (ca. 1470–1600), in: Geschichte des Wohnens. 500–1800. Hausen – Wohnen – Residieren, hg. v. Ulf Dirlmeier, Bd. II, Stuttgart 1998, S. 347–504, hier S. 477f.

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gegeben.30 Die Monatsbilder, zugleich bemerkenswerte Imaginationen von Stadt und Sta¨dtischkeit, hingen wohl in einem der 14 Schlo¨sser, welche die reichen Rehlinger seit dem 15. Jahrhundert erworben hatten. Auf der Tafel der Monate April bis Juni (Abb. 6 im Farbteil) wird trotz aller genrehaften Bezu¨ge das Arbeiten, Wohnen und Leben in den sta¨dtischen Herrensitzen vor der Stadt in zeitlich versetzten Momentaufnahmen dargestellt, die Zerstreuungen der ‚Jungen‘ vom Stadtadel gezeigt, die ‚Grasma¨hler‘, Spielen und Tanzen, Scherzen und Flirten, Jagen, Beizen und Hetzen – ‚glu¨ckliches Landleben‘, Wohnen und Leben von sta¨dtischen Mu¨ßigga¨ngern in einem idealisierten la¨ndlichen Raum, inmitten einer bukolisch anmutenden landwirtschaft¨ konomie. Die Rehlinger hatten mit ihrem in den Monatsbildern manifest lichen O werdenden adligen Landleben sta¨dtische Gema¨ßheit hinter sich gelassen.31

III.

Von Genrebildern des la¨ndlichen Lebens und Vogelschaupla¨nen mit ihrem differenziert gelenkten Sehen auf Mauern und aufragende o¨ffentliche Geba¨ude, vor allem auf das Umland unter den Vorzeichen des die Innere Urbanisierung tragenden und organisierenden ‚Gemeinen Nutzens‘ blicken wir nun im zweiten und letzten Teil mit den Zeitgenossen auf den Stadtinnenraum. Gleichsam in gro¨ßerer Tiefenscha¨rfe als bei der Beschreibung der a¨ußeren Stadtabbreviaturen der Vogelschaupla¨ne werden dabei die raumgestaltenden Momente von Sta¨dtischkeit zur Darstellung gebracht. Sie erscheinen durch die imaginierte ‚scho¨ne‘ Stadt als Ausdruck innersta¨dtischen Friedens und guten Regiments. Sie ko¨nnen gleichsam als Piktogramme, als symbolhafte bildliche Darstellungen des Stadtdiskurses humanistischer Provenienz um 1500/50, gelesen werden, der Idealstadtentwu¨rfe von Felix Faber, Johannes Cochleus oder Conrad Celtis, des großartigen Survey Londons von John Stow oder der allfa¨lligen Notizen zur Urbanitas in den Reiseberichten der Zeit. Der Urbanisierungsgeschichtsforschung dienen die ins Bild gesetzten Wahrnehmungen von Stadtinnenra¨umen als wichtige Quellen fu¨r die Analyse der Ikonographie Innerer Urbanisierung.32

30 Heinrich Dormeier, Kurzweil und Selbstdarstellung. Die ‚Wirklichkeit‘ der Augsburger Monatsbil-

der, in: „Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel“. Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance, hg. vom Deutschen Historischen Museum, Mu¨nchen 1994, S. 148–221. 31 Dazu etwa Olaf Mo ¨ rke, Die Fugger im 16. Jahrhundert. Sta¨dtische Elite oder Sonderstruktur. Ein Diskussionsbeitrag, in: ARG 74 (1983), S. 141–162. 32 Dazu Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 3–16; Fouquet, Blick des Fremden (wie Anm. 2); Text und Bild in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. Westliche Zeugnisse u¨ber Amerika und das Osmanische Reich, hg. v. Ulrike Ilg (Studi e Ricerche 3), Venedig 2008. Daru¨ber hinaus Fratris Felicis Fabri tractatus de civitate Ulmensi, de eius origine, ordine, regimine, de civibus eius et statu, hg. v. Georg Veesenmeyer (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 186) Tu¨bingen 1889, S. 20f. u. 45–52; Cochlaeus, Brevis Germanie Descriptio (wie Anm. 21); Conrad Celtis und sein Buch u¨ber Nu¨rnberg, hg. v. Albert Werminghoff, Freiburg i. Br. 1921; Stow, The Survey (wie Anm. 27).

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Der italienische Humanist Antonio de Beatis reiste Anfang Mai 1517 von Oberitalien aus u¨ber Sterzing und den Brenner nach Innsbruck und Augsburg, Nu¨rnberg, Konstanz und Basel, den Rhein abwa¨rts u¨ber Straßburg und Speyer nach Mainz und Ko¨ln. Welche Elemente Innerer Urbanisierung formten fu¨r de Beatis eine Stadt? Das kleine, aber auf den internationalen Verkehr u¨ber den Brenner spezialisierte Sterzing fand jedenfalls keine Gnade: Es bestehe „nur aus einer langen Straße“.33 Kein Wort mehr davon. Was also bedeutete dann fu¨r de Beatis Urbanita¨t? Bei der Beschreibung Innsbrucks, das um 1500 ca. 4000 Ko¨pfe za¨hlte und damit nur zu den Mittelsta¨dten geho¨rte, notiert sich Antonio de Beatis: „Innsbruck, in einem nicht sehr ausgedehnten Tale gelegen, ist keineswegs groß, aber wohl bewohnt, fest, scho¨n und freundlich.“ Und u¨ber die Stadt Augsburg, die 30 000 Menschen in ihren Mauern beherbergende, durch ihren Handel international ausstrahlende und aufstrebende Metropole, urteilt der Italiener: Die Stadt am Lech sei „groß, bevo¨lkert, ganz in einer Ebene gelegen, heiter, reich an scho¨nen Pla¨tzen, Straßen, Ha¨usern und Kirchen, von sehr elegantem Aussehen“.34 Humanisten, die wie Antonio de Beatis ihren Vitruv, den antiken Architekturschriftsteller schlechthin, bzw. die im fru¨hen 15. Jahrhundert entstandenen „Zehn Bu¨cher u¨ber die Baukunst“ Leon Battista Albertis kannten, hatten klare Vorstellungen von einer Stadt. Ihnen galten die geeignete Lage, der geordnete Stadtgrundriss, die Befestigungsanlagen, die Scho¨nheit der Pla¨tze und Straßen, die Eleganz der Ha¨user, die Gro¨ße und Anzahl der Kirchen als Maßsta¨be fu¨r die Beurteilung einer Stadt. Sie sind in die Stadtveduten des 15. und 16. Jahrhunderts eingegangen.35 Daneben wurden von Antonio de Beatis und anderen Beobachtern wie gerade von Felix Faber in seinem „Tractatus de civitate Ulmensi“ auch noch genauere Kriterien fu¨r die ‚Urbanitas‘, fu¨r das sta¨dtische Decorum des anhebenden 16. Jahrhunderts, genannt: die Sauberkeit, vor allem die Steinpflasterung von Gassen und Pla¨tzen, u¨berhaupt die hellen, breiten Straßen, reichlich vorhandenes Wasser, die gute Luft dank unterirdischer Abwasserkana¨le, die Steinha¨user des Stadtadels mit ihren Tu¨rmen, die Uhrtu¨rme der Ratha¨user und der großen Pfarrkirchen, dann auch die enormen Verbesserungen und staunenswerten Kuriosita¨ten innerhalb der durch den ‚Gemeinen Nutzen‘ geformten zeitgeno¨ssischen ‚Sta¨dtetechnik‘.36 Begonnen sei mit den immateriell-materiellen Aspekten der Inneren Urbanisierung, mit den zentralen Pla¨tzen und mit der Funktionalita¨t ihrer o¨ffentlichen 33 Die Reise des Kardinals Luigi d’Aragona durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Ober-

italen, 1517–1518, hg. v. Ludwig Pastor, beschrieben von Antonio de Beatis. 1517–1518 (Erla¨uterungen und Erga¨nzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes 4/4), Freiburg i. Br. 1905, S. 29, 92. 34 Pastor, Reise (wie Anm. 33), S. 30,93 u. 34,96. 35 Leon Battista Alberti. Zehn Bu¨cher u¨ber die Baukunst, hg. v. Max Theuer, Wien/Leipzig 1912 (ND Darmstadt 1975); Stefan Schuler, Vitruv im Mittelalter. Die Rezeption von ‚De architectura‘ von der Antike bis in die fru¨he Neuzeit (Pictura et Poesis 12), Ko¨ln/Weimar/Wien 1999. 36 Fouquet, Blick des Fremden (wie Anm. 2); Veesenmeyer, Fratris Felicis Fabri tractatus (wie Anm. 32), S. 20f. u. 45–52. Dazu Ulf Dirlmeier, Zu den materiellen Lebensbedingungen in deutschen ¨ ußerer Rahmen, Einkommen, Verbrauch, in: Stadtadel und Bu¨rgertum Sta¨dten des Spa¨tmittelalters: A in den italienischen und deutschen Sta¨dten des Spa¨tmittelalters, hg. v. Reinhard Elze/Gina Fasoli (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2), Berlin 1991, S. 59–88, hier S. 71.

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Geba¨ude, auch mit ihrer Pflasterung und der davon ausgehenden Hygienisierung des Stadtinnenraums. „Reich an scho¨nen Pla¨tzen“ sei Augsburg, schreibt Antonio de Beatis. Und in der Tat: Die Tafel der Augsburger Monatsbilder von 1530/31, die die Monate Oktober bis Dezember darstellt, ero¨ffnet den Blick auf einen großartigen sta¨dtischen Innenraum (Abb. 7 im Farbteil). Gezeigt wird der Perlachplatz, den der vom Reichsadler als Symbol von Reich und Reichsstadt bezeichnete Perlachturm u¨berragt. Begrenzt wird der Platz auf der rechten Seite vom Rathaus, dessen no¨rdliches Hauptportal vom Stadtwappen bekro¨nt wird. Zwei ‚Wilde Ma¨nner‘ halten das Schild. Die „Segnungen einer ‚Guten Regierung‘“ sind zuna¨chst sinnfa¨llig im Turm, in der im Hintergrund aufscheinenden Barfu¨ßerkirche, im Rathaus und in den aus dem Rat eilenden Ratsherren in ihren kostbaren, pelzverbra¨mten Schauben.37 Die Ratsherren, die Agenten des ‚Gemeinen Nutzens‘, werden in der Sprache des Bildes gleichsam im Sinne der „Kultur der Anwesenheit“ zitiert. Rudolf Schlo¨gl hat derart den „kommunikativen Kern politischer Gesellschaft in der Stadt“ beschrieben.38 Der mit zahlreichen Symbolen des ‚Gemeinen Nutzens‘ bezeichnete o¨ffentliche Raum verbindet sich daru¨ber hinaus in der Wirklichkeit der Bildtafel mit dem privaten Raum des links an den Platz grenzenden Hauses. Dieser große Haushalt mit viel gescha¨ftigem Gesinde, bezeichnet durch die Hausfrau und den vor ihr sitzenden Hausherrn, wird durch den selektierenden Blick der Darstellung vom Inneren ¨ ußere gekehrt. Das geo¨ffnete Haus der Bu¨rger, der entscheidende Baustein sta¨dins A tischen Wirtschaftens und urbaner Lebensform, verbindet sich, so wird es wohl in der Aussage der Bildtafel offenbar, unauflo¨slich mit der wirtschaftenden, die Politik ¨ ffentlichkeit der Gemeinde.39 Sinnfa¨llig wird in diesem Beziehungsgegestaltenden O flecht von bu¨rgerlichem Haus und zentralem Perlachplatz mit seinen das ‚Regiment‘ demonstrierenden und symbolisierenden Geba¨uden und Menschen die „Verra¨umlichung“ jener „politischen Strukturen“, welche die sta¨dtische Gemeinde nach zeitgeno¨ssischer Vorstellung ausmachte.40 Es sind die gebauten Signaturen des ‚Gemeinen ¨ berdeckt und Nutzens‘, welche die ha¨ufig kopierte oder nachgebildete Tafel zeigt. U

37 Dormeier, Kurzweil (wie Anm. 30), S. 184–196. Auch Francesca Bocchi, The Public Piazzas of Com-

munal Italy. Economy, City Planning, Symbology (13th–14th Centuries), in: Sta¨dtische Wirtschaft (wie Anm. 14), S. 43–70. 38 Rudolf Schlo ¨ gl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Interaktion und Herrschaft. Die Politik der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. dems. (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 9–60, hier S. 28. 39 Im U ¨ berblick: Irmintraut Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haus¨ kohaltso¨konomik, Go¨ttingen 1991; Ulrich Meyer, Soziales Handeln im Zeichen des ‚Hauses‘. Zur O nomik in der Spa¨tantike und im fru¨heren Mittelalter (VMPI 140), Go¨ttingen 1998. Zuletzt Inken Schmidt-Voges, „Si domus in pace sunt ...“. Zur Bedeutung des ‚Hauses‘ in Luthers Vorstellungen vom weltlichen Frieden, in: Lutherjahrbuch 78 (2011), S. 153–185; Gerhard Fouquet, Sparsamkeit – ein Pha¨nomen „rechten“ Haushaltens in den Lebenswelten des Mittelalters, in: VSWG 99 (2012), S. 1–15. 40 Ulrich Meier, Repra¨sentation und Teilhabe. Zur baulichen Gestalt des Politischen in der Reichsstadt Dortmund (14. bis 16. Jahrhundert), in: Sta¨dtische Repra¨sentation. St. Reinoldi und das Rathaus als Schaupla¨tze des Dortmunder Mittelalters, hg. v. Nils Bu¨ttner/Thomas Schilp/Barbara Welzel (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 5), Bielefeld 2005, S. 227–248, hier S. 229.

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ausgeblendet wurde damit zugleich die scharfe zeitgeno¨ssische Kritik in der Antimonopoldebatte, die sich gerade an den Unternehmen des Augsburger Stadtadels entzu¨ndete,41 wie auch die Debatte um die Augsburger Bu¨rgermeister Wolfgang Rehlin¨ ber sie urteilt der Chronist Jo¨rg Preu d. A ¨ .: Die Bu¨rgermeister ger und Mang Seitz. U seien gar aufblasen und geschwollen mit macht, nichts, das nit adellich zuogieng.42 In dem nahezu zeitgleich, 1530 publizierten und dem Hamburger Rat gewidmeten „Bu¨chlein vom Ratschlagen und von guter Ordnung“, handelt der Rostocker Syndikus Dr. Johann Oldendorp von der in den Universales und Partikulares aufgehobenen Politie (Polizei), von Herrschaftsformen also wie von der guten Verfassung, die vom Zustand des Regiments und der Ordnung abha¨ngig sind. Ordnungszustand und tempora¨r gu¨ltige Gesetze folgen den Maßgaben des ‚Gemeinen Nutzens‘. Das ‚Bonum commune‘ erscheint bei Oldendorp jedoch, so sieht es jedenfalls Eberhard Isenmann, nicht „als objektive Gro¨ße“, sondern wird eher realistisch am Politikmodell ‚Stadtgemeinde‘ ausgerichtet, aus Gru¨nden der Opportunita¨t „als Verha¨ltnisbegriff behandelt“. Das Gemeinwohl mu¨sse – darin ist die Ansicht Oldendorps der Kernaussage der vorgestellten Tafel der Augsburger Monatsbilder wesensa¨hnlich – stets im Hinblick auf den Nutzen der Mehrheit formuliert werden. Die Orientierung auf den kleineren Teil ziehe na¨mlich, so Oldendorp, nutzloses Unrecht, Aufruhr und jede Art von Missvergnu¨gen nach sich.43 Die derart vom Nutzen ‚der Mehrheit‘ getragene Innere Urbanisierung offenbart sich in der Darstellung der na¨mlichen Tafel der Monatsbilder im sta¨dtischen Schaugefa¨ngnis, rechts hinter dem Perlachturm gelegen, im vielfa¨ltigen Marktgeschehen, durch das die Stadt erna¨hrt wird: Brennholz, Fisch, Schlachttiere, Federvieh, Brot, Viktualien jeder Art werden verkauft, Handwerker bieten in der Sieben-La¨dle-Zeile unter dem Perlachturm mit seinen Ba¨renzwingern ihre Produkte feil, ein Zahnbrecher beugt sich rechts hinter einem Fischstand u¨ber einen Kunden.44 Der verschneite winterliche Platz gibt zwar nicht den Blick frei auf seinen befestigten Untergrund, doch der Perlachplatz war wie alle derartigen großen Stadtinnenra¨ume zu Beginn des 16. Jahrhunderts gepflastert. Zeitgenossen freilich nahmen um 1500 die Besetzung der Gassen und Pla¨tze mit Pflaster- und Kieselsteinen nicht generell als Wohltat wahr. Der kleine Johannes Butzbach z. B. litt 1488 bei seinem ersten Besuch Nu¨rnbergs u¨ber seine Kra¨fte, als er seinem Begleiter durch die verschiedenen Gassen der Stadt folgte, wegen der Straßenpfla¨sterung, die mit ihren spitzen Steinen fu¨r meine mu¨den Fu¨ße vollkommen la¨stig war.45 Die Uhren des Fortschritts liefen durchaus unterschiedlich: Was fu¨r die Großsta¨dter eine wesentliche Verbesserung 41 Fritz Blaich, Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V. Ihre ordnungspolitische Proble-

matik (Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen 8), Stuttgart 1967; Peter Burschel/Mark Ha¨berlein, Familie, Geld und Eigennutz. Patrizier und Großkaufleute im Augsburg des 16. Jahrhunderts, in: Dormeier, Kurzweil (wie Anm. 30), S. 48–65, hier S. 61f. 42 Die Chronik des Augsburger Malers Georg Preu des A ¨ lteren. 1512–1537 (ChrDtSt 29: Augsburg 6), Leipzig 1906 (ND Go¨ttingen 1966), S. 72. Dazu Burschel/Ha¨berlein, Familie (wie Anm. 41), S. 56. 43 Johann Oldendorp, Ein Ratmannen-Spiegel, 1530/1597 (ND Glashu¨tten im Taunus 1971), S. 35f. Dazu Isenmann, Ratsliteratur (wie Anm. 8), S. 306–317. 44 Dormeier, Kurzweil (wie Anm. 30), S. 184–196. 45 Johannes Butzbach. Odeporicon. Eine Autobiographie aus dem Jahre 1506. Zweisprachige Ausgabe, hg. v. Andreas Beriger, Weinheim 1991, S. 164f.

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von Hygiene und Infrastruktur bedeuten mochte, stellte fu¨r die subjektive Wahrnehmung des Bewohners einer Landstadt mit ihren Bohlenwegen und Sandstraßen keine Annehmlichkeit dar. Die Kieselsteine, wie sie in Basel fu¨r die Straßenpflasterung verwendet wurden, konnten u¨brigens auch einem Weltmann wie Enea Silvio Piccolomini einfach nur la¨stig erscheinen (humanis tamen pedibus asperum et noxium); sein Schuhwerk hatte wie das seiner Zeitgenossen zu weiche Sohlen fu¨r derartigen ‚Fortschritt‘.46 Die Straßenpflasterung war indes um 1500 eine allgemeine Erscheinung geworden, gerade in Mittel- und Großsta¨dten. Die Besetzung der Gassen und Pla¨tze mit ¨ sthetisierung und Ordnung des StadtSteinen, eines der wesentlichen Momente der A raumes wie auch der Verbesserung der Stadthygiene, wurde bereits im beginnenden 15. Jahrhundert durch sta¨dtische Bauprogramme maßgeblich gefo¨rdert, und zwar selbst in kleineren Sta¨dten.47 Ein Beispiel dafu¨r scheint die um 1575 entstandene Ansicht der Kleinstadt Meßkirch im Schwarzwald zu bieten (Abb. 8 im Farbteil). Das Sta¨dtchen unterstand damals der Herrschaft der Grafen von Zimmern:48 Fu¨r den Kartenmaler bildeten die durchgehende Pflasterung aller Gassen und Pla¨tze sowie die roten Ziegelda¨cher selbst der kleinen Fachwerkha¨user in den a¨rmeren Stadtvierteln zum Flu¨sschen Ablach hin neben Schloss, Kirche, Spital, Mauern und Tu¨rmen wichtige Signaturen, um die Urbanita¨t des Residenzsta¨dtchens zu dokumentieren. Allerdings sind solche Stadtbilder methodisch mit vielen Vorbehalten zu lesen, sie sollen und wollen allenfalls Versatzstu¨cke von Realita¨t in den Realien bieten. Denn zum einen ist keineswegs davon auszugehen, dass es selbst in Großsta¨dten des 16. und 17. Jahrhunderts gelang, den seit dem 14. Sa¨kulum im Zeichen des ‚Gemeinen Nutzens‘ vorangetriebenen Versteinerungsprozess im großen Stil auch auf die Dachha¨ute und damit auf ein Mehr an Feuersicherheit auszudehnen.49 Die Gru¨nde sind banal: Teure Hartda¨cher mit Stein-, Ziegel- oder Kupferdeckung konnte und wollte sich trotz zahlreicher, gerade nach Stadtbra¨nden aufgelegter o¨ffentlicher Bau- und Unterstu¨tzungsprogramme nicht jeder leisten, schon gar nicht beispielsweise der zugegebenermaßen geizige Ko¨lner Tagebuchschreiber Hermann Weinsberg. Der ließ im Jahre 1582 bei der Reparatur eines seiner Zinsha¨user das Dach zur Straße hin mit Stein, zur Hofseite hin aber – wie schon zuvor – mit billigem Stroh decken.50 Die farblich auffallenden

46 Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, hg. mit Unterstu¨t-

zung der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft von Basel, 8 Bde., Basel 1896–1936 (ND Nendeln/Liechtenstein 1971), hier Bd. VIII, S. 200. 47 Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 8f., 13, 157, 278, 295, 297, 302, 390, 350f., 356f. u. 361. 48 Georg Tumbu ¨ lt, Geschichte der Stadt Meßkirch nach ihren rechtlichen und kirchlichen Verha¨ltnissen bis zum Jahr 1600. Mit vier Beilagen und einem Plan, in: Festschrift zum 70. Geburtstage Seiner Durchlaucht des Fu¨rsten Max Egon zu Fu¨rstenberg (Schriften des Vereins fu¨r Geschichte und Naturgeschichte der Baar und der angrenzenden Landesteile in Donaueschingen 19), Donaueschingen 1933, S. 1–159. 49 Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 420–422, 424f. u. 428–430. 50 Das Buch Weinsberg. Ko¨lner Denkwu¨rdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, hg. v. Konstantin Ho¨hlbaum/Friedrich Lau/Josef Stein, 5 Bde. (PublGesRhGkd 3, 4 u. 16), Leipzig/Bonn 1886–1926, hier Bd. V, S. 199f.

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Ziegelda¨cher Meßkirchs du¨rften daher, so sie denn in der Realita¨t der Zeit auch rot waren, wohl nur mit roter Farbe bemalte Schindelda¨cher aus Holz gewesen sein. Zum anderen zeigt die Stadtansicht Meßkirchs, dass sich auf den Gassen, insbesondere auf dem zentralen, Ober- und Unterstadt trennenden Platz und in der Spitalsvorstadt, allerlei Getier tummelt, Hunde und Rindvieh, vielleicht auch Schweine. So genau nahm es der Kartenmaler damit nicht. Freilaufende Schweine nun und sonstiges Getier hinterließen auf den Gassen Fa¨kalien. Misthaufen waren in zahlreichen Sta¨dten vor den Ha¨usern aufgesetzt. Auch die Entsorgung sonstiger Abfa¨lle geschah gelegentlich mit einer gewissen Sorglosigkeit und Gleichgu¨ltigkeit, wie beispielsweise Nachbarschaftsklagen immer wieder belegen. Schweinehaltung gab es sogar in der bedeutenden Messe- und Hoftagsstadt Frankfurt. Als der Stiftskanoniker von St. Bartholoma¨us Baldemar von Peterweil im Jahre 1350 seine Topographie Frankfurts verfasste, fand er dort in der Altstadt eine Sackgasse „genannt auf dem Schweine-Misthaufen“ vor.51 In der Reichsstadt am Main versuchte man noch 1481 – im Sinne einer Funktionstrennung –, die Schweinehaltung aus der Innenstadt nach Sachsenhausen und in die Neustadt abzudra¨ngen. Viel genu¨tzt scheinen diese in bedeutender Zahl u¨berlieferten Verordnungen nicht zu haben – weder in Frankfurt noch anderswo.52 Sie sind auch kein spezifisches Charakteristikum des Spa¨tmittelalters. So urteilte Fulvio Ruggieri, ein Begleiter des Kardinals Commendone auf dessen Nuntiaturreise von 1560 bis 1562, dass zwar die Sta¨dte Halle, Wittenberg und Berlin recht annehmbar seien, Annaberg sogar hu¨bsch, die dortige Annenkirche imposant. Alle u¨brigen Sta¨dte Mitteldeutschlands aber waren fu¨r ihn einfach nur miserabel und „schmutzig wegen der Misthaufen auf den Straßen“.53 Mist und Fa¨kalien auf Gassen und Pla¨tzen sind eindru¨ckliche Zeichen einer vielfach agrarischen Lebensweise der Bewohner auch noch gro¨ßerer Sta¨dte. Und so verhallten die zahlreichen Invektiven und Erlasse der fru¨hneuzeitlichen Ratsregierungen gegen die Haltung von Schweinen und die Anlage von Miststa¨tten in den innersta¨dtischen Bezirken. In Basel konnte es der Rat erst 1851/52 erreichen, dass die letzten Misten aus der Stadt entfernt wurden – gegen Entscha¨digung versteht sich.54 Auf der Meßkircher Stadtansicht ist ein weiteres Merkmal Innerer Urbanisierung aus der Vogelschau zu erkennen: Durch die Stadt Meßkirch hat man einen Nebenarm der Ablach gefu¨hrt, von Schwibbo¨gen und steinernen Bru¨cken u¨berspannt. Auf dem zentralen Platz erhebt sich eine große und repra¨sentative Brunnenanlage, aus Stein gebaut, davor Waschba¨nke und eine Pferdeschwemme.

51 Baldemars von Peterweil Beschreibung von Frankfurt, hg. v. Heinrich von Nathusius-Neinstedt, in:

Archiv fu¨r Frankfurts Geschichte und Kunst 3. F. 5 (1896), S. 1–54, hier S. 8.

52 Die Gesetze der Stadt Frankfurt a. M. im Mittelalter, hg. v. Armin Wolf, Frankfurt a. M. 1969, Nr. 289,

S. 375–377. Dazu Ulf Dirlmeier, Historische Umweltforschung aus der Sicht der mittelalterlichen Geschichte, in: Siedlungsforschung. Archa¨ologie – Geschichte – Geographie 6 (1988), S. 97–111. 53 Nuntiaturberichte aus Deutschland 1560–1572, hg. v. Adam Wandruszka, Wien 1952, S. 57–169, hier S. 70 u. 74f. 54 Ulf Dirlmeier, Die kommunalpolitischen Zusta¨ndigkeiten und Leistungen su¨ddeutscher Sta¨dte im Spa¨tmittelalter (vor allem auf dem Gebiet der Ver- und Entsorgung), in: Sta¨dtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte, hg. v. Ju¨rgen Sydow (Stadt in der Geschichte 8), Sigmaringen 1981, S. 113–150, hier S. 147.

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Wasser und Ziehbrunnen pra¨gten in besonderem Maße spa¨tmittelalterliche und fru¨hneuzeitliche Stadtinnenra¨ume, wie dies auch der Ausschnitt aus dem 1576 gefertigten Murer-Plan Zu¨richs vermittelt (Abb. 9): Ein steinerner Brunnentrog mit einem

Abb. 9: Murer-Plan der Stadt Zu¨rich, 1576. Ausschnitt: Wassertra¨gerinnen

Steigrohr, ein sogenannter Laufbrunnen, befindet sich am Fuß des Turmes in der Steingasse, zwei Wassertra¨gerinnen verteilen, Wassereimer auf dem Kopf tragend, das frische Nass an Privathaushalte: Sie waren in u¨bergroßer Mehrheit auf die o¨ffentlichen Brunnen angewiesen.55 Reisenden des 16. Jahrhunderts fiel die starke Pra¨senz des Wassers in vielen Sta¨dten auf. Es galt ihnen als Zeichen von Urbanita¨t. Antonio de Beatis ru¨hmt auf seinem Ritt durch Deutschland im Jahre 1517 immer wieder die vielen Wasserla¨ufe und Brunnen in den Sta¨dten.56 Im flu¨chtigen Blick der Reisenden auf die Wasseranla-

55 Arthur Du ¨ rst, Die Planvedute der Stadt Zu¨rich von Jos Murer, 1576, in: Cartographica Helvetica 15

(1997), S. 23–37; Martina Stercken, Zu¨rich, in: Schweizer Sta¨dtebilder (wie Anm. 6), S. 609–617, bes. S. 610f. Zur Wasserversorgung Zu¨richs: Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 231f.; Elisabeth Suter, Wasser und Wasserversorgung im alten Zu¨rich, Zu¨rich 1981; Roger Sablonier, Wasser und Wasserversorgung in der Stadt Zu¨rich vom 14. zum 18. Jahrhundert, in: Zu¨rcher Taschenbuch 1985, Zu¨rich 1984, S. 1–28. 56 Pastor, Reise (wie Anm. 33), S. 43, 102 (Straßburg) u. passim.

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gen wurden freilich keine idealen Bilder entworfen, sondern in der Tat Wirklichkeiten registriert. War doch die Kraft des Wassers eine der wenigen Energiequellen, die neben Wind und Holz bis ins 19. Jahrhundert hinein genutzt werden konnten. Viele Mu¨hlenwerke fu¨r den Antrieb von allem und jedem pra¨gten daher das Bild der Sta¨dte, wie ein Blick auf den 1531 entstandenen Ko¨lner Stadtprospekt Anton Woensams lehrt (Abb. 10). Um 1527 waren dort im Rhein vor Ko¨ln von einst 35 nur noch acht Schiffsmu¨hlen verta¨ut.57 Außerdem brauchten die Stadtbewohner in vielerlei Hinsicht Frisch- und Brauchwasser. Und die Stadtregierungen sahen darauf ab, gegenu¨ber dem sta¨dtischen Umland eine autarke und intakte Wasserversorgung ihr Eigen zu nennen. Die allfa¨lligen Feuer- und Kriegsgefahren ließen sie in dieser Hinsicht nicht ruhen. Selbst mittlere Sta¨dte besaßen daher zur Versorgung ihrer Einwohner mit Wasser zahlreiche Brunnenanlagen.58 Doch nicht allein die Anzahl und Scho¨nheit der Brunnen bestimmten die sta¨dtische Lebensform des 15. und 16. Jahrhunderts. Faszinierend fu¨r alle Reisenden und besonders weit entwickelte Technologien im Zeichen Innerer Urbanisierung waren auch und gerade die sta¨dtischen Wasserleitungen, die hydraulischen Wasserku¨nste, die Scho¨pfra¨der und die Hebewerke. In der kleinen Großstadt Basel gab es bereits seit dem 13. Jahrhundert Ro¨hrensysteme, die Trinkwasser von außen her in das Stadtgebiet fu¨hrten und es u¨ber zahlreiche o¨ffentliche Stockbrunnen verteilten.59 In den Jahren 1492/93 wurde auch in Kleinbasel, im Stadtgebiet jenseits des Rheins, eine Wasserleitung gebaut. Dafu¨r waren die Finanzen bereitzustellen, das Terrain zu erkunden, die Grundeigentu¨mer zu entscha¨digen, die Aushubarbeiten in Gemeindefron zu erledigen, die Holzteuchel zu bohren und zu verlegen, die Stockbrunnen zu errichten. Im Zuge dieser besonderen Infrastrukturmaßnahmen, die von dem Basler Tagebuchschreiber Johannes Gast in anderem zeitlichen Zusammenhang als Akt der Gemeinnu¨tzigkeit gepriesen wurden, hat der Basler Brunnenmeister Hans Zschan Pla¨ne fu¨r die Rohrleitungssysteme Basels entworfen.60 Sie wurden 1501 von einem unbekannten Maler auf zwei Karten u¨bertragen. Mit ihren Ausmaßen bis zu zehn Metern enthalten diese Karten in Grund- und Aufrissen genaueste Details der gesamten Basler Wasserversorgung. Sie sind, einmalig im deutschsprachigen Raum, bislang ebenso wenig in ihrer Gesamtheit fotographisch dokumentiert wie untersucht, immer noch, so scheint es, wie einst ein gutgehu¨tetes Ratsgeheimnis – ein Masterplan des sta¨dtischen Untergrundes wie des technischen Wissens im Tiefbau, ein Negativplan der daru¨ber errichteten Stadt. Der kleine Ausschnitt (Abb. 11) zeigt auf der linken Seite, wie die Wasserleitung u¨ber einen Schwibbogen den Stadtgraben u¨berquerte. Auf der rechten Seite entwirft der Plan die Konstruktion eines Laufbrunnens mit den Holzrohren, dem Wasserkasten, dem darauf aufgesetzten Steigrohr und dem Brunnentrog.

57 Horst Kranz, Die Ko¨lner Rheinmu¨hlen. Untersuchungen zum Mu¨hlenschrein, zu den Eigentu¨mern

und zur Technik der Schiffsmu¨hlen, 2 Bde., Aachen 1991, hier Bd. I, S. 176 u. 291f. 58 Dazu allgemein Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 224–250. 59 Dazu u. zum Folgenden Fouquet, Bauen (wie Anm. 1), S. 224–250. 60 Das Tagebuch des Johannes Gast, hg. v. Paul Burckhardt (Basler Chroniken 8), Basel 1945, S. 326f.

Abb. 10: Anton Woensam, Ko¨ln – Stadtprospekt, 1531. Ausschnitt: Schiffsmu¨hlen

Quelle: Hugo Borger/Frank Gu¨nter Zehnder, Ko¨ln. Die Stadt als Kunstwerk. Stadtansichten vom 15. bis 20. Jahrhundert, Ko¨ln 1982, S. 118/119

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Scho¨pfra¨der und Hebewerke endlich waren sehr aufwa¨ndige, kostspielige Anlagen der Wasserversorgung. Sie sind dennoch in zahlreichen mittleren und großen Sta¨dten seit dem 13. Jahrhundert zu finden. Ein Beispiel dafu¨r bietet der Ausschnitt aus dem schon genannten Murer-Plan Zu¨richs, der das Scho¨pfrad auf der Limmatbru¨cke, Teil eines differenzierten sta¨dtischen Versorgungssystems zeigt, das seit 1421

Abb. 11: Hans Zschan, Plan fu¨r das Spalenwerk-Rohrleitungssystem in Basel, 1501

gebaut wurde (Abb. 12).61 Ein anderes Beispiel stellt die Stadtansicht Lu¨becks dar, von Elias Diebel im Jahre 1552 ins Holz geschnitten. Sie gibt im linken Vordergrund ein bemerkenswertes Wasserwerk jener Zeit preis, na¨mlich die ‚Kaufleute- oder Bu¨rgerwasserkunst vor dem Hu¨xtertor‘ (Abb. 13). Sie lo¨ste, 1533 errichtet, eine bereits 1294 nach dem Prinzip kommunizierender Ro¨hren mit Scho¨pfrad und Hochbeha¨lter konstruierte Anlage ab. Man ließ dazu das Hebewerk in einem Wasserturm, einem imposanten, ca. 20 Meter hohen Renaissance-Bau, installieren. Wasser aus der Wakenitz wurde u¨ber ein unterschla¨chtiges Kehrrad zugefu¨hrt, das man vor dem linken ¨ ber eine 4128 Meter lange Leitung aus Holzro¨hren – am WakenitzTurm einbaute. U ufer wird gerade ein Baumstamm mit einem großen Lo¨ffelbohrer als Wasserrohr aufgebohrt – konnten von diesem Wasserwerk aus auch die ho¨her gelegenen Gassen der Kernstadt mit Wasser versorgt werden.62 Insgesamt wurden in der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts dadurch und mit Hilfe einiger zusa¨tzlicher Maßnahmen wie dem

61 Sablonier, Wasser (wie Anm. 55). 62 Klaus Grewe, Wasserversorgung und -entsorgung im Mittelalter. Ein technikgeschichtlicher U ¨ ber-

blick, in: Die Wasserversorgung im Mittelalter, hg. v. dems. (Geschichte der Wasserversorgung 4), Mainz 1991, S. 11–86, hier S. 61–64; Mieczyslaw Grabowski/Doris Mu¨hrenberg, In Lu¨beck fließt Wasser in Ro¨hren ... seit 700 Jahren! Eine kulturgeschichtliche Studie, Lu¨beck 1994.

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Bau eines zweiten Wasserturms, den die Ansicht Diebels zeigt, rund zwei Drittel des Lu¨becker Stadtgebiets mit Kunstwasser bedient.

Abb. 12: Murer-Plan der Stadt Zu¨rich, 1576. Ausschnitt: Scho¨pfrad auf der Limmatbru¨cke

IV.

Elias Diebels Stadtprospekt Lu¨becks konfrontiert die beiden Wassertu¨rme, stolze Anlagen der zeitgeno¨ssischen ‚Sta¨dtetechnik‘, mit dem perspektivisch u¨berrissenen, „u¨berho¨hten“ (Franz Irsigler) Rathaus und der Marienkirche im Bildhintergrund. Noch einmal erscheint es u¨berdeutlich: Das von Gott eingesetzte gute Regiment wird sinnfa¨llig im gebauten ‚Gemeinen Nutzen‘, in der ‚scho¨nen‘ Stadt, in der allta¨glichen Vorsorge fu¨r Sicherheit, Ordnung und Frieden, in der vielgestaltigen, auf den Nutzen der Mehrheit und einen langen Atem hin angelegten Obsorge fu¨r die Innere Urbanisierung.

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Die vorgestellte imaginierte Funktionalita¨t der Stadtbilder des 15. und 16. Jahrhunderts, ihre geformte Wahrnehmung, ihr durch humanistische Stadtvorstellungen gelenktes Sehen, ihr situatives Sosein und ihre historische Relativita¨t sowohl im Schnappschuss wie auch im Arrangement gilt es vom Ende her noch einmal zu bedenken.

Abb. 13: Elias Diebel, Stadtansicht Lu¨becks, 1552. Ausschnitt: die Wasserku¨nste Quelle: Friedrich Bruns, Lu¨beck im sechzehnten Jahrhundert. Nachbildung des von J. Geffcken herausgegebenen großen Holzschnitts von Lu¨beck, Lu¨beck 1906

Unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven sind bei allen Stadtimagines der Vormoderne zu unterstellen und methodisch zu bedenken. Deutlich offenbar wurden sie am Beispiel der beiden Vogelschaupla¨ne mit ihren sehr differenzierten Wahrnehmungsweisen des Nu¨rnberger Umlandes.

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Fu¨r die Analyse jeglicher Stadtimagines sind zudem ihre beschra¨nkte Zeitzeugenschaft in der Symbolsprache wie in der Darstellung von Realien und die damit verbundene Relativita¨t unseres wissenschaftlichen Versta¨ndnisapparates stets zu beru¨cksichtigen.63 Bei der vorangegangenen Analyse wurde dies stets unterstellt, aber nicht exemplifiziert. Und doch sollte die Relativita¨t des Sehens auf spa¨tmittelalterliche und fru¨hneuzeitliche Stadtko¨rper viel sta¨rker, als dies bisher geschehen ist, untersucht werden. Denn zumindest die Geschichtswissenschaft ist doch darin allzu sehr befangen, von den großen zeitgeno¨ssischen Korpora der verlegerischen Großprojekte a` la Braun/Hogenberg und Merian. Ihre Stadtprospekte stehen gleichsam fu¨r gefrorene Urbanita¨t, und sie verstetigen allzu sehr unsere Bilder vom Aussehen und Sein jener Sta¨dte. So entstehen Kopfgeburten des Immergleichen, wo doch Werden und Vergehen und dauernde Entwicklung die urbanen Topographien, die sta¨dtischen Ra¨ume und ihre Realien pra¨gten.64

63 Roeck, Auge (wie Anm. 1). 64 Dazu auch Holger Th. Gra¨f, Vom dekorativen Wandschmuck zur historischen Quelle – zur Konjunk-

tur von Stadtansichten in der Geschichtswissenschaft, in: Das Ansehen der Stadt. Halle in historischen Ansichten, hg. v. Thomas Mu¨ller-Bahlke/Holger Zaunsto¨ck (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 24), Halle 2009, S. 25–37, bes. S. 27; Bruno Weber, Stadtbilder in den großen Sammelwerken von Merian und Herrliberger, in: Schweizer Sta¨dtebilder (wie Anm. 6), S. 51–61.

‚WISSENSCHAFT‘ UND ‚UNMORAL‘ IN DEN MITTELALTERLICHEN VORSTELLUNGEN VON DER BILDUNGSMETROPOLE PARIS von Frank Rexroth

I. Ku¨nstler, Libertins, Intellektuelle: Paris im imaginaire der Moderne

Mit seinem Film „La vie de Bohe`me“ reihte sich der finnische Drehbuchautor und Regisseur Aki Kaurisma¨ki in die Reihe derjenigen ein, die Henry (Henri) Murgers gleichnamigen Roman von 1851 verfilmten und, wie Puccini oder Leoncavallo, vertonten.1 Dabei hat Kaurisma¨ki die spektakula¨r erfolglosen Ku¨nstlerfiguren der Romanvorlage, die typischen Vertreter der Pariser Bohe`me, in eine nicht genau zu bestimmende Na¨he zu seiner Gegenwart geholt und u¨berdies leicht umdisponiert. Rodolfo ist hier ein albanischer Maler, der Schriftsteller heißt bei Kaurisma¨ki Marcel Marx und der Komponist – wie im Roman – Schaunard. Dieser spielt in einer Episode des Films, die fu¨r das Thema der folgenden Ausfu¨hrungen besonders ergiebig ist, seinen Freunden sein neues Werk vor. Der Zuschauer lernt außerdem Mimi kennen, die am Ende an Schwindsucht sterben wird, sowie Musette; um nicht zu verhungern, wird sie Marx verlassen und einen unattraktiven, aber soliden Elsa¨sser Bauern heiraten. 1 Henry Murger, Sce`nes de la Bohe`me, Paris 1851; „La vie de Bohe`me“ (Regie: Aki Kaurisma¨ki, Frank-

reich/Deutschland/Finnland/Schweden 1991). Fru¨here Verfilmungen waren (ohne Anspruch auf Vollsta¨ndigkeit): „La Bohe`me“ (Regie: Albert Capellani, Frankreich 1912); „La Bohe`me“ (Regie: King Vidor, USA 1925); „La vie de Bohe`me“ (Regie: Marcel d’Herbier, Frankreich 1942). Angeregt davon ¨ sterwaren „Mimi“ (Regie: Paul Stein, UK 1935); „Zauber der Bohe`me“ (Regie: Ge´za von Bolva´ry, O reich 1937); vgl. Ru¨diger Dirk/Claudius Sowa, Paris im Film. Filmographie einer Stadt, Mu¨nchen 2003, S. 56, 187f., 388. Kompositionen: Giacomo Puccini, La Bohe`me (1896); Ruggero Leoncavallo, La Bohe`me (uraufgef. 1897); Jonathan Larson, Rent (Musical, 1996). Der folgende Text bewahrt weitgehend die Form des Vortrags, den ich am 19. Ma¨rz 2012 in Mu¨nster gehalten habe, freilich erga¨nzt um notwendige Literatur- und vor allem Quellenangaben. Die Mu¨nsteraner Vortragsfassung begann allerdings mit der Vorfu¨hrung von Kaurisma¨kis Film, ca. 1:09:30 bis ca. 1:12:00, was sich auf dem Papier nur schwer einfangen la¨sst. Der folgende Absatz verdeutlicht einige Aspekte der Szene, die fu¨r die Entwicklung meiner Fragestellung entscheidend waren. – Jan-Hendryk de Boer, Ingo Tru¨ter und vor allem Sebastian Du¨mling, Go¨ttingen, danke ich fu¨r besta¨ndigen Austausch und ihre Hilfe bei der Fertigstellung der Schriftfassung meines Vortrags.

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In der besagten Szene fu¨hrt Schaunard seine neue Komposition mit dem reichlich akademischen wie romantisch-pathetischen Titel „L’influence du bleu dans les arts“ auf, was ihn ko¨rperlich stark herausfordert; doch selbst im Kreis der verschworenen Bohe`me-Ku¨nstler findet sein Wurstbrot mehr Zuspruch als seine Musik. Hinter der vordergru¨ndigen Komik dieser Szene sind es gleich mehrere charakteristische Reize, mit denen beim Zuschauer die Vorstellungen vom Pariser Ku¨nstler-IntellektuellenMilieu abgerufen werden. Ihre Kunst ist sowohl politisch als auch avantgardistisch: Die Sirene, die Schaunard einsetzt, la¨sst den Kinoga¨nger an den Mai 1968 denken und wohl auch an die Rolle der Kunst in der Eskalation der damaligen Auseinandersetzungen (etwa die Schließung der „Cine´mathe`que franc¸aise“ unter Andre´ Malraux als Kultusminister im Februar ’68) – ein Blau, das hier Einfluss auf die Kunst nimmt, ist wohl das Blau von Blutergu¨ssen auf den Ko¨rpern von Demonstranten. Der PolizeiTon „You’re under arrest“, englisch gesprochen, verweist unschwer auf ein ganzes Konglomerat gesellschaftskritischer Klischees: Anti-Amerikanismus, Kapitalismuskritik, Staatsorgane als Bewacher der wirtschaftlich-sozialen Ordnung. Zugleich spielt die Sirene auf ein markantes Werk der musikalischen Avantgarde an, auf Edgar Vare`ses Komposition „Ameriques“ von 1921/22, geschaffen von einem solchen Pariser Bohe´mien, der erst Erfolg hatte, als er Frankreich den Ru¨cken kehrte.2 So sinnlich Vare`se-Schaunards Schaffen auch ist und so leicht es ist, in seiner Musik eine politische Aussage zu sehen – es bleibt eine Musik fu¨r Wenige, fu¨r die Avantgarde eben. Marx, der Autor von Kitschromanen, und Rodolfo, der konventionell malt und erkla¨rtermaßen nichts von moderner Kunst ha¨lt, halten sich lieber an die Wurstsemmel als an die Komposition. Die Nomenklatura der PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, ha¨tte „Der Einfluss des Blau“ wahrscheinlich als „formalistisch“ kritisiert. Nach Kaurisma¨kis Lesart handelt es sich bei dieser Kunst um eine Reservatkunst, die vom Außenseiterstatus der Bohe´miens ermo¨glicht wird und die auf eine eher detachierte Weise eine Kritiker- und Kommentatoren-Rolle der bu¨rgerlichen Welt gegenu¨ber einnimmt. Das Milieu, in dem dieses Werk geschaffen wurde, ist intellektualistisch, es ist nach Innen organisiert, getragen von ganz eigenen Werten und einem eher parasita¨ren Verha¨ltnis zu seiner Umwelt: Als Marx mit einem Vorschuss fu¨r redaktionelle Arbeiten an einem neuen Kunstmagazin ausgestattet wird, bringt er das Geld durch, indem er dafu¨r sorgt, dass seine Freunde und Freundinnen etwas von dem unverhofft erlangten Kuchen abbekommen. Freundschaft, die Solidarita¨t der Dropouts miteinander, und in diesem Zusammenhang auch: ihre lockeren sexuellen Bindungen sind der Kitt, der das Bohe`me-Milieu zusammenha¨lt und zugleich ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt regelt. Diese nur angedeutete Form der unbu¨rgerlichen

2 Helga de la Motte-Haber/Klaus Angermann, Edgar Vare`se 1883–1965. Dokumente zu Leben und

Werk, Frankfurt a. M. 1990, S. 20. Ebd., S. 19: „Vare`se war kein Eremit, er liebte Großsta¨dte. Paris, Berlin, New York sind seine Lebensstationen, hier ist er der gesellige Mensch, dessen Weltgewandtheit, Charme und Humor von allen, die ihn gekannt haben, hervorgehoben werden. Er braucht den anregenden Kontakt mit Freunden, verbringt ganze Na¨chte in Cafe´s und Kneipen. Auf der anderen Seite der unnahbare Vare`se, wie er den Betrachter von Fotos anblickt, dessen diabolische Miene zumindest in den fru¨hen Aufnahmen nicht frei von Pose und Ironie ist.“

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Sexualita¨t, die Hermetik des Drop-out-Milieus, das nach eigenen Regeln lebt und nur in der Großstadt existieren kann, und die intellektualisierte Kunst mit ihrer a¨ußerst sublimierten Bezugnahme auf die Welt der Mehrheitsgesellschaft – dies sind ParisBilder, die uns Zuschauern sofort plausibel erscheinen, weil sie ohnehin Bestandteil unseres kulturellen Imaginariums sind. Seine Elemente sind in Romanen, in Filmen und Liedern immer wieder zelebriert worden: Die Pariser Spielart des Sex ist tabulos, so verku¨ndete Bertolucci mit seinem „Letzter Tango in Paris“ von 1972; die Befreiung von sa¨mtlichen bu¨rgerlichen Konventionen einschließlich der herrschenden Sexualmoral la¨sst die eigentliche Gro¨ße des Menschen erst aufscheinen, botschaftet Claude Faraldos „Themroc“ aus demselben Jahr; gefa¨llige Bilder werben in Leo Charax’ „Les amants du Pont-Neuf“ (aus demselben Jahr wie Kaurisma¨kis Film) fu¨r das ku¨nstlerisch ambitionierte Milieu der Stadtindianer, das sich unter den Seine-Inseln angesiedelt hat; und die Intellektualita¨t des Rive-Gauche-Milieus, die mit dessen Sinnlichkeit einhergeht, begegnet uns zum Beispiel abermals bei Bertolucci, etwa in seinem letzten Film „The Dreamers“ von 2003. Es scheint, als besetzte Paris im kulturellen Geda¨chtnis der Moderne einen unverwechselbaren Platz an einer Schnittstelle zwischen Intellektuellen-, Ku¨nstler- und sexuell libertinem Milieu, wie dies bei keiner anderen Stadt der Fall ist; und weitere Streifzu¨ge in die Paris-Bilder der Moderne – durch Henry Millers „Clichy“ etwa – wu¨rden zeigen, dass dieser Platz nicht nur auf Zelluloid imaginiert wird. Es scheint ferner, als sei dieser Platz im allgemeinen kulturellen Imaginarium dadurch stabilisiert, dass es sich innerhalb der Pariser Sozialtopographie gut verorten la¨sst. Die Region links bzw. su¨dlich der Seine, die „rive gauche“, d. h. die Universita¨tsstadt ist es, die fu¨r dieses Konglomerat von Vorstellungen steht, und sie scheint sich in einem organischen Verha¨ltnis zu den anderen beiden Dritteln der Stadt zu befinden: der Politik bzw. der Kirche, der die Altstadt auf der großen Seine-Insel geho¨rt, und der Ha¨ndlerstadt rechts bzw. no¨rdlich der Seine. Jeder dieser Teile von Paris, so Victor Hugo in „Notre Dame de Paris“ von 1831 a¨hnlich wie vor ihm schon ein irischer Dominikaner namens Thomas am Ausgang des 13. Jahrhunderts, sei eine Stadt fu¨r sich gewesen, „aber eine zu besondere, um sich selbst zu genu¨gen, eine Stadt, welche der beiden anderen nicht entbehren konnte“.3 Im Folgenden soll es darum gehen zu ero¨rtern, unter welchen Umsta¨nden und vor allem aus welchen Gru¨nden Paris auf diese Weise in das Imaginarium der Europa¨er eingegangen ist. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass fu¨r die Verfertigung dieser Bilder und deren Eingang in die ‚mental maps‘ der Europa¨er seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts Vorstellungen vom Paris des 12. Jahrhunderts ausschlaggebend waren: Annahmen u¨ber die Entstehung eines neuen, ‚scholastischen‘ Schulbetriebs, die Kultur der sogenannten Goliaren, das gemeinsame Schaffen von Dichtern, Sa¨ngern und Philosophen, aber auch u¨ber die pra¨gende Nachbarschaft des urbanen Schulen- und des Rotlichtmilieus. Fu¨r das Zustandekommen dieses Bildes 3 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, Bru¨ssel 1831, S. 255: „Comme nous venons de le dire, chacune

de ces trois grandes divisions de Paris e´tait une ville, mais une ville trop spe´ciale pour eˆtre comple`te, une ville qui ne pouvait se passer des deux autres.“ Thomas de Hibernia zit. nach Marie-Dominique Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Graz 1960, S. 17f. Anm. 15.

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stand eine Vielzahl verschiedener Texte zur Verfu¨gung: chronikalische Berichte und Briefe, Texte der noch jungen scholastischen Wissenschaft, aber auch Dramen und vor allem Gedichte. Diese Gemengelage wissenschaftlicher, historiographischer und dichterischer Erzeugnisse sollte fu¨r das ‚Image‘ von Paris entscheidend sein, wie im Folgenden hoffentlich deutlich werden wird. Im zweiten Schritt dieser Studie soll das Paris-Bild, von dem hier die Rede ist, zuna¨chst anhand einiger weniger Beispiele umrissen werden (2.). Daran anschließend wird gezeigt, wie man versucht hat, seine Entstehung sozialgeschichtlich dingfest zu machen (3.). Das Hauptanliegen ist allerdings zu ero¨rtern, warum diese sozialgeschichtliche Deutung des Pha¨nomens, die auf die demographische Entwicklung der Stadt und ihre Sozialtopographie abhebt, die wesentliche Funktion des Bildes unberu¨hrt la¨sst. Die Rede von einem nach eigenen Regeln lebenden „Rive-gauche“-Milieu, so die These, ermo¨glichte es den Zeitgenossen des 12. Jahrhunderts, ein Pha¨nomen u¨berhaupt erst zu artikulieren, das die lateineuropa¨ische Kultur vor ihren Augen revolutiona¨r vera¨nderte, das aber aus der Außenbeobachtung heraus nicht leicht thematisiert werden konnte: na¨mlich die Entstehung von Wissenschaft als einem autonomen, weitgehend selbstreferentiellen gesellschaftlichen System (4.). Der letzte Schritt wird sein danach zu fragen, wie die mittelalterlichen Bilder vom geschlossenen Scholarenmilieu an die Moderne vermittelt wurden und welche Brechungen sie dabei erfuhren.

II. Arm, aber begeistert: Bilder vom Pariser Scholaren des 12. Jahrhunderts

Eingangs soll einer der Texte etwas genauer betrachtet werden, die uns nahe an das Paris-Imaginaire heranfu¨hren: Die Verssatire vom „Architrenius“ (dem „ErzWeiner“, wie Bernd Roling u¨bersetzt), die Johannes de Hauvilla (Alta Villa) 1184 geschrieben hat, ein Magister der Kathedralschule von Rouen.4 In neun Bu¨chern von insgesamt ca. 4300 Versen lernt der Leser einen jungen Mann an der Schwelle zum Erwachsenwerden kennen, der von seiner eigenen Immoralita¨t versto¨rt wird und sich daraufhin auf die Suche nach dem Ort begibt, an dem er natura finden wird. Auf seiner Reise wird er feststellen, dass die Unordnung der Welt im Ganzen der Unordnung seiner eigenen Seele entspricht: Herumvagabundierend, wie es im Prosa-Prolog heißt, trifft er auf Lust, Ehrgeiz, Habgier, Vo¨llerei und die anderen Huren dieser Welt. Nach ersten Stationen im Haus der Venus und bei der Vo¨llerei entschließt er sich an dritter

4 Johannes de Hauvilla, Architrenius, hg. v. Paul Gerhard Schmidt, Mu¨nchen 1974. Davon abha¨ngig

¨ bertragung von Winthrop Wetherbee (Cambridge Medieval Classics 3), Cambridge ist die englische U 1994. Einordnungen in die zeitgeno¨ssische Literatur und Motivik sind ha¨ufiger unternommen worden; siehe dazu Bernd Roling, Das ‚moderancia‘-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewa¨ltigung im 12. Jahrhundert, in: FMSt 37 (2001), S. 167–258. In der Tradition poetischer und poetologischer Werke, die Wissen in literarische Strukturen u¨berfu¨hren, behandelt ihn Frank Bezner, Wissensmythen. Lateinische Literatur und Rationalisierung im 12. Jahrhundert, in: Wolframstudien 20 (2008), S. 41–71.

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Stelle, die Schulen von Paris aufzusuchen. Von dort wird es noch weitergehen, unter anderem zum Palast der ambitio, zum Berg der praesumptio und schließlich zu einem utopischen, paradiesischen Raum, an dem ihn die natura u¨ber die Welt belehrt und ihm die Jungfrau moderatio zur Braut gibt. Auf Paris, einen Ort voller stolzer und wohlhabender Menschen, setzt der Ju¨ngling seine Hoffnung. Bu¨cherreich wie Griechenland stellt er es sich vor, mit Schulen gesegnet wie Indien, an Dichtern reich wie Rom! Doch was findet er vor? Arme Scholaren, philosophi, werden von dru¨ckender Bedu¨rftigkeit gequa¨lt, denn die Reichen wollen von ihnen nichts wissen. Auf rastloser Suche nach Wissen ergrauen sie, hungern, fristen ihr Dasein in scha¨bigen Kleidern und in ebenso armseligen Quartieren. In ihrer Schu¨ssel schwimmen ein paar Erbsen und eine Zwiebel, Bohnen und Lauch setzen ihnen zu, sie trinken u¨blen Wein. Das Leben des jungen Mannes, der so intensiv nach Weisheit sucht, ist von Schlaflosigkeit gepra¨gt, sein unabla¨ssiges Wissenwollen la¨sst ihn die Na¨chte mit Bu¨chern und Meditation durchwachen, wobei ihm ¨ llampe das Augenlicht verdirbt. Einmal bewegt er sich mu¨helos u¨ber den Stoff die O seiner Texte hinweg, ein andermal nagt er in ho¨chster Konzentration an verzwickten Textstellen, die ihm widerstreben und sein Versta¨ndnis umgarnen. Dass er studierend die Nacht zum Tag macht, erscho¨pft u¨ber den Bu¨chern einschla¨ft und anschließend den Schlummer verflucht, der ihm die Zeit zum Studieren nimmt, wird zu seinem Hauptcharakteristikum. Selbst im Schlaf la¨sst ihn seine Ta¨tigkeit nicht los, im Tra¨umen werden ihm Dinge klar, die ihn wachend in die Verzweiflung getrieben haben (V. 3, 201ff.). Schlafentzug beta¨ubt seine Zunge und fu¨hrt dazu, dass er beim Sprechen seine Sa¨tze nicht mehr unter Kontrolle hat, er spu¨rt ein Trunkenheitsgefu¨hl (Nec nexu explicito sompno ligat ebria voces, V. 3, 213). Ausdru¨cklich parallelisiert Johannes diese Art des halb-bewussten na¨chtlichen Verhaltens, bei dem man nicht ga¨nzlich Herr seiner Sinne ist, mit dem Veneris miles, dem Venusju¨nger. Ihn hat der Architrenius bereits kennengelernt, und von ihm weiß er, dass er bei dem na¨chtlichen Versuch, seine Geliebte zu erreichen, erscho¨pft eingeschlafen ist und so seine Chance vertan hat. Fatalerweise scho¨pft er dann jeweils neue Hoffnung, doch noch an sein Ziel zu gelangen (V. 3, 254ff.). Die Nacht zum Tage zu machen und nicht ganz bei sich zu sein, schlaftrunken eben, verbindet die Ju¨nger der Venus und der Minerva. Es ist das Paris der seit ca. 1100 entstandenen Schulen, das hier Pate gestanden hat. Schon um das Jahr 1110 herum schreibt ein Neuanko¨mmling in begeistertem Ton davon, wie aufregend diese Stadt durch diese neuen Schulen geworden sei: Sein Lehrer, Meister Wilhelm (gemeint ist Wilhelm von Champeaux, bei dem auch Peter Abaelard geho¨rt hatte), sei der derzeit bedeutendste Mann u¨berhaupt, und zwar in jeder Art von Wissenschaft (in omni genere doctrinae). Archidiakon und erster Vertrauter des Ko¨nigs sei er gewesen, doch dann habe er alles, was er besaß, aufgegeben und sich bei einem bettelarmen Kirchlein angesiedelt.5 Nur um Gotteslohn unterrichte er dort jeden, der zu ihm komme, so wie der Magister Manegold seligen Andenkens das getan

5 Gemeint ist wohl die Viktorskapelle, aus der dank Wilhelm und seinen Nachfolgern wie Hugo das

große Kollegiatstift St. Viktor werden sollte.

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habe. Ein solches studium, sei es in go¨ttlichen oder irdischen Dingen, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr.6 Noch mehr Eindruck auf die nach Paris reisenden jungen Ma¨nner sollte freilich Wilhelms unverscha¨mtester Schu¨ler machen: Peter Abaelard, hochbegabt auf dem Feld der Logik und leidenschaftlicher Anwalt des jugendlichen ingenium gegenu¨ber dem usus der altehrwu¨rdigen Lehrerfiguren.7 Die Reise zu den Pariser Schulen wird schnell zu einem Gemeinplatz der lateineuropa¨ischen Kultur – sogar die pragmatischen Schwaben machen sich auf den Weg ad urbem sapiencie:8 Hospita in Gallia nunc me vocant studia; vadam ergo, flens a tergo socios relinquo. Plangite, discipuli, lugubris discidii tempore propinquo! In das fremde Frankenreich / ruft das Studium mich jetzt gleich. / Ich muß wandern, / lass’ die andern / weinend nun im Ru¨cken. / Ihr Scholaren, klagt mit mir, die der nahe Abschied schier / traurig muß bedru¨cken. ¨ bersetzung Karl Langosch) (U Begeisterung fu¨r die Schulen und die dort vermittelten Inhalte, freiwillige Armut aus einem amor sciendi heraus, aber auch Begeisterung fu¨r die Kultur der Schulen, ihre urbane Umgebung und die Mobilita¨t ihrer Besucher: Alle diese Elemente werden in Liedern und Briefen gepriesen und von ihren Kritikern zugleich unter Generalverdacht gestellt. Guido von Bazoches beschreibt im spa¨ten 12. Jahrhundert, dass man auf dem Petit-Pont, der das linke Ufer mit der großen Seine-Insel verbindet, neben den normalen Spazierga¨ngern auch Scholaren treffe, die nicht einmal beim Gang durch die Stadt mit dem Disputieren aufho¨rten.9 Sogar der Esel Brunello in Nigellus

6 Monumenta Bambergensia, hg. v. Philipp Jaffe´, Berlin 1869, Nr. 160, S. 285–287. Zur Verfasserfrage

¨ G 46 (1932), Karl Pivec, Studien und Forschungen zur Ausgabe des Codex Udalrici T. 2, in: MIO S. 266f., 277, 297f., 306, 334, 379, der den iro-schottischen Kapellan Heinrichs V. und Geschichtsschreiber David annimmt. Dazu ablehnend Friedrich Hausmann, Reichskanzlei und Hofkapelle unter Heinrich V. und Konrad III. (Schriften der MGH 14), Stuttgart 1956, S. 83–86 u. 310–319. Fu¨r diesen Hinweis danke ich Herrn PD Dr. Klaus Naß, MGH, Mu¨nchen. 7 Abaelards Mitschu¨ler raten dem jungen Heißsporn, die U ¨ bernahme einer Bibelauslegung nicht zu u¨bereilen und die Sache gru¨ndlich zu bedenken. Darauf Abaelard: „Indignatus autem respondi non esse meae consuetudinis per usum proficere, sed per ingenium [...].“ Abaelard, Historia Calamitatum, hg. v. Jaques Monfrin, Paris 31967, S. 69. Zum Individualita¨tskonzept, das diesem Text unterliegt, jetzt Franz-Josef Arlinghaus, Petrus Abaelardus als Kronzeuge der ‚Individualita¨t‘ im 12. Jahrhundert. Einige Fragen, in: Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hg. v. Christoph Dartmann/Thomas Scharff/Christoph Friedrich Weber, Turnhout 2011, S. 165–197. 8 Vagantendichtung, hg. v. Karl Langosch, Leipzig 21984, Nr. 36, Str. 1. Paris als urbs sapientiae in Str. 8. 9 So der Brief des Guido von Bazoches, der auf 1175–1190 zu datieren ist: Chartularium Universitatis Parisiensis, hg. v. Heinrich Denifle/E´mile Chaˆtelain, Bd. 1, Paris 1889, Nr. 54, S. 55f.

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Wirekers „Speculum stultorum“ aus den 1180er Jahren, der nach Paris kommt, weil er gerne einen la¨ngeren Schwanz ha¨tte, la¨sst sich bei der Ankunft in Paris erst einmal die Haare schneiden, zur Ader lassen, kleidet sich neu ein, betritt eine Kirche zum Gebet und begibt sich dann zu den Schulen. Paris zu verlassen, fa¨llt weniger leicht, denn dann gilt es zu Hause den Eltern Rede und Antwort zu stehen, was man denn in der Fremde tatsa¨chlich gelernt habe.10 Die Na¨he zu Frauen macht einen großen Teil der Attraktivita¨t aus, die von der Existenz in den Schulen ausgeht – Abaelard disputiere mit Knaben, doch er verkehre mit Frauen, empo¨rt sich Bernhard von Clairvaux in einem der Briefe, in denen er das Pha¨nomen Abaelard behandelt.11 In einem der Heloise-Briefe bekennt seine Geliebte denn auch, es seien Abaelards Dichtungen und sein Gesang gewesen, mit denen dieser die Frauen beto¨re und die ihn selbst in der Welt der illiterati bekannt gemacht ha¨tten.12 So mahnt Bernhard in einer seiner Predigten, die ganz sicher an die Pariser Scholaren gerichtet ist, insta¨ndig: „Flieht, flieht aus der Mitte Babylons und rettet eure Seelen!“13 Unzucht, Ehebruch, Blutschande, ja in Einzelfa¨llen sogar die unaussprechlichen Leidenschaften (Sodomie) seien charakteristisch fu¨r das Leben in „Babylon“.14 Stephen Ferruolo, der den Kritikern des fru¨hen Pariser Schulenmilieus eine Monographie widmete, meint, dass das Image der Stadt Paris daher fru¨hzeitig einschla¨gig festgelegt gewesen sei: „By the early thirteenth century, learning and lust had become the trademarks of the city.“15 Wer sich dorthin auf den Weg machte, bekam leicht augenzwinkernd signalisiert, dass es dort ja noch andere Vergnu¨gungen neben der Scholastik gebe. Nicht jeder Paris-Besuch sei ehrenvoll, betonte Philipp von Harvengt.16 10 Nigel de Longchamps, Speculum Stultorum, hg. v. John H. Mozley, Berkeley, Los Angeles 1960,

S. 64.

11 Bernhard von Clairvaux, Brief 332 Ad G. Cardinalem, in: Ders., Sa¨mtliche Werke lat.-dt., hg. v. Ger-

hard B. Winkler, Bde. 1–10, Innsbruck 1990–1999, hier Bd. 3, S. 568: „Habemus in Francia monachum sine regula, sine sollicitudine praelatum, sine disciplina abbatem Petrum Abaelardum, disputantem cum pueris, conversantem cum mulierculis.“ 12 Joseph T. Muckle, The Personal Letters between Abelard and Heloise, in: Mediaeval Studies 15 (1953), S. 47–94, hier S. 71f.: „Duo autem fateor tibi specialiter inerant quibus feminarum quarumlibet animos statim allicere poteras, dictandi videlicet et cantandi gratia quae ceteros minime philosophos assecutos esse novimus. Quibus quidem quasi ludo quodam laborem exercitii recreans philosophici pleraque amatorio metro vel rhythmo composite relinquisti carmina quae prae nimia suavitate tam dictaminis quam cantus saepius frequentata tuum in ore omnium nomen incessanter tenebant ut etiam illitteratos melodiae dulcedo tui non sineret immemores esse.“ Vgl. Ursula Niggli, Peter Abaelard als Dichter. ¨ bersetzung seiner Klagelieder ins Deutsche, Tu¨bingen 2007. Mit einer erstmaligen U 13 Bernhard von Clairvaux, Ad clericos de conversione, in: Sa¨mtliche Werke (wie Anm. 11), Bd. 4, S. 127–246, hier c. 37, S. 236f. Angenommen wird, dass es sich um die Pariser Predigt handelt, die Gottfried von Auxerre in Buch 3 seiner Bernhardsvita erwa¨hnt: MPL 185, Fragmenta Tertia Vita Sancti Bernardi, hier Sp. 527 (c. 9: Conversio Gaufridi ipsius, et aliorum de schola Parisiensi): „Cumque [Bernardus] in itinere et in reditu scholaribus Parisiensibus, ut solebat, fecisset de conversione sermonem [...].“ 14 Bernhard von Clairvaux (wie Anm. 13), c. 34, S. 232–235. Vgl. ebd., S. 234: „Numquid non olim civitates illae, spurcitiae huius matres, divino praedamnatae iudicio incendio sunt deletae?“ 15 Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University. The Schools of Paris and their Critics, 1100–1215, Stanford, Calif. 1985, S. 263f. 16 „Non enim Parisius fuisse, sed Parisius honestam scientiam acquisisse honestum est.“ Phillipus de Harvengt, Brief 4, MPL 203, Nr. 4, Sp. 33.

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III. „Intellektuelles Proletariat“ und „Underworld of Learning“? Sozialgeschichtliche Deutungen

Vor welchem demographischen, topographischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund ko¨nnte man sich diese Neuerungen des 12. Jahrhunderts versta¨ndlich machen? Die Entstehung des Schulenmilieus fa¨llt zweifellos zusammen mit dem Aufschwung der Stadt Paris von einem immer noch von den Normanneneinfa¨llen gezeichneten Areal zur Metropole der franzo¨sischen Monarchie und der fu¨hrenden Stadt des lateinischen Europa. In ihrem Zentrum, auf der Iˆle de la Cite´, wird die Gegenwart des ko¨niglichen Haushalts immer sta¨rker spu¨rbar, und die Ko¨nige, insbesondere Ludwig VII. (reg. 1131–1180) und Philipp II. „Augustus“ reg. 1180–1223), fo¨rdern die Stadt massiv. Hinzu tritt seit Innozenz III. die Fo¨rderung der Schulen bzw. der Universita¨t, die seit ca. 1200 aus den Schulen heraus entsteht, durch die Pa¨pste.17 In den fru¨hen Jahren des 13. Jahrhunderts sollte die Stadt 14 Prozent der franzo¨sischen Kroneinnahmen erbringen.18 Eine Erhebung der namentlich bekannten Magister der Jahre 1170 bis 1215, die John Baldwin erstellt hat, belegt die Funktion von Paris als Schulenzentrum: Mehr als drei Viertel der Magister scheinen aus Regionen außerhalb des franzo¨sischen Ko¨nigtums gekommen zu sein.19 Man hat gescha¨tzt, dass sich zu dieser Zeit ca. 3000 bis 4000 Scholaren in der Stadt befanden. Die Scha¨tzungen der Gesamteinwohnerzahlen fallen sehr unterschiedlich aus – fu¨r 1300, also ca. 100 Jahre spa¨ter, gehen vorsichtige Berechnungen von ca. 80 000 und weniger zuru¨ckhaltende gar von 200 000 Bewohnern aus.20 Ermo¨glicht wurde dieser Aufschwung dadurch, dass zuerst am rechten, dann am linken Seine-Ufer Bauland gewonnen und ein Urbanisierungsprozess in Gang gesetzt wurde.21 Das linke Ufer, das von den Normanneneinfa¨llen besonders gescha¨digt worden war, erlebte dabei seit ca. 1100 einen ganz besonderen Aufschwung, wenngleich seine landwirtschaftliche Nutzung, v. a. im bourg Sainte-Genevie`ve durch Weinbau, noch fu¨r Jahrzehnte dominierte. Fu¨r den bourg Saint-Germain scha¨tzt man die Bewohnerzahl fu¨r 1176/82 auf 600, doch dann setzte auch hier das Wachstum ein, womit der Bau zahlreicher Straßen einherging.22 Zu einer topographischen Einheit wurde die Stadt durch den Mauerbau unter Philipp II. zusammengefasst: 1189 oder 1190, kurz bevor er sich auf den Kreuzzug begab, ordnete der Ko¨nig den Bau einer Erfassungsmauer auf dem rechten Ufer an; seit der Jahrhundertwende wurde diese auf der „rive gauche“ weitergefu¨hrt.23 17 Peter Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. v. Johannes Fried (Schriften der

MGH 29), Stuttgart 1983, S. 127–169. 18 Ferruolo, Origins (wie Anm. 15), S. 280f. 19 Ebd., S. 280. 20 William J. Courtenay, Parisian Scholars in the Early Fourteenth Century. A Social Portrait, Cam-

bridge 1999, S. 20.

21 Philippe Lorentz/Dany Sandron, Atlas de Paris au Moyen A ˆ ge. Espace urbain, habitat, socie´te´, reli-

gion, lieux de pouvoir, Paris 2006, S. 28f.

22 Ebd., S. 37. 23 Ebd., S. 37.

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Gerne wu¨rde man Verbindlicheres zur Sozialtopographie der Unmoral, der Prostitution und den Bordellen von Paris sagen. Doch so gut Bronisław Geremeks Forschungen zur Situation des 14. und 15. Jahrhunderts informieren, so bescheiden ist das empirisch gesicherte Wissen fu¨r die Jahre Abaelards und der Generationen danach.24 Allerdings kennt man die Klagen u¨ber die unmittelbare Nachbarschaft von Scholaren und Huren in den Ha¨usern des linken Seine-Ufers, beispielsweise aus der Feder Jacobs von Vitry. Scholaren und Prostituierte lebten in Paris Tu¨r an Tu¨r, so berichtet Jacob in den 1220ern anschaulich in seiner „Historia occidentalis“: oben die Studenten, unten die Prostituierten. Oben dozierten die Magister, unten gingen die Dirnen ihrem Gewerbe nach. Hier stritten die Huren mit ihrem Zuha¨lter, dort disputierten die clerici.25 Die Spannung zwischen ihrer Bedeutung fu¨r die Welt der Wissenschaft und der Unmoral machte weiterhin das Image von Straßen wie der rue de Fouarre aus: die Schulen von Abaelard und spa¨ter von Gerson, aber auch die Straße der Armut, der Krankheit, der Unmoral.26 Das Versta¨ndnis gerade der weltlichen Dichtung, die in diesen Kontexten entstanden ist, hat sich in der Vergangenheit dieser Beobachtungen bedient und hat die Gedichte beim Wort genommen und im Maßstab 1:1 auf die soziale Situation von Poeten und Scholastikern bezogen. Ein Paradebeispiel dafu¨r ist etwa Robert Bolgar, der in den 1950er Jahren die These von einem „intellektuellen Proletariat“ ¨ berfu¨llung („crowding“) der Schulen des 12. Jahrhunderts formulierte. Durch die U seien die Karrierewu¨nsche der Scholaren, die der eigentliche Ansporn zum Aufsuchen eines Magisters gewesen seien, frustriert worden. Sie ha¨tten in einer Welt des wachsenden Wohlstands gelebt, und fu¨r solche Wachstumsphasen sei ja die Begeisterung fu¨r Bildung u¨berhaupt typisch. Hier aber habe das Angebot an gut ausgebildetem Personal die Nachfrage u¨berstiegen „and we begin to hear of men whose intellects were capable of dealing with abstract problems, who could interest themselves in theology or philosophy, but who were forced to live unsatisfactory lives embittered by failure and uninfluenced by the responsibilities of office“.27 Zu ihrem Charakteristikum sei ihr unstetes Leben geworden, wie man vor allem an Hugo Primas sehen 24 Bronislaw Geremek, Les marginaux parisiens aux XIVe et XVe sie`cles, Paris 1976. 25 Jacob von Vitry, Historia Occidentalis, hg. v. John Frederick Hinnebusch (Spicilegium Friburgense

17), Freiburg i. Ue. 1972, S. 91. Zur Nachbarschaft von Huren und Schulen: „In una autem et eadem domo scole erant superius, prostibula inferius. In parte superiori magistri legebant, in inferiori meretrices officia turpitudinis exercebant.“ Beide Gewerbe sind mit Gera¨usch verbunden: „Ex una parte meretrices inter se et cum lenonibus litigabant; ex alia parte disputantes et contentiose agentes clerici proclamabant.“ Die Huren beschimpfen die clerici als Sodomiter, wenn diese nicht mit ihnen gehen. Zur Datierung ebd., S. 16–20. 26 Honore´ de Balzac, L’interdiction, suivie de la messe de l’athe´e, Bru¨ssel 1836, S. 24: „La rue du Fouarre, mot qui signifiait autrefois rue de la Paille, fut au treizie`me sie`cle la plus illustre rue de Paris. La` furent les e´coles de l’Universite´, quand la voix d’Abeilard et celle de Gerson retentissaient dans le monde savant. Elle est aujourd’hui l’une des plus sales rues du douzie`me Arrondissement, le plus pauvre quartier de Paris, celui dans lequel les deux tiers de la population manquent de bois en hiver, celui qui jette le plus de marmots au tour des Enfants-Trouve´s, le plus de malades a` l’Hoˆtel-Dieu, le plus de mendiants dans les rues, qui envoie le plus de chiffonniers au coin des bornes, le plus de vieillards souffrants le long des murs ou` rayonne le soleil, le plus d’ouvriers sans travail sur les places, le plus de pre´venus a` la Police correctionnelle.“ 27 Robert R. Bolgar, The Classical Heritage and its Beneficiaries, Cambridge 1954, S. 178–180.

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ko¨nne: Dieser zeige sich selbst „as an idle, insolent, greedy and utterly unprincipled individual; but he was more than an individual. He was a type. Others, who lacked his poetic genius, sank as low or even lower.“ Eine „underworld of learning“ sei herangewachsen, in der die allma¨hlich einsickernden arabischen und aristotelischen Schriften auf fruchtbaren Boden gefallen seien. Auch der Aristotelismus ist nach diesem mit breitem Pinsel gemalten Tableau der Ausdruck einer Gesellschaft, in der es schwelt und ga¨rt und die auf Vera¨nderung brennt. Die Versuchung ist groß, weltliche Dichtung, die ihre Bilder in so schillernden ¨ ußerung eines lyriFarben malt wie Hugo Primas, wo¨rtlich zu verstehen und jede A schen Ichs auf ihren Autor zu beziehen. So saftig Interpretationen wie diese auch ausfallen, so sehr muss man doch zu bedenken geben, dass diese Werke sich zwar zweifellos mit ihrer Zeit auseinandersetzen, dass sie dies aber in einer dichterisch subli¨ ußerungen anders verstehen ko¨nnte, mierten Form tun. Zu u¨berlegen, wie man die A wird im Folgenden das Hauptanliegen sein.

IV. Von der Bildung zur Wissenschaft: Philosophie als Lebensform der Jungen Fraglos sind die Expansion der Schulen und die Expansion der Stadt, die Pra¨senz studierwilliger junger Ma¨nner und die Prostitution Elemente ein und desselben Urbanisierungsprozesses. Doch was ist damit erkla¨rt, dass man dies feststellt? Sicher nicht, dass sich gerade die franzo¨sische Metropole unseren „mental maps“ als Ort eines libertinen Intellektuellen- und Ku¨nstlermilieus eingeschrieben hat, denn zahlreiche weitere Orte ha¨tten hierfu¨r auch Anknu¨pfungspunkte gegeben. In einem vierten Schritt wird das besagte Bild deswegen weitergehend interpretiert werden. Als Ausgangspunkt sollen dabei die folgenden Beobachtungen zu der Besonderheit von Paris dienen. Zum einen wurde die Pariser Scholaren-Welt weitestgehend von Klerikern getragen, von Tonsurierten, und seien es auch Tra¨ger der niederen Weihegrade. Mit dieser Beobachtung fasst man eines der Paradoxa, die dieses Paris-Bild interessant machen: Man kann es nicht ohne Bru¨che in ein glattes Modernisierungs- und Sa¨kularisierungsNarrativ einbinden, da es ja im Unterschied zu den gleichzeitig entstehenden Juristen- und Medizinerschulen Su¨deuropas Kleriker – und damit Vertreter der vermeintlich u¨berlebten Ordnung – sind, die sich fu¨r derlei autonomes Leben nach eigenen Wertmaßsta¨ben entscheiden. Das Pariser Scholarenmilieu kann also nicht in einem landla¨ufigen Sinne als Indikator fu¨r einen europa¨ischen Verweltlichungs- (im Sinne von Laisierungs-) Trend angesehen werden. Und doch schreibt es die Lebensentwu¨rfe der Kleriker nicht einfach fort; vielmehr bereichert es diese um ein neues Element, das Ernst Kantorowicz als den „Kult des philosophischen Lebens und der Vernunft u¨berhaupt“ bezeichnet hat.28 28 Ernst H. Kantorowicz, Die Wiederkehr gelehrter Anachorese im Mittelalter, in: Ders., Selected Stu-

dies, New York 1965, S. 339–351. Zur Philosophie als Lebensstil vgl. Alain de Libera, Denken im Mittelalter, Mu¨nchen 2003, S. 20–22.

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Damit steht zum anderen in Zusammenhang, dass im intellektuellen Leben im Paris des 12. Jahrhunderts mit der Theologie und der Philosophie – (ich spreche bewusst nicht von den Artes liberales) zwei Wissenschaften dominieren, die in den Vorstellungen von der Modernisierung Europas durch Rationalisierung und Bu¨ro¨ ra vor Voltaire und Rousseau kaum eine Rolle spielen. Nicht kratisierung in der A um die viel behandelten Juristen, die als gelehrte Ra¨te und Modernisierer von Staat und Verwaltung in der sozialgeschichtlichen Forschung in den Vordergrund geru¨ckt wurden, und auch nicht die Mediziner als die Gelehrten, die die unmittelbarste Verbesserung von Lebensumsta¨nden herbeifu¨hren sollten, sind pra¨gend, sondern Philosophen und Theologen. Hier ist eine dritte Beobachtung anzuschließen. Denn wenn sich das ho¨here Wissen, das an den Pariser Schulen vermittelt wurde, auch zuna¨chst in der Tradition fru¨herer Jahrhunderte aus dem Bildungskanon der septem artes liberales speiste, so unternahmen die Schulen doch eine Neukonzipierung von Teilen dieses Bildungsstoffes als Philosophie, fu¨r die die Fa¨cher des klassischen ‚artistischen‘ Triviums (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) bzw. des Quadriviums (Geometrie, Arithmetik, Musik, Astronomie) allenfalls noch Vorbedingungen waren. Die Vision von der Gesamtheit der Artes liberales spielte fu¨r sie keine Rolle mehr, der Wissensstoff wurde unter dem Vorzeichen der Philosophie neu geordnet: in theoretische und praktische Bereiche, mit einem neuen Interesse an der aristotelischen Naturphilosophie. Der wichtigste Unterschied zwischen der a¨lteren Konzeption der Artes liberales und der neueren der philosophisch begru¨ndeten Wissenschaft war dabei, dass die Zwecke der Artes immer außerhalb ihrer selbst gesucht worden waren: Man erlernte die Grammatik, die Dialektik und die Rhetorik mit dem Ziel eines besseren Versta¨ndnisses der Bibel und der Va¨terschriften, letztlich zur Erlangung des Seelenheils. Die neue Philosophie dagegen, von Thierry von Chartres in Anlehnung an Boethius als die „vollsta¨ndige Erfassung der existierenden Dinge“ verstanden,29 scho¨pfte ihre Begru¨ndung aus sich selbst, sie wurde selbstreferentiell und autopoietisch. Ob etwa die Grammatik u¨berhaupt noch zu ihr geho¨rte, und in welcher Weise sich die Dichtkunst in ein Verha¨ltnis zu ihr setzen ließ, war strittig.30 Wolfgang Kluxen hat diesen ¨ bergang vom Paradigma der „Bildung“ zu dem der „Wissenschaft“ Prozess als den U bezeichnet, wobei sich letztere durch ihre ausschließliche Fundierung auf das „Prinzip der Rationalita¨t“ auszeichnete.31 Im Gegensatz zur „Bildung“ sei die „Wissenschaft“ autonom und nur noch auf das ihr inha¨rente Rationalita¨tskonzept angewiesen, wobei die Dialektik, das heißt die scholastische Logik, der Modus zur Anwendung dieser Rationalita¨t gewesen sei. Das neue philosophische Wissen ermo¨glichte es, 29 „Phylosophya autem est amor sapientie“ [Boethius, De Arithmetica, lib. I; PL 63, C. 1081]; „sapientia

vero est integra comprehensio veritatis eorum que sunt, quam nullus vel parum adipiscitur nisi amaverit.“ Thierry de Chartres, Prologus in Eptatheucon (Incipit prologus Theoderici in Eptatheucon), in: Edouard Jeauneau, „Lectio Philosophorum“ – Recherches sur l’Ecole de Chartres, Amsterdam 1973, S. 37–39, S. 38. 30 Ernst Robert Curtius, Europa¨ische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Tu¨bingen/Basel 111993, S. 473. 31 Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Fru¨h- und Hochmittelalter. Autorita¨t, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur 39), Ko¨ln 2011.

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Sachfragen in Begriffsfragen u¨berzufu¨hren und als solche einer Lo¨sung zuzufu¨hren, wobei auf dieser Grundlage und mit Hilfe der aristotelischen naturphilosophischen Schriften auch eine neue Art der Naturerkenntnis gescho¨pft wurde.32 Abha¨ngig war dieser Wandel, der sich zu großen Teilen im Pariser Schulen-Milieu des 12. Jahrhunderts vollzog, vom Aufschwung der Dialektik wenn nicht gerade ¨ berfu¨hrung von zur Leitwissenschaft, so doch zur fundierenden Methode fu¨r die U Sachfragen in Sprachfragen. Die wissenschaftliche Sprache wurde dadurch mit einer neuen Bedeutung belastet, und sie wurde als konstitutiv angesehen fu¨r einen Raum, in dem eine eigene Logik regierte und in dem prinzipiell alles zur Sprache gebracht werden konnte: „Es ist jedermann freigestellt zu sagen, was er meint“ (liceat cuique dicere quod sentit), schrieb Ivo von Chartres selbstbewusst, als man ihn zur ¨ berzeugung, in Rede stellte, weil er Papst Urban II. widersprochen hatte.33 Die U einen Sprachraum einzutreten, in der jegliche Hypothese formuliert, jeglicher Zweifel gea¨ußert werden darf, begru¨ndete ein Verha¨ltnis zwischen ‚ho¨herem Wissen‘ und ihrer Umwelt, wie es dies vorher nicht gegeben hatte. Dinge konnten zur Sprache gebracht werden, die, ha¨tte man sie in die Welt außerhalb der Schulen und Universita¨ten getragen, heillose Verwirrung ha¨tten anrichten ko¨nnen: Videtur quod Deus non est, sollte Thomas von Aquin als scholastischer Theologe fu¨r den Augenblick annehmen ko¨nnen, oder auch: videtur quod amor non sit in Deo – videtur quod hec sit falsa: Deus est homo.34 Solange die Grenzen zwischen der Wissenschaft und ihrer Umwelt klar gezogen und performativ markiert blieben, solange diese Welt des Sagbaren nicht beanspruchte, maßstabsgetreu Machbares abzubilden, konnte das Meiste gesagt werden.35 Der Eintritt in diese Welt der Wissenschaft bedeutete im Paris der Generation Abaelard zu Beginn des 12. Jahrhunderts und bald danach, sich auf die Logik als deren grundlegenden Modus einzulassen. In ihr, so schrieb Abaelard in seiner „Theologia summi boni“, zeige sich die Vernunft selbst und ero¨ffne, was sie sei und was sie wolle. Die Dialektik sei die „Superdisziplin“ (disciplina disciplinarum), „sie lehrt das Lehren, sie lehrt das Lernen.“ Selbst auf die Heilige Schrift lasse sie sich anwenden, sofern man sie sorgsam von tru¨gerischer Sophistik unterscheide und sich klarmache, dass sie wie ein scharfes Schwert zum Guten und zum Schlechten gefu¨hrt werden ko¨nne.36 Zu Paris in die neue Wissenschaft eingefu¨hrt zu werden, bedeutete, sich mit der Logik vertraut zu machen und sich in ihr zu u¨ben – wir sind ihren Schu¨lern schon einmal

32 Wolfgang Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahr-

hundert, hg. v. Peter Weimar (Zu¨richer Hochschulforum 2), Zu¨rich 1981, S. 273–293.

33 Ivo von Chartres, Brief 67 an Papst Urban II., in: Ivonis Carnotensis epistolae, MPL 162, Sp. 85–87,

Sp. 85.

34 Zu der ganzen letzten Passage: Classen, Studium und Gesellschaft (wie Anm. 17), S. 238–284. 35 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 122012, S. 11f., 24. 36 „De cuius laude excellentissimus doctor Augustinus in libro De Ordine [1.2 c. 13 n. 38, CSEL 63,

174; PL 32, 1013] his verbis scribit: ‚Disciplinam disciplinarum, quam dialecticam vocant. Haec docet docere, haec docet discere. In hac se ipsa ratio demonstrat atque aperit, quid sit, quid velit; scit scire, sola scientes facere non solum vult, sed etiam potest.‘“ Peter Abaelard, Theologia Summi boni. Tractatus de unitate et trinitate divina: Abhandlung u¨ber die go¨ttliche Einheit und Dreieinigkeit, hg. und u¨bers. v. Ursula Niggli, Hamburg 1989, S. 66–69.

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begegnet, und zwar in dem Brief des begeisterten Paris-Anko¨mmlings, der vom PetitPont schwa¨rmte und beschrieb, wie die Scholaren disputierend in der Stadt umhergingen.37 In der Tat war die Logik mehr nur als eine Disziplin neben anderen – wir werden ihr eher gerecht, wenn wir sie auch als einen Lebensstil ansehen.38 Dies deckt sich auch mit dem Urteil der Zeitgenossen. „Philosophia“ ist fu¨r Johannes von Salisbury genau dies: eine bestimmte Form der Lebensfu¨hrung, eine Praxis, eine bestimmte Einstellung zum Leben, die eine perfekte Entsprechung von Weisheit und Leben ermo¨glichen soll.39 Die Philosophie lehre vor allen Dingen zu leben. Authentisch zu leben sei der beste Teil des Philosophierens, denn was nu¨tze die gewandte Rede ohne dies? Nichts:40 Nam quamvis linguam formet, componat et actus, vivere praecipue Philosophia docet. Vivere sincere pars optima philosophandi est, qua sine quid prodest lingua diserta? nihil. Fu¨r seinen Lehrer Peter Abaelard bedeutete Philosoph zu sein, einer bestimmten Lebensform anzuha¨ngen, ganz so, wie das bei den Heiden schon gewesen sei.41 Die Frage nach dem „Image“ von Paris als einem Ort der jugendlichen Intelligenzija erneut zu stellen, heißt daher, diesem Lebensstil der fru¨hen Dialektiker genauer auf den Grund zu gehen. Im Vergleich mit der Grammatik und der Rhetorik, die selbstversta¨ndlich weiterhin gelehrt wurden, war die Logik am wenigsten Bildungsstoff und mithin am wenigsten darauf ausgerichtet, das Wissen vergangener Zeiten an eine ju¨ngere Generation weiterzugeben – ein Umstand, der von Kritikern der NurDialektiker wie Johann von Salisbury wortreich beklagt wurde. Gut in der Dialektik zu sein, war kaum eine Sache der Vorbildung (oder auch des Sprachgefu¨hls), sondern eine Sache der logischen Begabung. Diese Begabung hatte man oder man hatte sie nicht. Abaelard machte in seiner „Historia calamitatum“ eine große Sache aus dem Unterschied von „Ko¨nnen“ und „Begabung“. Die antinomische Gegenu¨berstellung von „usus“ und „ingenium“ fu¨hrt er sta¨ndig im Munde, seine Kritiker empo¨rten sich wegen der novitates, die so in den Raum des ho¨heren Wissens gelangten.42 Man konnte wie Anselm von Laon ein 37 Vgl. oben, bei Anm. 9. 38 de Libera, Denken (wie Anm. 28), S. 167–169. 39 Johannes von Salisbury, Entheticus Maior and Minor, hg. v. Jan van Laarhoven (Studien und Texte

zur Geistesgeschichte des Mittelalters 17), 3 Bde., Leiden/New York/Kopenhagen 1987, S. 57–59: Van Laarhoven erkla¨rt, was sapientia und v. a. philosophia fu¨r Johann bedeuten. Philosophie als Praxis meint dabei eine perfekte Entsprechung von Weisheit und Leben. 40 Ebd., S. 187, V. 1249ff. 41 „Hoc itaque loco cum dicitur: ‚qui modo quodam laudabilis vitae aliis praestare videbantur etc.‘, aperte monstratur sapientes gentium, id est philosophos, ex laude vitae potius quam scientiae sic esse nominatos.“ Abaelard, Historia calamitatum (wie Anm. 7), S. 78. 42 So etwa in der Vita eines ju¨ngeren Konkurrenten: Peter Robl, Goswin von Anchin, ein Widersacher Abaelards, in: Peter Abaelard. Leben, Werk, Wirkung, hg. v. Ursula Niggli, Freiburg i. Br. 2003, S. 267–292, hier S. 271f. Kap. 2: „Novitates Petri Abaelardi debellaturus.“ Peter wird als „inauditarum [...] inventor et assertor novitatum“ bezeichnet.

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großartiger Lehrer der Theologie sein, eine beeindruckende Erscheinung im Ho¨rsaal, doch im unmittelbaren Austausch der Argumente, die die Logik ausmachten, eine Null. Die Logik galt daher schon den Zeitgenossen als eine Beta¨tigung der Jugend – Walter Ong sollte im Hinblick auf die artes von einer „philosophy for teen-agers“ sprechen, wobei ihm bei der Logik die Diskrepanz zwischen der Jugendlichkeit der Scholaren und dem Niveau des Stoffes besonders eklatant erschien.43 Man sollte sich dabei jedoch keine Jungen vorstellen, wie sie in den Illustrationen zu den Lateinschulen spa¨terer Jahrhunderte in geduckter Haltung u¨ber ihren Bu¨chern kauern und sich vor dem Arm des Lehrers fu¨rchten, sondern selbstbewusste Jugendliche, die ihre eigene Begabung fu¨r die formale Logik entdeckten, sich aneinander maßen, verbal miteinander rauften und ihre Lehrer in der Tat kritisch auf ihre Sta¨rken und Schwa¨chen hin testeten. Der eine, so stellten sie fest, war der Virtuose in der Beantwortung vorgegebener Fragen, der andere konnte logische Probleme unvergleichlich gut dort aufzeigen, wo fu¨r alle anderen kein Ero¨rterungs-Bedarf bestand – fu¨r die Logiker eine rundherum respektable Leistung!44 Der Schulbetrieb wurde seinen Angeho¨rigen zum besta¨ndigen Thema, Konkurrenzen zwischen Lehrern und ihren Schulen wurden registriert und kommentiert. Musste ein Lehrer sich in der Disputation geschlagen geben, bedeutete dies auch fu¨r seinen Schu¨ler eine Niederlage, und wiederholte sich dies, dann zog man den Wechsel der schola in Erwa¨gung. Es u¨berrascht daher nicht, wenn man in den Quellen (ha¨ufiger) von der Eifersucht von Lehrern oder von Konkurrenzka¨mpfen um die Position des Kronprinzen innerhalb der schola liest. Und doch wurde „Wahrheit“ und nicht „Respekt“ oder „Autorita¨t“ zur unhintergehbaren Ordnungsgro¨ße in diesen Gruppen. Die Absicht der Philosophie sei es, so Dominicus Gundisalvi, der Vordenker einer nach eigenen Rationalita¨tskriterien operierenden Philosophie, „die Wahrheit von allem, was ist, zu erfassen, insoweit es dem Menschen mo¨glich ist“.45 In den Schulen hatte dies erhebliche Auswirkungen auf die Verha¨ltnisse zwischen Schu¨lern und Lehrern, da damit jegliche Loyalita¨tsverpflichtung unter einer Art Wahrheits-Vorbehalt stand – ein Kitt, der locker gewobene und hochmobile Sozialbindungen mittels der gemeinsamen Verpflichtung auf ein abstraktes Drittes elastisch und belastbar machte. „Niemals werden wir die Wahrheit finden“, sagt Gilbert von Tournai, „wenn wir uns mit dem zufriedengeben, was bereits gefunden ist. Die vor uns schrieben, sind fu¨r uns nicht Herren, sondern Fu¨hrer. Die Wahrheit steht offen fu¨r alle; und noch hat man sie nicht in Besitz genommen“.46 Und Peter Abaelard ra¨t seinem Sohn Astrolabius: „Ku¨mmere dich 43 Walter J. Ong, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue, Cambridge Mass./London 1987,

S. 136–142.

44 Johann von Salisbury, Metalogicon, hg. v. J. B. Hall (Corpus Christianorum 98), Turnhout 1991,

II, 10, S. 70–73, v. a. S. 71 die Charakterisierung der Lehrer Alberich und Robert.

45 Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, hg. v. Alexander Fidora/Dorothe´e Werner,

Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 60f. 46 „[...] nec unquam veritas invenietur si contenti fuerimus inventis [...] Qui ante nos scripserunt, non

domini nostri sed duces fuerunt. Veritas patet omnibus, nondum est occupata.“ Gilbert von Tournai, De modo addiscendi. Zit. nach Alphonse de Poorter, Un traite´ de pe´dagogie me´die´vale: Le ‚De modo addiscendi‘ de Guibert de Tournai, O. F. M., in: Revue ne´o-scolastique de philosophie 24 (1922), S. 195–228, hier S. 226.

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nicht darum, wer etwas sagt, sondern darum, was die Worte wert sind; [...] Vertraue den Worten deines Lehrers nicht aus Liebe zu ihm, und lasse nicht zu, dass ein Gelehrter einzig durch seine Liebe Einfluss auf dich nimmt. Nicht die Bla¨tter der Ba¨ume na¨hren uns, sondern die Frucht.“47 Selbstbewusst setzten sich die Scholaren in eine neue Beziehung zur Tradition: Hatte man in der ju¨ngeren Vergangenheit solche Autoren noch als antiqui bezeichnet, deren Tage seit Jahrhunderten vergangen waren (und selbst solche als moderni, die schon seit 300 oder 400 Jahren tot waren), begann man nun, selbst die Angeho¨rigen der Lehrer-Generation als die antiqui zu titulieren.48 Aus der Außensicht war diese rastlose Wahrheitssuche der Jungen sicher schwer zu ertragen. Die Kritiker der Schulen fanden es bisweilen unertra¨glich miterleben zu mu¨ssen, wie wenig sich die jungen Logiker der tatsa¨chlichen Begrenztheit dessen, was sie da trieben, bewusst waren – der Tatsache, dass es neben der Logik andere, zu mehr Bescheidenheit ratende Materien gebe und der Tatsache, dass Wissen eine historische Tiefendimension besitzt, die zu Demut gegenu¨ber den antiqui Anlass geben sollte. Die primanerhafte Arroganz der Logiker war ein Gemeinplatz in Paris und seiner Umgebung, und Negativstereotypen blu¨hten.49 Neben das kulturelle Klischee vom Karrieristen, der mit so wenig wie mo¨glich Studium ein Maximum an wirtschaftlich-sozialem Erfolg erzielen wollte,50 stellte man die ewigen Studenten, die mit dem Logikstudium u¨berhaupt nicht mehr aufho¨ren wollten und ihr ganzes Leben auf dieses verwendeten. Noch la¨cherlicher als den arroganten Logiker-Nachwuchs fand man daher die, die den Absprung aus dem Logikermilieu nicht mehr geschafft hat¨ berfu¨hrung von Sachten: alt gewordene Logiker, Greise mit Milchba¨rten, die die U in Sprachfragen so sehr auf die Spitze getrieben hatten, dass sie sich letztlich keinerlei Aussage u¨ber die Wirklichkeit mehr zutrauten und sogar Dinge, die sich von selbst verstanden, nicht mehr gelten ließen. Johann von Salisbury polemisiert gegen sie, weil er ihre intellektuelle Zauderei als pathologische Zuspitzung eines an sich sinnvollen Grund-Skeptizismus versteht, der dem Weisen angemessen ist.51 In der Verssatire „Geta“ des Vitalis von Blois von ca. 1125–1130, einer Nachdichtung des Plau47 Peter Abaelard, Carmen ad Astralabium, hg. v. Joseph M. A. Rubingh-Bosscher, Groningen 1987,

S. 107, Z. 7–14: „[...] non a quo sed quid dicatur sit tibi cure: / auctori nomen dant bene dicta suo; / nec tibi dilecti iures in uerba magistri / nec te detineat doctor amore suo. / Fructu, non foliis pomorum quisque cibatur / et sensus uerbis anteferendus erit. / ornatis animos captet persuasio uerbis; / doctrine magis est debita planicies [...]“ Vgl. dazu David E. Luscombe, The Sense of Innovation in the Writings of Peter Abelard, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewußtsein im Mittelalter, hg. v. Hans-Joachim Schmidt (Scrinium Friburgense 18), Berlin 2005, S. 181–194, hier v. a. S. 191. 48 Richard W. Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe (Vol. 1: Foundations), Oxford 1995, S. 185f. 49 Johannes von Salisbury, Entheticus (wie Anm. 39), S. 109, V. 49–54. 50 Die Rede war schon von einem „Golden Age for Careerism“: Alexander Murray, Reason and Society in the Middle Ages, Oxford 1978, S. 220. 51 Johann von Salisbury, Metalogicon (wie Anm. 44), II, 7, vgl. II, 13 um Z. 45. Dies sind die zentralen Stellen zur Polemik gegen den pathologisch gewordenen Skeptizismus der Jungen. In anderen Passagen stellt sich Johann freilich selbst in die Tradition der „Neuen Akademie“ Ciceros, s. Prol. Z. 78. ¨ berzeugung, dass man sich manchmal eher mit Wahrscheinlichkeit als Skeptizismus, verstanden als U mit absoluter Gewissheit begnu¨gen soll, findet er in Maßen angebracht, weil intellektuell redlich; s.

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tus’schen „Amphitruo“, kommt dem Logiker, der nach Athen (worunter Paris verstanden wurde) zog, um sich dort zum Dialektiker ausbilden zu lassen, das letzte Restchen an gesundem Menschenverstand abhanden. Er kann bei seiner Ru¨ckkunft vom Studienort zwar mit zwingenden Syllogismen beweisen, dass ein Mensch ein Esel oder ein Rindvieh ist, doch dass seine Ehefrau bei seiner Ankunft gerade dem Lotterbett mit seinem Doppelga¨nger entsteigt, das bemerkt er nicht mehr!52 Eine eigene Logik und ein eigenes Normensystem unterstellte man also dem von der Logik dominierten Scholaren insofern, als diesem der gemeine Menschenverstand nichts bedeute und er sich sorglos einer Jugendkultur akademischer Beatniks hingebe, die von der unreifen Zuversicht getragen werde, mit der Logik einen Welterkla¨rungs-Schlu¨ssel in der Tasche zu haben. Selbstbezogen seien sie auch deshalb, weil sie sich ganz nach innen, auf ihre schola hin, orientierten. Die Dialektik fo¨rdere derlei Fixiertheit auf die eigene Gruppe ganz besonders, so betonte Giraldus Cambrensis in seiner „Gemma ecclesiastica“, denn im Unterschied zum Theologen, der schon in der Kommunikation mit seinen Bu¨chern zum Ziel komme, beno¨tige der Dialektiker immer seinesgleichen, um disputieren zu ko¨nnen. Und da es dabei um Sieg und Niederlage gehe, bedu¨rfe er daru¨ber hinaus des zum Urteil befa¨higten Richters und der gelehrten Menge, die ihm die gebu¨hrende Scha¨tzung signalisiere.53 Und wie steht es mit der Sexualita¨t der Logiker und ihres Milieus? Die Zuschreibungen, die hier vorgenommen werden, sind nicht einheitlich. Es gibt Stimmen wie diejenige Jacobs von Vitry, die die jungen Pariser Scholaren in ein enges Verha¨ltnis zur Welt der sexuellen Unmoral bringen und damit insinuieren, dass das Soziotop der Scholaren aus Menschen beiderlei Geschlechts bestehe, es gibt aber auch solche Figuren wie die im „Geta“ des Vitalis von Blois, die das Logikerdasein ganz im Gegenteil in ein antinomisches Verha¨ltnis zur normalen Welt setzen, in denen Ma¨nner und z. B. II, 20 um Z. 238, III, Prol. um Z. 68. In seiner Ansicht, dass Skeptizismus aber dennoch in seine Schranken zu verweisen ist, folgt er Augustinus: Auch der sei misstrauisch geworden, wenn Gelehrte um des Disputierens willen weiterdisputierten; IV, 26. Wie sich die intellektuelle Zauderei der Akademiker in der Antike ausgenommen habe, schildert er plastisch im Entheticus maior (wie Anm. 39), T. 2, V. 727ff. und V. 1137ff. Zu Johanns Haltung zum Skeptizismus Cary J. Nederman, Beyond Stoicism and Aristotelianism. John of Salisbury’s Skepticism and Twelfth-Century Moral Philosophy, in: Virtue and Ethics in the Twelfth Century, hg. v. Istva´n P. Bejczy/Richard G. Newhauser (Brill’s Studies in Intellectual History 130), Leiden 2005, S. 175–195; vgl. Ders., Toleration, Skepticism, and the ‚Clash of Ideas‘. Principles of Liberty in the Writings of John of Salisbury, in: Beyond the Persecuting Society. Religious Toleration before the Enlightenment, hg. v. John Christian Laursen/Cary J. Nederman, Philadelphia 1998, S. 53–70. 52 Keith Bate, Three Latin Comedies, Toronto 1976, S. 21, V. 163–165: „Dum mihi me reddent patine, focus, uncta popina, / hos asinos, illos esse probabo boues. / Sum logicus: faciam queuis animalia cunctos.“ 53 Giraldus Cambrensis, Gemma ecclesiastica, hg. v. John S. Brewer (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 21.2), Ndr. London 1964, S. 350f.: „Logica tua in qua tantum te torques, quid tibi valebit, nisi socium habeas ad quem disputes, quia dialectica disputatio ad alterum est, nec sufficit ille si impeditor fuerit communis negotii. Oportet ergo judicem adhibere, nec sufficiet unus si forte in partis adversae favorem declinaverit. Turbam ergo convocare oportet et intelligentium ad hoc, ut ars tua utiliter appareat. Ego vero, etsi solus in angulo sederem, libris meis saepius et lectioni datus, theologicae disciplinae fructum elicere possum, vel meipsum aedificando, vel qualiter alios aedificem addiscendo. Et si solus literatus in turba laicorum magna constitutus fuero, possum eis absque omni altercatione sermonem utilem de fide et bonis moribus continua oratione contexere.“

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Frauen das Lager teilten: „Lass’ Jupiter in Alkmenes Schlafzimmer studieren, wa¨hrend ihr Ehemann in Athen herumphilosophiert“, spottet der laszive Jupiter, „lass’ Jupiter lieben und Amphitryon lesen, lass’ Amphitryon disputieren und Jupiter ta¨uschen. Lass ihn die Wissenschaft treiben, Jupiter wird es [derweil] mit seiner Alkmene treiben“.54 Wahrscheinlich wird die Rede von der andersartigen, in der einen oder anderen Richtung devianten Sexualita¨t so eingesetzt, wie sie auch in vielen anderen Fa¨llen zur Sprache kommt. Sie wird als Marker verwendet, um die Fremdartigkeit und Hermetik eines alternativen Lebensentwurfs zu bezeichnen: bei fremden Ethnien, in der Kultur der Gilde, in der vermeintlich ihren Prinzipien entfremdeten Spha¨re eines verweltlichten Klerus. Der deviante Sex ist das narrative Signal, mit dem Kritiker traditionell das irgendwie regelgeleitete Fehlverhalten von Minderheiten-Milieus belegen.

V. Aus Dialektikern werden Bohe´miens – Umsemantisierungen des Bildes vom Pariser Scholaren

In den Kommentaren zum Pariser Scholarenleben fasst man also einen Modus zeitgeno¨ssischer Beobachter, die Gruppenkultur der fru¨hen scholastischen Wissenschaft zur Sprache zu bringen, das heißt ein intellektuelles Milieu zu charakterisieren, das nach seinen eigenen Regeln und gema¨ß seiner eigenen Logik verstanden werden wollte. Die Autonomieanspru¨che, die mit der Etablierung ‚privater‘ Schulen und der damit verbundenen Lebensentwu¨rfe einhergingen, standen in Konkurrenz zu traditionellen Vorstellungen vom Nutzen des Wissens, von dem Verha¨ltnis zwischen Wahrheit und Herkommen, Alter und Jugend, Lehrer und Schu¨ler bzw. Autorita¨t und Freiheit. Eine solche antinomische Anlage bot wa¨hrend der kommenden Jahrhunderte gleich mehrfach attraktive Angebote, die zugrundeliegenden Texte unter jeweils vera¨ndertem Vorzeichen neu zu interpretieren. Weitgehend konstant bleiben sollte dabei das Wissen, dass es mit Paris als einem Ort der Wissenschaft eine besondere Bewandtnis hatte. Die Stadt an der Seine blieb fu¨r Europa¨er bis zur Schwelle der Moderne der Ort der Wissenschaft schlechthin – die omnium studiorum nobilissima [...] civitas, wie die Professoren 1274 selbstbewusst sagten,55 „der Backofen, wo das geistige Brot der lateinischen Welt gebacken wird“.56 Der Topos der translatio studii, dem zufolge Athen, Rom und Paris die 54 Bate, Comedies (wie Anm. 52), S. 16, V. 31–34: „Iupiter Almene studeat thalamo, uir Athenis / phi-

losophetur; amet Iupiter, ille legat, / disputet Amphitrion et fallat Iupiter; artes / hic colat, Almenam Iupiter ipse suam.“ 55 So die Universita¨t an das Generalkapitel der Dominikaner 1274 anla¨sslich des Todes des Thomas von Aquin: „[...] ipsius jam defuncti a vobis ossa humiliter pro maximo munere postulamus, quoniam omnino est indecens et indignum, ut altera [natio] aut alius locus, quam omnium studiorum nobilissima Parisiensis civitas, que ipsum prius educavit, nutrivit et fovit [...]“: Chartularium Universitatis Parisiensis 1 (wie Anm. 9), Nr. 447, S. 504. 56 Chenu, Werk (wie Anm. 3), S. 17.

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welthistorischen Etappen der Schulen- bzw. Weisheitsgeschichte gewesen seien, war bekannt und wurde auch fernab von Paris bemu¨ht.57 Die deutschen Hochschulen sollten bis zum Ende des Ancien Re´gime in der Pariser Universita¨t eine Vorbildanstalt, ja ihre Mutter sehen.58 Die Sorbonne galt nicht als franzo¨sische, sondern als universale Einrichtung, nicht als Universita¨t einer Stadt, „mais de toute le monde universel“, wie Pierre Ramus 1562 schrieb.59 Reformatoren, die in ihr eine Brutsta¨tte „hochgelehrte[r] Sophisten“ sehen, sehen in ihr die archetypische „Ertzhur“.60 Weniger geradlinig wurden die spezifischeren Bilder von Paris als dem Ort des nach eigenen Regeln lebenden, freizu¨gigen Scholarenmilieus tradiert. Es wu¨rde sich lohnen, ihre Weitergabe insbesondere seit 1800 gru¨ndlicher zu studieren. Die Konfigurationen zwischen Bildungsidealen, Wissenschaftsstro¨mungen und politischsozialen Bewegungen, die jeweils neue Lesarten dieser Bilder provozierten, mu¨ssten zu diesem Zweck auf ihre Tra¨gerschichten hin untersucht werden. Im Folgenden ko¨nnen hierzu nur einige recht vorla¨ufige Beobachtungen mitgeteilt werden. Die Voraussetzungen, unter denen die Bilder vom Scholarenmilieu tradiert wurden, waren grundsa¨tzlich gut, denn die Texte aus dem 12. Jahrhundert, in denen sie vermittelt wurden, waren geistreich und unterhaltsam und wurden daher ha¨ufig abgeschrieben und wohl auch gelesen. Die Zahl der Handschriften, in denen die Goliardendichtung enthalten ist, ist betra¨chtlich.61 Der „Geta“ des Vitalis von Blois war enorm erfolgreich, mindestens 66 Handschriften davon sind erhalten, von weiteren 17 gibt es Nachrichten. Am Ausgang des 14. Jahrhunderts u¨bersetzte man ihn ins Italienische, um 1420 ins Franzo¨sische. Schon vor 1500 setzen die Drucke ein – manche davon in zensierten, um die anzu¨glichen Verse ‚bereinigten‘ Varianten.62 Andere Werke wie der „Architrenius“ des Johannes de Hauvilla fanden immerhin seit dem

57 Quellen und Forschungen zu dem Topos bis zu den 1980er Jahren bei Astrik Ladislas Gabriel, Trans-

latio Studii. Spurious Dates of Foundation of Some Early Universities, in: Fa¨lschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica Mu¨nchen, 16. – 19. September 1986, Teil 1 (MGH Schriften 33,1), Hannover 1988, S. 601–626. Als der habsburgische Landesherr 1365 in Wien eine Universita¨t stiftete, orientierte er sich seinem Stiftungsprivileg zufolge an den Ordnungen und Gewohnheiten „als von alter des ersten in der stat ze Athen, der hauptstat in Chriechen, darnach ze Rom in der welte hauptstat, und darnach ze Paris in Frankchricher hauptstat“ in Geltung gewesen seien, in: Die Rechtsquellen der Stadt Wien, hg. v. Peter Csendes, Wien/Ko¨ln/Graz 1986, Nr. 30, S. 158. 58 Frank Rexroth, „... damit die ganze Schule Ruf und Ruhm gewinne“. Vom umstrittenen Transfer des Pariser Universita¨tsmodells nach Deutschland, in: Deutschland und der Westen Europas, hg. v. Joachim Ehlers (VuF 56), Stuttgart 2002, S. 507–532; zu Heidelberg ebd., S. 523 mit Anm. 66. 59 Pierre Ramus, Avertissements sur la re´formation de l’Universite´ de Paris (1562), in: Archives curieuses de l’histoire de France, hg. v. Louis Cimber/Fe´lix Danjou (Premie`re Se´rie 5), Paris 1835, S. 115–163, S. 158. 60 Carlos Gilly, Das Sprichwort ‚Die Gelehrten die Verkehrten‘ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel cinquecento, hg. v. Antonio Rotondo` (Studi e testi per la storia religiosa del Cinquecento 2), Florenz 1991, S. 229–375, hier S. 254. 61 Arthur G. Rigg, Golias and other Pseudonyms, in: Studi medievali, ser. 3, 18,1 (1977), S. 65–109, hier S. 89–99. 62 Seven Medieval Latin Comedies, hg. v. Allison G. Elliott, New York 1984, S. XXXIV; Vitalis von Blois, Geta. Kritische Ausgabe, hg. v. Arnold Paeske, Diss. masch., Ko¨ln 1976, S. 1.

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Humanismus ihre Liebhaber – Juan Luis Vives war einer von ihnen.63 In der 1184 fertiggestellten und vom Autor sorgfa¨ltig redigierten Sammlung sollten auch die Briefe Peters von Blois eine weitere Verbreitung finden und Peters moralinhaltige, schulenkritische Aussagen streuen.64 Abaelard und Heloise letztlich haben die Phantasien der Europa¨er seit den Tagen von Jean de Meungs „Roman de la rose“ bis heute nicht mehr losgelassen.65 Langfristig entscheidend fu¨r die Rezeption des Paris-Bildes waren aber die Gedichte, die man als „Goliarden-“ bzw. als „Vagantendichtung“ verstand. Eine ¨ berlieferung und ihres Versta¨ndnisses kam dabei der wichtige Mittlerrolle ihrer U Arbeit englischer Antiquare, vor allem aber der reformatorischen Suche nach christlichen Wahrheitszeugen wa¨hrend der vermeintlich dunklen Jahre der mittelalterlichen Papstkirche zu.66 Das Genre von Liedern, in dem auch vom munteren Leben der Scholaren (und deren selbstbewusster Ansprache an potentielle Go¨nner und Ma¨zene) die Rede war, diente den Reformatoren als willkommener Beleg fu¨r die Dekadenz der ro¨mischen Kirche und munitionierte sie mit Bildern von verschlagenen Pra¨laten und feisten Mo¨nchen – von Personal also, in dessen Vo¨llerei, Geiz und Wollust man den Widersinn des alten Glaubens auf den ersten Blick zu erkennen glaubte. In den Autoren der Gedichte selbst, in denen, die u¨ber das Negativpersonal spotteten, sahen die Reformatoren Angeho¨rige jener 7000 Unbeugsamen (1. Kg. 19,18, Ro¨m. 11,4), die ihre Knie vor Baal nicht gebeugt hatten. Fu¨r die moderne Rezeption der ‚Pariser‘ Texte erfu¨llte die Anthologie „Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata“ (1557) des Matthias Flacius Illyricus die Funktion eines Zwischenspeichers.67 Die entscheidenden Umsemantisierungen, die die Interpretation des Pariser Scholarenmilieus als bohe´mien-hafte Gegengesellschaft vorbereiteten, ereigneten sich dann aber im 19. und 20. Jahrhundert, als moderne Philologen begannen, die Lieder, Gedichte und Satiren zu edieren und bekannt zu machen. Das beste Beispiel hierfu¨r liefern diejenigen Lieder, die in der Benediktbeurener Liederhandschrift

63 Architrenius, hg. v. Wetherbee (wie Anm. 4), S. XXVIIIf. 64 Ferruolo, Origins (wie Anm. 15), S. 157. Zur Konstitution des Briefcorpus abwa¨gend John D. Cotts,

The Clerical Dilemma. Peter of Blois and Literate Culture in the Twelfth Century, Washington, D. C. 2009. 65 Markus Asper, Leidenschaften und ihre Leser. Abaelard, Heloise und die Rezeptionsforschung, in: ¨ bersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen, Abaelards „Historia calamitatum“. Text – U hg. v. Dag Nikolaus Hasse, Berlin/New York 2002, S. 105–140. 66 Gerlinde Huber-Rebenich, Die Rezeption der mittellateinischen Satire bei Matthias Flacius Illyricus, in: Epochen der Satire. Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance, hg. v. Thomas Haye/Franziska Schnoor (Spolia Berolinensia 28), Hildesheim 2008, S. 173–190. Vgl. Rigg, Golias (wie Anm. 61). 67 Matthias Flacius, Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata, Basel 1557. Vgl. Huber-Rebenich, Rezeption (wie Anm. 66); Rigg, Golias (wie Anm. 61). Dass Flacius im 20. Jahrhundert noch Beachtung fand, zeigt z. B. Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge Mass. 1927, S. 186. In den Zusammenhang der allgemeineren Kleruskritik stellte die Lieder Lucie Varga, Das Schlagwort vom „finsteren Mittelalter“ (Vero¨ffentlichungen des Seminars fu¨r Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universita¨t Wien 8), Baden/Bru¨nn 1932, S. 11–16.

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tradiert waren.68 Das Interesse an den Carmina Burana samt ihrer Scholarentopik war groß, seit Johann Andreas Schmeller diese Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung 1847 zum Druck brachte.69 Im Normalfall beruhte die Philologie, diese neue Leitwissenschaft im Kontext der sich formierenden Geisteswissenschaften, auf einem eher distanzierten Umgang des unbestechlichen Gelehrtenverstandes mit Werken der Dichtung und der Poesie.70 Die Bescha¨ftigung mit diesen Texten war jedoch von Anfang an von viel Zuneigung getragen. Philologen wie E´delestand du Me´ril71 oder Gustav Gro¨ber, der den „Grundriss der romanischen Philologie“ herausgeben sollte, sorgten fu¨r eine weite Verbreitung der Burana und der anderswo tradierten Texte. 1874 vero¨ffentlichte Gro¨ber 31 von ihnen in Form eines Liederbuchs fu¨r Burschenschafter: „Carmina clericorum – Studenten-Lieder des Mittelalters. Supplement zu jedem Commersbuch.“72 Ihren Charme bezogen die lateinischen Originaltexte aus dem Umstand, dass das Lateinische trotz der neuhumanistischen Bewegung zur Sprache des kulturell Anderen, zu einer Signatur der Vormoderne geworden war. Man lernte am Beispiel des Lateinischen zwar, wie die grammatische Struktur einer Spra¨ bungen sein logiche schlechthin funktionierte und wie man mittels lateinischer U sches Denken schulen konnte. Doch war diese Scha¨tzung des Lateinischen im Allgemeinen nicht mehr mit dem Anspruch verbunden, es u¨ber das Niveau schulma¨ßiger dissertationes und editorischer Kommentare hinaus wirklich scho¨pferisch zu handhaben.73 Hier hatte man es aber mit unterhaltsamen, gesanglichen Texten zu tun, ¨ ra des die dabei nicht einmal aus einer goldenen aetas Augustea, sondern aus der A vermeintlichen pfa¨ffischen Obskurantismus stammten. Dies verlieh den Liedern in einem geistigen Klima, das das Volkstu¨mliche ansonsten nur im Volkssprachlichen vermutete, eine besondere Aura. Im kulturell Fremden entdeckte der Burschenschafter seine geistigen Ahnen: Auch hier hatte sich die Leidenschaft der Jugend in materiell bedra¨ngter Situation gegen die Philisterkultur der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft erhoben! 68 Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift (vollst. zweisprachige Ausg. des Orig.-

Textes nach der v. Bernhard Bischoff abgeschlossenen kritischen Ausg.), hg. v. Alfons Hilka, Mu¨nchen 1995; Tuomas M. S. Lehtonen, Fortuna, Money, and the Sublunar World – Twelfth-Century Ethical Poetics and the Satirical Poetry of the ‚Carmina Burana‘, Saarija¨rvi 1995. 69 Carmina Burana. Lateinische und deutsche Gedichte einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benedictbeuren (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 16), hg. v. Johann Andreas Schmeller, Stuttgart 1847. Zur Rezeption: Ulrich Mu¨ller, „Carmina Burana“ – Carmini Popolari? Zu den mittelalterlichen „Originalmelodien“ und den modernen Auffu¨hrungsversuchen. Mit zwei Postscripta zu den deutschen Strophen der „Carmina Burana“ und zur Melodie der „Vagantenstrophe“, in: Ders., Gesammelte Schriften zur Literaturwissenschaft. Bd. 1: Lyrik des Mittelalters I, hg. v. Margarete Springeth, Go¨ppingen 2010, S. 235–246. 70 Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des a¨sthetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1990, v. a. S. 212–233. 71 E ´ de´lestand Du Me´ril, Poe´sies populaires latines du Moyen Age, Paris 1847; Ders., Poe´sies ine´dites du moyen aˆge. Pre´ce´de´es d’une histoire de la fable E´sopique, 2 Bde., Paris 1854. 72 Carmina clericorum – Studenten-Lieder des Mittelalters. Supplement zu jedem Commersbuch, hg. v. Anon. [Gustav Groeber], Heilbronn 1874. 73 Damit beziehe ich mich auf die „Theorie der formalen Bildung“, wie sie der Latinist Wilfried Stroh skizziert und im Denken von Schulreformern wie Wilhelm von Humboldt, Friedrich Gedike oder Friedrich August Wolf nachweist. Wilfried Stroh, Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache, Berlin 22007, S. 261–268.

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Weite Verbreitung fanden auch die Nachdichtungen der Schwabinger Bohe`meGestalt Ludwig Laistner von 1879 („Golias – Studentenlieder des Mittelalters“) oder von John Addington Symonds, der die „medieval students’ songs“ 1884 unter dem pseudo-lutherischen Titel „Wine, Women and Song“ herausgab.74 Helen Waddell, Tochter eines presbyterianischen Missionars in Japan, vernarrte sich in die Texte, nachdem sie zuvor Lyrik aus dem Chinesischen u¨bertragen hatte. „The Wandering Scholars“ (1927) sollte ihr bekanntestes Werk werden – eine ganz ungewo¨hnlich kundige, an der Schnittstelle von Literatur- und Sozialgeschichte angesiedelte Arbeit, der die Autorin 1933 dann auch noch einen Abaelard-Roman folgen ließ.75 1929, acht Jahre bevor Carl Orffs Vertonung der „Carmina Burana“ uraufgefu¨hrt wurde, verarbeitete Gustav Holst eine von Waddell her bekannte Scholaren-Episode zur Kammeroper.76 Waddell stand auch im Austausch mit prominenten Mittelalterhistorikern ihrer Gegenwart. Unter denen, bei denen sie sich in der 1932 erschienenen 6. Auflage bedankte, war auch der Amerikaner Charles Homer Haskins, der 1927, im Erscheinungsjahr der Erstauflage der „Wandering Scholars“, sein wichtigstes Werk „The Renaissance of the twelfth Century“ zum Druck brachte.77 Auch Haskins widmete sich darin der Bildungslandschaft des 12. Jahrhunderts unter dem Vorversta¨ndnis, dass hier sozial deklassierte Bonvivants der Scho¨nheit der antik-paganen lateinischen Dichtung erlegen seien. Von der aristotelischen Logik, der Verbindung des Scholarenmilieus durch das gemeinsame Erlebnis der neuen scholastischen Dialektik, war dabei auf eine Weise die Rede, die die Verha¨ltnisse des 12. Jahrhunderts geradezu auf den Kopf stellte. Wo man sich auf sie eingelassen habe, so Haskins, habe man sich um die Dichtung nicht mehr so intensiv ku¨mmern ko¨nnen.78 Der Doyen der USamerikanischen Mittelalterhistorie, der die satirischen Texte als biographische Zeugnisse las, hegte eine ausgepra¨gte Abneigung gegen die scholastische Logik.79 Er schlug

74 John Addington Symonds, Wine, Women and Song. Medieval Latin Students’ Songs, London 1884. 75 Helen Waddell, The Wandering Scholars (1927), London 1952; vgl. Dies., Peter Abelard. A Novel,

New York 1933. 76 Gustav Holst, The Tale of the Wandering Scholar, op. 50. Urauff. in Liverpool 1934. 77 Haskins, Renaissance (wie Anm. 67). 78 „With so much logic and philosophy to master, there is little time and less inclination for the leisurely

study of letters“; Haskins, Renaissance (wie Anm. 67), S. 98. Vgl. ebd., S. 137: „Literary form came to be despised; indeed, logic professed to be able to supply defects in one’s grammatical studies.“ Zu Haskins’ Abneigung gegenu¨ber der Dialektik vgl. Marcia L. Colish, Remapping Scholasticism (The Etienne Gilson Series 21), Toronto 2000, S. 2–4; John Marenbon, Philosophy and Theology, in: European Transformations. The Long Twelfth Century, hg. v. Thomas E. Noble/John van Engen, Notre Dame 2012, S. 403–425, hier S. 406–408. Zur von Haskins ausgelo¨sten „Revolt of the Medievalists“ Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Cambridge, Mass 1948, S. 329–385; vgl. auch Leidulf Melve, ‚The Revolt of the Medievalists‘. Directions in Recent Research on the Twelfth-Century Renaissance, in: The Journal of Medieval History 32 (2006), S. 231–252. 79 Die meisten von deren Autoren seien „anonymous, spokesmen of the poorer class of clerks“ gewesen, „often also the looser and wandering element, who missed the wealth and ease that came with promotion and willingly turned against their ecclesiastical superiors.“ Haskins, Renaissance (wie Anm. 67), S. 187. Vgl. ebd., S. 177f.: „Vagantes, loose-living, disreputable clerks, lewd fellows of the baser sort the church authorities evidently considered them, and such many undoubtedly were; but they also comprised older and well established ecclesiastics, authors of some of the best of the Goliardic rhymes.“

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sie, die doch eigentlich das Erkennungsmerkmal des Pariser ‚Milieus‘ gewesen war, ¨ berhaupt beruhte die Suggeder Mehrheitsgesellschaft der klerikalen Philister zu. U stivita¨t dieser enorm einflussreichen Arbeit darauf, dass sie so viel Entscheidendes ausgrenzte: Denn wo waren in Haskins’ „Renaissance“ die vernakularsprachlichen Texte? Wo war der Hinweis auf die neuen Orden und die neue Fro¨mmigkeit der Laien, wo die Naturphilosophie? Auch nach einer angemessenen Behandlung von Medizin oder Kirchenrecht sucht man bei Haskins vergebens. Gema¨ß ihrem Narrativ bestand der alleinige Gradmesser fu¨r das kulturelle Niveau des 12. Jahrhunderts in der Wiederaneignung der antik-ro¨mischen Literatur. Die Dialektik spielte in ihr die Rolle des retardierenden Elements, einer historischen aberratio. Um die Pariser Logik ku¨mmerten und ku¨mmern sich seither andere wissenschaftliche Milieus, vor allem Philosophen und Theologen mit beeindruckenden Spezialkenntnissen. Die Exegeten der fiktionalen Literatur und auch die Sozialhistoriker u¨berließen sie diesen Experten-Kollegen gerne, ja sofern sie Haskins’ Erza¨hlung von der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ auf den Leim gingen,80 sahen sie an der Bedeutung der Dialektik fu¨r die Konstituierung von ‚Wissenschaft‘ vorbei. Das Geschichtsbild von der Sonderexistenz der Scholaren im Inneren einer latent repressiven, geistfernen Mehrheitsgesellschaft und einer ihr innewohnenden sinnenfrohen Scholarenkultur wurde vom popula¨reren kulturhistorischen Genre weitergepflegt, das die mittelalterlichen Scholaren als die „enrage´s“ einer vergangenen Zeit pra¨sentierte und als Archetypen der gegenwa¨rtigen rebellierenden Studenten erscheinen ließ.81 Dieses ‚Wissen‘ stand abrufbar bereit, etwa als Premierminister Georges Pompidou am 14. Mai 1968 vor der Nationalversammlung die gegenwa¨rtigen Unruhen mit der studentischen Situation im ausgehenden Mittelalter parallelisierte.82 In diesen Zusammenha¨ngen verschmolz das Bild von den Anfa¨ngen des Pariser Scholarenmilieus allerdings mit Vorstellungen vom ‚dekadenten‘ Paris des 15. Jahrhunderts. Das Personal aus Victor Hugos „Notre-Dame“-Roman ließ sich auf diese Weise einbringen, die Bilder vom erfolglosen Dichter Gringoire und dem zynischen Intellektuellen Jehan Frollo.83 Ebenso standen hierdurch die „Sorbonne“, d. h. die Universita¨t als die dauerhafte Organisationsform fu¨r Magister und Scholaren, sowie die fru¨hste in ihren Grundzu¨gen rekonstruierbare ‚Ku¨nstler‘-Biographie des Franc¸ois Villon, des verkrachten Gelehrten- Kriminellen, bereit.84 80 Dazu s. a. Frank Rexroth, Transformationen des Rituellen. U ¨ berlegungen zur ‚Disambiguierung‘

symbolischer Kommunikation wa¨hrend des langen 12. Jahrhunderts, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger/Tim Neu/Christina Brauner (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Ko¨ln 2013, S. 69–92. 81 Chantal Dupille, Les enrage´s du XVe sie`cle. Les e´tudiants au Moyen-Age, Paris 1969. 82 „Je ne vois de pre´ce´dent dans notre histoire qu’en cette pe´riode de´sespe´re´e que fut le XVe sie`cle, ˆ ge et ou`, de´ja`, les e´tudiants se re´voltaient en Sorou` s’effondraient les structures du Moyen A bonne.“ Georges Pompidou in seiner Regierungserkla¨rung vom 14. Mai 1968, vgl. das OnlineArchiv der franzo¨sischen Nationalversammlung: http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/mai_68/ discours_pompidou.asp (15. 7. 2015). 83 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, Mu¨nchen/Wien 1993, v. a. S. 520–544. 84 Gert Pinkernell, Franc¸ois Villon. Biographie critique et autres e´tudes, Heidelberg 2002.

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In der popula¨ren Wahrnehmung bot sich das mittelalterliche Paris daher geradezu dazu an, zur Parabel fu¨r moderne kulturelle Konstellationen zu werden, etwa fu¨r die Frage, wie Ku¨nstler und Intellektuelle inmitten der bu¨rgerlichen Gesellschaft und zumal im amorphen Gruppengefu¨ge der modernen Großstadt, eine antibu¨rgerliche Gegenwelt etablieren konnten.85 Die Hierarchie der Klassenverha¨ltnisse ignorierend, die Verbindung von Kunst und scharfem Intellekt suchend, leben die Angeho¨rigen der Bohe`me einerseits in dru¨ckender materieller Abha¨ngigkeit von den Ma¨rkten, fu¨r die sie produzieren. Andererseits aber kultivierten sie ihre innere Unabha¨ngigkeit von der Welt der Normalmenschen. Kunst und Intellektualita¨t stellen fu¨r sie die Arsenale symbolischer Abgrenzungsstrategien bereit – auch hier, wie bei den Scholastikern, ist die Sprache ein wesentliches Erkennungsmerkmal des ‚Milieus‘. Und auch hier dient das Milieu der Prostitution als Spiegelungsfla¨che – dies zum einen, weil man der Prostituierten zuschreibt, dass sie sich der Transaktion mit dem Freier nur a¨ußerlich unterwirft, dass sie sich in Wirklichkeit aber erfolgreich gegen die Moral der Mehrheitsgesellschaft immunisiert hat. Zum anderen verhandelt man in der Rede u¨ber die Prostitution ein Bild fu¨r die eigene dru¨ckende Abha¨ngigkeit des Ku¨nstlers und Intellektuellen vom Ma¨zenatentum und den Bedu¨rfnissen des Marktes. „Verbrecher, Landstreicher, Huren und Ku¨nstler – das ist die Bohe`me, die einer neuen Kultur die Wege weist“, schrieb Erich Mu¨hsam 1906.86 Das Paris des 12. bzw. des 15. Jahrhunderts konnte so zur Parabel fu¨r die preka¨re Situation der Bohe`me-Kultur inmitten einer Mehrheitskultur angepasster Mittelsta¨ndler-Existenzen werden, die gerade einmal tolerant genug ist, den Literaten als Paria in ihrer Na¨he zu dulden und sich von Zeit zu Zeit von ihm erschrecken zu lassen. Man stellte sich die mittelalterliche Tra¨gerschicht als ebenso sozial diffus vor (‚der gebildete Hungerleider‘) wie die moderne Bohe`me, die sich ja ebenfalls keinem stratifikatorischen Einordnungsversuch beugte. Man achtete auf die Kultiviertheit der Dichtung, die ja ihrerseits ein Charakteristikum auch der modernen Bohe`me war. Angesichts der thematischen Verknu¨pfungen von Scholaren- und Rotlichtmilieu erinnerte man sich wohl auch an die mittelalterlichen Texte, die die scholae mit den Bordellen zusammenbrachten.87 Der mutigste und prominenteste Versuch, das Pariser ‚Milieu‘ des 12. Jahrhunderts so darzustellen, dass es als Parabel auf die Jugend- und Protestkultur der Moderne erschien, ist Jacques Le Goffs Jugendwerk u¨ber die „Intellektuellen im Mittelalter“.88 Stadtkultur, „le vif sentiment“ der urbanen Gelehrten, „[d]e faire du neuf, d’eˆtre des hommes nouveaux“,89 das Selbstbewusstsein, das sie aus dem Glauben 85 Zur Erforschung der modernen Bohe`me-Kultur Georg Stanitzek, Die Bohe`me als Bildungsmilieu.

Zur Struktur eines Soziotopos, in: Soziale Systeme 16 (2010), S. 404–418; Helmut Kreuzer, Die Bohe`me. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1971; Ders., Art. ‚Bohe`me‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 241–245. 86 Erich Mu ¨ hsam, Boheˆme, in: Die Fackel. Jg. 8, Nr. 202 (30. April 1906), S. 4–10, S. 10. 87 Vgl. oben, bei Anm. 25. 88 Jacques Le Goff, Les Intellectuels au Moyen A ˆ ge, Paris 1957; dt. Jacques Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 42001. 89 Le Goff, Les Intellectuels (wie Anm. 88), S. 14.

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bezogen, im Gegensatz zum intellektuellen Mainstream ihrer Zeit zu stehen und gerade durch ihr intellektuelles Streunertum und ihren vordergru¨ndigen Immoralismus die Uhren schneller schlagen zu lassen – alle diese Bilder evoziert Le Goff in seinem Buch. Ausgangspunkt seiner Schilderung ist dabei das Neue an Abaelard und seinen Weggefa¨hrten: die noch junge Autonomie der sich um das Ideal der philosophischen Wahrheit organisierenden Kultur des rive-gauche-Milieus, aufgefasst als eine neue Lebensform.90

90 Dazu Frank Rexroth, Die scholastische Wissenschaft in den Meistererza¨hlungen von der europa¨i-

schen Geschichte, in: Die Aktualita¨t der Vormoderne, hg. v. Klaus Ridder/Steffen Patzold (Europa im Mittelalter 23), Berlin 2013, S. 111–134.

¨ DTE BEHAUPTETE STA Urbanisierung und Urbanita¨t in Texten adliger Herrschaftspraxis aus dem Oberelsass um 1300 von Gabriel Zeilinger

Die Erforschung der mittelalterlichen Urbanisierung Europas greift zumeist auf die ¨ berlieferung zuru¨ck, wenn es um die fru¨he Phase diplomatische und chronikalische U von urbanen Gemeindebildungen und Stadtentwicklungen ab dem 12. Jahrhundert geht.1 Das im Verlauf des Spa¨tmittelalters folgende weitere bauliche wie o¨konomisch-politische Ausgreifen der entstandenen Sta¨dte in ihr jeweiliges Umland bis hin zu dessen Dominanz sowie die ‚innere‘ Urbanisierung der Sta¨dte durch Kommunalbauten, Maßnahmen zur Stadthygiene und anderes mehr werden hingegen vornehmlich anhand von Korrespondenzen, Ratsprotokollen, Rechnungen und a¨hnlichen Quellen untersucht.2 Dabei geriet in der Forschung bisweilen in den Hintergrund, dass nicht nur die Dorf-, sondern auch die Stadtentstehung zuna¨chst einmal auf dem Grund kirchlicher oder weltadliger Herrschaftstra¨ger geschah und dass eben die große Mehrzahl der zentraleuropa¨ischen Sta¨dte auch des ausgehenden Mittelalters Klein- und Mittelsta¨dte waren, die weiterhin mehr oder minder fest in eine solche Herrschaft eingebunden blieben. Man hat diesen in Alteuropa eigentlich vorherrschenden Stadttypus als ‚Landstadt‘ charakterisiert, was auf den im Vergleich etwa zu den gro¨ßeren Reichssta¨dten geringeren Grad sowohl an Autonomie als auch an urbaner Ausstattung verweisen soll.3 1 Aus der Fu¨lle der Literatur seien hier nur genannt: Knut Schulz, „Denn sie lieben die Freiheit so

sehr ...“. Kommunale Aufsta¨nde und Entstehung des europa¨ischen Bu¨rgertums im Hochmittelalter, 2. verb. Aufl., Darmstadt 1995; Martina Stercken, Sta¨dte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im habsburgischen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts (StF A 68), Ko¨ln/Weimar/Wien 2006. Mit ausfu¨hrlicher Darlegung der Forschungsgeschichte zuletzt auch Gabriel Zeilinger, Verhandelte Stadt. Herrschaft und Gemeinde in der fru¨hen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert, Habilitationsschrift, Kiel 2013 [erscheint 2016 in der Reihe „Mittelalter-Forschungen“]. Dieser Beitrag beleuchtet einen Teilaspekt dieser Arbeit, weswegen die Anmerkungen an dieser Stelle knapp gehalten werden. 2 Beispielhaft Gerhard Fouquet, Bauen fu¨r die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spa¨tmittelalters. Eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Sta¨dten Basel und Marburg (StF A 48), Ko¨ln/Weimar/Wien 1999. 3 Vgl. hier nur: Landesherrliche Sta¨dte in Su¨dwestdeutschland, hg. v. Ju¨rgen Treffeisen/Kurt Andermann (ObrhStud 12), Sigmaringen 1994; Gerhard Fouquet, Stadt und Residenz (12. – 16. Jahrhundert) – ein Widerspruch?, in: Stadt, Handwerk, Armut. Eine kommentierte Quellensammlung zur

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Gabriel Zeilinger

Die noch lange Zeit fortbestehende herrschaftliche Einhegung jener vielen ‚Landsta¨dte‘ Alteuropas sollte den Blick der Forschung fortan sta¨rker auch auf die Quellen herrschaftlicher Provenienz jenseits von dezidierten Stadtprivilegien und a¨hnlichen Dokumenten lenken. Aus der fru¨hen Phase solcher Sta¨dte sollen hier einmal adlige Urbare und Gu¨terverzeichnisse aus dem Oberelsass um 1300, insbesondere (I.) der elsa¨ssische Rodel des Habsburgischen Urbars (um 1303) und (II.) ein Teilungsvertrag der Herrschaft Rappoltstein aus dem Jahr 1298 betrachtet werden. Zu fragen ist dabei, welchen Niederschlag Urbanisierung und Urbanita¨t in diesen Quellen gefunden haben und welche Funktion den darin erwa¨hnten ‚Sta¨dten‘ im Rahmen der adligen Herrschaft – im ra¨umlichen wie im politischen Sinne – im jeweiligen Kontext der Verschriftlichung mo¨glicherweise zugedacht wurde. Diese Befunde sind sodann an ¨ berlieferung zu den behandelten Orten und den Ergebnissen ihrer der sonstigen U Erforschung zu spiegeln. Damit soll der zeitgeno¨ssischen ‚Meister-Notiz‘ zur ebenso dynamischen wie im Ergebnis dichten Urbanisierung des Elsass, dem viel zitierten Bericht des anonymen Colmarer Dominikanerchronisten,4 eine adelsherrschaftliche Perspektive gegenu¨bergestellt werden, die freilich nicht allzu einseitige Vorstellungen von herrschaftlicher ‚Sta¨dtepolitik‘5 vornehmlich durch vermeintliche Akte der ‚Gru¨ndung‘ bedienen wird.

Geschichte der Fru¨hen Neuzeit. Helmut Bra¨uer zum 70. Geburtstag zugeeignet, hg. v. Katrin Keller/ Gabriele Viertel/Gerald Diesner, Leipzig 2008, S. 163–184. 4 Civitates Argentinensis et Basilensis in muris et edificiis viles fuerunt, sed in domibus viliores. Domus fortes et bone fenestras paucas et parvulas habuerunt et lumine caruerunt. Columbaria, Sclezistat, Rubiaca, Mulu¨husen et alie parve civitates tunc temporis non fuerunt; aus: De rebus Alsaticis ineuntis saeculi XIII, in: Annales aevi Suevici, hg. v. Georg Heinrich Pertz u. a. (MGH SS 17), Hannover 1861 [ND 1990], S. 232–237. Dazu u. a. Gabriel Zeilinger, Sta¨dte in der Landschaft – Sta¨dtelandschaft(en)? Thesen zu einer Geschichte der Urbanisierung des mittelalterlichen Elsass, in: Neue Forschungen zur elsa¨ssischen Geschichte im Mittelalter, hg. v. Laurence Buchholzer-Remy u. a. (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 56), S. 119–130. Zur Geschichtsschreibung der Colmarer Dominikaner ausfu¨hrlicher zuletzt Annette Kehnel, Rudolf von Habsburg im Geschichtswerk der Colmarer Dominikaner, in: Studia Monastica. Beitra¨ge zum klo¨sterlichen Leben im christlichen Abendland wa¨hrend des Mittelalters, hg. v. Reinhardt Butz/Jo¨rg Oberste (Vita regularis 22), Mu¨nster 2004, S. 211–234 (auch mit der a¨lteren Literatur). 5 Zu diesem problematischen Begriff siehe (nur in knapper Auswahl) Thomas Michael Martin, Die Sta¨dtepolitik Rudolfs von Habsburg (VMPI 44), Go¨ttingen 1976; Berent Schwineko¨per, Ko¨nigtum und Sta¨dte bis zum Ende des Investiturstreites. Die Politik der Ottonen und Salier gegenu¨ber den werdenden Sta¨dten im o¨stlichen Sachsen und in Nordthu¨ringen (VuF, Sonderbd. 11), Sigmaringen 1977; Ders., Die Problematik von Begriffen wie Staufersta¨dte, Za¨hringersta¨dte und a¨hnlichen Bezeichnungen, in: Su¨dwestdeutsche Sta¨dte im Zeitalter der Staufer, hg. v. Erich Maschke/Ju¨rgen Sydow (Stadt in der Geschichte 6), Sigmaringen 1980, S. 95–172; Bernhard Diestelkamp, Ko¨nig und Sta¨dte in salischer und staufischer Zeit – Regnum Teutonicum, in: Stadt und Herrschaft. Ro¨mische Kaiserzeit und Hohes Mittelalter, hg. v. Friedrich Vittinghoff (HZ Beih. 7), Mu¨nchen 1982, S. 247–297; Christine Mu¨ller, Landgra¨fliche Sta¨dte in Thu¨ringen. Die Sta¨dtepolitk der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert (VHKomThu¨r, Kleine Reihe 7), Ko¨ln/Weimar/Wien 2003; vgl. ju¨ngst mit Diskussion der Literatur Gabriel Zeilinger, Zwischen familia und coniuratio. Stadtentwicklung und Sta¨dtepolitik im fru¨hen 12. Jahrhundert, in: Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europa¨ischen Reich des Hochmittelalters, hg. v. Gerhard Lubich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters – Beihefte zu J. F. Boehmer, Regesta Imperii 34), Wien/Ko¨ln/Weimar 2013, S. 103–118.

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I.

Zuna¨chst also zu den noch u¨berschaubaren Zuschreibungen von Urbanita¨t, genauer gesagt von urbanen Funktionen oder Qualita¨ten, fu¨r oberelsa¨ssische Orte im Habsburgischen Urbar: Die fru¨he Besitz- und Herrschaftsgeschichte der Habsburger auch im Elsass wurde bereits von der a¨lteren Forschung eingehend bearbeitet6 – befo¨r¨ berlieferung des Habsburgischen Urbars, dert nicht zuletzt durch die besondere U das zwar als Kompilation wohl erst(mals) um 1330 redaktionell zusammengefu¨hrt und vereinheitlicht wurde, jedoch in seinem wahrscheinlich a¨ltesten Teil, dem angeblich vom habsburgischen Schreiber Burkhard von Frick 1303 erstellten sogenannten Colmarer B-Rodel, just das Oberelsass behandelt.7 Die regionale Verankerung der Habsburger markierte zuna¨chst, zur Mitte des 11. Jahrhunderts, u. a. die Stiftung des Benediktinerinnenklosters Ottmarsheim. Neben der Auftragsherrschaft als Landgrafen des Oberelsass und den Vogteien kirchlicher Institutionen, allen voran in den Hochstiften Straßburgs und Basels, legten sich die Habsburger in den folgenden beiden Jahrhunderten offenbar versta¨rkt auch grundherrliche Besitztitel in der Region zu. Diese sollten wohl die herrschaftliche Position dort auf eine breitere Basis stellen und etwa den Austritt aus der Vogtei u¨ber die Straßburger Obermundat 1269 kompensieren. Diese Vorga¨nge bleiben freilich bis zu der genannten a¨ltesten (Teil-)Fassung des Habsburgischen Urbars im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts weitgehend im Dunkeln. Ausnahmen bilden fu¨r das vorangegangene Sa¨kulum vor allem jene Orte, die als zu jener Zeit bereits bestehende oder zuku¨nftige, das heißt noch in einem Auf- und Ausbauprozess begriffene Herrschaftsmittelpunkte angesehen werden. Freilich sta¨rkte erst das Erbe der Grafschaft Pfirt im Jahr 1324, mit dem eine betra¨chtliche Besitzmasse im Su¨den und Westen des Oberelsass und damit auch eine Reihe von mehr oder minder entwickelten Zentralorten wie Altkirch, Pfirt, Sennheim oder Thann der Habsburger Herrschaft hinzugefu¨gt wurde, deren Position im Oberelsass deutlich – hin zu dem fu¨r die nachfolgenden Jahrhunderte bekannten Besitzverbund.8

6 Siehe u. a. schon Carl Go ¨ ssgen, Die Beziehungen Ko¨nig Rudolfs von Habsburg zum Elsass (Bei-

tra¨ge zur Landes- und Volkeskunde von Elsaß-Lothringen 24), Straßburg 1899; Josef Schmidlin, Ursprung und Entfaltung der habsburgischen Rechte im Oberelsaß, besonders in der ehemaligen Herrschaft Landser (Studien aus dem Collegium Sapientiae 8), Freiburg i. Br. 1902; Hans Erich Feine, Die Territorialbildung der Habsburger im deutschen Su¨dwesten vornehmlich im spa¨ten Mittelalter, in: ZRGG 67 (1950), S. 176–308; Paul Stintzi, Die habsburgischen Gu¨ter im Elsass, in: Vordero¨sterreich. Eine geschichtliche Landeskunde, hg. v. Friedrich Metz, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1959, hier Bd. 2, S. 475–533; in ju¨ngerer Zeit aber auch Odile Kammerer, Entre Vosges et Foreˆt-Noire: pouvoirs, terroirs et villes de l’Oberrhein 1250–1350 (Histoire ancienne et me´die´vale 64), Paris 2001, besonders S. 92–113; Philippe Nuss, Les Habsbourg en Alsace des origines a` 1273. Recherches pour une histoire de l’Alsatia habsburgica, Altkirch 2002. 7 Das Habsburgische Urbar, 2 Bde., hg. v. Rudolf Maag (Quellen zur Schweizer Geschichte, 14–15 I/II), Basel 1894–1904 (im Folgenden abgeku¨rzt als HU); dazu zuletzt und umfassend Marianne Ba¨rtschi, Das Habsburger Urbar. Vom Urbar-Rodel zum Traditionscodex, Diss. phil. Zu¨rich 2008. 8 Siehe die Literatur in Anm. 6.

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¨ mter Das Habsburgische Urbar fu¨hrt fu¨r das Oberelsass noch vor allem die A Ensisheim und Landser, die Herrschaft Hohlandsburg sowie weitere, eher verstreute Besitz- und Herrschaftsrechte auf. Ob etwa in den beiden erstgenannten Herrschaftsbereichen die Gerichts- oder die Grundherrschaft a¨lter ist,9 kann aus dem Urbar wie aus den anderen gegebenen Quellen kaum entschieden werden. Auch im Urbar finden sich na¨mlich Herrschaftsverha¨ltnisse, die zumindest fu¨r diese Zeit an keiner anderen Stelle belegt sind, so zum Beispiel die Notiz, Ensisheim sei ein Straßburger Lehen.10 Doch gerade wegen der Binnenperspektive der Herrschaft ist diese Quelle fu¨r unsere Fragestellung so interessant, obgleich sie eben eine Momentaufnahme ist, mitunter eher besitzherrschaftliche Anspru¨che markieren mag und nicht nur Verwali tungspragmatik abbildet. Dies zeigt allein schon der Eingangssatz: Dis sint die gulten, i i ¨ sture, nutze und recht, die die hertzogen von Osterrich, die lantgraven sint in obern Elzas, hant oder haben sullen [...].11 Fu¨r das Amt Ensisheim wird zuna¨chst u¨ber die stat ze Ensichshein aufgefu¨hrt,12 i dass deren Bewohner in gemeinen jaren bi dem meisten ze sture 200 Viertel Roggen, 40 lb und noch einmal 20 lb Basler Pfennige, also vermutlich zu zwei Terminen, zumindest aber 140 Viertel Roggen und zweimal 20 lb Pfennige abzufu¨hren hatten. Die Bede dort war offenbar als Repartitionssteuer bereits ja¨hrlich zu leisten, aber noch nicht ga¨nzlich monetarisiert.13 Freilich werden mo¨glicherweise konjunkturbedingte Aushandlungsspielra¨ume in der Taxho¨he angedeutet. Die Herrschaft habe zu i Ensisheim ferner die hohe wie die niedere Gerichtsbarkeit, twing und ban und tub 14 und vrefen, sowie die Mu¨hle am Ort inne. So knapp dieser Haupteintrag zur stat Ensisheim ist, so aussagefreudig sind zwei nachgestellte Passagen des oberelsa¨ssischen Rodels von 1303: In der einen wird fu¨r das Amt Ensisheim zusammengefasst, e welche Abgaben [d]ye lute, die in der stat ze Ensichshein und in den dorfern, die e sunderbar in daz ampt ze Ensichshein horent, gesessen sint, ja¨hrlich in Naturalien und Geld an die Herrschaft abfu¨hrten.15 Die Terminologie jenes Halbsatzes wie die des eigenen Ortseintrags lo¨st die ‚Stadt‘ kaum aus den herrschaftlichen Bezu¨gen des dazugeho¨rigen Amtes heraus. Dass in Ensisheim doch mehr gegeben war als nur die Zuschreibung stat, zeigt dann der zweite Nachtrag: In diesem werden na¨mlich die e 24 burgman, die ze Ensichshein horent, aufgefu¨hrt, welche sich auf 16 Burglehen verteilten. Darunter finden sich auch viele elsa¨ssische Stadt- bzw. Niederadelsfamilien, wie etwa die von Hattstatt, die von Illzach oder die von Laubgassen, welche schon in 9 Die Diskussion daru¨ber um 1900 nachgezeichnet bei Feine, Territorialbildung (wie Anm. 6), S. 180f. 10 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 1 mit Fußnote 3; vgl. Ba¨rtschi, Urbar (wie Anm. 7), S. 227f. 11 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 1. 12 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 1. Vgl. Ba¨rtschi, Urbar (wie Anm. 7), S. 128 und 227f. 13 Vgl. allgemein fu¨r den Su¨dwesten Kurt Andermann, Grundherrschaften des spa¨tmittelalterlichen

Niederadels in Su¨dwestdeutschland. Zur Frage der Gewichtung von Geld- und Naturaleinku¨nften, in: BllDtLG 127 (1991), S. 145–190. 14 Zur Einordnung Helmut Pflu ¨ ger, Zur Bedeutung von Dieb und Frevel in den schwa¨bischen Rechtsquellen des 13. Jahrhunderts, in: ZWu¨rttLG 17 (1958), S. 281–291; Thomas Simon, Grundherrschaft und Vogtei. Eine Strukturanalyse spa¨tmittelalterlicher und fru¨hneuzeitlicher Herrschaftsbildung (Ius commune, Sonderheft 77), Frankfurt a. M. 1995, S. 26–28. 15 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 15. Das Amt Ensisheim umfasste neben dem Amtssta¨dtchen noch eine ganze Reihe von Do¨rfern, siehe dazu z. B. Stintzi, Gu¨ter (wie Anm. 6), S. 480–483.

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staufischer Zeit bzw. unter Rudolf von Habsburg herrschaftliche Funktionen in der Region innehatten. Bereits im Jahr 1273 waren damals noch 14 Burglehen zu Ensisheim von Ko¨nig Rudolf im Zuge der u¨ber seinen Hausbesitz hinausgehenden Burgen- und Sta¨dtesicherung eingerichtet worden.16 Doch wie war es zu dieser Bedeutung Ensisheims fu¨r die habsburgische Herrschaft im Oberelsass um 1300 gekommen, die sich im 15. und 16. Jahrhundert auch in der Funktion als Sitz der Regierung fu¨r die Vorlande17 zeigen sollte? Ensisheim erscheint gesichert seit dem 11. Jahrhundert, jedoch zuna¨chst spa¨rlich als villa Ensichesheim oder a¨hnlich in den Quellen. Der Ort kann hinsichtlich seiner fru¨hen Geschichte u¨berhaupt nur vage beschrieben werden: Der Bereich der spa¨teren Kleinstadt ko¨nnte habsburgisches Eigengut oder Teil des Ausstattungsguts der Landgrafschaft im Oberelsass gewesen sein. Neben der erst seit 1282 bezeugten Pfarrkirche St. Martin gab es auch noch eine (a¨ltere) Feldkirche gleichen Patroziniums extra muros, die spa¨ter hauptsa¨chlich als Begra¨bniskapelle diente. Zu einem Hof des Klosters Lu¨tzel am Ort geho¨rte außerdem eine Marienkapelle.18 In Ensisheim ist erstmals Anfang des 13. Jahrhunderts, dann wieder 1256 ein habsburgischer Vogt bezeugt, spa¨ter auch als Landvogt bezeichnet, der vermutlich auf der merkwu¨rdigerweise erst 1326 ausdru¨cklich erwa¨hnten Burg am rechten Ufer der Ill seinen Sitz hatte. An diese schloss sich eine Art suburbium an, wobei schon die Pfarreigeschichte die Verlegung einer a¨lteren Siedlung na¨her an den Burgplatz heran mo¨glich erscheinen la¨sst.19 Gewissermaßen parallel zu Rudolf von Habsburgs Auf¨ berlieferung in den 1270er Jahren zu stieg zum Ko¨nigtum kam es ausweislich der U einer Intensivierung der herrschaftlichen Maßnahmen am Ort, die durchaus mit seinem Engagement fu¨r die und in den a¨lteren Ko¨nigssta¨dten des Oberelsass korre-

16 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 41–43. Die Zahl der Burglehen nach Martin, Sta¨dtepolitik (wie Anm. 5),

S. 113.

17 Dazu grundlegend Georges Bischoff, Gouverne´s et gouvernants en Haut-Alsace a` l’e´poque autrichi-

enne. Les e´tats des pays ante´rieurs des origines au milieu du XVIe sie`cle (Publications de la Socie´te´ savante d’Alsace et des re´gions de l’Est. Se´rie „Grandes publications“ 20), Strasbourg 1982. 18 Joseph M. B. Clauss, Historisch-topographisches Wo¨rterbuch des Elsass, Lieferungen 1–16 (A – Schlierbach) [mehr nicht erschienen], Zabern 1895–1914, S. 317–320; Me´dard Barth, Handbuch der elsa¨ssischen Kirchen im Mittelalter (Etudes ge´ne´ral publ. sous les auspices de la Socie´te´ d’Histoire de l’Eglise d’Alsace, N. S. 4 = Archives de l’Eglise d’Alsace 27 = N. S. 11), ND Bruxelles 1980, Sp. 340–343; Georges Bischoff, Ensisheim, in: Le Haut-Rhin. Dictionnaire des communes, hg. v. Raymond Oberle´/Lucien Sittler, 3 Bde., Colmar 1980–1982, hier Bd. 1, S. 373–386. Klo¨ster finden sich erst in der fru¨hen Neuzeit in Ensisheim. 19 Hierzu und zum direkt Folgenden Monika Escher/Frank G. Hirschmann/Bernhard Metz, Ensisheim, in: Die urbanen Zentren des hohen und spa¨teren Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Sta¨dten und Sta¨dtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankreich, hg. v. Monika Escher/ Frank G. Hirschmann, 3 Bde. (Trierer Historische Forschungen 50/1–3), Trier 2005, Bd. 2, S. 181f. Noch detailreicher Bernhard Metz, Essai sur la hierarchie des villes me´die´vales d’Alsace (1200–1350), in: Revue d’Alsace 128 (2002), S. 47–100 [fortan: Essai I]; Ders., 2e partie, in: ebd. 134 (2008), S. 129–167 [fortan: Essai II], hier: Essai I, S. 79f.; sowie ausfu¨hrlich Jean-Jacques Schwien, Le chaˆteau d’Ensisheim XIIIe-XVIIe sie`cle, in: Annuaire de la Socie´te´ d’Histoire des re´gions de Thann-Guebwiller 17 (1988), S. 35–50; Ders., Pour une science des traces. L’exemple d’Ensisheim (1270–1570), in: Revue d’Alsace 114 (1988) S. 45–66 (mit Beschreibung der allerdings ju¨ngeren Besta¨nde des Stadtarchivs).

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spondiert:20 Im 1272 erstmals als statt bezeichneten Ensisheim21 wurden zwei Jahre spa¨ter durch ein Mandat Rudolfs die Zo¨lle abgeschafft, 1277 erhielten die erstmalig u¨berhaupt so angesprochenen cives des Ortes fast in einem Zug mit den Ko¨nigsbzw. Reichssta¨dten des Oberelsass die Lehnsfa¨higkeit zuerkannt.22 Fu¨r das Jahr 1311 wird ein Stadtgericht erwa¨hnt, 1316 dann ein sta¨dtischer Rat, 1325 ein Rathaus – also nach der Abfassung des oberelsa¨ssischen Rodels des Habsburgischen Urbars im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Am Ende des Urbars notierte der Schreiber bemerkenswerterweise, der Ensisheimer Vogt Rudolf habe sich, want die lute sint verderbet, geweigert, mer ze sture e i [zu] legen, als mir, meister Burch(art) von Vrike, dez Romeschen kuniges schriber, i 23 wol kunt ist. Ein Konflikt zwischen Ko¨nig Albrecht I. und seinem lokalen Vertreter bzw. zwischen den Funktionstra¨gern auf verschiedenen Ebenen der Herrschaft ist hier zwar annehmbar, wird aber durch eine Notiz zu demselben Jahr in den „Annales Colmarienses maiores“ noch plastischer: Demzufolge sei der Vogt zu Ensisheim in den Turm gebracht und zu einem Rechenschaftsbericht bzw. zur Rechnungslegung gezwungen worden.24 Diese schwerlich u¨berpru¨fbaren Darstellungen legen zumindest eine mo¨gliche Motivlage fu¨r das Verzeichnis der Rechte der Herrschaft offen. Das hier nur knapp skizzierte Bild Ensisheims um 1300 kann durch die Situation in Landser su¨dlich Mu¨lhausens konturiert werden: Die Habsburger erwarben Burg und Siedlung Landser, nachdem diese 1269 von den Herren von Butenheim dem Bistum Basel noch als Lehen aufgetragen worden war, wohl gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Sie machten es alsbald zum Sitz des schon zuvor danach benannten oberelsa¨ssischen Amtes, das die su¨do¨stlichen Besitzungen im Oberelsass zusammenfasste.25 Im e Colmarer Rodel des Habsburgischen Urbars notierte man die Rechte, die da horent o e ze der stat und ze der burg ze Lantzer, die zu der herschaft koft worden: Die hofstette in der stat ze Lantzer, die gerten und daz tor geltent jerlich ze cinse 4 lb Baseler und e 6 ß und 6 pullos. Der jarmerg, der da in der stat wirt ze unsers vrowen tult ze mit20 Dazu zuletzt Zeilinger, Verhandelte Stadt (wie Anm. 1), Kapitel C. 21 Metz, Essai I (wie Anm. 19), S. 80, mit der Reihe der fru¨hen Belege als ‚Stadt‘ – und mit dem Hinweis,

dass auch in Ensisheim mit castellum im 13. Jahrhundert oft genug das befestigte Sta¨dtchen, nicht eine Burg bezeichnet wurde; u¨ber diesen Fall hinaus Ders., En Alsace: bourgs castraux ou villes castrales?, in: Aux origines du second re´seau urbain. Les peuplements castraux dans les Pays de L’Entre-Deux. Alsace, Bourgogne, Champagne, Franche-Comte´, Lorraine, Luxembourg, Rhe´nanie-Palatinat, Sarre. Actes du colloque de Nancy 1er – 3 octobre 1992, hg. v. Michel Bur, Nancy 1993, S. 223–242. 22 Acta imperii inedita saeculi XIII et XIV. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Ko¨nigreichs Sizilien, 2 Bde., hg. v. Eduard Winkelmann, Innsbruck 1880–1885 [ND Aalen 1964], hier Bd. 2, Nr. 112, S. 94. 23 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 54f. 24 Solennis procurator regis Romanorum domini Alberti, qui a Rinvelden usque in Sclecistatt inclusive dominabatur, in turrim in Ensisheim claudebatur et rationem de sibi creditis reddere cogebatur, in: Annales aevi Suevici (wie Anm. 4), S. 229. Dazu auch Ba¨rtschi, Urbar (wie Anm. 7), S. 58, die im Colmarer Rodel durchaus plausibel das Ergebnis dieser und/oder a¨lterer Rechnungslegung sieht. 25 Bernhard Metz, Une e´mancipation manque´e: les sires de Butenheim, in: Butenheim, une motte castrale en Alsace. Bilan de quatre campagnes de fouilles arche´ologiques, hg. v. Joe¨lle Burnouf (Annuaire de la Socie´te´ d’histoire sundgauvienne, no spe´cial), [o. O.] 1986, S. 23–46; Clauss, Wo¨rterbuch (wie Anm. 18), S. 587–589; Joseph Fuchs, Landser (commune); Landser (seigneurie), in: Le Haut-Rhin (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 765–770.

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ten ogesten, giltet 1 lb.26 Anders als das fiskalisch vor allem bederechtlich und damit tendentiell landesherrschaftlich erfasste Ensisheim fand sich Landser zu Beginn des 14. Jahrhunderts demnach auch im direkten grundherrschaftlichen Zugriff Vordero¨sterreichs. Allerdings standen den Habsburgern in Landser ferner beide Gerichtsbarkeiten, die Ha¨lfte des Patronats – die Kirche giltet wol uber den phafen 10 mark – und die beiden Mu¨hlen zu.27 Laut dieser herrschaftlichen Beschreibung waren Burg und ‚Stadt‘ Landser wohl noch weitgehend so verfasst, wie sie von den Habsburgern zuvor erworben worden waren. Zu bemerken ist zudem, dass fu¨r die dortige Burg offenbar keine eigenen Burglehen aufgerichtet wurden. Sehr bezeichnend ist allerdings, dass Landser u¨berhaupt nur in dieser Quelle zur ‚Stadt‘ gemacht wird.28 Dies ist ein starker Hinweis auf das herrschaftliche Interesse an dem Ort, dem zwar eine Funktion im Herrschaftsgefu¨ge zugewiesen wurde, der aber keine weitere, auch keine dezidiert kommunale Entwicklung folgen konnte, sollte oder musste. Der hier betrachtete fru¨heste Teil des Habsburgischen Urbars mit den beiden einzigen als ‚Sta¨dte‘ bezeichneten Orten Ensisheim und Landser zeigt – jenseits moderner Diskussionen um die urbanen Qualita¨ten auch dieser Siedlungen – mit den darin erkennbaren herrschaftlichen Verdichtungs- und Zentralisierungstendenzen, mit dem Verschriftlichungsvorgang an sich und u¨berhaupt mit der herrschaftlichen Behauptung von Sta¨dtischkeit auch Urbanisierung im Sinne dieser Lebensformen und Ordnungsvorstellungen an. Bei aller Besonderheit des jeweiligen stadtgeschichtlichen Einzelfalls fu¨gt sich dieser Befund durchaus ein in denjenigen u¨ber die „Sta¨dte der Herrschaft“ Habsburg in der heutigen Nordschweiz29 und in anderen Gebieten.30 Geha¨ufte Einzel- bzw. Gesamtprivilegierungen habsburgischer Sta¨dte finden sich im Oberelsass freilich erst in den 1360er und 1370er Jahren, zu einer Zeit also, als die Herrschaft nicht nur durch das Pfirter Erbe in dieser Region u¨ber deutlich mehr Orte verfu¨gte, die von der zentralo¨rtlichen Ausstattung wie in der Gemeindeentwicklung dezidierter als Sta¨dte zu fassen sind. Fu¨r diese Phase haben Georges Bischoff und e

26 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 24f. Vgl. zuletzt Ba¨rtschi, Urbar (wie Anm. 7), S. 237f. 27 HU (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 25. U ¨ ber den ‚vierten Teil‘ – wohl das vierte Viertel des Patronatsrechts – i

sei eine Befragung der kuntsami durchgefu¨hrt worden, die uf den eit ausgesagt ha¨tten, es stehe auch Habsburg zu, doch sei dieses von Gottfried von Eptingen beansprucht und ausgegeben. 28 Metz, Une e´mancipation manque´e (wie Anm. 25); Benoıˆt Jordan, Landesherrliche Sta¨dte im Oberelsaß wa¨hrend des spa¨ten Mittelalters, in: Landesherrliche Sta¨dte (wie Anm. 3), S. 231–244, besonders S. 235; Georges Bischoff, Les villes seigneuriales de Haute-Alsace et leurs autorite´s (XIIIe-XVIe sie`cles), in: Actes de la Socie´te´ Jurassienne d’E´mulation 92 (1989), S. 269–286, fasst es auf S. 271 markant zusammen: „Landser, en projet en 1269, cite´e comme ville en 1303, puis retombe´e dans l’oubli“. 29 Stercken, Sta¨dte (wie Anm. 1), zum Habsburgischen Urbar und der Bedeutung fu¨r die Stadtgeschichte dieses Raumes besonders S. 77–81; siehe nun u. a. auch Dies., Formen herrschaftlicher Pra¨senz. Die Habsburger in ihren Sta¨dten im Gebiet der heutigen Schweiz, in: Habsburger Herrschaft vor Ort – weltweit (1300–1600), hg. v. Jeannette Rauschert/Simon Teuscher/Thomas Zotz, Ostfildern 2013, S. 149–168. 30 Zu Tirol siehe zuletzt Christian Hagen, Die Sta¨dte der Grafen in Tirol im Spa¨tmittelalter, Diss. phil., Kiel 2013; Ders., Burggraf gegen Bu¨rger? Das Verha¨ltnis zwischen landesfu¨rstlichen Vertretern und sta¨dtischen Fu¨hrungsgruppen am Beispiel der Stadt Meran, in: Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Fu¨hrungsgruppen in der mittelalterlichen Urbaniserung Zentraleuropas, hg. v. Elisabeth Gruber u. a. (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte 56), Innsbruck/Wien/Bozen 2013, S. 151–175.

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Martina Stercken geschlossen, dass durch die fast schon konzertierte Privilegienpraxis die Integration auch der Peripherie in das Ganze der Herrschaft Habsburg befo¨rdert werden sollte,31 es mithin nicht mehr prima¨r um die Behauptung einzelner Sta¨dte ging.32

II.

Zum zweiten Beispiel, mit dem in quantitativ noch kleineren Bezu¨gen die binnenherrschaftliche Bestandsaufnahme von (z. T. nur implizit behaupteter) Urbanita¨t ausgehend von einem Teilungsvertrag der Herren von Rappoltstein aus dem Jahr 1298 beleuchtet wird: Schon im spa¨tstauferzeitlichen Elsass war die edelfreie Familie von Rappoltstein durchaus ein Machtfaktor. Im Spa¨tmittelalter verfu¨gte diese Familie mit ihrem ansehnlichen Konglomerat aus einer Vielzahl von Lehnstiteln, etwas Allodialbesitz und einer Beteiligung am Vogesenbergbau dann fast schon u¨ber eine Landesherrschaft niederen Ranges. Zentrum der Herrschaft war das aus drei, spa¨ter vier Siedlungsteilen bestehende Rappoltsweiler mit den drei Ho¨henburgen oberhalb des Sta¨dtchens. Außerdem hatten die Herren im Ort – neben mehreren herrschaftlichen Ho¨fen – auch einen gro¨ßeren, zunehmend genutzten und entsprechend ausgestalteten Stadtsitz. Im wenige Kilometer o¨stlich in der Rheinebene gelegenen Ort Gemar sammelten die Rappoltsteiner im Verlauf des Spa¨tmittelalters durch Kauf oder Usurpation die meisten Herrschaftsrechte am Ort und bauten die dortige, zuna¨chst sehr bescheiden aufgefu¨hrte Burg sukzessive zur zweiten Residenz aus. Schon im 13. Jahrhundert erhielten sie die Herrschaft Hohnack von den Grafen von Pfirt, nach deren ¨ sterreich zu Lehen, was den rappoltsteinischen Besitz ganz erhebAussterben von O lich nach Su¨den hin erweiterte.33 Am 19. August 1298 stellten die Bru¨der Anselm und Heinrich sowie ihr Neffe Heinrich eine gemeinsame Urkunde u¨ber einre teilung vnd einre schidunge vmbe

31 Bischoff, Les villes seigneuriales (wie Anm. 17), hier S. 272f.; Martina Stercken, Kleinstadtgenese

und herrschaftliche Raumerfassung in habsburgischen Gebieten westlich des Arlbergs, in: Raumerfassung und Raumbewußtsein im spa¨teren Mittelalter, hg. v. Peter Moraw (VuF 49), Stuttgart 2002, S. 233–273, hierzu besonders S. 263. 32 Diese fru¨here Phase ausfu¨hrlich an Beispielen Zeilinger, Verhandelte Stadt (wie Anm. 1), Kapitel E. 33 Dies und das Folgende nach Zeilinger, Verhandelte Stadt (wie Anm. 1), Kapitel F; sowie dem umfassenderen Handbuchartikel: Ders., Rappoltstein, Herren von; Rappoltstein, Herrschaft; Rappoltsweiler; Gemar, in: Ho¨fe und Residenzen im spa¨tmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren, hg. v. Werner Paravicini, 2 Teilbde. (Residenzenforschung 15.IV), Ostfildern 2012, Teilbd. 2, S. 1149–1156; vgl. etwa die Arbeiten von Rudolf Brieger, Die Herrschaft Rappoltstein. Ihre Entstehung und Entwicklung, Diss. phil. Leipzig 1906; Benoıˆt Jordan, Die Herren von Rappoltstein, ihre Stadt und die Reben, in: Burgen, Ma¨rkte, kleine Sta¨dte. Mittelalterliche Herrschaftsbildung am su¨dlichen Oberrhein, hg. v. Ursula Huggle/Thomas Zotz (Das Markgra¨flerland 2/2003), Schopfheim 2003, S. 130–140; Thomas Biller/Bernhard Metz, Die Burgen des Elsaß. Architektur und Geschichte, 2 Bde. [bisher Bd. 2 (1200–1250) und 3 (1250–1300)], Mu¨nchen 1995–2007, hier Bd. 2, S. 225–228 und 277–283; sowie Kammerer, Entre Vosges et Foreˆt-Noire (wie Anm. 6), S. 85–92.

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die herschaft Rapolzsten aus, die eine bemerkenswerte Momentaufnahme der Rappoltsteiner Herrschaftsgeschichte darstellt.34 Die Bedeutung des Schriftstu¨cks beruht nicht zuletzt darauf, dass die aufgeteilten Rechte und Gebiete relativ genau verortet und beschrieben werden, das Dokument gleichsam eine aristokratische Selbstauskunft ist. Zwar erscheinen nicht alle fu¨r diese Zeit bekannten Besitzungen der Familie darin, aber das dadurch gezeichnete Bild ist insbesondere fu¨r das Kerngebiet der Herrschaft um Rappoltsweiler sehr aufschlussreich. Der erste Herrschaftsteil, den Heinrich (der Bruder bzw. Onkel) zugesprochen bekam, sollte zwei der drei Ho¨henburgen, na¨mlich Groß-Rappoltstein und ‚Stein‘, umfassen, die ‚Neue Stadt‘ und das ‚Oberdorf‘ von Rappoltsweiler sowie einen Teil von Gemar und die in Bergheim, Rodern und Rorschweier besessenen Rechte, schließlich auch die mule an der lantstrasse. Der zweite, Anselm zugedachte Teil enthielt die Burg Altenkastel (auch Hohrappoltstein) und die ‚Alte Stadt‘ in Rappoltsweiler sowie die Rechte des Hauses unter anderem in Zellenberg, Reichenweier, Beblenheim und einigen weiteren Orten. Heinrich, der Neffe, bekam schließlich vor allem die entfernter gelegene Herrschaft Hohnack und umliegenden Streubesitz35 – gema¨ß der Logik einer mo¨glichen Seitenlinie. Fu¨r unsere Betrachtung sind vornehmlich die ersten beiden, direkt aneinander fallenden Teile der Herrschaft, besonders die qualifizierenden Beschreibungen der Gegebenheiten in Rappoltsweiler und Gemar von Interesse. Die Bewohner der Alt- und der Neustadt von Rappoltsweiler sollten laut dem Teilungsvertrag von 1298 die Allmende an Wald und Weide sowie am Areal des Stadtgrabens gemeinschaftlich haben und die Unterhaltung der wege vnd stege, ferner der vswendig[en], also der Talstraße, gemeinsam bewerkstelligen vnd niessen. Auch die merkete sollten gemeine sin und in kommunaler Absprache platziert und terminiert werden. Das Wasser, daz gat durch die stat, stehe hingegen allein den herrschaftlichen Mu¨hlen beider Teile gema¨ß zu treffender Absprachen zu. Die Kirchensa¨tze am Ort und swaz vngeltz da ist an dem tor vnd zv dem zaphen wu¨rden unter den drei Herren aufgeteilt, wobei das Ungeld bei Bedarf auch der Instandhaltung der Bru¨cken dienen solle. Etwas verschlu¨sselt erscheint der Passus, der zuku¨nftige Inhaber der niederen (hier wohl noch der Alten) Stadt sol sin tor vermvren, ob er wil, derjenige der oberen o (damit wohl der Neuen) Stadt hingegen, der sol buwen vffe sime gute, daz er wil.36 Vermutlich ging es hierbei schlicht um das Befestigungsrecht am jeweiligen Platz. Die letzte Bestimmung, fu¨r Rappoltsweiler und Gemar zugleich, zeigt, wie deutlich die herrschaftliche Dominanz auch der Stadtbewohner sein sollte: Die in der Urkunde fu¨r diese beiden Orte genannten, ebenfalls aufzuteilenden herrschaftlichen Zinse und

34 Rappoltsteinisches Urkundenbuch (759–1500), 5 Bde., hg. v. Karl Albrecht, Colmar 1891–1898 [im

Folgenden: RUB], hier Bd. 1, Nr. 223, S. 161–163. Mit gutem Grund hat Brieger, Herrschaft (wie Anm. 33), S. 21–34, dem Dokument ein ganzes Kapitel seiner Arbeit gewidmet. 35 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 223, S. 161f. Vgl. u. a. Brieger, Herrschaft (wie Anm. 33), S. 21–34; und ¨ berlieMetz, Essai II (wie Anm. 19), S. 158. Die Inhaber der Teile sind erst durch die nachfolgende U ferung bekannt, der Text der Teilung la¨sst dies noch offen. Vermutlich wurde ein Losverfahren oder eine bestimmte Reihenfolge der Auswahl ins Werk gesetzt. 36 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 223, S. 161f.

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Abgaben stellen fast das ganze Spektrum an denkbaren Gefa¨llen dar. Auffa¨llig ist o dabei allerdings, dass in einem Nachsatz nur fu¨r Gemar die lute vnd gut erfasst wurden, wa¨hrend ganz offenbar auch fu¨r Rappoltsweiler zumindest die herrschaftlichen Rekognitionszinsen in Form von Hu¨hnern, Ga¨nsen oder den entsprechenden Geldzinsen galten. Freien Zug genoss man freilich beiderorts nicht: Swas lute hie geteilt ist, vnder swem die ergriffen werdent, dem sollent si och beliben vnd dienen; zuhet aber ieman von ime, der sol och wider dienen dem herren, von dem er geuaren ist.37 ¨ ber Gemar, das also schon in der Haupturkunde der Teilung noch ganz in U grundherrschaftlicher Terminologie verzeichnet wird, setzten die Bru¨der Anselm und Heinrich ein eher formloses und undatiertes, aber dem Anschein nach allenfalls wenig spa¨ter ausgefertigtes Abkommen auf.38 Darin wird vereinbart, dass Anselm den sog. Niederhof zu Gemar halten solle, außer der Waldnutzung aber auch die weiteren Rechte und Einnahmen, als da wa¨ren Pfenniggeld und andere Gefa¨lle auf den Dinghof und den Ladhof, Zwing und Bann sowie die Mu¨hle, ebenfalls geteilt wer¨ cker den sollen. Fu¨r den von Heinrich eingenommenen Oberhof werden vor allem A und Wiesen aufgefu¨hrt. Fu¨r beide Ho¨fe der Herrschaft werden dann die dem jeweiligen Herrn zustehenden census denariorum et pullorum – in diesem Fall Grundzinse – in Ho¨he von einem bis mehreren Schillingen und/oder Stu¨cken Geflu¨gel aufgeschlu¨sselt. So zinste beispielsweise ein Heinricus carpentarius 4 sol. de orto extra vallum ville [!] retro domum plebini [sic!] dem Niederhof und damit Anselm von Rappoltstein.39 Unter den an Anselm Zinspflichtigen erscheint auch Diezin an dem tor.40 Zuletzt o e folgt die ansehnlich lange Liste der lute, die zu den beiden Ho¨fen horent; offenkundig waren dies die nichtzinsenden, aber noch in anderen Abha¨ngigkeiten verharrenden Angeho¨rigen der ‚familia‘ des Ober- und des Niederhofs.41 Selbst wenn aus dieser nachgeordneten rappoltsteinischen Teilungsvereinbarung ein vages Bild Gemars im Jahr 1298 entsteht, stellt sich trotz der erwa¨hnten Siedlungsmerkmale wie Dorfgraben und Tor die Frage, wieso bei dieser doch deutlich feudalagrarischen Ausgangssituation u¨berhaupt eine vermeintlich urbane Qualita¨t Gemars im Mittelalter diskutiert wird:42 Gemar (frz. Gue´mar) ist als Gemarkung seit dem 8. Jahrhundert in den Schriftquellen zu finden. Es entwickelten sich in der Folge zwei Weiler, na¨mlich Obergemar und Niedergemar um die Klosterho¨fe von Leberau und Murbach herum. Zum Dorf oder – je nach Sichtweise – spa¨ter auch zur Klein(st)stadt sollte sich aber Niedergemar verdichten, das auch in der Teilungsurkunde von 1298 als der bereits befestigtere und ausgestattetere Platz erscheint. Niedergemar wurde ¨ bten als Lehen zuna¨chst an die Landgrafschaft im Unterelsass, von den Murbacher A ab 1359 dann an die Bischo¨fe von Straßburg ausgegeben und von diesen jeweils an die

37 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 223, S. 162. 38 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 224, S. 163–166; es handelt sich um einen Pergamentrodel aus drei

Stu¨cken, die teils deutsch, teils lateinisch gehalten sind.

39 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 224, S. 163. 40 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 224, S. 164. 41 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 224, S. 164–166. 42 Vgl. Anm. 33 sowie die in der Folge genannte Literatur.

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Herren von Rappoltstein weiterverliehen. Die Rappoltsteiner hatten laut den Herrschaftsteilungen, wie fu¨r die des Jahres 1298 gesehen, einigen Grundbesitz und etliche Zinspflichtige am Ort, was ihre Position im Ringen mit anderen Herrschaftstra¨gern der Region sta¨rkte, bis im 15. Jahrhundert die Mehrzahl der Ortsrechte in ihren Ha¨nden versammelt war. Analog zur Siedlungsgeschichte gab es in Gemar zwei Pfarrkirchen, die alten Eigenkirchen der Klosterho¨fe.43 Ko¨nig Rudolf ließ 1287 im Verlauf eines Kriegszugs gegen Anselm II. v. Rappoltstein in Gemar zur Absicherung der Belagerung angeblich eine ho¨lzerne Befestigung errichten,44 die hernach von den Rappoltsteinern u¨bernommen und weitergebaut wurde. Fu¨r 1298 werden – wie bereits angefu¨hrt – mit vallum ville, mit Tor und Kirchhof auch weitere Befestigungselemente erwa¨hnt. Zu Beginn der zweiten Ha¨lfte des 14. Jahrhunderts wurde der Ort von einer Steinmauer umgeben und die herrschaftliche Burg ausgebaut. Erst im 16. Jahrhundert wurde diese sukzessive zum Schloss und zur zweiten Residenz der Rappoltstein ausgestaltet.45 Letztlich blieb Gemar trotzdem im Wesentlichen ein von Bauern und Fischern bewohnter Ort mit gering ausgebildeten, zudem fast ausschließlich herrschaftlich-administrativen Zentralfunktionen, fu¨r welche die auch nur sporadischen Nennungen von Amtleuten stehen. Da fu¨r Gemar kaum Ansa¨tze einer (stadt)gemeindlichen Entwicklung zu greifen sind, bleibt die Stadtqualita¨t Gemars in der Vormoderne eben mehr als fraglich. Dass ¨ berlieferung des O ¨ fteren Ortsbezeichnungen wie Gemer burgk vnd stat aufin der U tauchen, hat Franc¸ois Himly wohl dazu veranlasst, den Ort in seinen „Atlas des villes me´die´vales d’Alsace“ aufzunehmen.46 Doch zeigt diese fast durchga¨ngig in Kombination aufscheinende Wendung wohl eher den Anspruch und das Interesse der Herren an, als dass es einer urbanen Siedlung entspra¨che. Sehr anschaulich ist in dieser Hinsicht die Zustimmung Bischof Friedrichs von Straßburg zu einer rappoltsteinischen Wittumsverschreibung im Jahre 1381, in der Anna von Grandson die stat vnd die o burg Gemer vnd die lute do inne wonende zugewiesen werden.47 Derlei Behauptungen einer ‚Stadt‘ Gemar hatte ihren Grund wohl nicht zuletzt darin, dass Gemar im ¨ berschneidungsraum verschiedener, teils agonaler Herrschafts- und Einflusszonen, U zum Beispiel auch des weiteren Colmarer Landgebiets, lag. Daher wurde um Gemar

43 Lucien Sittler, Gue´mar, in: Le Haut-Rhin (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 512–517; Zeilinger, Rappoltstein

(wie Anm. 33), S. 1154f.; Barth, Handbuch (wie Anm. 18), Sp. 424–427. St. Dionys in dem als Siedlung dann bereits aufgegebenen Obergemar wurde bemerkenswerterweise erst 1543 mit St. Leodegar infra muros zusammengelegt, ebd. 44 Annales aevi Suevici (wie Anm. 4), S. 256 („Chronicon Colmariense“): Demnach war es ein Befehl Ko¨nig Rudolfs an Hartmann von Baldeck, in villa Gemar castrum ligneum fabricaret. 45 Außer der vorgenannten Literatur siehe auch Benoıˆt Jordan, La noblesse d’Alsace entre la gloire et la vertu. Les sires de Ribeaupierre 1451–1585 (Publications de la Socie´te´ Savante d’Alsace et des re´gions de l’Est. Recherches et documents 44), Strasbourg 1991, bes. S. 156–160; Bernhard Metz, Gue´mar. 2. Particularite´s architecturales: Cimetie`re et bourg fortifie´s, chaˆteau, in: Encyclope´die de l’Alsace, Bd. 6, Strasbourg 1984, S. 3563f. 46 Franc¸ois J. Himly, Atlas des villes me´die´vales d’Alsace (Publications de la Fe´de´ration des Socie´te´s d’Histoire et d’Arche´ologie d’Alsace 6), Nancy 1970, S. 15 und 75. Vgl. auch den Registeru¨berblick in RUB (wie Anm. 34), Bd. 2, S. 621. Als „petite ville“ figuriert Gemar aber etwa auch bei Sittler, Gue´mar (wie Anm. 43), S. 515. 47 RUB (wie Anm. 34), Bd. 2, Nr. 204, S. 181f.

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und sein Umland durchaus gestritten, sogar bis hinauf zum Ko¨nigshof prozessiert48 – und eben das Dorf befestigt, das allein damit aber kaum zur Stadt wurde. Anders stellt sich die (urbane) Situation um 1300 in dem seit dem 8. Jahrhundert sporadisch belegten Ort Rappoltsweiler (frz. Ribeauville´) dar. Dort waren zuna¨chst die Abteien Mu¨nster und Saint-Denis begu¨tert.49 Hochmittelalterliche Besitzu¨bertragungen zeigen zum einen salische und staufische Herrscher sowie das Bistum Basel als Inhaber bzw. als Lehnsherren von Herrschaftsrechten am Ort, so bei der Ru¨ckgabe der Burg Rappoltstein (zeitlich bedingt die Ulrichsburg oder Hohrappoltstein) cum medietate subiacentis ville Rapolswilre durch Kaiser Friedrich I. an den Basler Bischof Ortlieb im Jahr 1162.50 Zum anderen la¨sst sich lokaler Allodialbesitz der Rappoltsteiner nicht ausschließen, etwa in jener anderen Ha¨lfte der villa. Die Rappoltsteiner u¨bernahmen bzw. bauten seit dem 12. Jahrhundert nicht nur die genannten Ho¨henburgen, sondern auch Stadtho¨fe, von denen der am ho¨chsten Punkt Rappoltsweilers gelegene befestigt und im 15. Jahrhundert zum Stadtschloss ausgestaltet wurde. Der augenscheinlich eintra¨gliche Weinanbau und Weinhandel vor Ort brachte es freilich mit sich, dass Grundstu¨cke in und Parzellen um Rappoltsweiler sehr gefragt waren. Als auswa¨rtige Besitzer sind auch auswa¨rtige Adlige, Lehnsleute der Rappoltsteiner und weitere Klo¨ster belegt, die zum Teil ebenfalls Stadtho¨fe bzw. -ha¨user in Rappoltsweiler besaßen.51 Die dominierenden Ortsherren waren trotz der verschiedenen Grundherren seit dem 13. Jahrhundert jedoch die Herren von Rappoltstein. ¨ berlieferung der Herrschaft zum Beispiel noch 1256 Rappoltsweiler ist in der U in einer Datumszeile als villa nostra Rapolzwilre erwa¨hnt.52 Dieser a¨lteste Siedlungskern, die hernach sogenannte ‚alte Stadt‘, wurde wohl im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts ummauert. Etwas spa¨ter wurden die oberhalb/westlich gelegene ‚neue Stadt‘ sowie die unterhalb/o¨stlich situierte Unterstadt ebenfalls vom Mauerring eingefasst. Einige Jahrzehnte danach folgte westlich anschließend auch die Oberstadt, die – wie schon gesehen – zuna¨chst mitunter noch als ‚Oberdorf‘ erwa¨hnt wurde.53 Die vier Stadtteile waren nicht zuletzt in den u¨berlieferten Teilungsvertra¨-

48 Odile Kammerer, Colmar ville-e´tat et la puissante seigneurie des Ribeaupierre avant le XVIe sie`cle,

in: Les relations entre Etats et principaute´s des Pays-Bas a` la Savoie (XIVe-XVIe s.), hg. v. Jean-Marie Cauchies (Publication du Centre Europe´en d’E´tudes bourguignonnes XIVe-XVIe s., 32), Neuchaˆtel 1992, S. 99–114, hier S. 102f. und 109f. 49 Bernhard Kreutz, Rappoltsweiler, in: Die urbanen Zentren (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 497–499; Jordan, Herren (wie Anm. 33); Metz, Essai II (wie Anm. 19), S. 158–162. 50 MGH DD FI, Nr. 371, S. 232f. 51 Fu¨r die (auch herrschaftsgeschichtliche) Bedeutung des Weinbaus fu¨r Rappoltsweiler im Mittelalter besonders Jordan, Herren (wie Anm. 33). 52 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 92, S. 92. 53 Dazu und zum Folgenden Himly, Atlas (wie Anm. 46), S. 98f.; Lucien Sittler, Ribeauville´, in: Le Haut-Rhin (wie Anm. 18), Bd. 3, S. 1156–1165; Jordan, Herren (wie Anm. 33), hier besonders S. 131f.; Metz, Essai II (wie Anm. 19), S. 159f., mit Korrektur a¨lterer Annahmen u¨ber eine fru¨here Ummauerung Rappoltsweilers. Sehr zu beachten sind die ju¨ngeren archa¨ologischen Berichte bzw. Auswertungen zusammengefasst bei Yves Henigfeld, Ribeauville´ (Haut-Rhin), in: Arche´ologie des enceintes urbaines et de leurs abords en Lorraine et en Alsace (XIIe-XVe sie`cle), hg. v. Dems./Amaury Masquilier (Revue Arche´ologique de l’Est. Supple´ment 26), Dijon 2008, S. 211–223.

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gen des Hauses bestimmten Teilen und damit auch Burgen der Herrschaft zugeordnet. Die gleichwohl etwa von Alt- und Neustadt gemeinsam zu nutzende Allmende wurde bereits angesprochen. In den Jahrzehnten um 1300 differenzierte sich die werdende stat zvo Rapolzwilre54 insgesamt und in ihren vier Teilen obschon spa¨rlich dokumentiert auch gemeindlich aus, wobei die oberen beiden Stadtteile wie die unteren beiden je zusammen zeitweilig Verbundgemeinden bildeten. So traten deren nur selten explizit als ‚Rat‘ benannte Fu¨hrungsgremien im Verlauf des 14. Jahrhunderts, wenn auch nur vereinzelt, zum Beispiel siegelfu¨hrend auf.55 Ein Stadtrecht im eigentlichen Sinne ist nicht u¨berliefert, genaugenommen gar keine statutorische Befreiung der Einwohner. Die Stadt insgesamt wie in ihren Teilen erscheint vorrangig als o¨konomisch gefo¨rdert. So wurde erst 1403 eine Gewerbeordnung, wohlgemerkt keine Zunftordnung, erlassen, die nach ihrem Wortlaut eine Erneuerung darstellen sollte: Sie sei von geheiße, rate vnd vnderwisunge vnserre gnedigen herrscheffte von Rappolczstein, der edeln vnd der burgere gemeinlichen der stete Roppolczwiler errichtet worden.56 Der fu¨r Rappoltsweiler erstmals 1298 belegte allgemeine Markt wurde 1302 geteilt, weitere Ma¨rkte folgten, wie etwa der Fisch- und der Kornmarkt. Nach der Erwa¨hnung einer louben 1297 entstanden im 14. Jahrhundert verschiedene Handelshallen, etwa die Tuch-, die Brot- und die Fleischhalle. Neben intramuralen Mu¨hlen gab es auch eine o¨ffentliche Waage. Geldwechsler sind seit dem 14. Jahrhundert erwa¨hnt: 1342 kauften na¨mlich einige Lombarden zusammen mit Johann v. Rappoltstein die Trinkstube in der Oberstadt.57 Die um den Wein kreisenden Gewerbe dominierten aber wie in den meisten anderen Kleinsta¨dten am o¨stlichen Saum der Vogesen weithin das Wirtschaftsleben.58 Wie die Differenzierung von Gewerbe und Handel fa¨llt auch die Erweiterung der Sakraltopographie Rappoltsweilers mehrerteils in das 14. Jahrhundert, mithin in die Phase der Stadterweiterungen: Die Pfarrkirche St. Gregor ist zwar ausdru¨cklich erst seit dem 13. Jahrhundert belegt, kann aber gleichwohl als Altpfarre des Ortes angesehen werden. Außer verschiedenen Alta¨ren hatte sie im Verlauf des Spa¨tmittelalters noch drei Kapellen aufzuweisen. Ansonsten gab es in Rappoltsweiler seit den 1340er Jahren noch eine Katherinen- und eine Margarethenkapelle. Die Gemeinden der Stadtteile fundierten 1342 gemeinsam das Hospital. Neben der seit 1321 bezeug-

54 So erstmals 1290 in einer Wittumsverschreibung Anselms v. Rappoltstein bezeichnet, RUB (wie

Anm. 34), Bd. 1, Nr. 185, S. 139.

55 So der Rat der Niederstadt in den Jahren 1324 und 1327: RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 376, S. 273–275,

und Nr. 389, S. 283–285. 56 RUB (wie Anm. 34), Bd. 2, Nr. 692, S. 532. 57 Metz, Essai II (wie Anm. 19), besonders S. 161; Jordan, Herren (wie Anm. 33), S. 135–138; Franc¸ois

J. Himly, Die Erweiterung Rappoltsweilers und ihre sozialen Folgen im 13. und 14. Jahrhundert, in: Stadterweiterung und Vorstadt, hg. v. Erich Maschke/Ju¨rgen Sydow (VKomGLdkBW B 51), Stuttgart 1969, S. 101–106. 58 Außer den vorgenannten Titeln und Georges Bischoff, Les Ribeaupierres, seigneurs des Vosges, du vignoble et des valle´es, in: Annuaire de la Socie´te´ d’Histoire du Val de Lie`pvre 11 (1986), S. 11–25; zur regionalen Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter immer noch Hektor Ammann, Von der Wirtschaftsgeltung des Elsaß im Mittelalter, in: Alemannisches Jahrbuch 1955, S. 55–202.

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ten Reitebruderschaft59 gab es seit 1482 noch eine fraternitas s. Jacobi. Eine ju¨dische Gemeinde ist allerdings seit 1311 nachweisbar.60 ¨ berlieferung aufscheinende ‚o¨ffentliche‘ Leben in Rappoltsweiler, Das aus der U mithin auch die Beziehungen zwischen Herr(en) und Gemeinde(n), war u¨berhaupt stark von wirtschaftlichen und religio¨sen Aspekten gepra¨gt. 1297 riefen Heinrich v. Rappoltstein sowie milites et concives civitatis in Rapoltzwiler in einer gemeinsam ausgestellten Urkunde die Augustiner-Eremiten in die Stadt und garantierten zusammen den versprochenen Schutz des Konvents.61 Fu¨r das Verha¨ltnis zwischen Herrschaft und Gemeinde um 1300 sowohl in Rappoltsweiler als auch in Gemar sind hingegen die Vereinbarungen und Erla¨uterungen der Rappoltsteiner Herrschaftsteilung von 1298 gehaltvoll und bedeutsam, weil diese neben der dezidiert herrschaftlichen Perspektive eben die gezeigten Informationen zu jenen beiden Orten entha¨lt.

III.

Bei allen Unterschieden zwischen Ensisheim und Landser auf habsburgischer und Rappoltsweiler und Gemar auf rappoltsteinischer Seite ist es in der Summe doch bezeichnend, dass der herrschaftliche Nutzen gegenu¨ber einer kommunalen Entwicklung in diesen Kleinsta¨dten bzw. Amts- und Burgorten der jeweiligen Herrschaft, weithin die Oberhand behielt. „[D]es Kleinstadt-Historikers Not“62 an Quellen und deren fu¨r die betrachtete Zeit zumeist ohnehin herrschaftliche Provenienz stets eingedenk – was sagt dies u¨ber die Urbanisierung der beiden Herrschaften Rappoltstein und die Urbanita¨t der vier Orte aus? Wenn auch die Zentralorte dieser Herrschaften hinsichtlich ihrer kommunalen Verfasstheit und ihrer gemeindlichen „Handlungsspielra¨ume“63 offensichtlich schwach entwickelt waren und den Vorbildern nicht nur der Ko¨nigs- bzw. Reichssta¨dte, sondern auch anderer Kleinsta¨dte in der Region kaum nacheifern konnten, wollten oder durften, so zeigen deren Funktion fu¨r die Herrschaft, na¨mlich die Behauptung der jeweiligen Stadt nach außen im machtpolitisch-fortifikatorischen wie im repra¨sentativen Sinne, aber auch die

59 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 363, S. 266. 60 Barth, Handbuch (wie Anm. 18), Sp. 1090–1095; Metz, Essai II (wie Anm. 19), S. 158–160. 61 RUB (wie Anm. 34), Bd. 1, Nr. 215, S. 155f. Bemerkenswert ist dabei auch, dass die Gemeinde sich

darin als siegellos bezeichnet und daher der Beglaubigung durch dasjenige Heinrichs v. Rappoltstein zustimmt. 62 Herwig Weigl, Schriftlichkeit in einer spa¨tmittelalterlichen Kleinstadt. Verlorene Quellen und des Kleinstadt-Historikers Not, in: Mitteilungen des Instituts fu¨r o¨sterreichische Geschichtsforschung 100 (1992), S. 254–267. 63 Wie sinnvoll der Einsatz dieses Begriffs auch und gerade fu¨r kleinsta¨dtische Beispiele ist, zeigen etwa Stercken, Sta¨dte (wie Anm. 1), passim; Andreas Bihrer, Die Stadt Kaiserstuhl im Spa¨tmittelalter (1294–1415). Handlungsspielra¨ume und Funktionen einer Kleinstadt im Aargau, in: Argovia 118 (2006), S. 73–104.

Urbanisierung und Urbanita¨t in Texten adliger Herrschaftspraxis

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dort angesiedelten Stellen und Personen der Herrschaftsausu¨bung, wie zum Beispiel die Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde mit ihren Entwicklungsstufen, eben auch, wenngleich in deutlicher Abstufung, Urbanisierung und Urbanita¨t an. So waren die Richter, Schultheißen und andere nicht nur der verla¨ngerte Kontrollarm der Herrschaft, sondern boten regelma¨ßig anrufbare Rechtspflege, Schriftlichkeit und manches mehr. Dies sind Aspekte von ‚Ordnung‘, welche durch die gro¨ßeren, autonomeren Sta¨dte vorgelebt wurden und welche die Wahrnehmung von Urbanita¨t bei den Zeitgenossen stark beeinflussen mussten. Die sukzessive Urbanisierung einer Region manifestiert sich eben auch darin, dass selbst kleinere bis kleinste, stark aristokratisch gepra¨gte Orte sukzessive, aber nicht unbeschra¨nkt urbane Praktiken des o¨ffentlichen und privaten Lebens boten.64 Dies ist der eine Aspekt, welcher der Behauptung von ‚Stadt‘ in den betrachteten Texten adliger Herrschaftspraxis aus dem Oberelsass um 1300 zu Grunde zu legen ist. Der andere ist, wie bereits angefu¨hrt, wohl in der Repra¨sentation nach außen zu suchen – Herren hatten eben auch zu jener Zeit Sta¨dte zu haben –, was sich mit der inzwischen modifizierten Sichtweise auf Urbare und verwandte Quellensorten deckt, die eine eher normative bis repra¨sentative Funktion dieser Texte annimmt.65 Drittens, jedoch im direkten Anschluss daran, ist eine stabilisierende Funktion in die Herrschaft hinein vorstellbar: So ko¨nnen nicht nur Privilegien, sondern Urbare eben auch als Ergebnisse eines Aushandlungs- oder zumindest Kommunikationsprozesses verstanden werden. Die Behauptung von Stadt, oder genauer gesagt von besetzter bzw. angebotener Urbanita¨t, sollte mo¨glicherweise unter anderem den Zweck erfu¨llen, einen Ort rechtlich wie diskursiv attraktiver erscheinen zu lassen, um dadurch etwa einem Abzug der Einwohner in andere Sta¨dte der Region vorzubauen.66

64 Dazu ausfu¨hrlicher Zeilinger, Verhandelte Stadt (wie Anm. 1), passim; sowie Ders., Procurator,

Schaffner und Vogt in der Urbanisierung der Herrschaft Rappoltstein (13. – 15. Jahrhundert), in: Mittler (wie Anm. 30), S. 201–216. 65 Siehe etwa Roger Sablonier, Verschriftlichung und Herrschaftspraxis. Urbariales Schriftgut im spa¨tmittelalterlichen Gebrauch, in: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hg. v. Christel Meier/Volker Honemann/Hagen Keller/Rudolf Suntrup (MMS 79), Mu¨nchen 2002, S. 91–120, besonders S. 112f.; Ba¨rtschi, Urbar (wie Anm. 7), S. 11f. und o¨fter; Simon Teuscher, Erza¨hltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spa¨tmittelalter (Campus Historische Studien 44), Frankfurt a. M. 2007 – jeweils auch zu dem hier nicht eingehend behandelten Problem des Verha¨ltnisses von Mu¨ndlichkeit und Schriftlichkeit. 66 So etwa auch Karl-Heinz Spiess, Zur Landflucht im Mittelalter, in: Die Grundherrschaft im spa¨ten Mittelalter, hg. v. Hans Patze, Bd. I (VuF 27), Sigmaringen 1983, S. 157–204, hier S. 174f.; Gerhard Fouquet, Stadt, Herrschaft und Territorium – Ritterschaftliche Kleinsta¨dte Su¨dwestdeutschlands an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: ZGO 141 (1993), S. 70–120 – beide vornehmlich mit Bezug auf Privilegierungen hin zu sta¨dtischen oder stadta¨hnlichen Rechtsverha¨ltnissen.

DAS KONZIL IM GEDA¨ CHTNIS DER STADT Die Verhandlung von Wissen u¨ber die Vergangenheit in der sta¨dtischen Geschichtsschreibung am Oberrhein im 15. und 16. Jahrhundert von Pia Eckhart und Birgit Studt

In der Geschichtsschreibung des spa¨teren Mittelalters lassen sich neuartige Formen der Orientierung von historischem Wissen auf den Raum des Sta¨dtischen beobachten, die auf die besonderen Bedu¨rfnisse sta¨dtischer Gruppen und sta¨dtischer Identita¨tsbildung reagieren. Der zeitgeno¨ssische Umgang mit historiografischen Texten, die Anfertigung von Abschriften und Kompilationen sowie die mediale Aufladung von Handschriften durch Bilder und Wappen illustrieren Interessen und Mechanismen von Sinnstiftung, die als Ausdrucksformen von Urbanita¨t gedeutet werden ko¨nnen. Das Thema des Bandes gibt uns daher die Gelegenheit ein Forschungsvorhaben vorzustellen, das als erster Schritt fu¨r eine vergleichende Untersuchung der sta¨dtischen Geschichtsu¨berlieferung in Su¨dwestdeutschland gedacht ist. Daher werden im Folgenden nicht so sehr konkrete Ergebnisse und Beobachtungen, als vielmehr ¨ berlegungen zu der Frage vorgestellt, welche Rolle der Historiogramethodische U fie als besondere mediale Form von Manifestationen und Verhandlungen von Wissen u¨ber das Sta¨dtische zukam. In neueren Forschungen zur politischen Kommunikation in der mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Stadt wird auf die Herausbildung des politischen Raums durch sta¨dtische Sondergruppen und hierarchische Personenbeziehungen hingewiesen,1 der im Wesentlichen durch Symbole, ko¨rperliche Pra¨senz und Rituale gestaltet wurde. Durch diese wurde nicht nur die bestehende Machtordnung gefestigt und legitimiert, sondern sie waren daru¨ber hinaus selbst Funktionen von Herrschaft.2 In diesen

1 Vgl. Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spa¨tmittelalterlichen und

fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Gerhard Fouquet/Matthias Steinbrink/Gabriel Zeilinger (Stadt in der Geschichte 30), Ostfildern 2003. 2 Vgl. Rudolf Schlo ¨ gl, Interaktion und Herrschaft. Probleme der politischen Kommunikation in der Stadt, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (ZHF, Beih. 35), Berlin 2005, S. 115–128; Ders., Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Fru¨hen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224; Machtra¨ume der fru¨hneuzeitlichen Stadt, hg. v. Christian Hochmuth/ Susanne Rau (Konflikte und Kultur 13), Konstanz 2006; Gerd Schwerhoff, Handlungswissen und Wissensra¨ume in der Stadt. Das Beispiel des Ko¨lner Ratsherrn Hermann von Weinsberg (1518–1597), in: Tradieren, vermitteln, anwenden. Zum Umgang mit Wissensbesta¨nden in spa¨tmittelalterlichen und

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Interaktionsprozessen wurde der Schrift und damit der Geschichtsschreibung eine nur geringe mediale Kraft bzw. wirklichkeitskonstituierende Bedeutung zugewiesen. Dies ist zweifellos zutreffend, jedenfalls solange man den Blick auf die allein von der politischen Fu¨hrungsschicht getragene offizielle Chronistik beschra¨nkt.3 Entsprechend richtete sich die Aufmerksamkeit der bisherigen Forschung zur sta¨dtischen Historiografie in erster Linie auf das situativ gepra¨gte Handlungs- und Erfahrungswissen, das fu¨r die Gestaltung des politischen Raums der Stadt und die Legitimation von Herrschaft pra¨gend war.4 Das dahinter stehende diskursiv verhandelte oder reflektierte sta¨dtische Orientierungswissen wird sich aber mit einer solchen Beschra¨nkung auf einen vor allem gegenwartsorientierten und an einer schmalen politischen Fu¨hrungselite bezogenen Korpus von chronikalen Texten nicht fassen lassen.5 Zur Beschreibung eines umfassenderen Spektrums des in sta¨dtischen Kontexten rezipierten, benutzten und transformierten historischen Wissens ist daher auf ein weiter gefasstes Konzept von sta¨dtischer Geschichtsschreibung zuru¨ckzugehen,6 die ¨ berlieferungsform, in der nicht als eigene Gattung zu verstehen ist, sondern als eine U historisches Wissen unterschiedlicher Qualita¨t und Provenienz zusammenfließt und in sta¨dtischer Perspektive rezipiert wird. Harmonisierende Deutungen einer homogenen Geschichtsschreibung im Dienste der Stadt ko¨nnen aufgebrochen werden, indem man die gesamte Bandbreite einer von unterschiedlichen Akteuren bzw. gesellschaftlichen Gruppen getragenen, genutzten und umgepra¨gten historischen Wissenskultur in den Blick nimmt. Neuere Ansa¨tze der Historiografieforschung zur Vormoderne ermo¨glichen es, traditionelle Vorgehensweisen abzulo¨sen, die ihren Blick meist auf die gesellschaftliche Funktion von Geschichtsschreibung gerichtet hatten oder Historiografie als

fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten, hg. v. Jo¨rg Rogge (Beitra¨ge zu den Historischen Kulturwissenschaften 6), ¨ berlegungen zu RaumkonzepBerlin 2008, S. 61–102; Jo¨rg Rogge, Politische Ra¨ume und Wissen. U ten und deren heuristischem Nutzen fu¨r die Stadtgeschichtsforschung (mit Beispielen aus Mainz und Erfurt im Spa¨tmittelalter), in: ebd., S. 115–154; Ders., Stadtverfassung, sta¨dtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual in deutschen Sta¨dten des 14. – 16. Jahrhunderts, in: Aspekte und Bestandteile der sta¨dtischen „Identita¨t“ in Italien und Deutschland im 14. – 16. Jahrhundert, hg. v. Giorgio Chittolini/Peter Johanek (Aspetti e componenti della „identita`“ urbana in Italia e in Germania secoli XIV–XVI) (Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento/Italienisch-Deutsches Historisches Institut 12), Berlin/Bologna 2003, S. 193–229. 3 Dies wird in den Arbeiten von Regula Schmid Keeling deutlich, die gegenu¨ber der Wirkung der amtlichen Historie im Arkanbereich des Rates auf die kommunikationsstrukturierende Wirkung von symbolischen Handlungen, Denkma¨lern und o¨ffentlichen Zeichen verweist: Dies., Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2009; Dies., Reden, Rufen, Zeichensetzen. Politisches Handeln wa¨hrend des Berner Twingherrenstreits (1469–1471), Zu¨rich 1995. 4 Zum Zusammenhang von amtlicher Historie und Politik der eidgeno¨ssischen Sta¨dten vgl. Schmid Keeling, Geschichte (wie Anm. 3). 5 Zur grundsa¨tzlichen Unterscheidung von Orientierungs- und Verfu¨gungswissen, die fu¨r die moderne Wissenssoziologie wichtig geworden ist, siehe Ju¨rgen Mittelstrass, Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt a. M. 1989. 6 In einzelnen programmatischen Fallstudien zum Sammelband Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im spa¨ten Mittelalter, hg. v. Hans Patze (VuF 31), Sigmaringen 1987, wurde dies exemplarisch vorgefu¨hrt.

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Aspekt von Erinnerungskulturen verstanden.7 Diese aktuellen Theorien sprechen pra¨ziser von Funktionsangeboten und gehen konsequent von Erwartungshaltungen und Wissenshorizonten des Publikums aus.8 Sie stellen das durch andere Gebrauchszusammenha¨nge erweiterte Funktionspotential von historiografischen Texten in den Mittelpunkt, das nun abgelo¨st von den urspru¨nglichen Intentionen der Autoren verstanden wird, und sie werfen einen versta¨rkten Blick auf die soziale Logik der Texte und auf Refunktionalisierungen in spa¨teren Gebrauchssituationen. Bislang ist noch keine ada¨quate Kategorie gefunden worden, welche die durch den sta¨dtischen Lebenszusammenhang gepra¨gten Formen des Umgangs mit tradiertem historischem, sozialem und politischem Wissen charakterisieren ko¨nnte. Das Projekt untersucht daher Konstruktionen von Wissen u¨ber die Vergangenheit in der Geschichtsschreibung, die im Geda¨chtnis der Stadt verhandelt werden. D. h. wir fragen danach, wie sich verschiedene durchaus auch miteinander konkurrierende soziale Gruppen durch Formen historiografischer Kommunikation auf ho¨chst unterschiedliche Weise in den sta¨dtischen Raum einschrieben, ihn mit Sinn aufluden und dadurch wiederum gesellschaftliche Wirklichkeit hervorbrachten. Unser Ziel ist es, mit Hilfe der Historiografie stereotype Auffassungen u¨ber die Stadt, wie sie sich in normativen Schriften manifestierten und dort reproduziert wurden,9 in ein dynamisches und differenziertes Bild aufzulo¨sen. Denn die im Zuge der hochmittelalterlichen Kommunebewegung entstandene Vorstellung und bis in die neuere Forschung rezipierte Idee der sta¨dtischen Autonomie und Einheit stand immer quer zu partikularen Interessen innerhalb der Stadt.10 Wa¨hrend des Spa¨tmittelalters entstand keine funktionale Differenzierung sta¨dtischer Gesellschaften, sondern vielmehr eine korporative, aber hierarchische Vergesellschaftung von Personengruppen, die in ho¨chst unterschiedlicher Weise an den kommunikativen, sozialen und o¨konomischen Ressourcen der Macht Anteil hatten. Dies erforderte Formen der politischen Integration und der Herstellung von Konsens zwischen Herrschaftstra¨gern und sozialen Gruppen in der Stadt, die in der sta¨dtischen Historiografie und Geschichtsu¨berlieferung verhandelt wurden. Formen historiografischen 7 Vgl. etwa Adelige und bu¨rgerliche Erinnerungskulturen des Spa¨tmittelalters und der Fru¨hen Neuzeit,

hg. v. Werner Ro¨sener (Formen der Erinnerung 8), Go¨ttingen 2000. Sta¨rker auf den Hof fixiert sind die Studien im Band: Mittelalterliche Fu¨rstenho¨fe und ihre Erinnerungskulturen, hg. v. Carola Fey/Steffen Krieb/Werner Ro¨sener (Formen der Erinnerung 27), Go¨ttingen 2007, sowie Fu¨rstenhof und Sakralkultur im Spa¨tmittelalter, hg. v. Werner Ro¨sener/Carola Fey (Formen der Erinnerung 35), Go¨ttingen 2008. Vgl. zur Stadt auch Sascha Mo¨bius, Das Geda¨chtnis der Reichsstadt. Unruhen und Konflikte in der lu¨beckischen Chronistik und Erinnerungskultur des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit (Formen der Erinnerung 47), Go¨ttingen 2011. 8 Einen U ¨ berblick u¨ber aktuelle Ansa¨tze der Historiografieforschung zum Spa¨tmittelalter und zur fru¨hen Neuzeit bieten Susanne Rau/Birgit Studt, Einleitung, in: Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350–1750), hg. v. Dens., Berlin 2010, S. 1–10. 9 Vgl. etwa Wie men wol eyn statt regyrn sol. Didaktische Literatur und berufliche Schreiben des Johann von Soest, gen. Steinwert, hg. v. Heinz-Dieter Heimann, Soest 1986. Vgl. auch zu Stadtentwu¨rfen in theologischen und juristischen Schriften Ulrich Meier, Mensch und Bu¨rger. Die Stadt im Denken spa¨tmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, Mu¨nchen 1994. 10 Vgl. Barbara Frenz, Gleichheitsdenken in deutschen Sta¨dten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion (StF A 52), Ko¨ln/Weimar/Wien 2000. Vgl. dazu die Rezension von Knut Schulz, in: ZHF 30 (2003), S. 303f.

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Wissens sind darum nicht als ein einmal gesammeltes und unvera¨nderliches Speicherwissen zu verstehen. Entsprechend ging die Funktionalisierung und Refunktionalisierung historiografischen Wissens nicht nur vom Rat aus, sondern wurde von verschiedenen daran interessierten Gruppen in der Stadt getragen. Damit verstehen wir die sta¨dtische Geschichtsschreibung in weiter gefasstem Sinn, als es bislang in den neueren Ansa¨tzen der Historiografieforschung geschehen ist. Um ein mo¨glichst großes Spektrum von Formen historiografischer Kommunikation als Produkte dieser Verhandlungen von Vergangenheit erfassen zu ko¨nnen, soll a) statt einer Konzentration auf die „amtliche Geschichtsschreibung“ die historiografi¨ berlieferung in der Stadt unter Beru¨cksichtigung sa¨mtlicher Tra¨gerschichten in sche U den Blick genommen werden, und b) die Geschichtsschreibung nicht von vornherein durch gattungsspezifische Kategorisierungen begrenzt,11 sondern in all ihren formalen, materiellen und medialen Erscheinungsformen ernst genommen, sowie c) ‚sta¨dtisch‘ nicht als thematisch an die Stadt als Institution gekoppelt definiert werden.12 ¨ berlieferungskomplexe in den Blick, die sonst randsta¨ndig bleiben Damit ru¨cken U wu¨rden. Eine sta¨dtische Geschichtsschreibung in diesem Sinne war somit nicht allein von den Interessen einer kleinen politischen Elite gepra¨gt und diente nicht vornehmlich der Legitimation ihrer Herrschaft, sondern wurde auch von anderen sozialen Gruppen und Institutionen getragen, so von fu¨rstlichen und bischo¨flichen Ho¨fen in einer Residenz, Zu¨nften und Familienclans sowie Stiften und Klo¨stern innerhalb der Stadt. Zwischen ihnen bestanden personelle Verbindungslinien, aber u¨ber einzelne Mitglieder auch Verflechtungen u¨ber die Grenzen der einzelnen Sta¨dte hinweg. Das Projekt soll sich nicht nur mit Aufzeichnungen der Gegenwartsgeschichte als politischem Handlungswissen einer schmalen Fu¨hrungselite befassen, sondern analysieren, wie im Medium der Historiografie verbreitetes und reflektiertes gesellschaftliches Orientierungswissen in Verfu¨gungswissen fu¨r urbane Lebenszusammenha¨nge umgepra¨gt wurde. Damit gera¨t Welt-Wissen aus der Spha¨re der gelehrten lateinischen Universalhistoriografie ebenso in den Blick wie auch die Berichterstattung u¨ber aktuelle Ereignisse, die in einem u¨berlokalen urbanen Kommunikationsraum wahrgenommen wurden. Zur Beschreibung dieser Pha¨nomene operieren wir mit dem Konzept des Geda¨chtnisses, dessen dynamischen Charakter die ju¨ngere Forschung zu den Cultural Memory Studies herausgearbeitet hat. Diese Dynamik zeigt sich in zwei zentralen Merkmalen, na¨mlich im sta¨ndigen Gegenwartsbezug des Geda¨chtnisses und seiner Funktion im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, insbesondere auch von Geschichtsbildern.13 Das Geda¨chtnis ist demnach mehr als 11 Vgl. zu Gattungskategorien sta¨dtischer Geschichtsschreibung Oliver Plessow, Die umgeschriebene

Geschichte. Spa¨tmittelalterliche Historiographie in Mu¨nster zwischen Bistum und Stadt (Mu¨nstersche Historische Forschungen 14), Ko¨ln/Weimar/Wien 2006. 12 Vgl. Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nu¨rnbergs Entdeckung in Texten um 1500 (Mittelalter Forschungen 26), Ostfildern 2009. 13 „Das kollektive Geda¨chtnis ist ein Oberbegriff fu¨r alle jene Vorga¨nge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwa¨rtigen in soziokulturellen Kontexten zukommt.“ Astrid Erll, Kollektives Geda¨chtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einfu¨hrung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 5f. Den vorla¨ufigen Forschungsstand zu

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ein bloßer Wissensspeicher; fu¨r eine neue Konzeptualisierung der mittelalterlichen Geschichtsschreibung ist der Begriff dazu geeignet, die Aktualisierung, Aneignung und Transformation von historischem Wissen ada¨quat zu beschreiben. Das Projekt versteht sta¨dtische Geschichtsschreibung darum nicht als prima¨r von der Obrigkeit gesteuert und produziert, sondern interessiert sich fu¨r alle Formen historiografischer Kommunikation, die in der Geschichtsschreibung als dem Geda¨chtnis der Stadt nicht nur gespeichert, sondern auch verfu¨gbar gehalten wurde. Dies bedeutet auch, dass dieses historische, soziale und religio¨se sowie heraldische Wissen stets verhandelt werden musste, da nicht eine Gruppierung unangefochten die Geschichtshoheit in der Stadt wahren konnte. Die Verhandelbarkeit historischen Wissens scheint dessen Einschreibung ins Geda¨chtnis einer Stadt erst mo¨glich gemacht zu haben. Denn nur solange es als lohnend empfunden wurde, das Wissen u¨ber die Vergangenheit und seine Bedeutung fu¨r die Gegenwart zu kontrollieren, blieb es relevant und damit vor dem Vergessen gefeit.14 Mit dem Geda¨chtnis ist ein Schlu¨sselbegriff der kulturgeschichtlichen Forschung angesprochen, deren Ergebnissen dieses Projekt durchaus verpflichtet ist. Doch zielt es nicht darauf, die Geschichtsschreibung als Teil der Erinnerungskultur zu untersuchen. Vielmehr bietet der Begriff Geda¨chtnis in Anwendung auf die sta¨dtische Geschichtsschreibung einen Zugang zu den hier interessierenden Refunktionalisierungen eines vielschichtig u¨berlieferten und das Geda¨chtnis der Stadt pra¨genden Texts wie der Konstanzer Konzilschronik des Ulrich Richental. Eine Schlu¨sselfunktion fu¨r das Nachdenken, Reden und Handeln innerhalb des sta¨dtischen Gemeinwesens hatte in Konstanz das Generalkonzil, das hier von 1414 bis 1418 als großer internationaler Kongress stattfand. Mit der Konzilschronik des Konstanzer Bu¨rgers Ulrich Richental erhielt die Stadt einen zentralen historiografischen Ort, in den sich die unterschiedlichen sta¨dtischen Gruppen einschrieben.15 Ulrich Richental wertete in seiner Chronik, die er ohne offiziellen Auftrag, aber

den Cultural Memory Studies markiert der neuere Sammelband von Astrid Erll und Ansgar Nu¨nning, der aus dem Kontext der Arbeiten des Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen“ heraus ho¨chst heterogene Ansa¨tze zusammenbringt, vgl. A Companion to Cultural Memory Studies, hg. v. Astrid Erll/ Ansgar Nu¨nning, Berlin/New York 2010. Die fu¨r die Textwissenschaften wichtigsten Ansa¨tze fu¨hren insbesondere die Forschung von Aleida Assmann fort. Vgl. zum Verha¨ltnis von Geschichte und Geda¨chtnis Aleida Assmann, Erinnerungsra¨ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Geda¨chtnisses, Mu¨nchen 1999, bes. S. 130–145. 14 Vgl. Ann Rigney, The Dynamics of Remembrance. Texts between Monumentality and Morphing, in: A Companion to Cultural Memory Studies, hg. v. Astrid Erll/Ansgar Nu¨nning, Berlin/New York 2010, S. 345–353, hier S. 346. 15 Vgl. Helmut Maurer, Das Konstanzer Konzil als sta¨dtisches Ereignis, in: Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Institution und Personen, hg. v. Heribert Mu¨ller/Johannes Helmrath (VuF 67), Ostfildern 2007, S. 149–172. Zwar gab es seit dem 14. Jahrhundert verstreute Darstellungen u¨ber Herkunft, Identita¨t und Interessen einzelner sta¨dtischer Akteure, doch hat erst die Bescha¨ftigung mit dem kirchenpolitisch so einflussreichen Konstanzer Konzil das Geda¨chtnis der Stadt nachhaltig gepra¨gt. Den gegenwa¨rtigen Forschungsstand referieren die Artikel von Andreas Bihrer, Chronicon Constantiense/Konstanzer Chronik; Gebhard Dacher; Henry of Diessenhofen; Henry of Klingenberg; Nicolaus Schulthaiss; Johann Stetter; Heinrich von Tettigkofen, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle, hg. v. Graeme Dunphy, Leiden/Boston 2010, S. 321, 502–503, 761, 762–763, 767–768, 1343–1345, 1392.

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wohl doch mit Unterstu¨tzung der verschiedenen sta¨dtischen, kirchlichen und fu¨rstlichen Amtstra¨ger schrieb, Materialien und eigene Beobachtungen zur Berichterstattung u¨ber die Konzilsereignisse aus. Sein Interesse galt kaum den internen theologischen und politischen Auseinandersetzungen auf dem Konzil, viel mehr dagegen den Abla¨ufen und repra¨sentativen Ereignissen wa¨hrend des jahrelangen Zusammenlebens der Bu¨rger und Konzilsbesucher innerhalb der Konstanzer Stadtmauern: Einzu¨ge, Prozessionen, Gottesdienste, feierliche Belehnungen, das Konklave. Bei Richental erscheint Konstanz fu¨r vier Jahre als Mittelpunkt der Welt, und seine Chronik bietet den Entwurf einer wohlgeordneten Stadt, der die logistische Herausforderung, eine so große politische Versammlung u¨ber lange Zeit zu beherbergen und zu versorgen, reibungslos gelang. Angesichts des 600-ja¨hrigen Jubila¨ums des Konstanzer Konzils (2014–2018) richtet sich ein besonderes Interesse auf das einzigartige Zeugnis der Konzilschronik des Ulrich Richental, und nicht nur in der popula¨ren Geschichtskultur. Dieses Interesse gilt es zu nutzen, wobei jedoch der prominente Schlu¨sseltext der Konstanzer Konzilschronik gleichsam gegen den Strich der o¨ffentlichen Wahrnehmung analysiert werden soll. Die Konzilschronik darf nicht allein als Augenzeugenbericht fu¨r die Zeit des Konzils untersucht werden, da schon eine oberfla¨chliche Sondierung der ¨ berlieferungsgeschichte deutlich macht, dass die Bescha¨ftigung mit dem KonstanU zer Konzil spezifische Formen von Wissensarrangements hervorbrachte, in denen sich der Text von seinem Verfasser Ulrich Richental emanzipierte. Die Konstanzer Konzilschronik erha¨lt ihre Bedeutung daru¨ber hinaus auch durch ¨ berliedie raumu¨bergreifende Vernetzung mit anderen Sta¨dten, die sich an ihren U ferungskonstellationen ablesen lassen. Fu¨r die Untersuchung dieser Vernetzung bot ¨ bersich eine Fokussierung auf den Oberrhein als einer zentralen historischen U 16 lieferungslandschaft im deutschsprachigen Raum an. Denn in den drei geistlichen Metropolen Straßburg, Basel und Konstanz als kulturellen Zentren des Oberrheingebiets entfaltete sich eine differenzierte urbane Geschichtsschreibung zwischen Hof und Stadt. Die drei Bischofssitze am Oberrhein waren im Spa¨tmittelalter u¨ber Mehrfachbepfru¨ndungen an den Kirchen und familia¨re Bindungen eng miteinander verknu¨pft, so dass sich ein dichtes Kommunikationsnetz ausbildete.17 Sie unterschie16 Vgl. den Sammelband Kulturtopographie des deutschsprachigen Su¨dwestens im spa¨teren Mittelalter.

Studien und Texte, hg. v. Barbara Fleith/Rene´ Wetzel (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), Berlin 2009. Darin setzen sich die Beitra¨ge von Andreas Bihrer und Johanna Thali mit dem Ansatz der regionalen Literaturforschung auseinander; der Beitrag von Martina Backes nimmt konkret den Oberrhein in den Blick. Siehe Andreas Bihrer, Repra¨sentationen adelig-ho¨fischen Wissens – ein Tummelplatz fu¨r Aufsteiger, Außenseiter und Verlierer. Bemerkungen zum geringen gesellschaftlichen Stellenwert ho¨fischer Literatur im spa¨ten Mittelalter, in: ebd., S. 215–228; Johanna Thali, Regionalita¨t als Paradigma literarhistorischer Forschung zur Vormoderne. Das Beispiel des Benediktinerinnenklosters St. Andreas in Engelberg, in: ebd., S. 229–262; Martina Backes, Literarische Kommunikationswege am Oberrhein, in: ebd., S. 1–12. Vgl. auch Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im spa¨ten Mittelalter, hg. v. Peter Kurmann/Thomas Zotz (VuF 68), Ostfildern 2008. 17 Vgl. dazu nur Andreas Bihrer, Der Konstanzer Bischofshof im 14. Jahrhundert. Herrschaftliche, soziale und kommunikative Aspekte (Residenzenforschung 18), Ostfildern 2005; Karl Weber, Eine Stadt und ihr Bischofshof. Straßburg im 13. Jahrhundert bis in die Zeit Bischof Konrads III. von Lichtenberg (1237–1299), in: Fu¨rstenho¨fe und ihre Außenwelt. Aspekte gesellschaftlicher und kultureller

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den sich von anderen urbanen Zentren des Raums, da innerhalb ihrer Mauern ho¨fische und bu¨rgerliche Gruppen interagierten. Hierbei ergaben sich in manchen Konstellationen unklare und wechselnde Frontlinien, auch das Verha¨ltnis zwischen Rat und Bischofshof konnte verschiedene Formen annehmen. Zugleich bildeten die drei Sta¨dte Produktionsorte gelehrten Wissens, jedoch in ganz unterschiedlicher Gestalt. Die Bischo¨fe in Konstanz, Basel und Straßburg hatten zwar schon lange zuvor die meisten stadtherrlichen Rechte verloren und hielten sich im Spa¨tmittelalter meist in Residenzen außerhalb der Bischofssta¨dte auf, doch blieben die Domherren und Teile des Hofes, Gelehrte und gut ausgebildete Amtstra¨ger wie Advokaten, Notare und Prokuratoren durchaus noch la¨nger in der sta¨dtischen Kultur pra¨sent.18 Diese komplexe Ausgangslage erhielt zusa¨tzlich durch die sich zeitweise als Institutionen verstetigenden Konzilien von Konstanz und Basel, durch die Universita¨t in Basel und durch humanistische Zentren des Buchdrucks noch scha¨rfere Konturen. Somit entstanden trotz der a¨hnlichen sozialen und herrschaftlichen Strukturen sehr stark differierende Auspra¨gungen historiografischer Produktion und Nutzung. Die Erforschung der Bischofssta¨dte verdeutlicht darum im besonderen Maße die Notwen¨ ffnung des Untersuchungsgegenstands der sta¨dtischen Geschichtsdigkeit einer O schreibung hin zu heterogenen und differenzierten Produktions- und Rezeptionsverha¨ltnissen. Gleichzeitig ko¨nnen anhand der Konstanzer Konzilschronik sowie vergleichend herangezogener, ausgewa¨hlter Schlu¨sseltexte in Konstanzer, Basler und Straßburger Handschriften u¨berlokal ablaufende Prozesse der Adaption, Transformation und Integration von Geschichtsschreibung im Oberrheingebiet nachgezeichnet werden. Die Forschungen zur Konzilschronik des Ulrich Richental gehen weit zuru¨ck und haben mit der Vorlage einer Neuedition durch Thomas Martin Buck neue Impulse erhalten.19 Die dieser als popula¨re Ausgabe zugrunde liegenden textgeschichtlichen ¨ berUntersuchungen machen erst eine weitergehende Bescha¨ftigung mit einzelnen U 20 lieferungskomplexen mo¨glich. Bislang war der Umgang mit den Textzeugen stets auf den verlorenen ‚Originaltext‘ fokussiert, und das allgemeine Erkenntnisinteresse Identita¨t im deutschen Spa¨tmittelalter, hg. v. Thomas Zotz (Identita¨ten und Alterita¨ten 16), Wu¨rzburg 2004, S. 131–160; Mathias Ka¨lble, Bischo¨flicher Hof in Basel zwischen Stadt, Adel und Reich vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, in: ebd., S. 161–200. 18 Vgl. zur Pra¨senz des Bischofs in Konstanz Jeffrey Tyler, Lord of the sacred city. The episcopus exclusus in late medieval and early modern Germany (Studies in medieval and Reformation thought 72), Leiden 1999, mit Hinweisen zur Forschung zu Basel und Straßburg auf S. 32–34. 19 Chronik des Konstanzer Konzils 1414–1418 von Ulrich Richental, hg. v. Thomas Martin Buck (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 41), Ostfildern 2010. Vgl. zur a¨lteren Forschung Stefan Weinfurter, Zum Gestaltungsprinzip der Chronik des Ulrich Richental, in: Freiburger Dio¨zesanarchiv 94 (1974), S. 517–531. Vgl. auch Wilhelm Matthiessen, Ulrich von Richentals Chronik des Konstanzer Konzils, in: Annuarium Historiae Conciliorum 17 (1985), S. 71–191 und 324–455. Weiterhin wurde in einer kunsthistorischen Arbeit der Rezeption der Illustrationszyklen der Konzilschronik nachgegangen, vgl. Gisela Wacker, Ulrich Richentals Chronik des Konstanzer Konzils und ihre Funktionalisierung im 15. und 16. Jahrhundert, Diss. Tu¨bingen 2001, abrufbar unter https://publikationen.unituebingen.de/xmlui/handle/10900/46177 (Zugriff Mai 2015). 20 Die Ergebnisse von Thomas Martin Bucks unvero¨ffentlichter Habilitationsschrift „Textkritische Untersuchungen zur Konzilschronik Ulrich Richentals. Auf dem Weg zu einer Neuedition“ sind in mehrere Aufsa¨tze eingeflossen, die bei Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. LIVf., zusammengestellt sind.

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in der Forschung liegt trotz neuer Einsichten in die Textu¨berlieferung noch immer auf dem Autor Ulrich Richental und seiner Augenzeugenschaft fu¨r das Konzil.21 Demge¨ berlieferungsgenu¨ber wa¨hlt das Projekt einen neuen, konsequent an der gesamten U geschichte und daraus zu betrachtenden paradigmatischen Einzelhandschriften orientierten Ansatz, in welchem die Eigensta¨ndigkeit der verschiedenen Textfassungen unabha¨ngig von der Autorenfigur Richental beleuchtet werden soll.22 Dieser neue Blick auf die sta¨dtische Geschichtsschreibung fu¨hrt weg vom Ereignis hin zur Historiografie als Teil des Geda¨chtnisses der Stadt hinsichtlich der Aktualisierung, Aneignung und Transformation von historischem Wissen. Die Chronik des Konstanzer Konzils soll darum in drei einander erga¨nzenden Zugriffen als ein zentraler historiografischer Geda¨chtnisort untersucht werden. Einerseits sollen die wichtigsten Rezeptionsphasen der Konzilschronik analysiert und zuna¨chst nach den Gru¨nden fu¨r das intensive Interesse an dem Text im spa¨ten 15. Jahrhundert gefragt werden (Fallstudie 1). Die Adaptionen und Transformationen der Konzilschronik wa¨hrend der Reformationszeit als zweiter intensiver Rezeptionsphase bilden den Gegenstand der daran anschließenden Untersuchung (Fallstudie 2). Erweiternd und erga¨nzend wird der Rolle der Konzilschronik im intersta¨dti¨ berlieferung und der Vernetzung von weischen Austausch der historiografischen U teren Schlu¨sseltexten des Oberrheingebiets nachgegangen. Neben der Konzilschronik soll hier auch die gelehrt-lateinische sowie deutschsprachige Universalhistoriografie, wie die Chronik Jakob Twingers von Ko¨nigshofen, die Flores temporum oder die Konstanzer Weltchronik mit Blick auf die u¨berlokale sta¨dtische Produktion von historiografischem Wissen untersucht werden (Fallstudie 3).

I.

Die erste der genannten Fallstudien ist unter dem Titel „Transformation und Nutzung der Konstanzer Konzilschronik im spa¨ten 15. Jahrhundert“ konzipiert worden. In ihr soll es konkret um die in den 1460er Jahren fassbare Rezeption der Konzilschronik in Konstanz und am Oberrhein gehen, auf die die meisten der heute vorliegenden sechzehn Handschriften zuru¨ckgehen. Es wird nach den Gru¨nden fu¨r die Abschrift, Transformation und nicht zuletzt fu¨r die Publikation des Textes durch die Drucklegung im spa¨ten 15. Jahrhundert gefragt, zu einem Zeitpunkt, als die Ereignisse des Konzils bereits Jahrzehnte zuru¨cklagen. In dieser Zeit entstanden die mit

21 Vgl. die Diskussionen zu den Vortra¨gen der Herbsttagung „Das Konstanzer Konzil als europa¨isches

Ereignis. Begegnungen, Medien und Rituale“ des Konstanzer Arbeitskreises von 2011, Tagungsbericht unter http://wp.konstanzer-arbeitskreis.de/tagungen (Zugriff Mai 2015). 22 So hat Thomas Martin Buck fu¨r die Konstanzer Handschrift eine gezielte redaktionelle Anonymisie¨ berrung der Konzilschronik festgestellt und vom „Verlust des Autors“ gesprochen, vgl. Ders., Zur U lieferung der Konstanzer Konzilschronik Ulrich Richentals, in: DA 66 (2009), S. 93–108, hier S. 96. Vgl. auch Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. XXIV–XXXV, bes. S. XXV.

Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt

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einem Bildprogramm ausgestatteten, monographischen Fassungen der Chronik, die von der Forschung als Haupthandschriften fu¨r den Text Richentals gelten, vor allem die sogenannte Aulendorfer Handschrift (heute New York, Public Library, Spencer Collection, Nr. 32) oder auch die Konstanzer Handschrift, heute im Konstanzer Rosgartenmuseum. Besondere Aufmerksamkeit wird das Projekt jedoch auf die als ¨ berlieferungsgruppe legen. Die seit „Mischhandschriften“ zu bezeichnende (dritte) U den 1460er Jahren greifbare Rezeption der Konzilschronik wurde bislang mit dem politischen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der Stadt nach der Eroberung des Thurgaus – also des natu¨rlichen Hinterlands der Stadt Konstanz – durch die Eidgenossen im Jahr 1460 zu erkla¨ren versucht. Dieser Bedeutungsverlust habe dazu gefu¨hrt, dass sich das Selbstversta¨ndnis der Stadt immer mehr aus der geschichtlichen Erinnerung an das Großereignis Konzil gespeist habe, womit die Konzilschronik als „Bestandteil der nachkonziliaren kollektiven Geda¨chtnis- und Geschichtskultur“ bewahrt und tradiert werden sollte.23 Demgegenu¨ber mu¨sste man jedoch auch nach den spezifischen Qualita¨ten und Potentialen eines offenen Texts wie der Konzilschronik fragen, die nicht nur weitertradiert, sondern in vielgestaltiger Weise vera¨ndert und offensichtlich an verschiedene Bedu¨rfnisse angepasst werden konnte. Dies zeigt die Gruppe der Mischhandschriften, in denen, wie die der Neuedition von Thomas Martin Buck zugrundeliegenden Textvergleiche gezeigt haben, unterschiedliche Fassungen der Chronik zusammengezogen und miteinander kombiniert wurden. Hier ko¨nnen exemplarische Analysen das Neuarrangement des Wissens u¨ber das Konzil und damit die eigene Vergangenheit transparent machen, ebenso wie die damit einhergehenden neuen Sinnstiftungen. Hierfu¨r werden ausgehend von der Forschung noch kodikologische Untersuchungen, Textvergleiche sowie -analysen notwendig werden, da viele der interessierenden Handschriften noch nicht in ihrem Gesamtzusammenhang, sondern nur mit Blick auf ihre Na¨he zum ‚Urtext‘ untersucht worden sind. Einen wichtigen Knotenpunkt im 15. Jahrhundert stellt weiterhin das ‚Geschichtsbu¨ro‘ des Konstanzer Bu¨rgers und Ratsherrn Gebhard Dacher dar, aus welchem nachweislich fu¨nf der erhaltenen Handschriften der Konzilschronik stammen.24 Gebhard Dacher ist zudem der Verfasser einer deutschsprachigen Chronik von Stadt und Bistum Konstanz von der Gru¨ndung bis zum Jahr 1470. Die vollsta¨ndige, illustrierte und mit Wappen versehene Handschrift wurde von Sandra Wolff ediert.25 Da in dieser Edition die von Dacher herangezogenen Quellen nicht aufgearbeitet sind, ist Dachers Arbeitsweise bislang nur in groben Umrissen erkennbar. Der Konstanzer Bu¨rger ließ in seiner Schreibwerkstatt nicht nur einfache Kopien der Konzilschronik herstellen, sondern schuf u¨ber die Umordnung 23 Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. XXXV. Vgl. hierzu auch das Dissertationsprojekt an der Universita¨t

Freiburg von Julian Happes, Transformation und Nutzung der Konstanzer Konzilschronik im spa¨ten 15. Jahrhundert. 24 Vgl. zur Gruppe der mit Gebhard Dacher in Verbindung stehenden Handschriften Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. XXVIIf., XXXIII u. LIX. 25 Die „Konstanzer Chronik“ Gebhart Dachers: „By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding vnd sachen ...“ Codex Sangallensis 646: Edition und Kommentar, hg. v. Sandra Wolff (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 40), Ostfildern 2008.

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der Textteile auch neue Wissensarrangements, die eine grundlegende Untersuchung verdienen.26 Exemplarisch hierfu¨r kann die sogenannte St. Georgener-Chronikversion stehen, die heute in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe aufbewahrt wird (Cod. St. Georgen 63). Diese Handschrift steht im engen textgeschichtlichen Zusammenhang mit der von Anton Sorg 1483 in Augsburg besorgten Druckfassung der Chronik.27 Hier ist nach den Funktionen des Buchdrucks fu¨r die Selektion und Weiterverbreitung sowie mo¨glicherweise fu¨r die Entstehung neuer Wissensordnungen in einer vorwiegend handschriftlich gepra¨gten Geschichtskultur zu fragen. Die Konzilschronik bot zudem mit ihrer umfangreichen Wappensammlung im Anhang vielfach Anknu¨pfungspunkte zur Anlagerung und Dokumentation von heraldischem Wissen fu¨r Benutzer aus dem Kreis sta¨dtischer wie adlig-ho¨fischer Eliten.28 Nicht nur die Illustrationen des Konzilsgeschehens in der Konstanzer Konzilschronik des Ulrich Richental werden durch heraldische Darstellungen gepra¨gt, im zweiten Teil der Chronik sind auch in einigen der u¨berlieferten Handschriften die Konzilsteilnehmer mit u¨ber 800 Wappen dokumentiert. Im gesamten Bodenseeraum finden sich in dieser Zeit Beispiele fu¨r ein gesteigertes historiografisch-heraldisches Interesse. Die Konstanzer Chronik des Gebhard Dacher ist mit 600 Wappendarstellungen ausgestattet, ebenso spielen Wappen in den u¨brigen Handschriften aus der Werkstatt Dachers eine besondere Rolle. Wenig spa¨ter fertigte der Konstanzer Patrizier Konrad Gru¨nenberg, dessen gesamtes Œuvre durch die Darstellung von heraldischem Wissen gepra¨gt ist, sein Wappenbuch an.29 Ungefa¨hr zur gleichen Zeit hat der St. Galler Abt Ulrich Ro¨sch (1463–91) ein um 1470 angefertigtes Wappenbuch des su¨ddeutschen Turnieradels erworben, dessen Darstellungen dem ¨ hem zu Beginn des 16. Jahrhunderts mo¨glicherweise als Geschichtsschreiber Gallus O Vorlage fu¨r die Anfertigung der Vasallen- und Ministerialenwappen in seiner Reichenauer Chronik gedient haben.30 Derartige Beispiele fu¨r die Verarbeitung von heraldischem Wissen in sta¨dtischer Historiografie macht die Frage nach den Gru¨nden und 26 Teiledition einer Bearbeitung der Konzilschronik von Constantin Ho ¨ fler, in: Fontes rerum Austria-

carum. Erste Abteilung 6 (1865) S. 399–405.

27 Ulrich Richental, Concilium zu Costencz (Chronik des Konstanzer Konzils), Augsburg: Anton

Sorg, 2. IX. 1483, GW M38152. Die Beziehungen zwischen der Inkunabel und der St. GeorgenerChronikversion hat Thomas Martin Buck festgestellt, vgl. Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. XIV u. XXXIII. Vgl. auch Gerrit Jasper Schenk, Sehen und gesehen werden. Der Einzug Ko¨nig Sigismunds ¨ berlieferung (am Beispiel von zum Konstanzer Konzil 1414 im Wandel von Wahrnehmung und U Handschriften und Drucken der Richental-Chronik), in: Medien und Weltbilder im Wandel der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Franz Mauelshagen/Benedikt Mauer (Documenta Augustana 5), Augsburg 2000, S. 71–106, hier S. 90–96. 28 Vgl. dazu auch Birgit Studt, Register der Ehre. Formen heraldischer und zeremonialer Kommunikation im spa¨teren Mittelalter, in: Adel und Ko¨nigtum im mittelalterlichen Schwaben, hg. v. Andreas Bihrer/Matthias Ka¨lble/Heinz Krieg (VKomGLdkBW B 175), Stuttgart 2009, S. 375–392. 29 Winfried Stelzer, Gru¨nenberg (Gru¨nemberg), Konrad, in: Verfasserlexikon 3 (21981), Sp. 288–290; Andrea Denke, Konrad Gru¨nembergs Pilgerreise ins Heilige Land 1486. Untersuchung, Edition und Kommentar (Stuttgarter Historische Forschungen 11), Ko¨ln 2011. 30 Martin Sandberger, Das Wappenbuch des Abtes Ulrich in St. Gallen (Ulrich Ro¨sch aus Wangen im Allga¨u), in: Su¨dwestdeutsche Bla¨tter fu¨r Familien- und Wappenkunde 19 (1988/90), S. 242–243; Ernst Tremp, Fu¨rstabt Ulrich Ro¨sch von St. Gallen (1463–1491) zwischen Eidgenossen und Reich, in: Ko¨nig, Fu¨rst und Reich im 15. Jahrhundert, hg. v. Franz Fuchs/Paul-Joachim Heinig/Jo¨rg Schwarz (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 29), Ko¨ln 2009, S. 157–169.

Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt

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Interessen fu¨r die Abschrift, Transformation und Publikation des Textes der Konzilschronik im spa¨ten 15. Jahrhundert noch dringlicher. Mit der Untersuchung der Wappenbu¨cher bzw. der Erschließung der Funktionsweisen heraldischen Wissens in der sta¨dtischen Geschichtsschreibung betritt die Studie weitgehend neues Gebiet. Diesen Formen der Verarbeitung und Nutzung von heraldischem Wissen wird in Bezug auf das Transformationspotential der Konzilschronik im spa¨ten 15. Jahrhundert nachzugehen sein.

II.

In der Zielsetzung der zweiten Fallstudie „Konzil und Konzilschronik in der Reformationszeit“ wird die Rolle des Konzils als Geda¨chtnis der Stadt besonders deutlich. Im Fokus stehen die Erinnerung an das Konzil und die Verarbeitung der Konzilschronik in der konfessionell gepra¨gten Historiografie der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts. Wa¨hrend die Konstanzer Bistumschronistik, von Bischofslisten und vereinzelten historiografischen Notizen abgesehen, erst im fru¨hen 16. Jahrhundert ihren Anfang nahm, fa¨llt auf, dass bis in das 16. Jahrhundert die Erinnerung an das kirchenpolitisch so einflussreiche Konstanzer Konzil im Geda¨chtnis der Stadt verankert blieb. Dies findet eine Erkla¨rung sicherlich auch in der wa¨hrend der fru¨hen Phase der Reformation durch altgla¨ubige Theologen und Publizisten wie Johannes Eck propagierte Gleichsetzung von Luthers Thesen mit den Lehren des in Konstanz als Ha¨retiker hingerichteten bo¨hmischen Reformators Jan Hus.31 Die jeweilige Sicht auf das Wirken und den Tod des Jan Hus beeinflusste dann auch die Einscha¨tzung des Konstanzer Konzils als historisches Ereignis – und damit die Beurteilung der Wirksamkeit einer allgemeinen Kirchenversammlung an sich. In Konstanz gab es eine rege Flugschriftenproduktion, die sich auch mit dem Fu¨r und Wider eines Konzils als Mittel zur Durchfu¨hrung der notwendigen Kirchenreformen – sowie speziell mit dem Konstanzer Konzil und der Rechtma¨ßigkeit seiner Entscheidungen – auseinandersetzte.32 In der Reformationszeit wurde die Bedeutung des Konzils fu¨r die Stadt in der Geschichtsschreibung daher besonders kontrovers diskutiert. Dies la¨sst sich auf evangelischer Seite unter anderem an der Chronik des universita¨r gebildeten Patriziers Gregor Mangolt sowie den Schriften des ebenfalls evangelischen Jo¨rg Vo¨geli, seit 31 Vgl. ku¨nftig Pia Eckhart, Konzil und Konzilschronik im lokalen Geda¨chtnis. Die Kirchenversamm-

lung in der Konstanzer Publizistik und Historiographie der Reformationszeit (erscheint als VKom¨ ber die ganze Erde erging der Name von Konstanz. RahmenbedinGLdkBW im Band zur Tagung „U gungen und Rezeption des Konstanzer Konzils“). 32 Konstanzer Flugschriften der Reformationszeit sind zusammengestellt in Drucksachen zur Reformation in Konstanz 1524–1545, hg. v. Alfred Vo¨geli, masch. Konstanz 1970. Vgl. auch die Zusammenstellung bei Bernd Moeller, Johannes Zwick und die Reformation in Konstanz, Karlsruhe 1961; vgl. auch ders., Die Konstanzer Reformationsdrucker, in: Archiv fu¨r die Geschichte des Buchwesens 2 (1960), S. 729–741.

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Pia Eckhart und Birgit Studt

1524 Stadtschreiber von Konstanz, zeigen.33 Die demgegenu¨ber nur schwach dokumentierte altgla¨ubige Geschichtsschreibung findet gleichwohl einen Vertreter in dem bischo¨flichen Notar Beatus Widmer. Auch er griff die Erinnerung an das Konzil in seiner Gegenwartschronik auf und verarbeitete sie in eigensta¨ndiger Weise.34 Die Konzilschronik fand zudem Eingang in die weitgehend unerforschten, umfangreichen Kollektaneen des Konstanzer Christof Schulthaiß (Konstanz, Stadtarchiv, A I 8, ¨ berlingers Jakob Reutlinger (U ¨ berlingen, Stadtarchiv, o. Sig., 8 Bde.) sowie des U 16 Bde.) aus der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts.35 Eine nicht zu unterscha¨tzende Rolle fu¨r die Erinnerung an das Konzil wa¨hrend der Reformationszeit du¨rfte die zweite Druckausgabe der Konzilschronik durch Heinrich Steiner in Augsburg 1536 und vor allem die ebenfalls im Druck publizierte Konzilschronik des Zu¨richer Geschichtsschreibers Johannes Stumpf gespielt haben, die breite Anleihen bei der Konstanzer Konzilschronik machte.36 Hier wird auch die u¨berregionale Verflechtung der Geschichtsschreibung sichtbar, indem einerseits die gedruckte Chronik des Johannes Stumpf in Konstanz breit rezipiert wurde, andererseits mit Mangolt und Vo¨geli zwei prominente Konstanzer Chronisten nach der Rekatholisierung der Stadt Konstanz im Jahr 1548 ins Zu¨rcher Exil gingen. Das Konzil bot innerhalb der konfessionell gepra¨gten Geschichtsbilder einen besonderen Ankerpunkt im einen oder anderen Sinn. Die Bezu¨ge zwischen Konzil und Glaubensspaltung sowie den Reformern Jan Hus und Martin Luther bescha¨ftigte die Menschen des 16. Jahrhunderts. Dies zeigt sich auch daran, dass die Kon¨ berlieferungskontexten mit Konstanzer stanzer Konzilschronik in gemeinsamen U Reformationschroniken erscheint. So za¨hlt zu den Werken Gregor Mangolts auch eine Bearbeitung der Konzilschronik; diese ist einerseits in einer Handschrift gemeinsam mit Mangolts Konstanzer Reformationsgeschichte (Redaktion C1, Zu¨rich, Zentralbibliothek, Ms. M 100) u¨berliefert; andererseits wurde sie in die Endredaktion von

33 Zu dem um die Mitte des 16. Jahrhunderts in vier Redaktionen entstandenen Werk vgl. Markus Wen-

ninger, Gregor Mangolts Werk letzter Hand. Zum Verha¨ltnis von Vita und Werk eines reformatorischen Konstanzer Chronisten, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 7 (1992/93), S. 343–375. Markus Wenninger bereitet eine Edition der Redaktion D der Chronik vor; fu¨r die großzu¨gige Einsicht in seine Transkription der Handschrift sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Vgl. Jo¨rg Vo¨geli, Schriften zu Reformation in Konstanz 1519–1538. 3 Bde., hg. v. Alfred Vo¨geli (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte 39–41), Tu¨bingen 1972–1973. 34 Vgl. ku¨nftig Pia Eckhart, Geschichtsschreibung und Geschichtsbild in Konstanz um 1500. Die Chronik des bischo¨flichen Notars Beatus Widmer (Dissertation Freiburg 2013). Vgl. auch Erik Beck/Andreas Bihrer/Pia Eckhart u. a., Altgla¨ubige Bistumshistoriographie in einer evangelischen Stadt. Die Konstanzer Bistumschronik des Beatus Widmer von 1527. Untersuchung und Edition, in: ZGO 157 (2009), S. 101–189. 35 Vgl. zur Familie Schulthaiß Eugen Hillenbrand, Die Chronik der Konstanzer Patrizierfamilie Schulthaiß, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift fu¨r Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. v. Kaspar Elm/Eberhard Go¨nner/Eugen Hillenbrand, Stuttgart, 1977, S. 341–360. Vgl. zu Jakob Reutlingers Kollektaneen Adolf Boell, Das grosse historische Sammelwerk von Reutlinger in der ¨ berlingen, in: ZGO 34 (1882), S. 31–65 und 342–392. Leopold-Sophien-Bibliothek in U o 36 Das concilium so zu Constantz gehalten ist worden, Augsburg: Heinrich Steiner 1536, VD16 R 2202. Johannes Stumpf, Des grossen conciliums zu Costentz gehalten kurtze [...] beschreybung, Zu¨rich: ¨ . 1541, VD16 S 9868. Nur knappe Bemerkungen hierzu machen MatChristoph Froschauer d. A thiessen, Chronik (wie Anm. 19), S. 416–418, und Wacker, Chronik (wie Anm. 19), S. 267–300.

Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt

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Mangolts großer Konstanzer Chronik integriert (Redaktion D, St. Paul im Lavanttal, Stiftsarchiv, Hs. 79a/2).37 Die Tatsache, dass zwischen dem Konstanzer Konzil und dem Beginn der Reformation mehr oder weniger genau 100 Jahre vergangen waren, ließ den Chronisten Mangolt die beiden Ereignisse als fundamentale Za¨suren miteinander in Bezug setzen. Eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen der Stadt sowie ihr wirtschaftlicher und moralischer Niedergang wurden in der Chronik zu Konsequenzen aus den Ereignissen des Konzils erkla¨rt. Gott habe der Stadt Strafen auferlegt – und zwar trotz der von Papst Martin V. erteilten Absolution fu¨r die wa¨hrend des Konzils begangenen Su¨nden. Erst das Einsetzen der evangelischen Predigt in Konstanz markierte fu¨r die Stadt eine Wende zum Guten: Nach dem nun Got ein stat Costantz, zu straff begangner su¨nden im concilio mit vyl und mengerley straff und unfa¨l heimgesucht und sich jetz vom beschluss des concilij bis ins 1518 Jar hundert jar verloffen haben, hat Got ein stat Costantz widrumm mit gnaden heim gesucht, und sich zu erkennen geben, das er noch lebe, und hat predigen lassen sin wort. Und wie M. Hans Huss anfengklich prediget hat wider den ro¨mschen ablass, also hat ouch Luther und Zinglins gethan. Also haben auch die prediger zu Costantz gethon. Man hat ouch die bu¨cher zu Costantz offenlich veil gehapt, und deren leer willen vor 100 jaren die zwen zu¨gen Christi verbrent worden sind.38 Mit dem Beginn der Reformation, insbesondere der Verku¨ndigung des Evangeliums, wurden nach Mangolts Darstellung also die Missetaten des Konzils gesu¨hnt und damit die Stadt, die das Konzil beherbergt hatte, von ihrer Schuld befreit. Eine ga¨nzlich andere Bedeutungszuschreibung erhielt das Konzil durch den bischo¨flichen Notar Beatus Widmer, der in der Fru¨hphase der Reformation in Konstanz ein Geschichtsbild konstruierte, das den Status quo des Klerus als existenziell wichtiger Gruppe innerhalb der sta¨dtischen Gemeinschaft festzuschreiben versuchte. Hierzu geho¨rt die Vorstellung, dass die Stadt Konstanz ihre Bedeutung dem Konzil verdankte. Diese findet auch schon in der Konzilschronik ihren Ausdruck. So heißt es in einem der Konzilschronik vorangestellten Psalmvorspruch, der unter anderem in der Konstanzer Handschrift u¨berliefert ist: In omnem terram exivit nomen Constancie, et divulgatum est nomen eius in universa terra.39 Obwohl der Berichtszeitraum von Widmers Gegenwartschronik von 1459 bis 1521 eine Auseinandersetzung mit dem Konzil eigentlich ausschloss, fand es dennoch seinen Platz in der Chronik, na¨mlich in der Beschreibung der Stadt Konstanz mit der Darstellung ihrer Ursprungsgeschichte. Dieses Kapitel erarbeitete Beatus Widmer aus der Stadtbeschreibung der Schedelschen Weltchronik, die ihrerseits auf einem Brief des Florentiner Humanisten Leonardo Bruni basiert, den dieser wa¨hrend seines Aufenthalts auf dem Konstanzer Konzil an seinen Freund Niccolo` Niccolı` gerichtet hatte. Beatus Widmer stellte 37 Vgl. Wenninger, Werke (wie Anm. 33), S. 355f. und 358–361. 38 Vgl. die Lebensbeschreibung des 69. Konstanzer Bischofs, Hugo von Hohenlandenberg, in der Redak-

tion D, St. Paul im Lavanttal, Stiftsarchiv, Hs 79a/2 (hier ohne Foliierung).

39 Zitiert nach Buck, Chronik (wie Anm. 19), S. XXIV, mit Anm. 81.

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an das Ende seines Kapitels eine kurze Geschichte des Konstanzer Konzils, fu¨r die er wiederum die Schedelsche Weltchronik heranzog.40 Der Konstanzer Notar koppelte in seiner Darstellung den Ruhm und die Außenwirkung der Bodenseestadt an ihre Eigenschaft als Konzilsort. Dieses Vorgehen du¨rfte von der Weltchronik inspiriert sein; dort sind die Stadtbeschreibungen entweder nach dem Gru¨ndungsdatum der jeweiligen Stadt oder nach dem wichtigsten Ereignis der Stadtgeschichte in die Chronologie der universalgeschichtlichen Darstellung eingeordnet – fu¨r Konstanz und Basel waren dies die großen Konzilien.41 Das Konzil wurde so in Beatus Widmers Darstellung quasi zum Endpunkt des Ursprungs der Stadt und Ausgangspunkt ihrer weiteren Geschichte.42 Die Studie wird die Geda¨chtnisfunktion des Konzils, die (Neu-)Bewertung des Ereignisses im 16. Jahrhundert sowie ihre Tra¨gergruppen in der Stadt und deren konfessionelle Darstellungsstrategien aufdecken und miteinander in Beziehung setzen. Sie nimmt den historiografischen Niederschlag, den diese Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart gefunden hat, in den Blick und leistet dabei gleichzeitig einen Beitrag zur Erforschung der oberdeutschen Chronistik des 16. Jahrhunderts, in der speziell die umfangreichen Konstanzer Werke noch nicht erscho¨pfend behandelt worden sind.43 Die Studie erha¨lt besonderes Interesse daraus, dass sie einen Bogen zum Reformationsjubila¨um im Jahr 2017 schlagen kann, das in den Zeitraum der fu¨nfja¨hrigen Jubila¨umsfeiern des Konstanzer Konzils fa¨llt.44

III.

In der Fallstudie 3 „Vernetzung der sta¨dtischen Geschichtsschreibung am Oberrhein“ wird es um den Austausch historischen Wissens im u¨berlokalen Kontext gehen. In der zweiten Bischofsstadt am Oberrhein, die ein Konzil in den Jahren 1431 bis 1449 beherbergte, hat das Konzilsereignis keinen vergleichbar produktiven und interessierten sta¨dtischen Chronisten wie Ulrich Richental hervorgebracht. Die große Geschichte des Basler Konzils des spanischen Theologen Johannes von Segovia entstand erst nach dessen Abschluss in der Abgeschiedenheit eines savoyischen 40 Hartmann Schedel, Chronica, Nu¨rnberg: Anton Koberger 1493, GW M40784, fol. 240r–241r.

Abdruck von Brunis Brief in Leonardo Bruni, Arretini Epistolarum libri VII, hg. v. Laurentio Mehus, Florenz 1741, S. 102–109. 41 Vgl. Hartmann Schedel. Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493 (Faksimile), hg. u. kom. v. Stephan Fu¨ssel, Ko¨ln 2001, S. 659f. 42 Vgl. ku¨nftig Eckhart, Geschichtsschreibung (wie Anm. 34). 43 Zur a¨lteren Forschung vgl. Eugen Hillenbrand, Die Geschichtsschreibung des Bistums Konstanz im 16. Jahrhundert, in: Historiographie am Oberrhein im spa¨ten Mittelalter und der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Kurt Andermann (ObrhStud 7), Sigmaringen 1988, S. 205–255. Als einzige umfassende monographische Darstellung ist immer noch unerla¨sslich Theodor Ludwig, Die Konstanzer Geschichtsschreibung bis zum 18. Jahrhundert, Straßburg 1894. 44 Vgl. die Webpra¨senz des die Jubila¨umsplanungen koordinierenden Eigenbetriebs der Stadt Konstanz „Konzilsstadt Konstanz“: http://www.konstanzer-konzil.de (Zugriff Mai 2015).

Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt

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Klosters, das dem Gelehrten als Alterssitz diente.45 Daher stellt sich die Frage, ob und in welcher Form das Konzil in der Basler Geschichtsschreibung u¨berhaupt pra¨gende Spuren hinterließ. Der Vergleich der Konstanzer Geschichtsschreibung mit der historiografischen Produktion der beiden anderen oberrheinischen Bischofsmetropolen Straßburg und Basel zeigt, dass sich das sta¨dtische Geda¨chtnis andernorts in der Regel aus der Universalgeschichte heraus formierte. Zwar tagte in Basel das Generalkonzil u¨ber zwei Jahrzehnte und flammte sogar in der zweiten Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts noch einmal auf, aber hier wirkte es als Ereignis im Vergleich zum Konstanzer Konzil erheblich weniger prominent in der sta¨dtischen Geschichtsschreibung nach.46 Stattdessen dienten bekannte welt- und landeschronistische Kompendien als Anknu¨pfungspunkte, um Geschichte aus einem regionalen bzw. lokalen Horizont heraus fu¨r die unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppierungen zu gestalten und als historisches Wissen in den unterschiedlichen politischen Kontexten weiterzutradieren.47 In Basel ko¨nnen hierfu¨r die Fortsetzungen der Sa¨chsischen Weltchronik bzw. der Flores temporum gelten, die von zwei Kapla¨nen am Basler Mu¨nster, Erhard von Appenwiler und Nikolaus Gerung von Blauenstein, stammen. Sie verbanden in den 1470er Jahren in zwei umfangreichen Sammelhandschriften die Geschichte des Reiches bzw. der Basler Bischo¨fe mit Auszu¨gen aus Kolmarer, Straßburger und Konstanzer Geschichtswerken.48 Auf diese Weise gerieten diese Aufzeichnungen schnell in ein Spannungsfeld zur Gegenwartschronistik, die durch die Verarbeitung insbesondere der Auseinandersetzungen mit dem sta¨dtischen Adel, der Loslo¨sung vom Stadtherrn, der Burgunderkriege und des Schwabenkriegs angeregt worden war.49 Als historiografisch anregende oder ta¨tige Akteure wirkten dabei neben den Angeho¨rigen des Bischofshofs und der Klo¨ster, Ratsherren und Bu¨rgermeister, Familienchronisten 45 Vgl. Rolf de Kegel, Johannes von Segovia und die verfassungsma¨ßige Vereinbarkeit von Papst und

Konzil, in: Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475), hg. v. Ju¨rgen Dendorfer/Claudia Ma¨rtl (Pluralisierung und Autorita¨t 13), Berlin/Mu¨nster 2008, S. 45–66. 46 Vgl. Claudius Sieber-Lehmann, Basel und ‚sein‘ Konzil, in: Die Konzilien von Pisa (1409) (wie Anm. 15), S. 173–204, der sich in seiner Untersuchung u¨ber die Bedeutung des Basiliense fu¨r die Stadt in erster Linie auf das im Umfeld der Rats entstandene Verwaltungsschriftgut stu¨tzen und nur wenige Seitenblicke auf die Chronistik werfen konnte. 47 Vgl. Rainer Leng, Landesgeschichtliche Sammelhandschriften, in: Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa. Projekte und Forschungsprobleme, hg. v. Jarosław Wenta (Subsidia Historiographica 1), Toru´n 1999, S. 149–166. 48 Vgl. Heike Johanna Mierau/Antje Sander-Berke/Birgit Studt, Studien zur U ¨ berlieferung der Flores temporum (MGH Studien und Texte 14), Hannover 1996, S. 53; Birgit Studt, Gerung, Nikolaus, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle, hg. v. Graeme Dunphy, Leiden/Boston 2010, S. 690–691; Ju¨r¨ berlieferung, Textentwickgen Wolf, Die Sa¨chsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften: U lung, Rezeption (MMS 75), Mu¨nchen 1997, S. 25–29; Gabriele von Olberg-Haverkate, Zeitbilder – Weltbilder. Volkssprachige Universalchronistik als Instrument kollektiver Memoria. Eine textlinguistische und kulturwissenschaftliche Untersuchung (Berliner sprachwissenschaftliche Studien 12), Berlin 2008, S. 363–379. 49 Vgl. Friedrich Meyer, Die Beziehungen zwischen Basel und den Eidgenossen in der Darstellung der Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts (Basler Beitra¨ge zur Geschichtswissenschaft 39), Basel 1951; Claudius Sieber-Lehmann, Spa¨tmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und die Eidgenossenschaft (VMPI 116), Go¨ttingen 1995.

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ebenso wie Gelehrte. Es entstanden zahlreiche Sammelhandschriften und Kompilationen, die sukzessive erga¨nzt wurden und in denen das historiografische Wissen in immer anderen Arrangements neu angeordnet wurde.50 Die allma¨hliche Entfaltung einer Geschichtsschreibung fu¨r ein gro¨ßeres volkssprachig gebildetes und – so muss man hinzufu¨gen – sta¨dtisches Laienpublikum la¨sst sich gut am Straßburger Beispiel vorstellen. Der 1346 in Straßburg geborene ¨ mter in Straßburg Jakob Twinger von Ko¨nigshofen hatte verschiedene geistliche A und Umgebung inne und war Lehrer an der Straßburger Lateinschule. Nach seiner Aufnahme in das gelehrte St. Thomas-Stift, wo er fu¨r Verwaltung, Archiv und Bibliothek zusta¨ndig war, unterrichtete er auch an der Stiftsschule. Sein Œuvre, das Geschichtsschreibung, Komputistik, Grammatik und Lexikographie umfasst, wurde von Twingers Lehrta¨tigkeit deutlich gepra¨gt.51 Bezeichnend ist das Miteinander und Nebeneinander von Deutsch und Latein, klerikaler und volkssprachiger Wissensliteratur, das von Twingers Rolle als Vermittler von grundlegendem lateinischem Bildungswissen in der sta¨dtischen Laienkultur zeugt. Diesem Zweck widmete Twinger auch seine historiografische Ta¨tigkeit. Am Anfang stand seine 1382 begonnene lateinische Chronik, die nicht viel mehr war als eine thematisch breite Zusammenstellung von Exzerpten aus universalchronistischen Texten, wie dem umfangreichen, enzyklopa¨disch ausgerichteten Speculum historiale des Dominikaners Vincenz von Beauvais oder die beinahe auf eine Geschichtstabelle reduzierte Papst-Kaiser-Chronik seines Ordensbruders Martin von Troppau. Eine Weltchronik dieses Typs hat auch das Ru¨ckgrat der Oberrheinischen Chronik gebildet.52 Twingers lateinische Chronik, die er bis zu seinem Lebensende mit zahlreichen, nun aber vor allem regional- und stadtgeschichtlichen Nachtra¨gen fortgesetzt hat, diente vor allem als Materialsammlung fu¨r seine gleichzeitig begonnene deutsche Chronik, die er ebenfalls bis zu seinem Tod fortfu¨hrte. In dieser Chronik, die ihm wohl buchsta¨blich aus der Hand gerissen wurde – denn wir wissen, dass bereits zu seinen Lebzeiten verschiedene Fassungen in Straßburg kursierten – sind Universalgeschichte und Straßburger Stadtgeschichte planvoll verwoben. Im ersten Kapitel fasst er die Weltgeschichte von der Scho¨pfung bis Alexander dem Großen zusammen; im zweiten Kapitel behandelt er die Geschichte Roms und der ro¨mischen Kaiser bis zu den Ko¨nigen Wenzel und Ruprecht. Das dritte Kapitel ist der Geschichte der Pa¨pste als geistlichen Repra¨sentanten der Weltgeschichte gewidmet. Diesen Papst-Kaiser-Reihen treten im vierten Kapitel die Straßburger Bischo¨fe und im fu¨nften die Geschichte der Straßburger 50 Vgl. ku¨nftig Marco Tomaszewski, Stadtchronistik und Familiengeschichte. Basler Familienbu¨cher des

16. Jahrhunderts (Dissertation Freiburg 2013).

51 Vgl. Franz Hofinger, Studien zu den deutschen Chroniken des Fritsche Closener von Strassburg und

des Jakob Twinger von Koenigshofen, Mu¨nchen 1974; Klaus Kirchert, Sta¨dtische Geschichtsschreibung und Schulliteratur. Rezeptionsgeschichtliche Studien zum Werk von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Ko¨nigshofen, Wiesbaden 1993; Norbert Warken, Mittelalterliche Geschichtsschreibung in Straßburg. Studien zu ihrer Funktion und Rezeption bis zur Fru¨hen Neuzeit, Saarbru¨cken 1995. 52 Vgl. Oberrheinische Chronik, a¨lteste bis jetzt bekannte in deutscher Prosa, aus einer gleichzeitigen Handschrift, hg. v. Franz Karl Grieshaber, Rastatt 1850; Erich Kleinschmidt, Oberrheinische Chronik, in: Verfasserlexikon 7 (21989), Sp. 7f.; Freiburger Bu¨chergeschichten. Handschriften und Drucke aus den Besta¨nden der Universita¨tsbibliothek und die neue Sammlung Leuchte, hg. v. Carola Redzich/Hans-Jochen Schiewer/Gregor Wu¨nsche, Freiburg 2007, S. 71f. (Nr. 39).

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Stadtgemeinde als regionale Pendants an die Seite.53 Diese signifikante Verbindung von universal- und regionalgeschichtlichem Wissensstoff bot den Lesern der Chronik die Mo¨glichkeit, die eigene, regional begrenzte Lebenswirklichkeit und die selbst erfahrene Geschichte in den Ablauf der Weltgeschichte einzuordnen und damit das Herkommen des eigenen Gemeinwesens vor einem universalen Horizont zu beurteilen. Jakob Twinger von Ko¨nigshofen war allerdings nicht der erste Geschichtsschreiber in Straßburg, der gelehrtes Geschichts- und Schulwissen an eine volkssprachige Stadtkultur vermittelte. Bereits eine Generation vor ihm wirkte in Straßburg der Priester Fritsche Closener, dessen Œuvre ein mit Twinger vergleichbares Profil aufweist. Allerdings ist Twinger der erste, der eine Begru¨ndung fu¨r die Wahl der deutschen Sprache fu¨r seine Straßburger Weltchronik geliefert hat: In der Vorrede betont er, dass die klugen Laien genauso gern seine Geschichte la¨sen wie die gelehrten Pfaf¨ ußerung zu den mo¨glichen Lesern seiner Chronik fen. Doch mit dieser allgemeinen A lassen sich die sozial- und bildungsgeschichtlichen Konturen von Twingers Publikum nur unscharf nachzeichnen. Die Voraussetzungen dafu¨r, dass es in Straßburg u¨berhaupt eine gro¨ßere Leserschaft von kluge[n] legen gab, die ebenso wie gelerte pfaffen ihr Interesse an nuwen dingen anmeldeten, werden von der Forschung in den sozialund verfassungsgeschichtlichen Umwa¨lzungen im Straßburg des 14. Jahrhunderts gesucht. Das Ergebnis dieser innersta¨dtischen Auseinandersetzungen war, dass nun auch die Zu¨nfte am vormals adligen Ratsregiment partizipierten. Vor diesem Hintergrund ko¨nnte man ‚klug‘ als Gegenwert zur ‚gelehrt‘-klerikalen Bildung folgendermaßen deuten: ‚Klug‘ meint nicht nur Alphabetisierung in der Volkssprache, sondern auch Fa¨higkeit zu verantwortlichem politischen Handeln. Diesem Zweck dienten die in den volkssprachlichen Chroniken vermittelten aktuellen historisch-politischen Informationen, die bei Twinger, erga¨nzt durch Universalgeschichte, volkssprachiges Wissensgut und religio¨se Unterweisung, handlungsorientierende, traditionsstiftende und belehrende Funktionen fu¨r ein stadtbu¨rgerliches Publikum erfu¨llten.54 Am Beispiel der an der Kontaktzone zwischen gelehrt-klerikaler und volksprachlich-bu¨rgerlicher Wissenskultur entstandenen Chroniken des Fritsche Closener und des Jakob Twinger la¨sst sich verfolgen, auf welche Weise gelehrtes historisches Wissen in neue soziale Kontexte geriet und durch neue Benutzerkreise angeeignet wurde. 53 Vgl. zum Aufbau der Chronik Heinrich Schoppmeyer, Zur Chronik des Straßburgers Jakob Twinger

von Ko¨nigshofen, in: Historiographia Mediaevalis. Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Festschrift fu¨r Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, hg. v. Dieter Berg/ Hans-Werner Goetz, Darmstadt 1988, S. 283–299. Vgl. auch Olivier Richard, Histoire de Strasbourg, histoire pour Strasbourg. Sur la chronique allemande de Jakob Twinger von Ko¨nigshofen, in: Revue d’Alsace 127 (2001), S. 219–237; Simon Maria Hassemer, Erza¨hlte Geschichte der Welt – Geschichte der erza¨hlten Welt. Narrativita¨t und Diegese der Straßburger Ko¨nigshofen-Chronik, in: ZGO 121 (2012), S. 131–164; Dorothea Klein/Gert Melville, Twinger, Jakob, von Ko¨nigshofen, in: Verfasserlexikon 9 (21995), Sp. 1181–1193. Zuletzt Peter Schmidt, Historiographie und perso¨nliche Aneignung von Geschichte. Die wieder entdeckte Ku¨nastsche Handschrift der Straßburger Chronik des Jakob Twinger von Ko¨nigshofen, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spa¨tmittelalterlichen Straßburg, hg. v. Stephan Mossman/Nigel F. Palmer/Felix Heinzer (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), Berlin/Boston 2012, S. 337–377. 54 Vgl. Kirchert, Geschichtsschreibung (wie Anm. 51), S. 38–46.

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Twingers Straßburger Chronik hat mit derzeit 88 bekannten erhaltenen Handschriften, davon sechzehn heute noch in Straßburg, sowie der Drucklegung im Jahr 1475 durch Johann Ba¨mler in Augsburg auf den gesamten Su¨den des Reichs ausgestrahlt.55 Grund dafu¨r war neben der Wahl der deutschen Sprache wohl auch ihre wohlkomponierte Anlage, in der die allgemein universalhistorische Perspektive gezielt mit partikulargeschichtlichen Aspekten verschra¨nkt ist. Dieses Konzept bot vielfache Anknu¨pfungspunkte fu¨r spa¨tere regionalgeschichtliche Darstellungen. Dabei wurde die Chronik weniger als Steinbruch genutzt, sondern an zahlreichen Stellen erga¨nzt, an anderen geku¨rzt, u¨berarbeitet oder auch mit landes-, stadt- und familiengeschichtlichen Notizen erweitert und fortgesetzt.56 In der Forschung wird die stoffliche wie kompositorische Vorbildfunktion der Chronik so hoch gescha¨tzt, dass man sie als ein Schlu¨sselwerk der mittelalterlichen deutschsprachigen Geschichtsschreibung bezeichnet hat.57 Am Beispiel der Chronik des Jakob Twinger von Ko¨nigshofen kann man verfolgen, auf welche Weise gelehrtes historisches Wissen in andere sta¨dtische Kontexte geriet und durch neue Benutzerkreise angeeignet wurde. In Basel etwa wurde die Twinger-Chronik durch den Adligen Heinrich Sinner von Dachsfelden genutzt, um die Reichsgeschichte durch regionale Aspekte fortzusetzen (Basel, Universita¨tsbibliothek, Cod. E VI 26, mit einer Fortsetzung von Erhard von Appenwiler); u¨ber seine Tochter geriet die Handschrift in den Besitz der Basler Patrizier- und Gelehrtenfamilie der Zscheckenbu¨rlin, wo sie durch genealogische und familiengeschichtliche Aufzeichnungen bis ins 16. Jahrhundert hinein erga¨nzt wurde.58 Ein weiteres Beispiel ist die Twinger-Handschrift, die heute in der Freiburger Universita¨tsbibliothek aufbewahrt wird (Hs. 471). In diesem in seinem Grundbestand zwischen ca. 1420 bis 1424 von einer Hand geschriebenen Kodex sind das vierte und fu¨nfte Kapitel der Chronik zur Geschichte der Straßburger Bischo¨fe bzw. der

55 Jakob Twinger von Ko ¨ nigshofen, Chronik von allen Kaisern und Ko¨nigen seit Christi Geburt,

¨ ber[Augsburg: Johann Ba¨mler, vor 1476], GW M48346. Eine vorla¨ufige Zusammenstellung der U lieferung in 83 Handschriften findet sich in der Edition von Karl Hegel, Straßburger Chroniken (ChrDtSt 8/9), Leipzig 1870–71; Erga¨nzungen dazu von Klein/Melville, Twinger (wie Anm. 53), und online im Handschriftencensus unter http://www.handschriftencensus.de/werke/1906 (Zugriff Mai 2015). Vgl. auch in Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters 3, hg. v. Norbert Ott/Ulrike Bodemann/Peter Schmidt/Christine Sto¨llinger-Lo¨ser, Mu¨nchen 2011, S. 389–421. 56 Ein signifikantes Beispiel hierfu¨r bietet ju¨ngst die Untersuchung von Peter Schmid u¨ber die von ihm identifizierten Ku¨nastsche Handschrift der Twinger-Chronik aus dem Besitz des Straßburger Ritters Hans von Hungerstein, der am Ende des 15. Jahrhunderts ein altes Fragment der Chronik restauriert, erga¨nzt und zu einem repra¨sentativen Monument des Geda¨chtnisses seiner Familie neu konzipiert hat, vgl. Schmidt, Historiographie (wie Anm. 53). Vgl. hierzu auch das Dissertationsprojekt an der Universita¨t Freiburg von Ina Serif, Dynamiken sta¨dtischer Geschichtsschreibung. Aneignung, Nutzung und Funktionalisierung der Chronik Jabob Twingers von Ko¨nigshofen. 57 Klein/Melville, Twinger (wie Anm. 53), Sp. 1186. 58 Vgl. Hubert Herkommer, U ¨ berlieferungsgeschichte der Sa¨chsischen Weltchronik. Ein Beitrag zur deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters (Mu¨nchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 38), Mu¨nchen/Tu¨bingen 1972, bes. S. 42–46; Wolf, Weltchronik (wie Anm. 48), S. 25–29.

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Stadt Straßburg stark geku¨rzt. Stattdessen findet sich – bereits von dem ersten Schreiber der Handschrift an prominenter Stelle zwischen die Geschichte der ro¨mischen Kaiser im zweiten und die der Pa¨pste im dritten Kapitel eingefu¨gt – ein Verzeichnis der Konstanzer Bischo¨fe, dem Konstanzer Annalen von 1260 bis 1388 folgen. Die fu¨r mo¨gliche Fortsetzungen bereits vom ersten Schreiber frei gelassenen Seiten sind von verschiedenen Ha¨nden des 15. und 16. Jahrhunderts fu¨r Zusa¨tze zur Konstanzer Geschichte genutzt worden. Eine erste Hand hat ein lateinisches Verzeichnis der Altarpfru¨nden am Konstanzer Dom eingetragen, die Konstanzer Annalen gro¨ßtenteils auf lateinisch fortgesetzt sowie der Handschrift am Ende ein lateinisches Verzeichnis der Konstanzer Bischo¨fe angefu¨gt. Diese Konstanzer Zusa¨tze sind von weiteren Schreibern bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts fortgefu¨hrt worden. Mo¨glicherweise stammt ein großer Teil der spa¨teren Zusa¨tze von dem spa¨teren Besitzer der Handschrift, dem Konstanzer Weihbischof Melchior Fattlin, der das Buch mit seinem ¨ . geschaffenen Wappenexlibris von 1529 gekennscho¨nen, von Hans Burgkmaier d. A 59 zeichnet hat. Doch ehe der Kodex in die Bibliothek des Konstanzer Weihbischofs gelangte, hatte er sich im Besitz des bischo¨flich-Basler Ministerialengeschlechts Zu Rhein befunden, aus dem im 15. Jahrhundert nicht weniger als zwei Mitglieder auf den Basler Bischofsstuhl gelangten. Darauf deuten jedenfalls familiengeschichtliche Notizen am Ende von Twingers Chronik hin, in denen Geburten und Todesfa¨lle in der Familie der Jahre 1474 bis 1507 festgehalten sind.60 Neben die Ko¨nigshofen-Chronik und die Konstanzer Konzilschronik treten wei¨ berlieferungsstrukturen aufweisende Schlu¨sseltexte wie die bereits tere, a¨hnliche U genannten Flores temporum und die Sa¨chsische Weltchronik sowie die Konstanzer Weltchronik.61 Besonders interessante Ergebnisse verspricht die Beobachtung, dass diese Schlu¨sseltexte immer wieder in verschiedenen Kombinationen gemeinsam in Handschriften u¨berliefert wurden. Hierfu¨r nur ein Beispiel: In der Schreibwerkstatt Gebhard Dachers wurde eine Handschrift hergestellt (Stuttgart, Wu¨rttembergische Landesbibliothek, HB V 22), in der die Konstanzer Konzilschronik, die TwingerChronik sowie Dachers Konstanzer Chronik miteinander verknu¨pft wurden. Dabei ging man folgendermaßen vor: Das erste Kapitel der Twinger-Chronik, das die Weltgeschichte bis zur Gru¨ndung Roms behandelt, wurde ausgelassen, der Text beginnt erst mit Twingers zweitem Kapitel u¨ber die ro¨mischen Kaiser bis Ko¨nig Sigismund. Hieran schließt sich die Konzilschronik an, die eine auf die Papstgeschichte bis zum Jahre 1464 konzentrierte Fortsetzung bietet. Es folgt das dritte Kapitel der TwingerChronik mit der Geschichte der Pa¨pste bis zum Beginn des Großen Schismas, dann 59 Vgl. Manfred Schuler, Ein Pfru¨nden- und Altarverzeichnis vom Konstanzer Mu¨nster aus dem Jahre

1524, in: Freiburger Dio¨zesan-Archiv 88 (1968), S. 439–451, bes. S. 439. 60 Vgl. die Beschreibung bei Winfried Hagenmaier, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften

der Universita¨tsbibliothek und die mittelalterlichen Handschriften anderer o¨ffentlicher Sammlungen (Kataloge der Universita¨tsbibliothek Freiburg im Breisgau 1,4), Wiesbaden 1988, S. 114–116; vgl. die Abbildung in Freiburger Bu¨chergeschichten (wie Anm. 52), S. 70–72 (Nr. 40). 61 Vgl. Birgit Studt, Konstanzer Weltchronik, in: Verfasserlexikon 11 (22004), Sp. 886–889; Renate Schipke, Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters. 181. Beitrag. Ein neuer Textzeuge der Konstanzer Weltchronik etc. (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1714), in: Zeitschrift fu¨r deutsches Altertum und Literatur 137 (2008), S. 89–96.

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schließlich die Konstanzer Chronik des Gebhard Dacher. In dieser spezifischen Textkonfiguration wurde Jakob Twingers Universalchronik auf die Konstanzer Kirchenversammlung hin zugeschnitten, um die Konzilschronik zwischen die Geschichte der Kaiser und die der Pa¨pste einordnen zu ko¨nnen. Ausgefallen sind weiterhin das vierte und fu¨nfte Kapitel der Twinger-Chronik zur Geschichte der Bischo¨fe und der Stadt Straßburg: Damit ist die Straßburger Chronik Jakob Twingers zu einer Konstanzer Chronik geworden. Die planvolle Anlage der Handschrift dru¨ckt sich auch in deren Ausstattung aus. Der Kodex ist durchgehend illustriert, wobei nicht zwischen den urspru¨nglich unterschiedlichen Chronikteilen differenziert wurde; die Textteile sind durchgehend mit den Wappen der Kaiser und Pa¨pste versehen.62 Diese verschiedenen Zusa¨tze und Fortsetzungen verweisen nicht nur auf die Wanderung von historiografischen Informationen zwischen den Sta¨dten Straßburg, Basel und Konstanz, sondern sie repra¨sentieren daru¨ber hinaus unterschiedliche Aneignungsformen der Twinger-Chronik. Die Konstanzer Zusa¨tze zeigen, wie das von Jakob Twinger geschaffene Modell einer regionalen Chronik vor universalgeschichtlichem Hintergrund auf einen anderen regionalen und institutionellen Kontext u¨bertragen werden konnte – auf die Konstanzer Geschichte mit ihrem herausragenden Ereignis der großen Kirchenversammlung oder durch die Verschiebung der Erza¨hlung weg von der Straßburger Stadtgemeinde hin zum Konstanzer Bischofshof. Die familiengeschichtlichen Notizen aus Basel illustrieren hingegen die bescheidenen Anfa¨nge der Familiengeschichtsschreibung im niederadligen Milieu, das sich allma¨hlich von du¨rren Geburten- und Sterbeverzeichnissen zu einer vielgestaltigen Gattung entwickelte.63 Hier dienen die von Twinger gegebenen universal- und regionalgeschichtlichen Nachrichten als Hintergrund und Deutungsperspektive fu¨r die Familiengeschichte, die erst in spa¨teren Arbeiten selbsta¨ndig entfaltet wurde. Diese wenigen Beispiele ko¨nnen bereits die Verbindungslinien deutlich machen, die bei der Produktion und Weitergabe von historischem Wissen insbesondere zwischen den Sta¨dten Straßburg, Basel und Konstanz verliefen. Dies soll ausgehend von den genannten Schlu¨sseltexten in systematischen Untersuchungen weiter verfolgt werden. Hierfu¨r sind neben Textanalysen, die auf der Grundlage der vorhandenen Editionen bzw. ihren Vorarbeiten geleistet werden ko¨nnen, kodikologische Untersuchungen zu Rezeption und Adaptionen der Chronik in ausgewa¨hlten Gebrauchskontexten notwendig. Die Sammelhandschriften wurden bislang nur als Rezeptions¨ berarbeitungen, Ku¨rzungen, Erga¨nzeugnisse registriert, in ihnen dokumentierte U zungen und Transformationen aber noch nicht auf der Textebene analysiert und interpretiert. Doch auch hier lassen sich ein Austausch von Texten und ihre Rezeption an anderen Orten verfolgen. ¨ berlieferungsAufgrund der wenigen, aber prominenten bislang untersuchten U und Textzeugnisse wollen wir folgende Erkenntnishypothese formulieren: Die Chronik des Konstanzer Konzils la¨sst sich als ein zentraler historiografischer Geda¨chtnisort im 15. Jahrhundert begreifen, wa¨hrend dessen der Text eine breite Rezeption 62 Vgl. Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften (wie Anm. 55), S. 405–407. 63 Vgl. dazu demna¨chst Tomaszweski, Stadtchronistik (wie Anm. 50), sowie jetzt auch die eindringliche

Studie von Schmidt, Historiographie (wie Anm. 53).

Das Konzil im Geda¨chtnis der Stadt

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in unterschiedlichsten Kontexten erfuhr. Dies gilt ebenso fu¨r die erste Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts, als die Erinnerung an das Konzil im Zuge der Reformation neu verarbeitet wurde. Ausgehend von Konstanz und der Konzilschronik, die in vielfa¨ltiger Weise die Mo¨glichkeit einer Anlagerung sta¨dtisch-historiografischer Aufzeichnung bot, will das Projekt daher in exemplarischen Fallstudien untersuchen, in welcher Weise die sta¨dtische Geschichtsschreibung als Geda¨chtnisort fu¨r die Verhandlung von Wissen u¨ber die Vergangenheit innerhalb und zwischen verschiedenen sozialen Gruppen in der Stadt dienen konnte.

DIE STADT IM BUCH Die Konstruktion sta¨dtischer Ordnung am Beispiel fru¨hneuzeitlicher Beschreibungen Neapels von Tanja Michalsky

Im 16. Jahrhundert nehmen die Beschreibungen von Sta¨dten, Regionen und Nationen großen Aufschwung. Beschreibungen ko¨nnen dabei als Texte, Karten oder auch Bilder Form annehmen. Geschichtsschreibung ist allen inha¨rent. Um den Prozess der damit einhergehenden Imagination sowohl der protonationalen Ra¨ume als auch ihrer Geschichte zu erfassen, ist zu bedenken, dass die Produkte der einzelnen Medien im Austausch miteinander stehen.1 Dies vorausgesetzt, stehen ausgewa¨hlte Texte aus der sogenannten Guiden-Literatur zu Neapel im Fokus dieses Beitrages, deren Konzeption von ra¨umlicher und sozialer Ordnung analysiert werden soll.2 Im Kontext der historisch-topographischen Beschreibungen Italiens stehend, die mit Flavio 1 Dieses Argument, exemplifiziert an Karten, Bildern und Texten zu den Niederlanden, ist detailliert

ausgefu¨hrt in: Tanja Michalsky, Projektion und Imagination. Die niederla¨ndische Landschaft der Fru¨hen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, Mu¨nchen 2011. Eine Kurzfassung bietet dies., Medien der Beschreibung. Zum Verha¨ltnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Fru¨hen Neuzeit, in: Text-Bild-Karte. Kartographie der Vormoderne, hg. v. Ju¨rg Glauser/Christian Kiening (Reihe Litterae), Freiburg 2007, S. 319–349. 2 Vgl. die Katalogisierung der wichtigsten Werke in: Libri per vedere. Le guide storico-artistiche della citta` di Napoli, fonti testimonianze del gusto immagini di una citta`, hg. v. Francesca Amirante, Neapel 1995. Einige der Texte werden fortlaufend durch die Fondazione Memofonte. Studio per l’elaborazione informatica delle fonti storico-artistiche im Internet in verla¨sslichen Transkripten zur Verfu¨gung gestellt: www.memofonte.it/ricerche/napoli.html (zuletzt kontrolliert 15. 7. 2015). Grundsa¨tzliche Arbeiten zur Urbanistik Neapels und zu deren Erfassung in verschiedenen Medien (inbesondere Karten und Ansichten) stammen von Cesare de Seta, Storia della citta` di Napoli dalle origini al Settecento, Bari 1973; ders., Napoli fra Rinascimento e Illuminismo, Neapel 1991; ders., Considerazioni sull’immagine di Napoli. Da Colantonio a Bruegel, in: Napoli nobilissima 30 (1991), S. 81–96; ders., The urban structure of Naples: utopia and reality, in: Renaissance from Brunelleschi to Michelangelo: the representation of architecture, hg. v. Henry A. Millin, London u. a. 1994, S. 349–371; ders., Napoli. La citta` nella storia d’Italia, Rom/Bari 2004; Napoli e i centri della provincia. Iconografia delle citta` in Campania, hg. v. ders./Alfredo Buccaro, Neapel 2006; hier von bes. Interesse auch der Beitrag von Maria Iaccarino, L’evoluzione dell’iconografia di Napoli, dal XV al XIX secolo, S. 99–112; sowie Cesare de Seta, I viaggiatori stranieri e l’immagine di Napoli nel Seicento, in: Napoli e` tutto il mondo. Neapolitan art and culture from humanism to the enlightenment, hg. v. Livio Pestilli/Ingrid D. Rowland/Sebastian Schu¨tze (Studia erudita 5), Pisa/Rom 2008, S. 203–226. Vgl. auch: Napoli, stratificazione storica e cartografia tematica, hg. v. Massimo Rosi, Neapel 1991; Piante e vedute di Napoli dal 1486 al 1599. L’origine dell’iconografia urbana europea, hg. v. Vladimiro Vladimiro/Ermanno Bellucci, Neapel 1998. Die Literatur zur Apodemik und Grand Tour hier anzu-

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Biondo in der Mitte des 15. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen, handelt es sich um Bu¨cher, die die Sehenswu¨rdigkeiten der Stadt in Form von Beschreibungen erkla¨ren und sie mehr oder weniger explizit mit historischen Ereignissen verknu¨pfen.3 Der Begriff „Guiden-“ oder „Reiseliteratur“ ist nur in Teilen zutreffend, weil die Funktion der „Reise-Fu¨hrung“ zumindest im 16. Jahrhundert noch nicht im Vordergrund stand, sondern es hier vielmehr um die Wahrung der eigenen Geschichte ging. In der Kunstgeschichte werden sie zwar sta¨ndig benutzt, aber als „Dokument“-Gattung zu wenig hinterfragt, weil man in ihnen lediglich die Beschreibungen fru¨herer Zusta¨nde von Bauten, zersto¨rter Bauten und verschollener Monumente sucht, oder aber den Geschmackswandel in der Bewertung von Kunstwerken verfolgt. Seltener wurde bislang die Ordnung dieser Bu¨cher selbst untersucht, und damit ebenso wenig das darin eingelagerte historische Interesse an der Ordnung der Stadt, das Ringen um die Verbindung von sta¨dtischem Raum, Bauten und Monumenten (an denen die Stratifikation von Geschichte abzulesen ist) und der Geschichte als einer Form der Narration. ¨ berlegungen hierzu sollen in diesem Beitrag am Beispiel von drei BeschreiErste U bungen Neapels aus dem 16. und 17. Jahrhundert vorgestellt werden, wobei es sich aufgrund des Aufsatzformates nur um knappe Angaben zum Aufbau der Texte und zunehmend ku¨rzere exemplarische Interpretationen von Textausschnitten handeln kann. Ausschlaggebend fu¨r die Auswahl war die Absicht, unterschiedliche Konzepte und Interessen bei der Beschreibung der Stadt vorzustellen, sowie daru¨ber hinaus den Wandel im Umgang mit anderen Medien, die Wahrnehmung von Stilidiomen und Herrschaftszeichen als Indikatoren fu¨r historische Epochen und nicht zuletzt die redaktionelle Bewa¨ltigung des Zuwachses an Information. Pietro de Stefano machte 1560 in seiner Beschreibung der luoghi sacri Nea¨ berreste, Grabma¨ler und Epitaphien insbesondere die Bedeupels, ihrer Gru¨nder, U ¨ berreste bedeutender Perso¨nlichkeiten stark, tung der materiellen und schriftlichen U deren Andenken in Kirchen und Kapellen sowohl durch Monumente aber auch

fu¨hren, wu¨rde den Rahmen sprengen, vgl. zum engeren Kontext: Domenico Giorgio, Un testo per immagini: Il ritratto o modello della grandezza, delizie e meraviglie della Nobilissima citta` di Napoli di Giovan Battista del Tufo, in: Souvenir d’Italie. Il viaggio in Italia nelle memorie scritte e figurative tra il XVI secolo e l’eta` contemporanea, hg. v. Maurizia Migliorini/Giulia Savio, Genova 2008, S. 169–180; Napoli e la sua terra nella letteratura inglese. Antologia di testi scelti dal rinascimento ai giorni nostril, hg. v. Adriana Corrado (Lingue, linguaggi, letterature 4), Napoli 2009; sowie die Zusammenstellung von Neuauflagen a¨lterer Fu¨hrer und die Forschungsliteratur zur Reiseliteratur Neapels bei Vincenzo Trombetta, Le guide di Napoli nell’Ottocento preunitario e l’editoria celebrativa borbonica, in: Viaggiare con i libri. Saggi su editoria e viaggi nell’Ottocento, hg. v. Gianfranco Tortorelli, Bologna 2012, S. 105–148. 3 Das Manuskript Flavio Biondos Italia illustrata entstand in der Mitte des 15. Jahrhunderts; grundlegend dazu Ottavio Clavuot, Biondos „Italia illustrata“ – Summa oder Neuscho¨pfung?, Tu¨bingen, Zu¨rich 1990. Fortgefu¨hrt und deutlich erweitert wurde sein Ansatz von Leandro Alberti, Descrittione di tutta Italia di F. Leandro Alberti Bolognese, nella quale si contiene il sito di essa, l’ origine, et le signorie delle citta`, et delle castella, co i nomi antichet moderni, i costumi de popoli, le condicioni de paesi: et piu gli huomini famosi che l’ hanno illustrata, i monti, i laghi, i fiumi, le fontane, i bagni, le minere, con tutte l’opre maravigliose in lei dalla natura prodotte, Bologna 1550; dazu grundlegend Giancarlo Petrella, L’ officina del geografo. La „Descrittione di tutta Italia“ di Leandro Alberti e gli studi geografico-antiquari tra quattro e cinquecento; con un saggio di edizione (Lombardia-Toscana) (Bibliotheca erudita 23), Milano 2004.

Die Stadt im Buch

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durch Stiftungen fu¨r das Seelenheil wach gehalten werden.4 Auffa¨llig ist dabei insbesondere sein Bemu¨hen, die ra¨umliche Situierung der Monumente sowie die Bedeutung der einzelnen Stiftungen aufzuzeigen, die er nicht zuletzt an deren finanzieller Ausstattung fest machte. Fu¨r den modernen Leser oft ermu¨dend aber dadurch nicht weniger aussagekra¨ftig ist sein, einem Itinerar a¨hnelndes, fiktives Abschreiten des sta¨dtischen Raumes und seiner Kirchen, mit dem er im linear fortlaufenden Text durch relative Ortsangaben und wenige Epitheta die ra¨umlichen und sozialen Relationen erstaunlich gut erfasst. Giovanni Tarcagnota geht es wenige Jahre spa¨ter (1566) explizit um die Beschreibung der Lage (sito) Neapels, sein Lob, sowie darum, die rasanten urbanistischen Vera¨nderungen der letzten Jahrzehnte unter den spanischen Vizeko¨nigen festzuhalten, die er von drei Adligen im Blick auf die Stadt ero¨rtern la¨sst. ¨ berblickes, das Ordnung und Strukturell bestimmend ist hier das Regime des U Scho¨nheit der gut regierten Stadt zelebriert und sich offensichtlich an zeitgeno¨ssischen Karten orientiert (vgl. Abb. 1). Bereits am Titel „Von der Lage und dem Lob der Stadt Neapels mit einer kurzen Geschichte ihrer Ko¨nige und der wu¨rdigsten Dinge, die sich zu ihren Zeiten ereignet haben“, ist die Konzeption abzulesen, die topographische und die historische Beschreibung zu entkoppeln.5 Giulio Cesare Capaccio schließlich konzipiert 1634 einen Dialog mit einem (sehr gelehrt und interessiert konturierten) „Fremden“, dem forastiero.6 Die Dialogform erlaubt es ihm, je nach Interesse mehr oder weniger der bereits abundanten Informationen einzustreuen und in der Distanznahme fu¨r und durch den forastiero gleichsam die Brennweite zu a¨ndern und so abstraktere historische und auch kunsthistorische Betrachtungen anzustellen.

I. Die Geschichte der Stadt in Karten Um die im Folgenden besprochenen Texte verstehen zu ko¨nnen, muss man zumindest die Eckdaten der neapolitanischen Geschichte und Stadtstruktur kennen, die daher kurz unter Zuhilfenahme sogenannter Geschichtskarten (Abb. 2–5) erla¨utert werden sollen, die einzelne Zeitschichten und die zugeho¨rigen Bauten herausfiltern.7

4 Pietro de Stefano, Descrittione de i luoghi sacri della citta` di Napoli, con li fondatori di essi, reliquie

sepolture et epitaphii scelti che in quelle si ritrovano ..., Napoli 1560.

5 Giovanni Tarcagnota, Del sito et lodi della citta di Napoli con vna breue historia de gli re suoi &

delle cose piu degne altroue ne’ medesimi tempi auenute, Napoli 1566. Giorgio, Un testo per immagini (wie Anm. 2), hat auf den ungewo¨hnlichen Modus der auf das Visuelle und Sinnliche abzielenden Portra¨tierung Neapels bei dem zuvor meist bela¨chelten Text von Del Tufo hingewiesen, der ku¨rzlich in einer neuen Edition erschienen ist; Giovan Gioan Battista del Tufo, Ritratto o modello delle grandezze, delizie e maraviglie della nobilissima citta` di Napoli, hg v. Olga Silvana Casale (Documenti di poesia 11), Roma/Salerno 2007. 6 Giulio Cesare Capaccio, Il forastiero, Napoli 1634, neu hg. v. Franco Strazzullo und Claudio Garofalo, Napoli 1993. 7 Zur Geschichte Neapels vgl. den konzisen U ¨ berblick von Giuseppe Galasso, Napoli capitale. Identita` politica e identita` cittadina, studi e ricerche 1266–1860, Napoli 1998. Die Karten stammen aus Enrico Bacco, Naples. An early guide, u¨bersetzt und hg. v. Eileen Gardiner, New York 1991.

Abb. 1: Antonio Lafreri nach E´tienne Dupera´c, Stadtplan von Neapel und Umgebung, 1566

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Fu¨r moderne, an das latent essentialisierende Regime der Karten gewo¨hnte Leser ist dies eine scheinbar selbstversta¨ndliche Lo¨sung eben jener Probleme, die die fru¨hneuzeitlichen Autoren bei der sukzessiven Beschreibung einzelner Bauten, ihrer Monumente und ihrer Auftraggeber hatten, allerdings verschleiern sie durch die Selektion ihrerseits das Palimpsest urbaner Realita¨t. Neapel ist eine griechische Gru¨ndung, die zuna¨chst auf dem Pizzofalcone lag (Abb. 2). Die Neapolis war die zugeho¨rige Neustadt, die von den Ro¨mern weiter ausgebaut wurde. Ihre Struktur ist an dem gleichfo¨rmigen Straßenmuster, dem antiken Forum und dem Theater gut abzulesen. Außerhalb der Stadt lagen ausgedehnte kaiserliche Villen, deren Geda¨chtnis u¨ber die Jahrhunderte erhalten blieb. Das fru¨hund hochmittelalterliche Neapel ist im Vergleich wenig erforscht, weil es vor der Aufwertung zur Residenzstadt in Kampanien neben Sta¨dten wie Amalfi und Salerno keine herausragende Rolle spielte. Zu Recht betont der Plan fu¨r das Spa¨tmittelalter (Abb. 3) die zahlreichen, großen Kirchenneubauten, die vornehmlich unter dem franzo¨sischen Ko¨nigshaus Anjou im 13. und 14. Jahrhundert errichtet wurden.8 Erwa¨hnt seien der Neubau des Domes (20), die Bettelordenskirchen San Lorenzo (11), San Domenico (9) und das riesige Doppelkloster Santa Chiara (16), sowie die Wehrbauten. Konkret sta¨dtebaulich standen die Befestigung und der Ausbau des Hafens im Vordergrund. Zur Markierung der neuen Dynastie wurden jedoch die Kirchenbauten genutzt, deren imposante Gro¨ße das Bild der Stadt damals maßgeblich gepra¨gt haben muss. In der Renaissance, d. h. in diesem Fall bezeichnenderweise erst nach dem Dynastiewechsel 1443, als die Aragonesen in Neapel regierten, verlagerte sich das Interesse von Ko¨nigshaus und Adelsfamilien auf den Bau von Profanbauten, die das Stadtbild, vergleichbar anderen Renaissancesta¨dten, deutlich vera¨nderten (Abb. 4).9 Hervorzuheben als Kirchen mit gro¨ßeren Stiftungen des ko¨niglichen Hauses sind San Pietro Martire, San Domenico und Santa Maria di Monteoliveto. Eine durchgreifende neue Stadtplanung, wie sie etwa in toskanischen Sta¨dten des 15. Jahrhunderts zu konstatieren ist, la¨sst sich in Neapel jedoch nicht festmachen. Lediglich einzelne Pla¨tze, wie die Gegend um den Markt (23), wurden nach funktionalistischen Aspekten neu organisiert. Erst Vizeko¨nig Pedro da Toledo (1532–53 im Amt) hat, will man den stark personenbezogenen zeitgeno¨ssischen Narrativen folgen, mit seinen urbanistischen Projekten das Neapel des 16. Jahrhunderts gepra¨gt (Abb. 5). 8 Vgl. dazu Lorenz Enderlein, Die Grablegen des Hauses Anjou in Unteritalien. Totenkult und Monu-

mente 1266–1343, Worms am Rhein 1997; Tanja Michalsky, Memoria und Repra¨sentation. Die Grabma¨ler des Ko¨nigshauses Anjou in Italien (VMPI 157), Go¨ttingen 2000; Caroline Astrid Bruzelius, The stones of Naples. Church building in Angevin Italy, 1266–1343, New Haven 2004. 9 Die urbanistischen Vera¨nderungen und die Architektur der Renaissance zur Zeit der aragonesischen Herrschaft haben in den letzten Jahrzehnten weniger Aufmerksamkeit erhalten, insbesondere fehlt eine u¨bergreifende Darstellung. Seit 2000 ist ein Band zu „Renaissance Naples“ bei Cambridge University Press „im Druck“. Hierin u. a. die Aufsa¨tze von Anna Giannetti, Urban Design and Public Spaces, Charlotte Nichols, Ecclesiastical Architecture and the Religious Orders, Tanja Michalsky, Tombs and Chapel Decoration, Serena Romano Patrons and Paintings from the Anjou to the Spanish Hapsburgs und Gerard Labrot, The Residence of Power. Vgl. zuletzt mit a¨lterer Lit.: Helen Rotolo, Contributo all’edilizia napoletana del Quattrocento, in: Napoli (wie Anm. 2), S. 57–78. Vgl. auch die hervorragende Arbeit von Bianca De Divitiis, Architettura e committenza nella Napoli del Quattrocento, Venezia 2007.

Abb. 2: Schematische Darstellung Neapels in der Antike

Quelle: Enrico Bacco/Cesare d’Engenio Caracciolo u. a., Naples. An early guide, hg. v. Eileen Gardiner, New York 1991

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Quelle: wie Abb. 2

Abb. 3: Schematische Darstellung Neapels im Mittelalter

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Quelle: wie Abb. 2

Abb. 4: Schematische Darstellung Neapels in der Renaissance

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Quelle: wie Abb. 2

Abb. 5: Schematische Darstellung des „spanischen Neapels“ unter den Vizeko¨nigen

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Bekannteste Maßnahme war die Anlage der nach ihm benannten Via Toledo, die die Stadt im Westen mit einer ganz neuen Achse erschloss und so die Quartieri spagnuoli, die neu errichteten Viertel fu¨r die spanischen Soldaten, an die Stadt zu binden vermochte. Wenn man so will, la¨sst sich hier die Kontrolle der Vizeko¨nige an der milita¨rischen Pra¨senz deutlich ablesen. Projiziert man diese Pla¨ne imagina¨r u¨bereinander oder blickt man auf einen zeitgeno¨ssischen Stadtplan, erahnt man das Palimpsest, mit dem die Autoren des 16. Jahrhunderts konfrontiert waren, als sie die Stadt, ihre Monumente und ihre Geschichte beschreiben wollten. Erschwerend hinzu kommt noch, dass eine fu¨r die neapolitanische Gesellschaft entscheidende sozial-ra¨umliche Struktur, innerhalb derer vornehmlich die Aristokratie ihre Regierung organisierte, auch hier nicht abgebildet ist: jene der seggi na¨mlich, die in der ju¨ngeren Literatur zunehmend als die wichtigste soziale Ordnungsinstanz des mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Neapel entdeckt werden.10 Diese Seggi waren sowohl administrativ politische Einheiten der Stadt, deren Bereiche man in Karten einzeichnen kann (Abb. 6), als auch wohl dekorierte, u¨berkuppelte, halb-o¨ffentliche Versammlungsorte, die es in der Form von Loggien ermo¨glichten, im o¨ffentlichen Stadtraum einen exklusiven Bereich abzugrenzen, um sich dort zu versammeln, aber auch, um sich dort in Szene zu setzen.11 Auch wenn die Unterteilung in Quartiere oder andere Einheiten weit verbreitet war und bis heute die Nachbar- und Seilschaften in Sta¨dten pra¨gt, war sie in Neapel außergewo¨hnlich stark ausgepra¨gt, bestimmte den Klientelismus, die Bau- und Stiftungspraxis und wurde schon in der Fru¨hen Neuzeit ha¨ufig thematisiert. Als Beleg dafu¨r mu¨ssen hier die komprimierte Darstellung Neapels des Sta¨dteplaners und Kartographen Ieronimo Fonticulano (Abb. 7) reichen, der den kartographisch exakt vermessenen Raum der Stadt auf die Mauern, die Hauptachsen, den Markt und eben

10 Der Begriff seggio ist am ehesten zu u¨bersetzen mit Sitz, Sitzungsraum bzw. Stadtteil, denn auch die

historische Bezeichnung schwankt zwischen seggio, piazza oder toccho und meint sowohl ein Viertel als auch den konkreten Versammlungsort. Die Bedeutung dieser Seggi wird in der aktuellen Forschung stark diskutiert, vgl. Maria Antoniette Visceglia, Corpo e sepoltura nei testamenti della nobilta` napoletana (XVI–XVIII), in: Quaderni storici 17 (1982), S. 583–614; dies., Identita` sociali. La nobilta` napoletana nella prima eta` moderna, Neapel 1998, S. 90ff.; Christoph Weber, Familienkanonikate und Patronatsbistu¨mer. Ein Beitrag zur Geschichte von Adel und Klerus im neuzeitlichen Italien, Berlin 1988, S. 279ff.; Giuliana Vitale, La nobilta` di seggio o Napoli nel basso Medioevo: aspetti della dinamica interna, in: Archivio per le province napoletane 106 (1988), S. 151–169; Bartolomeo Caracciolo/ Samantha Kelly, The „Cronaca di Partenope“. An introduction to and critical edition of the first vernacular history of Naples (c. 1350), Leiden/Boston 2011, S. 37–41; John A. Marino, Becoming Neapolitan. Citizen culture in Baroque Naples, Baltimore 2001; S. 14–15, S. 98–99; Tanja Michalsky, La memoria messa in scena. Sulla funzione e sul significato dei ‚sediali‘ nei monumenti sepolcrali napoletani intorno al 1500, in: Le chiese di San Lorenzo e San Domenico. Gli ordini mendicanti a Napoli, hg. v. Nicolas Bock/Serena Romano, Neapel 2005, S. 172–191; Tanja Michalsky, Einleitung, in: Ordnungen des sozialen Raums. Die Quartieri, Sestieri und Seggi in den fru¨hneuzeitlichen Sta¨dten Italiens, hg. v. ders./Grit Heidemann, Berlin 2012, S. 7–18; Bianca de Divitiis, Die Seggi des Patriziats, in: Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte, hg. v. Salvatore Pisani/Katharina Siebenmorgen, Berlin 2009, S. 99–104. 11 Die Bauten sind heute fast alle zersto¨rt – einzelne Reste haben sich jedoch erhalten. Vgl. dazu die gut informierende und mit zahlreichen Belegen versehene Internetseite ... www.nobili-napoletani.it/ sedili_di_Napoli.htm [15. 7. 15].

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Abb. 6: Moderner Stadtplan Neapels mit Einzeichnung der Seggio-Bezirke Quelle: Rosalba di Meglio, Il convento francescano di San Lorenzo di Napoli, Salerno 2003, S. 30

die Seggi reduziert,12 sowie die Erwa¨hnung dieses offensichtlich Verwunderung hervorrufenden Systems in der Italienbeschreibung Leandro Albertis. Wohl von hier aus hat sie Eingang in weitere Kompendien gefunden, wie die Sta¨dtebeschreibungen von Georg Braun und Frans Hogenberg, die in ihrem kurzen Text ausdru¨cklich vermerken, es ga¨be vier „Curien“, in denen Fu¨rsten, Herzo¨ge, Markgrafen und weitere Sta¨nde zusammenka¨men, um o¨ffentliche Angelegenheiten zu diskutieren.13 Ohne das

12 S. Ieronimo Pico Fonticulano, Breve descrittione di sette citta` illustri d’Italia, L’Aquila 1582, neu

hg. und kommentiert v. Mario Centofanti, L’Aquila 1996, mit weiterer Literatur. Vgl. zur Genauigkeit der in der Karte verarbeiteten Daten Daniela Stroffolino, Technice e metodi di rappresentazione della citta` dal XV al XVII secolo, in: Napoli e i centri della provincia. Iconografia delle citta` in Campania, hg. v. Cesare de Seta/Alfredo Buccaro, Napoli 2006, S. 33–45, hier S. 40; Vgl. dazu ausfu¨hrlicher Tanja Michalsky, Gewachsene Ordnung. Zur Chorographie Neapels in der Fru¨hen Neuzeit, in: Ra¨ume der Stadt von der Antike bis heute, hg. v. Cornelia Jo¨chner, Berlin 2008, S. 267–288. Bereits 1444 entstand eine Beschreibung Neapels, die auf die Hauptstraßen und die Seggi abhebt, „La ditta citade se parte in cinque parti e cinque sedie ... le qual Sedie sonno lozie lavorate e ornate, dove se reduce tuti i zentilhuomini delle ditte contrade ...“, vgl. Cesare Foucard, Descrizione della citta` di Napoli e statistica del regno nel 1444, in: Archivio storico per le province napoletane 2 (1877), S. 725–757, bes. S. 732. 13 Bei Alberti, Descrittione (wie Anm. 3), fol. 164r, heißt es: „ove si raunano i Prencipi, Duchi, Marchesi, Cavalieri, Conti, Baroni, & altri Signori a trattare le cose della citta` “. Bei Braun/Hogenberg wird dar-

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Abb. 7: Ieronimo Pico Fonticulano, Stadtplan von Neapel, 1582 Quelle: Geronimo Pico Fonticulano. Breve descrittione di sette citta` illustri d’Italia, hg. v. Mario Centofanti, L’Aquila 1996, S. 91

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hier grundlegend ausfu¨hren zu ko¨nnen, ist zu betonen, wie deutlich anhand des allgegenwa¨rtigen Systems der Seggi den Bewohnern und den Historikern die Vernetzung von Raum und Gesellschaft war, die sich, wie nun zu zeigen sein wird, auch in den Texten niederschla¨gt.

II. Orte der Erinnerung im Text des sta¨dtischen Raums

Zuna¨chst zur Vorrede des Werkes von Pietro de Stefano, das die Rolle der materiellen und schriftlichen Erinnerung fu¨r die Geschichte und damit auch die Bedeutung der Stadt thematisiert.14 Der Verleger Anello Pacca betont, wie wichtig es sei, Namen und Taten der zu Recht beru¨hmten Menschen einer Stadt festzuhalten, weil sie sich und ihr mit Vernunft und dem „Licht des Intellekts“ einen Namen gemacht ha¨tten.15

aus: „Curiae quaternae, quas Sedes appellant, Capuana, Nidensis, Montana, sanctique Georgii, quo Principes, Duces, Marchiones, omnesque caeteri ordines ad consultandum communiter, ac de rebus publicis convenient“, Georg Braun/Franz Hogenberg, Civitates orbis terrarum, 6 Bde., 1572–1618, neu hg. v. Raleigh Ashlin Skelton, Kassel 1964, Bd. I, fol. 47. Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), widmet sich dem Pha¨nomen in einem kleinen Passus, fol. 19r-19v. Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), bescha¨ftigt sich mit ihnen im Kapitel zu den ‚Nationen‘ in Neapel ausfu¨hrlicher, S. 692–698 und la¨sst eine Liste der einzelnen Familien folgen. In einer deutschen Ausgabe von Sebastian Mu¨nsters Kosmographie (Basel 1628, S. 467–468) wird dieses „sonderbare“ Pha¨nomem der deutschen Leserschaft folgendermaßen nahe gebracht: „Zu den fu¨nf Sessionen des Adels / sind in underscheidenlichen orten der Statt fu¨nff sonderbare Ha¨user und Palla¨st / gleichsam wie Theatra / in denen der Adel / zu welcher Session ein jeder geho¨rig / zusammen kommen / miteinander von dem gemeinen Nutz zu berathschlagen.“ Bereits im 18. Jahrhundert wurde dem Pha¨nomen eine ausfu¨hrliche Studie gewidmet, die lange die Basis fu¨r weitere Arbeiten bildete: Camillo Tutini, Dell’origine e fundazione de’ seggi di Napoli, Neapel 21754. 14 Vgl. den Eintrag zu Pietro de Stefano in Amirante, Guide (wie Anm. 2), S. 18–20. U ¨ ber den Autor ist wenig bekannt. Es gab nur eine Auflage des Bandes. Auch Amirante weist auf die ungewo¨hnlich genaue Lokalisierung der beschriebenen Werke hin, sowie auf die spezifische Perspektive, aus der heraus nicht alle Beru¨hmtheiten der Stadt und Ku¨nstler bedacht werden, die zuvor erwa¨hnt wurden. Z. B. gibt er beim Grab von Iacopo Sannazaro in Santa Maria del Parto nicht den Ku¨nstlernamen Montorsoli an, sondern beschra¨nkt sich darauf, von einem beru¨hmten Bildhauer zu sprechen. 15 „Quindi e` che altri in una sorte di scienza, altri con altra maniera di dottrina hanno voluto far chiaro al mondo se´ esser stati al mondo et haver vissuto vita d’huomo, reggendosi col reggimento della raggione, et governandosi col lume del’intelletto et col discorso di quello, onde a` se´ et a’ suoi non poco nome hanno acquistato. Quindi sono illustrate le famiglie, nobilı`te le cittadi et fatte famose le genti, ond’e` causato che quanto piu` de simili huomini sono ritrovati in una citta`, tanto a quella maggior nome hanno acquistato, como si potra` chiaramente comprendere nella mia nobilissima patria, la quale dal suo bel principio essendo stata continuo ricetto d’huomini savii, illustri et degni, per ogni honorato effetto a quelli pertinente, pareva [5r] che solo in questo, di non poca importanza et di molta delettatione, mancasse: et cio` era l’haver pensiero dei luoghi sacri et degli epitaphii scritti ale ceneri di coloro che in qualsivoglia modo hanno, o con gl’effetti o almeno con la volunta`, dato qualche segno d’honore a questa cosı` honorata madre; quel che gia` molti hanno fatto in Roma, in Spagna et in diverse altre cittadi e provintie. Quando ecco uno spirto non men pietoso che d’ogni altra virtu` ornato, il quale, oltra le altre parti che in tutte l’honorate sue operationi ha dimostrato, hora assai piu` che mai amorevole verso la nostra cara madre si e` scoverto, poiche´, non curandosi in altra sorte d’honore, al che infiniti son stati et sono quelli che vi diero opera, esso solo ad quest’una imperfettione attendendo, vol dar notitia al

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Daher habe man (schon immer) Familien vorgestellt, die Bu¨rger der Stadt geadelt und auch die Leute (le genti) beru¨hmt gemacht, weil, je mehr solcher Menschen sich in einer Stadt fa¨nden, sie umso mehr zu ihrem großen Namen beitragen wu¨rden, wie man ganz klar im Fall seines „edelsten Vaterlandes“ sehen werde, welches von Anfang an immer weise, beru¨hmte und wu¨rdige Ma¨nner empfangen habe, so wie es ihnen gebu¨hrte. Eines jedoch, was aber keineswegs unwichtig sei und viel Vergnu¨gen mit sich bringe, scheine bisher zu fehlen: der Gedanke na¨mlich bzw. das Gedenken an die ¨ berreste jener, die in ganz unterKirchen (luoghi sacri) und die Epitaphien fu¨r die U schiedlicher Weise, sei es wirkungsvoll oder auch nur der Absicht nach, irgendein Zeichen der Ehre an ihre so geehrte Mutter (Neapel) gegeben haben. Es fehle hier also das, was schon viele in Rom, Spanien oder auch anderen Sta¨dten und Provinzen getan ha¨tten. Nun solle der Welt Notiz davon gegeben werden, dass Neapel eine nicht ¨ bermaß an geweihten Orten ersichtlich sei, weniger religio¨se Stadt wa¨re, wie an dem U die ho¨chst pieta¨tvoll mit den Verstorbenen umgehe, denen sie sta¨ndig Grabkapellen baue, Gra¨ber errichte, Marmortafeln (marmi), Statuen und Kolossalstatuen aufstelle. Als besonders wichtig hebt er hervor: Sie ga¨ben auf gelehrte Weise Auskunft u¨ber die Geschehnisse, u¨ber die Familien und u¨ber die mit den Epitaphien ausgewa¨hlten Personen, von denen man wenig oder gar nichts wu¨sste, wenn es diese Monumente nicht ga¨be.16 Fu¨r unseren Zusammenhang aufschlussreich ist an diesem Passus, wie viel Wert Pacca auf die Materialita¨t von kulturellem Geda¨chtnis legt, wenn er ausdru¨cklich erwa¨hnt, dass die Geschichtsschreibung und die Erinnerung der Ehrenzeichen bedu¨rfen, ohne die viele bedeutende Perso¨nlichkeiten ansonsten la¨ngst in Vergessenheit geraten wa¨ren. Die Formulierung l’haver pensiero dei luoghi sacri et degli epitaphii scritti changiert dabei zwischen der Bedeutung „auf die Idee kommen“, „den ¨ berreste zu sammeln und zu edieren, und dem ohnehin Gedanken fassen“, diese U praktizierten aber nicht fixierten „Gedenken an“, also der gesellschaftlichen Memoria. Was fast wie eine Beschreibung aus der modernen Memoria-Forschung klingt, stellt sich im Detail selbstredend anders dar, dennoch wird im weiteren Text deutlich, wie eng die luoghi sacri mit der profanen Geschichte der Stadt verbunden sind – wie sehr Kirchen mit Pala¨sten korrespondieren und wie stark ihre Ausstattung an die soziale Ordnung der Stadt gebunden ist. Die Ordnung des Buches sieht vier Kapitel vor: Pfarrkirchen (fol. 7–100),17 Klo¨ster, sortiert nach Orden, wobei erst die a¨lteren, dann die ju¨ngeren erwa¨hnt wer-

mondo Napoli esser stata non meno religiosissima, il che appare per l’abondanza dei luoghi sacri, che pietosissima verso li suoi passati, ali quali ogn’hora edifica sepolcri, fabrica sepolture, inalza marmi, statue et colossi“, de Stefano, Descrittione (wie Anm. 4), fol. 4v–5r, zitiert hier und zuku¨nftig nach der Memofonte-Ausgabe, hg. v. Stefano d’Ovidio/Alexandra Rullo, Napoli 2007. Die Paraphrasierung oben versucht, den Duktus des Textes beizubehalten, spitzt aber in einigen Passagen zu. 16 „et, quel che piu` importa, dando dottamente notitia dei fatti illustri, dele famiglie honorate et dele persone scelte con li soi epitaphii, fura alla morte quelli i quali, se cio` non fusse, poco o niente al mondo seriano noti“, ebd., fol. 5r. 17 Die Pfarrkirchen sind differenziert in vier „chiese grandi“, 22 Pfarreien, sowie weitere kleinere Kirchen.

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den (fol. 101–221),18 Frauenklo¨ster (fol. 222–242), sowie abschließend vereinzelte Gedenksteine in der Stadt (fol. 243–265). Dies ist letztlich eine hierarchische Ordnung, in der sich vorderhand kein Zugriff auf die topographische und soziale Ordnung der Stadt spiegelt. Bei der Einfu¨hrung zu den einzelnen Klo¨stern sowie auch an manch anderen Stellen wird die ra¨umliche Ordnung im Text jedoch thematisiert und en passent fließen so auch Bemerkungen zu den sozialen Verflechtungen ein. In den einzelnen Kapiteln schreitet der Autor die Kirchen gleichsam ab, und man bekommt den Eindruck, als ko¨nne man den Text besser verstehen, wenn man bei der Lektu¨re einen Stadtplan benutzte. Zur Lokalisierung der Bauten bedient sich de Stefano na¨mlich relativer Ortsangaben, die einerseits der wo¨rtlich gemeinten Orientierung des Lesers dienen sollen, andererseits aber auch Relationen zwischen Kirchen, den fu¨r die ra¨umliche Ordnung Neapels wie erwa¨hnt a¨ußerst relevanten Seggi und auch einzelnen Pala¨sten benennen. Innerhalb der Kirchenbeschreibungen greift folgende Ordnung: Weihetitel, relative Ortsangabe, wo sich die Kirche befindet (meist in Relation zum Seggio und zur vorher beschriebenen Kirche), Angaben zum Gru¨nder bzw. Stifter (wenn dieser bekannt ist), Einnahmen, Reliquien, und abschließend einzelne Monumente, die nur a¨ußerst selten in ihrer Gestalt beschrieben werden (allerdings mit den Epitaphien in ganzer La¨nge) und zuweilen Bewertungen enthalten, na¨mlich ob es sich um ein bello, bellissimo oder gar superbo Werk handelt. Um das System vor Augen zu fu¨hren sei ein kleiner Textausschnitt, die Akkumulation einiger Kapellen aus dem Seggio di Capuana, zuna¨chst fast wo¨rtlich u¨bersetzt und im Anschluss analysiert.19 De Stefano schreibt: San Pietro befindet sich gegenu¨ber dem bereits benannten Seggio (di Capuana) und direkt bei dem (oder im) Palast des Magnifico Ettore

18 D. h. Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner (geteilt in Observanten und Konventualen) und

Augustiner-Eremiten.

19 „Santo Pietro e` una cappella sita al’incontro del detto seggio [di Capuana] et proprio sotto lo palazzo

del magnifico Hettore Minutulo. E` ancho iuspatronato di detta famiglia de’ Minutoli; have d’intrata circa ducati venticinque, detta famiglia tiene pensiero dela celebratione, et la fanno offitiare da’ frati di santo Augustino. – Santo Paolo e` una bella cappella posta ad muro con lo Seggio di Capuana, et e` iuspatronato dela nobil famiglia di Capeci, nobili de detto seggio. S’intende che ha d’intrata circa ducati cento cinquanta, pero` detta famiglia vi tiene li preti per la celebratione dele messe che di continuo vi se dicono. – Sant’Angelo e` una capella posta negli tenimenti di Capuana, et proprio al’incontro del Palazzo dell’Arcivescovato; qual capella e` stata annessa col Capitolo di Napoli, che tiene cura far celebrare le messe nel’Arcivescovato per l’anima del fundatore. – Santa Maria delle Stelle e` una capella antica sita nella piazza nominata lo Vico dele Cite, e proprio prossimo al Seggio di Capuana. E` iuspatronato della nobile famiglia di Minutoli, have d’intrata circa ducati trenta, e detta famiglia tiene pensiero farvi celebrare. – Santa Maria di Mezzo Agosto e` una cappella posta neli tenimenti di Capuana, et proprio nella strada per la quale si camina di sotto lo campanaro di Santa Maria a Piazza verso la Strada di Capuana nela man sinistra; qual e` iuspatronato de[30v]la nobil famiglia de’ Figlimarini, have d’intrata circa ducati trenta, e detta famiglia tiene cura farvi fare lo sacrificio. – Santa Maria de’ Tomacelli e` una capella posta pur neli tenimenti di Capuana, e proprio nela strada seu vico dela nobil famiglia de’ Carboni a man destra quando si camina verso la Strada di Capuana. Fu fundata da detta famiglia de’ Tomacelli, per le armi che.lla` depinte appareno. Al presente dicono essere ius patronato del seggio, have d’intrata ducati quaranta quattro, e lo seggio tiene pensiero farci celebrare“, ebd., fol. 30r-v.

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Minutolo. Auch das Ius patronatus besitzt die bereits erwa¨hnte Familie Minutolo, (d. h. sie kann u¨ber die Nutzung und Belegung der Kapelle mit weiteren Gra¨bern bestimmen). Die Einnahmen (aus den Stiftungen, die in den meisten Fa¨llen Legate sind, die Einku¨nfte abwerfen) belaufen sich auf ca. fu¨nfundzwanzig Dukaten. Die Familie ku¨mmert sich um die Messen, die von Augustinerbru¨dern gehalten werden. Santo Paolo ist eine scho¨ne Kapelle, direkt an der Mauer des Seggio, das Ius patronatus hat die Familie Cenci, eine Adelsfamilie des Seggio. Man nimmt ca. 150 Dukaten Einnahmen an, aber die Familie unterha¨lt selbst die Priester, die ununterbrochen Messen lesen. Die Kapelle Sant’Angelo liegt im Bereich des Seggio, direkt dem Erzbischo¨flichen Palast gegenu¨ber. Sie ist dem Kapitel zugeordnet, das die Seelenmessen fu¨r den Gru¨nder im Dom feiern la¨sst. Santa Maria delle Stelle ist eine alte Kapelle an der Piazza namens „Vico dele cite“ und wirklich ganz nah (proprio prossimo) beim Seggio di Capuana. Das Ius patronatus hat die Adelsfamilie Minutolo, die Einnahmen liegen bei ca. dreißig Dukaten und die besagte Familie ku¨mmert sich um die Messen. Santa Maria di Mezzo Agosto liegt im Bereich des Seggio und genau auf der Straße, durch die man am Glockenturm von Santa Maria in Piazza zur Strada di Capuana la¨uft auf der linken Seite. Das Ius patronatus hat die Adelsfamilie Figlimarini, die Einnahmen liegen bei ca. dreißig Dukaten und die Familie ku¨mmert sich um die Messen. Santa Maria dei Tomacelli liegt im Bereich des Seggio und zwar genau auf der Straße bzw. dem Winkel der Adelsfamilie Carbone, zu rechten Hand, wenn man in Richtung Strada di Capuana geht. Sie wurde von der besagten Familie der Tomacelli gegru¨ndet, wie aus den dort gemalten heraldischen Zeichen hervorgeht. Heute, so sagt man, liegt das Ius patronatus beim Seggio, sie nimmt 44 Dukaten ein – und der Seggio ku¨mmert sich um die Messen. Ordnung stiftendes Zentrum dieser Aufza¨hlung von kleinen Kapellen ist ganz offensichtlich der Seggio di Capuana, der sich unterhalb des Domes an der Kreuzung vom Vico Sedil Capuano und der Via dei Tribunali befand und heute Teil eines ju¨ngeren Geba¨udes ist.20 Die Kapellen befinden sich gegenu¨ber, direkt an seiner Mauer, ganz nah oder auch nur in seinem Bereich. Abgesehen davon stehen sie in ra¨umlichen Bezu¨gen zu den Pala¨sten jener Familien, die auch das Ius patronatus innehaben. Eigens erwa¨hnt wird dabei, ob es sich um Adelige und Familien des Seggio handelt. Und der Fall von Santa Maria dei Tomacelli zeigt, dass Kapelle und Seggio so eng zusammengeho¨ren, dass der Seggio das Ius patronatus u¨bernimmt, wenn die Kapelle nicht mehr von der Familie gepflegt wird, so wie es hier der Fall zu sein scheint, wo nur noch die Wappen an die Gru¨nder Tomacelli erinnern, ein Umstand, den de

20 Vgl. Italo Ferraro, Napoli. Atlante della citta` storica, 6 Bde., Napoli 2002ff., hier Bd. I, S. 250–252.

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Stefano eigens hervorhebt, weil daran die Effizienz materieller Erinnerungszeichen deutlich wird.21 Die sozialen Verflechtungen selbst sind bekannt.22 Wie stark diese sich jedoch in der Wahrnehmung des sta¨dtischen Raumes als einem dichten Beziehungsgeflecht wiederfinden, wurde bislang kaum untersucht. Der Text von de Stefano offenbart das dringende Anliegen, die Nachbarschaften von Kapellen, Pala¨sten und Kirchen zu benennen, obwohl sie fu¨r den eingangs geschilderten Zweck seines Buches, na¨mlich die Erinnerung an die wu¨rdigen Personen der Stadt zu wahren, gar nicht vonno¨ten wa¨ren. Sie wa¨ren auch nicht no¨tig, um die Kapellen zu lokalisieren, sie sind vielmehr ¨ bersetzung eines belebten und bebauten Stadtraumes, in dem sich die sprachliche U die sozialen Netzwerke und Hierarchien auch ra¨umlich relational abbilden, und dies gilt auch fu¨r einzelne Kirchen. San Domenico geho¨rt aufgrund der vielen hier gestifteten Kapellen und Grabma¨ler zu den Kirchen, die besonders ausfu¨hrlich beschrieben werden:23 Nach der Einleitung mit den u¨blichen Angaben zum Seggio di Nido, den Einku¨nften von 2500 Dukaten pro Jahr und einem kurzen Abriss der Geschichte und der Stifterta¨tigkeit Ko¨nig Karls II. von Anjou, sowie dem Besitz der Arm-Reliquie des Hl. Thomas von Aquin betritt de Stefano imagina¨r die Ordenskirche und folgt bei der Besichtigung einer Ordnung, die hier etwas ausfu¨hrlicher wiedergegeben sei. In der Hauptchorkapelle nennt er die superbi Marmor-Grabma¨ler der beiden So¨hne Karls II. von Anjou, Philipp von Tarent und Giovanni Durazzo (rechts und links), sowie ebenda links den mit Gold und Samt bedeckten Sarg des Marchese da Pescara (col suo trabacchino di velluto et tela d’oro). In der Sakristei za¨hlt er die Sa¨rge der Aragonesen auf, die mit Samt und goldenem Tuch verziert sowie mit Distychen auf Inschrifttafeln (cartigli) versehen sind. Oben liegt Alfonso I., daneben (appresso) Ferrante I., Ferrante il Giovane, seine Gattin Giovanna, Isabella (Herzogin von Mailand), Antonio v. Aragon, Duca di Mont’Alto, dessen Sohn Pietro d’Aragonia und schließlich der Duca di Gravina. Aus dem wiederholten appresso oder seguente ist abzuleiten, dass schon 1560 sa¨mtliche Sa¨rge nebeneinander oben an den Wa¨nden angebracht waren.

21 Vgl. zum Recht des Seggio, das Ius patronatus von Kapellen zu u¨bernehmen Visceglia, Corpo (wie

Anm. 10), S. 601.

22 Zu der Grablegepraxis, nach der die Adelsfamilien sich in Neapel großteils nach ihrer Zugeho¨rig-

keit zu den verschiedenen neapolitanischen Seggi in den entsprechenden Kirchen bestatten ließen, s. Visceglia, Corpo (wie Anm. 10), und Giuliana Vitale, Modelli culturali nobiliari a Napoli tra Quattro e Cinquecento, in: Archivio storico per le province napoletane 105 (1987), S. 27–103; sowie Tanja Michalsky, Schichten der Erinnerung. Tradition, Innovation und Aemulatio in der neapolitanischen Sepulkralplastik, in: Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters, hg. v. Michael Borgolte/Cosimo Damiano Fonseca/Hubert Houben (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient), Bologna/Berlin 2005, S. 99–131. 23 Aufgrund der Ausfu¨hrlichkeit der Passage wird auf ein wo¨rtliches Zitat verzichtet. Zu den hier para¨ berphrasierten Beschreibungen kommen, wenn vorhanden, jeweils die Inschriften in Latein und U setzung, vgl. de Stefano, Descrittione (wie Anm. 4), fol. 104–199v. Zu San Domenico vgl. bei Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 28; Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 877, erwa¨hnt neben Alter, Gro¨ße, Reichtum, Bibliothek etc. die ko¨niglichen Gra¨ber und die zahlreichen Adelsgrabma¨ler (della maggior parte della nobilta` Napolitana), die dem Orden gro¨ßte Majesta¨t verleihen.

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Aus der Sakristei herauskommend und auf die Hauptchorkapelle zusteuernd, liegt rechts die Kapelle der illustren Familie Carafa mit einem Grab, das mit schwarzem Samt geschmu¨ckt ist. In der Kapelle des Bischofs von Ariano und derzeitigen Kardinals werden erwa¨hnt: die Gra¨ber des „Patriarchen“, des Bischofs Bernardino Carafa (aus Marmor), ein Bodengrab des Bischofs mit einem Bildnis aus seiner Zeit als Bischof, eine runde schwarze Bodenplatte mit der Inschrift Terra tegit terram, die de Stefano fu¨r erkla¨renswert befindet. Von dort aus wendet er sich ins Mittelschiff, und Richtung Hauptportal gehend liegt rechts (heute wu¨rde man sagen im linken Seitenschiff) die Kapelle des Malitia Carafa mit dessen marmornen Grab. Gegenu¨ber dem kleinen Eingang der Kirche hingegen befindet sich die Kapelle des Antonio Rota mit einem marmornen Grab fu¨r ihn selbst und seine Frau Lucretia. Direkt bei jener kleinen Tu¨r wurde erst ju¨ngst (li giorni passati) das Grab der Porzia Capece errichtet, der Frau von Bernardino Rota. Nun wechselt de Stefano noch einmal die Seite der Kirche, um in den Cappellone zu gelangen, die gro¨ßte Kapelle der Dominikanerkirche, in der einzelne kleine Kapellen vereint sind.24 Er bemerkt rechts das marmorne Grab des Paares D’Alagno, daneben das modernere und daher als assai superbo di bellissimi marmi gelobte Grab von Placito Sangro. Direkt beim Altar (demjenigen des einleitend beim Passus zum Konvent erwa¨hnten wunderta¨tigen Kreuzes, das zu Thomas von Aquin gesprochen hat); rechts ein scho¨nes Grab der Carafa (mit dem Wappen, das er erwa¨hnt, weil es keine zu zitierende Inschrift gibt), dem gegenu¨ber, vom Altar aus gesehen rechts, das a¨hnliche Grab (simil sepolcro) des Francesco Carafa. In der Na¨he (appresso) liegt die Kapelle der Geburt mit dem sehr scho¨nen (bellissimo) Grab des Ettore Carafa. Daneben, bei der Eingangstu¨r zum Cappellone, folgt eine weitere Kapelle der Adelsfamilie Del Doce mit mehreren Gra¨bern. Rechts beim Eingang das marmorne Grab des Raynaldo del Doce, am Boden ein Terrakottagrab mit dem Motto Vt se reseminat Ales, das de Stefano als besonders scho¨n lakonisch (sentenza bellissima laconica) lobt und erla¨utert. Der Autor verla¨sst den Cappellone, erwa¨hnt nun die Kapelle der Muscettoli auf der anderen Seite des Kirchenschiffes mit einem eigens hervorgehobenen dreigeteilten Eisengitter und den Sa¨rgen, die fu¨r Giovanella Marramalda und ihren Mann Giovan Antonio mit Samt und fu¨r ihren Sohn Francesco mit weißer Seide geschmu¨ckt sind. Dann folgen in loser Ordnung die der Magdalena geweihte Kapelle (die letzte links, wenn man hinausgeht – in moderner Konvention die erste Seitenkapelle rechts) mit dem bescheidenen Grab des Jacopo Brancaccio, das sich halb am Boden befindet; davor das Bodengrab der Blancina de Barcellona; wieder vom Haupteingang betrachtet auf der linken Seite ein Bodengrab; dann nochmal von der Hauptchorkapelle rechts (also auf der gleichen Seite) ein Bodengrab vor einem Altar. In der gleichen Richtung stehend aber links vor der kleinen Eingangstu¨r in einem großen Winkel (cantone) die u¨bereinanderliegenden Marmorgra¨ber, von denen de Stefano nur das obere des Giovan Francesco Ruffo benennt. Wieder in der gleichen Blickrichtung zum Ausgang, nach rechts blickend (also auf der gleichen Seite) Kapelle und Grab von 24 Vgl. zum Ensemble dieser Kapelle Tanja Michalsky, Conivges in vita concordissimos ne mors

qvidem ipsa disivnxit. Zur Rolle der Frau im genealogischen System neapolitanischer Sepulkralplastik, in: Marburger Jahrbuch 32 (2005) S. 73–91, mit Literatur.

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Giordano und Carlo Ruffo. Den Abschluss dieser ausufernden Liste an Monumenten, die alle mit den Inschriften in Latein und Volgare angegeben sind, bildet erstaunlicherweise die verha¨ltnisma¨ßig unwichtige, aber den Autor anru¨hrende Inschrift des Waschbeckens im Refektorium. Gerade weil die Lokalisierung der Grabma¨ler fu¨r unsere Gewohnheiten so umsta¨ndlich wiedergegeben ist, wird offensichtlich, wie wichtig sie dem Autor war, wa¨hrend er fu¨r die konkrete Gestalt anscheinend keine Augen hatte. Er betont Relationen, sieht Gruppierungen und Achsen, die den Text implizit durchziehen. Auffa¨llig ist die hierarchische Abfolge der wichtigsten, ko¨niglichen Gra¨ber zu derjenigen des Adels. Daneben za¨hlt fu¨r de Stefano die Zusammengeho¨rigkeit einzelner Familien, deren Monumente – in Absehung von der Verteilung im Kirchenraum – gemeinsam besprochen werden, aber gerade dadurch einzelne besonders komplizierte Ortsbeschreibungen nach sich ziehen. Lediglich im Capellone, der um 1500 verha¨ltnisma¨ßig homogen von einigen Adelsfamilien ausgestattet wurde, wird der Rundgang strikt eingehalten, so dass die Monumente und damit diese Familien des Seggio – wie wohl auch von jenen intendiert – als Gruppe wahrgenommen werden ko¨nnen.25 Die Nomenklatur zum Lob der Monumente ist zwar sehr grob, aber umso sta¨rker fa¨llt es ins Gewicht, wenn de Stefano Marmor, Terrakotta, Samt, Gold und Seide angibt, die die erwa¨hnten Gra¨ber aus der Vielzahl der anderen Gra¨ber herausheben. Ein kleines simil, wie bei den Gra¨bern der Bru¨der Carafa im Cappellone, la¨sst aufhorchen, weil sie – zu Recht – als Pendants wahrgenommen werden. So unerquicklich dies fu¨r Kunsthistoriker ist, das a¨sthetische Urteil tritt angesichts der schieren Menge von Epitaphien und deren Lokalisierung weit in den Hintergrund und dies gilt selbst fu¨r solch beru¨hmte Werke wie das u. a. von Donatello gemeißelte Grab des Rainaldo Brancaccio in der Kirche Sant Angelo (gleich gegenu¨ber von San Domenico) im Seggio di Nido.26 De Stefano ha¨lt den Erbauer fu¨r erwa¨hnenswert, dessen Todesjahr und Privilegien, sowie die u¨berdurchschnittlichen Einnahmen und die hohe Anzahl von Priestern und Diakonen. Erneut ist die Kirche in den Ha¨nden der Adligen des Seggio, die auch das Hospital unterhalten. Das Grab bezeichnet er kursorisch als scho¨n – da es jedoch keinerlei Inschrift tra¨gt, widmet er ihm keine weitere Zeile.27 25 Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 720, erkla¨rt die gesamte Anlage der zahlreichen Adelsgrabma¨ler

im Kapitel u¨ber die verschiedenen ‚Nationen‘ in Neapel mit dem wunderta¨tigen Kreuz: „ Ma io soggiongo, che molti di questi Signori stan sepolti in quel loco presso al quale e` la Cappella dove il glorioso S. Tomaso d’Aquino fu degno di sentir parlare quel glorioso Crocifisso“; vgl. Anm. 23. Zum Problem des Adels, sowohl Distinktion als auch Gruppenkonformita¨t zu demonstrieren s. Michalsky, Schichten (wie Anm. 22). 26 „Sant’Angelo nel Seggio di Nido e` una chiesa qual fu edificata per l’illustrissimo et reverendissimo Rainaldo Brancatio, cardinal de’ Santi Vito et Marcello, com’appare per li suoi privilegii nel’anni mille quattrocento; dopo morı` nel’anno mille quattrocento et deceotto. Qual chiesa have d’intrata circa ducati mille e trecento, si governa per li nobili di detto seggio; nel presente vi teneno preti nove et diaconi quattro. Vi e` un bello hospidale per li febricitanti; di certo si governa assai bene“: de Stefano, Descrittione (wie Anm. 4), fol 33r. Auch Capaccio erwa¨hnt das Hospital: „Et io aggiungero` altri hospedali in Napoli quello ch’e` in S. Angelo a Nido, fondato dal Cardinal Brancaccio, servito con molto splendore“: Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 916. 27 „Dentro detta chiesa vi e` un bello sepolcro di marmo, dove sta il mortale di detto cardinale senza alcun epitaphio“: de Stefano, Descrittione (wie Anm. 4), fol. 33r. Das ku¨nstlerisch weniger u¨berzeugende

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Aufs Ganze gesehen gera¨t die Beschreibung der luoghi sacri Neapels zu einem Netzwerk von Stiftungen ganz unterschiedlicher Bedeutung, in dem die individuellen und politischen Bemu¨hungen, Geschichte im Gedenken an einzelne Personen zu bewahren, im Raum der Stadt verortet werden. Die in der Einfu¨hrung Paccas hervorgehobene Religiosita¨t der Stadt und die Kapiteleinteilung nach Zugeho¨rigkeit der Kirchen zu Pfarren oder Orden bleiben letztlich vordergru¨ndig, da sich erst in der je neu vorgenommenen Abschreitung des sta¨dtischen Raums und der einzelnen Kirchen die Verknu¨pfungen ermessen lassen, die jenes soziale Gefu¨ge bestimmen, das sich aus der in den Monumenten bewahrten Vergangenheit herleiten la¨sst.

III. Die Stadt im Blick

Wie bereits erwa¨hnt, ist Giovanni Tarcagnota bei seiner Beschreibung Neapels 1566 ¨ berresten interessiert als an weniger an einzelnen Monumenten und schriftlichen U der Lage der Stadt einerseits und ihrer chronologisch dargebotenen Geschichte andererseits.28 Das Werk ist in drei Bu¨cher unterteilt: Buch I bescha¨ftigt sich explizit mit der Lage, einzelnen Orten (Mauern, Kastellen und Sakralbauten) und der Organisation der Regierung (fol. 1–36v). Buch II handelt von der Geschichte der Stadt seit der Gru¨ndung bis etwa 1458, dem Tod Alfons’ I. von Aragon (fol. 27–108v). Buch III umfasst die letzten ca. hundert Jahren bis in die Gegenwart des Autors (fol. 109–173). In unserem Zusammenhang sei der Fokus auf den ersten Teil gelegt, da hier Lage und Ort (sito und luogo) unterschieden werden, der Blick auf die Stadt inszeniert wird, und nicht zuletzt, weil hier erneut die Erinnerung der stets gefa¨hrdeten Erinnerung an die Vergangenheit diskutiert wird. Der Autor beginnt mit dem topischen Lob von Sta¨dten als Hort und Zeichen menschlicher Zivilisation und listet etliche Qualita¨ten Neapels auf, um schließlich auch den historisch gewachsenen Charakter der Stadt in einem Amalgam aus Unbestimmtheit bzw. Anmut (vaghezza) und Ordnung von Stadt und Bauten zu benennen.29 Er la¨sst drei Cavalieri, denen er seinen Text in den Mund legt, in einer Villa

Grab des Pietro Brancaccio hat indes eine Inschrift und die wird in Latein zitiert und ins Italienische u¨bersetzt: „Vi e` ancho un altro sepolcro di marmo non tanto superbo, nel quale vi e` scolpito lo sotto scritto [33v] epitaphio: (...) Vol dire nel nostro idioma ...“: ebd., fol. 33r–v. 28 Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), vgl. dazu Franco Strazzullo, Un descrittore della Napoli del ’500. Giovanni Tarcagnota, in: Atti della Accademia Pontaniana, N. S. 38 (1989), S. 131–141 und den Eintrag in Amirante, Guide (wie Anm. 2), S. 24–26. Es erschien nur eine Ausgabe. Der Text ist Carlo d’Austria gewidmet. 29 „Ma non meno degni di lode sono quegli altri, che mostrarono poi come si potessero & dovessero le belle citta` bene ordinate & di magnifichi edificii adorne fabricare; ben che penso io, che di tempo in tempo, come di tutte le cose aviene, a questa ultima vaghezza di edificii si venisse & di ordine cosi distinto come poscia si vide“, Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 1v; Tarcagnota ist mit diesen Argumenten ganz auf der Ho¨he der Zeit, wenn er die Verbindung von Planung und Geschichtlichkeit herausstreicht, wenn er jene Faktoren benennt, die einer Stadt zu ihrer Einzigartigkeit verhelfen, Vgl. die

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außerhalb der Stadt zusammenkommen, von wo aus sie einen fiktiven Blick auf Neapel haben, der in dem kleinen Ba¨ndchen zwar nicht abgedruckt ist, den man aber in Form der bezeichnenderweise im selben Jahr bei Antonio Lafreri erschienenen vogelperspektivischen Ansicht Neapels (Abb. 1) nachvollziehen kann. Man traf sich bei Don Geronimo Pignatelli in einer Villa del monte, die u¨ber der Stadt lag, und der Gastgeber wollte, dass man in einer durchfensterten Loggia aß.30 „Von dort“, so heißt es, „sah man das Meer und die ganze Stadt, so als wu¨rde man sich direkt u¨ber ihr befinden“.31 In dieser privilegierten Position intoniert der Hausherr: „Habt Ihr je in Eurem Leben einen scho¨neren Ausblick gehabt als diesen? Wenn man ihn in einem dieser niederla¨ndischen Bilder portra¨tiert sehen wu¨rde, wer wu¨rde nicht sagen, dass es die erlesenste Sache der Welt wa¨re?“ Wie bereits an anderer Stelle ausgefu¨hrt, rekurriert eine solche Wendung vielleicht auf die vor Ort bekannte Ansicht Neapels von Pieter Bruegel aus den 1550er Jahren,32 bedeutsamer ist jedoch ganz grundsa¨tzlich, dass bei der Lektu¨re von Stadtbeschreibungen sowohl Karten als auch Landschaftsbilder die Folie der Lektu¨re bilden konnten. Don Giovanni d’Avalos muss fu¨r das Argument eintreten, dass ein leibhaftiger Besuch der Stadt dem ebenbu¨rtig sei, da man dort die scho¨nen Pala¨ste, die kunstvoll ausgestatteten Kirchen, die großartigen Seggi und die frischen Brunnen sa¨he – sowie die Straßen voll von Reitern und Edelleuten.33 Doch Don Geronimo erwidert, dass der La¨rm und die Konfusion das Vergnu¨gen großteils zersto¨rten, weshalb er abschließend noch einmal seine Freunde aufruft, den Blick zu genießen.34 Kunstvoll aufgebaut fu¨hrt das fiktive Gespra¨ch vom

Einleitung zu Braun/Hogenberg, Civitates (wie Anm. 13), Bd. I, Er–v: „ad praesens me opus convertam in quo quidnam ornamenti toti vniverso periti Architecti vrbium, oppidorumque; structura contulerint, artificiosae Simonis Novellani, et Francisci Hogenbergij manus, mirifica quadam industria, tam accuratae, et ad vivum partium singularum proportione, et vicorum ordine ad admussim observato, expresserunt vt non icones et typi vrbium, sed vrbes ipsae, admirabili caelaturae artificio, spectantium oculis subiectae appareant. Quas partim ipsi depinxerunt, partim ab iis, sagaci diligentia conquisitas, atque depictas acceperunt, qui singulas quasque vrbes perlustrarunt. ... In quo topographicae vrbium oppidorumque descriptiones tam geometrica, quam perspectiva pingendi ratione, cum genuina situs, locorum, moeniorum, publicorum et privatorum aedificiorum observatione, singulari artis industria atque praesidio sunt delineatae“. 30 „in una di queste ville del monte, che soprasta alla citta ... volle, che in vna loggietta isfinestrata, perche era una giornata amenissima, si mangiasse“: Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 2v. Zum Palastbau in Neapel und Umgebung sowie den Problemen, die mit dem großen Zuzug von Adeligen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts verbunden waren, noch immer Gerard Labrot, Baroni in citta`. Residenze e comportamenti dell’aristocrazia napoletana 1530–1734, Neapel 1979, Kap. I. und II. 31 „Et eßendosi riposati alquanto, perche da quella loggietta si vedeva il mare, et la citta tutta come se le fossero stati sopra, il Sign. Don Geronimo volto verso gli altri con certa maraviglia incomincio` in questo modo a dire: ‚Vedeste mai per vita vostra la piu bella prospettiva di questa? Se si vedesse ritratta in uno di questi quadri di Fiandra, chi non direbbe, che questa fosse la piu delicata cosa del mondo?‘“, Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 2v. 32 Pieter Bruegel, O ¨ l auf Holz, 42 × 71 cm, Rom, Galleria Doria Pamphili, vgl. Michalsky, Gewachsene Ordnung (wie Anm. 12), S. 270, mit weiterfu¨hrender Literatur. 33 „Bellissima certo. Ma non minore giocondita` si sente, quando dentro la citta isteßa si veggono in particolare i bei palagi, le ornate chiese, i magnifici seggi, le fresche fontane, et le strade da tanta cavalleria et da cosi honorato popolo frequentate“, Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 3r. 34 „Ma lo strepito, et la confusione delle genti toglie gran parte di quel diletto. Il che qui hora a` noi non aviene, che con ogni nostra quiete di animo godiamo di questa generale et gioconda vista, quale io poco

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Blick durch ein Fenster, das unmissversta¨ndlich die Rahmung eines Bildes meint, zuna¨chst zu einer vogelperspektivischen Ansicht der Stadt. Konterkariert wird dieser streng gerahmte Blick auf die Einzelheiten von der Allusion eines niederla¨ndischen Landschaftsbildes, in dem insbesondere die Scho¨nheit der Natur zur Erholung des Auges geboten wird. Gleichsam mit erneutem Fokus auf die Einzelheiten des sta¨dtischen Organismus, wie ihn nur ein Plan bietet, lobt unser Autor abschließend dessen Mo¨glichkeit eines seelenruhigen Durchstreifens der Stadt. Wie ein Theater liegt die Stadt nicht nur aufgrund des halbrunden Umrisses dort, sondern weil sie explizit als Wissensspeicher lokaler Geschichte begriffen wird, wie sie im Buch behandelt wird.35 Kaum deutlicher kann ein Text des 16. Jahrhunderts das Dispositiv eines Blickes formulieren, der Erkenntnis und Vergnu¨gen verbindet, der in der ¨ berschau die Stadt in fast all ihren Qualita¨ten zu verstehen vermag. NichtsdestoU trotz steht auch den Diskutanten von Tarcagnota bei allem Lob fu¨r den Fortschritt der sta¨ndige Wandel der Stadt, ihre Verwundung durch Kriege und das stets drohende Vergessen des Vergangenen schmerzlich vor Augen. Sie betonen, anders akzentuiert als de Stefano, der auf die Epitaphien und die zugeho¨rigen Stiftungen zum Erhalt der Memoria setzte, dass dem letztlich nur die schriftlich fixierte Erinnerung etwas entgegenzusetzen habe. Ausdru¨cklich heißt es, dass man sich schon bald keine Vorstellung mehr davon machen ko¨nne, welche Vera¨nderungen unter den Vizeko¨nigen vollzogen worden wa¨ren, so dass das vorliegende Buch no¨tig sei, um genau und in Einzelheiten von der Lage und den Orten Neapels Rechenschaft zu geben.36 Aus dem Kontext la¨sst sich erschließen, dass hier mit Lage die natu¨rliche Landschaft und Anordnung der Stadt gemeint ist, wobei Orte, fast schon im Sinne von Michel de Certeau, zwar zuna¨chst materielle Orte wie Kastelle oder Kirchen meinen, aber zugleich deren enge Verbundenheit mit Ereignissen. Die Trennung der Beschreibung von Orten und Geschichte la¨sst sich daher auch nicht strikt durchhalten, fu¨r die Anlage des Buches und das darin manifeste Versta¨ndnis des sta¨dtischen Raumes ist jedoch bezeichnend, dass zuna¨chst das Gela¨nde mit seinen wichtigsten Orten ausgebreitet wird, um gleichsam darin die Geschichte zu situieren.

avanti essere diceva. Miriate un poco di grazia et discorriate meco in particolare questo bel sito della citta`. Vedete come e` egli maraviglioso, et quasi fatto studiosamente tale dalla natura. La citta e´ situata et formata, come vedete, a` guisa di vn bel theatro, insieme con questi ameni colli, che alle spalle le sono et che la circondano da questa parte“, Tarcagnota, Sito (wie Anm. 5), fol. 3r. Der Topos vom sog. ‚Reisen im Lehnstuhl‘ findet sich durchga¨ngig in der chorographischen Literatur des 16. Jahrhunderts, s. dazu Skelton in Braun/Hogenberg, Civitates (wie Anm. 13), S. VII; Nils Bu¨ttner, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Go¨ttingen 2000, S. 171, mit Literatur. Auch Thomas Frangenberg, Chorographies of Florence. The use of city views and city plans in the sixteenth century, in: Imago Mundi 46 (1994), S. 41–64, hier S. 49. Er erwa¨hnt, dass Touristen der Fru¨hen Neuzeit geraten wurde, vor der Reise die Stadtpla¨ne zu studieren. 35 Vgl. zum Begriff des Theaters Frances A. Yates, Theater of the World, Chicago 1969. Zahlreiche Kartensammlungen tragen den Titel ‚Theatrum‘ vgl. etwa Abraham Ortelius, Theatrum orbis terrarum, Antwerpen 1570, den ersten modernen Atlas avant la lettre. 36 „Per mostrare, che se di qui a` pochi anni non si sapra` dar conto di queste tante mutationi“. Man brauche „memoria a` posteri con qualche scritto, come possiamo noi hora dare distinto, et particolare conto cosi del sito delle due antiche citta, come de’ luoghi, che in esse fossero“: Tarcagnota, sito (wie Anm. 5), fol. 13v.

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IV. Ko¨rper, Seele und Lage der Stadt

Der „Forastiero“ von Giulio Cesare Capaccio aus dem Jahr 1634 unterscheidet sich im Aufbau und vor allem im Umfang deutlich von den zuvor besprochenen Bu¨chern. Rhetorisch ist er strikt dialogisch aufgebaut, auch wenn der Fremde eher ein Stichwortgeber fu¨r den kenntnisreichen Neapolitaner ist. Nicht etwa in Rekurs auf antike Philosophie erkla¨rt der Autor diese Darbietungsform, sondern damit, dass das Volumen an Information so stark angewachsen sei, dass ihm Zweifel gekommen seien, sie zu einer Geschichte formen zu ko¨nnen, und er die Form des Dialogs vielmehr ob der Freiheit der kolloquialen Rede und der Exkurse gewa¨hlt habe.37 Besonders schwer sei es ihm gefallen, sich angesichts des ‚Meeres einer Enzyklopa¨die‘, zwischen Geschichtsschreibung und eigenen Konzepten zu entscheiden. Eben dies spiegelt sich in der selbstredend doch vorhandenen Ordnung des 1024 Seiten umfassenden Buches. In den ersten sechs von zehn Kapiteln beschreibt er – in lockerer an den Dynastien orientierter Chronologie – die Geschichte und geht dann auf einzelne Aspekte ein: wie Regierungsformen, verschiedene Einwohnergruppen und in einzelnen Kapiteln corpo und sito, also Ko¨rper und Lage der Stadt, auf die abschließend zuru¨ckzukommen sein wird.38 Capaccio gelingt es im Gegensatz zu seinen Vorga¨ngern nicht nur, die Verbindung der chronologischen und ‚konzeptuellen‘ Darstellung zu problematisieren und damit explizit weiter zu entflechten, vielmehr gelingt es ihm auch, die Zeichen einzelner Dynastien im Palimpsest der mehrfach vera¨nderten Stadt und ihrer Monumente zu benennen. Besonders eindru¨cklich ist dies bei der Beschreibung von Santa 37 „Mentre gli anni a dietro andava pensando di raccorre molte cose appartenenti alla cita` di Napoli, della

quale non sarei mai satio di scrivere, sı` per che mia patria, come per che per le sue notabili meraviglie, sara` sempre degnissima che con mille encomij si commendi alla posterita`, maravigliandomi oltre modo, che insino ad hora non par che da scrittori sian fatte quelle memorie che si devono alla sua grandezza; mi si offerı` una sı` gran vastita` di novi pensieri, e furono tante le cose che giudicai degne di tenersene conto da gli homini curiosi in questa occasione, che mi ritrovai immerso dentro il pelago d’una enciclopedia, che nell’universal varieta` di descrittioni, relationi, accidenti regali, governi, guerre, memorie di cose antiche, successi di stato, encomij di famiglie e di persone degne di honore, e mille altre cose simili, che trattengono nella lettione i belli ingegni e che sono utili alla varieta` del sapere, mi ferono dubitare se dovessi formarne historia, o pure con altro genere di dire, spiegare i concetti miei. Per l’historia malagevolmente potean servire le cose interrotte, i tempi non continuati, e quel passar tutto in un tempo a varie genti, a varie regioni, e quell discorso familiare di che mi avvaglio, era per to`rre dallo stile historico quel che ci insegnarono Tucidide e Cornelio, ne´ne a proposito mi parea il modo (non so` come chiamarlo) di un Diodoro o di uno Achille Tacio. Cosı` mi risolsi, gia` che fo` rappresentar le cose da un forastiero e da un citadino, ridurmi allo stile di dialogo, non gia` di quell’andar di Filebo e di Farmenide, ne come veramente i greci intendono il dialogizare, ma con l’uso comune, parlar con liberta`, non mancandovi pero` alcun candore, et alcuni di quei sali, che piu` per bellezza che per necessita`, frapongono nel lor ragionare gli oratori“, Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), fol IIIr. 38 Die Kapiteleinteilung lautet: 1) Dell origine et antico governo di Napoli (1–60), 2) Dell antica religione e guerre antiche di Napoletani (61–146), 3) Del governo dei re normanni, svevi e francesci (147–212), 4) Dei re aragonesi (213–270), 5) Dei re austriaci (271–390), 6) Dei vicere di Napoli, (391–560), 7) Del governo di tribunali regii e publico (561–664), 8) Dei habitatori di varie nationi nella cita` di Napoli (665–798), 9) Del corpo della cita` di Napoli, e sue case e cose particolari (799–930), 10) Del sito della cita` di Napoli (931–1024).

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Chiara, jener Kirche, die die Anjou fu¨r die Repra¨sentation ihrer Familie genutzt haben (Abb. 3, Nr. 16). Sie ist zuna¨chst im historischen Teil (Kap. 3) angesiedelt, wo der Bu¨rger die sprichwo¨rtlichen Tugenden des ‚weisen‘ Ko¨nigs Robert anhand seiner angeblich von Petrarca verfassten Grabinschrift erkla¨rt. Der Forastiero kann sich an das bereits gesehene prachtvolle Grab erinnern und wird dann daru¨ber belehrt, dass die ganze Kirche noch viel beeindruckender war, als die Fresken von Giotto noch zu sehen waren, die erst vor kurzem ein Spanier u¨bermalen ließ, um diese grandiose Erinnerung an die Franzosen zu tilgen.39 Der Passus belegt die Aufmerksamkeit fu¨r die ku¨nstlerische Qualita¨t einer mittelalterlichen Wanddekoration, fu¨r deren repra¨sentative Funktion und zugleich fu¨r die Gefahr der mutwilligen Zersto¨rung durch Angeho¨rige anderer ‚Nationen‘, wie es in seinem Duktus heißt. Die offene Kapitelordnung ermo¨glicht es Capaccio, Santa Chiara noch einmal unter dem „Ko¨rper der Stadt“ abzuhandeln, wo u. a. die wichtigsten Kirchen vorgestellt werden.40 Diesmal ra¨umt der Fu¨hrer ein, dass die Architektur zwar zuna¨chst

39 „Forastiero. Hieri a` punto nella chiesa di S. Chiara viddi il suo sepolcro, et ammirai la fabrica di quella

magnificenza che si conoscea esser propria di un re di tanto valore; e dal sepolcro e dall’epitafio mi accorsi ch’era opera sua./Cittadino. Sua Ove mostro` la grandezza di animo di eccelso re, che veramente e` superbissima machina, quanto ogni altra che fusse in Europa. E se l’haveste veduta pochi anni prima, l’havreste ammirata per le molte et illustri pitture, le quali in ogni loco di quella chiesa rappresentavano la regal memoria di re Roberto e della sua pietosa religione./Forastiero. Adunque non eran cosı` bianche le mura come hoggi sono?/Cittadino. Che dite bianche? Non vi era un palmo che non fusse colorito per man di Giotto fiorentino, che da Fiorenza Roberto condusse; e l’opra fu fatta con tanta spesa che non si potrebbe estimare per la finezza de i colori e per la vaghezza delle figure, dalle quali s’imparavan sempre cose nove mirandole./Forastiero. Onde avvenne che si fe` questa mutatione?/Cittadino. Vi diro`. Il regente don Bernardino Barionovo, spagnolo, e non molto amico di francesi, ritrovandosi protettore di quella chiesa e monistero per esser Cappella Regia, o per che volea che l’opre di francesi in tutto si scordassero, o per che poco amico della pittura, cosa che non posso imaginarmi in un che sia homo et homo di quella qualita`, o per mostrarsi amator di cose nove,o per mala fortuna di Napoli, che non mai ha potuto godersi le bellezze pervenutele per mille strade, quel che in tanti anni havea recato splendore a quella chiesa con la diligenza di cosı` illustre pittore, in due giorni empiamente guasto` la calcina con dolore universale di napolitani./Forastiero. Non ho` veduto pero` che vi sia mancata in tutto la memoria di francesi, perche in un muro sono tanti gigli che` farebbero un giardino./Cittadino. Questa e` gloria di quella natione c’ha` fabricato quelle mura per non levar loro la memoria che meritano. E tornando a Roberto, dico che dopo` tant’opre grandi, e dopo` tanta affettione mostrata a napolitani che sarei troppo lungo nel raccontarla“, Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 192–193. 40 „Ma mirate appresso la chiesa e monistero di S. Chiara, non stupirete in quella gran machina della chiesa, che supera di altezza e di grandezza quasi ogni altra in Italia, e pur la chiamo` re Roberto sua cappella, dedicata al Santissimo Sacramento, che pero` vi fe` scolpir l’Agnello, non cosı` bene architetturata, come voi desiderate, ma alzata dal suolo con superbe mura, corridori, volte ingegnonissime, fenestroni altissimi e molti, per dar la chiarezza al tempio, con un tondo nel frontespicio fatto con memoramil arte, se ben si va` considerando, col tetto veramente regio, essendo tutto di piombo, che a qualsivoglia re darebbe hoggi che fare. Opra di due potentissimi re, con maesta` francese e spagnola (se ben mi diceste haver vedute le mura piene di gigli), per che l’edifico` Roberto e Sancia d’Aragona sua moglie. E regal grandezza gli accrebbero, quando, in habito francescano, ministrarono a quei frati e monache che vi erano, spesse volte, e nell’istesso habito, in Castelnovo, nella Regal Cappella, dal quale dell’istesso ordine havea seco alcuni frati, la notte si alzava a celebrar l’officio./Forastiero. Par c’habbia gran corrispondenza con gli Aragonesi, amatori de gli olivetani./Cittadino. E preeminenza maggiore, nelle grandezze regali, vedendovisi quel superbo sepolcro di marmo, c’havete gia` ammirato, di Roberto re, Carlo Illustre, di Giovanna Prima, Maria figlia di Carlo duca di Calabria, Maria duchessa di Durazzo imperatrice di Costantinopoli, e la figlia Agnese e Clementia“, ebd., S. 896–897.

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nicht so grandios erscheine, dass jedoch Ko¨nig Robert von Anjou und Ko¨nigin Sancia von Mallorca, Majesta¨ten aus Frankreich und Spanien, eine der gro¨ßten Kirchen Italiens erbaut ha¨tten, die zu finanzieren mit Maßwerkfenstern und einem enormen Bleidach auch heute noch eine schwierige Aufgabe fu¨r jeden Ko¨nig wa¨re. Als der Forastiero die Kirche nach Erwa¨hnung der angevinischen Stiftungen fu¨r den Franziskanerorden mit den Stiftungen der Aragonesen fu¨r die Olivetaner vergleicht, streicht der Fu¨hrer noch einmal unmissversta¨ndlich den Vorrang der ko¨niglichen Gra¨ber in Santa Chiara vor jenen der Aragonesen heraus. Der Vergleich ist als solcher sehr aussagekra¨ftig, denn Santa Maria Monteoliveto war tatsa¨chlich die von den Aragonesen privilegierte Kirche und eine der impliziten, aber dennoch omnipra¨senten Absichten Capaccios ist es, die konkrete Pra¨gung der Stadt durch materielle Zeichen fu¨r sein Publikum aufzubereiten. Fu¨r das Versta¨ndnis des Stadtorganismus sind die beiden letzten Kapitel von besonderem Interesse. Mit Verweis auf Publio Vittore, den Autor einer wohlbekannten Rombeschreibung, erkla¨rt Capaccio, dass einer Stadt erst dadurch gro¨ßter Ruhm verliehen werde, dass man sie als anmutigen Ko¨rper mit all den Sfumaturen ihrer Teile schildere, so dass sich erst aus der Komposition das Besondere erkla¨ren lasse.41 Hinter dem Begriff „Ko¨rper“ verbirgt sich somit zum einen die Metapher eines wohlgestalteten, aus mehreren Gliedern bestehenden Organismus, der in all seiner Anmut beschrieben werden mu¨sse, so dass die Beschreibung dem Ko¨rper die Seele gebe.42 Zum anderen handelt es sich konkret um eine Beschreibung der materiellen Stadt, die von außen nach innen erfasst wird, na¨mlich von den Mauern und Stadttoren u¨ber Kirchen und Pala¨ste bis zu all jenen Dingen, die aus ihr eine geformte Stadt machen, die es zu bewundern gilt.43 Das 131 Seiten umfangende Kapitel kann diese Ordnung versta¨ndlicherweise nicht durchhalten. Einmal bei den Pala¨sten angelangt, gibt der Cittadino z. B. zu, sie seien nicht alle so scho¨n wie in manch anderen Sta¨dten, nur um dann eine fu¨nfzehn Seiten lange Liste der eben doch scho¨nen neapolitanischen Pala¨ste mitsamt ihren Kunst-, Antiken- und Naturaliensammlungen einzufu¨gen.44 Die Kirchen werden je nach Gu¨te von Architektur und Ausstattung unterschiedlich lang abgehandelt, in etwa so, wie oben am Beispiel von Santa Chiara gezeigt. Von den funktionalen Bauten wie Kastellen oder Getreidespeichern am Anfang schla¨gt er den Bogen zu den karitativen Institutionen, Kollegien und Kongregationen und beschließt das Kapitel mit einer Liste der Heiligen. Der Ko¨rper der Stadt setzt sich in dieser Darstellung

41 „Ho imparato da gli antichi scrittori che maggior gloria non puo` darsi all’illustri cita`, che, quasi di un

leggiadro corpo, raccontar la vaghezza delle membra, accioche unite insieme possano far conoscere l’eminenza di tutto ’l composto“: Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 799. Sowohl „leggiadro“ als auch „vaghezza“ sind schwer wo¨rtlich zu u¨bersetzen – beide werden oft ungenau mit Anmut u¨bersetzt, damit fehlt jedoch der Unterton des La¨ssigen bzw. des Vagen, der auch in der Kunsttheorie der Zeit eine große Rolle spielt. 42 „Forastiero: A questo corpo che dite, dando voi l’anima delle vostre ingegnosissime descrittioni“, Capaccio, Forastiero (wie Anm. 6), S. 802. 43 „Mura, porte, borghi, castelli, arsenale, edificii particolari, case, chiese, monti, hospedali, colleggii, studii et ogni altra cosa, la qual possa far una cita` formata, e degna di ammiratione a chi la contempla e la mira“, ebd., S. 802. 44 Ebd. S. 851–866.

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sowohl aus der ra¨umlichen Erstreckung und den materiellen Elementen als auch aus den kulturellen Errungenschaften und Institutionen zusammen, die die Handschrift ihrer Zeit und ihrer Erbauer tragen. Der Stadtko¨rper hat ein spezifisches Volumen und seine Form ist das Ergebnis kultureller Anstrengungen. Die Seele dieses Ko¨rpers aber zeigt sich nur dem, der die materiellen Zeichen zu entziffern und zu kombinieren weiß. Im letzten, dem sito gewidmeten Kapitel wird trotz aller Unscha¨rfen der Kapitelordnung klar, worin der entscheidende Unterschied von Ko¨rper und Lage der Stadt besteht. Die Lage, darin liegt eine Parallele zu Tarcagnota, ist in erster Linie die landschaftliche bzw. topographische Einbettung der Stadt. Nicht zu Unrecht und dennoch mit Kalku¨l erwa¨hnt Capaccio in diesem Zusammenhang die Fa¨higkeit der griechischen Stadtgru¨nder, grundsa¨tzlich die scho¨nsten Pla¨tze fu¨r ihre Siedlungen ausgesucht zu haben, wie sich ja an der gesamten, von mythischen Orten gepra¨gten Ku¨ste nachweisen lasse. Auf diese Weise werde die Lage zu einer ebenso natu¨rlichen wie kulturell bestimmten Eigenschaft der Stadt – und zwar einer Eigenschaft, die man zwar mit Worten beschreiben, die man aber doch noch besser malen ko¨nne. Die Metapher des Malens begegnete uns bereits beim Ko¨rper der Stadt.45 Sta¨rker herausgestellt wird dies jedoch im Blick auf die Umgebung von Neapel, denn erst wenn sie in Farben gemalt wu¨rde, offenbarte sie ihre Scho¨nheiten.46 Als Girlande der Stadt, wie es in einer anderen Metapher heißt,47 gibt die Umgebung der Stadt grandezza und vaghezza. In diesem Verha¨ltnis von Stadt und Land und auch von Text und gemaltem Bild verdichtet sich die Vorstellung einer Stadt, die man nach ihrem Durchstreifen und nach dem Nachvollziehen ihrer Geschichte auch mit anderen Sinnen im Genuss der Fru¨chte und ihrer Du¨fte sowie eingebettet in ihre Landschaft sehen muss.48

45 Hier erkla¨rt der Fremde: „Questo cosı` delicato discorso, mi fa` conoscere c’havete gran volonta` in

questa giornata di dipingermi Napoli, nello stato in che si ritrova la sua fondatione, cosa da me tanto bramata per haverne perfetta notitia“, ebd., S. 800. 46 „Forastiero. Bisogna ch’io dichi che hoggi comincia Napoli a mostrar le sue bellezze, perche vagamente la dipingete di colori“, ebd., S. 940. 47 „Cittadino. Come posso mancar di svogliarvi, mentre havete sı` bono appetito? Et in vero che mi dimandate il meglio, e cose degne da sapersi, senza le quali non havrebbe compimento la bellezza di Napoli. E gia` vi trattaro` del sito, che suol’ esser la ghirlanda e la gloria delle cita`, che da quello prendono grandezza e vaghezza“, ebd., S. 931f. 48 „De i frutti non ho` gustato i piu` saporiti, ne con maggior delicatezza accomodati, in quelle vostre cistelle piene di frondi, ornate di rose e gelsomini, colti con la ruggiada, che invitarebbero l’avaritia a spendervi tutto ’l suo havere. E da signori grandi ho` inteso dire che, quando sono stati in Napoli et han veduto nelle lor mense i frutti accommodati con tante vaghezze, poco manco che non dicessero che furono mandati dal cielo. De i giardini non diro` altro, sol che passeggiando sotto le pergole di aranci, di cedri, di limoni, vedendo tanta verdura di spalliere, odorando una fragranza di mortelle e di fiori, mi ha` fatto stare in forse, se in Napoli il Paradiso terrestre si ritrova“, ebd., S. 938.

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V. Fazit

Im Wissen darum, dass sowohl mit der Auswahl der Bu¨cher als auch mit den einzelnen Textbeispielen keine grundsa¨tzliche Analyse zu leisten ist, soll dennoch Folgendes festgehalten werden: Die Autoren der fru¨hneuzeitlichen Beschreibungen Neapels (und das gilt ebenfalls fu¨r andere Sta¨dte) ka¨mpfen mit dem Verha¨ltnis von Raum, Ort und Geschichte sowie den materiellen Relikten jener Kultur oder „Nation“, die sie erfassen wollen. Wa¨hrend de Stefano vorderhand neutral die Erinnerungsorte in Form von Epitaphien in einem mu¨hsam sprachlich evozierten relationalen Raum verortet, trennen Tarcagnota und Capaccio die Darstellungen der Orte (und des Raumes) von jenen der Geschichte. In der Konsequenz fu¨hrt dies jedoch dazu, dass die Verbindung von Raum, „Stadtko¨rper“ und Geschichte umso deutlicher hervortritt, da der Stadtorganismus als ein ebenso ‚natu¨rlich‘-topographisch bedingter als ein kulturell geformter Ko¨rper konzeptualisiert wird, als dessen Teile sowohl die Ordnung selbst als auch die diversen beschriebenen Monumente und Institutionen behandelt werden. Von besonderer Relevanz fu¨r das Versta¨ndnis der historischen Wahrnehmung von Sta¨dten, in diesem Fall von Neapel, ist der Umstand, dass Raum, der sich in Karten und Bildern erheblich leichter abbilden la¨sst, auch in den Texten eine maßgebliche Rolle bekommt. Diese Aufmerksamkeit fu¨r den Raum – so die These – ist nicht zuletzt den anderen Medien geschuldet, die die chronologischen Geschichtsnarrative nicht nur begleiteten, sondern sie auch vera¨nderten.

DER FESTUNGSBAU ALS INITIATOR DES STADTPLANES Zur Entwicklung der Wiener Stadtpla¨ne im 16. Jahrhundert von Ferdinand Opll

Die Anfa¨nge von Stadtpla¨nen reichen weit zuru¨ck. Als a¨ltestes Exemplar eines Stadtplanes gilt die auf einer Tontafel erhaltene Planzeichnung eines Teiles der sumerischen Stadt Nippur su¨do¨stlich von Bagdad im heutigen Irak, auf der die Objekte bereits in Keilschrift bezeichnet sind.1 Aus der ro¨mischen Antike ist die sogenannte „Forma Urbis Romae“ zu nennen, ein monumentaler Stadtplan von Rom, der unter Kaiser Septimius Severus zu Anfang des 3. Jahrhunderts, verteilt auf 150 Marmortafeln, an einer 15 m hohen Wand der Aula des Templum Pacis montiert wurde und wohl die Hoheit der Praefectura Urbis mit den dort auf Papyrusrollen verwahrten Katasterpla¨nen Roms symbolisierte.2 Dass es Jerusalem war, das in der mittelalterlichen Kartographie vielfach Darstellung fand, lag nahe,3 doch fanden Sta¨dte im Kontext der fru¨hen Kartographie seit dem Hochmittelalter ha¨ufig auch Beru¨cksichtigung in Form von in gro¨ßere Karten eingefu¨gten Piktogrammen. Um hier nur ein besonders fru¨hes Beispiel zu nennen, sei etwa auf die Europakarte des Gerald of Wales (Giraldus Cambrensis) aus der Zeit um 1200 hingewiesen.4 Gerade im Kontext des Pha¨nomens von Sta¨dtepiktogrammen, 1 Siehe dazu die Hinweise auf der Homepage des Oriental Institute of the University of Chicago mit

einer Abbildung des Planes aus der Hilprecht Sammlung in Jena: http://oi.uchicago.edu/research/projects/nip/nsc.html (Zugriff: 15. 3. 2013). 2 Steffen Bogen/Felix Thu ¨ rlemann, Rom. Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darmstadt 2009, S. 17–21. 3 Dazu Arbeiten von Ingrid Baumga¨rtner, darunter etwa: Dies., Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Jerusalem im Hoch- und Spa¨tmittelalter. Konflikte und Konfliktbewa¨ltigung – Vorstellungen und Vergegenwa¨rtigungen, hg. v. Dieter R. Bauer/Klaus Herbers/Norbert Jaspert (Campus Historische Studien 29), Frankfurt a. M. 2001, S. 271–334; Dies., Erza¨hlungen kartieren. Jerusalem in mittelalterlichen Kartenra¨umen, in: Projektion – Reflexion – Ferne. Ra¨umliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, hg. v. Sonja Gauch/Susanne Ko¨bele/Uta Sto¨rmerCaysa, Berlin/Boston 2011, S. 193–223; und Dies., Das Heilige Land kartieren und beherrschen, sowie Hanna Vorholt, Herrschaft u¨ber Jerusalem und die Kartographie der heiligen Stadt, in: Herrschaft verorten, beide in: Herrschaft verorten. Politische Kartographie im Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Baumga¨rtner/Martina Stercken (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 19), Zu¨rich 2012, S. 27–75 und 211–228. 4 Vgl. dazu Thomas O’Loughlin, An Early Thirteenth-Century Map in Dublin: A Window into the World of Giraldus Cambrensis. Imago Mundi. The International Journal for the History of Geography 51 (1999), S. 24–39.

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Ferdinand Opll

die auf fru¨hen kartographischen Dokumenten gerne fu¨r Sta¨dte verwendet wurden, sei es erlaubt, ganz generell auf die unmittelbare Na¨he, ja in vieler Hinsicht geradezu untrennbare Verbindung zwischen kartographischen und bildlichen Darstellungen von Sta¨dten aufmerksam zu machen. Insbesondere fu¨r die Fru¨hzeit derartiger Bildu¨berlieferungen, also fu¨r das 15. und 16. Jahrhundert, sind Stadtpla¨ne und -ansichten nicht voneinander getrennt zu denken. Sie entwickeln sich nicht nur gleichzeitig, sie stehen miteinander oft in enger Wechselwirkung. Dies la¨sst sich in besonders markanter und eindrucksvoller Weise an dem Aufkommen der a¨ltesten Darstellungen der Stadt Wien zeigen, und diesem vertrauten Beispiel seien auch die folgenden Ausfu¨h¨ berlegungen gewidmet.5 rungen und U

1. Wien auf Pla¨nen und Ansichten im 15. Jahrhundert

Mit dem sogenannten „Albertinischen Plan“ aus den fru¨hen 1420er Jahren und der a¨ltesten bekannten Stadtansicht im Hintergrund des Tafelbildes mit der „Begegnung von Joachim und Anna“ auf dem Großen Albrechtsaltar im Stiftsmuseum aus der zweiten Ha¨lfte der 1430er Jahre verfu¨gt Wien auch im internationalen Vergleich u¨ber ¨ berlieferung sowohl kartographischer Zeugnisse als eine a¨ußerst fru¨h einsetzende U ¨ bersicht zu den Wien-Ansichten auch von Ansichten. Eine vor kurzem publizierte U und Wien-Pla¨nen von den Anfa¨ngen bis zum Jahr 1609, dem Erscheinen der bekannten Vogelschau des Jacob Hoefnagel, hat die ho¨chst beeindruckende Zahl von mehr als 65 bildlichen Zeugnissen fu¨r das 15. und 16. Jahrhundert ergeben. ¨ berlieferung gehen als An dieser Stelle soll es freilich weniger um eine Bilanz der U vielmehr um die Fragen, weshalb fru¨he Stadtdarstellungen u¨berhaupt entstanden, was man mit ihnen bezweckte, welche Bildstrategien in ihnen eingeschrieben und welche 5 An dieser Stelle sollen einige Hinweise auf die wichtigsten Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten ange-

¨ sterfu¨hrt werden: Walther Brauneis, Beitrag zur mittelalterlichen Topographie der Stadt Wien, in: O reichische Zeitschrift fu¨r Kunst und Denkmalpflege 27 (1973), S. 121–131; Felix Czeike, Das Wiener Stadtbild in Gesamtansichten, 1. Teil: Die Darstellungen der gotischen Stadt, in: Handbuch der Stadt Wien 88, II. Teil (Wien – aktuell) (1974), S. 13–44; Alfred May, Wien in alten Ansichten. Das Werden der Wiener Vedute, Wien/Mu¨nchen 31985; Ferdinand Opll, Wien im Bild historischer Karten. Die Entwicklung der Stadt bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, Wien/Ko¨ln/Graz 1983, 22004; Karl Fischer, Die kartographische Darstellung Wiens bis zur Zweiten Wiener Tu¨rkenbelagerung, in: Das ist die stat Wienn. Vom Albertinischen Plan bis zur Computerkarte. Ein halbes Jahrtausend Wiener Stadtkartographie, hg. v. Dems. (Wiener Geschichtsbla¨tter, Beiheft 4), Wien 1995, S. 8–28; Ders., Blickpunkt Wien – Das kartographische Interesse an der von den Tu¨rken bedrohten Stadt im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Wien 52/53 (1996/97), S. 101–116; Ferdinand Opll, Das Antlitz der Stadt Wien am Ende des Mittelalters. Bekanntes und Neues zu den „WienAnsichten“ auf Tafelbildern des 15. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Wien 55 (1999), S. 101–145; Ders., Wiener Stadtansichten im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit (15. – 17. Jahrhundert), in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Dems. (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas XIX), Linz 2004, S. 157–187; zuletzt im Gesamtu¨berblick vgl. Ferdinand Opll/ Martin Stu¨rzlinger, Wiener Pla¨ne und Ansichten von den Anfa¨ngen bis 1609. Mit einem Neufund aus Gorizia/Go¨rz aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Wiener Geschichtsbla¨tter, Beiheft 4), Wien 2013.

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Vorstellungen von Urbanita¨t in ihnen eingelagert sind. Die Beweggru¨nde fu¨r die Entstehung von Stadtpla¨nen lassen sich in epochenu¨bergreifender Form unter den folgenden sechs Punkten6 zusammenfassen: 1. repraesentatio: der Stadtplan als Versinnbildlichung stadtherrlichen, dann auch bu¨rgerlichen Selbstversta¨ndnisses und Repra¨sentationsstrebens 2. memoria: der Stadtplan als besonders eindringliches, gleichsam historiographisches Zeugnis 3. als Illustration und A¨sthetik: der Stadtplan als scho¨nes Ausstattungsstu¨ck, ja als Schmuckstu¨ck 4. zu milita¨rischen Zwecken: der Stadtplan als Mittel und Ausdruck milita¨rischer Planung 5. zu administrativen Zwecken: der Stadtplan als Grundlage des administrativen Zugriffs 6. zu Zwecken des Stadtmarketing: der Stadtplan nicht nur als Orientierungshilfe, sondern als Mittel, die Stadt im Umfeld des mit Fremdenverkehr und Tourismus verbundenen Wettbewerbs zu positionieren Dabei ist man – wie bereits angedeutet – gut beraten, sich nicht ausschließlich auf kartographische Dokumente zu beschra¨nken, sind diese doch im spa¨ten Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit ausgesprochene Rarissima. Ansichten, bildliche Darstellungen von Sta¨dten, waren in jedem Fall viel attraktiver und auch fu¨r ein breiteres Publikum viel unmittelbarer wirksam und begreifbar als dies bei Pla¨nen und Karten der Fall war. Und gerade im Kontext der Wirkung auf ein Publikum ist ja auch schon im 15. Jahrhundert eine Reihe von vielfach a¨ußerst realistischen Stadtansichten entstanden. Dabei ging es um die Gla¨ubigen, die in Kirchen zur Messe und zum Gebet zusammenkamen und denen man mittels der Darstellung biblischer Szenen vor aktuellem, ihnen vertrautem Hintergrund auf Alta¨ren wie auch auf Wandgema¨lden die Heilige Schrift na¨herzubringen suchte.7 Gerade fu¨r die Hauptstadt der habs¨ sterreich, fu¨r Wien, la¨sst sich dies an etlichen Beispieburgischen Herrschaft in O 8 len demonstrieren. Die bekanntesten sind ohne Zweifel die auf den Tafelbildern des Altars im Wiener Schottenkloster aus der Zeit um 1480, und diesen zuzuza¨hlen sind auch weniger bekannte, ku¨nstlerisch gleichwohl mit ihnen in enger Verbindung stehende Tafelbilder im siebenbu¨rgischen Mediasch (heute: Media¸s). Als Ausnahmefall hat eine erst vor wenigen Jahren entdeckte Wien-Ansicht in einer liturgischen Handschrift9 zu gelten, wobei eine Darstellung des Weges nach Emmaus mit einer Ansicht 6 Siehe dazu Ferdinand Opll, Die Stadt sehen. Sta¨dteatlanten und der Blick auf die Stadt, in: Sta¨dteatlan-

ten. Vier Jahrzehnte Atlasarbeit in Europa, hg. v. Wilfried Ehbrecht (StF A 80), Ko¨ln/Weimar/Wien 2013, S. 3–29, hier S. 8f. 7 Dazu vgl. Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance, Berlin 1999. 8 Zu den im Folgenden angefu¨hrten Beispielen vgl. nunmehr die U ¨ bersicht bei Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Pla¨ne und Ansichten (wie Anm. 5), S. 46–82. 9 Ferdinand Opll/Martin Roland, Wien und Wiener Neustadt im 15. Jahrhundert. Unbekannte Stadtansichten um 1460 in der New Yorker Handschrift der Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte B 45), Innsbruck/Wien/Bozen 2006.

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Wiens von Su¨den verbunden wird. Hier geht es nicht um die Pra¨sentation vor einem breiteren Publikum, wurden derartige Handschriften doch in der Stube von einer einzelnen Person studiert und nicht vor Publikum ausgestellt. Sehr wahrscheinlich liegt hier ein den Stundenbu¨chern des spa¨ten Mittelalters – man denke an die „Tre`s riches heures“ des Herzogs Jean de Berry aus dem fru¨hen 15. Jahrhundert10 – vergleichbares Medium, zugleich eine solchen Gebetbu¨chern sehr nahestehende mediale Wirksamkeit von Bildern vor. Mit den Darstellungen auf dem sogenannten „Babenbergerstammbaum“ im Stiftsmuseum zu Klosterneuburg, darunter insbesondere einer besonders pra¨chtigen Ansicht Wiens von Norden auf dem Herzog Friedrich II. dem Streitbaren (gest. 1246) gewidmeten Bildmedaillon, wurde vom Grundgedanken her ebenderselbe Weg der Integration einer Szene in eine vertraute Szenerie gewa¨hlt. Wiewohl die Entstehung des Kunstwerks im unmittelbaren Zusammenhang mit der 1485 erfolg¨ sterreich („des Heiligen“) steht ten Heiligsprechung Markgraf Leopolds III. von O und somit gleichsam auch dieser Stammbaum zur Spha¨re liturgisch bestimmten Agierens geho¨rt, waren es doch erstmals profane Szenen – im angesprochenen Fall die Darstellung der Belagerung Wiens durch Friedrich den Streitbaren 1239/30 – die hier vor nicht nur lokal passender, sondern auch durchaus realistischer Kulisse geschildert wurden. In gewisser Hinsicht geht von diesem an der Grenze zwischen Religio¨sem und Profanem angesiedelten Bildwerk eine Entwicklung aus, die im 16. Jahrhundert in die bildliche Zuordnung von Herrschern vor dem Fokus ihrer Herrschaft, der (Haupt)Stadt, mu¨ndet. Beispiele dafu¨r haben sich im Zusammenhang mit Wien mit den Portra¨ts Pfalzgraf Philipps des Streitbaren von Pfalz-Neuburg von Peter Ga¨rtner aus der Zeit um 1530, Kaiser Ferdinands I. von Hans Lautensack aus dem Jahre 1556 oder auch dem historischen Portra¨t Kaiser Friedrichs III. und seiner Gemahlin Eleonora in Stift Wilten bei Innsbruck aus der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts erhalten. Fu¨r die bildliche Darstellung von Sta¨dten setzt – ebenfalls noch im spa¨ten 15. Jahrhundert – eine weitere Tradition ein, die von allem Anfang an auf ein breites Publikum zielt und erst im Gefolge der Erfindung und Ausbreitung der Druckverfahren mo¨glich wird: Es geht dabei fu¨r den Kontext von Bildern um die neuen Vervielfa¨ltigungsverfahren des Holzschnittes wie des Kupferstiches und der Radierung, fu¨r den von Texten um den Buchdruck. Weit entfernt davon, ein wirkliches Massenpublikum zu erreichen, von Beginn an zudem stark auch dem Umfeld der Umsetzung gelehrter Interessen verhaftet, ist es das an Sta¨dtebildern so reiche Werk des Hartmann Schedel, der 1493 im Druck erschienene „Liber chronicarum“, der hier an erster Stelle zu nennen ist.11 Von ihm nimmt – freilich mit betra¨chtlichem zeitlichen Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert – die Tradition der spa¨teren „Sta¨dtebu¨cher“ ihren Ausgang, die insbesondere mit den Werken eines Georg Braun und Frans Hogenberg

10 Vgl. dazu den wikipedia-Eintrag http://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%A8s_Riches_Heures

(Zugriff: 5. 5. 2015) mit der dort angefu¨hrten weiterfu¨hrenden Literatur.

11 Stephan Fu ¨ ssel, Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493 (Einleitung

und Kommentar von Stephan Fu¨ssel), Ljubljana 2005.

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(1572) und im 17. Jahrhundert mit dem Schaffen Mattha¨us Merians12 ihren großen Siegeszug antritt. Erstmals ist in diesem Genre ein neuer Beweggrund fu¨r die Anfertigung von Sta¨dtebildern zu erkennen, das gescha¨ftliche Interesse, das sich mittels ho¨herer Auflagen und eines gesteigerten Verkaufs solcher Bu¨cher durchaus rechnen konnte. Wien als Hauptstadt des u¨ber die Kaiserwu¨rde verfu¨genden Geschlechts der Habsburger war in all diesen Sta¨dtebu¨chern ganz selbstversta¨ndlich und durchgehend vertreten.

2. Wien auf Pla¨nen und Ansichten in der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts

Fu¨r die Stadt an der Donau war es im 16. Jahrhundert dann allerdings ein besonders dramatisches Geschehen ihres historischen Werdens, das in ungeheuer wirkma¨chtiger Weise gerade auch die Produktion von Ansichten steigern sollte.13 Es geht dabei um die erste osmanische Belagerung Wiens im Jahre 1529. Die o¨sterreichischen La¨n¨ bergriffen osmanischer Streifscharen in der waren bereits seit der Zeit um 1480 mit U Beru¨hrung gekommen, doch blieben diese singula¨re Vorkommnisse und erreichten auch den Donauraum nicht. Mit dem Ko¨nigreich Ungarn existierte zudem aus Sicht der Habsburgerherrscher eine Art von Puffer, der das eigene Herrschaftsgebiet gegen ¨ bergang der ungarischen Ko¨nigsOsten abschirmte. Dies sollte sich dann mit dem U krone an die Habsburger im Gefolge der ungarischen Niederlage gegen die Osmanen bei Moha`cs (1526) a¨ndern, die habsburgisch beherrschten Gebiete grenzten nunmehr unmittelbar an das Osmanenreich. Drei Jahre nach Moha`cs gelang es den Osmanen unter Fu¨hrung ihres Herrschers Su¨leyman des Pra¨chtigen nicht nur Teile Ungarns 12 Vgl. Ulrike Valeria Fuss, Matthaeus Merian der A ¨ ltere. Von der lieblichen Landschaft zum Kriegs-

schauplatz – Landschaft als Kulisse des 30ja¨hrigen Krieges (Europa¨ische Hochschulschriften ¨. XXVIII,350), Frankfurt a. M. etc. 2000, sowie Lucas Heinrich Wu¨thrich, Matthaeus Merian d. A Eine Biographie, Darmstadt 2007. 13 Zu den im Folgenden gebotenen Hinweisen zur allgemeinen historischen Entwicklung vgl. die Aus¨ sterreichs: Alois Niedersta¨tter, fu¨hrungen in den einschla¨gigen Ba¨nden der neuen Geschichte O ¨ sterreichische Geschichte Das Jahrhundert der Mitte. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (O 1400–1522), hg. v. Herwig Wolfram, Wien 1996, und Thomas Winkelbauer, Sta¨ndefreiheit und ¨ sterreichische Geschichte Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, Teil 1–2 (O 1522–1699), hg. v. Herwig Wolfram, Wien 2003, sowie – von ungarischer Seite und mit dem Blick auf die Geschehnisse im Ko¨nigreich – Ge´za Pa´lffy, The Kingdom of Hungary and the Habsburg Monarchy in the sixteenth century (CHSP Hungarian Studies Series No. 18), Budapest/Wayne/New Jersey 2009, und Ders., Die Tu¨rkenabwehr der Habsburgermonarchie in Ungarn und Kroatien im 16. Jahrhundert: Verteidigungskonzeption, Grenzfestungssystem, Milita¨rkartographie, in: Tu¨rkenangst und Festungsbau. Wirklichkeit und Mythos, hg. v. Harald Heppner/Zsuzsa Barbarics-Hermanik (Neue Forschungen zur su¨dosteuropa¨ischen Geschichte 1), Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 79–108. – Im Hinblick auf die Wiener Entwicklung selbst vgl. die einschla¨gigen Passagen in Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. e 1–2, hg. v. Peter Csendes/Ferdinand Opll, Wien/Ko¨ln/Weimar 2001 und 2003; zur osmanischen Belagerung von 1529 immer noch Walter Hummelberger, Wiens erste Belagerung durch die Tu¨rken (Milita¨rhistorische Schriftenreihe des Heeresgeschichtlichen Museums 33), Wien 1997.

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einzunehmen, sondern auch bis nach Wien vorzustoßen. Die Voraussetzungen fu¨r eine erfolgreiche Verteidigung der habsburgischen Residenz waren alles andere als gu¨nstig, waren doch die sta¨dtischen Befestigungen mehr als veraltet, keinesfalls fu¨r einen Angriff mit Kanonen geru¨stet. Dennoch war der Stadt und ihrem Herrscherhaus das Kriegsglu¨ck hold, es gelang, den Angriff abzuschlagen, die Belagerer wieder zu vertreiben.14 Das Ereignis wurde weithin mit Erleichterung als regelrechte Sensation wahrgenommen, eine Sensation freilich auch deswegen, weil es die zu dieser Zeit bereits zur Verfu¨gung stehenden neuen Kommunikationsmittel ermo¨glichten, die Kunde von der glu¨ckhaften Abwehr rasch und in weitem Umfeld zu verbreiten. Schlagartig wurde Wien zum Symbol des Verteidigers des Kaiserreiches, zugleich eines „Bollwerks der Christenheit“15 – die entsprechenden Gruppen von Promotoren dieses Sta¨dteimages, an erster Stelle der Hof16 selbst, aber auch die Stadt mit ihrer politischen Vertretung des Rates bedienten sich der Medien von Texten und Bildern, um damit entsprechende Propaganda eines neu erstarkten Selbstversta¨ndnisses zu betreiben.17 Zugleich war – und dies sollte nicht vergessen werden – auch das Interesse an 14 In der Wiener Tradition gilt dieses Ereignis bis heute als die „Erste Wiener Tu¨rkenbelagerung“, und

wiewohl es richtig wa¨re, von einer Belagerung durch die Osmanen zu sprechen, wird es wohl niemals gelingen, diesen fest eingefu¨hrten Begriff zu beseitigen. – Auf die einschla¨gige Literatur zur Geschichte dieser Belagerung wird ju¨ngst hingewiesen bei Ferdinand Opll, Gli assedi dei Turchi a Vienna e la memoria collettiva della citta`, in: La conquista turca di Otranto (1480) tra storia e mito. Vol. II, hg. v. Hubert Houben (Atti del Convegno internazionale di studio, Otranto – Muro Leccese, 28–31 marzo 2007. Universita` del Salento. Dipartimento dei beni delle arti e della storia. Saggi e testi 42), Galatina ¨ berle2008, S. 79–114; sowie bei Dems., Wien und die tu¨rkische Bedrohung (16. – 18. Jahrhundert): U gungen und Beobachtungen zu Stadtentwicklung und Identita¨t, in: Das Bild des Feindes. Konstruktion von Antagonismen und Kulturtransfer im Zeitalter der Tu¨rkenkriege. Ostmitteleuropa, Italien und Osmanisches Reich, hg. v. Eckhard Leuschner/Thomas Wu¨nsch, Berlin 2013, S. 183–197. 15 Der Begriff – in lateinischer Sprache „antemurale Christianitatis“ – geht offenbar auf ein Epitethon ornans fu¨r die Kroaten zuru¨ck, das Papst Leo X. in Anerkennung ihrer Verdienste bei der Abwehr der Osmanen verwendete, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Antemurale_Christianitatis (Zugriff: 5. 7. 2015). Er wurde in der Form der Bezeichnung Wiens als „Hauptbefestigung der Christenheit“ von dem am Schottenkloster als Schulmeister ta¨tigen Wolfgang Schmeltzl in dessen 1547 im Druck vero¨ffentlichten „Lobspruch der hochlo¨blichen weitberu¨mbten Khu¨nigklichen Stat Wienn in Osterreich“ dann auf die habsburgische Residenzstadt angewendet, vgl. dazu Ferdinand Opll, Innen¨ berlegungen zum Selbst- und Fremdversta¨ndnis Wiens im 16. Jahrhundert, in: sicht und Außensicht. U Wiener Geschichtsbla¨tter 59 (2004), S. 188–208, bes. S. 193. 16 Hier ist darauf zu verweisen, dass bereits Maximilian I. als regelrechter Meister der Selbstinszenierung anzusprechen ist und es in geradezu brillanter Weise verstand, die damals modernen Medien wie auch die besten Ku¨nstler seiner Zeit fu¨r seine propagandistischen Zwecke heranzuziehen, vgl. dazu im ¨ berblick den Katalogband der ebenso anregenden wie hoch interessanten Ausstellung in der Wiener U Albertina: Kaiser Maximilian und die Du¨rer-Zeit, hg. v. Maria-Luise Sternath/Eva Michel, Mu¨nchen 2012. 17 Zur Inszenierung des sta¨dtischen Selbstversta¨ndnisses in dieser Epoche und zugleich zu dessen untrennbarer Verbindung mit der Wien-Sicht des Hofes vgl. Ferdinand Opll, Was ist Wien? Studien zur sta¨dtischen Identita¨t in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (13. bis fru¨hes 18. Jahrhundert), in: Jahrbuch des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Wien 57/58 (2001/2002), S. 125–196, und Ders., Kontinuita¨t und Wandel. Zur Entwicklung des Wien-Bildes an der Wende von Mittelalter und fru¨her Neuzeit, in: Aspetti e componenti dell’identita` urbana in Italia e in Germania (secoli XIV–XVI)/Aspekte und Komponenten der sta¨dtischen Identita¨t in Italien und Deutschland (14. – 16. Jahrhundert), hg. v. Giorgio Chittolini/Peter Johanek (Annali dell’Istituto italo-germanico di Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient, Contributi/Beitra¨ge 12), Bologna/Berlin 2003, S. 69–95.

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dem Geschehen in weiten Teilen des Reiches und daru¨ber hinaus geweckt, man wollte (mehr) daru¨ber wissen, man war begierig nach neuen Informationen, insbesondere nach Bildern. Diese Konstellation war selbstversta¨ndlich auch fu¨r die zeitgeno¨ssischen Ku¨nstler, die vielfach ein weit u¨ber das bloß Ku¨nstlerische hinausreichendes Ta¨tigkeitsfeld hatten, als Briefmaler, Baumeister ebenso wie als Verleger arbeiteten, a¨ußerst gu¨nstig, ja erfolgversprechend. Die Forschung spricht dabei vom „Tu¨rkenmotiv“18 von Darstellungen der Stadt Wien, doch reichte dieses Motiv in seiner Wirksamkeit weit u¨ber bloße Sta¨dtebilder hinaus, erfasste die Literatur, zeigte sich in der Gestaltung ephemerer Architektur in Form von Triumphbo¨gen usw. Das Bild Wiens als einer Stadt, die sich erfolgreich gegen den osmanischen Angriff verteidigt hatte, wurde insbesondere vom habsburgischen Herrscherhaus selbst aufgegriffen und propagandistisch angewendet. Aus dem Bereich von Wien-Ansichten ist in diesem Zusammenhang eine beeindruckende Zahl von Darstellungen in Form von Federzeichnungen und Holzschnitten aus den Jahren 1529 und 1530 anzufu¨hren, die allesamt den Zweck verfolgten, das dramatische Geschehen vor bildlichen Repra¨sentationen Wiens in Szene zu setzen. Am bekanntesten darunter ist ohne Zweifel die Rundansicht Wiens, die der Nu¨rnberger Niclas Meldeman im Auftrag des Rates seiner Heimatstadt anfertigte, und die ohne Zweifel fu¨r den Druck vorgesehen war. Meldeman war zu diesem Zweck noch im Herbst 1530 perso¨nlich nach Wien gekommen und hatte hier ein vom Stephansturm aus aufgenommenes Panorama eines beru¨hmten – leider nicht mit Namen bekannten – Malers erworben, das er dann in ordentliche form gebracht habe. Ohne sagen zu ko¨nnen, wer dieser beru¨hmte Maler war, ist doch zu erwa¨hnen, dass auch weitere Ku¨nstler aus dem oberdeutschen Raum, etwa Bartel Beham ( um 1502, Nu¨rnberg † 1540, Bologna), der damals in Mu¨nchen lebte, oder Wolf Huber ( um 1485, Feldkirch † 3. Juni 1553, Passau), der als Stadtbaumeister in Passau wirkte und auch fu¨r den Verteidiger Wiens im Jahre 1529, Niklas Graf Salm, ta¨tig war, um diese Zeit Zeichnungen des belagerten Wiens vorlegten. Eine erst vor wenigen Jahren bekannt gemachte Darstellung des osmanischen Heerzuges gegen Wien mit einer Darstellung der Stadt von Su¨den – inmitten einer weite Teile Europas und auch noch Pala¨stinas umspannenden Landkarte – ist die 1530 als Gemeinschaftswerk des Buchha¨ndlers und Verlegers Johann Haselberg von der Bodenseeinsel Reichenau und des als Stecher ta¨tigen Nu¨rnberger Kaufmanns Christoph Zell vero¨ffentlichte DESCRIPTIO EXPEDITIONIS TVRCICAE CONTRA CHRISTIANOS ANNO DOMINI M.D.XXIX VIDELICET QVO APPARATV BELLICO QVANTISQVE ... Anno salutis M.D.XXX. Sie ist nur in einem einzigen Exemplar in einem vielba¨ndigen Sammelatlas, der im 18. Jahrhundert fu¨r Thomas Coke, den Earl of Leicester, zusammengestellt wurde und sich bis heute im Familiensitz dieser Familie in Holkham Hall in der englischen Grafschaft Norfolk westlich von Wells-next-the-Sea befindet, auf uns gekommen.19 18 Vgl. dazu die – freilich wenig zufriedenstellende – Arbeit von Ingeburg Pick, Die Tu¨rkengefahr als

Motiv fu¨r die Entstehung kartographischer Werke u¨ber Wien. Ungedr. geisteswiss. Diss., Wien 1980.

19 Peter H. Meurer/Gu¨nter Schilder, Die Wandkarte des Tu¨rkenzuges 1529 von Johann Haselberg und

Christoph Zell, in: Cartographia Helvetica 39 (2009), S. 27–42; ebenso in: Wiener Geschichtsbla¨tter

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Das „Tu¨rkenmotiv“ sollte noch viele Jahrzehnte hindurch, ja selbst noch bis ins 17. Jahrhundert hinein, auf Wiener Ansichten verwendet werden. Dabei ist zuna¨chst auf das Aufgreifen dieses Motivs im Sta¨dtebuch von Braun/Hogenberg aus dem Jahre 1572, der die Stadt deshalb als weltberu¨hmt bezeichnet, weil sie heutzutage das einzige Bollwerk gegen die Tu¨rken sei, oder auf Nachdrucken der Ansicht des Sebas¨ beraus bemerkenswert ist aber, tian Mu¨nster noch im 17. Jahrhundert hinzuweisen. U dass sich die im Go¨rzer Raum aktive Adelsfamilie Lantieri in ihrem Palazzo in Go¨rz (Gorizia) selbst noch um 1550 ein Fresko anfertigen ließ, das die von den Osmanen belagerte Stadt Wien aus Blickrichtung Norden zeigt.20

3. Der Ausbau Wiens zur modernen Festungsstadt und deren Dokumentation auf fru¨hen Stadtpla¨nen Die große Gegenbewegung gegen die osmanische Gefahr ist in Wien und fu¨r seine topographisch-bauliche Entwicklung vor allem mit der Errichtung eines modernen Befestigungssystems verbunden. 1529 war es ja nicht die starke Stadtbefestigung gewesen, der man den Abwehrerfolg gegen die Osmanen zu verdanken hatte, sondern das offenbar falsche Kalku¨l der Angreifer, die Stadt erst im beginnenden Herbst anzugreifen und dabei eben in eine schlechte und fu¨r die Operationen a¨ußerst ungu¨nstige Jahreszeit zu kommen. Bald nach dem Ende der Belagerung und im Zusammenhang mit den sogleich aufgenommenen Reparaturarbeiten wurde mit einer umfassenden Modernisierung der Wiener Stadtmauern21 nach dem Vorbild des italienischen Basteiengu¨rtels22 begonnen. Errichtet wurden somit aus dem Mauerverlauf vorspringende hohe, im weiteren Verlauf gemauerte Plattformen zur Aufstellung von Kanonen gegen Angreifer, und zugleich wurden die dazwischen liegenden Mauerstu¨cke versta¨rkt und begradigt. Kriegsra¨te und Vertreter der Sta¨nde entwickelten im Fru¨hjahr 1531 nach Einholung des Rates von Experten ein Konzept fu¨r zuna¨chst vier bis fu¨nf Basteien,23 und noch in diesem Jahr begann die Errichtung der Burg- und der

65/1 (2010), S. 21–46. – Die Erstausgabe von 2009 ist auch online verfu¨gbar unter: http://retro.seals.ch/ openurl?rft.issn=1015-8480&rft.issue=39&rft.date=2009&lPage=27 (Zugriff: 15. 7. 2015). 20 Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Pla¨ne und Ansichten (wie Anm. 5), S. 30–45. 21 Zu diesen Entwicklungen vgl. die einschla¨gigen Abschnitte bei Walter Hummelberger/Kurt Peball, Die Befestigungen Wiens (Wiener Geschichtsbu¨cher 14), Wien/Hamburg 1974, bei Ferdinand Opll, Alte Grenzen im Wiener Raum (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 4), Wien/Mu¨nchen ¨ ster1986, und die Beitra¨ge in dem der Wiener Stadt- und Burgbefestigung gewidmeten Heft 1/2 der O ¨ berblick durch: Ferdireichischen Zeitschrift fu¨r Kunst- und Denkmalpflege 64 (2010), darunter den U nand Opll, Schutz und Symbol. Zur Stadtbefestigung von Wien vom hohen Mittelalter bis zur Mitte ¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r Kunst und Denkmalpflege LXIV, Heft 1/2 des 19. Jahrhunderts, in: O (2010), S. 12–21. 22 Selbstversta¨ndlich ist es dem Verfasser bewusst, dass der korrekte Begriff das vom Italienischen bastione hergeleitete Wort Bastion wa¨re, doch kommt die Bezeichnung als Bastei (pastey etc.) durchaus schon im 16. Jh. vor und wird insbesondere im su¨ddeutsch-oberdeutschen Bereich vielfach verwendet. 23 Albert Camesina Ritter von S. Vittore, Urkundliche Beitra¨ge zur Geschichte Wien’s im XVI. Jahrhundert, Wien 1881, S. 99 Nr. 2. – Online verfu¨gbar unter: http://archive.org/stream/urkundlichebeit00cmgoog#page/n10/mode/2up (Zugriff: 15. 7. 2015).

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spa¨teren Mo¨lker Bastei, d. h. an der Su¨dflanke der Stadt, dort, wo sich die osmanischen Angriffe konzentriert hatten. Es ist hier nicht der Platz, den Ausbau der Wiener Befestigungen seit den fru¨hen 1530er Jahren zu schildern. Doch sei zumindest darauf hingewiesen, dass dieses Baugeschehen umfassende Ressourcen an Material und Menschen, an Spezialisten wie natu¨rlich vor allem an finanziellen Mitteln in Anspruch nahm. Die Arbeiten waren alles andere als einfach zu bewerkstelligen, und Ru¨ckschla¨ge, wie der Einsturz von bereits aufgeschu¨tteten Vorwerken des Mauergu¨rtels kamen durchaus vor. Dabei hatte es bereits 1532 von neuem den Anschein, als wu¨rde ein erneuter Waffengang mit den bis in den niedero¨sterreichischen Raum vorgedrungenen Osmanen bevorstehen.24 Die „große“ milita¨rische Lage sollte sich mit der endgu¨ltigen Festsetzung der Osmanen in Buda und in weiten Teilen Ungarns ab den 1540er Jahren fu¨r Wien durchaus noch weiter verscha¨rfen. Ein Vorantreiben des Ausbaus der Befestigungen war unabdingbar. Es waren insbesondere die Erfordernisse dieses die sta¨dtische Landschaft stark vera¨ndernden Baugeschehens, die ab dem fu¨nften Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts nicht nur zur Entstehung der ersten wirklichen Wiener Stadtpla¨ne fu¨hrten, sondern auch ganz generell das Thema des Festungsbaus und die Rolle von wehrhaften Festungen in der allgemeinen Diskussion wie auch im Selbstversta¨ndnis der Epoche markant hervortreten ließen. Von der Bezeichnung Wiens als „Hauptbefestigung der Christenheit“ war bereits die Rede, und dieses Diktum entstammte dem ersten gedruckten „Lobspruch auf Wien“ aus der Feder des Wolfgang Schmeltzl, Schulmeister beim Wiener Schottenkloster, nicht einer vom Hof oder auch von der Stadt initiierten Propagandaschrift.25 Was nun aber fu¨r den im vorliegenden Beitrag behandelten Themenkomplex ungleich bedeutender ist, das ist die Rolle, die das tatsa¨chliche Baugeschehen im Zusammenhang mit der Anfertigung von Stadtpla¨nen spielte. Der Nu¨rnberger Augustin Hirschvogel ( 1503, Nu¨rnberg † 1553, Wien) und der ¨ berlingen am Bodensee stammende Bonifaz Wolmuet ( um 1500/1510 † 1579, aus U Prag) traten im Jahre 1547 mit je eigenen Stadtpla¨nen Wiens hervor. Sowohl ihr Entstehungszusammenhang als auch ihre Auswirkungen gestalteten sich freilich ho¨chst unterschiedlich: Hirschvogel, ein fu¨r die Renaissanceepoche typisches Universaltalent, der als Maler, To¨pfer, Kartograph, Geometer und Scho¨pfer von Kupferstichen und Radierungen bekannt ist, hatte sich 1544 in Wien niedergelassen und war fu¨r den ko¨niglichen Hof, vor allem als Kartograph, ta¨tig. Beauftragt vom Wiener Bu¨rgermeister Sebastian Schrantz, der seinerseits einen entsprechenden Auftrag von der niedero¨sterreichischen Regierung erhalten hatte, schuf er 1547 einen vermessenen WienPlan, der als der a¨lteste genaue Plan der Stadt zu gelten hat. Neben einem kolorierten Widmungsexemplar fu¨r die Stadt auf einer runden Tischplatte hat sich auch eine kolorierte Federzeichnung eines Abschnitts der Stadtbefestigung zwischen Ka¨rntner Tor und Burg in sta¨dtischem Besitz erhalten, erst 1552 konnte er sein Werk im Druck vorlegen. Der Hirschvogel-Plan ist ein gesu¨deter Grundrissplan, der die Befestigungsan24 Auch davon hat sich ein bildliches Zeugnis erhalten, vgl. Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Pla¨ne und

Ansichten (wie Anm. 5), S. 59 Nr. 32.

25 Siehe dazu schon oben Anm. 15.

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lagen, dabei etliche erst projektierte Basteien und Stadttore, sowie die Burg im Aufriss und das Straßennetz mit den Ha¨userblo¨cken im Grundriss zeigt, wobei sich sowohl Straßen- als auch Geba¨udebezeichnungen finden. Offenbar von allem Anfang an war es Hirschvogel darum gegangen, einen gedruckten Plan herausbringen zu ko¨nnen und damit auch einen wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen. Der zeitliche Abstand zwischen dem Manuskriptplan und dem Druckwerk von immerhin fu¨nf Jahren du¨rfte jedoch darauf hinweisen, dass er das Druckprivileg aus Gru¨nden der Geheimhaltung allzu eingehenden Wissens um die Wiener Befestigungen erst verspa¨tet erhielt. Der Nu¨rnberger legte noch im Jahr seines Planes (1547) auch je eine Nord- und eine Su¨dansicht Wiens vor, die Sebastian Mu¨nster und spa¨ter Braun-Hogenberg als Vorlagen dienten und so ein la¨ngeres Nachleben hatten.26 Als Konkurrenten du¨rfte er seinen Mitarbeiter Bonifaz Wolmuet27 betrachtet haben, der im selben Jahr 1547 gleichfalls einen Wien-Plan vorlegte. Darauf weist in jedem Fall das auf den antiken Dichter Vergil zuru¨ckgehende Zitat „Feci ego laborem, tulit alter honorem.“, das Hirschvogel in einem kreisrunden Medaillon auf seinem Plan darbot. Mit Wolmuets Werk liegt ebenfalls ein gesu¨deter Grundrissplan von Wien vor, doch zeigt er u¨ber Hirschvogel hinaus auch Teile der unmittelbar vor der Stadtmauer gelegenen Vorsta¨dte, deren Verbauung in Vogelschaumanier dargestellt ist. Sa¨mtliche baulichen Elemente der Stadt, einschließlich ihrer Befestigungsan¨ ber Hirschvogel hinaus lagen28 sind durchgehend in Grundrissmanier dargeboten. U bietet er parzellenweise eingetragene Geba¨udegrundrisse, wobei sich sowohl Straßen- als auch Geba¨udebezeichnungen finden. Der Wolmuet-Plan ist somit der a¨lteste parzellenscharfe Plan von Wien. Wa¨hrend Augustin Hirschvogel erst nach fu¨nf Jahren die ko¨nigliche Erlaubnis erhielt, seinen Plan auch im Druck zu vero¨ffentlichen, blieb solche im Fall des Wolmuet-Planes u¨berhaupt aus. Freilich ist nicht zu entscheiden, ob er sich u¨berhaupt um solch eine Mo¨glichkeit bemu¨ht hatte. Seine spa¨tere Laufbahn vollzog sich dann in ganz anderen Bahnen, er wurde 1554 von Ferdinand I. nach Prag berufen und wirkte dort bis zu seinem Tod 1579 als einer der fu¨hrenden Architekten der Prager Renaissance. Obwohl die beiden fru¨hen Wiener Stadtpla¨ne von 1547 nicht die Wirkung entfalteten, die sie vielleicht ha¨tten haben ko¨nnen, auch von ihrer weiteren Verwendung von Seiten des sta¨dtischen Auftraggebers bzw. allfa¨lliger habsburgischer Widmungstra¨ger nichts zu eruieren ist – es steht fest, dass ihre Anfertigung unmittelbar aus dem Bedarf nach einer exakteren Grundlage fu¨r die weiteren Ausgestaltungen der Wiener Stadtbefestigungen resultierte. Und dieser Wirkungszusammenhang sollte sich in der 26 Zu Augustin Hirschvogel vgl. bes. Karl Fischer, „Mit schu¨essen oder feuerwerckhen vom sturm

abtreiben ...“. Augustin Hirschvogels Vermessungsmethode und die Funktion seiner „Quadranten“ (1547/49), in: Jahrbuch des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Wien 54 (1998), S. 79–104, und jetzt auch die Hinweise bei Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie Anm. 5), S. 59–61 Nr. 33–36. 27 Zu Wolmuet vgl. Fischer, Die kartographische Darstellung (wie Anm. 5), S. 19–20, sowie Felix Czeike (Bd. 6 unter Mitarbeit von Helga Czeike), Historisches Lexikon Wien, Bd. 1–6, Wien 1992–2004, hier Bd. 5, S. 676f. 28 Genauso wie bei Hirschvogel findet sich hier eine Reihe von zum Zeitpunkt der Planerstellung noch nicht ausgefu¨hrten Bauprojekten, d. h. es sind Basteien eingezeichnet, die in dieser Form (und an dieser Stelle) damals noch gar nicht bestanden.

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Folgezeit als ganz maßgeblich fu¨r die Anfertigung weiterer Stadtpla¨ne erweisen. Wien wies mit seinem bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts schon weit vorangeschrit¨ sterreichs hinaus einen besontenen Ausbau als Festung weit u¨ber die Grenzen O ders hohen Grad an milita¨rischer Zweckma¨ßigkeit wie baulicher Modernita¨t auf, und dabei ist etwa auch auf die Errichtung des kaiserlichen Arsenals an der Westseite der Stadt um 1560 zu verweisen. In einem durchaus weiter gespannten politischen Kontext, na¨mlich dem der ungarischen Herrschaft der Habsburger, sollte dies in dieser Epoche noch weitere Zuspitzung erfahren. Insbesondere die ungarische Forschung der ju¨ngeren Vergangenheit hat sehr markant herausarbeiten ko¨nnen, welch herausragende Stellung die habsburgische Residenzstadt an der Donau im Hinblick auf die ungarischen Herrschaftsgebiete des Herrscherhauses erlangen sollte29 – und dies in einer Epoche, in der Wien seine Stellung als Hauptresidenz des Herrschers keinesfalls mehr unangefochten behaupten konnte. Ungarn hatte bereits mit dem tempora¨ren Verlust von Buda 1529, vor allem ¨ bergang Budas in die Ha¨nde der Osmanen ab 1541 aber dann nach dem dauernden U seine traditionelle Hauptstadt eingebu¨ßt. Wien war nach und nach immer mehr zum neuen administrativen Zentrum fu¨r das regnum Hungariae geworden, das ja nur mehr aus Resten seines urspru¨nglichen Gebietes bestand. Es war Festung, Residenz und zugleich Brennpunkt der politischen Entscheidungen.30 Die Aufgabe fru¨herer Zentren des ungarischen Ko¨nigreichs setzte sich auch noch in den 1560er Jahren fort, als der schon seit 1543 unter osmanischer Herrschaft stehende a¨ltere Kro¨nungsort der Ko¨nige von Ungarn, Stuhlweißenburg (Sze´kesfehe´rva´r), auf einstimmige Empfehlung des Ungarischen Rates in Wien nach Preßburg (Pozsony/Bratislava) verlegt wurde – und dort bis 1830 verblieb.31 In unserem Zusammenhang noch viel bedeutsamer war es aber, dass sa¨mtliche milita¨rische Maßnahmen, die im Hinblick auf die Verteidigung Ungarns und die Abwehr der Osmanen zu treffen waren, in Wien vorberaten, diskutiert und entschieden wurden. Die alte o¨sterreichische Hauptstadt, die sich schon mit dem Herrschaftsantritt des in Spanien aufgewachsenen Enkelsohnes Maximilians I., Ferdinand I., einer Herrscherperso¨nlichkeit ganz anderer Pra¨gung als zuvor gegenu¨bersah32 und die mit der erfolgreichen Abwehr der osmanischen Belagerung 1529 einen weit in die Internationalita¨t ausstrahlenden Ruf gewonnen hatte, wurde auf diese Art und Weise zu dem fu¨r Ungarn wie zugleich fu¨r alle Bestrebungen gegen die Osmanen natu¨rlichen Zentralort. Dies galt in ganz besonderer Weise auch fu¨r den Aufbau des neuen Grenzverteidigungssystems gegen Osten,33 eines a¨ußerst komplexen und gut durchgeplanten 29 Zum Folgenden vgl. Pa´lffy, Kingdom of Hungary (wie Anm. 13), S. 53–69. 30 Zitiert nach der Kapitelu¨berschrift bei Pa´lffy, Kingdom of Hungary (wie Anm. 13), S. 65: „Vienna:

Fortress, Residence, and Center of Political Decision Making.“

31 Pa´lffy, Kingdom of Hungary (wie Anm. 13), S. 201. 32 Zum Verha¨ltnis Ferdinands I. zu seiner Residenzstadt vgl. Ferdinand Opll, Ferdinand I. und seine

Stadt Wien. Versuch einer Neubewertung des Verha¨ltnisses zwischen Herrscher und Stadt, in: Jahrbuch des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Wien 61 (2005), S. 73–98 . 33 Neben den eher allgemeinen Erla¨uterungen bei Pa´lffy, Kingdom of Hungary (wie Anm. 13), S. 89–118, vgl. bes. Ders., Die Anfa¨nge der Milita¨rkartographie in der Habsburgermonarchie. Die

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Systems von gro¨ßeren und kleineren befestigten Pla¨tzen, von neu angelegten milita¨rischen Festungen ebenso wie von nach modernen Notwendigkeiten und unter Beachtung der aktuellen Festungsbauweise ausgebauten a¨lteren Sta¨dten. Pla¨ne, sowohl solche im Kontext baulicher Maßnahmen an diesen Pla¨tzen wie auch solche zur Verbreitung genauerer Kenntnisse von den Verha¨ltnissen an der Grenze, wurden zusehends zur Selbstversta¨ndlichkeit. Dabei kann keine Rede von einem – auch nur irgendwie – „allgemeinen Interesse“ an topographischen Informationen sein, gar davon, dass solch ein Interesse von den befugten Instanzen und Stellen u¨berhaupt zugelassen worden wa¨re, im Gegenteil: Worum es ging, das war unter Beru¨cksichtigung eines hohen Geheimhaltungsgrades die Verfu¨gbarkeit an Planwissen fu¨r die maßgeblichen Kreise. Und dabei sind insbesondere die in diesen Festungen ta¨tigen Spezialisten, solche milita¨rischen Zuschnitts wie Feldhauptleute und Festungskommandanten, ebenso wie die Fachleute aus dem Bereich von Planung, Architektur und Bauwesen, an erster Stelle zu nennen. Daru¨ber hinaus mochte es auch von Vorteil sein, dem ¨ sterreich als auch im Reich, eingehendere hohen Adel und den Sta¨nden sowohl in O Informationen zur Verfu¨gung zu stellen, waren es doch diese Kreise, von denen die durchaus beachtlichen Finanzmittel fu¨r die Grenzverteidigung aufzubringen waren. Fachleute fu¨r den Festungsbau konnten sich in dieser Zeit, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, zusehends auch schon auf eine breiter werdende theoretische Literatur zu den damit verbundenen Fragestellungen stu¨tzen. Zugleich za¨hlte die Befesti¨ hnlich wie gungskunst34 zu den ganz entscheidenden Aufgaben eines Baumeisters. A das schon im Zusammenhang mit den Scho¨pfern von Sta¨dteansichten und den fru¨hen Kartographen zu konstatieren war, liegt auch auf dem Felde der Spezialisten fu¨r den Festungsbau nicht selten eine die Grenzen der Disziplinen u¨berschreitende Vielfach-, vielleicht sogar Universalbegabung vor. Den ersten gedruckten Festungstraktat hatte 1527 Albrecht Du¨rer in Nu¨rnberg unter dem Titel „Etliche undericht zu befestigung der Stett, Schlosz und flecken“35 herausgebracht, und zahlreiche Auflagen sollregelma¨ßige kartographische Ta¨tigkeit der Burgbaumeisterfamilie Angielini an den kroatisch-slawonischen und den ungarischen Grenzen in den Jahren 1560–1570 (Zweisprachige Ausgabe UngarischDeutsch), Budapest 2011. 34 Um hier einige wenige Hinweise zu geben, seien aus der a¨lteren Literatur genannt: das leider ohne die erforderlichen Quellenzitate erschienene Werk von Leone Andrea Maggiorotti, Architetti e architetture militari. Vol. II (L’opera del genio italiano all’ estero, Ser. IV, Vol. II), Roma 1935; L. Gero¨, Die Entwicklung der europa¨ischen Festungsbauten im XVI – XVII. Jahrhundert, in: Acta technica Academiae Scientiarum Hungaricae 77/1–3 (1974), S. 137–238, und den Literaturu¨berblick bei Marino Vigano`, Architetti e Ingegneri Militari Italiani all’ estero dal XV al XVIII secolo: Un bilancio storiografico, in: Architetti e Ingegneri Militari Italiani all’estero dal XV al XVIII secolo, hg. v. Dems. (Castella. Pubblicazioni dell’Istituto Italiano dei Castelli 44), Roma 1994, S. 11–28; aus der ju¨ngeren Literatur vgl. u. a. Albert Fischer, Daniel Specklin aus Straßburg (1536–1589). Festungsbaumeister, Ingenieur und Kartograph (VKomGLdkdBW. Ein Beitrag zum Historischen Atlas von Baden-Wu¨rttemberg), Sigmaringen 1996; Perk Loesch, L’art de la fortification. Festungsbau und Festungskrieg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Schriftenreihe der Sa¨chsischen Landesbibliothek 4), Dresden 2001, und ju¨ngst Bettina Marten, Festung im Spiegel der Wissenschaften. Eine Einfu¨hrung, in: Festungsbau: Geometrie – Technologie – Sublimierung, hg. v. Bettina Marten/Ulrich Reinisch/Michael Korey, Berlin 2012, S. 13–28. 35 Dazu vgl. jetzt Daniel Burger, Albrecht Du¨rers „Unterricht zur Befestigung“ (1527) und der deutsche Festungsbau des 16. Jahrhunderts, in: Das Du¨rer-Haus. Neue Ergebnisse der Forschung (Du¨rerForschungen 1), Nu¨rnberg 2007, S. 261–288.

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ten folgen. Insbesondere italienische Ku¨nstler und Ingenieure, darunter Leonardo da Vinci, Baldassare Peruzzi oder Giuliano da Sangallo, interessierten sich schon fru¨h fu¨r die Entwicklung neuer Verteidigungssysteme, die Schusswaffen besser standhalten konnten.36 Um die Mitte des 16. Jahrhunderts gab es dann schon durchaus einen Standard, d. h. ein planerisches Modell zur Realisierung sta¨dtischer Befestigungen wie auch kleinerer mehr oder weniger ausschließlich milita¨risch gepra¨gter Festungen. Baufachleute, in Sonderheit solche fu¨r Festungen, pflegten mit Pla¨nen zu arbeiten, ließen fu¨r ihre Zwecke Planskizzen wie auch ausgefeilte, genau vermessene Pla¨ne anfertigen, um auf dieser Grundlage Vor- und Nachteil der einen oder anderen Baumaßnahme besser beurteilen zu ko¨nnen. Damit tat sich freilich ein Feld auf, das in einer Zeit Raum fu¨r kartographische Aktivita¨ten bot, in der die geographisch-kartographischen Wissenschaften ohnehin ganz generell entscheidende Fortschritte machten.37 Gerade auch fu¨r Wien sind im Kontext dieser Entwicklungen mehrere Pla¨ne nachweisbar: Aus dem Jahr 1566 stammt ein in Venedig gedruckter Stadtplan in Form eines Kupferstichs. Sein Autor ist Domenico Zenoi,38 ein in Venedig ta¨tiger Ku¨nstler, der in den Jahren 1566 und 1567 mehrere Versionen eines Wien-Planes herausbrachte. Dabei bezeichnete er Wien in der zu 1566 datierten Ausgabe als „Hauptstadt Ungarns“39, in der mit der Jahreszahl 1567 versehenen sprach er von „Il vero ritrato della fortezza di Vienna Citta nobilissima in Austria, si veramente come ogi di si ritrova“. Es handelt sich in beiden Fa¨llen um genordete Kartenskizzen der Stadt Wien mit Hauptaugenmerk auf die Befestigungsanlagen, darunter Hinweisen auch auf Bauvorhaben, die dann erst spa¨ter tatsa¨chlich umgesetzt wurden.40 Die durchweg italienischen Beschriftungen beziehen sich vorwiegend auf die Befestigungen,41 aber auch auf kriegerische Ereignisse des Jahres 1529.42 Das Stadtinnere zeigt, mit 36 Wertvolle Hinweise sind hier den Ausfu¨hrungen von Marion Hilliges, Das Stadt- und Festungs-

tor. Fortezza und sicurezza – semantische Aufru¨stung im 16. Jahrhundert (Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte, XVI), Berlin 2011, S. 9–16 (Einleitung) zu verdanken. 37 Ohne hier eines allzu oberfla¨chlichen „name-dropping“ geziehen zu werden, mag es doch ausreichen, auf damals ta¨tige Kartographen wie Gerhard Mercator oder Abraham Ortelius zu verweisen. 38 Der Zenoi-Plan von Wien hat in der Wiener Forschung bislang nur bei Fischer, Blickpunkt Wien (wie Anm. 5), S. 113 und S. 115 Abb. 5, Erwa¨hnung gefunden; eingehendere Erla¨uterungen dazu finden sich jetzt bei Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie Anm. 5), S. 70f. Nr. 51. – Zu Zenoi selbst vgl. auch die Hinweise bei Christopher L. C. E. Witcombe, Copyright in the Renaissance. Prints and the Privilegio in Sixteenth-Century Venice and Rome, Leiden 2004, S. 251. 39 Der Titel lautet: „Vienna. Citta` principal d’Ongheria nel modo che al presente e fortificata“, womit Wien in Entsprechung zu seiner neu gewonnenen Rolle fu¨r Ungarn (dazu: Pa´lffy, Kingdom of Hungary [wie Anm. 13], S. 53–69) im zeitlichen Umfeld der Tu¨rkenkriege der 1560er Jahre als „Hauptstadt Ungarns“ bezeichnet wird. 40 Westlich neben dem Rotenturmtor wird eine Bastei als „beluard. fatto del 1566“ bezeichnet, sie wurde aber erst im 17. Jahrhundert als Große Gonzagabastei errichtet, vgl. dazu Opll, Grenzen (wie Anm. 21), S. 72. 41 So finden sich die folgenden Torbezeichnungen (im Uhrzeigersinn): „porta d’Italia“ = Ka¨rntner Tor; „porta del Castello“ = Burgtor; „porta del Sotin“ = Schottentor; „porta noua“ = Neutor; „porta rossa“ = Rotenturmtor; „porta d’ongheria“ = Stubentor. 42 Zu nennen sind etwa die im Su¨den außerhalb der Stadtmauer gebotenen Hinweise: „qui il Turcho batte` la citta´ del 1529“ bzw. „qui il Turcho mino` senza frutto“, womit auf Angriffe und auch das vergebliche Vortreiben unterirdischer Minen von Seiten der osmanischen Angreifer des Jahres 1529 hingewiesen wird.

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Ausnahme des Bereichs der Burg, des Arsenals und des Neuen Zeughauses,43 keinerlei Gliederung, ist aber durchsetzt mit einer Reihe flu¨chtig-skizzenhaft dargestellter Geba¨ude, weitgehend ohne Realita¨tsbezug.44 Außerhalb der Stadtmauern sind die Donau (= der heutige Donaukanal) mit ihren Inseln sowie der Wienfluss mit daru¨ber fu¨hrenden Bru¨cken und seinen Sandba¨nken eingezeichnet. Trotz seiner mangelnden Exaktheit beha¨lt dieser Stadtplan schon wegen seiner ¨ berlieferung in Form eines Druckwerks hohe Bedeutung, macht deutlich, dass U ¨ berblickswerk zu Sta¨dten es nicht nur eine Selbstversta¨ndlichkeit war, in einem U und Festungen Wien in jedem Fall zu beru¨cksichtigen. Die Eintragung der neuesten Großbauten in der Stadt, des erst zwischen 1558 und 1561 errichteten Arsenals ebenso wie des Neuen Zeughauses in der Renngasse, macht zudem deutlich, dass man um Aktualita¨t bemu¨ht war und die erst vor kurzem entstandenen Bauten – natu¨rlich solche milita¨rischen Charakters – im Plan zeigen wollte. Als maßgeblich bleibt zu konstatieren, dass das zeitgeno¨ssische Interesse insbesondere auf den milita¨rischen Charakter der Stadtanlage fokussiert war, dass die baulichen Gegebenheiten innerhalb des ummauerten Raumes, die eigentliche Stadt also, letztlich vo¨llig unwichtig waren oder gar unbeachtet blieben. Was somit keinesfalls zu erkennen ist, das ist irgendeine Absicht, den sta¨dtischen Grundriss, gar die einzelnen Ha¨user kartogra¨ berlieferung des Zenoi-Planes in gedruckphisch festzuhalten – und angesichts der U ter Form wird man wohl auch darauf schließen du¨rfen, dass solches auch nicht vom Publikum, das Bu¨cher mit derartigen Stadtpla¨nen erwarb, nachgefragt war. Sehr wahrscheinlich du¨rfte dieses fu¨r den modernen Menschen durchaus befremdliche Pha¨nomen auch damit zusammenha¨ngen, welche Vorlagen den Planverfassern der Renaissancezeit fu¨r Wien zur Verfu¨gung standen. Aus dem erhaltenen kartographischen Material kann in diesem Zusammenhang fu¨r den Zenoi-Plan wohl ausschließlich an das gedruckte Werk des Augustin Hirschvogel von 1547 gedacht werden, der Plan des Bonifaz Wolmuet war ja niemals in Druck gegangen, und andere Wiener Stadtpla¨ne gab es nicht.

43 Das alte kaiserliche Zeughaus war seit der Mitte des 15. Jahrhunderts im so genannten Cillierhof an

der Nordwestseite des Platzes vor der Burg untergebracht gewesen und wurde in zweiten Ha¨lfte der 1560er Jahre – erstmals eben auf dem Zenoi-Plan von 1566 dokumentiert – in das nordwestliche Innenstadtgebiet an der Renngasse verlegt. Die Bauarbeiten – umgebaut wurde hier der a¨ltere Salzburger Hof – waren 1572 vollendet. An die Stelle des a¨lteren Zeughauses bei der Burg trat die ab der Mitte der 1570er Jahre als Wohnsitz, zuerst fu¨r Erzherzog Rudolf (ab 1576: Kaiser Rudolf II.), dann fu¨r Erzherzog Ernst errichtete „Neue Burg“, die spa¨tere (und heutige) Amalienburg, vgl. zu diesen Entwicklungen Richard Perger, Straßen, Tu¨rme und Basteien. Das Straßennetz der Wiener City in seiner Entwicklung und seinen Namen (Forschungen und Beitra¨ge zur Wiener Stadtgeschichte 22), Wien 1991, S. 64, 110 und 160. 44 Es existiert im U ¨ brigen auch ein Exemplar des Zenoi-Planes, bei dem das Stadtinnere vo¨llig leer bleibt, vgl. Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie Anm. 5), S. 70f. Nr. 51.

Zur Entwicklung der Wiener Stadtpla¨ne im 16. Jahrhundert

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4. Wien auf Manuskriptpla¨nen der zweiten Ha¨lfte des 16. sowie des fru¨hen 17. Jahrhunderts

Aus der Mitte der 1560er Jahre stammen dann drei Versionen ein und desselben WienPlanes,45 alle drei allerdings nur handschriftlich u¨berliefert, und das zudem eingebunden in Atlanten, die mit dem Namen der italienischen Festungsfachleute aus der Maila¨nder Familie Angielini verbunden sind. Von einer Verbreitung, gar von einem Bekanntheitsgrad dieser Dokumente, kann keine Rede sein. Sie unterlagen als milita¨rische Dokumente strenger Geheimhaltung, waren nur einer kleinen Gruppe von Berechtigten zuga¨nglich. Umso interessanter ist es, sich mit diesen kartographischen Dokumenten eingehender zu bescha¨ftigen. Zuna¨chst ist mit Nachdruck zu betonen, ¨ berlieferungszusammenhang als Teil von Atlanten, die teilweise Landkardass ihr U ten von Ungarn und Kroatien, vor allem aber Pla¨ne zahlreicher ungarischer Festungen und Sta¨dte enthalten, eindeutig in den Bereich von Milita¨r und Festungswesen weist. Die Aufnahme eines Wiener Stadtplans in dieses Umfeld ist nur dann versta¨ndlich, wenn man davon ausgeht, dass Wien hier seiner Rolle als Entscheidungs¨ hnliches ort fu¨r alle Angelegenheiten des Ko¨nigreiches Ungarn wegen vorkommt. A du¨rfte – abgestuft nach Rang und Bedeutung fu¨r die Grenzverteidigung – auch im Hinblick auf weitere in diesen Atlanten enthaltene Stadtpla¨ne gelten, darunter von Graz und Laibach, Fiume (Rijeka), Zengg (Senj), Zagreb, Koprivnica, Nagykanizsa, ˝ Komorn (Koma´rno), Neuha¨usel (Nove´ Za´mky) oder Sackmar (Satu Raab (Gyor), Mare). Die in den Atlanten enthaltenen Karten – sie betreffen Kroatien und Slawonien, das Gebiet zwischen Mur und Donau, die Schu¨ttinsel, die Bergsta¨dte und Oberungarn – und Pla¨ne (Grundrisse und Schra¨gansichten) decken den ungarischen Bereich in weiten Teilen ab. Vorgestellt werden damit neben den bereits genannten Brennpunkten der Verteidigungsorganisation gegen die Osmanen auch zahlreiche maßgebliche Pla¨tze fu¨r deren Abwehr, von Biha´c im Su¨den bis nach Kaschau (heute: Kosˇice, Ostslowakei) und Mukatschewe (ukrainisch Мукачеве am Fluss Latorica im westukrainischen Oblast Transkarpatien, Ukraine) im Norden.46

45 Der sogenannte Angielini-Plan, vgl. dazu Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie

Anm. 5), S. 68–70 Nr. 50. 46 Die drei Angielini-Atlanten haben in der bisherigen Forschung in unterschiedlicher Weise Beru¨ck-

sichtigung gefunden, wobei das leitende Interesse stark von Vertretern der verwahrenden Stellen, der mit etlichen Pla¨tzen heute darin vertretenen modernen La¨nder gepra¨gt worden ist; dabei sind zu nennen: (1) die Arbeiten des fu¨r die betreffenden Besta¨nde im Sa¨chsischen Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, zusta¨ndigen Hans Brichzin, Eine Ungarnkarte von Nicolaus Angielus sowie Grund- und Aufrisse ungarischer Festungen aus dem Jahr 1566 im Sa¨chsischen Hauptstaatsarchiv zu Dresden. Teil I, in: Cartographia Hungarica 2 (1992), S. 39–43; Teil II, in: Cartographia Hungarica 4 (1994), S. 12–18; Teil III, in: Cartographia Hungarica 5 (1996), S. 8–11 (Ich danke Herrn Kollegen Ge´za Pa´lffy ganz ¨ sterreich nicht zuga¨nglichen Arbeit von Brichzin zur herzlich dafu¨r, dass er mir ein Exemplar der in O ´ Verfu¨gung gestellt hat.) und (2) die einschla¨gigen Studien der kroatischen Forschung: Ivka Kljajic/ Miljenko Lapaine, Two Vienna Manuscript Atlases with Cartographic Representations of Croatian Cities from the 16th Century, in: Kartografija i geoinformacije (2007), 180–197. – Abbildungen aus ´ Relationen u¨ber Fortifikationen der Su¨dgrendiesen Atlanten enthalten vor allem: Louis Krompotic, zen des Habsburgerreiches vom 16. bis 19. Jahrhundert, Hannover 1997, und Gyo¨rgy Kisari Balla,

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Wien-Pla¨ne sind in je einem Exemplar dieser insgesamt fu¨nf Atlanten enthalten, und zwar im Sa¨chsischen Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, im Gene¨ sterreichischen rallandesarchiv Karlsruhe und in der Handschriftensammlung der O Nationalbibliothek in Wien. Dabei sind deutliche Unterschiede zwischen diesen drei Versionen des durchgehend gesu¨deten Planes festzustellen: Der Dresdner Plan nennt als Stadtnamen „WIENN“, der Karlsruher und der Wiener sprechen von „VIENNA“, die u¨brigen Bezeichnungen sind bei allen drei Versionen in italienischer Sprache gehalten. Wa¨hrend das Wiener Exemplar außerhalb der sta¨dtischen Befestigungen bis auf die Verla¨ufe des Wienflusses und der Donau47 keinerlei Einzeichnungen aufweist, wird auf den Exemplaren in Dresden und Karlsruhe sowohl im Osten als auch im Su¨den der sta¨dtischen Befestigungen die vorsta¨dtische Verbauung dargestellt. Besonders detailreich, wobei wie beim Wolmuet-Plan von 1547 die Vogelschaumanier angewendet wird, geschieht dies an der – Ungarn zugewendeten – Ostseite Wiens mit der Vorstadt Landstraße und der parallel zu diesem Straßenzug im Su¨den wie im Norden anschließenden Bebauung. Dem Wolmuet-Plan von 1547 in so manchem Detail vergleichbar,48 tritt insbesondere die Zone des im Osten außerhalb der Stadt zwischen Wienfluss und Stadtmauer fließenden Mu¨hlbaches hervor, der hier Mu¨hlen49 antreibt und wo insgesamt eine von Su¨den nach Norden zu an Dichte abnehmende Bebauung50 mit Ga¨rten zu erkennen ist. Dennoch wa¨re es wohl falsch, wu¨rde man diese Pla¨ne als Epigonen des Wolmuet-Planes bezeichnen; dass der Kartograph unserer drei Wien-Pla¨ne u¨ber Kenntnisse dieses Planwerks von 1547 verfu¨gte, ist nicht auszuschließen und hat – insbesondere in Bezug auf die Darstellung des vorsta¨dtischen Raumes – manches fu¨r sich. Von einer durchaus eingehenden Kenntnis des Hirschvogel’schen Wien-Planes, der ja zudem in gedruckter Form vorlag, darf dagegen ohne jeden Zweifel ausgegangen werden. Dafu¨r spricht ja schon die Beschra¨nkung darauf, im innersta¨dtischen Raum nur die Hausblo¨cke, nicht aber die Hausgrundrisse einzuzeichnen. Die Art, in der die Basteien der Stadtbefestigung dargestellt sind, erinnert in manchem durchaus an den Plan des Domenico Zenoi.51 Anders als die zur Planerstellung ohne Zwei-

Karlsruhei te´rke´pek a to¨ro¨k ha´boru´k kora´bo´l. Kriegskarten und Pla¨ne aus der Tu¨rkenzeit in den Karlsruher Sammlungen, Budapest 2000. – Die bislang gru¨ndlichste Arbeit vorgelegt hat Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33). – Der Autor des vorliegenden Beitrags arbeitet derzeit gemeinsam mit Heike Krause (Stadtarcha¨ologie Wien) und Christoph Sonnlechner (Wiener Stadt- und Landesarchiv) an einer umfassenden Studie zum kartographischen Schaffen der Familie Angielini. 47 Beide Flussnamen werden in lateinischer bzw. italienischer Sprache angefu¨hrt. 48 Die auf dem Wolmuet-Plan eingezeichneten vorsta¨dtischen Zonen reichen allerdings viel weniger weit hinaus als auf dem Angielini-Plan. 49 Vgl. dazu Klaus Lohrmann, Die alten Mu¨hlen an der Wien (Wiener Bezirkskulturfu¨hrer), Wien 1980. 50 Als Besonderheit ist auf ein polygonal ausgefu¨hrtes Bauwerk ostsu¨do¨stlich unweit der Wasserkunstbastei, also der die Su¨dostecke Wiens schu¨tzenden Bastei, hinzuweisen, das sich nach heutigen Gegebenheiten etwa im Bereich der Kreuzung Schwarzenbergstraße/Ka¨rntner- bzw. Schubertring befindet. Es tra¨gt ein zelt- bzw. kuppelartiges Dach und ist auch schon auf dem Wolmuet-Plan von 1547 (Opll/ Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne [wie Anm. 5], S. 61 Nr. 37) zu sehen. 51 An die umgekehrte Abha¨ngigkeit, also des Zenoi-Planes vom Angielini-Plan, zu denken, verbietet in jedem Fall das Fehlen des Neuen Zeughauses in der Renngasse auf dem letzteren, siehe dazu schon ¨ berlieferung (Opll/Stu¨rzlinoben S. 146 mit Anm. 43. – Der Angielini-Plan in seiner Karlsruher U

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fel herangezogenen Vorlagen, zeigen die drei Versionen des Wien-Planes in Dresden, Karlsruhe und Wien allerdings eine Besonderheit, die zuvor nur im Werk des Bonifaz Wolmuet zu fassen ist. Auf allen drei Exemplaren sind na¨mlich die maßgeblichen Baulichkeiten innerhalb der Stadt in Form von zum gro¨ßten Teil schematischen, teilweise aber eben doch auch realita¨tsnahen Aufrissdarstellungen eingezeichnet. Von den profanen Geba¨uden betrifft dies neben der Burg und dem Arsenal das sta¨ndische Landhaus in der Herrengasse und das auf ein Tor des ro¨mischen Legionslagers Vindobona zuru¨ckgehende Peilertor am Ausgang der Tuchlauben auf den Graben. Die kirchlichen Geba¨ude u¨berwiegen bei weitem, ohne dass auch hier von einer vollsta¨ndigen Beru¨cksichtigung aller die Rede sein ko¨nnte. An das tatsa¨chliche Aussehen der Geba¨ude wird man insbesondere bei St. Stephan oder der Kirche Maria am Gestade sowie bei St. Michael und dem Minoritenkloster (bezeichnet als „S. CROZE“ = Heiligkreuzkirche) erinnert, die meisten werden eher schematisch (Kirchturm mit Langhaus und Chor) ins Bild gesetzt. Das Langhaus der Schottenkirche wird mit a¨ußerst breiten Seitenschiffen dargestellt, erinnert damit an ihr Abbild auf dem Babenbergerstammbaum52 von 1490/92. An weltlichen Objekten ist hier neben der Burg und dem Arsenal insbesondere das Landhaus zu nennen, von dem der Angielini-Plan die a¨lteste u¨berlieferte Darstellung bietet. In der bisher vorliegenden Literatur wurde nicht darauf hingewiesen, welch markante Unterschiede zwischen den drei Versionen, na¨mlich vor allem zwischen dem Dresdner (Abb. 1 im Farbteil) und dem Karlsruher Exemplar (Abb. 2 im Farbteil) auf der einen und dem Wiener Exemplar auf der anderen Seite, vorliegen. In jedem Fall weisen Dresden und Karlsruhe schon durch die in beiden Pla¨nen vorhandene Beru¨cksichtigung vorsta¨dtischer Zonen eine Gemeinsamkeit auf, von der das Wiener Exemplar53 vo¨llig abweicht. Insbesondere das Dresdner Exemplar des Planes zeigt dabei nicht nur die o¨stlich und su¨dlich der Stadtmauer gelegenen Zonen, sondern es bietet auch einen Einblick in die Verbauung des Unteren Werds an der der Stadtmauer gegenu¨berliegenden Seite der Donau (heute: Bereich der Leopoldstadt, 2. Wiener Gemeindebezirk). Auffa¨llig sind aber auch Abweichungen, was die Einzeichnung einer an der Ka¨rntner Straße befindlichen Kirche betrifft: Wa¨hrend der Dresdner Plan hier das Patrozinium Johannes nennt – es handelt sich na¨mlich um die Johanniterkirche –, setzt der Karlsruher Plan hier erst gar keinen Namen hinzu, und das Wiener Exemplar spricht – fa¨lschlich – von St. Anna. Die Bezeichnung der Bu¨rgerspitalkirche unweit des Ka¨rntner Tores lautet wiederum im Fall von Dresden und Wien „OSPITAL“ bzw. „OSPIDAL“, wa¨hrend Karlsruhe hier die deutsche

ger, Wiener Ansichten und Pla¨ne [wie Anm. 5], S. 68–70 Nr. 50) zeichnet sich zudem durch bessere Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten aus, bezeichnet er doch das Haupttor Wiens nach Su¨den zu richtig als „Ka¨rntner Tor“, wa¨hrend Zenoi hier vom „Italien-Tor“ („porta d’Italia“) spricht (siehe oben Anm. 41). 52 Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie Anm. 5), S. 52 Nr. 15. 53 Ein Faksimile der Wiener U ¨ berlieferung jetzt bei Ferdinand Opll/Martin Scheutz, Der SchlierbachPlan des Job Hartmann von Enenkel. Ein Plan der Stadt Wien aus dem fru¨hen 17. Jahrhundert (Quel¨ sterreichische Geschichtsforschung 13), Wien 2014, Tafel 1. leneditionen des Instituts fu¨r O

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¨ berlieForm „Spital“ verwendet. Das Hofspital unweit der Burg fehlt in der Wiener U ferung vollkommen, ist in der Dresdner durch das Wort „OSPITAL“, in der Karlsruher dagegen mittels der Ansicht eines ausgedehnten Geba¨udekomplexes, allerdings ¨ berlieferunohne Beschriftung, eingetragen. Andererseits gibt es auch alle drei U gen umfassende Gemeinsamkeiten, darunter die Art, wie der Stadtname „WIENN“ bzw. „VIENNA“ gleichsam als Titel in den Raum su¨dlich der su¨dlichen Stadtmauern hineingesetzt wird. Trotz dieser zum Teil durchaus markanten Unterschiede zwischen den drei erhaltenen Versionen des Wien-Planes, die man durchaus so interpretieren ko¨nnte, dass sie von verschiedenen Kartographen angefertigt wurden – einen wirklich zwingenden Anlass, sie drei verschiedenen Autoren (oder Ha¨nden?) zuzuweisen, gibt es nicht. Es kann (1) nicht ausgeschlossen werden, dass alle drei Versionen von einem verlorenen „Original“ herzuleiten sind, und es ist (2) ebenso wenig absolut sicher, dass auch die in Karlsruhe und Wien erhaltenen Versionen von derselben Hand stammen wie der Dresdner Wien-Plan. Die Forschung hat sich lange Zeit nur der Untersuchung von jeweils einer der drei erhaltenen Versionen angenommen, ohne dass man einen Vergleich zwischen ihnen ¨ berlieferung ist jedenfalls Hans Brichzin bei seigemacht ha¨tte. Fu¨r die Dresdner U ner Analyse54 von der Ungarnkarte ausgegangen, die im selben Atlas wie der WienPlan enthalten ist und in ihrem rechts unten eingetragenen Titel55 die Urheberschaft des Nicolo` Angielini vermerkt. Nach der Beachtung von Schrift- und Zeichnungsduktus, Farben und Papier in diesem Atlas hat Brichzin „keinen Zweifel daran, daß die Karte (= die Ungarnkarte) und die Festungsrisse von ein und derselben Hand gezeichnet wurden“,56 er weist daher Nicolo` Angielini die Urheberschaft auch am Wien-Plan zu. Im Hinblick auf die zeitliche Einordnung der Ungarnkarte geht Brichzin von der Widmung derselben fu¨r Kurfu¨rst August von Sachsen auf einer links oben auf dem Plan aufgeklebten Renaissancekartusche aus. Da sich der Kurfu¨rst am 17. August 1566 brieflich bei dem Adeligen Christoph von Carlowitz (1507–1578) dafu¨r bedankte, dass er von diesem zuvor zwei Ung(e)(e)rische Mappen geschickt bekommen habe, mu¨sse die Karte vor der Abfassung dieses Briefes entstanden sein.57 ¨ brigen eine durch zeitgeno¨ssische AufAuch im Karlsruher Atlas befindet sich im U schrift Nicolo` Angielini zugeschriebene Karte von Oberungarn. Neuere kartographiegeschichtliche Untersuchungen aus Ungarn wollen die Ungarnkarte etwa ein Jahrzehnt spa¨ter, also in die 1570er Jahre, datieren, und eine

54 Insgesamt sind in Dresden zwei Atlanten zu den ungarischen Festungen u¨berliefert, na¨mlich: Sa¨ch-

sisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, Karten, Risse, Bilder Schrank XXVI, Fasc. 96. Nr. 6 und Nr. 11. Der Wien-Plan ist im umfassenderen Sammelband, Nr. 11, enthalten, vgl. dazu Brichzin, Ungarnkarte (wie oben Anm. 46). 55 VNGARIA LOCA PRECIPVA DESCRIP[T]A PER NICOLAVM ANGIELVM ITALVM. 56 Brichzin, Ungarnkarte (wie Anm. 46), in: Cartographia Hungarica 4 (1994), S. 14. 57 Brichzin, Ungarnkarte (wie Anm. 46), in: Cartographia Hungarica 2 (1992), S. 39f.

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kunstgeschichtliche Untersuchung von 2004 nimmt an, dass die im Wiener Kodex enthaltenen Zeichnungen eine Kompilation sind, die Angielini bzw. jemand anderer von seinen eigenen Bla¨ttern und von den Pla¨nen anderer Autoren zusammenkopierte.58 Unsere Kenntnisse u¨ber diesen Mann, Festungsbauspezialist ebenso wie Kartograph, hat vor kurzem der ungarische Historiker Ge´za Pa´lffy entscheidend erweitern ko¨nnen. Zuna¨chst gelingt es ihm, durch eingehendes Studium der archi¨ berlieferungen in den Besta¨nden des 1556 gegru¨ndeten Wiener Hofvalischen U kriegsrates unser Wissen u¨ber Nicolo` Angielini, dessen Bruder Natale und letzteren Sohns Paolo entscheidend zu erweitern.59 Die Bru¨der waren italienische Festungsbaumeister, die fast gleichzeitig „um die Mitte des 16. Jahrhunderts an den ungari¨ sterschen und kroatischen Grenzen gegen die Osmanen im Dienste des Hauses O reich dienten“.60 Natale la¨sst sich von 1557 bis 1574 nachweisen und nahm an zahlreichen Kommissionen und Erhebungen des Zustands der Festungen an der Grenze in Ungarn teil. Erhalten hat sich von ihm ein Kupferstich u¨ber die Kriegsgeschehnisse des Jahres 1565 im Raum zwischen Tokaj und Satu Mare und eine von ihm signierte, handgezeichnete Karte der Grenzfestungen im Raum von Nagykanizsa aus der Zeit um 1569/70.61 Gegen Ende seines Lebens – er starb vor dem 9. Juni 1574 – war er in den oberungarischen Bergsta¨dten als Bausuperintendent ta¨tig. Sein Bruder Nicolo`, u¨ber den die Quellen ungleich weniger berichten, du¨rfte seine Karriere mit Hilfe seines Bruders zuna¨chst im Dienst Erzherzog Karls von Innero¨sterreich in Graz begonnen haben, zog aber dann 1564 mit Natale nach Wien. 1566 war er im Feldlager Kaiser ¨ hnlich Natale, nahm auch Maximilians II. auf dem ungarischen Kriegsschauplatz. A er an etlichen Festungsvisitationen teil. 1571 kehrte er in seine italienische Heimat zuru¨ck, 1577 war er dann wieder in kaiserlichen Diensten an der Grenze in Ungarn, verschwand jedoch danach aus den Quellen. Nicolo` und Natale Angielini und auch dessen Sohn Paolo du¨rfen ihrem eindrucksvollen Œuvre zufolge durchaus als Vorla¨ufer der spa¨teren Milita¨rkartographen62 gelten. Ihr Spezialgebiet war neben Vermessungen, Grundriss- und Planzeichnungen der Grenzfestungen auch die Anfertigung von Karten u¨ber die Grenzgebiete. Dabei darf durchaus von einer Art „Familienunternehmen“ gesprochen werden, arbeiteten sie doch u¨beraus eng zusammen, verwendeten, verbesserten und u¨berarbeiteten die Karten des/der jeweils Anderen. Die kartographischen Arbeiten waren fu¨r den Hofkriegsrat von besonderem Wert fu¨r eine rasche Orientierung im bedrohten Grenzgebiet. 58 Vgl. dazu die Hinweise bei Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 10f. 59 Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 13–28. 60 Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 13–16, Zitat auf S. 16. 61 Der Kupferstich mit dem Titel: LOCA IN VNGARIA RECEPTA AB INVICTISS[IMO]

IMP[ERATORE] MAX[IMILIANO] II/DIE ORTER SO NEVLICH IN VNGERN ¨ berlieferung in der Sze´che´nyi Nationalbibliothek in BudaEINGENOMEN SEIN ist nach der U pest abgebildet bei Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), Tafel XII; eine Abbildung der in der ¨ sterr. Nationalbibliothek, Kartensammlung AB 9.C.1., u¨berlieferten Manuskriptkarte bei Pa´lffy, O ebd., Tafel XIV. 62 Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), bes. S. 73–76, ist ganz maßgeblich die Aufhellung dieses Zusammenhangs zu verdanken.

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Ge´za Pa´lffy erkla¨rt in kritischer und umfassender Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zu den drei Atlanten in Dresden, Karlsruhe und Wien – dieses Exemplar gilt als das repra¨sentativere63 – und unter Beachtung neu gefunde¨ sterreichisches ner archivalischer Angaben in den Besta¨nden des Hofkriegsrates (O ¨ berlieferungen zueinander in folgenStaatsarchiv, Kriegsarchiv) das Verha¨ltnis der U der Weise: Im Fall der Wiener, Dresdner und Karlsruher Atlanten liegt „eine ausgewa¨hlte, aber auch so wertvolle Sammlung der wichtigsten ungarischen und kroatischen Festungsgrundrisse des Jahrzehntes nach der ersten Ha¨lfte der 1560er Jahre [vor], die nachtra¨glich von Natale Angielini zusammengestellt, jedoch urspru¨nglich meistens nicht von ihm gezeichnet waren.“64 Da Natale Angielini im Fru¨hjahr 1574 verstarb, ist davon auszugehen, dass der (verlorene) Originalband des Atlasses schon 1573 fertig war. Von diesem Originalband haben sich – Pa´lffy folgend – zwei Atlaskopien in Wien (eine weitgehend vollsta¨ndige und eine fragmentarische), zwei Kopien in Dresden (ebenfalls eine reichhaltigere und eine weniger umfassende) und eine in Karlsruhe erhalten.65 Der Wiener Atlas entha¨lt jedenfalls Grundrisse von Festungen, die 1575 in die Ha¨nde der Osmanen fielen, muss daher wohl zwischen 1572 und 1574 entstanden sein. De facto handelt es sich also um eine Sammlung von Karten und Pla¨nen, die wegen der Bedeutung der Behauptung der ungarischen Grenze wie der Rolle, die die Tu¨rkenabwehr um diese Zeit spielte, entstand und die ihre Anlage der Ta¨tigkeit einer italienischen Familie von kartographisch bestens ausgebildeten und versierten Festungsbaumeistern verdankte. Der in allen drei Exemplaren enthaltene Wien-Plan – das ist mit Nachdruck zu unterstreichen – ist somit einer unter vielen anderen, und keinesfalls kann man davon ausgehen, dass er eine zentrale Position unter ihnen eingenommen hat. In Verbindung mit den ebenfalls in diesen Atlanten enthaltenen Pla¨nen anderer nicht unmittelbar an der Grenze gegen die Osmanen bzw. im eigentlichen Grenzgebiet selbst gelegenen Stadtpla¨nen, darunter insbesondere denen von Graz, Laibach und Zagreb, wird man die Aufnahme des Wien-Planes wohl so zu verstehen haben, dass damit eben auch Hauptorte fu¨r die Organisation des damals aufund ausgebauten Grenzverteidigungssystems im Osten in diesem Sammelatlas ihren ¨ berlegung mitspielen, im KonPlatz fanden. Zugleich mochte im Fall von Wien die U text dieses Atlasses eben auch die damals wohl bedeutendste und modernste großsta¨dtische Stadtbefestigung in Zentraleuropa, ja wohl in ganz Europa, als eine Art Idealbeispiel fu¨r die zeitgeno¨ssische Festungsbaukunst generell einzubeziehen. Im Falle des Wien-Planes liegen zudem – wie schon ausgefu¨hrt – zwei verschiedene Versionen vor, die sich insbesondere dadurch unterscheiden, dass in zweien (Dresden und Karlsruhe) eben auch Teile der vorsta¨dtischen Zonen in die Darstellung mit aufgenommen worden sind. Vielleicht darf man aus den im su¨dlichen Vorfeld der Stadt platzierten deutschen bzw. lateinischen Stadtbezeichnungen, also entweder 63 Dieses Verdikt von Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 68, kann allerdings nicht mit Bezug

¨ berlieferung als auf den Wien-Plan gelten, der sowohl in der Dresdner als auch in der Karlsruher U umfassender (und wohl auch pra¨chtiger) zu bezeichnen ist. 64 Zitat: Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 67f. 65 Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), 68f.

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als „WIENN“ oder als „VIENNA“, sogar darauf schließen, dass der im Dresdner Wien-Plan in deutscher Sprache verwendete Stadtname eine Art von Hommage an den sa¨chsischen Kurfu¨rsten als Widmungstra¨ger66 darstellt. Eines der Mitglieder der Angielini-Familie muss in jedem Fall als Autor des Wien-Planes gelten. Folgt man ¨ berlegungen von Pa´lffy, so ist den a¨ußerst detaillierten und auch u¨berzeugenden U die Entscheidung fu¨r einen der drei Kartographen nicht einfach, allerdings ist Paolo Angielini, der Sohn des Natale, wohl auszuschließen. Die Entscheidung zwischen Nicolo` und Natale ist nicht mit letzter Sicherheit zu treffen. Allerdings du¨rfte nach ¨ bereinstimmungen der a¨ußeren Gestaltung zwiden von Brichzin67 konstatierten U schen der eindeutig von Nicolo` Angielini stammenden Ungarnkarte im Dresdner Atlas und der im selben Sammelband u¨berlieferten Wien-Karte wohl doch die gro¨ßere Wahrscheinlichkeit dafu¨r sprechen, den letzteren, also Nicolo` Angielini, als den Planverfasser anzusprechen. Im Hinblick auf die zeitliche Einordnung des Wien-Planes ist zuna¨chst davon auszugehen, dass er vor der Anlage der u¨berlieferten Sammelatlanten entstanden ist, somit vor den Jahren 1572/74. Daru¨ber hinaus muss aber auch der Planinhalt zur Datierung herangezogen werden, und dies la¨sst tatsa¨chlich eine weitere Pra¨zisierung zu. Angesichts des markanten Interesses des Planverfassers an den sta¨dtischen Befestigungen und milita¨rischen Anlagen ist es auffa¨llig, dass zwar das zwischen 1558 und 1561 an der Nordwestflanke der Stadt mit direkter Anbindung an die Donau errichtete Arsenal und der 1564/65 errichtete Auslaufbrunnen der Hernalser Wasserleitung auf dem Hohen Markt eingezeichnet sind, das erstmals auf dem Zenoi-Plan Wiens von 1566 belegte, zwischen 1568 und 1572 (aus)gebaute Neue Zeughaus in der Renngasse unweit des Arsenals dagegen fehlt.68 Diese zeitliche Eingrenzung der Entstehung des Angielini-Planes von Wien auf etwa die Mitte der 1560er Jahre korreliert aufs Beste mit den 1566 neuerlich aufflammenden Ka¨mpfen gegen die Osmanen, an denen Kaiser Maximilian II. voru¨bergehend sogar perso¨nlich Anteil nahm69 und die in jedem Fall das Thema der Grenzfestungen im Osten von neuem in den Brennpunkt des Interesses ru¨cken ließen. Der Angielini-Plan – an diesem Begriff ist trotz so mancher Unklarheiten in Bezug auf seinen tatsa¨chlichen Scho¨pfer festzuhalten – legt somit Zeugnis davon ab, welche Rolle das milita¨rische Element bei der Entstehung solcher Stadtpla¨ne spielte. Zuna¨chst, in den 1540er Jahren, war es ja auch schon das große Thema des Ausbaus der Wiener Stadtbefestigungen nach den dramatischen Geschehnissen von 1529 gewesen, das erstmals tatsa¨chliche Stadtpla¨ne regelrecht „generiert“ hatte. Nun, zwei Jahrzehnte spa¨ter, galt die habsburgische Residenzstadt, die seit der Erwerbung der ungarischen Ko¨nigskrone durch die Habsburger und wegen der Einbuße weiter

66 Zwar ist auf dem Wien-Plan keine Widmung eingetragen, doch war die in diesem Atlas u¨berlieferte

Ungarnkarte dezidiert dem sa¨chsischen Kurfu¨rsten gewidmet, siehe dazu schon oben S. 150 Anm. 57. 67 Siehe dazu schon oben S. 150 mit Anm. 56. 68 Siehe dazu Opll/Stu¨rzlinger, Wiener Ansichten und Pla¨ne (wie Anm. 5), S. 68f. (bei Nr. 50). 69 Vgl. dazu immer noch Viktor Bibl, Maximilian II. Der ra¨tselhafte Kaiser, Hellerau bei Dresden 1929,

S. 142–155.

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Ferdinand Opll

ungarischer Territorien durch die osmanische Expansion zum maßgeblichen Bezugspunkt Ungarns geworden war, gleichsam als Musterbeispiel fu¨r eine moderne, verteidigungsstarke Festung, eine Auffassung, die zur gleichen Zeit sowohl das herrscherliche wie auch das bu¨rgerlich-sta¨dtische Versta¨ndnis von Wien entscheidend pra¨gte. Zu Recht hat man den Angielini-Plan von Wien ju¨ngst mit den Anfa¨ngen der regelma¨ßigen Milita¨rkartographie in der Habsburgermonarchie in Verbindung gebracht,70 eines Entwicklungsstranges der Kartographie, die fu¨r Wien u¨ber die Stadtpla¨ne aus der Zeit der sogenannten Zweiten Wiener Tu¨rkenbelagerung (1683) bis ins fru¨he 19. Jahrhundert hinein zu verfolgen ist.71 Zugleich legen diese kartographischen Dokumente auch Zeugnis davon ab, dass sie ohne Vorbilder und Vorlagen wohl kaum zustande gekommen wa¨ren. Wa¨hrend na¨mlich die in den AngieliniAtlanten u¨berlieferten Karten, Grundrisse und Pla¨ne der eigentlichen Grenzfestungen im ungarischen Bereich sehr wohl auf der Grundlage von Vermessungsarbeiten und lokalen Autopsien vor Ort entstanden, steht der Wien-Plan doch in einer von den Werken eines Augustin Hirschvogel und eines Bonifaz Wolmuet herru¨hrenden kartographischen Tradition. Ja, dem Angielini-Plan selbst sollte im fru¨hen 17. Jahrhundert dann eine a¨hnliche Rolle zukommen, als na¨mlich ein im Umfeld des protestantischen Gelehrten Job Hartmann Freiherr von Enenkel entstandener, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar von diesem selbst verfasster Plan von Wien eindeutig auf das Angielini’sche Vorbild zuru¨ckgriff. Angesichts der Konzentration dieses Wien¨ brigen wohl eindeutig davon ausgePlans auf die ummauerte Stadt selbst, darf im U ¨ gangen werden, dass es das in der Osterreichischen Nationalbibliothek u¨berlieferte Exemplar des Angielini-Plans (oder ein mit diesem identisches Exemplar, das dann heute verloren wa¨re) war, das Job Hartmann als Vorbild diente. Wiewohl dieser nach seinem Aufbewahrungsort im Zisterzienserkloster Schlierbach in Obero¨sterreich als „Schlierbach-Plan von Wien“ zu bezeichnende Stadtplan genordet ist, damit unserem heutigen Planversta¨ndnis ada¨quat ist, und sein Entstehen auch einem ganz anderen Beweggrund verdankt72 – er ha¨tte ohne die Heranziehung des Angielini-Planes als Vorlage nicht entstehen ko¨nnen. Solch ein Hintergrund bei der Anlage eines Stadtplanes von Wien bildete freilich die Ausnahme. Fu¨r administrative Zwecke – beim Schlierbach-Plan die Erarbei¨ bersicht u¨ber den adeligen (Frei)Hausbesitz in Wien – wurden Stadttung einer U pla¨ne dann erst viel spa¨ter, im Kontext der zu Zwecken der Besteuerung angefertigten Katasterpla¨ne73 der franziszeischen Epoche wa¨hrend der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts angelegt. Auf dem Felde der Milita¨rkartographie entwickelten sich dagegen schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zusehends Spezialkenntnisse und hohes kartographisches Talent, Grundlagen, die den Erzeugnissen solcher Milita¨rkartographen 70 Pa´lffy, Milita¨rkartographie (wie Anm. 33), S. 73–76. 71 Beispiele davon bei Opll, Wien im Bild historischer Karten (wie Anm. 5); vgl. dazu im U ¨ berblick

Johannes Do¨rflinger, Vom Aufstieg der Milita¨rkartographie bis zum Wiener Kongress (1684 bis ¨ sterreichische Kartographie. Von den Anfa¨ngen im 15. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhun1815), in: O dert, hg. v. Ingrid Kretschmer/Karel Kriz, Wien 2004, S. 75–168 72 Zu diesem Plan vgl. Opll/Scheutz, Schlierbach-Plan (wie Anm. 53). 73 Vgl. dazu Ferdinand Opll, Katasterkarten und Ansichten der Stadt Wien (spa¨tes 18. bis fru¨hes 19. Jahrhundert), in: Wiener Geschichtsbla¨tter 60 (2005), S. 15–28.

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ihren hohen Rang sicherten. Das, was den modernen Menschen an Pla¨nen und Karten interessiert, na¨mlich die pra¨zise Befriedigung seines topographischen Interesses und ¨ berlegungen und Beweggru¨nde, die bei der die rasche Hilfe zur Orientierung waren U fru¨hen Entstehung von Pla¨nen u¨berhaupt nicht zum Tragen kamen. Am Anfang der Entwicklung des Wiener74 Stadtplanes standen vielmehr fortifikatorische und damit letztlich milita¨rische Erfordernisse.

74 Ho¨chst wichtig wa¨re es, die in diesem Beitrag vorgelegten U ¨ berlegungen auch auf andere Sta¨dte anzu-

wenden. Tatsa¨chlich existiert ja in den letzten Jahren eine zunehmend breiter werdende Literatur zu ¨ berlieferungen von Sta¨dten, und so seien hier nur die folgenden Beispiele angekartographischen U fu¨hrt: Peter Whitfield, London. A Life in Maps, London 2006; Peter Barber, London. A History in Maps, London 2012; Pierre Pinon/Bertrand Le Boudec (sous la direction de Dominique Carre´), Les plans de Paris. Histoire d’une capitale, Paris 2004; Bogen/Thu¨rlemann, Rom (wie Anm. 2).

MASCHINEN, RHYTHMEN UND TEXTUREN Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt von Walter Ruttmann. Die filmische Imagination einer Metropole von Jo¨rg Schweinitz

In den 1920er Jahren interagieren kulturelle Vorstellungen von Urbanita¨t auf sehr enge Weise mit Imaginationen des Sta¨dtischen wie sie von Kinofilmen in Szene gesetzt worden sind. Dies geschieht nicht von ungefa¨hr, denn Kino und Film treten in einer Zeit auf den Plan, in der sich viele Großsta¨dte durch ungeheures Wachstum, Hochindustrialisierung und neue Verkehrsmittel, Elektrifizierung und Motorisierung stu¨rmisch zu modernen Metropolen entwickelt hatten. Dieser Zusammenhang und die damit einhergehende Vera¨nderung des sta¨dtischen Lebens waren zu ¨ berall spu¨rten die Zeitallgegenwa¨rtigen Themen kultureller Diskurse geworden. U genossen der Jahrzehnte vor und nach 1900 mit der sich in den Metropolen stu¨rmisch entwickelnden Massengesellschaft auch die – spa¨ter von Siegfried Gideon1 eindrucksvoll dargestellte – ‚Herrschaft der Mechanisierung‘ und die von Georg Simmel als „Steigerung des Nervenlebens“ beschriebene neue Dynamik des Wahrnehmens sowie der Reizintensita¨t anbrechen, „die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel a¨ußerer und innerer Eindru¨cke hervorgeht.“2 Letztere reichte von bislang nicht gekannten Geschwindigkeitserfahrungen im Verkehr bis zum Erleben der jetzt in elektrisches Licht getauchten na¨chtlichen Sta¨dte, von der allgemeinen zeitlichen Kompression und konsequenten Standardisierung der allta¨glichen Lebensabla¨ufe u¨ber die sich ausstellende Fu¨lle des inzwischen allgegenwa¨rtigen und zunehmend fu¨r viele (zumindest potentiell) materiell erreichbaren Konsumangebots bis hin zu zahlreichen medialen Entwicklungen, die auf neuen oder vervollkommneten Massenreproduktionstechniken fu¨r Wort, Ton und Bild beruhten. Alles steigerte die Flut der Reize in der Großstadt, vieles stand fu¨r den facettenreich reflektierten Trend der Mechanisierung, und alles kehrte in der Bild- und Erza¨hlwelt des Kinos wieder. Ja, das Kino selbst hatte als elektrifiziertes Dispositiv fu¨r die sta¨dtischen Massen mit chemischen und apparativ-mechanischen Grundlagen und als Medium des ‚flu¨chtigen‘ 1 Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte [amerik.

1948], Hamburg 1982.

2 Georg Simmel, Die Großsta¨dte und das Geistesleben [1913], in: ders., Bru¨cke und Tu¨r. Essays des

Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann/Margarete Susman, Stuttgart 1957, S. 228.

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Jo¨rg Schweinitz

Bewegtbildes unmittelbaren Anteil an den meisten dieser Trends: „Die Psychologie des kinematographischen Triumphes ist Großstadt-Psychologie. Nicht nur, weil die große Stadt den natu¨rlichen Brennpunkt fu¨r alle Ausstrahlungen des gesellschaftlichen Lebens bildet; im Besonderen auch noch, weil die Großstadtseele, diese ewig gehetzte, von flu¨chtigem Eindruck zu flu¨chtigem Eindruck taumelnde Seele so recht ¨ ußerung des die Kinematographenseele ist.“3 Diese aus dem Jahr 1911 stammende A Theaterkritikers Hermann Kienzl verweist darauf, dass schon unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg unter den Kulturkritikern Konsens herrschte: Die Großstadt galt als der Symbolort der neuen hochkapitalistischen Zivilisation, und das Kino als der kulturelle Symbolort der neuen Urbanita¨t.4 Kein Wunder also, dass in diesem Medium, in der neuen popula¨ren Freizeitinstitution, immer wieder visuelle Imaginationen der Großstadt inszeniert und ausgehandelt wurden. Der Trend erreichte in der zweiten Ha¨lfte der 1920er Jahre mit dem Film Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt (D 1927)5 von Walter Ruttmann einen vorla¨ufigen Ho¨hepunkt. Dessen wirkungsma¨chtiger filmischer Entwurf des Sta¨dtischen, der Metropole, soll hier na¨her untersucht werden.

I. Großstadtimaginationen, Querschnittsfilm und Neue Sachlichkeit Nicht allein die Debatte um Kino und Großstadt begann in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, das Kino inszenierte in dieser Zeit auch schon seine Imaginationen des Großsta¨dtischen. Daran hatten in Deutschland unter anderem erste Großstadtkomo¨dien wie die Max-Mack-Filme Wo ist Coletti (D 1913) oder Die Tangoko¨nigin (D 1913) Anteil. Sie zeigten – mit Außenaufnahmen Berlins – das Bild einer modernen Stadt voller neuer technisierter Verkehrs- und Kommunikationsmittel, in der ein neues Tempo und eine neue Reizfu¨lle herrschen. In der Zeit der Weimarer Republik setzte sich die Tendenz umso expliziter, aber zuna¨chst stark verdu¨stert, fort. Seit dem expressionistischen Film Von morgens bis mitternachts (Karl-Heinz Martin, D 1920) erscheint die Großstadt in den sogenannten Straßenfilmen der 1920er Jahre als Ort der Entfremdung und dunkler Gefahr, der gleichzeitig mit seinen Sensationen und dem Versprechen ekstatischen Erlebens – ganz so wie die Hure als Standardfigur dieser Filme – eine nahezu unausweichliche Anziehung auf die Protagonisten ausu¨bt.6 In Fritz Langs Großproduktion Metropolis von 1927 war es dann die 3 Hermann Kienzl, Theater und Kinematograph [1911], in: Prolog vor dem Film. Nachdenken u¨ber ein

neues Medium 1909–1914, hg. v. Jo¨rg Schweinitz, Leipzig 1992, S. 231.

4 Vgl. Prolog (wie Anm. 3), bes. S. 145–234. 5 Der Film ist in einer gut restaurierten Fassung auf der DVD Walther Ruttmann, Berlin, die Sinfonie der

Großstadt & Melodie der Welt, Edition Filmmuseum, Nr. 39, Mu¨nchen/Berlin/Mainz 2008, zuga¨nglich. Die Doppel-DVD-Box entha¨lt zudem neben filmhistorischem Material weitere Filme Ruttmanns aus den 1920er Jahren, darunter auch seine absoluten Filme Opus I–IV sowie von ihm gestaltete Werbefilme. 6 Zu den sog. Straßenfilmen vgl. Anton Kaes, Film in der Weimarer Republik, in: Geschichte des deutschen Films, hg. v. Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler, Stuttgart 1993, S. 39–100, bes. S. 54–69.

Die filmische Imagination einer Metropole

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Imagination einer Zukunftsstadt, die mit ihrer bis heute erinnerten und immer wieder zitierten Bildwelt auf Faszination durch die Modernita¨t einer markant technisch gepra¨gten Zivilisation zielt und im selben Moment kulturpessimistischen Motiven a` la Oswald Spengler und massenpsychologischen Ideen in der Art Gustave Le Bons einpra¨gsame visuelle Gestalt verleiht. Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt ist nun – neben Langs zwischen modernistischer Utopie und du¨sterer Dystopie oszillierendem Science-Fiction-Epos – das kinematographische Werk der zweiten Ha¨lfte der 1920er Jahre in Deutschland, welches am explizitesten und am folgenreichsten am Bild des Großsta¨dtischen gearbeitet hat. Ja der Film, der in formaler Hinsicht innovativ war und zahlreiche a¨sthetische Entdeckungen der Avantgarde aufsog und in sein Konzept integrierte, wurde zu einem Vorbild fu¨r ein in den Folgejahren sich international ausbreitendes Genre, das die Filmhistoriker bald mit dem verallgemeinernden Etikett ‚Großstadtsinfonien‘ versahen.7 Der am 23. September 1927 im Berliner Tauentzien-Palast uraufgefu¨hrte Film, den Walter Ruttmann gemeinsam mit dem Kameramann Karl Freund nach einer Idee des Drehbuchautors Carl Mayer als Kontingentfilm fu¨r Fox-Europa produziert hat, ist durchga¨ngig aus dokumentarischem Filmmaterial montiert. Nach Bekundungen seines Regisseurs ist es zumindest teilweise mit versteckter Kamera aufgenommen worden: „Keine gestellten Szenen! Menschliche Vorga¨nge und Menschen wurden ‚beschlichen‘. Durch dieses ‚Sich-unbeobachtet-glauben‘ entstand Unmittelbarkeit des Ausdrucks.“8 Dafu¨r durfte keiner der Gefilmten „etwas von der Aufnahme wissen und im Bewußtsein ‚gefilmt‘ zu werden, anfangen, zu ‚spielen‘.“9 Ganz in diesem Sinne verzichtet der Film auf die traditionelle durchgehende Spielhandlung und auf jegliche Hauptfiguren, an deren Konflikten die Zuschauer Anteil ha¨tten, ja auf die Entfaltung von fiktionalen Konflikten u¨berhaupt: „Konsequente Abwehr vom gefilmten Theater“,10 so proklamierte Ruttmann. Die damals u¨blichen handlungsleitenden Zwischentitel entfallen ebenso. Vielmehr bietet er eine Art verallgemeinerten Blicks auf die Großstadt Berlin. Touristische Orte, wie sie die Reisefu¨hrer

7 Zu den beru¨hmtesten Fa¨llen la¨sst sich – neben vielen anderen – eine Reihe von Stadtfilmen za¨hlen, die

¨ sthetik folgen. Die Reihe reicht von Dziga Wertow, der einem a¨hnlichen Prinzip resp. einer a¨hnlichen A in Tselovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929) das moderne Bild einer ` propos de Nice (F 1930) ebenso wie (montierten) Sowjetmetropole konstruiert, Jean Vigo, der mit A Euge`ne Deslaw mit Montparnasse (F 1929), Kenji Mizoguchi mit Symphonie einer Grossstadt (Japan 1929), Michail Kaufman mit Moskwa (Moskau, UdSSR 1927) oder Hermann C. Weinberg mit City-Symphony (Brasilien 1929) zum Genre beitra¨gt. Auch Alberto Calvacantis kurz zuvor produzierter Parisfilm – Rien que les heures (F 1926) – weist, wiewohl kaum auf Mechanik und Modernita¨t ausgerichtet, mit seinem Konzept der 24 Stunden in Paris Bezu¨ge zum Genre auf. Elemente aus Ruttmanns Repertoire werden schließlich noch in Godfrey Reggios Koyaanisqatsi (USA 1983) in den Sequenzen u¨ber New York wieder aufgegriffen. Bei Ruttmann lief die Maschine allerdings rund, in Reggios Film schimmert – 60 Jahre spa¨ter – wieder der Moloch im Filmisch-Urbanen durch. 8 Walter Ruttmann, Berlin? – Berlin! [Mai 1927], in: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, hg. v. Jeanpaul Georgen, Berlin 1989, S. 79. 9 Walter Ruttmann, Berlin als Filmstar [20. 9. 1927], in: Ruttmann Dokumentation (wie Anm. 8), S. 79. 10 Walter Ruttmann, Berlin? – Berlin! (wie Anm. 8).

la¨ngst beschrieben und Ansichtskarten allbekannt gemacht hatten, werden konsequent gemieden; nur am Rande, beila¨ufig und dekadriert oder aus ungewo¨hnlicher Perspektive (wie etwa im Luftbild des 1. Aktes) gera¨t der eine oder andere ins Sichtfeld. Im Zentrum stehen indes die charakteristischen urbanen Orte des modernen Alltags, der Produktion, der Konsumtion, der sta¨dtischen Freizeit und Zerstreuung, verbunden und filmisch strukturiert durch Linien und Zonen des Verkehrs. Getrieben wird das Ganze durch die eindrucksvoll inszenierte rotierende oder kolbenstampfende Mechanik von sta¨hlernen Maschinen und vom Strom der modernen Verkehrsmittel, aber auch vom eingespielten Rhythmus der standardisierten Abla¨ufe des allta¨glichen Lebens der Menschen in der Stadt. Wenn in diesem Film inszeniert wird, so geschieht das durch Kadrierung, Bildauswahl und Montage, und wenn dieser Film so etwas wie einen erza¨hlerischen roten Faden besitzt, so ist es der Ablauf eines durchschnittlichen Tages in der Metropole, von 24 Stunden ihres Funktionierens. Nicht herausragende Orte und Ereignisse, ¨ bliche, das Notwendige, ja sondern gerade das sich allta¨glich Wiederholende, das U das Serielle, stehen im Fokus. Montiert wurde gleichsam ein Querschnitt durch die Bewohnerschaft und ihre typischen Tagesabla¨ufe. Der von Be´la Bala´zs etwa zur gleichen Zeit vor dem Hintergrund des ku¨nstlerischen Trends der Neuen Sachlichkeit gepra¨gte Begriff „Querschnittsfilm“,11 den er auf eine besondere Form des episodischen Spielfilms „ohne Helden“ bezog, passt in etwas modifizierter Form auch hier. Siegfried Kracauer bezeichnet Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt sogar als „den Prototyp aller echten deutschen Querschnittsfilme“.12 Wollte Bala´zs – wie er spa¨ter formulieren sollte – das Leben nicht „unter dem Blickwinkel nur einer einzigen Person und innerhalb der Grenzen ihrer Erlebnisfa¨higkeit“ gezeigt sehen, sondern „im breiten Querschnitt: nicht eines Menschen zufa¨lliges Leben, sondern das typische Leben schlechthin“,13 so wird in Ruttmanns Film ein sozialer Querschnitt von Menschen(gruppen) ins Bild gesetzt, von Arbeits- und Obdachlosen u¨ber ta¨tige Arbeiter, Angestellte und Rentner bis zu großbu¨rgerlichen Reitern im Grunewald. Und gleichzeitig ist es ein sozio-topographischer Querschnitt durch die Stadt, vom a¨rmsten Berlin des Scheunenviertels u¨ber die proletarischen Mietskasernen und Industriegegenden des Berliner Nordostens zu bu¨rgerlichen Wohnvierteln am Kurfu¨rstendamm und den Villenkolonien des Westens, vom pulsierenden Leben am Potsdamer Platz, an der

11 Vgl. Be´la Bala´zs, Der Geist des Films [1931], in: Ders., Der Geist des Films. Artikel und Aufsa¨tze

1926–1931. Schriften zum Film, Bd. 2, hg. v. Helmuth H. Diederich/Wolfgang Gersch, Berlin 1984, S. 110–111. Diese Schriftenausgabe entha¨lt auch den Aufsatz „Vorstoß in eine neue Dimension“ [1926], in dem Bala´zs schon davon spricht, dass es ihm bei seinem Szenario zu Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins (Berthold Viertel, D 1926) darum ging, „einen Querschnitt des Lebens zu zeigen“, S. 213. Zum historischen (theoretischen wie filmischen) Diskurs des Querschnittsfilms siehe auch Margrit Tro¨hler, „Das Konzept des Querschnittfilms“, in: dies., Offene Welten ohne Helden. Plurale Figurenkonstellationen im Film (Zu¨rcher Filmstudien 15), Marburg 2007, S. 109–166. 12 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler [amerik. 1947], Frankfurt a. M. 1984, S. 192. 13 Be´la Bala´zs, Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1949, S. 176.

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Tauentzien und am Nollendorfplatz bis hin zur modernen Totenstadt eines Friedhofs, stets verbunden durch die Tangenten der U- und S-Bahnen, der Eisenbahn und der Autostraßen durch die Stadt. Die gezeigten sozialen Differenzen werden freilich weder dramatisiert oder gar angeklagt, noch werden sie legitimiert; der Film beobachtet sie scharf und fu¨hrt sie vor; sie geho¨ren zum Gefu¨ge, sie haben ihren Ort in der Mechanik der Stadt. Damit deutet sich an, wie sehr Ruttmanns Berlin vom Denken und Empfinden der Neuen Sachlichkeit gepra¨gt ist. Bei Bestimmungen dieses Begriffs kamen und kommen regelma¨ßig mindestens zwei Aspekte ins Spiel, die teils unabha¨ngig voneinander, ja alternativ in den Vordergrund treten. Einerseits verbindet sich die Bestimmung von ‚Neuer Sachlichkeit‘ gern mit der Begeisterung fu¨r die ‚Stahlnatur‘ einer neuen Welt, die sich vom Blendwerk der alten Ideologien befreit habe und der Rationalita¨t ingenieurtechnischer Berechnungen und Entwicklungen folge (die von den Ra¨derwerken und Getrieben der Maschine auch in Ruttmanns Film ausgehende Faszinationskraft ist die a¨sthetische Entsprechung dieser Begeisterung),14 und andererseits mochte der Begriff auch dazu dienen, einen schonungslosen, aber ‚sachlichen‘ Blick auf die sozialen Kehrseiten des zeitgeno¨ssischen Alltags zu kennzeichnen, jenen Blick, der nichts bescho¨nigt, sondern eher der Maxime ‚So ist das Leben‘ folgt (nebenbei: Diese Maxime bildete fu¨r Siegfried Kracauer den „reinsten Ausdruck der Neuen Sachlichkeit im Film“.15). In Ruttmanns Film mischen sich beide Aspekte, wobei ¨ sthetik und Logik technischer Apparaturen und Abla¨ufe ausgehende die von der A Attraktion eindeutig dominiert, wa¨hrend der Verismus, die schonungslose Ausstellung der Ha¨rten, wie etwa im Bild einer Selbstmo¨rderin auf einer Kanalbru¨cke, eher punktuell auftritt. Die Stadt erscheint ihnen gegenu¨ber als ein gleichgu¨ltiger Mechanismus, der unbeschadet weiterla¨uft und uns Zuschauer nach kurzer Betroffenheit, dem sta¨dtischen wie filmischen Rhythmus folgend, mit sich tra¨gt. Mo¨chte man das Bild der Stadt, das Ruttmanns Berlin entwirft, genauer fassen, die filmische Imagination der Metropole eingehender in ihrer ideellen und a¨sthetischen Verfasstheit verstehen, so ru¨cken u¨ber das Schlagwort ‚Neue Sachlichkeit‘ hinausgehend zwei Diskurse jener Zeit ins Blickfeld, deren Ideen in diesem Film einander u¨berlagern und befruchten. Der eine sah in der Mechanisierung, insbesondere auch in der Mechanisierung des Lebendigen einschließlich der gesellschaftlichen Beziehungen, die zentrale Metapher zur Beschreibung jener Moderne, die in der Großstadt ihren emblematischen Ort habe. Der andere war eher a¨sthetisch ausgerichtet und zielte auf Abstraktion, auf die Extrahierung, Akzentuierung und Freisetzung einzelner a¨sthetischer Komponenten, wie des Rhythmus’, der die Bewegung pra¨gt, oder der visuellen Form im Wechselspiel von Ko¨rperlichkeit und Fla¨che. Die Bewegung des ‚absoluten Films‘, die Ruttmann mit seinen Opus-Filmen (Opus I–IV, D 1921, 1922, 1924, 1925)16 in der ersten Ha¨lfte der 1920er Jahre selbst mit befeuert hat, bildet ein zentrales Moment in diesem zweiten Diskursrahmen. Die Idee der 14 Diese Tendenz dominiert in Lethens Analyse der literarischen Neuen Sachlichkeit, vgl. Helmut

Lethen, Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des ‚weißen Sozialismus‘, Stuttgart 1975.

15 Kracauer, Von Caligari zu Hitler (wie Anm. 12), S. 191. 16 Die Filme Opus I–IV sind inzwischen auch auf DVD zuga¨nglich (siehe Anm. 5).

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sozialen Mechanik und die Idee a¨sthetischer Abstraktion u¨berlagern im Berlin-Film einander und sie beru¨hren sich hier auf das innigste. So wie a¨sthetisch von zahlreichen Momenten des Konkreten, der allta¨glichen visuellen Wahrnehmung abstrahiert – und mithin stilisiert – wird, so bedeutet die Vorstellung von der Großstadt als einer Art mechanischer Apparatur, einer Supermaschine, natu¨rlich auch eine Abstraktion, eine soziologische. Beide gehen in der Imagination der modernen Metropole, wie sie Ruttmann entwirft, Hand in Hand.

II. Soziologische Abstraktion: die Großstadt als Maschine

Als der Wiener Schriftsteller Egon Friedell 1913 einen Prolog zur feierlichen Ero¨ffnung eines Kinopalastes in der Berliner Friedrichstraße sprach, verteidigte er das Kino gegen das damals u¨bliche Verdikt, das neue Medium sei, ganz so wie auch die Metropole Berlin, ein Ort mechanisierter „Seelenlosigkeit“. In diesem Sinne hatte sich zuvor der Kinogegner Franz Pfemfert, Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift „Aktion“, gea¨ußert und bekundet, dass die zu jener Zeit „im Scho¨pfungsrausche“ befindliche Technik dem „Siebenmeilenstiefeltum der Trivialita¨t“ neue Nahrung bo¨te, was sich nicht allein am Kino, sondern in gleichem Maße an der Metropole Berlin, dem „Steindenkmal der Seelenlosigkeit“, in dem die „Trivialita¨t ... wahre Orgien gefeiert [hat]“, zeige.17 Dem hielt nun Friedell entgegen: „Berlin ist eine wundervolle moderne Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor, der mit unglaublicher Pra¨zision, Energie und Geschwindigkeit eine Fu¨lle von mechanischen Arbeitsleistungen vollbringt. Es ist wahr, diese Maschine hat vorla¨ufig noch keine Seele. Berlin hat vielleicht selber nur das Leben eines Kinematographentheaters, eines virtuos konstruierten ‚homme machine‘.“18 In dieser kleinen Polemik reflektieren sich zentrale Denkfiguren jener Zeit, die noch weit in die 1920er Jahre hinein wirkungsma¨chtig sein sollten, vor allem die Deutung der zeitgeno¨ssischen Gesellschaft als einer Daseinsform des mechanisierten Lebens. Selbst die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft mit ihrer Geldwirtschaft war einem namhaften Kulturkritiker als bloße „Nebenerscheinung der Mechanisierung selbst“19 erschienen: Walter Rathenau hatte der Mechanisierung der Welt 1912 gleich ein ganzes Buch, „Zur Kritik der Zeit“, gewidmet. Seine Denkfigur von der Moderne als dem Zeitalter des Mechanischen korrespondierte aufs engste mit der damals unter deutschen Intellektuellen verbreiteten Antinomie ‚Zivilisation versus Kultur‘ oder ‚Gesellschaft versus Gemeinschaft‘,20 wobei eine mythische vor17 Franz Pfemfert, Kino als Erzieher [1911], in: Prolog (wie Anm. 3), S. 166. 18 Egon Friedell, Prolog vor dem Film [1913], in: Prolog (wie Anm. 3), S. 203. 19 Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 81. 20 Vgl. Norbert Elias, U ¨ ber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Unter-

suchungen, Frankfurt a. M. 1976, bes. zur Soziogenese des Gegensatzes von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ in Deutschland, Bd. 1, S. 1–10.

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moderne Welt, in der „Seele und Geist der Gemeinschaft wohnten“21 als Gegensatz zur modernen Zivilisation galt. Mechanik erscheint – nicht allein bei Rathenau, der hier lediglich als ein Beispiel dienen soll – teils metaphorisch, teils metonymisch als gebu¨ndelter Gegensatz zum urspru¨nglich Lebendigen, zum Organischen aber auch zu menschlicher Sinnsuche, zu geistiger Tiefe und kontemplativem Gefu¨hl. Das oberste Gesetz der neuen industrialisierten, von sausenden Schwungra¨dern getriebenen Welt laute: „Beschleunigung, Exaktheit, Verminderung der Reibung, Einheitlichkeit und Vereinfachung der Typen, Ersparnis an Arbeit.“22 Und dieses Gesetz habe zu einer Umgestaltung der Welt und der Menschen, zu einer Abstraktion vom urspru¨nglichen, vielfa¨ltigen Leben gefu¨hrt. Die mechanische Produktion wirke reduzierend, sie „schafft Extrakte, Reinkulturen, Normative. Aber solche Produkte sind ohne eigenes Leben [...].“23 Die „mechanisierte Organisation“ sei total und global angelegt, sie habe ihre „unsichtbaren Netze u¨ber jeden Fußbreit Erde“24 gespannt und wirke im Verein mit der mechanisierten Produktionsform auf jedes Einzelleben, auf die Subjekte ein, verwandle die Menschen in der normierten Produktion in eine „lebende Maschinerie, [...] massenhaft produzierbar und auswechselbar [... ] geschwindester und gleichfo¨rmigster Bewegung fa¨hig.“25 Die Anpassung der Menschen erschien Rathenau als lineare Verla¨ngerung der Mechanisierung. Sie schaffe „neue Vorstellungen, Aufgaben, Sorgen und Freuden“ und forme „die Perso¨nlichkeit derart, wie die Maschine beim Einlaufen ihren Teilen die rechte Gefu¨gigkeit gibt.“26 Bei Rathenau geriet ‚Mechanik‘ mithin nicht allein zur zentralen Qualita¨t der neuen Gesellschaft, sondern auch des Geisteszustandes, wobei – nebenbei erwa¨hnt – fu¨r ihn wie fu¨r Franz Pfemfert und zahlreiche Intellektuelle jener Zeit, das popula¨re Kino im selben Maße wie die „Weltstadtpha¨nomene“27 zu den „seelenlose[n] Sta¨tten“ geho¨rte.28 Wenn hier mit Rathenau eine Stimme aus dem Diskurs zur Mechanisierung der Welt etwas ausfu¨hrlicher referiert wurde, so nicht allein deshalb, weil Friedell in seiner Apologie des Kinos aus dem Jahr 1913 das Bild von der Großstadt als moderner Maschine ins positive gewendet hatte (und er war damit nicht allein, wobei er letztlich auf dem Boden der gleichen Denkmotive, nur mit diametraler Wertung, verblieb), sondern vor allem, weil Walter Ruttmann in seiner Sinfonie der Grossstadt die von Friedell nur skizzierte Geistesbewegung, die Metapher von Berlin als „wunderbare[r] Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor“, nun 14 Jahre spa¨ter ernsthaft filmisch umsetzte, ihr visuelle Gestalt gab: Ruttmann inszeniert sein Berlin als gigantische Maschine, als eine, die ihn fasziniert, und die vieles von dem lustvoll und positiv ausstellt, was nicht allein Rathenau noch als Schrecknis erschien. Auch in den

21 Rathenau, Kritik der Zeit (wie Anm. 19), S. 16. 22 Ebd., S. 58. 23 Ebd., S. 62. 24 Ebd., S. 75. 25 Ebd., S. 76–77. 26 Ebd., S. 86. 27 Ebd., S. 13. 28 Walther Rathenau, Zur Mechanik des Geistes, Berlin 1913, S. 43.

zwanziger Jahren bildet die Klage daru¨ber, dass – wie es Stefan Zweig 1925 formuliert –,„der stahlfarbene Kolben des mechanischen Betriebs, die moderne Weltmaschine sichtbar“29 werden lasse, einen Topos der Kulturkritik, der seine dystopische Qualita¨t auch bei Fritz Lang zur Schau stellte. Tatsa¨chlich ist in Ruttmanns Film Technik allgegenwa¨rtig und auch, was die ostentative filmische Inszenierung betrifft, strukturbestimmend fu¨r das Leben der Metropole. Morgens la¨uft mit dem Mechanismus der Industrieproduktion zugleich die Maschinerie der Stadt an. Eine Hand zieht den Hebel und die Schwungra¨der, Kolbenwerke, Maschinen setzen sich eindrucksvoll in Bewegung. Zugleich nimmt der Rhythmus des Films und mit ihm die Mechanik der Stadt Fahrt auf. Der Film zeigt – auf ein und derselben Ebene – die vollmechanisierte Herstellung von Glu¨hlampen oder Milchprodukten, die ineinandergreifenden, von zahlreichen Signalen und Zeichen genau geregelten Stro¨me des mechanisierten Verkehrs und das Leben der Menschen auf den Straßen und an o¨ffentlichen Orten. Die fu¨r jede mechanische Produktion notwendige Standardisierung und Regulierung beherrscht auch dieses Leben. Die mechanisierten Abla¨ufe werden – wie es Karl Pru¨mm in seiner Analyse der Montage dieses Films treffend beschrieben hat – „als inneres Geru¨st einer strengen Ordnung ausgiebig vor Augen gefu¨hrt.“30 Schon die am fru¨hen Morgen in die Fabriken strebenden Arbeiter vereinen sich zur gleichen Stunde nachgerade zu Marschblo¨cken, wenn auch lose formierten. Die Montage des Films schaltet nicht von ungefa¨hr mit deutlicher Ironie marschierende Soldaten und einen Viehtrieb zum Schlachthof, dem Ort der mechanisierten Verarbeitung von Lebendigem, zu ihnen parallel. Als dann spa¨ter, am Mittag um genau 12 Uhr, das Ra¨derwerk fu¨r eine halbe Stunde angehalten wird, kommt die Maschine zum Stillstand; im Leben der Stadt gibt es einen Moment der Ruhe und im Film verlangsamt sich nicht nur das, was er zeigt, sondern er verlangsamt auch seine Eigenbewegung, die Schnittfrequenz senkt ihr Tempo. Der Querschnittsidee folgend nehmen die Menschen – auf markante Weise sozial standardisiert – ihr Mittagessen ein (wie es gleichzeitig auch die Tiere der Großstadt tun) und alle ruhen ein wenig, bevor das Ra¨derwerk pu¨nktlich wieder anla¨uft. Die Spuren und Zeichen des Mechanischen sind allgegenwa¨rtig, noch in den Gescha¨ftsauslagen kommen neben standardisierten Schaufensterpuppen immer wieder mechanisierte, sich in unendlicher Wiederholung bewegende Werbefiguren ins Bild, die – mittels assoziativer filmischer Montage – das Treiben der Passanten ironisch kommentieren, und die auch als metaphorisch fu¨r das Leben der Menschen in der Stadt u¨berhaupt wahrgenommen werden ko¨nnen. In vieler Hinsicht erscheinen die Menschen so an die allta¨gliche Mechanik mit der stan-

29 Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt [1925], in: Weimarer Republik. Manifeste und Doku-

mente zur deutschen Literatur 1918–1933, hg. v. Anton Kaes, Stuttgart 1983, S. 268.

30 Karl Pru ¨ mm, Die Montage als alles durchdringendes Prinzip der Stadtsinfonie. Anmerkungen zu Wal-

ter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt und die Folgen, in: Montage AV, 20/1 (2011), S. 70.

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dardisierenden Logik ihrer Lebensa¨ußerungen angepasst wie es Rathenau beschrieben hatte. Insbesondere natu¨rlich, wo sie unmittelbar in die Bewegungsabla¨ufe einer Maschine eingebunden sind, aber eben auch dort, wo ihr Leben bis hin zu den abendlichen Vergnu¨gungen – darunter auch im Kino – als durch die ‚Maschine Großstadt‘ gepra¨gt und vorstrukturiert erscheint. Dennoch ist dieser Film weit entfernt davon, einfach gesichtslose Massen zu zeigen – wie dies Fritz Lang mit seinen gleichfo¨rmigen, grauen, milita¨risch ausgerichteten Marschblo¨cken von Arbeitern in der Unterstadt von Metropolis getan hat. Die Menschen werden in Ruttmanns Berlin nicht zum Massenornament (im Sinne Kracauers),31 selbst dort nicht, wo sie in der Menge auftreten; sie haben individuelle Gesichter, bleiben trotz sozialer Typifizierung Menschen; manche Protagonisten einer kleinen Episode sind so einpra¨gsam, dass man sich noch im Nachhinein an sie zu erinnern vermag. Im Allgemeinen reißt uns aber der rhythmisch montierte Bewegungsfluss des Films mit, der dem Fluss des Lebens und dem Fluss der Wahrnehmung in der Großstadt zu entsprechen scheint. Er ebnet die Erinnerung an die meisten Einzelnen ein. Die Sinfonie der Grossstadt steht hier Georg Simmel oder auch Henri Bergson viel na¨her als der kulturkritischen Dystopie vom Moloch, die Metropolis entwarf und die auch dessen Stadtimagination pra¨gte. Selbstversta¨ndlich entha¨lt die Idee der Stadtmechanik, die die ideelle und formale Struktur des Films mitbestimmt, das Erfordernis der Selektion und mithin einer Form der Abstraktion. Ruttmann hat dies selbst angesprochen: „Viele der scho¨nsten Aufnahmen mußten fallen, weil hier kein Bilderbuch entstehen durfte, sondern so etwas wie das Gefu¨ge einer komplizierten Maschine, die nur in Schwung geraten kann, wenn jedes kleinste Teilchen mit genauester Pra¨zision in das andere greift.“32 Unter visuellem, filmisch-formalem Aspekt erscheint die hier angesprochene Abstraktionstendenz noch einmal deutlich weitergetrieben.

¨ sthetische Abstraktion: die Großstadt als Rhythmus und Textur III. A

Ist ein Film durchdacht gestaltet, so gibt der Filmanfang seinen Zuschauern wesentliche Hinweise darauf, was sie in inhaltlicher und formaler Hinsicht erwartet; er stimmt sie ein. So ist es auch in diesem Fall. Bevor – einem Titel a¨hnlich – der riesige Schriftzug „BERLIN“ auf einer Tafel an der Wand des Anhalter Bahnhofs auftaucht, demonstriert der Film in einem visuellen Prolog seine a¨sthetische Idee und Funktionsweise. Auf die a¨sthetische Struktur dieses Prologs, die prototypisch fu¨r den Film ist, sei na¨her eingegangen.

31 Vgl. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse [1927], in: ders., Das Ornament der Masse. Essays,

Frankfurt a. M. 1977, S. 50–63.

32 Walter Ruttmann, Wie ich meinen Berlin-Film drehte [8. 10. 1927], in: Ruttmann Dokumentation (wie

Anm. 8), S. 80.

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Jo¨rg Schweinitz

Mit einer Eisenbahnfahrt zeigt er die ra¨umliche Anna¨herung an die Stadt Berlin. Im Mittelpunkt steht sogleich die Dynamik einer Maschine, der Lokomotive. Wie wenige Jahre zuvor Abel Gance in La Roue (F 1923), inszeniert Ruttmann die dahinjagende Lokomotive voller Faszination. Er wa¨hlt dazu Detailaufnahmen, von den sich rhythmisch bewegenden Kolben, den Pleuelstangen, den rotierenden Ra¨dern, den aneinanderstoßenden Puffern, dem ausgestoßenen Dampf und Rauch, Ventilen, Leitungen, Druckanzeigern etc. Die Reisenden im Zug kommen nicht ins Bild, und auch der Zug selbst spielt als Ganzes keine visuelle Rolle. Sein Bild, das prima¨r eines der mechanischen Aktion, des Dahinjagens, ist, entsteht durch die Montage der konzeptuell ausgewa¨hlten Details, ganz so wie es spa¨ter mit den Details der GroßstadtMaschine Berlin geschehen wird. Aspekte bewegter Mechanik und die Maschine werden bereits hier gefeiert, und die zuna¨chst rasende Bewegung des Zuges sowie die des Filmbildes (Bewegung im Bild und Bewegung des Bildes/der Kamera) wird – als Bewegungsrausch – eindrucksvoll inszeniert. Allenthalben geht es dabei um Rhythmus, um den Rhythmus der ineinandergreifenden Maschinenteile, um den Rhythmus, mit dem die Telegraphenstangen am Zug vorbei durch das Bild fliegen (in vom fahrenden Zug her gefilmten Aufnahmen der Landschaft), um den Rhythmus, mit dem Signale, Ba¨ume, Ha¨user oder sta¨hlerne Bru¨cken erscheinen, und vor allem um den Rhythmus, mit dem der Film geschnitten wurde, mit dem also die einzelnen Einstellungen einander ablo¨sen. Alle diese Komponenten u¨berlagern, ja durchdringen sich. Sie werden als ein Gesamtablauf komponiert, als ein Ablauf, der ebenso ein visu¨ berlegtheit das komponiert ist, darelles Presto wie ein Adagio kennt. Mit welcher U auf verweist eine Bemerkung des Regisseurs: „Beim Schneiden zeigte sich, wie schwer die Sichtbarmachung der sinfonischen Kurve war, die mir vor Augen stand.“33 Ruttmann deutet hier zugleich an, worauf der Begriff Sinfonie im Filmtitel abzielte, na¨mlich weniger auf die fu¨r die Kinoorchester eigens zu diesem Stummfilm komponierte (und als Partitur mit dem Film verliehene) „sinfonische Begleitmusik“,34 sondern vielmehr auf die musikalischen Prinzipien folgende Komposition mit visuellem Material. Keine Sinfonie der Kla¨nge also, sondern eine Sinfonie der Bildwerte, „optische Musik“35, die sich auf „Licht, Tempo, Stimmungscharakter jedes einzelnen Filmmeters“36 bezieht. Dem Rhythmus kommt dabei eine Schlu¨sselstellung zu. Mit seiner Akzentsetzung glaubte Ruttmann dem allgemeinen Trend visueller Gestaltung im filmischen Medium zu entsprechen: „Denn gerade diese ganz konsequente Betonung der rhythmischen und dynamischen Gesetzma¨ßigkeiten des Films, wie sie einst in meinen ‚absoluten‘ Lichtspielen geschah, beginnt nun bereits 33 Ebd. 34 So die Bezeichnung auf dem Plakat zur Urauffu¨hrung des Films. Die Originalkomposition stammt von

Edmund Meisel, dem wohl profiliertesten deutschen Kino-Komponisten der 1920er Jahre. Die DVD der Edition Filmmuseum (Anm. 5) wurde mit seiner Musik ausgestattet. Meisel berichtet, dass er die Partitur „fu¨r ein Orchester von 75 Mann geschrieben [hat], gleichwohl liegt im Druck eine Bearbeitung fu¨r kleinere Besetzung vor, denn diese Sinfonie soll nicht nur zu großen Premieren, sondern u¨berall und immer wieder gespielt werden ko¨nnen.“ Edmund Meisel u¨ber seine BERLIN-Musik [1927], in: Ruttmann Dokumentation (wie Anm. 8), S. 116. 35 Kracauer, Von Caligari zu Hitler (wie Anm. 12), S. 195. 36 Ruttmann, Wie ich meinen Berlin-Film drehte (wie Anm. 32).

als selbstversta¨ndliches Erfordernis in die allgemeine filmische Gestaltung einzugehen.“37 Also auch in die Gestaltung von Realbildfilmen. Dass diese Kompositionsform dennoch auch hier mit einer Na¨he zur Abstraktion auf der Ebene des Visuellen einhergeht, ist augenscheinlich. Statt der (narrativen) Bedeutung der Gegensta¨nde, die in einem Bild gezeigt werden, sind aus der Perspektive visueller Komposition prima¨r die Gestaltwerte der Bildoberfla¨chen, die Stufungen zwischen Schwarz und Weiß, die Fleckenverteilung, die Texturen, die Linien und Fla¨chen und deren Bewegungsabla¨ufe im Bild und von Bild zu Bild von Interesse, wiewohl die Komposition gleichzeitig mit der Entwicklung eines realen Vorgangs – zu Beginn des Berlin-Films: der Eisenbahnfahrt – Hand in Hand zu gehen vermag. Das dabei ungemein starke Interesse am Abstraktionsaspekt wird durch Ruttmanns Hinweis auf die eigene Bescha¨ftigung mit dem ‚absoluten Film‘ in seiner Reihe Opus I–IV unterstrichen. In diesen kurzen Filmen hatte er abstrakte, graphisch erzeugte Formen rhythmisch animiert, „reine ornamentale Muster in Bewegung“38 gesetzt. Damit geho¨rte er zu den Pionieren der in den fru¨hen 1920er Jahren sich formierenden Experimentalbewegung hin zum Gegenstandslosen, zum abstrakten Film. Es ist mithin alles andere als eine Beila¨ufigkeit, wenn Berlin – Die Sinfonie Der Grossstadt mit einer kurzen Animationssequenz in der Art der Opus-Filme beginnt. Noch bevor die Eisenbahnfahrt in Gang kommt, erscheint auf der Leinwand als erste Einstellung ein in Aufsicht gezeigter Ausschnitt eines Sees. Fu¨r einige Augenblicke wird das Spiel der leicht bewegten Wasseroberfla¨che beobachtet, die sich bewegende Textur, deren ‚natu¨rliche‘ Geometrie, das ornamentale Spiel und die Brechungen der durch unterschiedliche Grauwerte gekennzeichneten Facetten ist von sinnlichem Interesse. Eine unmittelbar narrative Rolle besitzt das nicht na¨her definierte Gewa¨sser der ersten Filmbilder hingegen nicht. Die Einstellung der bewegten Wasseroberfla¨che wird vielmehr mit einer Einstellung animierter Grafik u¨berblendet, die ihrerseits das Wellenbild formal aufgreift und, in reine geometrische Grundformen zerlegt, mit diesen Abstraktionen – ganz so wie in Opus I–IV – spielt, einer formalen Eigenlogik folgend, die bald das spa¨tere Gesta¨nge- und Ra¨derwerk der Lokomotive assoziieren la¨sst. Die animierte Sequenz endet schließlich damit, dass langgestreckte dunkle Rechtecke, die an zwei Balken erinnern, auf eine Weise gegeneinander stu¨rzen, wie man es von sich schließenden Bahnschranken kennt. Und tatsa¨chlich wird die Einstellung mit dem Bild eines sich schließenden Bahnschrankenpaars u¨berblendet, woraufhin – wieder in den Realfilm zuru¨ckgekehrt – die Sequenz der Eisenbahnfahrt nach Berlin beginnt. Alles spricht dafu¨r, diese Sequenz des absoluten Films als programmatischen Einstieg anzusehen, als einen Lektu¨re- oder besser Betrachtungshinweis fu¨r den Gesamtfilm. Ruttmann mo¨chte die Gestaltwerte, wie sie die bewegte Textur des Visuellen 37 Walter Ruttmann, Mein neuer Film [9. 7. 1926], in: Ruttmann Dokumentation (wie Anm. 8), S. 78. 38 Ebd.

bietet, hier nicht auf den absoluten Film begrenzt wissen, sein Berlin-Film zielt vielmehr insgesamt darauf, dass solche visuellen Texturen in Bewegung auch an einer Komposition aus Realbildern immer wieder als leitende Prinzipien fu¨r die a¨sthetische Wahrnehmung hervortreten. Intendiert scheint, dass die Wahrnehmung aufmerksamer Zuschauer zwischen der gegensta¨ndlichen Ebene, der Maschine, der durchfahrenen Landschaft und spa¨ter der Stadt Berlin, und den graphischen Reizen der a¨sthetischen Oberfla¨chentextur der Bewegungsbilder oszillieren mo¨ge. Ruttmann selbst weist ganz in diesem Sinne ein Jahr nach der Urauffu¨hrung seines Berlin-Films, 1928, dem absoluten Film schon den Platz des Experiments, eines fru¨heren Zwischenstadiums in der Filmgeschichte zu. Er warnt jetzt sogar vor dem Drang nach der reinen Abstraktion des absoluten Films: „wo er sich als Selbstzweck und -ziel geba¨rdet, gleitet er automatisch in die Rumpelkammern des L’art pour l’art hinein, aus denen gerade der Film uns erlo¨st hat.“39 Denn im Film sah Ruttmann inzwischen – ebenso wie im Jazz – ein Medium der „Wiederverschmelzung“ vitaler und ku¨nstlerischer Interessen.40 Der absolute Film habe „ein Geru¨st“ gebaut, weil er den Sinn fu¨r die rhythmische und geometrische Struktur gesta¨rkt habe, jedoch „nicht das Haus“: „Wo er sich dieser Beschra¨nkung bewußt bleibt, ist seine integrierende Bedeutung unscha¨tzbar.“41 Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt kann nun als programmatischer Versuch angesehen werden, ein solches ‚Haus‘ zu bauen, bewegtphotographisch erfasste Realita¨t und graphischen Reiz der Abstraktion in einer oszillierenden Wahrnehmung zu vereinen. Das macht bereits der beschriebene Filmanfang deutlich – zumal auf die Einstellung, in der sich die Schranke (in mehrfacher Wiederholung) schließt, eine Sequenz folgt, die, obschon aus der Montage von Realbildern bestehend, sich ganz und gar der Ostentation des rhythmischen Spiels von Linien, geometrischen Formen und graphischen Texturen hingibt. Die Prinzipien des absoluten Films mit seinem Interesse an der abstrakten Form erscheinen lebendig in der Montage der Einstellungen von (in Aufsicht) durchs Bild gleitenden Schienen und Schwellen, von Telegraphendra¨hten und -Masten, von Linien in der Landschaft, die durch die Bewegtheit des Bildes hervorgehoben werden oder sich – wie die verzerrten Umrisslinien der vorbeieilenden Ba¨ume – sogar erst dieser Bewegung verdanken. Ebenso sind sie es in Hinsicht auf die bereits beschriebene Rhythmisierung der Formen im Stakkato der rasenden Fahrt. Beides gemeinsam wird u¨brigens von Meisels Musik wiederholt und unterstrichen.42

39 Walter Ruttmann, Die ‚absolute‘ Mode [3. 2. 1928], in: Ruttmann Dokumentation (wie Anm. 8), S. 82. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Meisel kommentierte das Konzept seiner Musik selbst so: „Sie zerfa¨llt im wesentlichen in folgende

Teile: Aus der wellenfo¨rmigen, periodischen Urform entsteht in maschinellem Rhythmus das Leitmotiv „Berlin“, das sich als Versinnlichung des Panoramas zum Bla¨serchoral erweitert – VierteltonAkkorde der schlafenden Stadt – Arbeitsmarsch – Maschinenrhythmus – Schulkindermarsch – Bu¨rorhythmus – Verkehrsrhythmus – Kontrapunkt des Potsdamer Platzes – Mittagschoral der Großstadt – Verkehrsfuge – kontrapunktisches Stimmgewirr – Sportrhythmus – Signalmusik der Lichtreklamen –

Und es spielt im gesamten Film eine Rolle, sei es im verfremdenden Filmblick des Luftbilds, der die Strukturen der Stadt markant hervortreten la¨sst, sei es in Hinsicht auf die im besonderen Licht in den filmischen Grauwerten hervortretenden Texturen des Straßenpflasters (z. B. in den Bildern der noch schlafenden Stadt), sei es in den mit gleitender Kamera pra¨sentierten Bildern von Lichtern der Großstadtnacht. ¨ berall wird mit einem – letztlich in den ‚Defiziten‘ des filmischen Materials, wie U der Zweidimensionalita¨t oder dem Schwarz-weiß, wurzelnden Gestaltungspotential gespielt. Ein Potential, das Rudolf Arnheim 1932 in „Film als Kunst“ (ohne direkten Bezug auf Ruttmanns Film) so beschreiben sollte: „Von der beunruhigenden Ungewohntheit des Anblicks [etwa in einem Bild in senkrechter Aufsicht, J. S.] aufgestachelt, sieht der Zuschauer na¨her zu und bemerkt: a) wie die neue Perspektive die Einzelformen des ¨ berschneidungen, die man an ihm noch Gegenstandes zu reizvollen U nicht kannte, u¨bereinanderschiebt, b) wie der in die Fla¨che projizierte Ko¨rper nun als Fla¨chenbild in seinen Umrissen, Linien, Schwarzweißfla¨chen eine gute Rahmenfu¨llung abgibt – ein gutes, harmonisches Muster sozusagen. Daß er sich zu solch einem Muster verwenden la¨ßt, obwohl er nicht im geringsten stilisiert, vera¨ndert, verzerrt, vergewaltigt, sondern einfach er selbst ist, allerdings in klug ausgewa¨hlter Einstellung, das fu¨hrt einen besonderen ku¨nstlerischen Effekt herbei.“43 Arnheim spricht in diesem Sinne auch davon, dass sich im photographischen Bild neuartige Ornamente formieren. Sowohl Arnheim als auch Ruttmann folgten mit diesem Interesse der modernen a¨sthetischen Sensibilita¨t ihrer Zeit. Die Konstruktion solcher Artefakte, die den Blick zwischen dem Erkennen der gezeigten Gegensta¨nde und der Wahrnehmung ornamentaler Oberfla¨chentexturen (wie auf einem abstrakten graphischen Blatt) hin und her kippen la¨sst,44 besitzt eine unmittelbare Na¨he zur modernen Photographie des Neuen Sehens, mit der sich etwa gleichzeitig Alexander Rodtschenko45 und La´szlo´ Moholy-Nagy 46 vor allem auch Motiven in der Großstadt angena¨hert haben. Das Moderne der filmischen Photographie und der – immer wieder einem a¨hnlichen Prinzip folgenden – Montage tritt in Berlin – Die Sinfonie der Grossstadt an die

Tanzrhythmus – Steigerung aller Großstadtgera¨usche in kontrapunktischer Durchfu¨hrung der Hauptthemen zur Schlußfermate ‚Berlin‘.“ Meisel u¨ber seine BERLIN-Musik (wie Anm. 34). 43 Rudolf Arnheim, Film als Kunst, Berlin 1932, S. 66. 44 Einen a¨hnlichen Gedanken fu¨hrt Evelyn Echle in Bezug auf Manhatta (USA 1921) aus; der Film, den der Photograph Paul Strand gemeinsam mit dem Maler Charles Sheeler gedreht hat, geho¨rt zur Vorgeschichte der ‚Großstadtsinfonien‘, vgl. Evelyn Echle, Dichotomie der Form. Perspektive und Fla¨che in Manhatta, in: Montage AV, 20,2 (2011), S. 75–89. 45 Vgl. Alexander Lavrentiev, Alexander Rodchenko: Photography 1924–54, Ko¨ln 1995. 46 Vgl. Jan Sahli, Filmische Sinneserweiterung: La´szlo´ Moholy-Nagys Filmwerk und Theorie (Zu¨rcher Filmstudien 14), Marburg 2006.

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Seite des modernistischen Entwurfs der ‚Maschine Großstadt‘. Beide Momente der Modernita¨t durchdringen und steigern einander. Diese Komplexita¨t ist es, die Walter Ruttmanns Berlin-Film besonders geeignet erscheinen la¨sst, um zum einen zu zeigen, dass der Film, aufs Ganze gesehen, trotz seiner Montage aus dokumentarischem Material, welches teilweise sogar versteckt aufgenommen wurde, ganz und gar nicht hinreichend beschrieben wa¨re, wollte man ihn einfach als ein Abbild der Stadt Berlin mit ihren Maschinen und Verkehrsmitteln Mitte der 1920er Jahre auffassen. Was er schafft, ist vielmehr eine minutio¨se filmische Konstruktion aus Splittern der Realita¨t – eine Konstruktion, die einer modernistischen Vorstellung von der Großstadt als einer gigantischen Maschine, also einer latenten Imagination jener Zeit, filmisch Ausdruck verleiht. Gleichzeitig, und das ist der zweite Aspekt, wa¨re der Berlin-Film nun aber auch nicht hinreichend erfasst, wu¨rde er lediglich als Medium der ‚Umsetzung‘ einer pra¨existierenden Vorstellung gedacht. Hier wird im Medium des Films eine Imagination kreiert, die durch und durch filmischen Charakter hat und auf den Voraussetzungen des Films beruht – eine visuelle Imagination des Großsta¨dtischen, der klassischen Metropole der Moderne, die erst im Medium des Films und durch dieses Medium mit seinen neuen medialen Mo¨glichkeiten zu Konkretion und Abstraktion Gestalt angenommen hat. Dieses Berlin ist ein Berlin des Kinos, als solches ist diese Imagination der Großstadt ins kulturelle Geda¨chtnis eingegangen.47

47 Daher ru¨hrt auch das außerordentliche filmwissenschaftliche Interesse, das eine große Zahl an Publi-

kationen hervorgebracht hat, neben den bereits genannten u. a. William Uricchio, Ruttmann’s Berlin and the City Film to 1930 (University Microfilms International – Dissertation Information Service), New York 1982; Helmut Korte, Die Welt als Querschnitt: Berlin. Die Sinfonie der Grossstadt (1927), in: Fischer Filmgeschichte, hg. v. Werner Faulstich/Helmut Korte, Bd. 2 (1925–1944), Frankfurt a. M. 1991, S. 75–91; Jan-Christopher Horak, Lovers of Cinema: The First American Film AvantGarde, 1919–1945, Madison, Wis.1995, bes. Kapitel 11 und 12; Guntram Vogt, Die Stadt im Kino: Deutsche Spielfilme 1900–2000, Marburg 2001, S. 167–184.

TEXT – SPEKTAKEL – PRAXIS Begriffliche Konjunkturen kulturwissenschaftlicher Stadtforschung von Julika Griem

I. ¨ berlegungen setzen bei der Frage an, ob und wie der historische und Die folgenden U historisierende Blick auf Sta¨dte von sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Urbanita¨t profitieren kann. Um dieser Frage nachzugehen, werde ich mich auf drei Leitbegriffe konzentrieren, die in den letzten Jahrzehnten die Stadtforschung mitgepra¨gt haben: die Stadt als Text, die Stadt als Spektakel, und die Stadt als Praxis. In einem ersten Schritt werde ich skizzieren, wie die drei genannten Perspektiven die Stadt als Gegenstand entwerfen und anhand zweier Studien zum London der fru¨hen Neuzeit die heuristischen Potentiale von textualisierenden, spektakula¨ren und praxeologischen Zugriffen auf urbane Pha¨nomene darstellen. In einem zweiten Schritt werde ich ero¨rtern, inwiefern es mo¨glich ist, den Gegenstand Stadt durch eine Herangehensweise zu erschließen, in der die erkenntnisleitenden Konzepte Text, Spektakel und Praxis einander nicht ausschließen, sondern integriert werden ko¨nnen. Um die theoretischen Ausfu¨hrungen zu konkretisieren, werden Stadt-Darstellungen und Untersuchungen aus verschiedenen Epochen und medialen Kontexten herangezogen. Fu¨r eine erste Anna¨herung an die drei Grundbegriffe eignet sich der allja¨hrlich Ende April stattfindende London-Marathon. Dieses Ereignis bietet eine gute Gelegenheit, um Auspra¨gungen zeitgeno¨ssischer Urbanita¨t in den Blick zu nehmen, die man in einer vertiefenden Betrachtung natu¨rlich wieder zu anderen und historisch a¨lteren Formen der kollektiven Erfahrung von Urbanita¨t in Beziehung setzen mu¨sste. Wenn man u¨ber Marathons als popula¨re Form der Stadtinszenierung nachdenkt, stellt sich zuna¨chst eine grundsa¨tzliche Frage, die den hier diskutierten theoretischen Perspektiven quasi zuvorkommt: Da ein solcher Marathon die gesamte Stadt buchsta¨blich in Bewegung und in einen Ausnahmezustand zu versetzen vermag, scheint es naheliegend, von diesem Einzelereignis auf die ganze Stadt zu schließen. Wie aber verha¨lt es sich, auch im Fall anderer urbaner Pha¨nomene, mit denjenigen, die nicht teilnehmen ko¨nnen oder wollen, die Marathons verachten, ignorieren oder schlichtweg einfach nicht wahrnehmen? Wie steht es also um die Frage der Repra¨sentativita¨t von Einzelaspekten und -perspektiven, von denen wir gern, und manchmal

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allzu schnell, auf ein intuitiv vorausgesetztes Ganzes der Stadt als Kollektivsubjekt schließen? Solche grundsa¨tzlichen Fragen lassen sich noch weiter treiben. Marathons finden heutzutage in sehr vielen Sta¨dten statt; aber London za¨hlt sich stolz zur Gruppe der sechs gro¨ßten. Andere Sta¨dte, die in dieser Liga spielen – wie z. B. Berlin, Boston und New York –, messen sich aneinander, so dass sich aus der kompetitiven sportlichen Selbstinszenierung auch eine vergleichende Perspektive ableiten la¨sst. Lernt man aber, wenn man sich den London-Marathon genauer anschaut, wirklich etwas u¨ber London? Unterscheidet sich also der London-Marathon maßgeblich von dem im Berlin oder in Wien? Handelt es sich bei den gegenwa¨rtigen Marathons nicht vielmehr um die Kampagne einer hochtourig mobilisierten Sportartikelindustrie, die eine kosmopolitische Clique von Lauf-Touristen in Sta¨dte einfallen la¨sst und sich kaum mehr auf spezifische Gegebenheiten vor Ort einla¨sst? Fragen wie diese lassen sich genauer beantworten, wenn man sich auf die eingangs ausgewa¨hlten theoretischen und terminologischen Pra¨missen der Beobachtung und Beschreibung urbaner Pha¨nomene zuru¨ckbesinnt. Als Text erscheint die Stadt im Fall eines Marathons in mehrfacher Hinsicht: Die Strecke muss fu¨r La¨ufer durch Karten und Markierungen lesbar gemacht werden. Dabei bedient man sich auch ikonischer landmarks und signature buildings, aber ebenso konventionalisierter, international lesbarer Codes und Zeichen. Als Spektakel versteht sich ein Marathon ohnehin: Hauptdarsteller sind die Teilnehmer, deren Anstrengung sich zu Mikro-Dramen voller Komik und tragischem Scheitern verdichtet; das Publikum an der Strecke u¨bt sich in Ehrfurcht und Mitleid und kompensiert die eigene Passivita¨t durch kathartische Anteilnahme am kollektiven Schauspiel. Spektakula¨r inszeniert wird aber auch die Stadtkulisse, die sich – als Bu¨hne einer sorgfa¨ltig choreographierten ko¨rperlichen Ertu¨chtigung – nicht allein La¨ufern und Publikum, sondern auch Journalisten, Fernsehzuschauern und Internet-Surfern von ihren besten Seiten zeigen soll. Betrachtet man einen Marathon schließlich als Praxis, o¨ffnet sich ein weiterer Kontext. Aus dieser Perspektive za¨hlt nicht allein das Ereignis laufender Akteure, sondern seine Vorbereitung und Nachwirkungen: In den Vordergrund tritt z. B. die Logistik, die die Inszenierung mo¨glich macht; sichtbar werden Verkehrsumleitungen, Erste-Hilfe-Teams und Mu¨llbeseitigung, Stadtmarketing-Fachleute und Ordner, welche u¨berhaupt erst das sta¨dtische Szenario herstellen, in dem die gesta¨hlten und zu sta¨hlenden Ko¨rper der postindustriellen Gesellschaft sich zu einer Massendemonstration der Macht der Selbstdisziplinierung versammeln ko¨nnen.1 Diese erste Anna¨herung an eine zeitgeno¨ssische Form sta¨dtischer Selbstinszenierung soll nicht suggerieren, dass sich Urbanita¨t ohne weiteres synthetisierend als Text, Spektakel und Praxis erschließen la¨sst. Ich mo¨chte im Folgenden vielmehr zuna¨chst genauer ausfu¨hren, warum es sich lohnt, zwischen paradigmatischen Pra¨missen analytisch zu trennen, denn eine Stadt bietet sich ja nicht einfach als Text, 1 Als einschla¨gige soziologische Analyse von Stadtmarathons empfiehlt sich Helmuth Berking/Sighard

Neckel, Stadtmarathon. Die Inszenierung von Individualita¨t als urbanes Ereignis, in: Die Unwirklichkeit der Sta¨dte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, hg. v. Klaus R. Scherpe, Reinbek 1988, S. 262–278.

Text – Spektakel – Praxis

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Spektakel oder Praxis dar, sondern sie konstituiert sich erst durch unsere – ha¨ufig implizit bleibenden -Vorannahmen als Gegenstand. Diese Vorannahmen ko¨nnen als Zugriffe unterschieden werden, die erstens u¨ber eigene Theoriegeschichten verfu¨gen und damit zweitens unterschiedliche Arten von Erkenntnissen produzieren.

II.

Stadt als Text Was tun wir, wenn wir eine Stadt beispielsweise als Text beschreiben und untersuchen? Theoriegeschichtlich gesehen geht der textualisierende Blick auf die Stadt auf die Blu¨te der strukturalistischen Semiotik in den sechziger und siebziger Jahren zuru¨ck. Ein Schlu¨sseltext dieser Phase sind Roland Barthes’ Ausfu¨hrungen unter dem Titel „Semiologie und Stadtplanung“, deren Aufforderung zur Textualisierung von Urbanita¨t Andreas Mahler in dem Sammelband „Stadt-Bilder“ (1999) exemplarisch formuliert hat: „Jeder Stadt eignet also eine Textur, eine jeweils spezifische Semiotik, in der sich Zeichen neben Zeichen stellen, Bedeutung tragen, gewinnen oder verlieren und so das Handeln ihrer Benutzer – Bewohner wie Besucher – pra¨gen. Jede Stadt hat ihre eigene Syntaktik, ihre charakteristische ‚Stadtsemantik‘, ihre urbane Pragmatik. Wer neu in eine Stadt kommt, sucht sie als erstes ab nach solchen Zeichen; er orientiert sich an der Struktur ihrer Zeichenkombinationen ..., weist Bedeutung zu..., richtet sein Handeln darauf ein ... Wer die Stadt lesen kann, kennt sich in ihr aus; wer nicht, ist darin verloren.“2 Mahler suggeriert in dieser Passage, dass uns Sta¨dte bereits in Form von Texturen entgegentreten. Dies trifft natu¨rlich in vieler Hinsicht zu, aber nicht jeder Aspekt von Urbanita¨t ist bereits als lesbares Zeichen verfu¨gbar; und viele als Zeichen deutbare Elemente sta¨dtischer Lebenswelten sind auf unterschiedliche Weise konventionalisiert und codiert. Stadt-Semiotiker verschweigen also gern, dass sich ihr Gegenstand nicht schon immer als Text pra¨sentiert, sondern dass sie ihn im Akt der semiotisierenden Betrachtung erst zu einer Ansammlung von Zeichen machen. Diese Zeichen mu¨ssen nicht alle schriftlicher Natur sein, aber mit ihnen verbindet sich eine Anregung zur Dechiffrierung, die mit dem Versprechen einhergeht, bei erfolgreicher Entzifferung auch den Blick auf zugrundeliegende Codes freizugeben: Wer eine Stadt im strukturalistischen Sinne als Text behandelt, setzt in der Regel voraus, dass auch das

2 Stadt-Bilder. Allegorie – Mimesis – Imagination, hg. v. Andreas Mahler, Heidelberg 1999, S. 11. Vgl.

auch Roland Barthes, Semiologie und Stadtplanung, in: Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, u¨bers. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1988, S. 192–208.

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urbane Gemeinwesen als semiotisches Pha¨nomen einer konventionalisierten Form der Zeichenverwendung unterliegt. Die Grundannahme solcher Zeichencodes wird auch von postmodernen Semiotikern nicht aufgegeben, die sich – gern am Beispiel von Robert Venturis einflussreichem Buch „Learning from Las Vegas“ (1972) – mit der Pluralisierung und Heterogenisierung urbaner Zeichen bescha¨ftigt haben.3 Die Fa¨higkeit zur semiotischen Decodierung der Stadt bleibt indessen auch in der Postmoderne und Dekonstruktion gefragt, und so verwundert es nicht, dass die kulturellen Helden einer auf Zeichen fixierten Stadttheorie der Flaneur und der Großstadt-Detektiv sind. Kaum ein Aufsatz zur Stadt als Text kommt in den siebziger, achtziger und auch noch neunziger Jahren ohne Verbeugungen vor Baudelaire, Benjamin, Poe und Arthur Conan Doyle aus: Wa¨hrend Poes fru¨he Detektiv-Geschichten („The Murders in the Rue Morge“, „The Mystery of Marie Rogeˆt“ und „The Purloined Letter“) und insbesondere seine kurze Erza¨hlung „The Man of the Crowd“ (1834) als Schlu¨sseltexte einer kriminologischen Dechiffrierung von Urbanita¨t gelten, wurde Sherlock Holmes in einem vielzitierten Buch von Umberto Eco und Thomas Sebeok zum Großstadt-Semiotiker avant la lettre geadelt.4 Heutige Nutznießer einer Textualisierung von Urbanita¨t sind vor allem Literaturwissenschaftler und Historiker, die die semiotische Stadtbetrachtung fu¨r Forschungskontexte im Kontext des „spatial turn“, also dem seit den fru¨hen neunziger Jahren eingeforderten raumtheoretischen Perspektivenwechsel anschließbar gemacht haben. Soziologen wie z. B. Lutz Musner, der eine Studie mit dem Titel „Der Geschmack von Wien“ publiziert hat, greifen zwar auch vereinzelt auf Begriffe wie den der „kumulativen Textur“ zuru¨ck,5 um zu beschreiben, wie sich der Habitus, die Perso¨nlichkeit oder die Eigenlogik einer Stadt u¨ber historisch aufgeschichtete Selbst- und Fremdbeschreibungen herausgebildet hat.6 Das Paradigma der Textualita¨t wurde aber vor allem von Literaturwissenschaftlern weitergegeben, die sich – wie beispielsweise Karlheinz Stierle in seiner großen Studie zum „Mythos Paris“ – auf „erza¨hlte Sta¨dte“ 3 Robert Venturi/Denise Scott Brown/Steve Izenour, Learning from Las Vegas, Cambridge, Mass.

1978.

4 Vgl. Edgar Allan Poe, The Man of the Crowd, in: Edgar Allan Poe. Selected Tales, hg. v. David Van

Leer, Oxford 1998, S. 84–91; Dana Brand, The Spectator and the City in Nineteenth-Century America, Cambridge 1991; Michael F. Logan, Detective Fiction as Urban Critique: Changing Perspectives of a Genre, in: Journal of American Culture 15/3 (2004), S. 89–94; Der Zirkel oder im Zeichen der Drei: Dupin, Holmes, Peirce, hg. v. Umberto Eco/Thomas Sebeok, Mu¨nchen 1985. 5 Lutz Musner, Der Geschmack von Wien, Frankfurt a. M. 2008. Den Begriff der „kumulativen Textur“ pra¨gte der Stadtsoziologe Gerald D. Suttles in einem Aufsatz, der an die von Robert Park begru¨ndete Chicago School der Stadtsoziologie anschließt: The Cumulative Texture of Local Urban Culture, in: American Journal of Sociology 90/2 (1984), S. 283–304. 6 Solche Versuche, Sta¨dte individualisierend und vergleichend zu erfassen, manifestieren sich paradigmatisch im interdisziplina¨ren Forschungsansatz zur „Eigenlogik“ von Sta¨dten. Vgl. dazu Die Eigenlogik der Sta¨dte. Neue Wege fu¨r die Stadtforschung, hg. v. Helmuth Berking/Martina Lo¨w, Frankfurt a. M./ New York 2008; Thomas Loer, Zur eigenlogischen Struktur einer Stadt. Konstitutionstheoretische, methodologische und methodische Reflexionen zu ihrer Untersuchung, Frankfurt a. M. 2013, und die Beitra¨ge von Sybille Frank, Jochen Schwenk, Silke Steets, Gunter Weidenhaus, Helmuth Berking und Walter Siebel in der aktuellen Bestandsaufnahme zum Perspektivenstreit in der Stadtsoziologie in: Leviathan 41/2 (2013).

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und „Stadterza¨hlungen“, auf „Stadttexte“ und „Textsta¨dte“ konzentrieren.7 Positiv aufgenommen wurde das Text-Paradigma außerdem von raum- und stadtinteressierten Historikern wie Karl Schlo¨gel. Dies u¨berrascht nicht, denn historische Stadtforscher haben es in der Mehrzahl mit schriftlichen Quellen zu tun, und so huldigt auch Schlo¨gels Studie u¨ber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik eben dieser Dominanz der Schrift: Sie tra¨gt den Titel „Im Raume lesen wir die Zeit“.8 Schriftmetaphern pra¨gen auch zwei Studien zum London der fru¨hen Neuzeit, mit denen sich die begrifflichen Konjunkturen einer textuell, spektakula¨r oder praxeologisch aufgefassten Urbanita¨t ebenfalls rekonstruieren lassen. Steven Mullaney stellt in seiner einflussreichen, 1988 vero¨ffentlichten Untersuchung die Theater in den sogenannten „Liberties“ ins Zentrum einer Untersuchung der sozialen und politischen Effekte der Raumstrukturen Londons um 1600; Ian Munros 2005 vero¨ffentlichte Studie „The Figure of the Crowd in Early Modern London“ behandelt das demographische Problem sta¨dtischer Menschenmengen als rhetorische Figur und soziale Konfiguration. Beide Autoren stellen vielfa¨ltige Beziehungen zwischen den Bu¨hnen der Stadt und der Stadt als Bu¨hne insbesondere am Beispiel von Prozessionen und Zeremonien her. Beide thematisieren diese aufgrund ihrer oft allegorischen Requisiten als textualisierte Inszenierung von Urbanita¨t, aber sie tun dies in unterschiedlicher Weise. Mullaney bedient sich verschiedener Konzepte, die ha¨ufig metaphorisch auf Schrift und Zeichen rekurrieren: Die Stadt stellt sich fu¨r ihn als „cultural text“, als „trace, record“, „open book“ und „emblem“ dar; Gemeinschaften kartieren die Stadt als Topographie; Rituale schreiben sich und die durch sie verko¨rperten Ideologien in den Raum der Stadt ein und machen diesen dadurch lesbar.9 Munro geht differenzierter mit dem Paradigma Textualita¨t um. Er unterscheidet zum Beispiel gleich zu Beginn programmatisch zwischen metonymischen und metaphorischen Repra¨sentationen von Menschenmengen, die das Pha¨nomen der Masse entweder als Ereignis oder als Diskurs fassbar machen, und konzentriert seine Untersuchung expliziter auf das Spannungsverha¨ltnis zwischen lesbaren und unlesbaren urbanen Pha¨nomenen: „In the early modern period the urban crowd was always supplemental, always understood as a form of excessiveness and/or superfluousness; it provided the inevitable context for the performance of urban culture and threatened its legibility through its motive force and uncontrollable energy.“10 7 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, Mu¨nchen 1993; zur Anwendung literaturwissenschaftlicher

bzw. rhetorischer Kategorien vgl. neben Stadt-Bilder (wie Anm. 2) auch Volker Klotz, Die erza¨hlte Stadt, Mu¨nchen 1969; Die Unwirklichkeit der Sta¨dte (wie Anm. 1) und Joachim von der Thu¨sen, The City as Metaphor, Metonymy and Symbol, in: Babylon or New Jerusalem? Perceptions of the City in Literature, hg. v. Valeria Tinkler-Villani, New York/Amsterdam 2005, S. 1–11. 8 Karl Schlo ¨ ber Zivilisation und Geopolitik, Mu¨nchen 2003, sowie ¨ gel, Im Raume lesen wir die Zeit. U Ders., Petersburg: Das Laboratorium der Moderne, 1909–1921, Mu¨nchen 2002. 9 Steven Mullaney, The Place of the Stage. License, Play, and Power in Renaissance England, Ann Arbour 2004, S. 15, 13, 15, 13 und 20, 10; in der Reihenfolge der oben genannten Formulierungen. 10 Ian Munro, The Figure of the Crowd in Early Modern London. The City and its Double, London 2005, S. 1–2.

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Zusammenfassend la¨sst sich sagen, dass die Konzeptualisierung der Stadt als Text auch immer die Kompetenz einer spezifischen lesenden Zunft ins Licht ru¨ckt: Wer Sta¨dte zu Texten macht, weist die Deutungshoheit jenen Experten zu, die auf die Entzifferung von Zeichen spezialisiert sind. Diese Verteilung von Deutungshoheiten geht ha¨ufig mit einer Hypostasierung von Zeichen- und Textbegriffen einher. Zum Zeichen wird dem Stadtsemiotiker gern alles; als Lektu¨re gerieren sich ganz unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und des Verstehens. Die Erma¨chtigung von Spezialisten des Lesens zu Experten der Stadtbetrachtung impliziert zudem eine Wahrnehmungsposition, die Distanz, Kontrolle und Beherrschbarkeit des Zeichenmaterials verspricht. Dies ist genau die Haltung, die auch von den zwei bereits erwa¨hnten Ikonen der Stadtliteratur des 19. Jahrhunderts verko¨rpert wird: Edgar Allan Poes anonymer Ich-Erza¨hler in „The Man of the Crowd“ ist – zumindest im ersten Teil der Erza¨hlung – damit bescha¨ftigt, aus der zuru¨ckgezogenen Position hinter einem Kaffeehausfenster die vorbeistro¨mende Masse als hierarchisiertes Tableau urbaner Habitus lesbar zu machen, wa¨hrend Arthur Conan Doyles gattungspra¨gender Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit Hilfe von Lupe, Enzyklopa¨dien, Archivmaterial und Fußabdru¨cken den Zeichen-Dschungel der Metropole London erschließt.11 ¨ berlegenheit solcher Helden semiotischer StadtAkzeptiert man die exegetische U betrachtung, gera¨t schnell aus dem Blickfeld, dass es tatsa¨chlich Stadtbewohner und -beobachter gibt, die im engeren Sinne nicht lesen ko¨nnen oder wollen –, die zwar in einer oder zumindest im Verha¨ltnis zu einer Stadt leben, arbeiten, agieren, aber von bestimmten Formen von Zeichendeutung und -produktion ausgeschlossen sind bzw. sich diesen entziehen. Andreas Mahler konstatiert: „Wer – in der Stadt – nicht viel zu lesen findet, wendet sich schnell wieder ab“.12 In dieser Aussage ist mit Lesen natu¨rlich ein umfassender Vorgang des Ausdeutens und Verstehens gemeint, aber es lohnt sich, hartna¨ckiger nach jenen zu fragen, die die Stadt eben nicht wie Semiotiker und Literaturwissenschaftler lesen ko¨nnen oder wollen, und daher an wirkungsma¨chtigen Traditionen des Stadt-Verstehens nicht teilhaben oder teilhaben wollen. Perspektiven, die nicht intuitiv auf die Vorherrschaft lesenden Weltverstehens bauen, ko¨nnen besser ins Licht ru¨cken, dass die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Urbanita¨t auch immer in Machtgefu¨ge, in Konfigurationen von Inklusion und Exklusion eingebettet ist. Einige der Ansa¨tze, die ich im Folgenden unter den Leitbegriffen „Spektakel“ und „Praxis“ zusammenfassen mo¨chte, haben sich zum Ziel gesetzt, solche Machtgefu¨ge herauszuarbeiten.

Stadt als Spektakel Unter dem Stichwort „Spektakel“ lassen sich Zugriffe auf Urbanita¨t bu¨ndeln, die die Stadt als eine visuelle Inszenierung thematisieren, in der Sehen und Gesehenwerden, 11 Vgl. auch Karl Ludwig Pfeiffer, Mentalita¨t und Medium. Detektivroman, Großstadt oder ein zweiter

Weg in die Moderne, in: Poetica 20, 3/4 (1988), S. 234–259.

12 Stadt-Bilder (wie Anm. 2), S. 12.

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Blickachsen und Schaueffekte eine prominente Rolle spielen. Wird das Spektakula¨re zum konzeptuellen Leitmotiv, so steht nicht mehr die deutende, dechiffrierende Lektu¨re im Vordergrund, sondern die visuelle Wahrnehmung – auch wenn mit Begriffen wie Perspektive oder Blickwinkel auch nicht-visuelle Wahrnehmungsformen zumindest mitthematisiert werden ko¨nnen. Wer die Stadt als Spektakel beschreibt und untersucht, verengt somit zum einen die Vielfalt von Zeichen auf visuell rezipierbare Codes und ra¨umt damit gleichzeitig visuellen Quellen wie Stichen und Veduten, Postkarten, Marketingbroschu¨ren, Stadtfilmen wie Woody Allens „Manhattan“ oder auch der neuen Repra¨sentationsform Google Street View eine herausgehobene Bedeutung ein. Als Spektakel gibt die Stadt aber auch Aspekte von Theatralita¨t preis. Urbanita¨t wird hier als Inszenierung verhandelt und analysierbar, wie das vor kurzem viel kommentierte, durch die Aufnahme eines Google Street View-Wagens entstandene Missversta¨ndnis vor Augen fu¨hrt: Im britischen Worcester hatte sich ein Ma¨dchen auf den Bu¨rgersteig gelegt, um „tot“ zu spielen und alarmierte damit in ku¨rzester Zeit Beobachter im Internet, die das Kind fu¨r eine zufa¨llig aufgenommene Leiche hielten. Gerade diese ‚Panne‘ der eigentlich anti-theatralischen, weil auf willku¨rliche Aufzeichnung gerichteten Google-Technik legt damit offen, was die Dimension einer spektakula¨ren Inszenierung von Urbanita¨t alles umfassen kann: Es geht um die la¨ngst nicht immer intentional gesteuerte Zurschaustellung fu¨r ein Publikum und damit auch immer schon um die Frage, wer die Stadt fu¨r wen inszeniert, und wer von dieser Darbietung unwissentlich betroffen oder auch nicht beru¨hrt, nicht erreicht oder gar ausgeschlossen wird. Vor diesem Hintergrund verbindet sich mit dem Paradigma des „Spektakels“ ha¨ufig ein spezifischer ideologie- und machtkritischer Gestus. In seiner kulturkritischen Auspra¨gung finden wir diesen z. B. in Guy Debords „Kultur des Spektakels“, einem Text, der unter anderem die Stadt-Guerilla-Aktivita¨ten der franzo¨sischen Studentenbewegung in Paris inspiriert hat und mit Hilfe der Kampfvokabel des „Spektakels“ ein auf Kommerzialisierung, Konsum und Kapitalisierbarkeit abgerichtetes urbanes Gemeinwesen ins Visier nimmt.13 Als noch einflussreicher haben sich jene Arbeiten Michel Foucaults erwiesen, in denen er am Beispiel utilitaristischer Gefa¨ngnisarchitektur ein bauliches Ensemble herauspra¨parierte, das fu¨r viele Kunst-, Kultur- und Bildwissenschaftler zum Sinnbild eines spezifischen Regimes visueller Machtverteilung geworden ist. Es geht hier um die Architektur des Panoptikums, die in sta¨dti¨ berwachungskameras oder auch in Formaten wie Google Street View ihre schen U Fortsetzung zu finden scheint und es der Macht gestattet, selbst unbeobachtet die Ohnma¨chtigen einer allumfassenden Beobachtung und damit auch der Kontrolle und Disziplinierung zu unterziehen. Mit der Rezeption des Panoptikums und im Zuge einer parallel gefu¨hrten Ideologiekritik an der Zentralperspektive gerieten im Repertoire einer politisch sensibilisierten Bildwissenschaft einige visuelle Formate unter Ideologie- und Machtverdacht. Zu diesen geho¨rt, neben aktuellen Formen der u¨berwachenden Visualisierung, auch das Panorama, das nun nicht mehr als erfolgreiche

13 Guy Debord, La socie´te´ du spectacle, Paris 1987 (Die Kultur des Spektakels, Berlin 1996).

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a¨sthetische Rahmungs- und Gliederungsstrategie, sondern als Vehikel einer preka¨ren Totalisierungsleistung beschrieben wurde: Hatten sich fru¨here Betrachter einfach nur an der synthetisierenden Zusammen- und Rundumschau z. B. auch einer Stadt erfreut, galt es nun, den Illusionscharakter und Verblendungszusammenhang solcher Darstellungen herauszuarbeiten.14 Eine solche Politisierung panoramischer Repra¨sentationen ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, denn tatsa¨chlich speist sich die Suggestivkraft der Gesamtschau ja ha¨ufig aus einer asymmetrischen Konstellation von Beobachter und Beobachtetem, welche dem Beobachter einen Standpunkt zuschreibt, der in vielen ¨ berblick und damit auch Handlungs- und DeuFa¨llen mit einer Distanz, Kontrolle, U tungsmacht gewa¨hrenden Position verbunden ist. Diese machttheoretische Thematisierung visualisierender Inszenierungen von Urbanita¨t spielt auch in den Studien Mullaneys und Munros eine Rolle, denn beide Autoren gehen an strategisch wichtigen Stellen ihrer Argumentation auf visuelle Darstellungen ein, die sie als Panoramen klassifizieren. Mullaney verweist gleich zu Beginn auf Anthony van den Wyngaerdes London-Panorama aus dem Jahr 1543. Er betrachtet diese Stadt-Vision als „map of a city“, als „portrait of a culture“ und vor allem als Produkt einer ordnungsstiftenden Visualisierung: Die panoramische Darstellung wirke als „emblem of coherence and integrity“, indem sie eine klare Grenze (den ro¨mischen Stadtwall) zwischen Stadt und Nicht-Stadt, zwischen Innen und Außen, zwischen Inklusion und Exklusion ziehe.15 Diese visuelle Inszenierung der Macht einer eindeutigen Grenzmarkierung ist fu¨r Mullaney von entscheidender Bedeutung, denn sie erlaubt ihm, der emblematisch sicht- und lesbar gemachten Stadt die Theater in den „Liberties“ programmatisch entgegen zu setzen. In der so entstehenden urbanen Topographie sind die „Liberties“ gerade nicht an einem a¨ußeren Ort der Exklusion angesiedelt, sondern besetzen eine Zwischenzone, in der die Lesbarkeit hegemonialer Repra¨sentationen der Stadt durchkreuzt wird: „the Liberties served as a kind of riddle inscribed into the cultural landscape“.16 Ian Munro widmet sich in seiner Studie erst etwas spa¨ter der Funktionalita¨t von Panoramen. Er bezieht sich auch nicht auf van den Wyngaerdes Darstellung, sondern auf den Londinium Arch, den Ben Jonson anla¨sslich des feierlichen Stadt-Einzuges James I. im Jahr 1604 fu¨r die allegorischen Darbietungen an der Fenchurch Street gestaltet hatte. Anders als auf den anderen Bo¨gen war auf der oberen Ha¨lfte des Londinium Arch ein Panorama der Stadt abgebildet, das auf der unteren Ha¨lfte durch eine Personifikation Londons, welche sich dem einziehenden Ko¨nig unterstellt, erga¨nzt wurde. Munro deutet diese zeremoniale Inszenierung der Stadt auf den ersten Blick ganz a¨hnlich wie Mullaney das fru¨here Panorama van den Wynegeardes interpretiert

14 Zum Dispositiv und zur Denkfigur des Panoptikums vgl. Michel Foucault, U ¨ berwachen und Strafen:

Zur Geburt des Gefa¨ngnisses, Frankfurt a. M. 2009; Zygmunt Bauman, Flu¨chtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003; zu den ideologischen und politischen Implikationen der Zentralperspektive u. a. Norman Bryson, Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983. 15 Mullaney, Place of the Stage (wie Anm. 9), S. 6, 20. 16 Ebd., S. 24.

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hatte: Er verweist auf die panoramische Funktion, London mit Hilfe einer totalisierenden Visualisierung lesbar und damit auch beherrschbar zu machen.17 Aus dieser spezifischen machttheoretischen Perspektive werden das Panorama und das Panoptikum als Paradigmen hegemonialer visueller Kontrolle implizit enggefu¨hrt. Zu kurz kommen damit unter anderem die feineren Unterschiede zwischen historisch unterschiedlichen Formen der Visualisierung von Sta¨dten, wie sie zwischen fru¨hneuzeitlichen London-Darstellungen und den 360-Grad-Panoramen des spa¨teren 19. Jahrhunderts auszumachen sind: Auch wenn in diesen der erma¨chtigte Beobachter auf den ersten Blick auf a¨hnliche Weise wie in Benthams Panoptikum positioniert zu sein scheint, lohnt es sich dennoch zu beru¨cksichtigen, durch welche kognitiven und perzeptiven Operationen und Konventionen das Ganze einer Stadt jeweils einem auch im politischen Sinn kontrollierenden und beherrschenden visuellen Regime unterworfen zu sein scheint.

Stadt als Praxis Mullaney und Munro politisieren den Begriff des Panoramas in ihren Studien zum fru¨hneuzeitlichen London auf sehr a¨hnliche Weise. Munro bezieht seine Deutung der Macht von Stadt-Panoramen allerdings auf andere raumtheoretische Gewa¨hrsleute als Mullaney, und dieser Unterschied bringt den dritten der hier diskutierten Leitbegriffe, na¨mlich den der Praxis, ins Spiel. Um diese dritte gegenstandskonstituierende Perspektive auf die Stadt zu charakterisieren, ko¨nnen wieder die beiden exemplarischen Studien herangezogen werden, denn sie rekurrieren jeweils auch auf die zwei einflussreichsten soziologischen Wegbereiter einer praxeologischen Theorie der Stadt: zum einen auf Henri Lefebvre, der mit seiner Studie „Production de l’espace“ (1974) nicht mehr Urbanita¨t als Text oder Spektakel, sondern als von Akteuren hergestellten und herzustellenden Raum in den Mittelpunkt geru¨ckt hat, und zum anderen auf Michel de Certeau, der in seinem 1980 erschienenen Buch „Arts de faire“ allta¨gliche Praktiken der Konstitution, Aneignung und Umgestaltung von sta¨dtischen Ra¨umen herauszupra¨parieren versucht hat.18 Die durch Lefebvre und de Certeau repra¨sentierten praxeologischen Perspektiven auf Urbanita¨t kommen in den Studien Mullaneys und Munros auf unterschiedliche Weise zum Einsatz. Mullaney bezieht sich in seinem ersten Kapitel ein einziges Mal auf Lefebvre, indem er das zeremoniell inszenierte London mit Verweis auf den franzo¨sischen Soziologen als oeuvre, also als ein Werk charakterisiert, das von der Macht herrschaftsstiftender und -konsolidierender Rituale gezeichnet („marked“) ist: „The city was a dramatic and symbolic work in its own right, a social production of space, an oeuvre (as Henri Lefebvre has rightly characterized it) composed and rehearsed over the years by artisanal classes and 17 Munro, The Figure of the Crowd (wie Anm. 10), S. 51ff. 18 Henri Lefebvre, Production de l’espace, Paris 1999; Ders.,The Production of Space, Oxford 1991;

Michel de Certeau, Arts de faire, hg. v. Luce Giard, Paris 1990; Ders., Kunst des Handelns, Berlin 1988.

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sovereign powers, for whom meaning was always a public event, culture an ‚acted document‘, and power a manifest thing, to be conspicuously bodied forth and located in the urban landscape.“19 Lefebvre fu¨hrt den Begriff des oeuvres in der Tat ein, aber er nutzt ihn mit einer anderen Konnotation als Mullaney. Letzterer versteht zumindest das hegemoniale, zeremoniell domestizierte und rituell lesbar gemachte London mit Hilfe seiner zahlreichen Schrift-Metaphern als ein abgeschlossenes Werk, dem er dann das subversive Treiben in den Theatern und Unterhaltungssta¨tten der marginalen „Liberties“ entgegenstellen kann. Lefebvre interessieren dagegen sta¨dtische Ra¨ume vor allem als Akte der Herstellung und weniger als abgeschlossene Werke; ihm geht es darum, nicht allein herausgehobene Orte, sondern die gesamte Stadt weniger als ra¨umliches Produkt, sondern als ra¨umlichen Prozess zu beschreiben. Fu¨r Mullaney vollzieht sich die Produktion und Reproduktion der Stadt damit immer noch vorrangig als Einschreibung, Kartierung, Markierung und Lektu¨re im Rahmen eines textualisierenden Paradigmas; fu¨r Lefebvre stehen hingegen Formen der Wahrnehmung und Deutung, der Gestaltung und Intervention im Mittelpunkt, die nicht als Einschreibung und Lesen, sondern als physisches Handeln und damit nicht allein als hermeneutische und exegetische Praxis untersucht werden. Diese Akzentverschiebung vom urbanen Text zum urbanen Tun hat sich in Munros Buch, erschienen 2005, niedergeschlagen. Es ist daher symptomatisch, dass er sich dem fru¨hneuzeitlichen London nicht u¨ber van den Wynegaerdes Panorama, sondern u¨ber John Stows „Survey of London“ aus dem Jahr 1603 anna¨hert. Stows Erkundung, die nicht nur einem totalisierenden, rahmenden Blick von oben folgt, sondern Einzelaspekte der Stadt auch in Form einer spaziergangsartigen Dramaturgie ins Auge fasst, dient zwar auch Mullaney als wichtige Quelle. Dieser deutet allerdings den „Survey“ innerhalb des textualisierenden Paradigmas als Dokument einer Lesbarmachung. Die „peripatetic representation“ wird als „open book for those [...] who know to read it“ umschrieben: „For Stow, London is a palimpsest of the many who have lived and died within its confines. [...] In an entirely literal sense, the Survey is a reading of London and those various signs of passage“.20 Munros Studie hinterfragt dagegen die Wirkmacht, die Mullaney der offiziellen Theatralisierung der Stadt im Sinne einer herrschaftskonstituierenden, intentional gesteuerten Lesbarmachung zuschreibt.21 Seine Deutung ru¨ckt kollektive und kontingente Aspekte urbanen Lebens in den Vordergrund und gesteht damit Stows London-Darstellung im Survey auch ein kritisches Potential zu, das Probleme sozialer Koha¨sion als eine Destabilisierung der ra¨umlichen Ordnung artikuliert.22 Munros Lektu¨re des „Survey“ ordnet diesen damit nicht mehr in das totalisierende Regime panoramischer Darstellungen ein, sondern stellt ihn in einen praxeologischen Kontext, der durch Verweise auf Lefebvre, aber auch auf de Certeau markiert 19 Mullaney, The Place of the Stage (wie Anm. 9), S. 10. 20 Ebd., S. 15. 21 Munro, The Figure of the Crowd (wie Anm. 10), S. 25–26. 22 Ebd., S. 19.

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wird. Das spektakula¨re Format des Panoramas gera¨t damit in eine konzeptionelle Opposition zu einer Vision sta¨dtischer Wahrnehmung, Erfahrung und Handelns, die Distanz und Immersion gegeneinander ausspielt. Munros Betrachtung panoramatischer Spektakel schließt daher auch an de Certeaus Unterscheidung der Modi der Karte und der Tour, oder auch des Panoramas und der Straße an, mit der spektakula¨re und praxeologische Perspektiven integrierbar werden: Wo das Panorama, folgt man de Certeau, die Stadt durch eine totalisierende Syntheseleistung transparent, lesbar, geordnet und beherrschbar macht, stellt sich die Stadt aus der Sicht der Straße fu¨r de Certeau als unu¨berschaubar, partikularisiert und opak dar. Als gehend erschlossener Raum und nicht als topographische Markierung auf einer Karte, als Ort der Beteili¨ bersicht ist die Straße fu¨r de Certeau eindeutig gung und Einbettung und nicht der U der positiv konnotierte Wahrnehmungs- und Handlungsort, um Urbanita¨t zu ver¨ berlegungen zur subversiven Aneignung sta¨dstehen.23 Dass er von hier aus seine U tischen Raumes als allta¨gliche Praxis organisiert, hat ihn gerade fu¨r explizit politisierende ju¨ngere Arbeiten der Stadtforschung attraktiv gemacht. De Certeau und Lefebvre laden somit dazu ein, Sta¨dte nicht allein lesend und schauend zu erschließen, sondern auch oft u¨bersehene und schwer zu erfassende Alltagsroutinen zu beru¨cksichtigen. Internalisierte und intuitive Praktiken wie das Einparken, das Sitzen auf Parkba¨nken, das Essen einer Currywurst oder das Ausfu¨hren des Hundes geho¨ren dazu. Beide unterziehen also das Paradigma der Textualita¨t einem Praxistest: Denn Lesbarkeit stellt sich, darauf hat schon der amerikanische Stadtsoziologe Kevin Lynch in den sechziger Jahren hingewiesen, eben nicht nur aus einer Position kontemplativer Distanz her, sondern ebenso in Aktion, in Bewegung, im Prozess des Interagierens mit und in urbanen Wirklichkeiten.24 Aus einer solchen Perspektive la¨sst sich zudem die Lizenz zu einer ethnographischen Erkundung von Urbanita¨t ableiten. Diese wa¨re wiederum an die soziologisch begru¨ndete Praxeologie Pierre Bourdieus anschließbar, obwohl dieser die von ihm als „Logik der Praxis“ in den Blick genommenen Gewohnheitssinne, inkorporierten Erkenntnisse und im Alltagsleben unhinterfragten Routinen nie als eine spezifisch urbane Feldlogik untersucht hat.25 Eine Wahrnehmung und Erfahrung von Urbanita¨t, die sich nicht allein auf die distanzierte, sondern auch auf teilnehmende Beobachtung verla¨sst, wird, wenn man genauer hinschaut, auch schon von vielzitierten Stadt-Experten wie Sherlock Holmes und den Protagonisten der Poe’schen Stadttexte verko¨rpert. Conan Doyles Detektiv lo¨st seine Fa¨lle ja gerade nicht nur aus dem Sessel heraus, sondern er verla¨sst die Baker Street auch immer wieder, um in wechselnden Maskeraden und mit reichhaltigem 23 Diese Aufwertung einer in die allta¨glichen Handlungsra¨ume einer Stadt eingebetteten Position zeigt

sich besonders deutlich in Kapitel III der „Arts de faire“, das mit einer Kontrastierung des panorami¨ berblicks von den Tu¨rmen des World Trade Center aus und der Perspektive aus der Tiefe der schen U die Tu¨rme umgebenden Straßen beginnt. 24 Kevin Lynch, The Image of the City, Cambridge, Mass. 1960. 25 Vgl. Pierre Bourdieu, The Social Space and the Genesis of Groups, in: Theory and Society 14/6 (1985), S. 723–744; zur Praxeologie auch Irene Do¨lling, Pierre Bourdieus Praxeologie – Anregungen fu¨r eine kritische Gesellschaftsanalyse. Vortrag in der Klasse fu¨r Sozial- und Geisteswissenschaften am 10. Februar 2011, in: Leibniz Online 9 (2011), S. 1–17.

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Expertenwissen ausgestattet in ganz unterschiedliche Mikrokosmen Londons einzutauchen. Es ist also nicht allein die stille konzentrierte Lektu¨re der Zeichen der Stadt, sondern die durchaus physisch aktive Bewegung im und durch den Raum der Stadt, die Holmes auch zu einer Lieblingsfigur so mancher Stadtsoziologen macht: So hat Rolf Lindner in seiner Studie zur Entstehung der Chicago School der Stadtforschung aus dem Geist von Kriminologie und Reportage gezeigt, wie sich eine gute Stadtsoziologie einer Strategie des „nosing around“ verpflichtet fu¨hlen sollte.26 Eine getriebenere, nicht mehr kontrollierte Variante eines solchen „nosing around“ bestimmt auch den zweiten Teil von Poes Schlu¨sseltext „The Man of the Crowd“. Der entscheidende Wendepunkt dieser Erza¨hlung vollzieht sich, indem der zuvor aus sicherer Distanz operierende Beobachter das Kaffeehaus verla¨sst, um sich auf eine unheimliche Exkursion im Schlepptau eines anonymen Repra¨sentanten der Masse zu begeben. Gemeinsam werden die beiden Ma¨nner in das sprichwo¨rtliche Labyrinth der Großstadt so hineingezogen, dass auch die Deutungsmacht des anfangs souvera¨n beobachtenden Erza¨hlers auf die Probe gestellt wird.27

III. ¨ berlegungen noch einmal, Fragt man vor dem Hintergrund der bisher angestellten U wie die Komplexita¨t des Ganzen einer Stadt heuristisch zu erfassen ist, la¨sst sich von Steven Mullaney lernen, wie man urbane Komplexita¨t effektiv reduziert. Mullaney adressiert sein fru¨hneuzeitliches London zwar in additiver, terminologisch nicht systematisierter und ha¨ufig metaphorisierender Weise als Landkarte, Emblem und Portra¨t, als politischen Ko¨rper und soziale Praxis, aber sein Zugriff bleibt maßgeblich textualisierend: Seine Stadt erscheint uns als topographische Konfiguration, in deren Markierungen Mullaney mit den „Liberties“ einen heterotopen Ort der subversiven Liminalita¨t eintra¨gt. Die auf das Ganze der Stadt zielende Raumvorstellung, die aus dieser kartierenden Operation resultiert, bleibt letztendlich statisch, denn sie lokalisiert widersta¨ndige Theaterpraxis ja gerade an einem spezifischen Ort. Ian Munro hat sich dagegen mit den die Zeitgenossen beunruhigenden anwachsenden Menschenmengen Londons im fru¨hen 17. Jahrhundert bereits ein Thema gewa¨hlt, das den Raum der Stadt wie auch seine historische Erforschung dynamisiert. Was Munro interessiert, sind nicht vorrangig durch territorialisierende Markierungen entstehende oder auch angefochtene Zeichen-Ordnungen, sondern Ko¨rper in

26 Rolf Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt a. M. 2007. 27 Entsprechend skeptisch wird die Frage der Lesbarkeit der Stadt in der Erza¨hlung beantwortet, indem

auch im amerikanischen Original an den Anfang und das Ende ein deutscher Satz positioniert wird, welcher den unheimlichen alten Mann als Allegorie einer Unlesbarkeit ausgibt: „Er lasst sich nicht lesen“. Vgl. zu diesem Aspekt auch Julika Griem, Mobilizing Urban Space: The Legacy of E. A. Poe’s „The Man of the Crowd“ in Contemporary Crime Fiction, in: Moving Images, Mobile Viewers: 20th Century Visuality, hg. v. Renate Brosch/Ronja Tripp/Nina Ju¨rgens, Berlin 2011, S. 199–138.

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Bewegung. Als Menge bzw. Masse repra¨sentieren diese in besonderer Weise ein Ganzes der Stadt, das in Munros Beschreibung immer wieder andere Formen annimmt: Die Menge ist tendenziell amorph und schwer lesbar, aber sie kann sich auch, ob am Straßenrand oder im Theater, als demographisches Problem, rhetorische Figur oder Ansammlung von Akteuren zu ganz unterschiedlichen Konfigurationen verdichten. Munro situiert seine Untersuchung im Kontext eines sogenannten „new new historicism“, der sich, ebenfalls mit Rekurs auf Lefebvre und de Certeau, der methodologisch anspruchsvollen Rekonstruktion schwer greifbarer, aber wirkungsvoller Aspekte allta¨glicher Lebenspraxen verschrieben hat.28 Munros Betonung der von de Certeau propagierten Taktik einer situationistisch eingebetteten, mobilen Form urbanen Wahrnehmens und Handelns sollte allerdings nicht dazu verleiten, kulturwissenschaftliche Stadtforschung auf eine neue Orthodoxie zu verpflichten, in der Stillstand und Bewegung, fixierende, distanzierte Beobachtung und teilnehmendbewegte Interaktion wertend gegeneinander ausgespielt werden. Dass sich diese beiden Optionen nicht als Alternativen, sondern als produktive Leitdifferenz fassen lassen, la¨sst sich auch bereits aus Poes schon zitierter Stadt-Erza¨hlung „The Man of the Crowd“ ableiten: Hier erschließt sich Urbanita¨t ja gerade im Zusammenspiel von Kontemplation und Intervention, Distanz und Immersion, von verallgemeinernder ¨ berpru¨fung durch eine partikularisierende KonFixierung des Ganzen und deren U frontation mit fragmentierten Aspekten der Stadt.29 Die Leitbegriffe Text, Spektakel und Praxis lassen sich ebenfalls in differentieller Form aufeinander beziehen, indem man sie, wie es Andreas Reckwitz fu¨r das Verha¨ltnis von Diskursen und Praktiken vorgeschlagen hat, nicht als „einander ausschließende Fundierungsvokabulare“ behandelt.30 Um textuelle, spektakula¨re und praxeologische Perspektiven auf Urbanita¨t in dieser Weise zu kombinieren, muss allerdings in Kauf genommen werden, dass sich spannungsvolle Befunde ergeben. Wie sich mit solchen Befunden umgehen la¨sst, soll abschließend, aber natu¨rlich keinesfalls erscho¨pfend an drei Beispielen vorgefu¨hrt werden, die nicht mehr nur ins London der fru¨hen Neuzeit zuru¨ckfu¨hren, sondern verschiedene Sta¨dte in unterschiedlichen medialen Inszenierungen des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart vorfu¨hren. Vergleichbar erscheinen mir diese Beispiele, weil sie jeweils einen paradigmatisch inszenierten ma¨nnlichen Beobachter zum Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsraum einer Stadt in Beziehung setzen. Das erste Beispiel bildet William Wordsworths Sonett „Composed upon Westminster Bridge“ (1802), eines der kanonischen Gedichte der englischen Romantik, das im Jahr 1807 vero¨ffentlicht wurde und seinen Lesern einen idyllisierenden Blick auf die morgendliche Silhouette Londons pra¨sentiert:

28 Munro, The Figure of the Crowd (wie Anm. 10), S. 5; das Projekt eines „new new historicism“ formu-

lierten Patricia Fumerton/Simon Hunt (Hg.), Renaissance Culture and the Everyday, Philadelphia 1999, S. 3. 29 Vgl. Griem, Mobilizing Urban Space (wie Anm. 27). 30 Andreas Reckwitz, Praktiken und Diskurse. Eine sozialwissenschaftliche und methodologische Reflexion, in: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, hg. v. Herbert Kalthoff/ Stefan Hirschauer/Gesa Lindeman, Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209, hier S. 206.

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Earth has not any thing to show more fair: Dull would he be of soul who could pass by A sight so touching in its majesty: This City now doth, like a garment, wear The beauty of the morning; silent, bare, Ships, towers, domes, theatres, and temples lie Open unto the fields, and to the sky; All bright and glittering in the smokeless air. Never did sun more beautifully steep In his first splendour, valley, rock, or hill; Ne’er saw I, never felt, a calm so deep! The river glideth at his own sweet will: Dear God! The very houses seem asleep; And all that mighty heart is lying still!31 Das zweite Beispiel stammt aus einem Film, der zumindest in der Spha¨re des deutschen Fernsehens auch schon den Status eines Klassikers erreicht hat. Es handelt sich hier um die Ero¨ffnungssequenz des am 28. Juni 1981 ausgestrahlten WDR-„Tatorts“ „Duisburg Ruhrort“, der Go¨tz George zum ersten Mal als Kommissar Horst Schimanski ins Rennen schickte. Das Format der „Tatort“-Fernsehkrimis hat sich la¨ngst als Erfolgsmuster eines urban gepra¨gten police procedurals etabliert: Seit mehr als vierzig Jahren strahlt die ARD zur besten Sendezeit am Sonntagabend um 20.15 Uhr – strikt choreographiert nach einem System fo¨deral organisierter Sendeanstalten – einen jeweils abgeschlossenen Kriminalfilm aus, dessen kontinuierlich auftretendes Ermittler-Team einen Fall in ‚seiner‘ Stadt lo¨sen muss. Die „Tatort“-Reihe folgt damit einem kompetitiven Prinzip: Wie in einer Bundesliga deutscher Stadt-Krimis fiebern Fans mit ‚ihren‘ an bestimmten sta¨dtischen Schaupla¨tzen angesiedelten Teams mit, deren realistisch inszenierte Ortsbezu¨ge lebhaft diskutiert werden.32 Bereits an diesen beiden Beispielen la¨sst sich rekapitulierend erproben, wie die sowohl lyrisch als auch filmisch evozierten Sta¨dte als Text, als Spektakel und als Praxis zu beschreiben sind. Dieser Versuch einer integrativen Betrachtung kann zudem einige methodologische Probleme und Leitfragen ku¨nftiger kulturwissenschaftlicher und kulturhistorischer Stadtforschung andeuten. Obwohl in den „Tatort“-Krimis Stadtpla¨ne gern als lokalisierende Requisiten eingesetzt werden, muss man im Fall der Ero¨ffnungssequenz des Duisburg-„Tatorts“ die Stadt Duisburg zuna¨chst einmal aus ikonischen Zeichen zusammensetzen. Ganz a¨hnlich wie in Wordsworths London-Sonett werden hier einzelne Geba¨ude und architektonische landmarks herausgegriffen, die als Zeichen metonymisch und metaphorisch eingesetzt werden ko¨nnen: Wie Wordsworths „ships, towers, domes, theatres, and temples“ stehen hier Hocho¨fen, Wassertu¨rme und Mietsha¨user fu¨r das Ganze der Stadt oder Region, aber auch 31 William Wordsworth, Composed Upon Westminster Bridge, September 3, 1802, in: The Norton

Anthology of English Literature, hg. v. Stephen Greenblatt/M. H. Abrams, Bd. 2, New York/London 82006, S. 317. 32 Vgl. als reichhaltige Quelle popula¨rer Rezension die website http://www.tatort-fundus.de/web/startseite.html [Stand: 15. 7. 2015].

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fu¨r spezifische Milieus und Institutionen, die die jeweilige Stadt in besonderer Weise pra¨gen. Als Ensemble fu¨gen sich Wordsworths urbane Zeichen zu einem typischen Themse-Panorama, wa¨hrend sich in der „Tatort“-Sequenz die Ikonographie einer typisierten Industrielandschaft herausbildet, die allerdings eher fu¨r „das Ruhrgebiet“ als fu¨r Duisburg steht. Gerade die Annahme der Kodifizierung und Konventionalisierung solcher Elemente urbaner Ikonographien wa¨re indessen noch genauer zu belegen. Dabei wa¨re zu ergru¨nden, wann und unter welchen Umsta¨nden ein Geba¨ude eigentlich zum Zeichen wird? Der Prozess einer Ikonisierung herausgehobener Elemente einer Stadtlandschaft kann sich durch explizit a¨sthetisierende Verfahren in ku¨nstlerischen Darstellungsformen, aber natu¨rlich auch durch deren Reproduktion und Weiterverarbeitung in der Werbung oder im Stadt-Marketing vollziehen. Wie viele London-Gedichte und Schimanski-„Tatorte“, welche Distributionsformen, Gattungsmuster und Popularita¨tswerte braucht es aber, um Wahrnehmungs- und Deutungsroutinen zu etablieren, die Leser und Betrachter verla¨sslich auf schnell erkennbare und damit vielseitig verwertbare Codes der Darstellung z. B. Londons und des Ruhrgebiets reagieren lassen? Unter welchen Umsta¨nden vera¨ndern sich solche Codes schließlich; wie lassen sich also sozialer Strukturwandel und Prozesse der Vera¨nderung von semiotischen und semantischen Konventionen aufeinander beziehen?33 Die ikonographische Semiose, die von Stadtdarstellungen initiiert wird, kann nicht von der Frage nach Betrachterstandpunkten isoliert werden. Damit betritt man den Bereich des Spektakula¨ren. Entscheidend fu¨r die Inszenierung Duisburgs als Ruhrort-„Tatort“ ist, dass der urbane Raum als Schimanskis Raum ins Bild gesetzt wird: Durch das Arrangement der Ero¨ffnungs-Einstellung werden wir als Zuschauer veranlasst, mit dem neuen Ermittler auf sein Ruhrgebiet zu blicken. Dieser fungiert hier als impliziter Betrachter im Bild, der den Fernsehzuschauer zumindest einla¨dt, mit ihm aus dem Fenster auf die Stadt zu schauen. Schimanskis Blick ist zudem, zumindest zu Beginn, wie der Blick des Beobachters in Wordsworths Gedicht, ein panoramischer Blick. Diese konventionell eingesetzte Perspektive wird in jeweils spezifischer Weise verwendet: Wa¨hrend die distanzierte Zusammenschau bei Wordsworth der Metropole London eine im Gedicht momenthaft stillgestellte und idyllisch ordnende Rahmung verschafft, lebt der Mythos Schimanski ja gerade davon, dass er, als unbeherrschter Mann der Tat, im Nahkampf des kriminellen Stadt-Dschungels immer wieder die emotionale und kognitive Kontrolle verliert. Und genau dies deutet sich bereits an, wenn Schimanski die Vogelperspektive am Fenster seiner Wohnung verla¨sst, um in den Niederungen der Kneipe die Bodenhaftung teilnehmender Beobachtung zuru¨ckzugewinnen. Eine Erkla¨rung fu¨r diese unterschiedliche Inszenierung von sta¨dtischen Ra¨umen ko¨nnte man in der Wirkungsmacht von Gattungskonventionen vermuten. So nimmt

33 Die hier nur skizzierten U ¨ berlegungen zum Schimanski-„Tatort“ verdanken maßgebliche Anregungen

dem wesentlich ausfu¨hrlicheren Beitrag von Sebastian Scholz, Strukturwandel in stehenden Kulissen. Schimanskis Blicke auf das Ruhrgebiet, in: Tatort Stadt. Zur medialen Topographie eines Fernseh-Klassikers, hg. v. Julika Griem/Sebastian Scholz, Frankfurt a. M. 2010, S. 199–226.

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der Sprecher und Betrachter in Wordsworths Sonett – auch wenn er keine Frau, sondern eine Stadt evoziert – immer noch die Position eines aus der Distanz preisenden, Sonett-typischen Verehrers ein, der sein Gegenu¨ber zu einem a¨sthetischen Objekt stilisiert. Als Beobachter seiner Stadt kann Schimanski dagegen in eine Tradition urbaner Kriminalerza¨hlungen eingeordnet werden, in der er – zuna¨chst – in Sherlock Holmes’scher u¨berlegener Distanz am Fenster steht, sich dann aber weitaus nachhaltiger als sein Vorga¨nger in nicht mehr u¨berschaubaren urbanen Ra¨umen verliert. Auch ein solcher Rekurs auf jeweils ma¨nnliche Wahrnehmungspositionen privilegierende Gattungskonventionen wirft aber wiederum Fragen auf. Reicht es beispielsweise aus, das London-Sonett auf andere Sonette und Stadt-Gedichte zu beziehen? Mu¨sste man diese Stadtdarstellung nicht viel mehr mit den in vieler Hinsicht kontrafaktischen London-Passagen des autobiographischen Prelude Wordworths und mit den im Prelude aufgerufenen zeitgeno¨ssischen Repra¨sentationen in anderen medialen Formaten vergleichen?34 Und la¨sst sich Schimanski tatsa¨chlich als Nachfolger Sherlock Holmes’ verstehen? Erschließt sich sein spezielles Verha¨ltnis zu seiner Stadt nicht ebenso u¨berzeugend in synchroner Abgrenzung zu Ermittlerfiguren und Schaupla¨tzen in anderen deutschen oder auch nicht-deutschen Fernseh-Krimis und einschla¨gigen Ruhrgebietsfilmen? Die unterschiedlichen spektakula¨ren Regimes, innerhalb derer Wordsworths lyrisches Ich und Horst Schimanski auf ihre Stadt blicken, scheinen schließlich auch eine unterschiedliche Perspektivierung urbaner Praxis nahezulegen. Wordsworths Sonett verdankt seine sprachliche Evokation nicht nur einer harmonisierenden organizistischen Domestizierung Londons, sondern auch der programmatischen Ausblendung von sich bewegenden, handelnden und z. B. arbeitenden Ko¨rpern und Akteuren; einer Ausblendung, durch die sich die Stadt u¨berhaupt erst in ein morgendliches Szenario scheinbar unberu¨hrter und renaturierter Scho¨nheit transformieren la¨sst. Die Schimanski-„Tatorte“ schwelgen dagegen in Aktionen, die den Ko¨rper des Ermittlers in Bewegung zeigen. Diese Bewegung ist relativ wenig von Reflexion und Kontemplation getru¨bt. Sie baut auf Intuition und liebgewordene Gewohnheiten wie z. B. die spa¨ter zum Kultobjekt avancierte, vielgeschundene M 65-Feldjacke des Ermittlers. Schimanski wird als der verschwitzte und verdreckte Macher und Malocher unter deutschen TV-Kommissaren in Szene gesetzt. Dieses aktivistische Image wird auch noch durch die selbstreflexive ironische Pointe der hier herausgegriffenen Ero¨ffnungs-Sequenz versta¨rkt: Als der geistesverwandte Namensbruder „Hotte“ im Haus gegenu¨ber der Kneipe ein TV-Gera¨t mit dem Kommentar aus dem Fenster wirft, im Fernsehen laufe ohnehin „nur Scheiße“, tra¨gt die bilderstu¨rmerische Pointe dieser Aktion maßgeblich dazu bei, den kriminologischen Stadtforscher Schimanski als Mann der Tat zu etablieren. Eine ernstzunehmende praxeologische Analyse du¨rfte allerdings – und an dieser Stellt ero¨ffnet sich vermutlich die gro¨ßte methodologische Herausforderung – keinesfalls bei der Darstellung von Handeln und Akteuren im

34 Vgl. Kai Merten, Visions of Visuality: Wordsworth and the Media around 1800, in: Anglisten-

tag 2005: Proceedings, hg. v. Christoph Houswitschka/Gabriele Knappe/Anja Mu¨ller, Trier 2006, S. 279–290.

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Text stehen bleiben. Gefragt wa¨re vielmehr eine Untersuchung sowohl der Produktionskontexte wie auch des allta¨glichen Einsatzes, der Wirkung und Funktionalita¨t von Medien und Konventionen der Stadtdarstellung in den Lebenswelten, also der Praxis von Stadtbewohnern.35 Mit dem dritten angeku¨ndigten Beispiel la¨sst sich noch etwas weiter ausfu¨hren, was eine umfassendere praxeologische Untersuchung von Inszenierungen von Sta¨dten und Urbanita¨t beitragen ko¨nnte, wenn die Konzepte des Textes und des Spektakels zusammengefu¨hrt wu¨rden. Auch dieses letzte Beispiel fokussiert eine Stadt – in diesem Fall Baltimore – wieder aus der Perspektive eines ma¨nnlichen Beobachters: Es handelt sich um die Schlussszene von David Simons gefeierter Fernsehserie „The Wire“ (2002–2008), in der die Stadt Baltimore als Protagonistin eines industriellen Abstiegskampfs fungiert, der am Beispiel von fu¨nf exemplarischen institutionellen Kontexten in insgesamt u¨ber sechzig Stunden Sendezeit dramatisiert wird. Was diese außerordentlich raffiniert erza¨hlte und fu¨r ihre Komplexita¨t gefeierte Serie zusam¨ berwachungsaktion. Diese vermag menha¨lt, ist eine breit angelegte und ausufernde U in der Serienerza¨hlung die Drogenkriminalita¨t keineswegs einzuda¨mmen, sondern fungiert als dramaturgische Strategie, u¨ber immer wieder neue Akteure und Intrigen, Fronten und Allianzen ein sich allma¨hlich verdichtendes Gesamtbild der Stadt entstehen zu lassen. „The Wire“ geho¨rt zu jenen neuen amerikanischen Fernsehserien, in denen u¨ber mehrere Staffeln hinweg kumulativ erza¨hlt wird, bevor es zu einer kulminierenden Schließung kommt. Im Zentrum dieser narrativen und auch ra¨umlichen Schließung steht in der hier als drittes Beispiel ausgewa¨hlten Schlussszene der Polizist McNulty, der innerhalb des sehr großen und mehrheitlich afro-amerikanischen Personals der Serie eine eher an den Ermittler Schimanski erinnernde Rolle spielt, wa¨hrend sein Kollege Lester Freaman als Dechiffrierungs-Experte fungiert, welcher in seiner unermu¨dlichen Hermeneutik immer wieder scheiternder Abho¨raktionen auch so etwas wie das Kompositions-Prinzip von „The Wire“ formuliert: „It’s all the pieces that matter“. Viele dieser einzelnen Teile der seriellen Erza¨hlung Baltimores werden abschließend als ru¨ckblickende Reminiszenz McNultys inszeniert und durch eine spezifische Montage verbunden, in der gattungstypische Erwartungen zuna¨chst 35 In Tatort Stadt (wie Anm. 33) werden bezu¨glich der „Tatort“-Reihe einige solche praxeologische Fra-

gestellungen beleuchtet: Hier ist z. B. die Rede davon, wie realistische Ortseffekte gerade nicht vor Ort produziert werden; wie die Kommunalpolitik und die BILD-Zeitung auf die ersten Schimanski-„Tatorte“ reagierte und wie Zuschauer z. B. im Fall der neuen Stuttgart-„Tatorte“ Inkonsistenzen in der realistischen Stadtdarstellung monierten. Am Beispiel des „Tatort“ ist mittlerweile auch erforscht worden, wie sich spezifische Fan-Gemeinschaften z. B. in Kneipen zur gemeinschaftlichen Rezeption treffen, und wie das sonntagabendliche „Tatort“-Ritual in lebensweltliche und allta¨gliche Zusammenha¨nge eingebettet ist. Vgl. zur lebensweltlichen Einbettung des „Tatort“ auch Regina Bendix/Christine Ha¨mmerling/Kaspar Maase/Mirjam Nast, Lesen, Sehen, Ha¨ngenbleiben, in: Popula¨re Serialita¨t: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erza¨hlen seit dem 19. Jahrhundert, hg. v. Frank Kelleter, Bielefeld 2012, S. 293–319. Zum aktuellen Forschungsstand u¨ber den „Tatort“ vgl. Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im „Tatort“, hg. v. Christian Hißnauer/ Stefan Scherer/Claudia Stockinger, Bielefeld 2014. Weiterreichende praxeologische Perspektiven der Stadtforschung werden erprobt in: Sta¨dte unterscheiden lernen. Zur Analyse interurbaner Kontraste, hg. v. Sybille Frank/Petra Gehring/Julika Griem/Michael Haus, Frankfurt a. M. 2014.

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erzeugt und dann unterlaufen werden. Der Ermittler macht sich na¨mlich, nach u¨ber sechzig Stunden Serien-Dienst in einer vor allem aus ihrem Inneren heraus fokalisierten Stadt, auf den Weg zu einem erho¨hten Punkt auf einer Stadtautobahn, der ihm ¨ berblick u¨ber das Ganze bieten ko¨nnte. Genau diese genre-typische und uns einen U Vogelperspektive, wie man sie auch in deutschen Fernseh-Krimis ha¨ufig findet, wird allerdings nicht gewa¨hrt. Stattdessen la¨sst die Schlussszene innerhalb einer subjektiven Rahmung noch einmal Schlu¨sselfiguren und -szenen der gesamten Serie Revue passieren, und diese Reminiszenz des Ermittlers beginnt zuna¨chst mit langsamer montierten Einstellungen von Gruppen- und Einzelaufnahmen, bevor sie in immer schnellerer Abfolge einzelne Ra¨ume und Orte aus dem Inneren der Stadt aufreiht, die der Serie als topoi einer systemischen Ethnographie gedient haben.36 Nach dem rekapitulierenden Schnelldurchgang durch heruntergekommene Straßen, Hinterzimmer, Hafenanlagen, Bu¨rora¨ume und immer wieder den paradigmatischen Innenstadt-Ort „on the corner“ ero¨ffnet sich gerade nicht der final umfassende Blick auf ein Panorama Baltimores, sondern wir sehen lediglich, wie der Ermittler wieder in sein Auto steigt und ins Innere seiner Stadt zuru¨ckkehrt. Diese Zuru¨ckweisung einer erwartbaren totalisierenden Außenperspektive auf die Stadt Baltimore verdeutlicht am Ende der Serie noch einmal, auf welch vielschichtige Weise in „The Wire“ mit den konzeptionellen Leitbegriffen des Textes, des Spektakels und der Praxis umgegangen wird. So sind einerseits zentrale Figuren auf der Seite der Ermittler im durchaus gattungstypischen Sinne von der Idee besessen, die Stadt und ihre Delinquenz wie einen Text entziffern und kriminologisch lesbar machen zu ko¨nnen. Die Serie thematisiert aber auch auf noch ganz andere Weise Vorstellungen von Lesbarkeit, denn insbesondere ihr Scho¨pfer David Simon hat immer wieder suggeriert, „The Wire“ operiere innerhalb einer literarischen Tradition der Gesellschaftsdarstellung und sei daher wie ein klassisches Drama oder auch ein Roman zu rezipieren.37 Solche Zuschreibungen von Literarizita¨t dienen dazu, einem Fernseh-Produkt Reputation und Distinktion zu verschaffen. Sie ru¨cken auch in den Blick, dass viele der sogenannten neuen „Qualita¨ts-Serien“ so komplex erza¨hlt sind, dass sie zu Formen der rekapitulierenden und vertiefenden Rezeption animieren, wie sie fu¨r die Lektu¨re komplizierterer literarischer Texte charakteristisch und durch das DVD-Format auch im Fall einer Fernseh-Serie realisierbar sind. Gerade die langen und ha¨ufig unterbrochenen Erza¨hlbo¨gen, der aufwa¨ndig variierte Erza¨hl-Rhythmus und das ausdifferenzierte Erza¨hl-Personal von „The Wire“ problematisieren aber auch das Versprechen, mit dieser Serie werde die Stadt Baltimore abschließend lesbar gemacht. „The Wire“ findet nach u¨ber sechzig Stunden zwar einen Abschluss, aber die intensive Exegese sowohl der Serien-Figuren als auch der Zuschauer wird durch eine planvoll unu¨bersichtliche und kultur- und

36 Zur ethnographischen Anlage der Serie vgl. Linda Williams, Ethnographic Imaginary: The Genesis

and Genius of The Wire, in Critical Inquiry 38/Autumn (2011), S. 208–226, sowie Linda Williams, On The Wire, Durham/London 2014. 37 Vgl. zum Beispiel http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/fernsehen/im-gespraech-david-simon-thewire-zur-hoelle-mit-den-quoten-11054791.html; http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/ themen/148413/index.html [15. 7. 2015].

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literaturgeschichtlich anspielungsreiche Inszenierung38 von Urbanita¨t so auf Dauer gestellt, dass sich das Baltimore der Serie am Ende nicht als abgeschlossenes Werk, sondern allenfalls als weitere Bearbeitungen herausfordernder Laborversuch pra¨sentiert. Damit verdeutlicht auch „The Wire“, wie sich die dichten und heterogenen Vergesellschaftungsformen von Sta¨dten eher als Textur denn als Text, eher als sich vera¨nderndes symbolisches Gewebe denn als klar definierte semiotische Struktur kulturwissenschaftlich und kulturhistorisch beschreiben lassen.39 Diese Textur ist im Unterschied zu Wordsworths Sonett multimedial, und sie spielt zudem mit programmatisch zugespitzten Diskrepanzen zwischen Bild und Ton, Gesagtem und Gezeigtem und Erwartbarem und Erkennbarem.40 Der visuellen und spektakula¨ren Inszenierung der Stadt und ihrer seriell scheiternden Akteure und Institutionen kommt dabei eine herausragende Rolle zu, die in der bereits angesprochenen Zuru¨ckweisung einer finalen totalisierenden Vogelperspektive kulminiert. Entsprechend dieser Schlussbildung werden die Zuschauer der Serie von Beginn an mit Problematisierungen einer aus sicherer Distanz u¨berblickenden Wahrnehmung der Stadt konfrontiert: Im Vorspann zu jeder Staffel taucht beispielsweise eine emble¨ bermatische Einstellung auf, in der ein junger Drogendealer einen Stein in jene U wachungskamera wirft, aus deren Perspektive wir in diesem Moment die Szenerie zu beobachten scheinen. Dieses wiederholte illusionsbrechende Signal ist in seinem ikonoklastischen Gestus mit dem zersto¨rten Fernseher in der Ero¨ffnungs-Szene des Schimanski-„Tatorts“ vergleichbar. In „The Wire“ durchkreuzen die zersto¨rte Kamera und das buchsta¨blich zerspringende Bild zudem das panoptische Regime in ¨ berwachungs-Aktion:41 Die Beobachtung der Droder die Serie strukturierenden U gen-Kriminellen vollzieht sich hier gerade nicht mehr aus einer privilegiert-zentralen ¨ berPosition, sondern in einer Konstellation unu¨bersichtlicher und gegenseitiger U wachung, in der die Dealer ha¨ufig genug Informations-Vorspru¨nge nutzen ko¨nnen. Mit dieser Komplikation des visuellen Regimes ergeben sich auch vera¨nderte Implikationen eines panoramischen Erza¨hlens von Urbanita¨t. Der Anspruch, das Ganze einer Stadt in Bilder und ihre serielle Erza¨hlung zu bannen, wird hier gerade nicht mehr durch totalisierende Einzel-Aufnahmen markiert, sondern realisiert sich allen-

38 Zu historischen und insbesondere den literarischen Verweisen auf den mit Baltimore assoziierten

Autor E. A. Poe vgl. Julika Griem, Komplexe Figur auf dichtem Grund: Baltimore in The Wire, in: Gru¨ndungsorte der Moderne. Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street, hg. v. Maha El Hissy/Sascha Po¨hlmann, Mu¨nchen 2013, S. 273–290. 39 Sicherlich nicht zufa¨llig verwendet auch Mahler, in Stadt-Bilder (wie Anm. 2) den Begriff der „Textur“. Fu¨r eine Weiterentwicklung im Kontext der Diskussionen um die Eigenlogik von Sta¨dten vgl. Rolf Lindner, Textur, imaginaire, Habitus – Schlu¨sselbegriffe der kulturalistischen Stadtforschung, in: Die Eigenlogik der Sta¨dte (wie Anm. 6), S. 83–94. 40 Siehe auch Michael Toolan, „I don’t know what they’re saying but I’m hooked on the series.“ Incomprehensible dialogue and integrated multimodal characterisation in The Wire, in: Telecinematic Discourse: Approaches to the Language of Film and TV Series, hg. v. Roberta Piazza/Monika Bednarek/ Fabio Rossi, University of Sussex 2011, S. 161–183. 41 Zur panoptischen Anlage vgl. Vinzenz Hediger, Einu¨bung in paranoides Denken. „The Wire“, ¨ sthetik des U ¨ berwachungsstaats, in: Glanzlichter der Wissenschaft „Homeland“ und die filmische A 2013. Ein Almanach, hg. v. Deutschen Hochschulverband, 12 (2013), S. 67–70.

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falls als ha¨ufig irritierende Collage von Einzel-Aspekten, die es zu einem Gesamtbild zusammenzufu¨gen gilt, welches sich immer wieder entzieht und neu konfiguriert.42 Durch die gezielt eingesetzte kognitive und hermeneutische Irritation der Rezipienten konnte „The Wire“ zu einem urbanistischen Laborversuch werden, der nicht allein Krimi-Fans, sondern auch Sozialwissenschaftler immer noch nachhaltig fasziniert.43 Die mit der Serie auf vielen Ebenen durchgespielte Erkundung der Stadt Baltimore verwickelt Serien-Figuren wie Zuschauer in teilnehmende Beobachtungen, die dem Ziel einer Stadt-Ethnographie verpflichtet sind, aber das Problem eines exotistischen Voyeurismus nicht ausblenden. Eine praxeologische Dimension dieser Langzeitstudie, die sich aufreizend viel Zeit nimmt, um allta¨gliche Routinen und Rituale zu beleuchten, liegt nicht allein in ihrer Raum-, sondern auch in ihrer Zeitgestaltung: Die Dramaturgie von „The Wire“ la¨sst uns nicht nur punktuell, sondern nachhaltig und systematisch in die Zwischenra¨ume, Hinterzimmer und Nebenstraßen der ¨ konomie eindringen. Sie nimmt sich auch u¨berdurchschnittlich viel Zeit, um Stadt-O bei jenen monotonen Interaktions- und Arbeitsformen zu verweilen, die in konventionelleren Polizei-Serien und Kriminalerza¨hlungen ausgespart werden, weil sie es gerade nicht erlauben, den Alltag der Polizisten und Dealer, der Hafenarbeiter, Politiker, Lehrer und Reporter als spannungsvolles Spektakel zu inszenieren. Auf diese Weise setzt sich die Evokation der Stadt Baltimore in „The Wire“ aus so suggestiv als authentisch in Szene gesetzten Einzel-Aspekten zusammen,44 dass die Serie Journalisten beflu¨gelt, Soziologen und Ethnographen zu Praxisseminaren und Feldversuchen animiert45 und sogar eine Drogen-Gang in New York dazu motiviert hat, ihre Operationen nach dem Vorbild der Serie zu modellieren.46 Durch den geschickt orchestrierten Versuch, literarische wie wissenschaftliche Stadt-Darstellungen im Namen eines engagierten und ethnographisch vorgehenden Lokal-Journalismus zu u¨berbieten,47 hat „The Wire“ insbesondere progressiv gesinnte akademische Zuschauer zu Serien-Fans gemacht, die in ihrer emphatischen Rezeption gelegentlich die Frage vernachla¨ssigen, durch welche Strategien David Simon mit seinem magnum opus eine besonders effektvolle Inszenierung von Authentizita¨t gelungen ist. Die Serie bietet damit die Mo¨glichkeit eines Ausdauer-

42 Zum Problem einer Darstellung des Ganzen der Stadt in „The Wire“ vgl. auch Caroline Levine, Forms.

Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015, Kapitel VI.

43 Zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Rezeption vgl. Frank Kelleter, The Wire and its Readers,

in: The Wire: Race, Class, and Genre, hg. v. Liam Kennedy/Stephen Shapiro, Ann Arbor, M. 2012, S. 33–70. 44 Zur Authentizita¨t vgl. Margrit Tro ¨ hler, Filmische Authentizita¨t. Mo¨gliche Wirklichkeiten zwischen Fiktion und Dokumentation, in: Montage AV13,2 (2004), S. 149–169. 45 Als relevante Auswahl von sozialwissenschaftlichen Reaktionen vgl. die Beitra¨ge in Critical Inquiry 38 (2011), sowie die Beitra¨ge in The Wire: Analysen zur Kulturdiagnostik popula¨rer Medien, hg. v. Michael Cuntz/Jo¨rn Ahrens/Lars Koch/Marcus Krause/Philipp Schulte, Berlin 2014. 46 Vgl. Hua Hsu, Walking in Someone Else’s City: The Wire and the Limits of Empathy, in: Criticism, 3&4, 52 (2010), S. 509–528, hier S. 509f. 47 Zur seriellen Dynamik der U ¨ berbietung Andreas Jahn-Sudmann/Frank Kellter, Die Dynamik seri¨ berbietung. Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality TV, in: Popula¨re Seriaeller U lita¨t (wie Anm. 35), S. 205–224.

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Tests, der in ganz anderer Weise als das eingangs erwa¨hnte Sport-Ereignis als Marathon bezeichnet werden kann: Wer sich mit „The Wire“ die Zeit nimmt, fu¨r u¨ber sechzig Stunden in die seriell und systematisch scheiternde Stadt Baltimore einzutauchen, bekommt die Gelegenheit, die Mo¨glichkeiten und Grenzen der Leitbegriffe von Text, Spektakel und Praxis im Selbstversuch zu u¨berpru¨fen.

ZUR LITERARISCHEN MODELLIERUNG VON URBANITA¨T UND URBANER KOMPLEXITA¨T Literaturwissenschaft im Kontext disziplinenu¨bergreifender Stadtforschung von Jens Martin Gurr

I. Einleitung

Trotz zahlreicher programmatischer Erkla¨rungen zur Notwendigkeit multi-, interoder auch transdisziplina¨rer Forschung zu Fragen urbaner Komplexita¨t und zur Stadt insgesamt, spielen kulturelle Pha¨nomene in der gegenwa¨rtig an Bedeutung gewinnenden, stark quantitativ arbeitenden complexity theory of cities kaum eine Rolle. Genauer: Wa¨hrend etwa das Verhalten von Akteuren und Akteursgruppen, wie es in den Sozialwissenschaften untersucht wird, in aggregierter Form zentraler Bestandteil zahlreicher quantitativer Modelle ist, entziehen sich qualitative Eigenschaften wie die schwer fassbare Zuschreibung der ‚Urbanita¨t‘, aber auch Muster der symbolischen Repra¨sentation sowie der Wahrnehmung und Interpretation urbaner Umwelten als kaum weniger bedeutsame Aspekte des Pha¨nomens ‚Stadt‘ weitgehend der quantitativen Betrachtung und finden in den u¨blichen Modellen und in Analysen urbaner Komplexita¨t kaum Beru¨cksichtigung. Einige prominente Beispiele mo¨gen genu¨gen: Das Vorwort zur von Sergio Albeverio et al. herausgegebenen Sammlung „The Dynamics of Complex Urban Systems“, einem der ambitioniertesten Beitra¨ge zu diesen Fragen, fordert eine fruchtbare Zusammenarbeit u¨ber sa¨mtliche Disziplinengrenzen hinweg – der Band entha¨lt jedoch trotz dieses Anspruchs und seines erheblichen Umfangs keinen auch nur im Entferntesten kulturwissenschaftlichen Beitrag.1 Selbst in der beeindruckend erscho¨pfenden vielba¨ndigen „Springer Encyclopedia of Complexity and Systems Science“ aus dem Jahr 2009 ist etwa in Michael Battys Beitrag zum Stand der Forschung, „Cities as Complex Systems: Scaling, Interaction, Networks, Dynamics and Urban Morphologies“ mit keinem Wort von Kultur die Rede; auch spielen Begriffe und Konzepte wie etwa ‚Urbanita¨t‘ oder ‚Individuali-

1 The Dynamics of Complex Urban Systems: An Interdisciplinary Approach, hg. v. Sergio Albeverio/

Denise Andrey/Paolo Giordano/Alberto Vancheri, Heidelberg 2008.

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ta¨t‘ keinerlei Rolle.2 Auch in den Beschreibungen zu den wohl fu¨hrenden Buchreihen auf diesem Gebiet, „Springer Complexity“ bzw. „Understanding Complex Systems“ (UCS), heißt es zwar, die Reihen umfassten alle etablierten Disziplinen, von geistes- oder kulturwissenschaftlichen Ansa¨tzen ist dann jedoch keine Rede mehr.3 Die mentale, nicht-institutionelle Seite der Kultur in Form symbolisch vermittelter Muster der Wahrnehmung und Deutung menschlicher Umwelten spielt, so scheint es, in der Forschung zu urbaner Komplexita¨t praktisch keine Rolle. Gerade die quantitativ kaum greifbare Gro¨ße der ‚Urbanita¨t‘ ist so jedoch schwerlich fassbar. Der vorliegende Aufsatz macht den Versuch, einen mo¨glichen literaturwissenschaftlichen Beitrag im Kontext einer disziplinenu¨bergreifenden urbanen Komplexita¨tsforschung zu skizzieren. Zentral ist hier der Vorschlag, literarische Texte als eine zu quantitativen Modellen komplementa¨re Form der Modellierung zu verstehen. ¨ berlegungen zu verschiedenen Aspekten urbaner Komplexita¨t und Nach einigen U ihrer ‚Modellierung‘ in verschiedenen Disziplinen und zu den Grenzen quantitativer Modelle, beleuchtet der Beitrag die Leistungen literarischer Texte in der Repra¨sentation individueller Wahrnehmungen und Deutungen urbaner Umwelten und ihrer jeweils spezifischen „Eigenlogik“4, bevor abschließend Parallelen und Anschlu¨sse zwischen quantitativen und literarischen ‚Modellen‘ herausgearbeitet werden. Der Beitrag versucht so zu zeigen, wie literaturwissenschaftliche Forschung zu urbaner Komplexita¨t aussehen ko¨nnte und welchen Beitrag sie ggf. zu transdisziplina¨rer Arbeit an Fragen der urbanen Komplexita¨t leisten ko¨nnte. Meine zentrale These dabei ist, dass die literaturwissenschaftliche Komplexita¨tsforschung gerade die Aspekte urbaner Komplexita¨t in den Vordergrund ru¨ckt, die sich insbesondere der quantifizierenden Modellierung urbaner Komplexita¨t – wie sie etwa fu¨r wirtschafts-, ingenieur- und auch manche gesellschaftswissenschaftliche Ansa¨tze wesentlich ist – weitgehend entziehen, fu¨r ein differenziertes Versta¨ndnis komplexer urbaner Systeme aber essentiell sind. Als eine diesen sta¨rker quantitativen, auf Abstraktion, Aggregation und Verallgemeinerung abzielenden Ansa¨tzen komplementa¨re Betrachtungsweise richtet ein literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansatz das Augenmerk gerade auf die individuellen, spezifischen und damit nicht quantifizierbaren Aspekte urbaner Komplexita¨t, die vielfach erst die Identita¨t und Unverwechselbarkeit bzw. das spezifisch ‚Urbane‘ eines Ortes ausmachen.

2 Michael Batty, Cities as Complex Systems. Scaling, Interaction, Networks, Dynamics and Urban

Morphologies, in: Encyclopedia of Complexity and Systems Science, hg. v. Robert A. Meyers, Berlin 2009, S. 1041–1071. 3 Juval Portugali, Complexity, Cognition and the City, Berlin/Heidelberg 2011; Complexity Theories of Cities Have Come of Age. An Overview with Implications to Urban Planning and Design, hg. v. Juval Portugali/Han Meyer/Egbert Stolk/Ekim Tan, Berlin/Heidelberg 2012. 4 Die Eigenlogik der Sta¨dte. Neue Wege fu¨r die Stadtforschung, hg. v. Helmuth Berking/Martina Lo ¨ w, Frankfurt a. M./New York 2008.

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II. Urbanita¨t, Komplexita¨t und die Grenzen ihrer quantitativen Modellierung

‚Komplexita¨t‘ ist vielfach als vielleicht charakteristischste Eigenschaft urbanen Lebens genannt worden; einige wenige Beispiele mo¨gen hier genu¨gen: In seinem wegweisenden Essay „Die Großsta¨dte und das Geistesleben“ von 1903, einem der bahnbrechenden Texte der fru¨hen Urban Studies, beschreibt Georg Simmel die „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel a¨ußerer und innerer Eindru¨cke hervorgeht“ und „die rasche Zusammendra¨ngung wechselnder Bilder, de[n] schroffe[n] Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdra¨ngender Impressionen“ als „die psychologische Grundlage“ großsta¨dtischen Lebens.5 Auch Kevin Lynchs einflussreiche Untersuchung mentaler Bilder von Sta¨dten in seiner 1960 erschienenen Studie „The Image of the City“ stellt die Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von Sinneseindru¨cken und die daraus resultierende Komplexita¨t als zentrale Eigenschaft urbaner Umwelten heraus: „At every instant, there is more than the eye can see, more than the ear can hear, a setting or a view waiting to be explored. Nothing is experienced by itself, but always in relation to its surroundings, the sequences of events leading up to it, the memory of past experiences. ... Nearly every sense is in operation and the image [we form of the city] is the composite of them all.“6 Die Bedeutung von Vielfalt und Komplexita¨t fu¨r eine lebendige Großstadt betont Jane Jacobs, wenn sie in ihrer zum Klassiker gewordenen Arbeit „The Death and Life of Great American Cities“ von 1961 das „urbane Ballett“ gescha¨ftiger Straßen voller Leben feiert; von den vier Kriterien, die Jacobs fu¨r blu¨hendes urbanes Leben nennt – (1) Viertel mit Mischnutzung, (2) nach Geba¨udetyp, -alter, -gro¨ße und -zustand durchmischte Viertel, (3) hohe Bevo¨lkerungsdichte sowie (4) eher kleine, u¨berschaubare Ha¨userblo¨cke –, bezeichnen mindestens drei verschiedene Facetten von ‚Komplexita¨t‘.7 Frank Eckardt macht in seiner wegweisenden Studie „Die komplexe Stadt: Orientierungen im urbanen Labyrinth“ von 2009, einem der ambitioniertesten neueren Versuche, die disziplina¨r zersplitterten Urban Studies durch ein gemeinsames Forschungsparadigma zusammenzufu¨hren, gar den Vorschlag, das Pha¨nomen der Komplexita¨t als die zentrale Eigenschaft der Stadt aufzufassen und die Stadtforschung transdisziplina¨r als urbane Komplexita¨tsforschung zu organisieren.8 Die Studie bleibt jedoch nach einem Einstieg u¨ber die literarische Inszenierung von Komplexita¨t (hier am Beispiel von Do¨blins „Berlin Alexanderplatz“9) eine im Wesentli5 Georg Simmel, Die Großsta¨dte und das Geistesleben, Frankfurt a. M. 2006, S. 9f., Hervorhebung im

Original. 6 Kevin Lynch, The Image of the City, Cambridge, MA 1960, S. 1–2. 7 Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities, New York 1961, S. 54. 8 Frank Eckardt, Die komplexe Stadt: Orientierungen im urbanen Labyrinth, Wiesbaden 2009. 9 Alfred, Do ¨ blin, Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf, hg. v. Werner Stauffa-

cher, Mu¨nchen 1965.

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chen soziologische Studie, die etwa fu¨r natur-, ingenieurs- und planungswissenschaftliche Ansa¨tze kaum Anschlu¨sse formuliert. Schließlich spricht auch Juval Portugali, einer der fu¨hrenden Vertreter der „complexity theory of cities“, in seiner wegweisenden Monographie „Complexity, Cognition and the City“ in bemerkenswert a¨hnlicher Weise von der „really complex situation that concerns individuals under a bombardment of information, that is, under a multiplicity of messages from a multiplicity of sources and of all kinds. This is typical of the dynamics of cities: every agent operating in the city is continually subject to a multiplicity of messages in the form of views, noises, smells etc. In order to behave and survive, the agent ... must make sense of all those signals and messages.“10 Viele der in der Forschung ha¨ufig genannten Eigenschaften urbaner Komplexita¨t sind auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zentral. So sieht Portugali etwa in hilfreicher Weise die Komplexita¨t der Stadt definiert durch die „sehr große Zahl interagierender Teile, verbunden durch ein Netz von Wirkungs- und Ru¨ckkopplungsschleifen in einem System, das seiner Umwelt gegenu¨ber offen und damit Teil von ihr ist“.11 Weitere vielfach genannte Eigenschaften von Komplexita¨t sind etwa Selbstorganisation, Emergenz, Nichtlinearita¨t, Phasenu¨berga¨nge, Dichte, Mobilita¨t (als Ursache von Wandel wie als Anlass fu¨r vermehrte Interaktion und [ethnische] Mischung), ethnische und kulturelle Vielfalt, Heterogenita¨t und Hybridita¨t, Raumnutzungs¨ berlagerungen von Technologie und virtuellen Ra¨umen mit physisch konflikte, U ¨ berschneidungen und wechselseitige Beeinflussung verschiedener erlebtem Raum, U ra¨umlicher Gro¨ßenordnungen vom Lokalen zum Globalen, raschem Wandel unterliegende Abha¨ngigkeiten und Wechselwirkungen in der Interaktion verschiedenster Akteure und Kra¨fte, die aus dem urbanen Raum ein klassisches Feld translokaler Netzwerke und komplexer Ursache-Wirkungsgefu¨ge machen. Hinzu kommt, wie schon in Portugalis Definition deutlich wurde, dass die Stadt als offenes oder ‚dissipatives‘ System (im technischen Sinne) nicht von ihrer Umwelt isoliert werden kann, sondern mit ihr Stoffstro¨me, Energie, Informationen, Menschen etc. austauscht. Wie aber finden Urbanita¨t und urbane Komplexita¨t Beru¨cksichtigung in den gegenwa¨rtig dominanten Formen quantitativer Modellierung urbaner Systeme? In einem gemeinsamen Aufsatz befassen sich Portugali und Hermann Haken mit dem Informationsgehalt der gebauten physischen Struktur der Stadt.12 In einem programmatisch mit „How Many Bits to the Face of the City?“ betitelten Abschnitt heißt es

10 Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 232f. 11 Juval Portugali, Complexity Theory as a Link between Space and Place, in: Environment and Plan-

ning A 38 (2006), S. 657; vgl. auch Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 232.

12 Hermann Haken/Juval Portugali, The Face of the City is its Information, in: Journal of Environ-

mental Psychology 23 (2003), S. 385–408; vgl. auch Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 167–210, Kap. 8: Shannonian Information and the City (S. 167–187) und Kap. 9: Semantic Information and the City (S. 187–210). Diese mit Hermann Haken verfassten Kapitel gehen in weiten Teilen auf den gemeinsamen Aufsatz zuru¨ck.

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hier: „From the point of view of information theory, the face of the city is a message. As a message it conveys and transmits different quantities of Shannonian information“.13 Im Sinne informationstheoretischer Komplexita¨t entha¨lt die Stadt – selbst wenn wir nur ihre physische Form betrachten und von der Interaktion von Millionen von Menschen mit ihren je eigenen Wahrnehmungen, Einscha¨tzungen und Reaktionen zuna¨chst einmal ganz absehen – offensichtlich praktisch unendlich viel Information. Was nun die ‚Messung‘ oder ‚Quantifizierung‘ urbaner Komplexita¨t betrifft, so ist offensichtlich, dass die u¨blichen mathematischen und technischen Maßsta¨be kaum hilfreich sind. Weder algorithmische oder Kolmogorov-Komplexita¨t (also die La¨nge des ku¨rzesten Algorithmus, der eine gegebene Informationssequenz reproduziert)14, noch Bennetts Konzept der „logischen Tiefe“ (im Wesentlichen eine Maßeinheit der zur Berechnung und Darstellung einer gegebenen Informationsfolge no¨tigen Zeit), noch „effektive Komplexita¨t“ im Sinne Gell-Manns, 15 noch das informationstheoretische Maß der Entropie, noch die Frage der Berechenbarkeit im Sinne von Poder NP-Problemen fu¨hren hier weiter: Bei der Beschreibung der fu¨r urbane Systeme charakteristischen Form von Komplexita¨t – vielfa¨ltige wechselseitige Abha¨ngigkeiten und Wechselwirkungen einer großen Zahl heterogener Elemente, u¨berlappende ra¨umliche Gro¨ßenordnungen, verschiedenste Formen der Selbstorganisation und Emergenz – ergibt sich weitgehend unabha¨ngig von der verwendeten Maßeinheit ein gewaltiges Maß an Komplexita¨t. Diese Komplexita¨t ist jedoch nicht jenseits der Verstehbarkeit oder Berechenbarkeit: „The significant achievement of complexity theories is to show that even [under such complex conditions] a scientific approach is possible“.16 Die Lo¨sung, so Portugali, liegt in der Informationsverdichtung und Datenkompression. Nun ist strategische oder heuristische Reduktion von Komplexita¨t natu¨rlich Bestandteil nahezu jedes Modellierungsversuchs – die Herausforderung liegt dabei in aller Regel darin zu entscheiden, welche Gro¨ßen bei der Modellierung außer Betracht bleiben ko¨nnen bzw. in aggregierter Form Eingang in das Modell finden ko¨nnen, ohne das Gesamtbild zu verfa¨lschen. Dies wiederum wird in der Regel davon abha¨ngen, welches Erkenntnisinteresse mit dem Modell verfolgt wird, ob also das Modell etwa eine vollsta¨ndige Erfassung aller Systemzusammenha¨nge leisten soll oder ob nur die zur Unterstu¨tzung von Gestaltungsentscheidungen wesentlichen Parameter erfasst werden sollen. In beiden Fa¨llen gilt es, den heuristischen Charakter des Modells nicht aus den Augen zu verlieren. Cohen und Stewart bemerken in diesem Zusammenhang treffend:

13 Haken/Portugali, Face (wie Anm. 12), S. 403; Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 179–186. 14 Ming Li/Paul M. B. Vita´nyi, An Introduction to Kolmogorov Complexity and its Applications, New

York/Berlin 1993.

15 Murray Gell-Mann, What is complexity?, in: Complexity 1/1 (1995), S. 16–19; Murray Gell-Mann,

The Quark and the Jaguar: Adventures in the Simple and the Complex, London 1995. 16 Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 231–233.

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„Mathematical descriptions of nature are not fundamental truths about the world, but models. There are good models and bad models and indifferent models, and what model you use depends on the purposes for which you use it and the range of phenomena which you want to understand. ... Reductionist rhetoric ... claims a degree of correspondence between deep underlying rules and reality that is never justified by any actual calculation or experiment.“17 Auch Lefebvre betont die Ambivalenz dieser Komplexita¨tsreduktion als einem notwendigen heuristischen Schritt im Umgang mit Komplexita¨t, betont jedoch auch die damit verbundenen Gefahren des Reduktionismus: „Reduction is a scientific procedure designed to deal with complexity and chaos of brute observations. This kind of simplification is necessary at first, but it must be quickly followed by the gradual restoration of what has thus been temporarily set aside for the sake of analysis. Otherwise a methodological necessity may become a servitude, and the legitimate operation of reduction may be transformed into the abuse of reductionism.“18 ¨ berblick zu „Complexity Theory and the Social In seinem hervorragenden U Sciences“ bemerkt schließlich auch David Byrne in vergleichbarer Weise, die complexity science sei in ihren Zielen und Methoden „eindeutig quantitativ“19 orientiert und weist auf drei grundsa¨tzliche caveats und Grenzen solcher quantitativen Analyse und Modellierung hin: „1. the limits to formalisation of any mathematical system established by Go¨del 2. the limits to capacity of measurement central to deterministic chaos; and 3. the working limits for expression of mathematical formalism derived from the non-linearity of the real systems with which chaos/complexity is concerned.“20 Spezifischer und mit Blick auf die praktischen Grenzen der Modellierung urba¨ berblicksbeitrag zum ner Systeme kommentiert Portugali in einem erhellenden U Forschungsstand zur „Complexity Theories of Cities: Achievements, Criticism and Potentials“ ein zentrales Problem in vielen Anwendungen der Komplexita¨tstheorie in der urbanen Modellierung:

17 Jack Cohen/Ian Stewart, The Collapse of Chaos. Discovering Simplicity in a Complex World, Har-

mondsworth 1995, S. 410. 18 Henri Lefebvre, The Production of Space. Trans. Donald Nicholson-Smith, Oxford 1991, S. 105f. 19 David Byrne, Complexity Theory and the Social Sciences. An Introduction, London 1998, S. 5. 20 Ebd., S. 5, fu¨r eine sehr erhellende Diskussion dieser inha¨renten Grenzen quantitativer Modellierung:

S. 54–71.

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„There is nothing wrong ... in sophisticated simulation models crunching huge quantities of data by means of fast computers. What’s wrong is ... that simulation models originally designed as media by which to study phenomena of complexity and self-organization become the message itself.“21 Im Ergebnis, so Portugali, neigten „Vertreter urbaner Simulationsmodelle dazu, ¨ bersetzung des die nicht-quantifizierbaren urbanen Pha¨nomene zu u¨bersehen“ (U Autors).22 In seiner Einleitung zum selben Band sucht Portugali dieses Versa¨umnis mit Hinweis auf das Forschungsinteresse der meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Bereich der CTC (complexity theories of cities) zu erkla¨ren: „Some are physicists for whom cities is [sic] just another source for quantitative data with which to test their models, while others are urbanists who see CTC as the new and more sophisticated generation of the ‚old‘ quantitative approach to cities. By so doing they overlook the qualitative message of CTC.“23 Die folgende rhetorische Frage in Portugalis Einleitung zum selben Band la¨sst jedoch auch die Grenzen dieser Betrachtungsweise erkennen: „But what about the uniqueness of cities – of the properties that differentiate them from material and organic entities, how do these [relate] to their complexity and dynamics?“24 Was Portugali zufolge also fehlt, ist lediglich die Analyse dessen, was Sta¨dte als solche von anderen komplexen Systemen unterscheidet; die weitergehende Frage, was eine bestimmte

21 Juval Portugali, Complexity Theories of Cities. Achievements, Criticism and Potentials, in: Com-

plexity Theories of Cities (wie Anm. 3), S. 52.

22 Portugali argumentiert ferner, dass sich „qualitative urbane Pha¨nomene nicht fu¨r die quantitative sta-

tistische Analyse anbieten und daher fu¨r den Mainstream der urbanen Komplexita¨tsforschung kaum von Interesse sind“, vgl. Portugali, Complexity Theories (wie Anm. 21), S. 54. In einer anderen neueren Arbeit begru¨ndet er die Unterschiede etwas schematisch mit den jeweils unterschiedlichen Methoden der Natur- bzw. Sozialwissenschaften: „The methodological tools of the ‚hard‘ sciences are reductionism, mathematical formalism, statistical analysis and explanation, while those of the ‚soft‘ humanities and social theory are the exact opposite: anti-reductionism, understanding in place of explanation, and hermeneutics in place of analysis“, vgl. Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 227. Wie Portugali fordert auch Klaus Mainzer, (Thinking in Complexity. The Computational Dynamics of Matter, Mind and Mankind, Berlin 52007, S. 12) eine sta¨rkere Beru¨cksichtigung der Bedeutung qualitativer Eigenschaften eines Systems und postuliert, dass die Komplexita¨tsforschung hier als Verbindung dienen ko¨nne: „Contrary to any reductionistic kind of naturalism and physicalism we recognize the characteristic intentional features of human societies. Thus the complex system approach may be a method of bridging the gap between the natural sciences and the humanities that was criticized in Snow’s famous ‚two cultures‘“. Fu¨r eine erhellende wenngleich vielfach schematische Problematisierung der „zwei Kulturen“ im Kontext der urbanen Komplexita¨tsforschung vgl. Portugali, Complexity (wie Anm. 3), S. 9–52; vgl. auch Stephen Read, Meaning and Material. Phenomenology, Complexity, Science, and Adjacent Possibilities, in: Complexity Theories of Cities (wie Anm. 3), S. 105–127, sowie weitere Beitra¨ge ebd. 23 Juval Portugali, Introduction, in: Complexity Theories of Cities (wie Anm. 3), S. 4. 24 Ebd.

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Stadt einzigartig macht – wie sie etwa in der Forschung zur „Eigenlogik der Sta¨dte“25 zentral ist –, scheint ihm offenbar nicht von Bedeutung zu sein, geschweige denn die Einzigartigkeit von Individuen in der Stadt und deren Wahrnehmung ihres Umfelds. Was aber sind die Folgen dieser Art von Reduktion? Wa¨hrend Rolf Lindner argumentiert hat, „[d]ie Stadt der Soziologen [sei] fu¨r gewo¨hnlich ein unsinnlicher Ort, eine Stadt, die man nicht ho¨rt, nicht riecht, nicht schmeckt, genau genommen ein Nicht-Ort“26, scheint mir dies fu¨r die Stadt der Modellierer und Komplexita¨tstheoretiker quantitativer Pra¨gung umso mehr zu gelten. ¨ hnlich problematisch sind rein quantifizierende Zuga¨nge bei den spezifischeA ren Fragen nach der Definition der ‚Metropole‘ und mehr noch nach dem Wesen der ‚Urbanita¨t‘: Natu¨rlich ist es sinnvoll, Sta¨dte nach verschiedenen Kriterien zu klassifizieren, und die verschiedenen historischen und aktuellen Versuche, den Metropolencharakter von Sta¨dten anhand verschiedener Kriterien zu definieren, sind durchaus erhellend.27 Aber die Begriffe sind eben auch nicht nur deskriptiv und mit quantifizierbaren Kriterien fassbar. So oszilliert etwa der Begriff ‚Metropole‘ in merkwu¨rdiger Weise zwischen einem an mehr oder weniger objektiven Kriterien festzumachenden Status etwa als Finanzzentrum, als Verkehrsknotenpunkt, als Wissenschaftsoder Medienstandort einerseits und einem schwer fassbaren ‚Metropolengefu¨hl‘ kultureller Offenheit und Vielfalt andererseits. ‚Metropole‘ und mehr noch ‚Urbanita¨t‘ implizieren mehr oder weniger stark normative Setzungen, ein kulturelles Versprechen, geradezu eine utopische Verheißung.28 Trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen beim Versta¨ndnis einer Vielzahl anderer Aspekte urbaner Komplexita¨t (etwa demographische Entwicklungen, Infrastrukturplanung, Energie- und Stoffstro¨me) zeigen sich hier, bei der Behandlung nur qualitativ sinnvoll verstehbarer sta¨dtischer Pha¨nomene wie etwa der Eigenschaft der Urbanita¨t, aber auch beim Versta¨ndnis individueller Deutungs- und Wahrnehmungsmuster, die zentralen Schwa¨chen rein quantitativer Modelle.

25 Eigenlogik (wie Anm. 4). 26 Rolf Lindner, Textur, imaginaire, Habitus – Schlu¨sselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung,

in: Eigenlogik (wie Anm. 4), S. 92. Marc Auge´s Konzept der „Nicht-Orte“ wird hier nicht explizit genannt, scheint aber deutlich impliziert zu sein: Marc Auge´, Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity, London 1995. 27 Als fru¨he einflussreiche Studie vgl. Peter Hall, The World Cities. London 1966; als viel diskutierten neueren Beitrag vgl. Saskia Sassen, The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton 22001; als ¨ berblick vgl. Dirk Bronger, Metropolen – Megasta¨dte – Global Cities. Die Metropolisierung der U Erde, Darmstadt 2004. 28 Vgl. Jens Martin Gurr, Urbanity, Urban Culture and the European Metropolis, in: Britannien und Europa – Studien zur Literatur-, Geistes- und Kulturgeschichte. Festschrift fu¨r Ju¨rgen Klein, hg. v. Michael Szczekalla, Frankfurt a. M. 2010, S. 241–255; Jens Martin Gurr, Urbane Systeme, die Geisteswissenschaften und die Metropole Ruhr. Interdisziplina¨re Metropolenforschung vor der Haustu¨r und in aller Welt, in: UNIKATE 38 (2010), S. 8–17.

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III. Literarische Texte als komplementa¨re Form der Modellierung

Diese ‚weicheren‘, kaum zu quantifizierenden Eigenschaften urbaner Komplexita¨t sind jedoch zentral fu¨r die Erfahrung urbaner Lebenswelten und fu¨r die Zuschreibung von ‚Urbanita¨t‘. In diesem Sinne nennt Mainzer zusa¨tzlich zu den u¨blichen Facetten von Komplexita¨t wie „Hierarchie und Emergenz, Nicht-Linearita¨t, Asym¨ berzeugungen, Menschen, metrie, Anzahl der Verbindungen“ auch „Werte und U ¨ bersetzung des Autors).29 Genau Interessen, Konzepte und Wahrnehmungen“ (U hier, so meine These, liegt die Sta¨rke eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes, der Texte als alternative Form der Modellbildung begreift: Obwohl es natu¨rlich mo¨glich ist, einzelne ‚subjektive‘ Aspekte in quantitative Modelle eingehen zu lassen (etwa durch die Einbeziehung gruppenspezifischer kultureller Pra¨ferenzen), sind es genau die individuellen, einzigartigen, historisch und perso¨nlich spezifischen, nicht auf zugrunde liegende Muster reduzierbaren Aspekte, die bei der Abstraktion vom Individuum und bei der Aggregierung von Pra¨ferenzen, Bedu¨rfnissen, Hoffnungen oder Befu¨rchtungen in eine Gleichung verschwinden. Zudem ist zwar das Konzept der ‚Geschichte‘ eines Systems – in dem Sinne, dass fru¨here Zusta¨nde und Entwicklungen gegenwa¨rtige und zuku¨nftige Zusta¨nde beeinflussen – fu¨r die urbane Modellierung zentral (etwa, indem bisherige Entwicklungen zu Vorhersagezwecken extrapoliert werden); ein spezifischer Aspekt der Geschichte einer Stadt, der fu¨r ein literaturund kulturwissenschaftliches Versta¨ndnis urbaner Systeme von besonderer Bedeutung ist, spielt fu¨r quantitative Modelle jedoch kaum eine Rolle: Dies ist das Versta¨ndnis der Stadt als Palimpsest, als Form geschichteten verra¨umlichten Geda¨chtnisses.30 Gerade individuelle und kollektive Erinnerungen und die Formen, in denen sie sich in der gebauten Umwelt physisch manifestieren und von ihr hervorgerufen werden, sind jedoch zentrales Thema zahlreicher literarischer Texte.31 29 Mainzer, Thinking in Complexity (wie in Anm. 22), S. 374. Die Begriffe erscheinen in einem Schau-

bild, also ohne lineare Abfolge; Reihenfolge des Autors.

30 Zu verschiedenen Aspekten der Konzeptualisierung der Stadt als Palimpsest, vgl. Aleida Assmann,

Geschichte findet Stadt, in: Kommunikation – Geda¨chtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem Spatial Turn, hg. v. Moritz Csaky/Christoph Leitgeb, Bielefeld 2009, S. 13–27; David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Inquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989, S. 66; Dieter Hassenpflug, Walter Benjamin und die Traumseite der Stadt, in: Reflexive Urbanistik. Reden und Aufsa¨tze zur europa¨ischen Stadt, hg. v. Dems., Weimar 2006, S. 7–22; Dieter Hassenpflug, Once Again. Can Urban Space be Read?, in: Reading the City. Developing Urban Hermeneutics/Stadt lesen. Beitra¨ge zu einer urbanen Hermeneutik, hg. v. dems./Nico Giersig/Bernhard Stratmann, Weimar 2011, S. 49–58; Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Palo Alto 2003; Charles Martindale, Ruins of Rome. T. S. Eliot and the Presence of the Past, in: Arion 3/2–3 (1996), S. 102–40; William Sharpe/Leonard Wallock, From ‚Great Town‘ to ‚Nonplace Urban Realm‘. Reading the Modern City, in: Visions of the Modern City. Essays in History, Art, and Literature, hg. v. Dens., Baltimore 1987, S. 1–50; Gerald D. Suttles, The Cumulative Texture of Local Urban Life, in: American Journal of Sociology 90/2 (1984), S. 283–304. Fu¨r eine literaturwissenschaftliche Darstellung s. bes. Sarah Dillon, The Palimpsest. Literature, Criticism, Theory, New York 2007. 31 Fu¨r eine detaillierte Diskussion eines spezifischen zentralen Beispieltexts vgl. Jens Martin Gurr, The Modernist Poetics of Urban Memory and the Structural Analogies between ‚City‘ and ‚Text‘. The Waste Land and Benjamin’s Arcades Project, in: Recovery and Transgression. Memory in American Poetry, hg. v. Kornelia Freitag u. a., Newcastle/Cambridge 2015.

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Die vielleicht zentrale Herausforderung fu¨r die literarische ‚Modellierung‘ jedoch liegt in der Vielzahl von Sinneseindru¨cken und der daraus resultierenden Reizu¨berflutung und dem semiotischen ‚Overkill‘ als Ergebnis einer Vielzahl von Zeichensystemen, allgegenwa¨rtiger Zeichenhaftigkeit und unaufho¨rlicher Sinnproduktion in urbanen Kontexten, die in den Beschreibungen von Simmel, Lynch, Jacobs und Portugali schon mehr oder weniger explizit als zentrale Merkmale urbaner Komplexita¨t und ‚Urbanita¨t‘ beschrieben werden. Etwas u¨berspitzt ließe sich behaupten, narrative Darstellungen urbaner Komplexita¨t ha¨tten sich im Wesentlichen zu beweisen an der Widerlegung von Lessings zentraler Annahme in Laokoon – der klassischen Abhandlung „u¨ber die Grenzen der Mahlerey und Poesie“, wie es im Untertitel heißt –, dass Literatur zur u¨berzeugenden Darstellung von Gleichzeitigkeit ungeeignet und im Grunde nicht in der Lage sei.32 Nun ist die Darstellung gleichzeitiger Eindru¨cke einerseits eine zentrale Anforderung an narrative Darstellungen urbaner Komplexita¨t, ist doch Gleichzeitigkeit, die Simultanita¨t einer Vielzahl (bedeutsamer oder trivialer) Geschehnisse, zentrales Merkmal urbaner Komplexita¨t; andererseits ist es gerade Simultanita¨t, die fu¨r das Erza¨hlen eine besondere Herausforderung bedeutet: Andere Aspekte urbaner Komplexita¨t – vielfa¨ltige Ursache-WirkungGefu¨ge, Interessenkonflikte um die Nutzung urbaner Ra¨ume, soziale und kulturelle Heterogenita¨t oder auch der kleinra¨umige Einfluss globaler Entwicklungen auf Menschen eines einzelnen Viertels – bereiten grundsa¨tzlich keine wesentlichen erza¨hlerischen Schwierigkeiten und lassen sich etwa durch die Konfrontation verschiedener Charaktere darstellen. Aus erza¨hltheoretischer Perspektive ist somit die Darstellung von Gleichzeitigkeit bei der Untersuchung literarischer Repra¨sentationen urbaner Komplexita¨t von besonderem Interesse. ¨ berleInteressanterweise beginnt selbst Eckardts eingangs erwa¨hnte Studie mit U gungen zur literarischen Darstellung gleichzeitig zu verarbeitender Sinneseindru¨cke, hier am Beispiel eines Zitats aus Do¨blins Berlin-Roman.33 Gleichzeitigkeit als zentrales Merkmal des Urbanen spielt dann jedoch im Verlauf der Studie praktisch keine Rolle mehr. Dies gilt auch fu¨r die allermeisten der zahllosen Studien zu urbanen Imaginarien in Literatur und Film,34 in denen Komplexita¨t – geschweige denn Gleich-

32 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder u¨ber die Grenzen der Malerei und Poesie mit beila¨ufi-

gen Erla¨uterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte [1766], in: Lessing. Ausgewa¨hlte Werke, hg. v. Wolfgang Stammler, Bd. III, Mu¨nchen 1959, S. 1–150. 33 Eckardt, Die komplexe Stadt (wie Anm. 8), S. 7. 34 Vgl. etwa Robert Alter, Imagined Cities: Urban Experience and the Language of the Novel, New Haven 2005; Maria Balshaw/Liam Kennedy, Introduction, in: Urban Space and Representation, hg. v. Kennedy Balshaw, London 2000, S. 1–21; Peter I. Barta, Bely, Joyce, and Do¨blin. Peripatetics in the City Novel, Gainesville 1997; Peter Brooker, New York Fictions. Modernity, Postmodernism, The New Modern, London 1996; Peter Brooker, Modernity and Metropolis. Writing, Film and Urban Formations, Houndmills 2002; City Images. Perspectives from Literature, Philosophy, and Film, hg. v. Mary Ann Caws, New York 1991; Desmond Harding, Ulysses and Manhattan Transfer. A Poetics of Transatlantic Literary Modernism, in: Writing the City. Urban Visions & Literary Modernism, hg. v. Dems., New York 2003, S. 97–136; Richard Lehan, The City in Literature. An Intellectual and Cultural History, Berkeley 1998; Postmodern New York City. Transfiguring Spaces – Raum-Transformationen, hg. v. Gu¨nter Lenz/Utz Riese, Heidelberg 2003; The Cambridge Companion to the Literature of Los Angeles, hg. v. Kevin R. McNamara, Cambridge 2010; Die Unwirklichkeit der Sta¨dte. Groß-

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zeitigkeit –, wenngleich ha¨ufig impliziert, kaum als Thema figuriert, obwohl es, wie unza¨hlige Stadtgedichte und -romane belegen, zentrales Thema der Stadtliteratur ist. Ich habe in einem fru¨heren Beitrag anhand des Zusammenhangs zwischen der Komplexita¨t urbaner Lebenswelten und ethisch-moralischer Komplexita¨t in einigen Beispieltexten seit dem 17. Jahrhundert exemplarisch gezeigt, dass die Darstellung der verschiedensten Aspekte urbaner Komplexita¨t vielfach auf die Darstellung von Gleichzeitigkeit hinausla¨uft.35 Die Diskussion kann hier nicht wiederholt werden; grundlegend ist jedoch die Feststellung, dass Strategien der Darstellung urbaner Komplexita¨t in erheblichem Maße Strategien der Darstellung von Gleichzeitigkeit sein mu¨ssen; umgekehrt gilt, dass die Darstellung von Gleichzeitigkeit als dem zentralen Aspekt urbaner Komplexita¨t in aller Regel andere Aspekte der Komplexita¨t beinhaltet oder zumindest impliziert, seien es ethisch-moralische Dilemmata, komplexe Gefu¨ge von Ursache und Wirkung oder vielschichtige Wechselwirkungen zwischen verschiedenen ra¨umliche Gro¨ßenordnungen. Diese Vielschichtigkeit, Komplexita¨t, ja Ambivalenz und Widerspru¨chlichkeit ist zudem zentrales Merkmal von Urbanita¨t. So argumentiert Siebel in einem Beitrag u¨ber „Wesen und Zukunft der europa¨ischen Stadt“: „Die gute Stadt bietet Sicherheit und Ordnung. Aber sie muss auch Raum lassen fu¨r Unordnung und Unsicherheit. Urbanita¨t richtet sich auch gegen die o¨ffentliche Ordnung, gegen die glatte, u¨bersichtliche, licht- und sonnendurchflutete Stadt des gesitteten Bu¨rgertums. ... Die Kritik an den Nachtseiten der Urbanita¨t, an ihrer Lasterhaftigkeit, an Anonymita¨t, Isolation und Dschungelhaftigkeit der grossen Stadt hat durch und durch Recht. Aber sie hat auch Unrecht, denn sie verkennt, dass das, was sie kritisiert, zugleich Voraussetzung ist fu¨r die Hoffnungen, die sich von je her mit der Stadt verbunden haben: dass sie ein Ort sei, wo man unbehelligt von den dichten Kontrollen do¨rflicher Nachbarschaft sein eigenes Leben leben kann. Die urbane Stadt bietet noch fu¨r die ausgefallensten Verhaltensweisen einen Ort und noch fu¨r das seltsamste Bedu¨rfnis die gewu¨nschte Befriedigung.“36 stadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, hg. v. Klaus R. Scherpe, Reinbek 1988; Manfred Smuda, Die Großstadt als ‚Text‘, Mu¨nchen 1992; Doris Teske, Die Vertextung der Metropole. London im Spiel postmoderner Texte, Trier 1999; Hana Wirth-Nesher, City Codes. Reading the Modern Urban Novel, Cambridge 1996; Julian Wolfreys, Writing London. The Trace of the Urban Text from Blake to Dickens, London 1998; Julian Wolfreys, Writing London 2: Materiality, Memory, Spectrality, London 2004; Julian Wolfreys, Writing London 3: Inventions of the City, London 2007. Einige Bemerkungen zu urbaner Komplexita¨t finden sich etwa in Bart Keunen, Living with Fragments. World Making in Modernist City Literature, in: Modernism, hg. v. Astradur Eysteinsson/ Vivian Liska, Amsterdam 2007, S. 271–290 und Stefan L. Brandt, The City as Liminal Space. Urban Visuality and Aesthetic Experience in Postmodern U. S. Literature and Cinema, in: Amerikastudien/ American Studies 54/4 (2009), S. 553–581; explizit dazu vgl. Cityscapes in the Americas and Beyond. Representations of Urban Complexity in Literature and Film, hg. v. Jens Martin Gurr/Wilfried Raussert, Trier/Tempe, AZ 2011. 35 Jens Martin Gurr, The Literary Representation of Urban Complexity and the Problem of Simultaneity. A Sketchy Inventory of Strategies, in: Cityscapes (wie Anm. 34), S. 13–16. 36 Walter Siebel, Wesen und Zukunft der europa¨ischen Stadt, in: DISP 141 (2000), S. 32.

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Gerade diese Individualita¨t menschlichen Verhaltens und menschlicher Wahrnehmungen der eigenen Umwelt ist es, die in literarischen Texten in einzigartig differenzierter Weise Ausdruck findet. Trotz der „engen Beziehung zwischen dem Roman und der Stadt“37 stellt insbesondere die fu¨r urbane Lebenswelten so zentrale Gleichzeitigkeit fu¨r ihre literarische Repra¨sentation eine erhebliche Herausforderung dar, die zur Entstehung zahlreicher Strategien zu ihrer Bewa¨ltigung gefu¨hrt hat. Gemeinsam ist all diesen Strategien der Repra¨sentation, dass sie die „unsinnliche ... Stadt der Soziologen“38 und der quantitativen Systemmodellierung als einen sinnlich wahrnehmbaren Ort individueller Wahrnehmungen, Bewertungen und Reaktionen sinnfa¨llig machen. Diese Strategien ermo¨glichen es nicht zuletzt, der jeweils spezifischen „Eigenlogik“39 eines bestimmten urbanen Umfelds und – mehr noch – den individuellen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ihrer – in literarischen Texten meist fiktiven – Bewohner gerecht zu werden. An dieser Stelle ist auf einen grundsa¨tzlichen Unterschied im Status und Versta¨ndnis des ‚Modells‘ in den verschiedenen Fachkulturen hinzuweisen: Wa¨hrend in der ‚technisch-mathematisch‘ orientierten Komplexita¨tsforschung das Modell Ergebnis der eigenen wissenschaftlichen Arbeit ist, fungiert in dem hier vorgestellten literaturwissenschaftlichen Ansatz der literarische Text als Modell und ist damit Untersuchungsgegenstand statt Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit. Trotz des grundsa¨tzlich anderen Status des ‚Modells‘ in der quantitativen Modellierung urbaner Komplexita¨t einerseits und in der Analyse literarischer Modellbildungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft andererseits, gibt es zwischen diesen ¨ berschneidungen im Versta¨ndnis des Komplexieinige bedeutsame Parallelen und U ta¨tsbegriffs – Selbstorganisation, Pha¨nomene der Emergenz, Phasenu¨berga¨nge, lokalglobale Wechselwirkungen etc. –, die durchaus auch fu¨r literarische ‚Modellierungen‘ urbaner Komplexita¨t von Bedeutung sind (umgekehrt gilt dies, wie oben gezeigt, nicht in gleichem Maße). Kennzeichen der meisten technischen Komplexita¨tsmaße ist es zudem, dass sie die Komplexita¨t eines Systems anhand der La¨nge oder Komplexita¨t einer Beschreibung oder Repra¨sentation dieses Systems messen. Einige Komplexita¨tstheoretiker haben gar argumentiert, „Komplexita¨t [sei] nicht in erster Linie eine Eigenschaft des beschriebenen Objekts, sondern der Beschreibung selbst“.40 Dieser Gedanke bietet sich an als Bru¨cke zwischen technischen oder mathematischen und kulturellen Konzepten von Komplexita¨t. Wesentlich fu¨r eine literaturwissenschaftliche Betrachtung, so ließe sich argumentieren, ist weniger die Komplexita¨t der Stadt selbst als vielmehr die sprachliche Repra¨sentation dieser Komplexita¨t, also ihre Beschreibung im Modell des literarischen Texts. Auch die Literaturwissenschaft befasst sich somit mit der Herausforderung, urbane Komplexita¨t zu ‚modellieren‘ bzw. – in der u¨blicheren literaturwissenschaftlichen Terminologie – mit ihrer Repra¨sentation. Wo es also die quantitativ arbeitende Komplexita¨tsforschung mit

37 Alter, Imagined Cities (wie Anm. 34), S. ix. 38 Lindner, Textur (wie Anm. 26), S. 92. 39 Eigenlogik (wie Anm. 4). 40 Klaus Richter/Jan-Michael Rost, Komplexe Systeme, Frankfurt a. M. 2002, S. 112.

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der mathematischen Beschreibung urbaner Komplexita¨t zu tun hat, geht es in literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansa¨tzen um die sprachliche Beschreibung dieser Komplexita¨t. Gell-Manns Konzept der „effektiven Komplexita¨t“ stellt eine weitere bedeutsame Verbindung zwischen einem quantitativ-technischen und einem qualitativ-literarischen Komplexita¨tsversta¨ndnis her: „A measure that corresponds much better to what is usually meant by complexity in ordinary conversation, as well as in scientific discourse, refers not to the length of the most concise description of an entity ..., but to the length of a concise description of a set of the entity’s regularities. Thus something almost entirely random, with practically no regularities, would have effective complexity near zero. So would something completely regular, such as a bit string consisting entirely of zeroes. Effective complexity can be high only a region intermediate between total order and complete disorder.“41 Genau dieser Zustand zwischen Ordnung und Unordnung nun ist offensichtlich gerade fu¨r die Stadt charakteristisch: Im Sinne der „effektiven Komplexita¨t“ ist sie ein System mit vielfa¨ltigen Verbindungen und Wechselwirkungen, in dem jedoch keineswegs absolut alles mit allem verbunden ist; es handelt sich also um ein System, in ¨ bersetdem die „knappe Beschreibung der Regularita¨ten innerhalb des Systems“ (U zung J. G.) gerade extrem lang wa¨re. Auf diese Weise durch eine Kombination von Ordnung und Unordnung charakterisiert, sind Sta¨dte seit langem als Orte hoher „effektiver Komplexita¨t“ beschrieben worden – man denke etwa an Jane Jacobs’ klassische Formulierung, Sta¨dte seien „problems in organized complexity“42. Etwas spekulativ ließe sich argumentieren, dass auch literarische Texte als Realita¨tsmodelle per se Ordnung und Unordnung verbinden, da sie in ho¨chst strukturierter und geordneter Weise Komplexita¨t und Vielfalt, ja ‚Unordnung‘ repra¨sentieren, Unordnung mit Ordnung u¨berlagern und so strukturell zentrale Muster urbaner Komplexita¨t simulieren.43 Wenn wir schließlich auch die Entwicklung von Szenarien und das ‚Durchspielen‘ alternativer Parameter-Setzungen in ihrem Einfluss auf ein gegebenes System als zentrale Funktion der Modellierung urbaner Systeme betrachten, so wird eine weitere Parallele deutlich: Eine der zentralen Funktionen von Literatur, so ein unter anderem von Kenneth Burke, Dieter Wellershoff oder Wolfgang Iser44 (oder in neuere 41 Gell-Mann, Complexity (wie Anm. 15), S. 16. 42 Jacobs, Death (wie Anm. 7), S. 449; s. auch Hans-Werner Wehling, Organized and Disorganized

Complexities and Socio-Economic Implications in the Northern Ruhr Area, in: Understanding Complex Urban Systems. Interdisciplinary Approaches to Modeling, hg. v. Christian Walloth/Jens Martin Gurr/J. Alexander Schmidt, Cham/Heidelberg/New York 2014, S. 87–101. 43 Fu¨r eine Diskussion der strukturellen Analogien zwischen ‚Stadt‘ und ‚Text‘ vgl. etwa Sharpe/Wallock, Great Town (wie Anm. 30); Gurr, Modernist Poetics (wie Anm. 31). 44 Kenneth Burke, The Philosophy of Literary Form. Studies in Symbolic Action, Berkeley 1974 (Baton Rouge 1941); Dieter Wellershoff, Literatur und Lustprinzip, Ko¨ln 1973; Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imagina¨re. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993.

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Zeit in eindrucksvoller Weise in einem von Stefan Horlacher und Stefan Glomb herausgegebenen Sammelband)45 entwickeltes Versta¨ndnis, ist ihre Rolle als Form „symbolischen Handelns“ (sensu Burke), als von Alltagszwa¨ngen befreites soziales Experiment, als „Simulationsraum fu¨r ein alternatives Probehandeln mit herabgesetztem Risiko“46, das es ermo¨glicht, in symbolisch-fiktionaler Form verschiedene Szenarien und Lo¨sungen fu¨r zentrale gesellschaftliche Fragen durchzuspielen.47 Kenneth Burkes Auffassung von „Literature as Equipment for Living“ ist ein verwandtes Konzept, demzufolge jeder literarische Text die soziale Funktion hat, eine Situation zu benennen und ihr sinnstiftend gerecht zu werden. In diesem Sinne kann die Literatur als Sammlung von Fallstudien in der Benennung von Situationen und der Problemlo¨sung verstanden werden, als Arsenal an Strategien im Umgang mit verschiedensten Situationen – fiktional, aber mit dem Anspruch zuminest potentieller lebensweltlicher Anwendbarkeit.48 Hilfreich fu¨r ein Versta¨ndnis der Funktion literarischer Texte als ‚Modelle‘ urbaner Komplexita¨t wie auch fu¨r die Rolle literaturwissenschaftlicher Analysen im Kon¨ berlegungen etwa text disziplinenu¨bergreifender Stadtforschung sind zudem die U von Ju¨rgen Link, Winfried Fluck oder Hubert Zapf zu den Funktionen von Lite¨ berlegungen zu ratur im Sinne einer „Funktionsgeschichte“ der Literatur.49 Zapfs U einem „triadischen Funktionsmodell“50 literarischer Texte zufolge fungiert Literatur im System der Kultur als „kulturkritischer Meta-Diskurs“, als „reintegrierender Inter-Diskurs“, der ansonsten unterdru¨ckte oder marginalisierte Stimmen in das kulturelle Gesamtsystem zuru¨ckholt, und schließlich auch als „imaginativer Gegendiskurs“, in dem denkbare Alternativen zu dominanten Diskursen entwickelt werden ¨ berlegunund der so auch utopisches Potential entfalten kann.51 Insbesondere die U gen zu dieser letzten Funktion lassen sich anschließen an Wellershoffs Auffassung ¨ bervon Literatur als „Simulationsraum fu¨r ein alternatives Probehandeln“.52 Die U

45 Beyond Extremes. Repra¨sentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgeno¨ssischen

britischen Roman, hg. v. Stefan Glomb/Stefan Horlacher, Tu¨bingen 2004. 46 Wellershoff, Literatur und Lustprinzip (wie Anm. 44), S. 57. 47 Dabei ist festzuhalten, dass literarische Texte vielfach nicht versuchen, ein Problem zu „lo¨sen“, indem

sie eine Antwort oder Lo¨sung vorgeben – und selbst wo sie dies tun, sind vielfach weniger die „Lo¨sungen“ interessant als die Tatsache, dass die Fragen und Probleme u¨berhaupt aufgeworfen werden. 48 Burke, Philosophy of Literary Form (wie Anm. 44), als griffige Zusammenfassung dieser Position vgl. den Aufsatz „Literature as Equipment for Living“ im genannten Band. 49 Fu¨r einen U ¨ berblick s. Funktionen von Literatur – Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, hg. v. Marion Gymnich/Ansgar Nu¨nning, Trier 2005; fu¨r einen zentralen Beitrag s. Winfried Fluck, Das kulturelle Imagina¨re. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, 1790–1900, Frankfurt a. M. 1997. 50 Hubert Zapf, Literatur als kulturelle O ¨ kologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans, Tu¨bingen 2002, S. 63ff. 51 Vgl. auch Hubert Zapf, Literature as Cultural Ecology. Notes Towards a Functional Theory of Imaginative Texts with Examples from American Literature, in: Literary History/Cultural History. ForceFields and Tensions, hg. v. Herbert Grabes (Research in English and American Literature 17), Tu¨bingen 2001, S. 85–99; sowie mehrere Beitra¨ge in: Kulturo¨kologie und Literatur. Beitra¨ge zu einem transdisziplina¨ren Paradigma der Literaturwissenschaft, hg. v. Hubert Zapf, Heidelberg 2008. 52 Wellershoff, Literatur und Lustprinzip (wie Anm. 44), S. 57.

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legungen beru¨hren sich jedoch auch in produktiver Weise mit einem weiteren neueren Forschungsstrang, der literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsgegensta¨nde fu¨r eine disziplinenu¨bergreifende Stadtforschung fruchtbar macht. So wird in neueren planungstheoretischen Arbeiten versta¨rkt die Rolle von Narrativen in der Stadtplanung und -entwicklung thematisiert.53 Wa¨hrend Literatur in Zapfs suggestiver Terminologie als „imaginativer Gegendiskurs“ fungiert, betont Sandercock in einem neueren Beitrag zum „Story Turn in Planning“ in bemerkenswert a¨hnlicher Weise die Rolle von Narrativen in der Entwicklung und Befo¨rderung alternativer Entwicklungsszenarien: „Stories and storytelling can be powerful agents or aids in the service of change, as shapers of a new imagination of alternatives“.54 Es liegt auf der Hand, dass „Geschichten“ etwa im Kontext ambitionierter und großangelegter Stadtentwicklungsprojekte wie der Umnutzung von Altindustrieoder Hafenfla¨chen mit der Projektion eines zuku¨nftigen genius loci, ja der Beschwo¨rung einer spezifischen Urbanita¨t ihre Wirkung entfalten ko¨nnen, und so ist es kaum verwunderlich, dass bei solchen urbanen Großprojekten als flankierende Maßnahmen bisweilen gezielt auch literarische Auftragswerke Zukunftsszenarien entwickeln und befo¨rdern sollen.55 Wa¨hrend aber die Rolle von Narrativen in der Planung aus planungstheoretischer Sicht in neuerer Zeit breite Aufmerksamkeit erfa¨hrt, gilt dies fu¨r literatur- und kulturwissenschaftlich fundierte Untersuchungen bislang weit weniger.

IV. Schlussbemerkung

Wie also kann die Literaturwissenschaft zur disziplinenu¨bergreifenden Erforschung urbaner Komplexita¨t und Urbanita¨t beitragen, ohne ihr Kerngescha¨ft aus den Augen zu verlieren? Die Antwort liegt vielleicht in der Einsicht, dass es gerade die irreduziblen individuellen psychologischen Reaktionen auf eine bestimmte urbane ¨ ngste sind, die ein Versta¨ndUmwelt, die menschlichen Wu¨nsche, Hoffnungen und A nis dieser Umwelt ermo¨glichen. Was der hier skizzierte literaturwissenschaftliche 53 Vgl. James A. Throgmorton, Planning as Persuasive Storytelling. The Rhetorical Construction of

Chicago’s Electric Future, Chicago 1996; James A. Throgmorton, Planning as Persuasive Storytelling in a Global-Scale Web of Relationships, in: Planning Theory 2/2 (2003), S. 125–51; Leonie Sandercock, From the Campfire to the Computer. An Epistemology of Multiplicity and the Story Turn in Planning, in: Multimedia Explorations in Urban Policy and Planning. Beyond the Flatlands, hg. v. Ders./Giovanni Attili, Dordrecht/Heidelberg/New York 2010, S. 17–37; Merlijn van Hulst, Storytelling, a Model of and a Model for Planning, in: Planning Theory 11/3 (2012), S. 299–318. 54 Sandercock, Campfire (wie Anm. 53), S. 25; s. auch van Hulst, Storytelling (wie Anm. 53), S. 303 passim; vgl. Anm. 45 u. 49. 55 Ich verdanke diesen Hinweis Lieven Ameel von der Universita¨t Helsinki, der in seiner Pra¨sentation „Hooked on the Waterfront: The Zoning of Stories in Ja¨tka¨saari from a Narrative Theory Perspective“ anla¨sslich der Konferenz „Writingplace. Literary Methods in Architectural Research and Design“ an der TU Delft im November 2013 u. a. auf den im Zuge der Entwicklung des ehemaligen Hafenareals Ja¨tka¨saari in Helsinki in Auftrag gegebenen Roman verwies.

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Ansatz beitragen kann, ist dann ein Versta¨ndnis gerade derjenigen Aspekte urbaner Komplexita¨t, die sich nicht messen, klassifizieren, quantifizieren oder informationstheoretisch fassen lassen. Aus Sicht der Stadtplanung und Stadtentwicklung ko¨nnte dies bedeuten, dass das, was sich planen la¨sst, vielleicht gerade nicht das ist, was einen Ort einzigartig macht und ihn uns als ‚urban‘ empfinden la¨sst. Damit wird nicht etwa eingefordert, dass diese Aspekte des Urbanen dennoch in der einen oder anderen Form quantifiziert werden und in die Modelle Eingang finden sollen. Sinnvoll scheint mir vielmehr die Annahme, dass literarische Texte als alternative Form der Modellierung urbaner Komplexita¨t andere Einsichten ermo¨glichen und vielleicht die blinden Flecken anderer Modelle erhellen ko¨nnen, also nicht nur etwa der ‚Plausibilita¨tspru¨fung‘ anderer Modelle dienen ko¨nnten, sondern als ga¨nzlich andere, komplementa¨r zu verstehende urbane Modelle fungieren ko¨nnen. Gerade die Notwendigkeit, diese verschiedenen Perspektiven nicht etwa im Sinne eines von einer Disziplin bestimmten u¨bergreifenden Ansatzes zu integrieren, sondern sie zu dialogisieren und komplementa¨r fruchtbar zu machen, um zu einem angemessenen Versta¨ndnis der komplexen Dynamik urbaner Systeme mit so schwer fassbaren Pha¨nomenen wie der ‚Urbanita¨t‘ zu gelangen, macht den transdisziplina¨ren Dialog hier – abseits von allen Sonntagsreden u¨ber die Notwendigkeit inter- und transdisziplina¨rer Forschung und die in der Praxis solcher Forschung immer wieder auftretenden Schwierigkeiten – zu einer ebenso schwierigen wie sinnvollen Aufgabe.56

56 Der vorliegende Beitrag ist eine Synthese aus U ¨ berlegungen in verschiedenen fru¨heren Beitra¨gen zu

Fragen der Urbanita¨t, der literarischen Repra¨sentation urbaner Komplexita¨t und eines mo¨glichen literaturwissenschaftlichen Beitrags zu transdisziplina¨rer urbaner Komplexita¨tsforschung und verwendet in erheblichem Umfang Material aus diesen fru¨heren Beitra¨gen: Gurr, Urbanity (wie Anm. 28); Gurr, Urbane Systeme (wie Anm. 28); Gurr, Literary Representation (wie Anm. 35); Jens Martin Gurr, ‚Urban Complexity‘ from a Literary and Cultural Studies Perspective. Key Cultural Dimensions and the Challenges of ‚Modeling‘, in: Walloth/Gurr/Schmidt, Understanding Complex Urban Systems (wie Anm. 42), S. 133–150.

VISIONS D’URBANITE´ ET PAYSAGES SENSORIELS Le concours Europan en France von Enrico Chapel

Quarante-trois projets et cent vingt-neuf planches accompagne´es d’e´paisses plaquettes de pre´sentation comprenant des dessins d’architecture, des vues paysage`res, des photographies ae´riennes, des plans masse, des croquis, des sche´mas conceptuels ... Il est difficile de se retrouver dans la masse de documents rendus par les e´quipes d’architectes pre´se´lectionne´s a` la huitie`me session du concours Europan (2005). Certes, les choix de pre´sentation des projets renvoient au cadre donne´ au travail: un „concours d’ide´es promotionnel“. Contraintes a` l’exercice, les images spatiales, qui s’adressaient aux membres d’un jury, se devaient d’eˆtre a` la fois claires et concises, originales et percutantes, se´duisantes et convaincantes. Mais ce cadre est-il suffisant pour expliquer l’ensemble des caracte`res de la matie`re rendue? Ou d’autres facteurs sont-ils a` prendre en compte? L’objet de cette analyse est de faire le point sur les images architecturales et urbaines qui ressortent du concours Europan France. Dans cette perspective, postulons qu’on peut reconnaıˆtre des lignes de recherche communes aux jeunes architectes de notre e´poque. La plus importante d’entre elles est la poursuite d’une approche de la repre´sentation qui insiste sur la perception que l’homme a de son espace et sur le rapport qu’il entretient avec son environnement. Cette approche n’envisage pas le spectateur comme un sujet passif et immobile, mais au contraire comme un sujet actif, mobile et poly-sensoriel. Elle est lie´e au de´veloppement de l’image nume´rique qui permet l’e´laboration de figures complexes restituant une pluralite´ de sensations et d’expe´riences.1 Mais elle rele`ve aussi du monde d’ide´alite´s et de croyances de notre temps. En effet, la repre´sentation architecturale ne peut pas pre´tendre a` une formule universelle puisque la perception de l’espace (re´el ou a` venir) varie en fonction des valeurs qu’on lui attribue et des potentialite´s qu’il offre a` l’action. C’est donc par la reconnaissance de ces valeurs et potentialite´s que nous pensons pouvoir caracte´riser les formes de repre´sentation marquant les rendus des projets Europan. Nous supposons que le re´fe´rentiel de l’urbanite´ – re´fe´rentiel de notre temps relaye´ par le dossier de lancement du concours et largement repris dans les e´crits des architectes – a un effet non seulement sur la conception des espaces, mais encore sur 1 Ola So ¨ derstro¨m, Des images pour agir. Le visuel en urbanisme, Lausanne 2000, pp. 69–76.

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` ce propos, rappelons que la manie`re de les donner a` voir, de les repre´senter.2 A l’urbanite´ a e´te´ de´finie „comme l’indicateur de l’e´tat spe´cifique de l’organisation des objets de socie´te´ au sein d’une situation urbaine donne´e“.3 Elle est d’autant plus intense que la diversite´, la densite´ et l’interaction socie´tales sont fortes; elle de´pend aussi des configurations spatiales et des potentialite´s particulie`res que celles-ci sont susceptibles d’offrir. En envisageant l’e´ventualite´ de l’e´mergence d’une compe´tence a` l’„architecturer“, le dossier de lancement du concours insiste pre´cise´ment sur la dimension spatiale de la notion d’urbanite´. Celle-ci doit eˆtre pense´e comme une manie`re commune de vivre la ville et ses fonctions, mais aussi comme une volonte´ de re´fle´chir sur l’he´te´roge´ne´ite´ de ses formes, l’urbanite´ e´tant e´galement ambiance, paysage et lieu.4 C’est donc a` cet exercice de de´finition d’une urbanite´ complexe que les e´quipes d’architectes participant au concours se sont consacre´es. Comment cet exercice a-t-il pu s’exprimer? L’analyse des projets montre que la mise en sce`ne de l’urbanite´ varie selon les situations de projet et les re´ponses particulie`res donne´es par les architectes. Ainsi, nous avons examine´ les diverses manie`res d’argumenter ce caracte`re „proprement urbain“ de l’espace dans les textes des concurrents (parlent-ils d’identite´, de mixite´, de diversite´ ...?), puis le rapport entretenu par l’imagerie des projets avec ce the`me: jusqu’a` quel point les images spatiales se construisent-elles en fonction de celui-ci? Peut-on expliquer certaines de leurs proprie´te´s par la volonte´ d’incarner ce re´fe´rentiel majeur dans sa double dimension politique et spatiale? Pour re´pondre a` ces questions, nous nous sommes inte´resse´s tantoˆt aux signifiants plastiques (cadre, cadrage, angle de prise de vue, couleurs ...) tantoˆt aux signifiants iconiques (motifs et figures) des images, sans toutefois pre´tendre a` re´aliser une e´tude syste´matique et exhaustive. Notre travail a une valeur exploratoire. Il a permis d’identifier dans la panoplie des repre´sentations spatiales fabrique´es trois tendances majeures, dont l’essor peut eˆtre lie´ a` l’ide´e que les architectes se font de l’urbanite´ et a` leur volonte´ de lui donner corps dans les projets architecturaux et urbains. La premie`re tendance consiste dans l’e´laboration d’images favorisant une perception plurielle et sensible de l’espace. La deuxie`me re´side dans la composition de figures mettant en sce`ne l’usager tourne´ vers un avenir social heureux. La troisie`me touche a` la production de signes ve´hiculant les valeurs e´cologiques, bioclimatiques et environnementales de la nature dans la ville.

2 Urbanite´ europe´enne & projets strate´giques: Europan [8] (Dossier de Presse, lancement en France 6

avril 2005; avec CD-Rom).

3 Jacques Levy/Michel Lussault (e´ds.), Dictionnaire de la ge´ographie, Paris 2003, p. 966. 4 Voir note 2, p. 5.

Visions d’urbanite´ et paysages sensoriels

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I. Le sensoriel et le pluriel: pour une ge´ographie seconde5

L’urbanite´ est ambiance, paysage, lieu: elle s’appre´cie en ge´ne´ral a` l’e´chelle de la vue des feneˆtres, ou du pie´ton, ou de la voiture a` 30 Km a` l’heure, ou sur quelques arreˆts de tramway (Dossier de lancement Europan 8) C’est en 1973 qu’Henri Lefe`bvre de´nonce l’„amputation sensorielle“ ope´re´e par l’image. Celle-ci e´liminerait une grande partie des messages ve´hicule´s par le sens. Face a` un urbanisme essentiellement pre´occupe´ a` localiser des fonctions dans un espace perc¸u comme universel et isotrope, Lefe`bvre invite ses contemporains a` conside´rer les pratiques sociales qui s’y de´roulent et a` penser l’espace comme l’œuvre d’une activite´ cre´ative et sensible. Dans cette perspective, il signale l’inade´quation de l’image a` rendre l’e´paisseur de la vie, le temps quotidien, celui des corps, de leur chaleur, de leur sensibilite´ et de leurs e´motions.6 L’analyse des rendus des projets pre´se´lectionne´s au concours Europan permet sinon de contredire, au moins de s’interroger sur l’ide´e exprime´e par ce philosophe. En effet, les choix des architectes semblent converger vers la tentative de restituer des images vivantes et riches en re´fe´rences aux expe´riences sensorielles des individus. Entendons-nous, nous n’assistons pas a` la fin de l’he´ge´monie de l’image fixe perc¸ue frontalement, propre a` la repre´sentation architecturale, puisque la plupart des figures re´alise´es par les architectes supposent un regard carte´sien et monoculaire: un point de vue ze´nithal pour les cartes et les photographies ae´riennes, un point de fuite pour les perspectives, des cadrages techniques (plans, coupes, axonome´tries). Ces repre´sentations traditionnelles sont cependant accompagne´es d’une profusion de vues obliques a` hauteur du pie´ton (ou de feneˆtre) et sont elles-meˆmes contamine´es par une se´rie de proce´de´s qui insistent sur l’aspect sensible et temporel de la perception spatiale. Ces vues sont inte´ressantes parce qu’elles te´moignent du de´passement du paradigme de la repre´sentation fonctionnaliste, amorce´ dans les anne´es 1950 avec, entre autres, les recherches sur le ‚visual planning‘ et la diffusion de la culture pop. Leur finalite´ n’est pas d’objectiver l’espace et de le mode´liser en une image totalisant les phe´nome`nes multiples qui le traversent. Elles postulent, au contraire, la fragmentation des points de vue, la pluralite´, la subjectivite´ et la mobilite´ des regards. Dans les rendus des participants, plusieurs proce´de´s sont mis en œuvre pour rendre cette approche e´cologique de la perception. Les agencements de vues a` hauteur d’homme offrant de multiples cadrages sont tre`s courants. Organise´s en tableaux ou s’enchaıˆnant suivant des rythmes calcule´s, ils offrent des visions ambulatoires dans lesquelles le sujet se de´place virtuellement et perc¸oit l’espace depuis des positions diffe´rentes. Ainsi, le projet Paysage code-barres7 pour le site de Lille s’illustre par une se´rie de perspectives sur les jardins a` the`me, 5 Cette expression est emprunte´e a` Michel de Certeau, Arts de faire (L’invention du quotidien 1), Paris

1990 (1980). 6 Henri Lefe`bvre, La production de l’espace, Paris 2000 (1974), p. 116. 7 D. Guiot, D. Depreeuw, T. Foucray, H. De Deurwaerder. http://www.arclab.umontreal.ca/EURO-

PAN-FR/images/documents_web/E08FRGEN0XXXXXE9PT008MS04LUB0020.pdf (15. 7. 2015)

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les rues et les autres espaces publics (fig. 1, voir tableaux en couleurs). En passant de l’une a` l’autre, le spectateur a l’impression de se balader avec son appareil photographique et de fixer lui-meˆme les prises de vue comme le ferait un touriste ou un usager quelconque.8 Sa perception n’est pas immobile, ni synchronique; elle acquiert une dimension temporelle. Dans l’une de ces perspectives, un garc¸on de cafe´ est en pose pour la photo et lui sourit. Ce regard „les yeux dans les yeux“ l’interpelle et, ce faisant, l’inscrit dans l’espace repre´sente´. Dans une vue du projet Sweet Home Ch...alon9 pour le site de Chalon-sur-Saoˆne le spectateur se retrouve, par un jeu de „face a` face“, dans le champ de l’objectif d’un photographe en train de cadrer, donc dans son espace (fig. 2, voir tableaux en couleurs). Tous ces jeux de regards croise´s avec les personnages inscrits dans les images servent a` placer le spectateur „a` l’inte´rieur du tableau“ et a` manifester ainsi son implication dans le discours des architectes.10 Dans d’autres rendus, les participants pre´sentent des visions kale´idoscopiques: le sujet est place´ face a` la vue ge´ne´rale d’un ensemble qu’il peut embrasser d’un seul coup d’œil, mais les parties de cet ensemble sont parfois disparates et pas ne´cessairement re´unies dans un tout cohe´rent, structure´ et homoge`ne. Ainsi, le projet Le Loop11 pour le site de Lille (laure´at) offre une large perspective sur le „paysage-e´quipement“: cet espace vert, de loisirs et de culture est pour les architectes un „potentiel d’usages, de programmes, de lieux“ (fig. 3, voir tableaux en couleurs). Cette vue joue beaucoup sur l’ambiguı¨te´ entre le re´el et le virtuel. Pre´sentant des photographies de baˆtiments, d’arbres et de personnes, elle donne une impression de re´alite´, impression accentue´e par la „naturalite´“ de la vision horizontale. Mais la multiplication des points de vue, avec leur juxtaposition dans une composition kale´idoscopique compose´e de formes, couleurs et motifs extreˆmement charge´s et he´te´roclites, brise cet effet de re´alite´. Deux lectures de cette image complexe semblent possibles. La premie`re, synoptique, condense les sce`nes dans une vue instantane´e. Elle renvoie a` un paysage imaginaire et charge´ de symboles. La seconde, fragmente´e et temporelle, permet de lire les sce`nes une a` une, de fac¸on se´pare´e, comme les pages d’un recueil de textes. Chaque sce`ne renvoie a` des situations de vie et a` des ambiances. En de´plac¸ant son regard de gauche a` droite, le spectateur peut percevoir un ciel orageux, qui devient bleu, puis gris, pour finir rouge, au cre´puscule. Sous ces cieux et ces couleurs, il peut distinguer des espaces, des esplanades, des terrains ou` des hommes, des femmes et des enfants e´voluent. Chaque sce`ne renvoie a` un temps en train de se vivre. C’est cette e´paisseur de l’espace pratique´ et perc¸u par des sujets divers, a` des moments eux aussi diffe´rents, que cette image cherche a` incarner. Les visions cine´matographiques rele`vent e´galement de cette volonte´ d’inscrire le temps dans la perception de l’espace. Le projet Centralite´ line´aire12 pour le site de

8 Cf. e´galement Strate´gies d’action; Œuvre ouverte; Vides charge´s; Smallness – Reconsidering the grid

city; Dialectiques; Au fil de l’eau; Laboratoire insulaire – Tectonique chloroph’ile.

9 T. Saint-Yves, C. Sanson, avec J. de Kimpe. 10 Ces techniques d’interpellation sont finalement tre`s re´pandues. Cf. e´galement Le Loop; Multiplicity;

La Nature au quotidien; Œuvre ouverte; Vides charge´es; Strate´gies d’actions; Gold in the shell.

11 P.-L. Follacci, A. Hervieu, P. Leitner, P. T.-H. Yoon. 12 H. Loviton, K. Teisseire.

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La Courneuve (laure´at) propose une de ces visions a` travers la construction se´quentielle des trois planches du rendu (fig. 4, voir tableaux en couleurs). Celles-ci pre´sentent trois bandes horizontales. L’une centrale contient le texte explicatif et les dessins d’architecture. Les deux autres pre´sentent quatre images de synthe`se: trois en haut et une en bas. Celle d’en bas ouvre sur l’emprise des chemins de fer dont la grande e´chelle est pour les architectes caracte´ristique du site. Puis, elle se de´roule comme la pellicule d’un film. Le spectateur regarde d’abord l’emprise, puis au fur et a` mesure qu’il de´place son regard (ou sa came´ra, comme la ge´ome´trie horizontale du cadre, tre`s atypique, le laisse pressentir), il se rapproche de l’esplanade publique ou „place line´aire“, pivot du projet. Dans cette composition, l’univers cine´matographique est marque´ non seulement par le mouvement de la came´ra, mais aussi par l’absence de profondeur obtenue par l’utilisation d’un objectif a` longue focale, qui cre´e des oppositions entre des zones floues (la vue panoramique et la silhouette du premier personnage) et des zones nettes (les femmes qui e´voluent dans la place line´aire). Cette manie`re de de´tacher un motif sur un fond permet de de´signer des zones privile´gie´es (ici la place line´aire et ses usagers). L’univers du cine´ma est pre´sent aussi dans les vues occupant la bande supe´rieure des planches, ou` nous retrouvons les meˆmes personnages flous qui perturbent l’impression de vision naturelle propre a` la perspective classique, ainsi que des intitule´es largement e´vocateurs: „Nouveau cadrage“, „La ville sur sce`ne“, „Explorer les parcours“. Ici, la temporalite´ n’est toutefois plus la meˆme, et n’est pas rendue de la meˆme manie`re: les couleurs obtenues par l’usage de filtres violet, vert et orange informent sur les moments de la journe´e ou sur les diffe´rentes saisons de l’anne´e (vision de nuit dans la premie`re vue, luminosite´ terne et diffuse de ciel hivernal dans la deuxie`me, vision d’e´te´, ou` la lumie`re est violente et oriente´e, dans la troisie`me).13 Dans le projet Entre deux seuils, un sol14 pour Chaˆteauroux la vision cine´matographique se mue en narration graˆce a` la pre´sence d’un he´ros: une femme se prome`ne dans les images des architectes (fig. 7, voir tableaux en couleurs). Chaque planche superpose une vue du ciel a` une vue a` hauteur d’homme. Des trames ge´ome´triques, des organigrammes et des petits textes sont charge´s de ge´rer le passage entre ces deux diffe´rents regards pose´s sur l’architecture. La lecture de chaque planche instaure ainsi une fusion de points de vue et d’approches de l’espace, analogique a` la proble´matique du sol et du passage entre la ville et le territoire ainsi qu’entre l’architecture et l’infrastructure, constitutive de la de´marche des architectes. Fait plutoˆt original: les trois planches sont en noir et blanc et pre´sentent une tonalite´ grise sur toute la composition. De cet ensemble, seules ressortent cinq taˆches de couleur rouge: la premie`re repre´sente une enseigne commerciale, la deuxie`me signale un feu rouge, les trois

13 D’autres images renvoient a` l’univers cine´matographique. La vue plongeante pre´sente´e dans le pro-

jet Multiplicity pour Lille, L. Veauvy, O. Camus, (fig. 5, voir tableaux en couleurs), se caracte´rise par l’absence du cadre qui pousse a` construire le hors-champ de l’image et a` de´signer le tout par contiguı¨te´. La vue prise de l’inte´rieur d’un train en cours (fig. 6, voir tableaux en couleurs) permet au projet Urban Osmotic pour Dijon (mentionne´), A. Micillo, avec P. Falco, R. Pascarella, M. Fedele, A. Duracci, V. d’Orta, R. di Francesco, de rendre le mouvement de la perception architecturale. 14 A. Ziegler, avec S. Guezet.

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autres sont les habits de la femme que l’on voit parcourir les trois situations spatiales propose´es par les architectes. Ces dernie`res s’illustrent par trois cadrages de plus en plus serre´s permettant au spectateur de se rapprocher de l’architecture, de la pe´ne´trer. En passant de l’un a` l’autre, le spectateur progresse e´galement vers la fille en rouge a` la silhouette d’abord lointaine et ensuite plus proche. Sa balade est donc double´e d’une action, d’une intrigue. Est-il en train de suivre la fille? La nume´ration des planches, qui utilise les motifs des montres digitales, renvoie-t-elle au temps de l’action? Les architectes insistent re´solument sur la rapidite´ de celle-ci: „Je foule le sol; au seuil de la ville, lieu d’e´change et de rencontre, je suis au centre des choses. Emporte´ par le mouvement du train, je suis de´ja` absent. Le heurt de l’instant“. Nous retrouvons la proposition la plus radicale de la tentative de rendre le temps de l’expe´rience spatiale a` Henin Carvin. Le projet, JSI – je suis ici – vivre et travailler a` Drocourt15 (laure´at) exprime une prise de position politique plutoˆt qu’un ve´ritable parti spatial, en encourageant dans un territoire e´tale´ et marque´ par l’he´ritage de l’industrie minie`re l’amorce d’une nouvelle e´conomie et l’exploitation des ressources existantes. Le titre est e´vocateur: il est question de personnes qui vivent sur le site et d’autres qui prennent possession de celui-ci, a` travers la marche, la de´ambulation, l’arpentage, la de´couverte. Or, les trajets re´ve´lateurs des proble´matiques et de la strate´gie de projet ne sont pas cartographie´s, ni planifie´s, mais rendues par une „Chronique. Carnet de bord de la visite“. Le proce´de´ est litte´raire: c’est le re´cit d’un voyage structure´ en deux jours (samedi et dimanche) et marque´ par les horaires, qui rend compte de sensations spatiales, de personnes aperc¸ues ou rencontre´es, de leurs petites histoires ... Ce re´cit est accompagne´ d’images documentaires, parfois symboliques et allusives, qui te´moignent du re´el de l’expe´rience ve´cue.16 C’est ainsi que l’espace peut eˆtre compris et repre´sente´ par nos architectes voyageurs qui refusent le filtre synthe´tique, atemporel et universel de la cartographie, incapable de transcrire ce qu’ils cherchent a` percevoir: „la ville sensible, cache´e, [dont les] limites sont floues“. Par tous ces proce´de´s, la forme urbaine devient plurielle. Elle est aussi poly-sensorielle dans la mesure ou` les images des architectes que nous venons d’analyser (et beaucoup d’autres) cherchent a` rendre les dimensions sonore, olfactive, tactile et kinesthe´sique de l’espace: la sensation de la tempe´rature, l’eˆtre a` l’abri du vent ou expose´ au soleil, l’ombre, les saisons, les moments du jour et de la nuit, les odeurs, les bruits, le calme.17 Les architectes usent d’une esthe´tique fonde´e sur les contrastes de lumie`re, la transparence des e´difices projete´s, la mise en e´vidence des ve´ge´taux et du mobilier, l’animation des cheminements et des espaces pour rendre davantage des ambiances que des objets architecturaux. Par dela` leur valeur expressive (qui

15 B. Segers, C.-E. Henry, avec Ch. Chabbert, F.-D. Barbier. 16 Ailleurs la photographie documentaire prend en charge la mise en valeur du patrimoine architectural,

industriel ou portuaire place´ au cœur de la de´marche des architectes. Cf. notamment Port d’attache; Adhe´rer au site; Rassembler entre me´moire et infrastructure; Trans-fer. 17 Cf. notamment Smallness – Reconsidering the grid city; Plotting traces; Œuvre ouverte; Vides charge´s; Des marges en re´seau; Urban Zip; Port d’attache; L’apre`s port; De´tours en Dijon; Strate´gies d’action; Living City, a new identity for the station area; Jonction paysage`re.

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te´moigne de la personnalite´ des architectes), les images ont donc une fonction clairement esthe´tique a` partir du moment qu’elles procurent a` leurs spectateurs des sensations (aisthe´sis) spe´cifiques. Elles sollicitent la jouissance esthe´tique et le type de re´ception qui s’y rattache. De cette fac¸on, elles permettent d’articuler une ge´ographie seconde, poe´tique, a` l’ordre primaire, c’est-a`-dire fonctionnaliste du projet, le but ultime e´tant de mettre en sce`ne une urbanite´ comprise d’abord comme „ambiance, paysage, lieu“.

II. Le vivant et le conventionnel: pour une socie´te´ heureuse La finalite´ ultime de la vision europe´enne de la ville est de „faire socie´te´“, c’est-a`-dire mettre ensemble des gens de toutes conditions et de toutes provenances, sans ignorer la tendance dominante a` l’individualisation. (Dossier de lancement Europan 8) Dans les rendus, rares sont les images qui ne pre´sentent pas des personnes animant les lieux et les paysages. Avec l’importance donne´e a` l’expe´rience spatiale, re´apparaıˆt la place de l’homme, de l’usager, du sujet qui habite ou traverse les cadres architecturaux et urbains. Des silhouettes de petits bonhommes, des pictogrammes, et surtout des restitutions nume´riques d’individus bien re´els tire´s des magazines de mode, animent ainsi les coupes et les vues dessine´es par les architectes. Pourquoi assistons-nous a` une telle profusion de personnages? Quelles sont les finalite´s de ce de´cor humain? Certes, les sce`nes vivantes contribuent a` la cre´ation d’ambiances; et nous avons montre´ que l’enjeu des projets est de restituer des ambiances et des ide´es de paysages plus que des formes architecturales. De plus, les silhouettes humaines repre´sentent des appels a` projection: les spectateurs s’approprient symboliquement des espaces figure´s en se promenant me´taphoriquement en leur compagnie. Leur expression constitue ainsi un exercice oblige´ dans un concours d’ide´es ou` les images doivent eˆtre convaincantes. Ceci e´tant dit, leur pre´sentation massive te´moigne e´galement d’une certaine inquie´tude dans le monde de l’architecture et de l’urbanisme. Face aux e´checs d’appropriation d’espaces urbains conc¸us comme innovants, mais qui ont e´te´ en re´alite´ de´serte´s de leurs usagers, abandonne´s a` eux-meˆmes ou transforme´s en the´aˆtre de violences, l’introduction de l’humain dans les vues spatiales a la saveur d’un exorcisme: elle est la preuve (par la fre´quentation) que tout ce qu’on a installe´ va fonctionner; elle permet la cre´ation d’icoˆnes magnifiant des espaces de´ja` approprie´s. Le discours politique dominant, qui attribue a` la configuration de l’espace des vertus the´rapeutiques pour lutter contre le malaise social, semble alors bel et bien a` l’origine de ces images, qui peuvent eˆtre lues comme une re´ponse des candidats a` la demande qui leur est faite de penser des espaces favorisant la rencontre des gens, par dela` leurs diffe´rences ethniques, religieuses, sociales ou ge´ne´rationnelles.18 18 Pre´cisons que les architectes placent depuis longtemps des silhouettes d’usagers dans les espaces qu’ils

projettent. Que l’on songe aux vues pittoresques des cite´s jardins au de´but du 20e sie`cle ou, plus pre`s

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Ainsi, les projets pour Chaˆteauroux donnent beaucoup d’importance au de´veloppement de l’attractivite´ et de l’intermodalite´ en centre ville. Le projet Living City, a new identity for the station area19 (cite´) propose des „nouveaux foyers d’activite´ humaine“ connecte´s a` l’existant par une „multitude de chemins“ formant un „re´seau urbain inte´gral“: un sol artificiel. C’est a` ce sol qu’est attribue´ le roˆle de „requalifier l’urbanite´ du site“. Son intensite´ spatiale et programmatique est assure´e par un nombre important de personnes „constituant la masse critique charge´e du pouvoir d’attraction“. Aussi, les vues perspectives dessine´es par les architectes (fig. 8, voir tableaux en couleurs) sont bonde´es de silhouettes d’hommes et de femmes. Dans ces vues, l’architecture se mue en espace public global hyper-fre´quente´, lieu de concentration maximale d’activite´s. Comme l’objectif des architectes e´tait aussi de meˆler les diffe´rents e´le´ments du programme et de rendre flou les limites entre les domaines publics et prive´s, les e´le´ments iconographiques de l’image s’entrelacent (l’inte´rieur et l’exte´rieur fusionnent) pour donner une vision kale´idoscopique de cette urbanite´ faite de suractivite´, d’interrelation, d’intensite´, de loisirs, de culture, mais aussi d’espaces de de´mocratie comme le prouvent les nombreuses personnes assises en cercles ou en petits groupes.20 Le projet Œuvre ouverte21 pour Henin Carvin propose d’investir le territoire des terrils avec une nouvelle e´conomie d’exploitation. Il s’agit de passer d’une „urbanite´ industrielle“ a` une „urbanite´ forestie`re“ a` travers la mise en place „d’une matrice ouverte“ constitue´e de parcelles pouvant accueillir autant l’installation d’une bande boise´e qu’un baˆtiment. Forme urbaine et forme forestie`re se confondent: tout d’abord forestie`res les parcelles peuvent e´voluer vers un statut plus urbain. C’est cette e´volution que les architectes tentent de repre´senter par la composition de „sce´narii temporaires“ forme´s de la juxtaposition de deux ou plusieurs vues du meˆme lieu, prises a` des moments diffe´rents de la journe´e ou a` quelques anne´es de distance (fig. 9, voir tableaux en couleurs). Les nombreux personnages habitant ces sce´narii sont paradoxalement semblables a` ceux repe´re´s dans le projet pre´ce´dent: aucun d’entre eux semble travailler dans l’exploitation forestie`re identitaire du lieu! ` La Courneuve, la question pose´e par la commande e´tait de recycler un tissu A de banlieue et d’en renforcer la dynamique en restructurant ses espaces publics. Le projet Multipli-city22 propose un dispositif ou` les diffe´rentes fonctions urbaines sont inte´gre´es au sein d’un „ıˆlot mixte“ compose´ de tour signal, une gare-pont et une se´rie d’e´difices pose´s sur un socle occupe´ par des activite´s multiples. La re´fe´rence est ici explicite: il s’agit de la ville de San Gimignano en Toscane, avec ses tours, dont la

de nous, a` toute l’esthe´tique emprunte´e au graphisme publicitaire par l’architecture pop et radicale des anne´es 1960–70. Les silhouettes d’usagers assument cependant des nouvelles significations dans les images d’aujourd’hui. 19 P. G. Feldmann, M. Tomaselli, M.-A. Herschel. 20 Nous retrouvons ce motif de groupes de personnes assises en cercle aussi dans d’autres projets comme, par exemple, Gold in the shell (cf. reference 10), D. Malige, (fig. 11, voir tableaux en couleurs). 21 A. Pelissier, S. Benatti, S. Layet, avec L. Pastori, S. Hellal, A. Ascani, V. Calabrese, F. Fabiani, B. Fumarola. 22 S. d’Ascia, avec M. Roggwiller, F. Leveque, E. Seif, E. Tessier, C. de Saint Marie.

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photographie accompagne la vue de synthe`se de l’ıˆlot multi-fonctionnel. Plutoˆt classique, celle-ci invite a` une lecture centripe`te comme dans la plus pure tradition picturale (fig. 10, voir tableaux en couleurs). Ses lignes convergent vers le point central et strate´gique occupe´ par l’ıˆlot mixte qui est le produit a` promouvoir. Paradoxalement cet ˆılot est presque de´sert. C’est la large esplanade lui faisant face, tre`s fre´quente´e, qui est charge´e de signifier l’urbanite´ du lieu. Des messages linguistiques affiche´s sur l’architecture meˆme („Multipli-city“, „Mix-Cite´“ au premier e´tage, „Formation“, „Restaurant“, „Cafe´“ au rez-de-chausse´e) de´signent le bon niveau de lecture de l’image. Les premiers sont des jeux de mots, des me´taphores qui jouent sur l’analogie entre le contenant et le contenu pour exprimer la re´alite´ de la relation e´quilibre´e entre l’espace physique dessine´ et les pratiques sociales souhaite´es. Ils disent que la mixite´, la multiplicite´, l’interaction et la diffe´renciation – termes e´voque´s dans le texte des architectes – sont indispensables a` l’urbanite´ de cette ville de banlieue. Les seconds ont une fonction de relais. Ils se substituent aux nombreuses figures de cafe´s et restaurants, avec terrasses et enseignes commerciales, qui rappellent dans les vues des projets d’autres e´quipes notre quotidien, et garantissent ainsi l’authenticite´ des simulations architecturales.23 Ainsi, malgre´ des diffe´rences, les dessins des architectes pre´sentent toujours des lieux tre`s fre´quente´s et souvent hyper-festifs. Les gens y font du shopping, du sport, se reposent ou flaˆnent dans les rues et les espaces publics. Les personnages sont constamment les meˆmes: jeunes couples, familles avec enfants, hommes d’affaires avec leurs cartables, jeunes filles avec te´le´phones portables ou sacs griffe´s a` la main ... Il est paradoxal de constater que l’ide´e de mixite´, de diversite´ et d’interaction, qui s’affirme dans les textes des architectes, laisse la place dans les dessins a` la repre´sentation d’un monde conventionnel habite´ par une classe moyenne ste´re´otype´e, qui rele`ve davantage de l’imaginaire publicitaire que de la re´alite´. Rares sont les vues qui font voir des espaces urbains faiblement occupe´s ou accueillant des personnes d’origine e´trange`re, des immigre´s, des vieux, des pauvres, des choˆmeurs ou des contestataires.24 Les he´te´rotopies de Michel Foucault n’inte´ressent de´cide´ment pas beaucoup les participants au concours.25 C’est au contraire une topie bien re´el – car conforme aux attentes et aux aspirations dominantes – que ceux-ci mettent en sce`ne; une topie ou` re`gne l’urbanite´ et la convivialite´ et ou` tout le monde semble vivre heureux. Comme nous l’avons dit ailleurs, cette mise en sce`ne est tout a` fait „vraisemblable“ en vertu de sa conformite´ avec l’attente du public.26 Ainsi, a` y regarder de plus pre`s, les images 23 Roland Barthes, L’effet du re´el, in: Communications 1 (1968), pp. 179–187 (repris in: Idem, Le bruis-

sement de la langue, Paris 1984); Jean-Louis Violeau, Dire le reel. Analyse de la 6e session du concours Europan en France, in: Urbanisme 322 (2002), pp. 20–21. 24 Dans le corpus que nous avons analyse´ font exception les vues pre´sente´es dans les projets suivants: Tapis rouge; Urban Zip; JSI – je suis ici – vivre et travailler a` Drocourt. Ce dernier met en sce`ne les habitants du site, mais ceux-ci se transforment en entrepreneurs et le nomadisme souhaite´ devient paradoxalement celui „des hommes d’affaires, des hommes politiques, des artistes“. 25 Michel Foucault, Des espaces autres, in: Architecture, Mouvement, Continuite´ 5 (1984), pp. 46–49. 26 Enrico Chapel (e´d.), Images spatiales et projet urbain. Rapport de recherche pour le PUCA, Ministe`re de l’Equipement, des Transports et du Logement, Paris 2005; Enrico Chapel/Isabelle Grudet/ Thierry Mandoul, Images spatiales et projet urbain, in: E´chelles et temporalite´s du projet urbain, e´d. par Yannis Tsiomis, Paris 2007.

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des participants ne te´moignent-elles pas de l’essor d’une nouvelle utopie, une sorte d’ „utopie du re´el“ oppose´e radicalement aux „contre-utopies“ qui avaient marque´ l’architecture et l’urbanisme des anne´es 1970?27 C’est en tout cas un contexte social et politique diffe´rent que ces images font voir. Certaines d’entre elles, construites avec des logiciels de plus en plus sophistique´s, permettent non seulement de simuler un environnement futur, mais encore de le me´langer a` un environnement existant pre´alablement photographie´. Avec des allures hyperre´alistes, elles donnent ainsi l’impression de repre´senter un monde dont la clarte´ ne rele`ve pas de l’explication, mais de l’e´vidence.28

III. L’architectural et le naturel: pour une ville durable

La demande des citadins d’habiter en ville mais en meˆme temps dans la nature ou proche de celle-ci pose la question: comment fabriquer des paysages urbains en trouvant un e´quilibre entre baˆti et e´le´ments naturels? (Dossier de lancement Europan 8) Il semble que la nature occupe une place importante dans la repre´sentation de cette socie´te´ heureuse vivant une ville ludique et productrice d’expe´riences toujours renouvele´es. Comme on l’a de´ja` dit, dans l’urbanisme contemporain la nature a change´ de sens et a complexifie´ son rapport avec l’urbain. Elle n’est plus seulement support de loisirs et d’espaces de de´tente, mais assume des significations e´cologiques, bioclimatiques, environnementales et agricoles. Celles-ci sont de´cline´es de fac¸on diverse dans les projets: fac¸ades et terrasses ve´ge´talise´es, champs agricoles, jardins familiaux, plans ` l’e´vidence, nous sommes face a` un imaginaire architecd’eau, bilans e´nerge´tiques. A tural qui voit dans la nature le moyen le plus a` meˆme d’acce´der a` une vie urbaine e´quilibre´e, saine, calme, joueuse et durable. Or, cet imaginaire a-t-il des conse´quences sur la repre´sentation des projets? Il est frappant de constater l’usage re´pandu que les architectes font de la couleur verte. Les photographies ae´riennes, comme les plans, les coupes et les autres dessins d’architecture sont majoritairement retouche´s avec cette teinte. Dans les vues perspectives, tous les pre´textes sont bons pour introduire de l’herbe, des tapis de fleurs, des le´gumes, de l’eau, des plantes et des arbustes a` l’inte´rieur et a` l’exte´rieur des appartements. Parfois les baˆtiments, ou certains de leurs e´le´ments, de meˆme que les personnages qui les habitent, sont colore´s symboliquement de vert, comme dans le projet Gold in the Shell29 pour Chaˆteauroux (mentionne´), ou` „la ville se construit par une customisation ve´ge´tale des toitures [et] le quartier devient un paysage monumental“ (fig. 11, voir tableaux en couleurs). Cette cosme´tique visuelle va de paire avec 27 La notion de „contre-utopie“ est de Dominique Rouillard, Superarchitecture. Le futur de

l’architecture 1950–1970, Paris 2004. 28 Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957. 29 D. Malige.

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l’utilisation re´currente de termes comme „de´veloppement durable“ ou „haute qualite´ environnementale“ dans les textes des architectes. Si elle n’est sans doute pas toujours approprie´e a` la description fide`le d’une re´alite´ a` venir, il n’empeˆche qu’elle re´pond utilement a` la demande de voir surgir des villes me´langeant de fac¸on harmonieuse la nature avec le baˆti. Ainsi, le projet La Nature au quotidien30 pour le site de Henin Carvin (mentionne´) place les constructions au cœur de jardins communs, appele´s „vacuoles“. Espaces de rencontre et de loisirs, ces jardins offrent une utilisation diversifie´e que l’architecte veut „la plus urbaine possible“. La nature se pre´sente ici comme le germe d’une urbanite´, dont le „beffroi“, lieu de la „de´mocratie participative“, constitue le symbole. En premie`re page de la plaquette, la reproduction du tableau „Le jardinet au paradis“ du Maıˆtre anonyme du Rhin Supe´rieur renvoie le spectateur a` un monde idyllique ou` l’on vivait heureux au cœur de la ville. La vue suivante sur les logements constitue la version plus contemporaine de cette icoˆne (fig. 12, voir tableaux en couleurs). On y voit deux maisons en verre au milieu d’un champ – une jeune maman avec son be´be´ devant l’une, un homme dans le jardin de l’autre – deux garc¸ons en train de pique-niquer, des enfants qui jouent au football, deux coqs et des parkings en arrie`re plan. Cette belle sce`ne de vie en plein air pre´sente deux signes dignes de notre attention. Le premier, plastique, est donne´ par les effets de transparence et les jeux de miroirs entre l’architectural et le ve´ge´tal. Ces effets brouillent les limites entre l’espace domestique et l’espace de nature. Ils illustrent le propos des architectes a` vouloir „fusionner jusque dans la sphe`re de l’intime la nature et le baˆti“, pour que „la maison [soit] un jardin, le jardin une maison“. Le second signe est d’ordre iconique: ce sont les deux coqs en premier plan qui servent a` e´voquer la beaute´ d’une vie campagnarde et peut-eˆtre une certaine nostalgie pour les socie´te´s agricoles.31 Toujours a` Henin Carvin, pour mettre en valeur le paysage dessine´ par les terrils, le projet Vides Charge´s32 propose l’agencement de trois espaces urbains: la „surface publique“, la „cours partage´“ et le „jardin commun“. Trois vues perspectives, une sur chaque planche, les illustrent. Dans la dernie`re (fig. 13, voir tableaux en couleurs), on s’aperc¸oit qu’un syste`me d’oppositions est mis en place, qui distingue, puis re´concilie les contraires. Une vue d’exte´rieur sur le „jardin commun“ s’oppose a` la vue d’un inte´rieur d’appartement, qui montre ce jardin a` travers une paroi vitre´e ouverte. Une jeune fille regarde vers le jardin. Ici, la lecture de la planche instaure moins une antithe`se visuelle qu’un ve´ritable oxymoron: cette figure de style produit une signification globale et enrichie par le rapprochement de termes antithe´tiques. Ces termes sont le naturel du jardin et l’architectural de l’habitation. La figure les rapproche et les fusionne ensemble par des jeux de cadrage (le jardin occupe le point strate´gique vers ou` convergent les lignes de la perspective montrant l’inte´rieur de l’appartement) et l’utilisation de signifiants plastiques (les auvents sur les fac¸ades des baˆtiments entourant le jardin sont colore´s en vert comme l’herbe de celui-ci). La signification globale qui en re´sulte est celle de l’interpe´ne´tration de la nature et du baˆti: la figure 30 F. Gantois. 31 Des coqs apparaissent e´galement dans le projet Tapis rouge. 32 T. Saint-Guillain, V. Parreira, avec B. Schelstraete.

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devient le ve´hicule de l’ide´e d’un dispositif baˆti capable, comme disent les architectes, de „domestiquer la nature“. ` Lille, „le maintien de la biodiversite´, de la flore et de la faune“ est inscrite dans A la vue kale´idoscopique du projet Le Loop, de´ja` analyse´, comme dans l’image verbale de L’estuaire urbain33 (mentionne´). Sur ce site, un autre projet me´rite d’eˆtre examine´ pour l’originalite´ de son propos et de sa pre´sentation: Endroit en ville en vert34. Ce projet cherche a` fusionner la me´moire du patrimoine industriel a` l’e´le´ment naturel assume´ dans son e´tat sauvage. Pour rendre cette ide´e de „brouillage sauvage“, les dessins pre´sentent en gris, de fac¸on indiffe´rencie´e, l’architecture et la ve´ge´tation, tandis que la rouille colore les figurines humaines et quelques e´le´ments du patrimoine industriel (fig. 14, voir tableaux en couleurs). Fait plutoˆt original, les personnages sont rendus a` travers des pictogrammes qui puisent dans une esthe´tique emprunte´e a` la bande dessine´e. Dans ce cadre sce´nographique anime´, ce sont les messages linguistiques, courts et tre`s e´vocateurs, qui font ressentir au spectateur la mate´rialite´, les couleurs, les odeurs ainsi que les textures de la nature et des ambiances prospecte´es. Le texte de pre´sentation du projet fonctionne de la meˆme manie`re: rempli de „mots olfactifs et sonores, oxymores de ville-jardin“, il pre´sente une „ville a` l’envers [ou`] l’herbe pousse en hauteur, les piliers des maisons sont les troncs obliques d’une futaie, terrasses d’e´te´ et jardins d’hiver composent l’e´trangete´ des maisons“. D’autres messages, en forme dialogique, e´mis par des „baˆtiments anime´s“, transmettent le bien fonde´ de l’ide´e environnementale sur laquelle repose l’ensemble du dispositif projete´. On constate, dans tous les cas, l’effacement des frontie`res claires et nettes entre le ve´ge´tal et le mine´ral, entre le naturel et l’architectural. Cet effacement est pris en charge par la cre´ation d’images verbales et iconiques particulie`res, qui sont les signes les plus remarquables de l’e´quilibre recherche´, non pas entre deux mondes se´pare´s, mais entre deux mondes qui s’interpe´ne`trent et fusionnent ensemble. Chez les architectes, il y a une ve´ritable obsession a` restituer la continuite´ des choses, et cela a` travers plusieurs proce´de´s: les fac¸ades et les toits-terrasses des baˆtiments sont traite´s de la meˆme matie`re bio-organique que les sols naturels;35 les sols sont plie´s et ceux naturels ou ve´ge´talise´s pe´ne`trent a` l’inte´rieur du baˆti;36 certains e´le´ments architecturaux refle`tent le ve´ge´tal ou permettent de l’entrevoir par des jeux de transparence;37d’autres reprennent les meˆmes couleurs de la ve´ge´tation et ce faisant se contaminent;38 d’autres encore, par un jeu me´taphorique de transposition de couleurs, deviennent le signe du naturel a` la place du ve´ge´tal les entourant. Ainsi, le projet Tapis rouge39 pour le site de Chaˆteauroux pre´sente des vues ou` le paysage est donne´ en noir et blanc tandis que l’architecture est colore´e symboliquement en vert (fig. 15, voir tableaux en couleurs).

33 R. Gabrion, V. Prie, E. Rolland de Rengerve. 34 X. Ge´ant, J. Gerner, C. Tourneux. 35 Gold in the Shell; De´tours en Dijon; Multiplicity. 36 Laboratoire insulaire – Tectonique chloroph’ile; Living City, a new identity for the station area. 37 Œuvre ouverte; Smallness – Reconsidering the grid city; La Nature au quotidien; Strate´gies d’action. 38 Vides charge´s; L’apre`s port. 39 P. Sartoux, A. Rosenstiehl, avec M. Frei.

Visions d’urbanite´ et paysages sensoriels

221

Une cabine EDF place´e au premier plan d’un „parc e´nerge´tique“ et des e´oliennes sugge`rent l’ide´al e´cologique et marquent ainsi l’espace. Dans leur ensemble, ces indices pourraient eˆtre perc¸us comme des de´tails insignifiants ou, en tout cas, inutiles a` la description de la qualite´ de l’espace architectural et urbain. En re´alite´, ils ont une fonction bien pre´cise: ils offrent au spectateur un monde architectural conforme a` ses valeurs e´cologiques. En meˆme temps, ils te´moignent de l’essor d’un nouveau paradigme du projet architectural et urbain, qui trouve son identite´ sur une logique non pas e´conomique ou sociale (comme c’e´tait sans doute le cas dans les de´cennies pre´ce´dentes), mais environnementale. Leur lecture nous montre que le re´fe´rentiel reconductible a` la notion d’urbanite´ est tre`s impre´gne´ de cette logique. C’est donc tout un syste`me de visualisation qui apparaıˆt pour ve´hiculer les valeurs d’interpe´ne´tration ville/nature. En conclusion, toutes les images des architectes analyse´es re´sultent de la convergence du sensible, de l’humain et du naturel. Elles pourraient eˆtre conside´re´es comme du de´cor, de l’ornement ou du de´tail figuratif qui n’apportent rien de plus a` la description des projets. On pourrait les accuser aussi de jouer en permanence sur l’exce`s et la radicalisation des motifs et des signifiants plastiques pour impliquer le spectateur ` l’inverse, leur valeur est avant tout esthe´tique: elles visent a` de´paset le se´duire. A ser la description neutre, fonctionnelle et objective de l’espace urbain. Elles permettent de visualiser des sce`nes urbaines singulie`res et vivantes de manie`re si frappante que le spectateur se sent personnellement concerne´. Elles donnent ainsi a` ce dernier tout l’e´clat du de´sir et l’envie de vivre l’espace projete´. En meˆme temps, ces images constituent des sortes de figures rassurantes qui mettent en cohe´rence une demande d’urbanite´ formule´e avec un vocabulaire attendu et conventionnel. Cette tendance n’est pour autant pas exclusive: les cartes et les dessins techniques d’architecture pre´sents dans les rendus des concurrents te´moignent de la permanence d’une repre´sentation spatiale code´e et instrumentale.

FARBTAFELN

Abb. 1 zu Fouquet (S. 21–42): Pilsen um 1536/37

Quelle: Reise durch Europas Mitte. Die Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/37, Potsdam 2003, S. XLV

Farbtafeln

225

226

Farbtafeln

Abb. 2 zu Fouquet (S. 21–42): Erhard Etzlaub, Nu¨rnberg in den Reichswa¨ldern, 1516 Quelle: Franz Schiermeier, Stadtatlas Nu¨rnberg. Karten und Modelle von 1492 bis heute, Mu¨nchen 2006, S. 63

Farbtafeln

Abb. 4 zu Fouquet (S. 21–42): Wu¨rzburg, umgeben von Weinbergen, um 1550 Quelle: Stadtarchiv Wu¨rzburg, Plansammlung

227

228

Farbtafeln

Abb. 5 zu Fouquet (S. 21–42): Albrecht Du¨rer, „Weiher-Ha¨uschen“ Quelle: © Trustees of the British Museum

Abb. 6 zu Fouquet (S. 21–42): Augsburger Monatsbilder, Tafel Monate April bis Juni

Quelle: „Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel“. Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance, hg. vom Deutschen Historischen Museum, Mu¨nchen 1994, Tafel 2

Farbtafeln

229

Quelle: „Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel“. Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance, hg. vom Deutschen Historischen Museum, Mu¨nchen 1994, Tafel 4

Abb. 7 zu Fouquet (S. 21–42): Augsburger Monatsbilder: Tafel Monate Oktober bis Dezember

230 Farbtafeln

Farbtafeln

Abb. 8 zu Fouquet (S. 21–42): Meßkirch im Schwarzwald, um 1575 Quelle: Generallandesarchiv Karlsruhe, J/B Meßkirch Nr. 1

231

Quelle: Sa¨chsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 12884 Karten und Risse, Schrank XXVI, Fach 96. Nr. 11, Bl. 4 (Makrofiche Nr. 15725)

Abb. 1 zu Opll (S. 133–155): WIENN (Grundrissplan der Stadt Wien mit den wichtigen profanen und geistlichen Objekten in Aufrissdarstellung sowie Teilen der o¨stlichen, su¨dlichen und no¨rdlichen Vorstadtgebiete im Grund- bzw. Aufriss)

232 Farbtafeln

Quelle: Landesarchiv Baden-Wu¨rttemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, Hfk Planba¨nde 15, 8v–9r

Abb. 2 zu Opll (S. 133–155): VIENNA (Grundrissplan der Stadt Wien mit den wichtigen profanen und geistlichen Objekten in Aufrissdarstellung mit Teilen der o¨stlichen und su¨dlichen Vorstadtgebiete im Grund- bzw. Aufriss)

Farbtafeln

233

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 1 zu Chapel (S. 209–221): Lille, „Paysage code-barres“, Damien Guiot, David Depreeuw, Thibaud Foucray, He´le`ne De Deurwaerder

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 2 zu Chapel (S. 209–221): Chalon-sur-Saoˆne, „Sweet Home Ch...alon“, Thomas Saint-Yves, Chloe´ Sanson, avec Julie de Kimpe

(Europan 8, 2005, projet laure´at)

Fig. 3 zu Chapel (S. 209–221): Lille, „The Loop“, FHLY, Pierre-Emile Follacci, Astrid Hervieu, Patrick Leitner, Tae-Hoon Yoon

(Europan 8, 2005, projet laure´at)

Fig. 4 zu Chapel (S. 209–221): La Courneuve, „Centralite´ line´aire“, He´le`ne Loviton, Ken Teisseire

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 5 zu Chapel (S. 209–221): Lille, „Multiplicity“, Lyde´ric Veauvy, Olivier Camus

(Europan 8, 2005, projet mentionne´)

Fig. 6 zu Chapel (S. 209–221): Dijon, „Urban Osmotic“, Aldo Micillo, avec Paolo Falco, Rosa Pascarella, Massimiliano Fedele, Assunta Duracci, Vittoria d’Orta, Rossella di Francesco

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 7 zu Chapel (S. 209–221): Chaˆteauroux, „Entre deux seuils, un sol“, Antonin Ziegler, avec Sole`ne Guezet

(Europan 8, 2005, projet cite´)

Fig. 8 zu Chapel (S. 209–221): Chaˆteauroux, „Living City, a new identity for the station area“, Goetz (Peter) Feldmann, Michaela Tomaselli, Marc-Andre´ Herschel

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 9 zu Chapel (S. 209–221): He´nin-Carvin, „Œuvre ouverte“, Antoine Pelissier, Stefano Benatti, Se´bastien Layet, avec Luca Pastori, Sonia Hellal, Alessandro Ascani, Valeria Calabrese, Federico Fabiani, Barbara Fumarola

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 10 zu Chapel (S. 209–221): La Courneuve, „Multipli-city“, Silvio d’Ascia, avec Mathieu Roggwiller, Fe´lix Leveque, Etienne Seif, Emile Tessier, Cle´mence de Saint Marie

(Europan 8, 2005, projet mentionne´)

Fig. 11 zu Chapel (S. 209–221): Chaˆteauroux, „Gold in the Shell“, Damien Malige

(Europan 8, 2005, projet mentionne´)

Fig. 12 zu Chapel (S. 209–221): He´nin-Carvin, „La Nature au quotidien“, Fabien Gantois

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 13 zu Chapel (S. 209–221): He´nin-Carvin, „Vides Charge´s“, Thomas Saint-Guillain, Vincent Parreira, avec Benoıˆt Schelstraete

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 14 zu Chapel (S. 209–221): Lille, „Endroit en ville en vert“, Xavier Ge´ant, Jochen Gerner, Camille Tourneux

(Europan 8, 2005, projet pre´se´lectionne´)

Fig. 15 zu Chapel (S. 209–221): Chaˆteauroux, „Tapis rouge“, Pierre Sartoux, Augustin Rosenstiehl, avec Martin Frei

INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Alberti, Leandro 115 Albeverio, Sergio 193 Albrecht I., Kg. 72 Allen, Woody 177 Altkirch 69 Amalfi 109 Angielini, Fam. in Mailand 147, 148, 153, 154 Angielini, Natale 151–153 Angielini, Nicolo` 150, 151, 153 Angielini, Paolo 151, 153 Annaberg 35 Anselm, Hr. v. Rappoltstein 74–77, 79 Arnheim, Rudolf 169 Augsburg 31–33, 100 Bala´zs, Be´la 160 Baltimore 187, 189–191 Barthes, Roland 173 Basel 29, 31, 34, 35, 37, 69, 88, 89, 96, 97, 100, 102 Kleinbasel 37 Batty, Michael 193 Baudelaire, Charles 174 Beatis, Antonio de 31, 32, 36 Beblenheim 75 Beham, Bartel 139 Benjamin, Walter 174 Bergheim 75 Bergson, Henri 165 Berlin 35, 158, 172 Bernhard v. Clairvaux 49 Bertolucci, Bernardo 45 Biha´c 147 Boethius 53 Boston 172 Bourdieu, Pierre 181 Braun, Georg 115, 136, 140, 142 Braun, Hieronymus 27, 28 ¨ . 101 Burgkmaier, Hans, d. A Burke, Kenneth 205 Burkhard v. Frick 69 Byrne, David 198 Capaccio, Giulio Cesare 107, 127–131

Celtis, Conrad 30 Certeau, Michel de 126, 179–181, 183 Chalon-sur-Saoˆne 212, 235 Charax, Leo 45 Chaˆteauroux 213, 216, 218, 220, 240, 241, 244, 248 Cochlaeus, Johannes 27, 30 Cohen, Jack 197 Colmar 26, 77 Debord, Guy 177 Diebel, Elias 39–41 Dijon 213, 239 Doyle, Arthur Conan 174, 176, 181 Du Me´ril, E´de´lestand 62 Du¨rer, Albrecht 29, 144, 228 Duisburg 184, 185 Eckardt, Frank 195, 202 Ensisheim 70–73, 80 Erhard v. Appenwiler 97 Etzlaub, Erhard 24, 26, 27, 226 Faber, Felix 30, 31 Faraldo, Claude 45 Fattlin, Melchior, Weihbf. in Konstanz 101 Ferdinand I., Ks. 136 Fiume (Rijeka) 147 Flacius, Matthias, gen. Illyricus 61 Flavio Biondo 105 Fluck, Winfried 206 Fonticulano, Ieronimo 114, 116 Foucault, Michel 177 Frankfurt a. M. 35 Friedell, Egon 162, 163 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 78 ¨ sterreich Friedrich II. d. Streitbare, Hz. v. O 136 Friedrich III., Ks. 136 Fritsche Closener 99 Frollo, Jehan 64 Ga¨rtner, Peter 136 Gance, Abel 166

250

Index der Orts- und Personennamen

Gebhard Dacher, Rh. in Konstanz 91, 92, 101 Gell-Mann, Murray 197, 205 Gemar 74–77, 80 Giraldus Cambrensis (Gerald of Wales) 133 Glomb, Stefan 206 Go¨rz (Gorizia) 140 Graz 147, 152 Gro¨ber, Gustav 62 Guido v. Bazoches 48 Haken, Hermann 196 Halle 35 Hamburg 33 Hans v. Hungerstein 100 Hartmann, Job 154 Haselberg, Johann 139 Haskins, Charles Homer 63, 64 v. Hattstatt, Fam. 70 Heidelberg 26 Heinrich Sinner v. Dachsfelden 100 Heinrich, Hr. v. Rappoltstein 74–76, 80 Heloise 61 Helsinki 207 He´nin-Carvin 214, 216, 219, 242, 245, 246 Hirschvogel, Augustin 141, 142, 148, 154 Hoefnagel, Jacob 134 Hogenberg, Frans 115, 136, 140, 142 Horlacher, Stefan 206 Huber, Wolf 139 Hugo, Victor 64 Hus, Jan 93, 94 v. Illzach, Fam. 70 Innozenz III., Papst 50 Innsbruck 31 Iser, Wolfgang 205 Ivo v. Chartres 54 Jacob v. Vitry 51, 58 Jacobs, Jane 195, 202 Jakob Twinger v. Ko¨nigshofen 90, 98–102 Jerusalem 133 Johann Ba¨mler 100 Johannes de Hauvilla (Alta Villa) 46, 47, 60 Johannes IV., Hr. v. Rappoltstein 79 Johannes v. Salisbury 55, 57 Johannes v. Segovia 96 Karl, Ehz. v. Innero¨sterreich 151 Kaschau (Kosˇice) 147 Kaurisma¨ki, Aki 43, 44 Ko¨ln 27, 29, 31, 34, 37, 38 Komorn (Koma´rno) 147 Konrad Gru¨nenberg, Patrizier in Konstanz 92 Konstanz 31, 87–97, 101–103 Koprivnica 147

Kracauer, Siegfried 160 La Courneuve 213, 216, 237, 243 Lafreri, Antonio 108, 125 Laibach 147, 152 Laistner, Ludwig 63 Landser 70, 72, 73, 80 Lang, Fritz 158, 164, 165 v. Laubgassen, Fam. 70 Le Goffs, Jacques 65 Lefebvre, Henri 179–181, 183, 198, 211 Leonardo Bruni 95 Leonardo da Vinci 145 ¨ sterreich 136 Leopold III. d. Hl., Hz. v. O Lille 211, 213, 220, 234, 236, 238, 247 Lindner, Rolf 182, 200 Link, Juergen 206 London 29, 30, 171–173, 175, 176, 179, 180, 182–186 Ludwig VII., Kg. v. Frankreich 50 Lu¨beck 39–41 Lu¨tzel, Kloster 71 Luther, Martin 94 Lynch, Kevin 181, 195, 202 Mack, Max 158 Mahler, Andreas 173, 176 Mainz 29, 31 Mainzer, Klaus 199, 201 Malraux, Andre´ 44 Manegold, Magister 47 Mangolt, Gregor, Patrizier in Konstanz 93–95 Marburg 25 Martin v. Troppau 98 Martin V., Papst 95 Martin, Karl-Heinz 158 Maximilian II., Ks. 151, 153 Mediasch (Media¸s) 135 Meisel, Edmund 166, 168 Meldeman, Niclas 139 Mercator, Gerhard 145 Merian, Mattha¨us 137 Meßkirch 34, 35, 231 Metz 29 Miller, Henry 45 Moholy-Nagy, La´szlo´ 169 Mu¨nchen 139 Mu¨nster, Sebastian 140, 142 Mukatschewe 147 Mullaney, Steven 175, 178–180, 182 Munro, Ian 175, 178–180, 182 Murer, Jos 36, 39, 40 Musner, Lutz 174 Nagykanizsa 147 Neapel 105–131

Index der Orts- und Personennamen Neuhaeusel (Nove´ Za´mky) 147 New York 172 Niccolo` Niccoli 95 Niedergemar 76 Nigellus Wireker 49 Nikolaus Gerung v. Blauenstein 97 Nippur 133 Nu¨rnberg 24, 26–29, 31, 33, 41, 144, 226 Obergemar 76 ¨ hem, Gallus 92 O Ortelius, Abraham 145 Ortlieb, Bf. v. Basel 78 Ottmarsheim, Kloster 69 Paris 43–66, 177 Passau 139 Patrizzi, Agostino 29 Peruzzi, Baldassare 145 Peter Abaelard 47–49, 54–56, 61 Peter v. Blois 61 Pfemfert, Franz 163 Pfirt 69, 73 Philipp d. Streitbare, Pfgf. v. Pfalz-Neuburg 136 Philipp II. Augustus, Kg. v. Frankreich 50 Pilsen 23, 225 Poe, Edgar Allen 174, 181 Pompidou, Georges, Premierminister v. Frankreich 64 Portugali, Juval 196, 197, 199, 202 Preßburg (Bratislava, Pozsony) 143 Pru¨mm, Karl 164 ˝ 147 Raab (Gyor) Ramus, Pierre 60 Randersacker 29 Rappoltsweiler 74, 75, 78–80 Rathenau, Walter 162, 163 Reckwitz, Andreas 183 Reichenweier 75 Reutlinger, Jakob 94 Rodern 75 Rodtschenko, Alexander 169 Rom 133 Rorschweier 75 Rudolf I. v. Habsburg, Kg. 71, 77 Rudolf II., Ks. 146 Ruggieri, Fulvio 35 Ruttmann, Walter 157–170 Sachs, Hans 24 Sackmar (Satu Mare) 147 Salerno 109 San Gimignano 216 Sangallo, Giuliano da 145

251

Schedel, Hartmann 136 Schlo¨gel, Karl 175 Schmeller, Johann Andreas 62 Schulthaiß, Christof 94 Sennheim 69 Siebel, Walter 203 Simmel, Georg 165, 195, 202 Speyer 29, 31 Stefano, Pietro de 106, 117–124, 126 Steiner, Heinrich 94 Sterzing 31 Stewart, Ian 197 Stierle, Karlheinz 174 Stow, John 29, 30 Straßburg 29, 31, 69, 88, 89, 97–102 ¨ . 26 Stromer, Peter, d. A Stuhlweißenburg (Sze´kesfehe´rva´r) 143 Stumpf, Johannes 94 Symonds, John Addington 63 Tarcagnota, Giovanni 107, 124–126, 130, 131 Thann 69 Thierry v. Chartres 53 Thomas v. Aquin 54 Trier 27 Ulrich Richental 87–92, 96 Ulrich Ro¨sch, Abt v. St. Gallen 92 Urban II., Papst 54 Vare`se, Edgar 44 Venedig 145 Venturi, Robert 174 Vincenz v. Beauvais 98 Vitalis v. Blois 57, 58, 60 Vives, Juan Luis 61 Vo¨geli, Jo¨rg, Stadtschreiber in Konstanz 93 Waddell, Helen 63 Weinsberg, Hermann 34 Wellershoff, Dieter 205, 206 Widmer, Beatus 94, 95 Wien 26, 133–155, 172 Wilhelm v. Champeaux 47 Wittenberg 35 Woensam, Anton 37, 38 Wolmuet, Bonifaz 141, 142, 148, 149, 154 Worms 29 Wu¨rzburg 29, 227 Wyngaerde, Anthony van den 178, 180 Zagreb 147, 152 Zapf, Hubert 206, 207 Zell, Christoph 139 Zellenberg 75 Zengg (Senj) 147

252

Index der Orts- und Personennamen

Zenoi, Domenico 145, 148, 153 Zscheckenbu¨rlin, Patrizierfam. in Basel 100 Zu Rhein, Ministerialenfam. im Bm. Basel 101

Zu¨rich 36, 39, 40, 94 Zweig, Stefan 164

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EDUARD MÜHLE

BRESLAU GESCHICHTE EINER EUROPÄISCHEN METROPOLE

Über tausend Jahre Stadtentwicklung unter wechselnden politischen Herrschaften und kulturellen Einflüssen – zwischen Böhmen, Polen, Österreich und Preußen – haben sich in die Topographie und Architektur Breslaus eingeschrieben. Am Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu vollkommen zerstört, wurde das seit dem späten Mittelalter deutschsprachige Breslau als polnisches Wrocław wieder aufgebaut. Nach der politischen Wende von 1989 erhob sich die Stadt aus dem Grau des sozialistischen Alltags zu neuer, beeindruckender Blüte. Der städtebauliche Reichtum und die kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt tragen maßgeblich zur Attraktivität Breslaus bei. 2016 wird die polnische Stadt »Europäische Kulturhauptstadt« sein. Eduard Mühles profunde, gut erzählte Stadtgeschichte vermittelt ein lebendiges Bild von der historischen Entwicklung Breslaus und veranschaulicht, warum die Stadt zu Recht zu den vielfältigsten europäischen Metropolen gezählt wird. Dieser Titel liegt auch als EPUB für eReader, iPad und Kindle vor. 2015. 387 S. 18 S/W- UND 28 FARB. ABB. FRANZ-BR. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-50137-2

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DIETER SCHOTT

EUROPÄISCHE URBANISIERUNG (1000–2000) EINE UMWELTHISTORISCHE EINFÜHRUNG UTB 4025 M

Die Herausbildung einer vielgestaltigen Städtelandschaft seit dem Hochmittelalter war ein fundamentaler Prozess der europäischen wie auch der Weltgeschichte. In dieser Einführung werden die wesentlichen Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen der Urbanisierung dargestellt. Im Vordergrund stehen Fragen nach den Umweltbeziehungen von Städten. Wie gelang es Ressourcen zu sichern, die für den Stoffwechsel der Stadt notwendig waren? Welche Folgen hatte dies für die Umwelt in den Städten und in ihrer Umgebung? Die einzelnen Themen werden am Beispiel führender europäischer Städte erläutert. 2014. 395 S. 25 S/W-ABB. BR. 215 X 150 MM ISBN 978-3-8252-4025-7 [BUCH] | ISBN 978-3-8436-4025-7 [E-READER]

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