Untersuchungen zum Wortfeld »Verlangen/Begehren« im frühgriechischen Epos 9783666252051, 3525252056, 9783525252055

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Greek, Modern (1453-) Pages [208] Year 1995

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Untersuchungen zum Wortfeld »Verlangen/Begehren« im frühgriechischen Epos
 9783666252051, 3525252056, 9783525252055

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H Y P O M N E M A T A 105

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Christian Habicht Hugh Lloyd-Jones/Günther Patzig

HEFT 105

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

GERRIT KLOSS

Untersuchungen zum Wortfeld „Verlangen/Begehren" im frühgriechischen Epos

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Albrecht Dihle

Die Deutsche Bibliothek

-CIP-Einheitsaufnahme

Kloss, Gerrit: Untersuchungen zum Wortfeld „Verlangen, Begehren" im frühgriechischen Epos / Gerrit Kloss. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Hypomnemata ; H. 105) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1991/92 ISBN 3-525-25205-6 NE: GT

D7 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994 Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die an einigen Stellen überarbeitete und im gebotenen Maße aktualisierte Fassung meiner Dissertation, die der Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften der Universität Göttingen im Wintersemester 1991/92 angenommen hat. Dafür, daß sie nun in der Reihe der „Hypomnemata" erscheinen kann, danke ich den Herausgebern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Albrecht Dihle. Herrn Prof. Dr. Klaus Nickau, meinem Doktorvater, gehört mein ganz besonderer Dank für das wohlwollende, dabei stets kritische Interesse, mit dem er die Entstehung der Arbeit in allen Phasen begleitet und gefördert hat. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Carl Joachim Classen für seine freundliche Bereitschaft, das Korreferat zu übernehmen. Wertvolle Hinweise zu sprachwissenschaftlichen Fragen verdanke ich den Herren Professoren Dr. Wolfgang P. Schmid und Dr. Michael Schlaefer. Mein Freund Farouk Grewing hat sich um die Arbeit mehrfach als scharfsinniger Leser verdient gemacht und mich bis zuletzt vor Versehen nicht nur orthographischer Art bewahrt. Eine so intensive Beschäftigung mit der Antike wäre nicht möglich gewesen ohne den Rückhalt, den mir meine Eltern während meines gesamten Studiums gewährt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.

Göttingen, im Oktober 1994

G.K.

Inhalt Einleitung

11

1. Wortfeldforschung und Homer 2. Das Problem der Wortfeldgrenzen im Griechischen 3. Wörter für „Verlangen" und „Begehren" in der späteren griechischen Sprachreflexion 4. Plan der Untersuchung Erster Hauptteil: ερος/ερως - 'ίμερος - πόθος I. Homer

11 13 16 20 24 24

1. ερος/ερως

1.1. Der Befund 1.2. Die Formen 1.3. Bedeutung und Verwendung von ερος/ερως 1.3.1. Erste Einordnung der Belege 1 . 3 . 2 . ερος 1 . 3 . 3 . Logische

Unterscheidung der Verwen-

dungsweisen von ερος u n d ερως

1 . 3 . 4 . ερως 1 . 3 . 5 . ερασθαι/έρατίζειν 1 . 3 . 6 . έρατός/έραννός/έρατεινός 2 . ίμερος

2.1. Der Befund 2.2. Erste Einordnung 2.3. Bedeutung und Verwendung von ϊμερος 2.3.1. 'ίμερος als beginnendes Verlangen 2.3.2. Der Wirkungsbereich des'ίμερος 2 . 3 . 3 . „Erinnerung" bei'ίμερος?

24

24 24 25 25 28

32 34 39 40 44

44 44 47 47 49

50

2.3.4. 'ίμερος γόοιο

53

2.3.6. Zusammenschau und Interpretation der Ergebnisse

60

2 . 3 . 5 . ϊμερόεις

3. πόθος/ποθή 3.1. Der Befund 3.2. Erste Annäherung 3 . 3 . πόθος ποθή

54

66 66 66 69

8

Inhalt

3.4. Die Stellen 3.4.1. ττοθη, 3.4.2. ττοθη2

70 71 71

3 . 4 . 3 . πόθος 3 . 5 . ττοθείν

73 74

3.5.1. zu ποθη2 3.5.2. zu πόθος 3.6. Ergebnis II. Hesiod und die homerischen Hymnen 1. ε ρ ο ς / ε ρ ω ς und Verwandtes 1.1. ερος/ερως 1.2. έράν/ερασθαι/έρατίζειν

2. Υμερος und Verwandtes 2 . 1 . 'ίμερος 2 . 2 . ίμείρειν/ϊμείρεσθαι

3. Die mit ερος und 'ίμερος verwandten Adjektive 4 . πόθος

74 75 76 78 78 78 86

87 87 89

91 96

4.1. Die Stellen 4.2. Zusammenfassung

96 99

5. 'Έρος/'Έρως,"Ιμερος,Πόθος

102

Kriterien für die Auswahl weiterer Begriffe des Verlangens und Begehrens 1. Genitiv als notwendige Bedingung 2. Ausschluß von ursprünglich wortfeldfremden Begriffen 3. Ergebnis der Auswahl

109 109 110 112

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κ ε χ ρ η μ έ ν ο ς / χ ρ η ΐ ζ ε ι ν χ α τ ε ΐ ν / χ α τ ί ζ ε ι ν - (έ)έλδεσθαι 1. λιλαίεσθαι

1.1. Der Befund 1.2. Die Stellen 1.3. Einordnung der Ergebnisse

2 . κεχρημένος/χρηίζειν

2.1. Der Befund 2.2. Die Stellen

113 113

113 116 121 123

123 124

Inhalt 3.

4.

9

χατεΐν/χατίζειν

130

3.1. Der Befund 3.2. Bedeutungsansatz 3.3. Die Stellen 3.3.1. mit Genitiv der Person 3.3.2. mit Genitiv eines nomen actionis oder mit Infinitiv 3.3.3. mit Genitiv der Sache 3.4. χητος

130 130 132 132 133 138 138

(έ)έλδεσθαι

140

4.1. Der Befund 4.2. Interpretation 4.2.1. Zur Bedeutung von (έ)έλδεσθαι 4.2.2. Zur syntaktischen Verwendung von

140 141 141

(έ)έλδεσθαι

Schlußbetrachtung

145

155

Anhang I: θυμός und φρένες - einige Beobachtungen zur homerischen Kompositions- und Verstechnik

168

Anhang II: h. Mere. 447-9

176

Verwendete Literatur

180

Index locorum

191

Index verborum Graecorum

203

Einleitung 1. Wortfeldforschung und Homer Der Gedanke, das Verständnis eines Textes durch die Analyse seines Wortschatzes voranzubringen, hat erstaunlich spät die ihm adäquate Methode gefunden: die Wortfeldforschung. Man wußte zwar von der Gliederung des Wortschatzes (HUMBOLDT, SAUSSURE), dieses gefügten Raumes, in dem eine Stelle in ihrem Sinn vom Ganzen und von jeder anderen nach Stellungswerten abhing, und Wortgeschichte also zu begreifen war aus den Umgliederungen des Gesamtraumes1; aber fruchtbar wurde diese Erkenntnis erst mit der Entwicklung des Feldbegriffs: Zwischen die Einzelwörter und den Gesamtwortschatz einer Sprache treten als erstmals sinnvoll handhabbare Einheiten sprachliche Wirklichkeiten, die als Teilganze mit dem Wort das Merkmal gemeinsam haben, daß sie sich ergliedern, mit dem Wortschatz hingegen, daß sie sich ausgliedern. Die Ordnungshöhe ist dabei gleichgüäig.2 Für die klassische Philologie hatte 1 9 2 2 B. SNELL 3 mit der Analyse von Wortschatzausschnitten begonnen. Eine umfassende theoretische Grundlegung versuchte jedoch erst der Germanist J. TRIER 4 im Jahre 1931. Er machte deutlich, daß Begriffsgeschichte überhaupt nur im Rahmen einer Wortfeldgeschichte denkbar ist.5 Erst vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Begriffsverwandten6 erhält ein Einzelwort das Profil, das eine Untersuchung seines Inhalts zu verschiedenen Zeitpunkten ermöglicht. Die synchronische Perspektive tritt also als das entscheidend neue Merkmal der Wortschatzanalyse (und als Voraussetzung jeder diachronischen Betrachtung) in Erscheinung: 1 2 3 4

5 6

J. TRIER, Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung, in: L. SCHMIDT (Hrsg.), Wortfeldforschung (WdF Bd. 250), Darmstadt 1973, 131. TRIER, Das sprachliche Feld 132. B. SNELL, Die Ausdrücke ßir den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Diss. Göttingen 1922, Berlin 1924. J. TRIER, Über Wort- und Begrijfsfelder, in : L. SCHMIDT ( Anm. 1) 1-38 (= Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes I, Heidelberg 1931, 1-26 und 310-322). Der deutsche Wortschatz 2 lf. Der deutsche Wortschatz 1.

12

Einleitung

Zu einer Anschauung von der Feldaufteilung gelangt man nur, wenn man vom Wortgebrauch des einzelnen, durchaus ganz zu lesenden Werkes ausgeht.7 Ebendieser Methode hat sich die Homerphilologie seither mit beträchtlichem Erfolg bedient. Dabei wurde die Beschäftigung mit homerischen Begriffen durchaus nicht immer nur als Teil einer Begriffsgeschichte verstanden.8 Auch rein synchronische Untersuchungen zu Homers Sprachgebrauch förderten bemerkenswerte Resultate zutage. So entdeckte B. SNELL 9 bei der Suche nach Wörtern für „Körper" das Fehlen einer ganzheitlichen Selbstauffassung des homerischen Menschen. Zu diesem Ergebnis gelangte er aufgrund der Fragestellung, wie sich unser Wort „Körper" in verschiedenen Zusammenhängen in die homerische Sprache übersetzen ließe.10 Gleiches gilt für unser Verbum „sehen": Keine zwei der von SNELL 1 1 untersuchten griechischen Verben sind im strengen Sinne synonym, alle bezeichnen verschiedene Qualitäten der optischen Wahrnehmung, doch keines das Sehen in seiner bloßen Sachlichkeit. Es ist offenbar eine charakteristische Eigenschaft des homerischen Wortschatzes, daß seine Wortfelder nicht von einem oder wenigen sachlich-abstrakten Begriffen, sondern von einer Vielzahl sinnlich-konkreter Ausdrücke abgedeckt werden, die dennoch niemals wirklich deckungsgleich sind.12 Der deutsche Wortschatz 24. Ein bekanntes Beispiel einer .Wortfeldgeschichte" ist H. FRANKELS Aufsatz Die Zeitauffassung in derfrühgriechischenLiteratur, in: Wege und. Formen frühgriechischen Denkens, München 21960, 1-22 (= Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 |1931|, 97-118). Bemerkenswerterweise wurden solche Untersuchungen besonders häufig an den frühgriechischen Dichtern vorgenommen („... von Homer bis ..."). Dies ist wenig verwunderlich, wenn zutrifft, was schon HERDER (Abhandlung über den Ursprung der Sprache 11772], in: J.G.H., Sprachphilosophische Schriften, hrsg. v. E. HEINTEL, Hamburg (Felix Meiner) 1960, 48; Fragmente über die Bildung einer Sprache, ebd. 118, 130, 141) konstatiert, daß nämlich frühe Sprachstadien, besonders solche poetischen Charakters, in der Regel von Synonymen und Pleonasmen übervoll sind und erst die Philosophie die Einheitlichkeit, Strenge und Ökonomie in die Sprache hineinträgt, Synonyme gegeneinander abgrenzt und definiert. Eine Geschichte des Begriffs ϊρως von Homer bis Piaton und darüber hinaus (die ich hier nicht schreiben kann) wäre dafür sicherlich beispielhaft. 9 B. SNELL, Die Auffassung des Menschen bei Homer, in: Die Entdeckung des Geistes, Göttingen Anhang I), tatsächlich eine große Zahl von Fällen semantischer Übereinstimmung und sogar Nullwertigkeit der Begriffe vor.

14

Einleitung

Welche Umstände, Anzeichen, Merkmale geben dem Sprachforscher eigentlich ein Recht, an dieser oder jener Stelle des gesamten Wortschatzes ein Feld anzunehmen? Welche sprachwissenschaftlichen Überlegungen lenken den Griff, mit dem man bestimmte Elemente herausgreift, um sie dann als Feld zu untersuchen?13 Damit war die Frage nach objektiven Kriterien für die Ermittlung von Wortfeldern gestellt. Aus heutiger Sicht kann mein sagen, daß keine der Theorien, die ausschließlich mit rein sprachlichen Kriterien arbeiten14, in der Lage ist, den gesamten Wortschatz einer Sprache zu erfassen, wie dies TRIERS eher intuitiver Ansatz leistet.15 Es gibt demzufolge zwar keine Methode, mit der sich unfehlbar alle Wörter des Verlangens im Vokabular des frühgriechischen Epos ermitteln ließen, doch befreit dies nicht von der Verpflichtung, die vorläufige Aufnahme eines Wortes in die Reihe der zu untersuchenden Begriffe durch möglichst objektive Kriterien hinreichend zu motivieren. Den folgenden Überlegungen möchte ich zunächst eine Definition voranstellen: Unter „Wortfeld" sei zu verstehen ein lexikalisches Paradigma, das durch die Aufteilung eines lexikalischen Inhaltskonümiums unter verschiedene in der Sprache als Wörter gegebene Einheiten entsteht, die durch einfache inhaltsunterscheidende Züge in unmittelbarer Opposition zueinander stehen ... Jede in der Sprache als einfaches Wort gegebene Einheit ist inhaltlich ein Lexem. Eine Einheit, die dem ganzen Inhalt eines Wortfeldes entspricht, ist ein Ar chile xe m }G

13 TRIER, Das sprachliche Feld 144. 14 Beispielhaft seien genannt die von W. PORZIG gefundenen Wesenhaften Bedeutungsbeziehungen (Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 58 11934], 70-97); einen Überblick über die wichtigsten Theorien gibt S. ULLMANN, Grundzüge der Semantik, dt. Berlin 1967 (The Principles of Semantics, Oxford 1957), 14Iff. (zur Kritik an TRIER s. v.a. 146f.). 15 Die zweite der zwölf Thesen zw Feldtheorie (in: W d F Bd. 250 (-> Anm. 11 426435) von H. SCHWARZ lautet: Der Ausschnitt kann gemäß dem Jeweiligen Forschungsziel mit Hilfe eines ungefähr passenden Ausdrucks willkürlich ...festgelegt werden. 16 E. COSERIU, Lexikalische Solidaritäten, in H. GECKELER (Hrsg.), Strukturelle Bedeutungslehre (WdF Bd. 426), Darmstadt 1978, 239-253 (= Poetica 1 [19671, 293-303), s. dort S. 241; vgl. G.H. BLANKE, Einführung in die semantische Analyse, München 1973, 61; ULLMANN, Grundzüge der Semantik 146; ders.. Semantics. An Introduction to the Science of Meaning, Oxford 1962, 244f.; J. LYONS, Semantik, Bd. I. dt. München 1980 [Semantics. Vol. I, Oxford 1977), 265; T. LEWANDOWSKI, Linguistisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1976, dort Bd. 1, s.v. »Feld", insbes. 193.

Einleitung

15

Für Untersuchungen des mittelhochdeutschen Wortschatzes hat seine Methode, das Feld aus der MachivoUkommenheit unseres heutigen, uns gemeinsamen Sprachbesitzes und seiner inhaltlichen Ordnung anzusetzen und dann auf ältere Zeiten zu übertragen, als Weg zur Erkenntnis des inhaltsgeschichtlichen Wandels bezeichnet.17 Auch für eine semasiologische Betrachtung von Begriffen aus dem Bereich des frühgriechischen Epos bleibt kaum eine andere Lösung: Wir müssen eine Ebene finden, auf der unsere Sprachkenntnis für die sichere Konstruktion eines Wortfeldes ausreicht, um vor diesem Hintergrund den Wortgebrauch Homers18, Hesiods und der Hymnendichter erfassen zu können. Es leuchtet unmittelbar ein, daß unsere Ausgangsposition um so erfolgversprechender sein wird, je näher wir sie an die Begriffswelt des frühgriechischen Epos heranführen können. Deshalb wäre es unangebracht, an unser Wortfeld mit SNELLS Methode heranzugehen und zu fragen, welche Ausdrücke etwa Homer für das deutsche „Verlangen, Begehren" kennt. Ein solches Verfahren bewährt sich bei Wortfeldern im Bereich des sinnlich Erfahrbaren, die naturgemäß eine hohe Trennschärfe gegenüber anderen Begriffssphären haben - mit „Körper", „sehen" oder „Feuer" referieren wir auf klar definierbare Bereiche der außersprachlichen Realität, die zudem seit Homer in der S a c h e unverändert geblieben sind. So wissen wir, wonach wir in der S p r a c h e Homers zu suchen haben. Doch sobald wir uns, wie im Bereich psychischer Vorgänge, mit definitorischen Grauzonen und Überlagerungen von Wortfeldern auseinanderzusetzen haben, erweist sich schnell, daß deutsche Wörter als Archilexeme für griechische Wortfelder nicht taugen.

TRIER

In J.H.H. SCHMIDTS Synonymik der griechischen Sprache19 finden wir z.B. έράν mit φιλείν, σ τ έ ρ γ ε ι ν und α γ α π ά ν zusammengestellt (Kap. 136), in einem Abschnitt, der mit der Feststellung beginnt: Für den Begriff „lieben" hat man im Griechischen vier verschiedene Verba ... Abgesehen davon, daß man angesichts von 1000 Jahren Sprachentwicklung nicht, auf wenige Beispiele gestützt, folgern kann, im Griechischen heiße „lieben" dieses oder jenes, muß die Interpretation von griechischen Wörtern, die um ein deutsches Archilexem gruppiert werden, fast zwangsläufig mit den psychologischen Implikationen des Zentralbegriffs und den Vorstellungen, die sich 17 TRIER. Das sprachliche Feld 149. 18 «Homer" sei hier und im folgenden, unbeschadet einer möglichen unterschiedlichen Verfasserschaft der beiden Epen, der Name für den oder die Dichter von Ilias und Odyssee. 19 J.H.H. SCHMIDT, Synonymik der griechischen Sprache, 4 Bde., Leipzig 1876/86.

16

Einleitung

der moderne Erklärer und seine Zeit von ihm gebildet haben, belastet werden. Das Ergebnis des verfehlten Ansatzes von SCHMIDT ist für unseren Fall, daß sich sogar die ersten Anwärter auf einen Platz im epischen Wortfeld „Verlangen, Begehren" auf drei Kapitel seiner Synonymik aufteilen.20 Wenn schließlich auch DORNSEIFF21 die deutschen Begriffe des Verlangens und Begehrens nicht zu einer selbständigen Sachgruppe zusammenfaßt, sondern sie in verschiedenen Abschnitten, insbesondere in 11.36 Wunsch, aufführt, so läßt sich vermuten, daß schon für unser eigenes Sprachgefühl die Definition der Wortfeldgrenzen problematisch, eine erfolgversprechende Übertragung auf das Griechisch Homers und Hesiods aber schlechterdings unmöglich würde.

3. Wörter für „Verlangen" und „Begehren" in der späteren griechischen Sprachreflexion Die Forderung, das Feld in größtmöglicher Nähe zum Sprachgebrauch des frühgriechischen Epos zu definieren, kann nach dem im vorigen Abschnitt Gesagten nur bedeuten, daß man im Bereich des Griechischen selbst nach Hinweisen auf ein Wortfeld „Verlangen, Begehren" sucht und vielleicht sogar ein Archilexem ausmacht. Auf einer solchen gesicherten Basis müßte sich dann in einem weiteren Schritt, bei dem das intuitive Element durch die Orientierung an im griechischen Sprachgebrauch selbst liegenden Kriterien auf ein notwendiges Mindestmaß verringert wird, die Suche nach den entsprechenden epischen Wörtern mit einiger Sicherheit bewerkstelligen lassen. Der gewünschte Anhaltspunkt ergibt sich in überraschender Klarheit aus einer Stelle in Piatons Kratylos: Sokrates läßt sich von seinem Gesprächspartner Hermogenes Begriffe nennen, für die er zum Teil recht abenteuerliche Etymologien anzugeben sucht. 419b fragt Hermogenes: 20

21

Neben 136. ipäv (mit φιλεΐν, στέργειν, άγατταν) noch 145. έπιθυμία (mit άρέγεσθαι, έφίεσθαι, Υμερος, πόθος und Verwandten) und 146. βούλισθαι (hier finden sich u.a. auch λιλαίεσθαι und έέλ8εσθαι). Einer ähnlichen Ordnung folgt SCHMIDT in seinem Handbuch der lateinischen und griechischen Synonymik, Leipzig 1889: Kap. 122 έπιθυμιΐν/ουρβΓβ mit ύρέγεσθαι/petere, ποθεΐν/optare (man kann die hier zu besprechenden Wörter zusammenfassen als die des Wunsches) sowie (S. 781) Ιμείρειν als Mittelbegriff zwischen ποθεΐν und έπιθυμεΐν (1); έραν ist auch hier mit φιλεΐν, στέργειν und Αγαπάν zusammengestellt (Kap. 119). F. DORNSEIFF, Der Deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 1934.

Einleitung

17

Tí δε δή „ήδονή" καί „λύπη" και „επιθυμία" και τα τοιαύτα, ώ Σώκρατες;

Sokrates behandelt daraufhin erst ήδονή, λύπη und deren Synonyme, dann kommt er auf επιθυμία καί τα τοιαύτα zu sprechen (419d) - „επιθυμία und Synonymes" wird mein wohl frei übersetzen dürfen. Er erklärt zunächst θυμός (als Bestandteil von επιθυμία), dann aber eine Trias, die so auch in der späteren Literatur immer wieder entweder vollständig oder mit zweien ihrer drei Bestandteile in wechselnden Konstellationen erscheint: ϊμερος (419e-420a) πόθος (420a) - ερως (420a-b). Sinn oder Unsinn der Etymologien, die Sokrates anführt, brauchen uns in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren; wichtig ist nur, daß 1. die drei Begriffe als Synonyma aufgefaßt werden; 2. "μέρος und πόθος sich auseinander definieren lassen: Ist der Gegenstand des Verlangens nicht mehr anwesend, wird aus dem ίμερος ein πόθος: „πόθος" έπωνόμασται δς τότε, δταν παρη οΟ τις έφίετο, ,,'ιμερος" έκαλεΐτο (420a);

3. ferner für die Erklärung von ίμερος als weiteres begriffsverwandtes Wort (έφ)ίεσθαι herangezogen wird (420a), ein Verb des Strebens und Begehrens. Es ist müßig zu fragen, ob Piaton selbst die επιθυμία in diesem Wortfeld wirklich als eine Art Archilexem (im oben genannten Sinne) verstanden wissen will oder ob er Hermogenes nur mit dem allgemeinsten denkbaren Begriff (der keineswegs alle anderen umfassen muß) den ungefähren Bereich des Feldes markieren läßt. Man muß Piatons Gedankengang an dieser Stelle nicht gewaltsam in Termini der Feldtheorie zwingen, um seinen Wert für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung zu erkennen: 1. Έρως, πόθος und ίμερος gehören zum Wortbestand des frühgrie-

chischen Epos, 'ίμερος erscheint sogar außer in der ionischen Prosa nur noch in der Dichtung, ist also dem Attischen Piatons fremd. 22 Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Sokrates/Piaton bei der Einordnung von ίμερος in dieses Feld nicht die einschlägigen Homerverse im Sinn gehabt haben sollte.23

22 S. LSJ s.v. ίμερος. 23 Sokrates beruft sich a u c h sonst öfter auf Homer: (Crat.) 402a-b, 408a, 410c, 412b, 417c; s. K. GAI SER, Name und Sprache in Piatons „KratylosHeidelberg 1974, 51; hier auch eine Übersicht über die Feldaufteilungen im Etymologienteil des Kratylos, S. 54-57 (έττιθυμία usw. S. 57).

18

Einleitung

2. Επιθυμία, das „Leitwort" des Hermogenes, ist der im Attischen vorherrschende und zugleich der allgemeinste Ausdruck für „Verlangen, Begierde" überhaupt. Der Sprache des frühgriechischen Epos dagegen ist er unbekannt. Offenbar stellt Sokrates bei seinem etymologischen Höhenflug24 dem Allerweltsbegriff des Hermogenes eine leicht von der Aura des Dichterischen umwehte Trias von Synonymen gegenüber, die sich als die spezielleren, selteneren, fremderen Begriffe zu επιθυμία annähernd wie Lexeme eines Wortfelds zu ihrem Archilexem verhalten, ohne doch eigentlich Unterbegriffe zu sein, da sie nicht alle dem gleichen Dialekt, der gleichen Epoche und der gleichen literarischen Gattung angehören wie ihr Leitbegriff.25 Sokrates stellt hier in Umkehrung des normalen Verfahrens der Glossierung, das im 4. Jahrhundert sicher schon bekannt war26, zu dem gängigen Begriff die unüblichen, die γλώσσα ι, die ihrerseits nicht mehr nach dichterischen, Dialekt-, Fremdwörtern usw. unterschieden wurden. Es ist für die Zwecke dieser Untersuchung belanglos, wie Piaton sich die Relationen zwischen den Begriffen dieses Feldes im einzelnen vorgestellt hätte. Wichtig ist nur, daJ3 er aus der Machtvollkommenheit seines Sprachbesitzes im Bereich des zu seiner Zeit besonders geläufigen Wortes επιθυμία drei Begriffe ansiedelt, die auch der Diktion der epischen Dichtung angehören. Ob Piatons Zuordnung auch für Homer, Hesiod und die Hymnen selbst gelteç kann, ob ερως, πόθος und ϊμερος in diesen Dichtungen wirklich im engeren oder weiteren Sinne als Begriffe des Begehrens aufzufassen sind und wie sie gegebenenfalls das zu Piatons Zeit im Attischen von επιθυμία besetzte Sinnfeld27 untereinander aufteilen, darüber muß letztlich die genaue Analyse des jeweiligen Wortgebrauchs entscheiden.

24 GAISER 51. 25 'Επιθυμία wird dann in der späteren Wort- und Begriffserklärung in schon erweitertem Sinne als Oberbegriff verwendet: Für Ps.-Andronikos ist έπιθυμία eine der vier Arten von πάθη (λύπη, φόβος, έπιθυμία, ήδονή), definiert als άλογος ορεξις η δίωξις προσδοκουμένου άγαθοΰ. Unter ihren 25 Erscheinungsformen (ειδη) sind auch ϊρως, Υμερος und πόθος (Περί παθών, ed. Α. GLIBERT-THIRRY, Leiden 1977, Ζ. l l f f . und 88ff.; Parallelstellen s. S. 290), deren Sonderstellung als direkte Begriffsverwandte von έπιθυμία (gegenüber speziellen έπιθυμίαι wie £ρις oder φιλοτιμία) hier nicht mehr deutlich wird. 26 Der Begriff γλώσσα selbst in dieser Bedeutung entstammt bereits dem 5. Jahrhundert (s. R. PFEIFFER, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfangen bis zum Ende des Hellenismus, München 21978, 28, 63, 105f.), vgl. Aristoph. fr. 233 PCG , s. PFEIFFER 32, 106. 27 Zum Begriff Sinnfeld s. LYONS 264.

Einleitung

19

Immerhin scheinen spätere Zeiten mit Piatons Auffassung übereinzustimmen, daß ερως, ϊμερος und πόθος untereinander eng zusammengehören 28 : Ammonios definiert im Lemma 19229 alle drei Begriffe in Abgrenzung zueinander, in 189 unterscheidet er ερως und πόθος 3 0 , in 190 nach den gleichen Kriterien, denen der An- bzw. Abwesenheit des begehrten Objekts, έράν und ποθεΐν. 3 1 Das gleiche Merkmal hatte Piaton zur Differenzierung von ίμερος und πόθος herangezogen. 32 Geradezu umgedreht wird dann die Definition von ϊμερος bei Ps.Andronikos33: Υμερος δε επιθυμία φίλου α π ό ν τ ο ς ομιλίας. Hier hat sich wohl das Bedürfnis ausgewirkt, eine klare Abgrenzung gegen den unmittelbar zuvor im Text dreifach definierten ερως zu finden. 34 Da für πόθος nun das Merkmal „Abwesenheit des begehrten Objekts" keine differentia specifica mehr konstituieren kann, definiert Ps.-Andronikos zur Unterscheidung von ίμερος: πόθος δέ επιθυμία κ α τ ά

έρωτα

απόντος.

Daß all diese Differenzierungen willkürlich und viel zu unpräzise sind, braucht kaum erwähnt zu werden; aber darauf kommt es auch gar nicht an: Das sichtbare Bestreben, zu einer Binnengliederung des von ερως, Υμερος und πόθος abgedeckten Sinnfeldes zu gelangen, zeigt deutlich, daß die drei Begriffe als zusammengehörig empfunden wurden; es liegt nahe, sie auch so zu behandeln. 35

2 8 Eine Übersicht hierzu gibt E. FISCHER in ihrem s e h r nützlichen u n d materialreichen, a b e r in Details oft recht k n a p p gehaltenen B ä n d c h e n Amor und Eros. Eine Untersuchung des Wortfelds „Liebe" im Lateinischen und Griechischen, Hild e s h e i m 1973, 34f. 29 Ammonius, De adflnlum vocabulorum differentia, ed. K. NICKAU, Leipzig 1966: (192) ϊρως μέν έστιν έπιβολή φιλοττοιΐας, πόθος δ" ά πόντος, Υμερος δ' £ρως σπανίζων της πρός τον έρώμενον χρείας.- 'Επιβολή φιλοποιίας ist die stoische Definition d e s έ'ρως, vgl. Diog. Laert. 7,130, dort mit der Ergänzung διά κάλλος έμφαινόμενον, Anm. 3 4 u n d S. 3 7 Anm. 63; Sext. Emp. adv. m a t h . 7, 239 (= SVF III 399), Ps.-Andren. Περί παθών Ζ. 9 0 ed. GLIBERT-THIRRY. 3 0 'Έρως κα) πόθος διαφέρει' ϊρως μέν γαρ των παρόντων, πόθος δέ των ά πόντων (vgl. Et. Gud. 534,19f. DE STEFANI). 3 1 Als Beispiele dienen ihm hierzu Ξ 3 2 8 (ϋρως) u n d λ 202-3 (ττόθος). 3 2 Crat. 4 2 0 a . 3 3 Περί παθών Ζ. 9 2 ed. GLIBERT-THIRRY; vgl. Schol. Τ zu Ξ 198b τινές τήν των άπόντων έπιθυμίαν. 3 4 ίρως δέ έπιθυμία σωματικής συνουσίας, άλλος £ρως- έπιθυμία φιλίας. ϋλλος ?ρως- { ... } δν έπιβολήν καλοΰσι φιλοποιίας δια κάλλος έμφαινόμενον. 3 5 Über die Göttertrias Eros - Himeros - Pothos —> II 5.

20

Einleitung

4. Plan der Untersuchung Die vorangegangenen Überlegungen sollten zeigen, daß nach dem Sprachgefühl Piatons und - bedingt - späterer γραμματικοί dem Wort, das im Attischen üblicherweise Verlangen und Begierde bezeichnet, επιθυμία, in der epischen Sprache und vor allem bei Homer am ehesten die Trias ερως, ίμερος und πόθος entspricht. Bei ihr muß also die Analyse ansetzen. Dabei gilt es, den Sprachgebrauch des frühgriechischen Epos zum einzigen MeJ3stab zu machen und sich von allen späteren Erklärungen der drei Begriffe, auch von denen, die der Untersuchung bisher den Weg gewiesen haben, zu lösen. Am Ende dieser ersten Etappe soll dann bestimmt worden sein, 1. welche die spezifischen Bedeutungen und Verwendungsweisen der Wörter ερως, ίμερος und πόθος bei Homer, Hesiod und in den homerischen Hymnen sind; 2. ob tatsächlich alle drei Wörter synchron, d.h. innerhalb des epischen Vokabulars, zum gleichen Wortfeld „Verlangen" gehören (Überprüfung der platonischen Trias); 3. welche Kriterien für die Auswahl weiterer zu untersuchender Ausdrücke zu gelten haben, und welches die Wörter sind, die diesen Kriterien zufolge im zweiten Hauptteil der Untersuchung behandelt werden müssen. 3 6 Wird mit diesem Vorgehen bereits bewußt auf eine frühzeitige und wahrscheinlich verfrühte Abgrenzung des gesamten Untersuchungsgegenstandes verzichtet, so muß vollends die Frage der endgültigen Abgrenzung des Wortfeldes „Verlangen/Begehren", die nur Konsequenz der Einzeluntersuchungen in den beiden Hauptteilen sein kann, bis zu deren Abschluß zurückgestellt werden. Wenn hier die soeben gewonnene Ausgangsbasis ερως - ϊμερος πόθος ebenso als „Wortfeld" bezeichnet wird wie am Ende der Arbeit der voll entwickelte und durch objektive Kriterien abgesicherte 36

Als zuverlässiges Kriterium ungeeignet, doch sicherlich i n t e r e s s a n t ist die E r k l ä r u n g der in F r a g e k o m m e n d e n e p i s c h e n W ö r t e r in der Lexikographie d u r c h die Glossierungen έπιθυμείν oder έπιθυμία. Beispiele: — ϋρος (Schol. b T z u Ν 6 3 7 a , Ω 2 2 η ΐρον (Hsch.); ϋραμαι (Hsch.) — ίμερος (Suda); ϊ'μερον (Schol. Τ zu Ξ 198b); Ιμείρω (Suda); Ιμείρετατ έρ9, έπιθυμεί, ποθεί (Hsch.); vgl. a u c h Ιμέρους· έρωτας, πόθους (Hsch.) — ποθή (Et. Μ. s.v. πόθος); vgl. πόθος· έ'ρως (Hsch.) — λιλοίεσθαι (Hsch.) — έέλδεσθαι (Hsch.); vgl. έέλδωρ- έπιθύμημα (Hsch.) — Ισχανάρ (Hsch.) — έπεμαίετο (Hsch.) — χατεύει (Hsch., homerisch n u r χατέω und χατίζω)

Einleitung

21

Wortschatzausschnitt, dann darf diese - konventionsbedingte terminologische Inkonsequenz nicht über den unterschiedlichen methodischen Status dieser beiden Wortfeldbegriffe hinwegtäuschen. Hier, im einführenden Teil, ist die Konstitution des Wortfeldes heuristisches Prinzip und insofern provisorisch, am Ende der Arbeit ist sie Ergebnis der vorangegangenen Untersuchung. Es sollte in diesem Zusammenhang betont werden, daß die Anwendung unterscheidender objektiver Merkmale, mit deren Hilfe das eingangs aufgestellte Minimalfeld zum endgültigen Feld entwickelt wird, einzig und allein vom Erkenntnisinteresse des Untersuchenden abhängt. Es steht ihm frei, aus der Fülle der vorhandenen Merkmale diejenigen als relevant auszuwählen, die eine von ihm ins Auge gefaxte Gruppe von Wörtern hinreichend gegen andere Gruppen abgrenzen, und andere Merkmale außer acht zu lassen oder zur Binnengliederung des Feldes zu verwenden. Jeder andere als dieser pragmatisch zu nennende Wortfeldbegriff könnte uns leicht an der Frage scheitern lassen, ob bestimmte andere, nicht untersuchte Wörter wirklich schon knapp außerhalb oder vielleicht doch eher noch innerhalb des fraglichen Wortfeldes stehen. Die von mir für diese Arbeit entworfene Methode, zunächst in größtmöglicher Nähe zum zu untersuchenden Textkorpus intuitiv (wenn auch mit guten Gründen) ein Minimalfeld zu erstellen und zu betrachten, wie sich dieses unter Anwendung erkenntnisorientierter Kriterien entwickelt, schien mir für Wortfelduntersuchungen im Bereich der klassischen Sprachen besonders geeignet zu sein, da unsere Sprachkompetenz oft nicht ausreicht, um sofort alle zu betrachtenden Wörter in den Blick zu nehmen. Nun sind mir zu meiner Freude zusätzlich die beiden germanistischen Arbeiten von M. SCHLAEFER und H.J. BECKER37 bekannt geworden, die sich einer in wichtigen Punkten ähnlichen Methode bedienen: SCHLAEFER (dessen Verfahren BECKER in seiner Arbeit übernimmt und noch einmal erläutert) vertritt ein in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen lexikographischer Arbeit entwickeltes Verfahren, das den Vorzug hat, sowohl theoretisch fundiert als auch praktikabel zu sein. Er nimmt als Grundlage für die Konstituierung des Feldes gegenwartssprachliche Wörterbücher und stellt auf ihrer Basis eine Hypothese über die Eidstenz eines entsprechenden und im einzelnen nachzuweisenden lexikalischen Paradigmasi38 auf. In mei37

38

M. SCHLAEFER, Studien zur Ermittlung und Beschreibung des lexikalischen Paradigmas .lachen' im Deutschen, Heidelberg 1987; H.J. BECKER, Das Feld um .alt\ Heidelberg 1991. SCHLAEFER 198.

22

Einleitung

ner Untersuchung wird diese Basis, mangels Wörterbüchern von native speakers des homerischen Griechisch, von der Kratylos-Stelle gebildet: Wir nehmen an, daß Piaton gewissermaßen für uns einen Blick in sein inneres Homer-Wörterbuch tut. Unwägbarkeiten gibt es freilich auch bei diesem Verfahren; zu beachten ist etwa, daß Griechisch eine Korpussprache ist, wir uns also für die Bildung von Sprachkompetenz auf eine begrenzte Zahl von Texten verlassen müssen, die wir zudem nur schwer auf ihre Eignung für die Konstituierung eines Wortfeldes prüfen können. Durch Substitutionstests, die so angelegt sind, daß ihnen möglichst wenige Lexeme genügen, ermittelt SCHLAEFER in einem zweiten Schritt um ein Ausgangslexem eine Feldumgebung, die mit diesem zusammen ein gegenwartssprachliches Teilparadigma39 bildet. Daß solche Kriterien, deren Anwendung unmittelbare Sprachkompetenz voraussetzt,40 für die „tote Sprache" notwendigerweise sehr viel gröber sein müssen als für das Gegenwartsdeutsch, liegt auf der Hand. Zudem fordert das grundsätzlich eher philologische als sprachwissenschaftliche Interesse an den Wörtern des griechischen Feldes „Verlangen/Begehren" auch eher nach einer Interpretation der Texte als nach der Entwicklung differenzierter Substitutionstests. Dennoch habe ich auf eine - freilich eher unsystematische - Ermittlung von Kriterien für die Zugehörigkeit zu Feldern oder Teilfeldern nicht verzichtet. Dieses Teilparadigma wird dann bei SCHLAEFER erneut, jetzt nach stärker inhaltlich orientierten Kriterien, erweitert.41 Schließlich ergänzt er seine Untersuchung um eine historische Komponente, indem er einen dem »lachen«-Paradigma vergleichbaren Wortschatzbereich in der deutschen Literatursprache um 1800 betrachtet.42 Ein in den Grundzügen ähnlicher, wenn auch linguistisch aus den genannten Gründen weniger ambitionierter Weg soll in dieser Arbeit beschritten werden. In den Hauptteilen dringt die Untersuchung vom angenommenen Kern des Wortschatzausschnitts zur Peripherie vor, wobei sich herausstellen wird, daß auch die Irrwege, die man ohne ein „Lexikon des frühgriechischen Epos" aus der Zeit Homers und Hesiods nicht vermeiden kann, der Textinterpretation Nutzen bringen können.

39 40 41 42

SCHLAEFER 245. Vgl. zur Untersuchung nicht-gegenwartssprachlicher Wortfelder SCHLAEFER 399ff. SCHLAEFER 333ÍT. SCHLAEFER 399ff.

Einleitung

23

In einer Schlußbetrachtung wird dann im Lichte der gewonnenen Ergebnisse erneut auf den Begriff „Wortfeld" sowie auf Probleme und Möglichkeiten der Definition eines griechischen Wortfeldes „Verlangen/Begehren" einzugehen sein. Ferner sollen dort die Besonderheiten des epischen Sprachgebrauchs in diesem Wortschatzausschnitt vor dem Hintergrund des Attischen betrachtet werden und auf diese Weise an Profil gewinnen. Damit ist zugleich rückblickend ein Anschluß an den Ausgangspunkt dieser Untersuchung hergestellt.

Erster Hauptteil: ?ρος/?ρως — ίμερος — πόθος

I. Homer

1. £ρος/ερως

1.1. Der Befund Das Wort ερος/ερως erscheint 12mal in der Ilias und 16mal in der Odyssee, doch entfallen 7 bzw. 14 Stellen allein auf die Wendung α ύ τ ά ρ έπεί πόσιος και έδητύος έζ ερον εντο, so daß die Basis für eine semasiologische Untersuchung vergleichsweise schmal ist (effektiv 8 verschiedene Verse). Insbesondere hätte ich gewünscht, die Hypothesen zur Heteroklise ερος - ερως auf festeren Boden stellen zu können. So muß es hier, wie auch sonst in der einen oder anderen Frage, leider bei Plausibilitätsabwägungen bleiben.

1.2. Die Formen Für die bei Homer belegten Formen des Wortes ist man gezwungen, zwei verschiedene Stämme anzunehmen: Von έρο- werden der Nominativ ερος (Ξ 315) und der Akkusativ ερον gebildet1, dem Nominativ ερως dagegen (2mal) liegt nach geltender Auffassung ein sStamm zugrunde2, während das dentale έρωτ- erstmals im homerischen Hermeshymnus belegt ist.3 1

2

3

Diese Formen galten schon in der Antike als Äolismen, s. z.B. Schol. D zu A 469, Ξ 294, Schol. Apoll. Rh. 1,609/19; vgl. F. BECHTEL, Die griechischen Dialekte. Bd. I, Berlin 1921 (21963), 52; P. CHANTRAINE, Grammaire homérique, Bd. I, Paris 31958, 211; WEST, Hes. Theog. S. 89. Spätere Belege (etwa bei Euripides, z.B. IT 1172) sind wohl Homerismen. F. LASSERRE, Lafigure d'Êros dans la poésie grecque. Thèse Lausanne 1946, 2 Iff. setzt έροσ- an; CHANTRAI NE, DEtym. s.v. epa μα ι, ders., La formation des noms en grec ancien, Paris 1933, 423, FRISK s.v. εραμαι erschließen das -a- aus Ableitungen wie έραννός (< *έρασ-νός), έραστός. E. BENVENISTE, Origines de la formation des noms en Indo-Européen, Paris 21935, 124f., nimmt daher sogar an, daß ein altes Neutrum *ερας (ebenso wie *γέλας : γέλως) existiert haben muß, das zu ερως im gleichen Verhältnis stand wie τέκμαρ zu τέκμωρ. V. 449 Ερωτα: zu Parallelen SCHWYZER I 514.

I. Homer: 1. Ερος/έ'ρως

25

Im Fall des Dativs ερω (σ 212) könnte, wie sich noch zeigen wird, die homerische Analogie γέλως : γέλω4 :: ερως : ερω für eine Anknüpfung an den s-Stamm sprechen, obwohl die Ableitung vom o-Stamm natürlich formal ebensogut möglich wäre.5 Festzuhalten ist damit lediglich, daß von der Form ερω (σ 212) für die noch zu behandelnde Frage, ob ερως und ερος semantisch deckungsgleich sind, keine Entscheidungshilfe in der einen oder anderen Richtung zu erwarten ist.6

1.3. Bedeutung und Verwendung von ερος/ερως

1.3.1. Erste Einordnung der Belege Die Frage, ob es zwischen ερος und ερως einen Bedeutungsunterschied geben könnte, ist meines Wissens außer von LASSERRE 7 noch von niemandem ernsthaft geprüft worden. Dabei hätte dazu durchaus Veranlassung bestanden: E. FISCHER etwa beginnt ihre Beschreibung der wesentlichen Merkmale des Begriffes ερως unter der Überschrift Die Bedeutungen „ Verlangen" und „Liebe" in ihrem Verhältnis zueinander8 mit der lapidaren Feststellung: Für Homer ist die erotische Liebe ein Verlangen unter vielen9 und zitiert als Beleg Ν 636-9 (mit dem o-stämmigenfc'pov!).Etwas weiter unten verstellt ihr dann die diachronische Perspektive des Kapitels den Blick für Nuancen, wenn sie meint, eine Bedeutungserweiterung konstatieren zu können: 4

5

6 7 8 9

Z u r völlig parallelen Bildungsweise der beiden Wörter und ihrer Ableitungen vgl. BECHTEL, Gr. D. I 52; SCHWYZER I 514; CHANTRAINE, Gr. Η. I 211; FRISK u. CHANTRAINE, DEtym. s.v. ϋραμαι. CHANTRAINE, Formation 423 und LASSERRE 21 vermuten Ersatz des erwarteten -οι (< *-οσι) durch -φ aufgrund des Zwangs des Paradigmas: γέλως - γέλω (Akk., σ 350. υ 8, υ 346, allerdings mit varine lectiones γέλων, γέλον) - γέλω bzw. ϊρως ϊρω (vgl. zu dieser Form Herodian, Περί όρθογραφίας 511,29f. LENTZ) - ερω. Ebenso ist die Bedeutung der Wurzel noch ungeklärt, s. CHANTRAINE, DEXym. u. FRISK s.v. ϊραμαι. - > A n m . 2. S. 47. Die entgegengesetzte Bedeutungsentwicklung nimmt WILAMOWITZ, Die Heimkehr des Odysseus, Berlin 1927, 21 Anm. 1, an: Hier (σ 212) wie in den unter sich identischen Riasstellen Γ 442 Ξ 294 zeigt sich, was ΐρος eigentlich ist Sonst bei Homer übertragen mit einem Genetiv. Er geht dabei wohl vom Sprachgebrauch des Attischen aus, das ϊρως nur ausnahmsweise in der Bedeutung „Verlangen" verwendet (vgl. C.J. CLASSEN, Sprachliche Deutung als Triebkraß platonischen und sokratischen Phäosophierens, München 1959, 147f.).

26

Erster Hauptteil: ϊρος/ϊρως - 'ίμερος - πόθος

Doch rasch wird ερως (von mir gesperrt) zur Bezeichnung der „Liebe", zuerst dort, wo der Zusammenhang so klar auf die Bedeutung hinweist wie schon in der Ilias bei 'ίμερος (Ξ 198, 216, 328; Γ 446).

Durch diese möglicherweise übereilte Gleichsetzung von ερος und ερως 1 0 vergibt sie die Chance, überhaupt die Frage aufzuwerfen, ob bei Homer, wenn schon nicht bei anderen Autoren, die beiden von ihr angesetzten Bedeutungen „Verlangen" und „Liebe" in verschiedenen Erscheinungsformen koexistieren. Denn bereits Archilochos kennt einen solchen Unterschied ερος - ερως offenbar nicht mehr, wenn er in Anlehnung an Ν 6 3 6 - 8 (φιλότητος ... ερον) vom φιλότητος ερως 11 spricht. Interessanterweise hat aber schon die antike Homererklärung den Versuch gemacht, ερος und ερως gegeneinander abzugrenzen. In einem Iliasscholion12 heißt es: τ ο μεν ερος έττί πάντων λέγουσι λέγεσθαι, το δέ ερως έττί μόνων των αφροδισίων.

Der nachfolgende Einwand dagegen 8 έστι άττίθανον

Πίνδαρος γούν ,,καί γαρ / έτέροις έτερων

ερως

εκνιξε φρένας" (Pyth. 10,59-60)

ist für die Verhältnisse bei Homer natürlich völlig irrelevant und interessiert nur am Rande. Doch der anonymen Meinung (λέγουσι), eine Unterscheidung έττί πάντων und έπί μόνων των αφροδισίων sei möglich, gilt es mit einer Überprüfung aller Stellen nachzugehen. Eine Einordnung nach diesem Kriterium ergibt bereits ein recht interessantes Bild: 1. „Verlangen" allgemein

(έπί πάντων)

a) nach Essen und Trinken A 469

αύτάρ έπε! πόσιος καί έδητύος έξ έ'ρον εντο

(und weitere 20mal)

10 Unter dieser Gleichsetzung leidet auch die Genauigkeit der Argumentation bei H.M. MÜLLER, Erotische Motive in der griechischen Dichtung bis auf Euripides, Hamburg 1980, 13ff., z.B. S. 14: Vom Ιίρως wird häufig gesagt, daß man ihn aus sich herauslasse ... (-»Kap. 1.3.2.). 11 fr. 191 W. 12 Schol. bT zu A 469b.

27

I. Homer: 1. £ρος/£ρως ω 489

oi δ' έπεί oöv σίτοιο μελίφρονος έξ ερον ε ν τ ο 1 3

b) nach Weinen Ω 227

έπήν γόου έξ ερον ε'ι'ην

c) nach angenehmer Betätigung Ν 636-9

π ά ν τ ω ν μεν κόρος εστί καί ϋττνου καί φιλότητος μολττης τε γλυκερής καί άμύμονος όρχηθμοΐο, τ ω ν πέρ τις καί μάλλον έέλδεται έξ ερον εΤναι η πολέμου

2. „Liebesverlangen" (επί

μόνων τ ω ν αφροδισίων)

Paris zu Helena: Γ 442

où γ ά ρ π ω ποτέ μ' ώδέ γ' ερως φρένας άμφεκάλυψεν

Zeus zu Hera: Ξ 315-6

où γ ά ρ π ω ποτέ μ' ώδε θεάς ερος ουδέ γυναικός

Ξ 294

θυμόν ένί στήθεσσι περιπροχυθείς έδάμασσεν ώ ς δ' 'ίδεν (Zeus), ώς μιν ερως πυκινάς φρένας άμφεκάλυψεν

σ 212-3

ερω δ' 'άρα θυμόν εθελχθεν (die Freier), πάντες δ' ήρήσαντο π α ρ α ί λεχέεσσι κλιθήναι

Folgende Beobachtungen lassen sich an diesen Befund knüpfen: 1. Auffällig ist, daß die erste Gruppe nur aus Versen mit der Wendung έξ ερον είναι/εσθαι besteht, während der Gebrauch von 14 ερος/ερως als Subjekt auf die zweite Gruppe beschränkt bleibt. 2 . Die Hypothese, ερος sei „Verlangen" allgemein und ερως trete ein, sobald „Liebesverlangen" gemeint sei, scheint sich nach der Einordnung von Ξ 3 1 5 (ερος) in die zweite Kategorie zunächst nicht zu bestätigen, zumal angesichts der Ähnlichkeit des Verses in Ausdruck und Inhalt mit Γ 4 4 2 und Ξ 2 9 4 (ερως). 1 5 Doch noch in 13 Diese und die Standardwendung A 469 usw. sind inhaltlich völlig äquivalent: μελίφρων ha la finizione di includere nel pasto anche il vino (A. HEUBECK, Komm, ζ. St.; vgl. η 182, ν 53 μελίφρονα οΤνον, zum Adjektiv s. Β. SNELL, φρένες - φρόνησες, Glotta 55 (1977). 53 und G. PLAMBÖCK, Erfassen - Gewärtigen - Inrtesein, Diss. Kiel 1959, 80. 14 Die Unterscheidung ερος/ερως als Subjekt bzw. Objekt liegt a u c h H.W. NORDHEIDERS einschlägigem Artikel im LfgrE zugrunde; in σ 212 gilt dabei als logisches Subjekt. 15 Grundlage ail dieser Überlegungen m u ß sein, daß in Γ 442 und Ξ 294 die Verwendung von ϊρως keine metrisch bedingte Entscheidung gewesen sein kann, da ϊρος a n beiden Stellen metrisch gleichwertig gewesen wäre.

28

3.

Erster Hauptteil: ΐρος/Ζρως - ίμερος - πόθος

einem weiteren Punkt stört der Vers Ξ 315 eine ansonsten saubere Trennung der beiden Gruppen: Die Wendungen mit έξ ερον εΤναι/εσθαι sind alle regelmäßig mit einem Genitiv erweitert, während ερως in der zweiten Gruppe absolut steht. Ξ 3 1 5 (θεάς ερος ούδέ γυναικός) gehört auch unter diesem Gesichtspunkt eigentlich eher der ersten Gruppe an.

Das ist auch das Bild, das NORDHEIDERS LfgrE-Artikel zeichnet, obwohl darin die Unterscheidung zweier verschiedener Wörter ερος und ερως gar nicht in Betracht gezogen wird.16 Die Stellen unserer ersten Gruppe sammelt er unter 2a durch Sättigung d. Verlangen nach etw. (Gen. obi) herauslassen (έξ ερον εΤναι/εσθαι τινός), die der zweiten unter loa eroL Begierde, setzt aber hinzu: Ξ 315 ... mit Gen. obi: Verlangen nach e. Frau. Man kann sicherlich zweifeln, ob es sinnvoll ist, auf der Basis von (effektiv) nur acht Belegstellen gegen den Befund bei anderen frühgriechischen Dichtern und angesichts der ungeklärten Zuordnung des Dativs ερω eine semantische Unterscheidung von ερος und ερως bei Homer vornehmen zu wollen. Ich werde denn auch einen bis ins letzte schlüssigen Beweis für die These, daJ5 ερω von ερως abzuleiten und dieses wiederum mehr als das Produkt einer orthographischen Laune unserer Überlieferung ist, schuldig bleiben müssen. 1 7 Was mich dennoch veranlagt hat, an einer Differenzierung zwischen ερος und ερως festzuhalten, ist die Beobachtung, daj3 - Zufall oder nicht - eine solche Unterscheidung genau das Ergebnis widerspiegelt, welches auch eine Analyse der verschiedenen Verwendungsweisen der beiden Formen erbringt, wie sich im folgenden zeigen soll. 1.3.2. ερος

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Passage, die sich dem ερως-Schema am wenigsten fügt:

ερος-

16 -> Anm. 14. 17 Auf Unglauben stößt diese These z.B. bei H. FLIEDNER, Amor und Cupido. Untersuchungen über den römischen Liebesgott, Meisenheim a m Glan 1974, 39 Anm. 130, der ίρψ zwangloser von ερος ableiten möchte u n d einen Hinweis MERKELBACHS erwähnt, d a ß m a n bei Homer und Hesiod a u c h ohne die Annahme einer Form Ερως auskommt. Richtig ist zweifellos, d a ß überall Ερος gestanden haben und daß Ερως erst aufgrund sekundärer Reflexionen von der Art des bTScholions zu A 469b (-» S. 26) in den Text gelangt sein könnte. Andererseits fehlt ebenfalls jeder Beleg für Ερος in der metrischen Position [—].

I. Homer: 1. ϊρος/ερως

- 315-6

29

ού γ ά ρ π ώ π ο τ έ μ' ώδε θεάς ερος ούδέ γ υ ν α ι κ ό ς θυμόν ένΐ στήθεσσι περιπροχυθείς έδάμασσεν

sagt auf dem Idagebirge der Ζευς α π α τ η θ ε ί ς zu seiner Gemahlin. Die Genitiverweiterung bei ερος unterscheidet sich an der vorliegenden Stelle von denen in der ersten Gruppe (πόσιος καί έ δ η τ ύ ο ς , σ ί τ ο ι ο , γ ό ο υ , ϋπνου, φ ι λ ό τ η τ ο ς , μ ο λ π ή ς , όρχηθμοΐο, πολέμου) entscheidend dadurch, daß nur hier eine Person begehrt wird (γυναικός), während sonst ausschließlich Substantive zu ερος treten, die eine Handlung implizieren, sogenannte nomina actionis.18 Hiermit ist etwas Wesentliches gesagt: ερος ist offenbar üblicherweise nicht einfach ein Verlangen, das sich auf einen Gegenstand richtet (etwa weil man ihn besitzen möchte), sondern ein Drang im Menschen, ein Trieb, der seine Sättigung nur in der Aktion finden kann. Zu Recht bemerkt FRANKEL 19 , daß έξ ερον εΐναι/εσθαι mit das Verlangen (nach etw.) vertreiben20 unglücklich übersetzt ist. Gemeint sei vielmehr das Verlangen aus sich herauslassen, ihm seinen Lauf lassen. Man kann sogar den griechischen Ausdruck έξεΐναι/-έσθαι ganz wörtlich nehmen und geradezu als „Nach-außen-Tragen" des Dranges, seine Umsetzung in sichtbare Aktivität verstehen. Den Zusammenhang von Trieb und Sättigung hat J . LATACZ 2 1 überzeugend demonstriert: Den Wendungen mit έξ ερον εΐναι/εσθαι stellt er korrespondierende Ausdrücke wie π λ η σ ά μ ε ν ο ς θυμόν έ δ η τ ύ ο ς (ρ 63) und vor allem die Aoriste von τ έ ρ π ε σ θ α ι mit a-Vokalismus ( τ α ρ π η ν α ι ) an die Seite und beweist ihre völlige inhaltliche Äquivalenz: „Den Drang auslassen" bedeutet immerzugleich „sich sättigen" - man hat sich dies wohl ganz konkret vorzustellen - und „sich sättigen" bedeutet immer zugleich „den Drang nach etwas auslassen".22 Doch damit sind die Verbindungen zwischen έξ ερον εΐναι/εσθαι und τ α ρ π η ν α ι noch nicht erschöpft: LATACZS Übersicht über alle Beleg18 Zu Begriff und Sache s. P. VIVANTE, La relazione tra il nome d'azione e il verbo con speciale riferimento a Omero, Archivio Glottologico Italiano 37 (1952), 42-46 und v.a. W. PORZIG, Die Namenßir Satzinhalte im Griechischen und im Indogermanischen, Berlin - Leipzig 1942, der als nomina actionis u.a. erwähnt πόσις καί έδητύς (66), σίτος (66), (ίττνος (zu εϋδειν, 90), γόος (zu κλαίειν, also „das Weinen", 52. 86). κλαυθμός und στοναχή (86) und schließlich εύνή (zu μίσγεσθαι έν φιλότητι, 66) und φιλότης (zu φιλείν, 94, 153). 19 Die Zeitaujfassung Οι der frühgriechischen Literatur 17. 20 So übersetzt regelmäßig SCHADEWALDT für Ilias und Odyssee. 21 S. 178f. 22 S. 179.

30

Erster Hauptteil: ερος/ί'ρως - Υμερος - πόθος

stellen v o n ταρττηναι 23 , g e o r d n e t n a c h d e n B e r e l c h e n , in d e n e n m a n s i c h b e i H o m e r im Genuß kann24,

einer

Sache

oder

Tätigkeit

befriedigen

e r g e b e n e r s t a u n l i c h e P a r a l l e l e n z u r V e r w e n d u n g v o n έξ ερον

εΤναι/εσθαι: V o n d e n f ü n f B e r e i c h e n , f ü r die ταρττηναι m i t p a r t i t i v e m G e n i t i v b e l e g t ist, f i n d e n s i c h vier a u c h b e i έξ

ερον

εΤναι/εσθαι:

„ E s s e n u n d T r i n k e n " (έδητύος ήδέ ποτήτος Λ 780, ε 2 0 1 ; σίτου ζ 99, I 7 0 5 ) , „geschlechtliche Liebe" (φιλότητος γ 300, vgl. Ν 6 3 6 ) 2 5 , „ S c h l a f (ÜTTVOU

Ο 3, vgl. Ν 636), :,Klage" 2 6 (V 10, Υ 98, λ 2 1 2 , Ω 5 1 3 , φ 57, τ

213, τ 251, vgl. Ω 227) 2 7 . W i e ταρπήναί τίνος b e z e i c h n e t o f f e n b a r a u c h έξ ερον εΐναι/εσθαι die Stillung der primären

Bedürfnisse

dürfnis und Liebesbegehren,

Hunger

und Durst,

dazu Drang nach dem

SchlafbeWeinen.28

E n t s c h e i d e n d ist h i e r w i e bei ταρττηναι, d a ß die B e f r i e d i g u n g d e s V e r l a n g e n s in d e r Betätigung b e i d e A u s d r ü c k e e i n e n positiv gungsvorgang30

körperlicher

Funktionen29

gefühlsbetonten

liegt, w o b e i

psychischen

Sätti-

b e z e i c h n e n , n i c h t w i e κορέννυσθαι eine r e i n p h y s i -

s c h e , vielleicht s o g a r a l s u n a n g e n e h m e m p f u n d e n e A b s ä t t i g u n g . 3 1

23 s. 177f. 24 So LATACZS Bedeutungsansatz für ταρπήναί, 182. 25 Φιλότης erweist sich hier wie an zahlreichen anderen Stellen als nomen actionis der geschlechtlichen Liebe: „Geschlechtsverkehr"; dies ist aber nur eine der unterschiedlichen Bedeutungen von φιλότης, die alle praktischen Manifestationen zwischenmenschlichen Wohlwollens umfassen kann (vgl. zum Zusammenhang zwischen φιλία und είίνοια Aristot. Eth. Nie. 1167 alff.), s. etwa J.C. FRAISSE, Philia. La notion de l'amitié dans la philosophie antique, Paris 1974, 38; A.W.H. ADKINS, „Friendship" and „Self-sufficiency" in Homer and Aristotle, CQ 13 (1963), 36f.; J. TAILLARDAT, Φιλότης, Πίστις et Foedus, REG 95 (1982), 12f.; F. NORMANN, Die von der Wurzel φιλ-gebildeten Wörter und die Vorstellung der Liebe im Griechischen, Diss. Münster 1952, 41-43; FISCHER 12 (φιλότης, die Liebesbezeigung und -Vereinigung) und bes. R. LUCA, il lessico d'amore nei poemi omerici, SIFC 53 (1981), 175ff.; J. HOOKER, Homeric φίλος, Glotta 65 (1987), 56f. 26 So LATACZ; besser ist es, γόος konsequent mit „Weinen" wiederzugeben (bei LATACZ nur Alternative zu „Klage"), um auch das Weinen vor Freude (π 215, τ 249, ν 231, κ 398) begrifflich mitzuerfassen (s. LfgrE s.v.). Auch die Etymologie weist darauf hin, daß γόος keineswegs auf die „Klage" beschränkt ist: J. POKORNY, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Bern - München 1959, 403 setzt eine Wurzel *gou-/goue-, gu- „rufen, schreien" an. Als „Klage" ist γόος stets die private, formlose Äußerung persönlicher Trauer, keine rituelle Totenklage (s. E. REINER, Die rituelle Totenklage der Griechen, Stuttgart - Berlin 1938, 5 u. 8if.). 27 Nur ?ίβης ταρττηναι (y 212) hat keine Entsprechung mit ερος. 28 LATACZ 217. 29 LATACZ 184. 30 LATACZ 191 gegen A. FULDA, Untersuchungen über die Sprache der homerischen Gedichte I, Duisburg 1865. 78-92. 31 LATACZ 180-183.

I. Homer: 1. ϊρος/ϊρως

31

Ganz besonders deutlich tritt dieses Merkmal an der Stelle Ν 636-9 hervor: Menelaos wundert sich, daß die Troer vom Kampf gar nicht genug bekommen können (N 634-5 ούδε δύνανται / φυλόπιδος κορέσασθαι όμοιΐου τττολέμοιο): Ν 636-9

πάντων μεν κόρος εστί καί ϋπνου καί φιλότητος μολπής τε γλυκερής καί άμύμονος όρχηθμοΐο, των πέρ τις καί μάλλον έέλδεται έξ ερον είναι η πολέμου. 32

Die ganze Aussage, logisch gesehen ein Enthymem, lebt von dem Gegensatz zwischen bekanntermaßen angenehmen Tätigkeiten (Schlaf, Beischlaf, Spiel und Tanz) und der doch eigentlich eher unangenehmen des Kämpfens: Wenn man sogar bei den schönen Dingen des Lebens, denen man sich doch eher nach Herzenslust hingibt, zu einem κόρος, dem Gefühl unangenehmer Sättigung, gelangen kann - um wieviel eher erst im Krieg: Τρώες δέ μάχης άκόρητοι εασιν (639)!33 Die ganze Pointe, die hinter der paradoxen Idee eines ερος πολέμου steht, wird in ihrer vollen Schärfe erst erkennbar, wenn mein bedenkt, was eigentlich das Wesen eines ερος ist: Da sich jeder ερος auf elementare, allen Menschen gleichermaßen eigene Formen körperlicher Aktivität (wie Essen, Trinken, Weinen, Schlafen, Beischlaf, Bewegung) richtet, so bezeichnet er offenbar das in jedem Menschen als Möglichkeit dauerhaft angelegte Bedürfnis nach diesen Aktivitäten, das aber nur von Zeit zu Zeit nach Sättigung verlangt (έξ ερον εΐναι/εσθαι). Die Zahl der physischen Grundfunktionen des Menschen ist begrenzt, folglich ebenso die Zahl der möglichen *εροι. Wenn daher in Ν 6 3 6 - 9 den Troern der ερος πολέμου gleichsam als elementarer Trieb, als Grundbedürfnis (wie bei anderen der Schlaf usw.) zugeschrieben wird, dann spricht daraus erhebliche Anerkennung des Menelaos für diese außergewöhnlichen Menschen. Dasselbe Lob (mit ερασθαι) vergibt auch Achilleus an seine Myrmidonen, als diese zum ersten Mal nach der unfreiwilligen Kampfpause wieder in die Schlacht ziehen können: Π 207-8

vûv δε πέφανται φυλόπιδος μέγα έργον, εης τ ο πρίν γ' έράασθε.

Im schlechten Sinne unnormal ist es, einen Bürgerkrieg zu wollen:

32 33

Vgl. hierzu LATACZ 181. Z u r Priamelform des Gedankens vgl. auch W.H. RACE. The Classical Priamel from Homer to Boethius, Leiden 1982, 32f.

Erster Hauptteil: ?ρος/£ρως - Υμερος - πόθος

32

I 63-4

άφρήτωρ άθέμιστος ανέστιος έστιν εκείνος δς πολέμου έ'ραται έπιδημίου όκρυόεντος.

Auch ein diesen beiden Stellen beruht die Prägnanz der Formulierung auf der Tatsache, daß in der Verbindung ερος τινός jedes nomen actionis, das keine physische Grundaktivität des Menschen bezeichnet, an die Stelle des Genitivs gesetzt, einen uneigentlichen Ausdruck, wenn es gar eine unangenehme Tätigkeit bezeichnet, ein Paradoxon hervorbringt. Die Verbindung γόου ερος in Ω 227 muß man keineswegs als ein solches Paradoxon auffassen, da mein sich die psychische Entlastung, die das Weinen schafft, durchaus als angenehm vorzustellen hat.34 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, warum Homer hier nicht - wie an zehn anderen Stellen35 - vom ίμερος γόοιο/γόου spricht.36 Auf diesen Punkt wird später im Rahmen einer semantischen Differenzierung zwischen ερος und Υμερος noch einmal einzugehen sein.37

1.3.3.

Logische Unterscheidung der Verwendungsweisen von

ερος

u n d ερως

Die Untersuchung der Bedeutung von ερος war von der Beobachtung ausgegangen, daß nur in der Passage Ξ 315-6

où γ ά ρ πώ ποτέ μ' ώδε θεάς ερος ουδέ γυναικός θυμόν ένί στήθεσσι περιπροχυθείς έδάμασσεν

die Stelle des Genitivs nicht durch ein nomen actionis vertreten ist. Die Erklärung dafür fällt jedoch nicht schwer: Ganz im Sinne der ersten Einschätzung dieser Stelle, wonach ερος hier „Liebesverlangen" bedeutete3^ hat mein bei ερος mit dem Genitiv der Person als nomen actionis φιλότητος zu ergänzen.39 Und eine weitere Schlussfolgerung liegt nun nahe: Für den ερος φιλότητος als solchen, also das „Liebesverlangen" allgemein, ohne einen Genitiv der begehrten

34 35 36

37 38 39

LATACZ 188. - > Kap. 2.1. Dasselbe Problem ergibt sich in umgekehrter Konstellation für σίτος, das nur einmal Gegenstand eines Υμερος ist (Λ 89), gegenüber 21 Stellen mit nόσιος καί έδητύος ϊρος und einer weiteren mit σίτοιο μελίφρονος έ'ρος, und für die parallelen Stellen Ν 636-9 und y 144-5. - > Kap. 2.3.4.-6. - > Kap. 1.3.1.; NORDHEIDER, LfgrE s.v. Ν 636-8 zeigt die Möglichkeit der Junktur ερος φιλότητος.

33

I. Homer: 1. Ερος/ερως

Person, tritt - zumindest in der Orthographie unserer Überlieferung - die Variante ερως ein. Das logische Verhältnis der drei Verwendungsmöglichkeiten von ερος/ερως zueinander läßt sich demnach folgendermaßen veranschaulichen:

Struktur

Erscheinungsform

ifc'poçj (τοΰ χ)

„ερος τοΰ χ"

1 Für χ treten ein σίτος, γόος, φιλότης und andere.

Spezialfall von 1: χ = φιλότης (τοΰ δείνα)

2

ifc'poçj

[φιλότητος (τοΰ δείνα)]

ίερος cpiXÔTf|Toçj (του δείνα)

„ερος τοΰ δείνα"

Spezialfall von 2: τοΰ δείνα = 0 3 ίερος cpiXÔTi~|Toçj (0)

χ = nomen actiords

«ερως"

L J = KernbegrifT des Verlangens

Es ist klar, daß dieses Schema nur logische Beziehungen, nicht aber tatsächliche sprachhistorische Entwicklungen wiedergeben kann. 40 Deshalb hängt auch die Korrektheit dieses Modells nicht von der Antwort auf die Frage ab, ob Homer wirklich im Fall 3 ερως und nicht ερος geschrieben hat. Die sichere Identifizierung dreier in ihrer Struktur unterschiedlicher Verwendungsweisen von ερος de40 Insbesondere der Ausdruck „Spezialfall" sollte nicht im Sinne einer zeitlichen Abfolge mißdeutet werden.

34

Erster Hauptteil: ϊρος/ϊρως - ίμερος - πόθος

gradiert die ερος-ερως-Frage, zumindest im Rahmen dieser Untersuchung, zu einem reinen Nomenklaturproblem: Es ist zwar nur wahrscheinlich, nicht stringent beweisbar, daJ3 Homer den ιερός φιλότητοςϋ „ερως" genannt hat; die Untersuchung dürfte aber gezeigt haben, da$ er sehr wohl so hätte verfahren können.

1.3.4. ερως In dem Schema der drei Verwendungsweisen von ερος/ερως habe ich auf Stufe 2 zu verdeutlichen versucht, wie ich mir den logischen Übergang von der Bedeutung „Verlangen" zur Bedeutung „Liebesverlangen" vorstelle: Aus dem û'poçj [φιλότητος (τοϋ δείνα)], dem „Verlangen nach geschlechtlicher Vereinigung mit jemandem", wird in einer Art Gliederungsverschiebung der ίερος φιλότητος (τοΰ δείνα), das „geschlechtliche Verlangen nach jemandem". Anders als beim bloßen ερος (Stufe 1) läßt sich in der homerischen Sprache beim ιερός φιλότητος auch noch vom begehrten Objekt abstrahieren: Das bisher immer konkret gedachte Verlangen wird zum Prinzip, zur wirkenden Macht, dem ερως. Diese veränderte Auffassung spiegelt sich auch im Satzzusammenhang unmittelbar wider: Den ερως läßt mem nicht aus sich heraus, er steht als Subjekt des Satzes und „bezwingt" (έδάμασσεν Ξ 316 41 ), „umhüllt" (άμφεκάλυγεν Γ 442, Ξ 294; περιπροχυθείς Ξ 316), „bezaubert" (εθελχθεν σ 212). Der morphologische Befund deutet in eine ähnliche Richtung: Wenn ερως der durch Dehnung gebildete Nominativ eines nicht-neutralen s-Stammes *έροσ- ist, gehört er zu einer Gruppe von Wörtern, die gerne eine force active bezeichnen, wie z.B. auch ηώς (att. εως; θ 1 u.a.) und αιδώς (Κ 238, vgl. Hes. Op. 317-9 u.a.). 42

Um festzustellen, welche Art von Macht der ερως repräsentiert, empfiehlt es sich, das zu ermitteln, was Y . - M . C H A R U E 4 3 champ d'emploi eines Wortes genannt hat, diejenigen Wörter, welche ερως in einem gegebenen Zusammenhang ersetzen. Die Frage muj3 also lauten: Welche Ausdrücke sind bei Homer Subjekte von δαμάζειν,

41 Der Vergleich mit Γ 442 lehrt, da3 hier θεάς έ'ρος (καί) γυναικός lediglich eine Präzisierung gegenüber dem einfachen ερως darstellt, aber das gleiche meint (-> Anhang I). 42 S. C HANTRAI NE, Formation 422f.; vgl. NORDHEIDER, LfgrE s.v. έ'ρος la; zu Hes. Op. 317-9 -> S. 126. 43 Y.-M. CHARUE, Notes de sémantique homérique. Constitution du champ sémantique et analyse des unités, Travaux de la Faculté de philosophie et lettres de l'Université catholique de Louvain 2 (1968), 103.

I. Homer: 1. ΐρος/ερως

35

(άμφι)καλύτττειν, (περι)χέεσθαι 44 , und welche von ihnen Sind mit ερως

in irgendeiner Weise vergleichbar? - Δαμάζω/δάμνημι 4 5 ist der am wenigsten anschauliche dieser Ausdrücke und hat einen dementsprechend großen Anwendungsbereich: „Bezwingen" können bei Homer u.a. so unterschiedliche Dinge wie ein Geschoß (βέλος Ξ 439 u.a.), Ermüdung (κάματος Φ 52), eine Fessel (δεσμός E 391), der Krieg (πόλεμος A 61), aber auch die μοίρα (Σ 119, γ 269 „der schicksalhafte Tod"; als μοίρα θανάτοιο Ν 602) und der Schlaf (ϋττνος Ξ 353, Κ 2, Ω 678, η 318, ν 119, o 6). Man muß aufgrund dieser Zusammenstellung konstatieren, daß aus der Verwendung des Verbs δαμάζω/δάμνημι Erkenntnisse darüber, welche Art von Macht der ερος φιλότητος oder „ερως" sein könnte, noch nicht gewonnen werden können. LASSERRE46 geht so weit zu folgern, έδάμασσεν sei ein viel zu allgemein verbreiteter Ausdruck, als daß mein daraus schließen könnte, daβ sein Subjekt ερος (mit den Genitiven θεάς und γυναικός, Ξ 315-6) eine göttliche Macht sei. Die grundsätzlich richtige Unterscheidung zwischen den Formen ερος und ερως läßt sich zwar - wie LASSERRE zutreffend bemerkt - an die vorhandene bzw. fehlende Ergänzung durch einen Genitiv knüpfen; es ist aber nicht einzusehen - erst recht nicht, wenn man sich anhand der obigen Tabelle (Kap. 1.3.3.) die zugrundeliegenden Strukturen noch einmal vergegenwärtigt -, worin ein inhaltlicher Unterschied zwischen den Ausdrücken θεάς ερος καί γυναικός (Ξ 315) und ερως im fast gleichlautenden Vers Γ 442 bestehen sollte, der einen Wechsel vom Prädikat άμφεκάλυψεν zu έδάμασσεν erzwingen könnte. Für diese variatio sind, wie ich meine, andere Mechanismen verantwortlich.47 - (Άμφι-/περι)καλύτττω und (άμφι-/περι)χέομαι sind praktisch auswechselbar, auch wenn ihnen etwas unterschiedliche Vorstellun-

44

45

46 47

θέλγειν, ein Verzaubern, dem etwas Betrügerisches anhaftet (s. α 56-7 αΙεί δέ (Kalypso) μαλακοίσι καί αίμυλίοισι λόγοισι / θέλγει, δπως 'Ιθάκης έττιλήσεται, vgl. PORZIG, Die Namenfìur Satzinhalte 124), 1st In diesem Z u s a m m e n h a n g weniger aufschlußreich. Ich verweise noch auf Anm. 126. S. LASSERRE 21f.; PORZIG, Die Namen für Satzinhalte 135 und besonders 130: Die Redeweisen, in denen ein abstraktes Nomen als Subjekt zu einem Verbum der Bedeutung „ergreifen", festhalten" oder „bezwingen" auftritt, sind ein lehrreiches Beispiel dafür, wie zunächst sehr anschauliche und höchst geßihlsbetonte Wendungen diese Eigerischaften völlig einbüßen und rein sachliche Ausdrücke werden können. S. 21. - > A n h a n g I.

36

Erster Hauptteil: ερος/ερως - 'ίμερος - πόθος

gen zugrunde liegen.48 Am deutlichsten wird die fast völlige Äquivalenz ein der Stelle ε 492-3

ϋττνον έττ' δμμασι χεΰ', 'ίνα μιν παύσειε τάχιστα δυσττονέος καμάτοιο, φίλα βλέφαρ' άμφικαλύψας.

Mit einer Analyse aller dieser Verben 49 bei Homer wollte ich Klarheit über ihren Anwendungsbereich (champ d'emploi) gewinnen, um möglicherweise ερως in diesen Zusammenhang einordnen zu können. Die Untersuchung ergab ein sehr aufschlug reiches Bild, das schon LASSERRE50 und LUCA51 andeutungsweise gezeichnet hatten: Ein überwältigender Anteil der Stellen mit καλύτττειν/χέειν und ihren mit άμφι- und περι- gebildeten Komposita entfällt auf die Bereiche „Schlaf" und „Tod", genauer: auf Situationen des Einschlafens 5 2 und Sterbens. Während für „Schlaf' in fast allen Fällen ϋπνος eintritt53, sind die Ausdrucksmöglichkeiten für „Tod" außerordentlich vielfältig: θάνατος allein steht nur E 68 (bei καλύπτειv), sonst erscheinen in diesem Sinne τέλος θανάτοιο 5 4 , μοϊρα 5 5 , θανάτοιο μέλαν νέφος 56 , νεφέλη 57 , άχλύς 5 8 und vor allem νύξ 5 9 und σκότος 6 0 . Der Be48

49

50 51 52

53 54 55 56 57 58 59

S. PORZIG, Die Namen fiir Satzinhalte 105: Es sind genau dieselben abstrakten Nomina, die πιϋίχεύΐΐν und seinen Komposita verbunden werden, die auch als Subjekt zu καλύπτειι/oder άμφικαλύπτειν auftreten. Eine Übersicht über die Konstruktionen von καλύπτειν und die Zuordnung der Stellen gibt R.R. DYER, The Use of καλύπτω in Homer, Glotta 42 (1964), 29-38: vgl. ders., A Semantic Field Lexicon to Homer, in: AULLA. Proceedings of the Ninth Congress of the Australasian Universities' Languages and Literature Association, Melbourne 1965, 19-21; über die Bildhaftigkeit des Ausdrucks informiert D. BREMER, Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung, Archiv für Begriffsgeschichte Suppl. H. 1, Bonn 1976, insbes. S. 181. S. 22f. S. 183 Anm. 1. Hierin unterschieden von δαμάζειν, welches das „Schlafen" (ausgedrückt durch die Participia passivi des Aorists und Perfekts, ϋττνψ δαμείς bzw. δεδμημένος ϋττνν. z.B. Ξ 353, ν 119) bezeichnet. 6χ bei καλύπτειν, 13χ bei χεειν und Komposita; κώμα nur in σ 201 und Ξ 359 (an letzterer Stelle in wörtlicher Rede des Gottes Hypnos: „περί κώμα κάλυψα"). 4x bei καλύπτειν, 3x bei χεειν. Μ 116 mit καλύπτειν. Π 350, δ 180 bei καλύπτειν. Y 417 (καλύπτειν). Π 344. χ 88 (χέειν; vgl. Ε 696. Υ 321, Υ 421). Νύξ καλύπτει 7χ vom Tod, l x von einer Rettung (E 23) und l x von der schweren Ohnmacht des Hektor Ξ 439, wo Homer in sehr kunstvoller Weise die Tatsache, daß Wendungen wie Ξ 419-20 (χειρός δ' εκβαλεν εγχος, έπ' αύτώ δ' άσπίς έάφθη / καί κόρυς, άμφι δέ ol βράχε τεύχεα ποικίλα χαλκώ) typisch für Sterbeszenen in der Schlacht sind, zu einem Perspektivenwechsel nutzt: Indem er das Vokabular der Todesszenen verwendet, insbesondere dann in V. 438-9 (τω δε ol δσσε / νύξ έκάλυψε μέλαινα), vermittelt er dem Leser zunächst den unmittelbaren Eindruck, den die Umgebung Hektars auf dem Schlachtfeld angesichts dieser Szene bekommen iriußte: Hektor sei tot. Homer versäumt es zwar nicht, den L e s e r

I. Homer: 1. ερος/ερως

37

zug aller dieser Ausdrücke zur optischen Sphäre und zur Lichtmetaphorik 61 ist mehr als deutlich. Bei Schlaf und Tod werden die A u gen verhüllt, ihre Funktion damit außer Kraft gesetzt. 62 Oa$ davon auch seelisch-geistige Instanzen betroffen werden können, zeigt sich etwa in der Διός άπάτη, wo Hera Zeus betören will, Ξ 163-5

ε'ί πως ίμείραιτο παραδραθέειν φ ι λ ό τ η τ ι (¡j XpoiQ, τ ω δ' ϋπνον άπήμονά τε λιαρόν τ ε χεύη επί βλεφάροισιν ϊδέ φρεσί πευκαλίμβσι.

Von hier ist der Weg zu Stellen wie Γ 4 4 2 (= Ξ 2 9 4 ) ερως (πυκινάς) φρένας άμφεκάλυψεν nicht mehr weit. Auch das Liebesverlangen kann also die innere Sehfähigkeit des Menschen behindern, wie ein Nebel, die Nacht oder Dunkelheit die Sicht der Augen beeinträchtigt. Daj3 ερως über die optische Wahrnehmung den Menschen erreicht, ist im übrigen eine Auffassung, die sich durch alle Epochen der griechischen Literatur zieht, beginnend mit Homer: 63 Π 181-2

Φύλαντος θυγάτηρ· της δε κρατύς Άργεκρόντης ήράσατ', όφθαλμοΐσιν ϊδών.

Ξ 294

ώς δ' ϊδεν (Zeus), ώς μιν ερως πυκινάς φρένας άμφεκάλυψεν. 64

Die Erkenntnis, daß der ερως in seiner Wirkung mit dem Schlaf und dem Tod - und mittelbar dadurch auch der Nacht - vergleichbar ist, führt ins Zentrum der eingangs gestellten Frage, welcher Art die Macht sei, die der ερως repräsentiert. Die Antwort ist vor allem

60 61 62 63

64

noch im zweiten Halbvers von 439, wieder aus seiner gewohnten olympischen Erzählperspektive, davon zu unterrichten, daß es sich nur um eine Ohnmacht handelt; für die Akteure i m Epos aber bleibt Hektar tot (niemand wird erwähnt, der bemerkt, daß Hektar nur ohnmächtig ist), bis - nur so erklärt sich den Beteiligten Hektars Wiederaufwachenl - ein G o t t (Zeus) ihn sehr spät (O 239-42) aus dieser mit allen Attributen eines Todes versehenen Ohnmacht wieder zum Leben erweckt (vgl. zu dieser Szene W.-H. FRIEDRICH, Verwundung und Tod in der ¡lias, Göttingen 1956, 35£f.). 12x mit καλύτττειν, stets „Tod". S. BREMER 18lf. zu άμφικαλύτττειν. Als Beispiele seien stellvertretend für viele andere Fälle genannt υ 86 (έττεί αρ βλέφαρ'άμφικαλύψη) und Λ 356 (άμφΐ δε δσσε κελαίνη νύξ έκάλυψεν). Dazu bei Homer noch σ 208-13; vgl. H.M. MÜLLER 17. der allerdings Anlaß und Ursache der Verzauberung nicht auseinanderhält, wenn er ερος als Reiz v e r steht, der von außen kommt, eine Zusammenstellung wichtiger Belege bietet FISCHER 57f. (vgl. ebd. 33); man vergleiche die stoische Definition des ερως ( - » S. 19 Anm. 29), ferner etwa Hes. fr. 145,13, h. Ven. 57 (vgl. N. VAN DER BEN, Hymn to Aphrodite 36-291, Notes on the Pars Epica of the Homeric Hymn to Aphrodite, Mnemosyne 39 |1986|, 7), Archil, fr. 191 W. (-> S. 26), Ib. fr. 287,1 P.. Plat. Crat. 420b, Aristot. Eth. Nie. 1167 a3f. Vgl. dazu LUCA 190.

38

Erster Hauptteil: ΐρος/?ρως - ίμερος - πόθος

in der Δ ι ό ς ά π ά τ η im 1 4 . Buch der Ilias zu suchen: Hera will Zeus betören, um seine Aufmerksamkeit vom trojanischen Kriegsschauplatz abzulenken, den Poseidon auf der Seite der Griechen betreten hat. Mit einer List gelingt es ihr, von Aphrodite deren Riemen ( ί μ ά ς ) , der mit allen Liebreiz verleihenden Gaben versehen ist, zu bekommen und sich die Unterstützung des Hypnos, des Bruders des Thanatos ( Ξ 2 3 1 ) 6 5 , für dieses Unternehmen zu sichern. An dieser Stelle sind also zwei abstrakte Begriffe für machtvoll wirkende Kräfte personifiziert und als Götter in den Olymp eingeführt worden.66 Auf eine Personifikation des dritten Begriffs, ε ρ ω ς , mußte Homer aus naheliegenden Gründen verzichten: Die Funktion, die dieser Gott hätte erfüllen können, nimmt in der Δ ι ό ς ά π ά τ η (wie auch im Γ in der Szene zwischen Paris und Helena) Aphrodite wahr.67 Ebenso naheliegend ist es aber, daß Hesiod in der Theogonie einen Überschuß an Göttern, die für den gleichen Bereich „Liebe" zuständig waren, nicht fürchten mußte. Hier ließen sich Abhängigkeiten, Neben· und Unterordnungen herstellen: Έ ρ ο ς und sogar " Ι μ ε ρ ο ς 6 8 , bei Homer lediglich Bestandteil des Riemens der Aphrodite, werden zu Begleitern der Göttin.69 Daß moderne Editoren ε ρ ω ς anders als ϋ π ν ο ς und θ ά ν α τ ο ς bei Homer nirgends mit Majuskel schreiben können70, spricht nicht im geringsten gegen seine Auffassung als Macht. Der Übergang zwischen abstrakten Begriffen und Sondergöttern, die nicht zum festen Inventar des Olymp zählen71, ist oft fließend: In der Δ ι ό ς ά π ά τ η wird der vergöttlichte 'Ύπνος mit dem üblichen Epitheton νήδυμος be-

dacht.72 In Ξ 359 kann er von sich selbst sagen: Ξ 359

αύτω

(Zeus)

έ γ ώ μ α λ α κ ό ν περί κώμα

κάλυψα

und etwas vorher gar: 65 66 67 68 69

Beide sind Söhne der Nyx nach Hes. Th. 211-2. LASSERRE 22f. LASSERRE19. Z u diesen beiden Gottheiten - > Kap. II 5. S. A. BONNAFÉ, Eros et Eris, Mariages divins et mythe de succession chez Hésiode, Lyon 1985, 12f. 70 H. FRANKEL, Noten zu den Argonautika des Apollonias, München 1968, 367 sagt zur Entscheidung "Ερωτες/ερωτες in Apoll. Rh. 3,452 und 687: Es sindja nur unsre modernen Schreibregeln die uns jedesmal eine solche Wahl auferlegen; den Griechen selbst wäre eine durchgängige Unterscheidung zwischen der Liebe... als bloßem Phänomen, und als einer Macht mit göttlicher Würde, als nutzlose Haarspalterei erschienen. 71 B. SNELL, Der Weg zum Denken und zur Wahrheit Göttingen 1978, 10f.; z u m Begriff Sondergötter s. H. USENER, Götternamen, Frankfurt 3 1 9 4 8 (= 1896), 75ff. 72 Ξ 242, 354: vgl. Β 2 und öfter.

I. Homer: 1. Ερος/ϊρως

ζ 252-3

39

ητοι έγώ μεν ελεξα Διός νόον αίγιόχοιο νήδυμος άμφιχυθείς. 73

Denselben Gesetzen hätte zweifellos auch 'Έρως gehorchen können, wenn es für ihn in den homerischen Epen einen Platz gegeben hätte. 1.3.5. έ'ρασθαι/έρατίζειν

Die zu ερος/ερως gehörigen Verben lassen sich nun leicht jeweils einer der Verwendungsweisen nach dem obigen Dreierschema (Kap. 1.3.3.) zuordnen: - Z u 1 LËpoçj του χ = ,,ερος του χ":

Über die paradoxe Verwendung von ερασθαι mit den Genitiven πολέμου (I 64) und φυλόπιδος (Π 208), die so als Bezeichnungen für geradezu angenehme Betätigungen gebraucht werden, habe ich oben schon gesprochen (Kap. 1.3.2.). In zwei Gleichnissen identischen Wortlauts wird jeweils ein Löwe als κρειών έρατίζων bezeichnet (Λ 5 5 1 , Ρ 6 6 0 ) . Die Verbform 74 ist offensichtlich eine Ad-hoc-Erfindung Homers statt des metrisch unbrauchbaren έρά μένος, von dem es semantisch sicher nicht unterschieden werden kann. Der Genitiv κρειών enthält den Verbalbegriff des Essens (κρέας bezeichnet ja im Gegensatz zu σάρξ, der Fleischmasse am Körper, das zum Essen bestimmte Fleisch) und stellt damit die beiden Passagen solchen Wendungen wie πόσιος καί έδητύος έξ έ'ρον εντο an die Seite: 'Έρασθαι und έρατίζειν bedeuten dementsprechend „einen ερος, einen natürlichen Drang 75 nach etwas, verspüren", dem man dann in einer entlastenden Tätigkeit freien Lauf lassen kann (έξ ερον εΤναι/εσθαι).

7 3 Deutlich wird hingegen Ξ 353-4 zwischen d e m Gott u n d der Wirkung geschieden: ίίττνψ καί φιλότητι δαμείς, εχε δ' 6γκάς Βκοιτιν / βή δέ θέειν έπί νήας 'Αχαιών νήδυμος "Υπνος. 74 Weitere Belege n u r noch h. Merc. 64, 287 (ebenfalls mit κρειών έρατίζων) u n d Callim. fr. 48; d a s Verbum leitet sich von έρατός ab, s. E. RISCH, Wortbildung der homerischen Sprache, Untersuchungen zur indogermanischen S p r a c h - u n d Kulturwissenschaft 9, Berlin 2 1974), 299. 75 Kap. 1.3.2.

40

Erster Hauptteil: ερος/ερως - Ιμερος - πόθος

- Z u 2 ίεροςj [ φ ι λ ό τ η τ ο ς ( τ ο ΰ δείνα)] o d e r ίερος cpiXô^Toçj ( τ ο ΰ δείνα) = ,,ερος τ ο ΰ δείνα":

Dieser Verwendung von ερος entsprechen sechs Stellen des Typs ερασθαι τ ο ΰ δείνα, bel denen analog φιλότητος zu ergänzen ist („den Drang verspüren, mit jemandem zu schleifen")76: Paris zu Helena bzw. Zeus zu Hera: Γ 446

ώς σέο νΰν εραμαι καί με γλυκύς Υμερος αϊρεΐ

= Ξ 328

Zeus: Ξ 317ÍT.

ούδ' ό π ό τ ' ήρασάμην Ίξιονίης άλόχοιο u s w .

Π 181-2

Φύλαντος θ υ γ ά τ η ρ · τ η ς δέ κρατύς Ά ρ γ ε ι φ ό ν τ η ς ήράσατ(ο)

Υ 223

τ ά ω ν ( S t u t e n ) καί Βορέης ή ρ ά σ σ α τ ο βοσκομενάων

λ 238

η

(Tyro)

π ο τ α μ ο ύ ή ρ ά σ σ α τ ' Ένιττήος θείοιο

- Z u 3 ίερος φιλότητος,ι = „ερως":

Zu dieser Verwendungsweise fehlt die Parallele mit ερασθαι, die im absoluten Gebrauch des Verbums (allgemein „Liebesverlangen empfinden") bestünde.77

1 . 3 . 6 . έρατός/έραννός/έρατεινός

Zu den drei mit ερος/ερως verwandten Adjektiven soll hier in aller Kürze das Wichtigste gesagt sein: Der einzige Beleg von έ ρ α τ ό ς bei Homer78 findet sich Γ 6 4 : Paris wehrt sich gegen Hektors Vorwurf, er sei zwar schön, aber schwächlich, mit den Worten: Γ 64

μη μοι δώρ' έ ρ α τ ά πρόφερε χρυσέης Α φ ρ ο δ ί τ η ς .

Der unmittelbare Bezug zum ερως ist hier noch gegeben: Die δώρ' έ ρ α τ ά sind die körperlichen Gaben, die Paris begehrenswert machen.

76 77 78

Zu den Einzelheiten vgl. NORDHEIDER s.v. εραμαι im LfgrE. So später Pind. fr. 127,1. Das Wort wird dann recht beliebt bei Hesiod (lOx) und in den homerischen Hymnen (8x), -> Kap. II 3.

I. Homer: 1. ερος/ερως

41

Dagegen haben sich έραννός (2x II., Ix Od.79) und ερατεινός zum Teil schon beträchtlich von der Grundbedeutung „begehrenswert" entfernt.80 Beide Wörter sind mit dem gleichen Suffix -vo-, aber auf unterschiedliche Arten gebildet worden: έραννός auf direktem Wege aus * έ ρ α σ - ν ό - ς 8 1 , έρατ-εινό-ς nach der Analogie von φαεινός usw. Es dürften ausschließlich metrische Gründe sein, die den Gebrauch dieser von der Bedeutung her nicht zu unterscheidenden Wörter regeln. Auffällig ist die hohe Formelhaftigkeit insbesondere von ερατεινός, das 20mal (bei 22 Belegstellen) am Ende des Verses und dabei stets im Femininum auftritt (im Gen. Sg. 4x, Akk. Sg. 14x, Akk. PI. 2x). Wo es nicht als Epitheton eines geographischen Begriffs gebraucht wird, kann man den ,,ερως" oder „ερος" mitschwingen hören, am deutlichsten y 300

τ ώ δ' έπεί ουν φ ι λ ό τ η τ ο ς έταρττήτην ερατεινής.

Von einer δαίς ερατεινή („appetitanregend") ist θ 6 1 und υ 1 1 7 die Rede, zweimal von der άμβροσίη ερατεινή (Τ 3 4 7 , 3 5 3 ) ; im Zusammenhang mit Personen steht ερατεινός in Γ 1 7 5 (όμηλικίη), Ζ 1 5 6 (ήνορέη, von Bellerophontes gesagt, dem die Götter auch κάλλος gegeben haben) und δ 13 (παις, von Hermione, ή εΤδος εχε χρυσέης Α φ ρ ο δ ί τ η ς ) . 8 2 Kein ερος einer schon erwähnten Art steht hinter den Verbindungen geographischer Bezeichnungen mit ερατεινός. Man kann vermuten, daj3 sich ερατεινός am ehesten auf optische Reize, die von einem Landstrich ausgehen, bezieht. Für diesen ερος gibt es zwar - wohl mangels eines geeigneten nomen actionis für „Sehen" bei Homer keinen ausdrücklichen Beleg; doch darf man Stellen wie

79 I 531, 577, η 18. 80 Ähnliches gilt für das Kompositum έπήρατος (3x IL, 4x Od.), das zumeist als Epitheton bei Ortsnamen steht (eine Ausnahme ist etwa I 228, wo man hinter δαίς έπήρατος (vgl. δαίς έρατεινή θ 61, υ 117, s. u.) noch einen Ερος vermuten könnte), und für ττολυήρατος (4x Od.: γάμος [s. LUCA 191], εύνή y 354, ί^βη o 366 [„Alter, in dem man begehrenswert ist"], sowie daneben, mit lautlichem Anklang, θήβη λ 275). 81 Das -vo-Suffix erzeugt offenbar ursprünglich Ableitungen von neutralen sStämmen, wie φαεινός (< *φαεσ-νό-ς) zu φάος, άλ(ε)γειν6ς zu άλγος usw. Die wenigen Beispiele mit -vv- (wie έρεβεννός zu Ερεβος) sind äolisch (s. FRISK u. CHANTRA1NE, DEtym. s.v. έ'ραμαι, RISCH, Wortbildung der homerischen Sprache 100). 82 WESTS Irrtum (zu Hes. Th. 136) in Horner the word is used twenty-two times, twenty-one of which refer to places and only one (Od. 4.13) to a person geht vielleicht auf eine entsprechende Bemerkung von I. SELLSCHOPP, Stilistische Untersuchungen zu Hesiod, Diss. Hamburg 1934, 25 zurück. Richtig dagegen RICHARDSON zu h. Cer. 423 - Bei den letzten drei angeführten Fällen wird der Übergang von der Bedeutung „(sexuell) begehrenswert" zu „(optisch) reizvoll" besonders deutlich - wie schon öfter erwähnt, wirkt ε'ρως j a vor Edlem auf den Gesichtssinn.

42 Ω 633

Erster Hauptteil: ε'ρος/ερως - ίμερος - πόθος α ύ τ ά ρ έπε! τ ά ρ π η σ α ν ές α λ λ ή λ ο υ ς ό ρ ό ω ν τ ε ς

als Beispiele für Schaulust getrost hierherstellen. 83 Angesichts dieser Überlegung ist E. KIENZLES Versuch, ε ρ α τ ε ι ν ό ς an einigen Stellen in wörtlicher Rede einen subjektiven Gehalt beizulegen (im Sinne von φίλος), der anderswo fehle 84 , wohl doch eine Überinterpretation, die dem Bestreben entspringt, in ε ρ α τ ε ι ν ό ς den Begriff der „Liebe" wiederzufinden. Bleiben noch die beiden Stellen Φ 218 und ι 230 zu erwähnen, die einzigen, an denen ε ρ α τ ε ι ν ό ς in der metrischen Position [ - - 1 - ] und zudem nicht im Femininum erscheint: Φ 218 spricht der Skamandros von seinen ερατεινά (ί>έεθρα - daJ3 ein FluJ3(gott) Begierde erwecken kann, wissen wir a u s λ 238 (-» S. 40). Bittere Ironie kennzeichnet dagegen die Worte des Odysseus ι 228-30: Seine Gefährten haben ihn von einer Erkundung der Kyklopeninsel abhalten wollen: ι 228-30

αλλ' ε γ ώ ού πιθόμην, - ή τ' αν π ο λ ύ κέρδιον ήεν, öcpp' αύτόν ( d e n K y k l . ) τ ε ΐδοιμι, καί ει' μοι ξείνια δοίη. ούδ' 'άρ εμελλ' έτάροισι φανείς ε ρ α τ ε ι ν ό ς εσεσθαι.

E s ist klar, daJ5 sich ούκ ερατεινός hier auf den furchterregenden Anblick (φανείς!) des Kyklopen bezieht, besonders auf sein unheilvolles Auftreten zu den Essenszeiten, nicht etwa auf sein wenig liebenswertes Wesen 8 5 - „er sollte den Gefährten bei seinem Erscheinen ein nichts Gutes verheißender Anblick sein." Bei Homer fehlt noch έρόεις, das 4mal im hesiodeischen Corpus und 5mal in den Hymnen vorkommt, daneben lmal in der Titanomachie. 8 6 Semantisch wäre das Wort nicht als unhomerisch zu beanstanden, da es nicht nur „voll von ε ρ ο ς " heißen kann - was j a nur vom Subjekt des ερος ausgesagt werden kann -, sondern auch - nach dem Muster von δακρυόεις 1. „reich an Tränen" 2. „Tränen verursachend" 8 7 - „ερος verursachend". Letztlich ist es also gleichbedeutend mit ε ρ α τ ε ι ν ό ς . Homer benutzt έρόεις wohl vornehmlich 83 84

S. LATACZ 177, 189f. E. KIENZLE, Der Lobpreis von Städten und Ländern in der älteren griechischen Dichtung, Diss. Basel 1932, 87: Wenn Helena Γ 239 von den Dioskuren sagt, die seien wohl nicht mitgezogen Λακεδαίμονος έξ ίρατεινής, so denkt sie damit an ihre Heimat, die ihr (und den Dioskuren) i. ist... Die Übersetzung „lieblich" reicht hier nicht aus, da wir das „Liebwerte" nicht mehr hineinhören ganz ähnlich NORDHE1DER, LfgrE s.v. ίρατεινός: geleg(entlich) (Γ 239 ...) in dirfekter) R(ede) svw. „meine liebe... " (vgl φίλος, άγαπητός). 8 5 (Während der Mahlzeit des Kyklopen:) ι 294-5 ήμεΐς δε κλαίοντες όνεσχέθομεν Διί χείρας, / σχέτλια ε'ργ' όρόωντες. 86 Kap. II 3. 8 7 -> Kap. 2.3.5.

I. Homer: 1. ϊρος/ϊρως

43

deshalb nicht, weil dessen casus obliqui am Versende, wo ερατεινός zumeist steht, zu diesem metrisch äquivalent sind und die dichterische Ökonomie des in der Tradition mündlicher Überlieferung stehenden Heldenepos fordert, eine bestimmte semantische Stelle mit einer bestimmten metrischen Valenz nur mit einem Wort oder einer Wendung zu belegen. Homer hat sich dabei offenbar für ερατεινός entschieden.

44

Erster Hauptteil: ερος/ερως - Ιμερος - πόθος

2 . Υμερος

2.1. Der Befund "Ιμερος erscheint l i m a i In der Illas und 7mal In der Odyssee, und zwar ausschließlich im Nominativ (7x) und Akkusativ Singular (1 lx). Wie bei ερος/ερως wird aber die Untersuchungsbasis dadurch etwas verengt, daJ3 ein größerer Teil der Belege auf formelhafte Wendungen entfällt, in diesem Fall auf Υμερον ώρσε γόοιο / γόου Υμερον ώρσε / Υμερος ώρτο γόοιο (9χ). 88 Wie sich bald erweisen wird, können wir bei ίμερος, anders als bei ερος/ερως, mit einer ziemlich einheitlichen Bedeutung für alle Stellen operieren, so daß die problematische Binnendifferenzierung auf der Basis weniger Belege hier entfällt. Ίμείρειν und das gleichbedeutende ϊμείρεσθαι 89 verwendet Homer 6mal ( l x Ilias, 5x Odyssee) in ebenso vielen verschiedenen Formen. 90 Hier ist demnach keinerlei Formelhaftigkeit festzustellen.

2.2. Erste Einordnung Die Meinung, zwischen ερος/ερως und "μέρος bestehe kein entscheidender semantischer Unterschied 91 , beruht in der Hauptsache auf einer fast völligen Übereinstimmung in den Objektbereichen der 88

Der Vollständigkeit halber sei hier auf die metrische Verwendung von ίμερος hingewiesen, die allerdings wenig aufschlußreich ist: 6x erscheint ΥμεροςΛ'μερον in der Position 12x in der Position (davon 8x in der e r w ä h n t e n formelhaften Verbindung mit γόοιο). Es fehlen die Stellungen im ersten und erwartungsgemäß - im zweiten und dritten Metrum. 89 Aktiv und Medium sind bei Homer häufig völlig unterschiedslos gebraucht, wobei im Einzelfall metrische Gründe für die Präsenz der einen oder der anderen Diathese verantwortlich sind (s. J.E. ELLENDT, Einiges über den Einßuß des Metrums auf den Gebrauch von Wortformen und Wortverbindungen im Homer, Programm Königsberg 1861 = Drei Homerische Abhandlungen, Leipzig 1864; jetzt in: J. LATACZ [Hrsg.], Homer. WdF Bd. 463, Darmstadt 1979, 60-87. dort 7378). Ein Beispiel ist die schon erwähnte Formel έξ έ'ρον ϊντο (21x) έξ ερον εϊην (Ω 227) bzw. έξ ερον είναι (Ν 638); zu unserem Wort vgl. das Lexicon Vindobonense, S. 104,4 NAUCK: Ιμείρω γράφεται κα! Ιμείρομαι. 90 Ίμείρεται ist Indikativ in α 59, Konjunktiv in α 4 1 - Die gleiche metrische Position füllen nur Ιμείρεται in α 41 und Ιμείρετε in κ 431. 91 So LUCA 182 Anm. 2 und 186; FISCHER 36 (-> Kap. 1.3.1.); auch LATACZ 179 hält die beiden Begriffe für im wesentlichen synonym. Eine Begriffsbestimmung von ίμερος versucht M. FERNÁNDEZ-GALIANO, Komm, zu χ 500, bleibt aber doch an der Oberfläche des Problems.

45

I. Homer: 2. Υμερος

beiden Wörter. Wir können daher zunächst in einer ersten Annäherung an Υμερος bei der Auflistung aller Belege die Einteilung zugrunde legen, die wir schon am Anfang der Untersuchung von ερος/ερως getroffen hatten92: 1. „Verlangen" allgemein: a) nach Nahrung Λ 89

σίτου τε γλυκεροίο περί φρένας ϊμερος αίρει

b) nach Weinen V 14

μετά δε σφι Θέτις γόου Υμερον ώρσε

Υ 108 •τοίσι δε πάσιν

V 153 δ 183 Ω 507

ώ δ' αρα πατρός

δ 113

> . . τ υφ ιμερον ωρσε γοοιο

τ 249

ψ 231 π 215

άμφοτέροισι δέ τοίσιν ύφ' Υμερος ώρτο γόοιο

χ 500-1

τον δέ γλυκύς Υμερος βρει κλαυθμοΰ καί στοναχής

Ω 513-4

αύτάρ έπεί ¡¡>α γόοιο τετάρπετο δΐος Άχιλλεύς, καί οί από πραπίδων ήλθ' Υμερος ήδ1 από γυίων

c) nach angenehmer Betätigung ψ 144-5

έν δέ σφισιν Υμερον ώρσε μολπής τε γλυκερής καί άμύμονος όρχηθμοϊο

2. „Liebesverlangen" Γ 446 = Ξ 328

ώς σέο νϋν εραμαι καί με γλυκύς Υμερος αίρεΤ

Ξ 198-9

δός νυν μοι φιλότητα καί Υμερον, ώ τε συ πάντας δαμνά αθανάτους ήδέ θνητούς ανθρώπους

92

Kap. 1.3.1.

46

Erster Hauptteil: ερος/ερως - ϊμερος - πόθος

- 216-7

ενθ' ενι μεν φιλότης, έν δ' ίμερος, έν δ' όαριστύς πάρφασις

(Riemen der Aphrodite)

Nur eine Stelle will sich in das Schema überhaupt nicht einfügen: Helena sieht Menelaos vor dem Zweikampf mit Paris: Γ 139-40

' Ώ ς είποΰσα θεά γλυκύν ϊμερον εμβαλε θυμω ανδρός τε π ρ ο τ έ ρ ο υ καί α σ τ ε ο ς ήδε τοκήων.

Ein erotisches Verlangen ist mit diesem ίμερος sicherlich nicht gemeint, eher eine „Sehnsucht" nach dem früheren Mann und ein „Heimweh", wie α σ τ ε ο ς und τοκήων nahelegen.93 Man sieht leicht ein, daj3 weder in einem solchen Zusammenhang Υμερος ohne Sinnänderung durch ερος ersetzt werden noch überhaupt etwa „ερος α σ τ ε ο ς " bei Homer irgend etwas bedeuten kann, wenn es denn zutrifft, daj3 ερος ein bestimmtes ursprüngliches und triebhaftes Verlangen bezeichnet, das nach Sättigung in elementaren körperlichen Aktivitäten verlangt. Diese erste Beobachtung einer semantischen Inkongruenz zwischen ερος und Υμερος läßt es ratsam erscheinen, der Behauptung, die beiden Wörter seien streng synonym oder auch nur im wesentlichen94 gleichbedeutend, von vornherein den Glauben zu versagen und nach weiteren unterscheidenden Merkmalen zu suchen. Dabei kann die Analyse der sechs Stellen mit ίμείρειν wertvolle Hilfe leisten, lassen sich doch hier zu ερασθαι so gut wie überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr feststellen. Die Belege: κ 555 κ 431-2

( E l p e n o r ) ψύχεος ϊμείρων, κ α τ ε λ έ ξ α τ ο οίνοβαρείων τί κακών ίμείρετε τ ο ύ τ ω ν ; Κίρκης ές μέγαρον καταβήμεναι 9 5

α 57-9

αύταρ

'Οδυσσεύς,

ίέμενος κα! καττνόν άττοθρωσκοντα νοησαι ής γαίης, θανέειν ϊμείρεται 9 6 93 94 95 96

Nach LUCA 182 Anm. 2 ist die Stelle allerdings ein Beleg für ίμερος als desiderio amoroso. —» Anm. 91. Der Infinitiv steht epexegetisch zu κακών, s. HEUBECK, Komm. z. St. Von ϊμείρεται ist zwar syntaktisch θανέειν abhängig, doch besteht m. E. der eigentliche Wunsch des Odysseus darin, sein Land - und sei es nur aus der Ferne - wiederzusehen, wonach er sogar sterben würde. Es wäre also zu ergänzen Kap. 1.3.3.) bleiben hier zunächst ebenso unberücksichtigt wie die "μερος-Stellen Ξ 198 und 216, wo ίμερος vergegenständlicht als Teil des Riemens der Aphrodite gedacht wird. 99 Schol. A zu Π 514a: άθετεΐται· προείρηται γαρ Ικανώς δια του „αύτάρ έπεί (>α γόοιο". καί άκύρως τέθειται το γυίων· ού γαρ οίίτως λέγει πάντα τα μέλη, άλλα μόνον τάς χείρας καί τους πόδας. Vgl. AMEIS-HENTZE Ζ. St.; R.B. ONIANS, The Origins of European Thought, Cambridge 1988 (= 1951), 79; M. VAN DER VALK. Researches on the Text and Scholia of the Iliad, Leiden 1963/4, II 445; D. LÜHRS, Untersuchungen zu den Athetesen Aristarchs in der Rias und zu ihrer Behandlung im Corpus der exegetischen Scholien, Hildesheim - Zürich - New York 1992, 71 und 115-117. 100 Ähnlich stehen zueinander Υμερος γόοιο/γόου Υμερος (9x) und γόου ερος (Π 227); ψ 144-5 und Ν 637-8, jeweils mit μολπής τε γλυκερής καί άμύμονος άρχηθμοΐο.

49

I. Homer: 2. Υμερος

geschiedenen Zuständigkeiten, daß es in der homerischen Sprache zwei Wörter dafür gab, ερος und ίμερος.

2.3.2. Der Wirkungsbereich des

ίμερος

Wie sich die Wirkung des Τμερος vorstellen läj3t, kann möglicherweise in Anlehnung an das bei ερως (-» Kap. 1 . 3 . 4 . ) durchgeführte Verfahren mit Hilfe einer Analyse des champ d'emploi verdeutlicht werden. Dabei mag ein Hinweis auf einige weitere Aspekte genügen, die ausreichen, um einen ersten signifikanten Unterschied zu ερος/ερως zu beleuchten: 1. Die Wendung ϊμερος αίρεί kann entsprechenden Ausdrücken mit δέος und χόλος an die Seite gestellt werden101:

2.

λ 633

έμε δε χλωρόν δέος βρει u . a .

Σ 322

μάλα γ α ρ δριμύς χόλος αίρεί u . a .

Parallel zu ί'μερον όρνύναι τινί gibt es eine ganze Reihe anderer Verbindungen mit diesem Verb102: νοϋσον όρνύναι (A 10), φόβον (Ν 3 6 2 , Ξ 5 2 2 ) , φύξαν (Ο 3 6 6 ) , εριν (γ 1 6 1 , υ 2 6 7 ) , κακόν (I 1 3 3 ) , ττόλεμον (κακόν) (Δ 15, Β 7 9 7 , Μ 3 6 1 ) , μένος (Η 3 8 , Ρ 4 2 3 , Θ 3 3 5 , Ν 7 8 ) , σθένος (Ε 1 3 9 , Β 4 5 1 , Λ 8 2 7 ) , γόον (ρ 4 6 , Ζ 4 9 9 , κ 4 5 7 , Π

760),

(υ 2 6 7 , Η 3 7 4 und öfter), ττόνον (Μ 3 4 8 ) und Wörter für Wind, Lärm und Kampfgetümmel. Auffällig ist die Dominanz von negativ besetzten Begriffen und solchen, die für den Menschen Unangenehmes und seinem Wohlbefinden Entgegenstehendes bezeichnen. Die nachfolgende Interpretation wird in der Tat zeigen, daj3 der ίμερος in gewissem Sinne eine Beeinträchtigung der normalen Befindlichkeit eines Menschen bedeutet. 3. Für έμβάλλειν gilt Ähnliches wie für αϊρεΤν und όρνύναι: Auch hier finden sich in der Reihe der Objekte neben Υμερος Begriffe für psychische Zustände103 wie μένος (E 513 u.a.), χόλος (Ξ 50), χάρμη (Ν νείκος

8 2 ) , α τ η (Τ 8 8 ) , όδύναι (β 79), φόβος (Ρ 118), θάρσος (Φ 5 4 7 ) , σθένος

(Λ 11 u.a.) und Bewußtseinsinhalte104

wie εττος (O 566), μητις (V

313), φύξις (Κ 447), νείκος (Δ 444). Wiederum findet sich ίμερος zwischen Wörtern für Sachverhalte, die dem Menschen Widerstände entgegensetzen, ihm Schwierigkeiten machen und sich unangenehm auswirken. 101 S. L f g r E s.v. αΙρέω (Sp. 368). 102 Vgl. PORZIG. Die Namenßir Satzinhalte 103 Vgl. PORZIG, Die Namen für Satzinhalte 104 - > A n m . 103.

108f. 112.

50

Erster Hauptteil: ϊρος/ϊρως - ίμερος - πόθος

Vorläufig läßt sich mit diesem Resultat für ίμερος noch nicht viel beginnen. Festzuhalten ist jedoch, daß ίμερος nicht die Instinkthaftigkeit und Körpergebundenheit des ερος zu haben scheint, wenn es ebenso wie ατη oder ερις Objekt von Verben wie όρνύναι oder έμβάλλειν sein kann. Dieses Ergebnis fügt sich mit der oben gemachten Beobachtung, in Γ 139 müsse eine Art „Sehnsucht" oder „Heimweh" gemeint sein, zu der Vermutung, daß der Wirkungsbereich des ίμερος eher im Geistig-Seelischen als im Körperlich-Triebhaften zu suchen ist.

2.3.3.

„Erinnerung" bei

ίμερος?

Wiederum Γ 139-40

"Ως

ειπούσα θεά γλυκυν Υμερον εμβαλε θυμω

ανδρός τε προτέρου κα! αστεος ήδέ τοκήων

legt den Gedanken nahe, den besonderen geistigen Gehalt, den der dem ερος vorauszuhaben scheint, in einer Sehnsucht zu suchen, deren Objekt nur der Erinnerung, nicht aber den Sinnen einer Person gegenwärtig ist. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Stellen mit ίμερος und ίμείρειν, an denen das Verlangen nach etwas auf der reinen Vorstellung davon oder gar einer vorangegangenen Erfahrung damit beruht. Das trifft etwa zu auf Γ 446 und Ξ 328, wenn Paris zu Helena und Zeus zu Hera sagen: „Nie hat mich der ερως so sehr bezwungen/umhüllt..."

ίμερος

Γ 446

ώς σ ί ο νυν εραμαι καί με γλυκύς ίμερος αϊρεϊ.

= Ξ 328

Sicherlich gehört es zum Hintergrund dieser „Sehnsucht", daj3 Helena und Hera die Frauen von Paris bzw. Zeus sind, Personen mit einem festen Platz in der Erinnerung ihrer Männer. Solch ein ϊμερος zwischen Ehegatten liegt auch - verbal ausgedrückt - in Ξ 163-4 und ε 209-10 vor: Heras Plan der Διός Ξ 163-4

άπάτη:

εΥ πως ϊμείραιτο παραδραθέειν φιλότητι fi Xpo'fi·

Kalypso preist Odysseus die Vorteile einer Verbindung mit ihr an: ε 209-10

ΐμειρόμενός περ ΐδέσθαι σήν αλοχον, της τ' αΐέν έέλδεαι ηματα πάντα.

I. Homer: 2. ίμερος

51

In κ 431 appelliert Euiylochos an das Erinnerungsvermögen seiner Gefährten, wenn er sie fragt, ob sie wirklich zum zweiten Mal zu Kirke gehen wollen: κ 431-2

τ ί κακών ίμείρετε τ ο ύ τ ω ν ; Κίρκης ες μέγαρον καταβήμεναι.

Heimweh plagt Odysseus auf der Insel Ogygia: α 58-9

ίέμενος καί καττνόν άττοθρφσκοντα νοήσαι ής γαίης, θανέειν ίμείρεται 1 0 5 .

Ähnlich ist auch Orests Verlangen nach seiner Heimat (α 41) ein Wunsch nach Rückkehr, wenn dabei auch nicht eigene Erinnerung zugrunde liegt. Bei den verbliebenen Stellen ist die Deutung von "μέρος als einem auf Erinnerung gestützten Verlangen problematisch: Dafür, daß der σίτου ίμερος in Λ 89 auf einer vorangegangenen Erfahrung in vergleichbarer Situation beruhe, gibt es ebensowenig Anhaltspunkte im Text wie dafür, daß Elpenor sich an die Wirkung der Kühle auf einen erhitzten Körper erst hätte erinnern müssen, um ψύχεος Ιμείρων (κ 555) auf das verhängnisvolle Dach zu steigen. Möglich sind freilich auch diese Interpretationen; immerhin erweckt ein Sänger erst mit dem Klang seines Instruments den Υμερος μολττής καί όρχηθμοΐο in den Zuhörern (y 144). Wirklich schwierig aber ist die Auslegung der Stellen, an denen Homer von einem ίμερος γόοιο spricht: Was soll das sein, ein „Verlangen zu weinen"? Inwiefern könnte diesem 'ίμερος Erinnerung zugrunde liegen? Die Fragen, die mit diesen formelhaften Wendungen zusammenhängen, werde ich im nächsten Kapitel zu beantworten suchen. Mit Recht kann man von der richtigen Antwort weitreichende Aufschlüsse über die Kernbedeutung von 'ίμερος erwarten, da Weinen im Deutschen als Objekt einer Begierde oder Sehnsucht kaum je auftreten wird, wir also von dieser für unser Sprachgefühl eigenartigen Junktur aus zu einem Verständnis dessen gelangen können, was die deutschen Wörter „Sehnsucht", „Verlangen", „Begierde" von ίμερος trennt. Nimmt man diese vorerst schwer einzuordnenden Passagen einmal aus, dann ergibt sich ein Bild von "μέρος, das sich am ehesten mit unserem Begriff „Sehnsucht" beschreiben läjSt: ein Verlangen, dessen Objekt das Ergebnis einer geistigen Projektion ist, die zumeist in der Vergangenheit gründet (Erinnerung); die auf Erfahrung oder innerer Vorstellung beruhende Vorwegnahme eines an105 -> Anm. 96.

52

Erster Hauptteil: ϊρος/Ερως - Υμερος - πόθος

genehmen Gefühls, das durch die Gegenwart des Objekts hervorgerufen würde. Mit den neueren Erkenntnissen der Etymologen stünde diese Interpretation durchaus im Einklang: Sowohl F R I S K als auch CHANTRAINE bevorzugen die Ableitung ΐμείρω < *si-smer-iö106, rechnen also mit einer reduplizierten Intensivbildung107 zu einem Stamm *smer- „sich erinnern". Hierzu gehören altindisch smarati, smurate „sich erinnern" und smará-, für das B Ö H T L I N G K / R O T H 108 folgende Bedeutungen angeben: 1. Erinnerung, Gedächtnis 2. Erinnerung, so υ.α. Sehnsucht Liebe 3. Geschlechtsliebe 4. der Liebesgott. Vor allem Punkt 2 scheint, obgleich in sehr knapper Form, den auch im Fall von Υμερος möglichen Bedeutungsübergang widerzuspiegeln.109 Die wichtige Analyse der Passagen mit "ίμερος γόοιο steht allerdings noch aus; doch unabhängig davon, ob wir tatsächlich bei 'ίμερος mit dem Bedeutungsmerkmal „auf Erinnerung beruhend" rechnen dürfen, hat sich in diesem Kapitel die These, der "ίμερος sei,

106 Anders HOFMANN, Etymol. Wörterbuch s.v., der Ιμείρω noch zu al. is-, icchati „wünschen" stellt, was die griechische Wortbildung nicht ausreichend begründet, vgl. FRISK und CHANTRAINE, DEtym. s.v. 107 S. RISCH, Wortbildung der homerischen Sprache 285 und 341. 108 O. BÖHTLINGK - R. ROTH, Sanskrit-Wörterbuch, St. Petersburg 1855/75, Bd. 7, 13861".; auch M. MAYRHOFER, Kurzgefaßtes etymologisches Wörterbuch des Altindischen, Heidelberg 1976, s.v. smará- (S. 549), sieht einen Zusammenhang mit Υμερος. 109 Umgekehrt wird das uns geläufige Wort für „sich erinnern", μιμνήσκεσθαι, bei Homer häufig genug so eingesetzt, daß gerade diese Übersetzung nicht in Frage kommt, z.B. Ε 2601Ϊ., wo die Pferde des Aineias dem Sthenelos so deutlich vor Augen sind, daß es der Aufforderung des Diomedes, auf sie „sich ihrer erinnernd" (μεμνημένος Υππων, 263) loszugehen, nicht bedürfte. Vielmehr bedeutet μιμνήσκεσθαι eigentlich „sich auf ein Objekt konzentrieren", einer Sache innesein (PLAMBÖCK 118-150, besonders 127f.). So begegnet man bei μιμνήσκεσθαι einer Reihe von Substantiven im Genitiv, die sehr gut auch bei Υμερος und Ιμείρειν stehen könnten und z.T. tatsächlich stehen: πόσιος καί έδητύος (Τ 231). σίτου (Ω 602) und andere Begriffe des Essens, κοίτου (η 138), εύνής (Ω 130), s. PLAMBÖCK 129, PORZIG, Die Namen fúr Satzinhalte 66. Anders als Ιμείρειν ist aber μιμνήσκεσθαι durchaus nicht auf angenehme Dinge oder Tätigkeiten beschränkt. Beide Wörter sind deutlich genug unterscheidbar; doch die jeweils hinter ihnen stehenden psychologischen Grwxderfahrungen (PLAMBÖCK 120), bis zu denen man ihren Gebrauch zurückverfolgen kann, sind offenbar nicht allzu weit voneinander entfernt. Man vergleiche Ω 486 μνήσαι πατρός σοΐο (Priamos zu Achilleus) ... 504 μνησάμενος σοΰ πατρός ... 507 τ ω 8' άρα (dem Achilleus) πατρός ύ S. 62. 150 S. 48 und Anm. 99. 151 Man könnte in Vers 514 sogar daran denken, Υμερος als absolut gebraucht anzusehen - also gar nicht γόοιο a u s dem vorangegangenen Vers zu ergänzen und es ganz allgemein als „(gedankliches) Gefesseltsein" aufzufassen. Man müßte sich dann allerdings ganz von der Bedeutung „Verlangen" lösen, und dazu besteht wohl doch keine Veranlassung. 152 S. 29f. 153 S. LATACZ 188; S. 53. 154 S. LfgrE s.v. γυΐα: Wort/.: γούνατα, als bes(onders) wichtige Gelenke sehr ähnlich) gebraucht).

I. Homer: 2. ίμερος

65

Schöpfung, Resignation usw. 1 5 5 Nur logisch ist es deshalb, wenn gesagt wird, daj3 Achilleus, nachdem der ίμερος auch seine γυΤα verlassen hat, vom Sitz aufspringt. Die danach ganz veränderte Haltung gegenüber Priamos und seinem Anliegen zeigt. daj3 er den Zustand überwunden hat, da er an nichts anderes denken konnte als ans Klagen über den toten Freund und den Vater. Er hat seine geistige Beweglichkeit und seine Spannkraft wiedergewonnen. Zu den Stellen mit ϊμείρειν/ϊμείρεσθαι ist nur mehr wenig zu sagen: Die Bedeutung des Verbums läßt sich als „von einem ίμερος ergriffen", also „im Zustand einer geistigen Fixierung, fasziniert sein" wiedergeben156 und ohne Schwierigkeiten in allen Fällen vertreten. Der betrunkene Elpenor etwa hat sich γύχεος ίμείρων, „an nichts denkend, als wie er sich abkühlen könnte" (κ 555), auf das Dach von Kirkes Haus gelegt. Als er Lärm hört, schrickt er auf und fällt hinunter - offenbar hatte den Weinbeschwerten die geistige Blockade noch nicht so weit wieder verlassen, daß er in der Lage gewesen wäre, die Leiter, mit der er hinaufgestiegen war, wiederzufinden oder sich überhaupt ihrer zu erinnern. Eine Besonderheit bleibt zum Abschluß noch zu erwähnen: die absolute Verwendung von ίμερος als θελκτήριον neben der φιλότης am Riemen der Aphrodite (Ξ 1 9 8 und 2 1 6 ) . Was NORMANN157 für φιλότης feststellte, gilt ebenso für ίμερος: Φιλότης ist hier... zur Bezeichnung eines Dinges verwandt, welches erst die φιλότης im üblichen Sinn herbeiführen soll. Diese Übertragung ist singular.

Man hat demnach bei Homer für ίμερος zwei Bedeutungen anzusetzen, eine passive und eine aktive: 1. passiv: „Gebanntsein", „Fasziniertsein"; 2. aktiv: „Bannen", „Reiz", „Faszination" (bei Aphrodites κεστός ίμάς).

155 S. F. KRAFFT, Vergleichende Untersuchungen zu Homer und Heslod, Göttingen 1963, 36; ONIANS 174fï.; SNELL, Die Auffassung des Menschen 16. 156 Von den sechs Stellen haben drei (α 59, c 209, Ξ 163) Ιμείρειν/Ιμείρεσθαι mit Infinitiv statt des Genitive (α 41, κ 431. κ 555), der regelmäßig bei ϊρασθαι steht. DaJ3 es ϊρσσθοι mit Infinitiv bei Homer nicht gibt, kann aber zufällig sein; besondere Gründe dafür vermag ich nicht zu entdecken.- Interessant ist aber, daß sich die Objektbereiche der beiden Verben - anders als die der Substantive - nicht decken, ja nicht einmal überschneiden: Ιμείρεσθαι wird niemals vom erotischen Verlangen gebraucht! (-» S. 46f.) 157 S. 43.

66

Erster Hauptteil: έ'ρος/ερως - ίμερος - ττόθος

3. ττόθος/ττοθή

3.1. Der Befund Wie bei ί'ρος/ερως wird auch bei πόθος/ττοθή ein wesentlicher Aspekt der Analyse eine eventuelle semantische Differenzierung der beiden Wörter sein, die 4mal (πόθος; Ix Ilias, 3x Odyssee) bzw. 12mal (ποθή; 7x Ilias, 5x Odyssee) in den beiden homerischen Epen vorkommen, und zwar im Nominativ (3x πόθος, 9x ποθή), Akkusativ (2 χ ποθή ν) und Dativ (lx πάθω, lx ποθη). Erst danach soll das Verbum ποθείν (1 lx Ilias, 12x Odyssee) untersucht werden und gegebenenfalls eine Zuordnung der Einzelstellen zu πόθος bzw. ποθή vorgenommen werden.

3.2. Erste Annäherung Während wir bei ερος und ίμερος sicher sein durften, uns im Wortfeld „Verlangen, Begehren" zu bewegen, und es nur darum ging, die spezifischen Konnotationen dieser Wörter zu erfassen, scheint im Fall von πόθος/ποθή die grundsätzlichere Frage angebracht, ob wir es überhaupt mit einem Begriff zu tun haben, der ερος oder ϊμερος vergleichbar ist. Der Thesaurus Graecae Linguae setzt für ποθή wie für πόθος nur die eine Bedeutung desiderium an 158 und vermerkt lediglich für ποθή, es sei poetis peculiare. LSJ und PASSOW halten ποθή zwar für grundsätzlich gleichbedeutend mit πόθος („= πόθος"), geben aber als Besonderheiten immerhin o 514 und 546 (want of bzw. Mangel an etw.) an. Ansonsten heiße ποθή longing, desire for; Wunsch, Verlangen, Sehnsucht. Für PAPE fällt dagegen sogar ξενίων ποθή an der erwähnten Stelle o 546 unter die Bedeutung Wunsch, Verlangen, Sehnsucht wonach. Keineswegs einheitlich gibt SCHADEWALDT in seinen Übersetzungen die beiden Wörter wieder. Für πόθος steht noch überall Sehnsucht, doch für ποθή kennt er - bei zwölf Stellen - nicht weniger als fünf deutsche Wörter: In seiner Odyssee-Übersetzung (1958) gebraucht er Verlangen (2x). Mangel (o 514, 546) und sogar Einbuße (ß 126); in der Ilias-Übersetzung (erschienen 1975) wählt er Verlangen (lx), Sehnsucht (3x) und Entbehren (3x). Doch nur Mangel und Ent158 Ebenso EßELING, Lex. Horn. s.v. ποθή.

I. Homer: 3. ττόθος/ττοθή

67

behren werden dem wichtigsten Aspekt des Wortes gerecht, der schon seit Piaton - trotz allen Erklärungen, die π ό θ ο ς / π ο θ ή an ε ρ ο ς / ε ρ ω ς und ίμερος hereinrückten - fast durchgängig als die differentia specifica zu diesen Wörtern aufgefaßt wurde: πόθος richtet sich stets auf etwas Abwesendes, etwas, das man entbehren muß.159 Ein Blick auf die 1 6 Belege von πόθος und π ο θ ή bei Homer zeigt, daj3 diese Beobachtung schon für die früheste Zeit gilt. Nirgendwo ist das Objekt eines πόθος anwesend. Andererseits brauchen wir durchaus nicht an allen Stellen ein „Verlangen" mitzuverstehen: So sagt Telemachos zu dem Flüchtling Theoklymenos, den er zu Schiff nach Ithaka mitgenommen hat: o 513-4

άλλως

μεν σ' αν έ γ ώ γ ε καί ήμέτερόνδε κελοίμην

ερχεσθ'· ού γ ά ρ τ ι ξενίων ποθή

„unter anderen Umständen würde ich dich sogar zu uns nach Hause einladen; denn an Bewirtung für Gäste herrscht kein Mangel". Es ist völlig unmöglich, hier ποθή mit „Verlangen" oder „Begehren" wiederzugeben, da der Kontext eindeutig einen Begriff des Fehlens, Nichtvorhanden-, Abwesendseins erfordert.160 Telemachos spricht ja von der objektiven Situation der Vorräte in seinem Haus, nicht von einem Gefühl des Begehrens, das irgendjemand (der ja auch zumindest im Dativ bei ποθή [έστιν] erwähnt werden müßte) den ξένια entgegenbringt. Es sieht so aus, als müßte eine einheitliche Bedeutungsbestimmung des Wortes ποθή vom Begriff des Mangels ausgehen und nicht von dem des Verlangens. Das bestätigt sich auch bei einer zweiten Gruppe von Stellen, bei denen die Übersetzung „Nichtvorhandensein, Abwesenheit, Fehlen" weniger angebracht ist: Als der Phaiake Euryalos dem Odysseus sein Schwert als Entschuldigung für die zugefügten Beleidigungen schenkt, antwortet dieser unter anderem: θ 414-5

μηδέ τ ί TOI ξίφεός γ ε ποθή μετόπισθε γ έ ν ο ι τ ο τούτου.

Nun ist keineswegs gemeint, dem Euryalos solle es nie passieren, daß das Schwert - welches er ja gerade verschenkt - nicht da sei, oder es solle ihm nie abhanden kommen; vielmehr wünscht ihm

159 - > s . 19. 160 S. T. BOLELLI, Rapporti fra intonazione e valore morfologico e semantico nei nomi d'agente e nel nomi d'azione in-ά e in-o- in greco, SI F C 24 ( 1950), 111.

68

Erster Hauptteil: ^ρος/έ'ρως - ίμερος - πόθος

Odysseus, er möge es niemals „vermissen"161, wenn er es brauchen könnte. Ähnliches gilt für die Stelle Ξ 368: Als Poseidon zugunsten der Griechen in den Kampf eingreift, sagt er: Ξ 368

κείνου δ' (sc. Ά χ ι λ λ ή ο ς ) oü τ ι λίην ποθή ε σ σ ε τ α ι „wir werden ihn (d.h. seine Qualitäten als Krieger) nicht allzu sehr vermissen" (nicht etwa „er wird nicht allzu abwesend sein")162.

An beiden Stellen - und, wie wir sehen werden, auch an den übrigen dieses Typs - wird das Fehlen einer Sache oder Person in Hinsicht auf eine bestimmte Situation als dysfunktional empfunden. Euryalos könnte sein Schwert möglicherweise einmal vermissen, wenn er es zum Kämpfen braucht. Die ποθή Ά χ ι λ λ ή ο ς beruht nicht auf besonderer Zuneigung oder Anhänglichkeit seitens der anderen Griechen, sondern darauf, daJ3 dem restlichen Heer die durch die Abwesenheit des Achilleus hervorgerufene Schwächung der Kampfkraft als „Vermissen" zu Bewußtsein kommt. Mit anderen Worten: Die π ο θ ή in diesem Sinne ist an die Funktion gebunden, die die vermiete Person oder Sache eigentlich zu erfüllen hätte. Daj3 dies für πόθος nicht gilt, läßt sich leicht an der Begegnung des Odysseus mit seiner Mutter in der Nekyia zeigen, wenn diese sagt: λ 202-3

α λ λ ά με σός τε πόθος σ ά τε μήδεα, φαίδιμ' Ό δ υ σ σ ε ΰ , σή τ' ά γ α ν ο φ ρ ο σ ύ ν η μελιηδέα θυμόν ά π η ύ ρ α . 1 6 3

Antikleia ist vor Gram über die Abwesenheit ihres Sohnes gestorben, nicht weil er ihr in einer bestimmten Situation gefehlt hätte. 164 Offenbar ist πόθος im Gegensatz zu ποθή affektgeladen: Man vermißt jemanden, weil man mit seinem Fühlen und Denken an ihm hängt.165 Die Differenzierung von ποθή und π ό θ ο ς , die sich hier abzeichnet, soll im folgenden Abschnitt noch weiter begründet werden. Zunächst einmal möchte ich jedoch zusammenfassend die drei ermittelten Verwendungsweisen von ποθή und πόθος gegeneinander abgrenzen:

161 Vgl. AMEIS-HENTZE z. St., ποθή sei hier das Vermissen. 162 S. PORZIG, Die Namen fiir Satzinhalte 26. 163 Zu σά μήδεα und σή άγανοφροσύνη, die eigentlich im Genitiv von πόθος abhängig sein müßten, vgl. AMEIS-HENTZE z. St. 164 Vgl. BOLELU 113. 165 Sachen kommen als Objekte von πόθος weder bei Homer noch bei Hesiod oder in den Hymnen vor.

I. Homer: 3. ττόθος/ττοθή

69

1. ποθήι: „Nichtvorhandensein", „Fehlen", „Abwesenheit" jemandes/einer Sache (τινός), ohne subjektive Implikationen. 2. ττοθη2: „Vermissen"; Bewußtsein der Abwesenheit einer Person/Sache (τινός) in jemandem (τινί) angesichts einer Situation, in der diese Person/Sache eine maßgebliche Funktion hätte; daher stets „Vermissen für etwas". 3. πόθος: „Vermissen" mit affektivem Charakter, aufgrund besonderer Zuneigung und sozialer Nähe zur abwesenden Person (τινός, keine Sachen).

3.3. πόθος á νύ μοί π ο τ ε καί σύ δυσάμμορε φίλταθ' ε τ α ί ρ ω ν α ύ τ ο ς έν! κλισίη λαρόν παρά δείττνον εθηκας aTya καί ό τ ρ α λ έ ω ς , ο π ό τ ε σ π ε ρ χ ο ί α τ ' 'Αχαιοί Τ ρ ω σ ί ν έφ' ϊπποδάμοισι φέρειν π ο λ ύ δ α κ ρ υ ν "Αρηα.

Es ist ebendieses Frühstück vor dem Kampf, das in Achilleus die Erinnerung an Patroklos wachruft, der ihm in vergleichbaren Situationen das Mahl zubereitete. Τ 319-21

vûv δέ σύ μέν κείσαι δ ε δ α ϊ γ μ έ ν ο ς , α ύ τ ά ρ έμόν κήρ ακμηνον πόσιος και έ δ η τ ύ ο ς ένδον έ ό ν τ ω ν σή ποθή.

Nun, da Patroklos tot ist, bringt es Achilleus nicht übers Herz, ein Frühstück zu sich zu nehmen, das von jemand anderem zubereitet worden ist. 1 7 6 Für ihn ist in diesem Augenblick die Situation, die er gerade erlebt, so eng mit dem Namen seines Freundes verknüpft, daß ohne diesen an einen normalen Ablauf des Frühstücks, so wie er ihn sich als ideal vorstellt, nicht zu denken ist. Dieses Bewuj3tsein einer Diskrepanz zwischen der gewohnheitsmäßig bekannten Idealsituation und der in einem bestimmten Punkt gestörten Realität kann nur mit ποθή bezeichnet werden. 177 Achilleus vermißt Pa1 7 6 Vgl. Eust. z. St.: ώστε καλώς ού δειττνώ μή έχων τον δειττνοττοιόν. 1 7 7 Wenn es a n der vergleichbaren Stelle h. Cer. 2 0 0 - 1 von Demeter heißt άλλ' άγέλαστος δπαστος έδητύος ήδέ ποτητος / ή στο ττόθω μινύθουσα βαθυζώνοιο θυγατρός, so könnte nicht einmal dann ποθη stehen, wenn dem Dichter des

I. Homer: 3. πόθος/ττοθή

73

troklos hier nicht nur als seinen Gefährten und Freund, mit dem ihn herzliche Zuneigung verband - das wäre mit πόθος auszudrücken gewesen; vielmehr bedeutet Patroklos' Fehlen 178 für Achilleus in der Normalität eines Frühstücks vor dem Kampf die entscheidende Störung, die ihn darein hindert, sich den gewohnten Handlungsmustern dieser Situation gemäß zu verhalten. 3 . 4 . 3 . πόθος

λ 202-3

s.o. S. 68

Telemachos beim Abschied zu Menelaos: δ 595-6

καί γ ά ρ κ' εις ένιαυτόν έ γ ώ π α ρ ά σ ο ί γ' άνεχοίμην ημενος, ούδέ κέ μ' οίκου ελοι πόθος ούδέ τ ο κ ή ω ν .

ξ 144

(Eumaios:)

α λ λ ά μ' Ό δ υ σ σ ή ο ς πόθος α ϊ ν υ τ α ι οίχομένοιο.

Diese drei Stellen zeigen, daß πόθος ein „schmerzliches Vermissen" einer gefühlsmäßig nahestehenden Person ist. Im Fall des Eumaios wird das daran deutlich, daß er nach eigenem Bekunden nicht einmal seine Eltern so sehr vermißt wie den Odysseus (ξ 142-4). Im Gegensatz zu ποθή bezieht sich πόθος nicht auf eine bestimmte Situation, in der die vermißte Person vorher eine wesentliche Funktion hatte, sondern bezeichnet den „Trennungsschmerz".179 Als Patroklos gefallen ist, weinen die Pferde des Achilleus um ihn: Ρ 437-9

δ ά κ ρ υ α δε σ φ ι θερμά κ α τ ά βλεφάρων χαμάδις f>íz μυρομένοισιν ήνιόχοιο πόθω.

Hymnus der Unterschied zu πόθω bekannt gewesen sein sollte, da hier wirklich der situationsunabhängige „Trennungsschmerz" gemeint ist; —> S. 96f. 178 BOLELLI 112 zögernd: R σ Anra. 180). β 375, δ 748. μ 110, π 287 = τ 6. 183 Ähnlich β 375 und 8 748: .jemandes Abwesenheit bemerken, der gewöhnlich da ist". 184 Ω 6-9 wurden von Aristophanes von Byzanz und Aristarch athetiert, s. MACLEOD ζ. St., der sich zustimmend äußert. In der Tat unterbrechen die Verse den Zusammenhang von 5 und 10 und bieten zudem ein eigenartiges Zeugma nach ττοθέων, zu dessen Objekten in den Versen 7-8 eher μεμνημένος a u s Vers 4 zu ergänzen wäre. 185 Vergleichbar α 343, σ 204.

Erster Hauptteil: ερος/ερως - ίμερος - ττόδος

76

Antikleia zu Odysseus über Laertes: λ 195-6

ενθ' ö γ ε κεΐτ' άχέων, μέγα δέ φρεσ! πένθος άέξει σον νόστον ττοθέων. 1 8 6

Hier scheint ποθείν schon recht nahe an die Begriffe des Begehrens heranzurücken, da das grammatikalische Objekt ein nomen actionis (νόστον) ist und man nach einem Geschehen verlangen, es aber nicht eigentlich vermissen kann. In Wahrheit muß man wohl verstehen σέ νοστέοντα ττοθέων, wie Β 708-9 ούδέ τι λαοί / δεύονθ' ή γ ε μόνος, πόθεόν γ ε μεν έσθλόν έόντα.

Α 492

ποθέεσκε

δ' (Achilleus)

Nur hier ist das Objekt von son. 1 8 7

ποθείν

άϋτήν τ ε τττόλεμόν τ ε .

in dieser Bedeutung keine Per-

3.6. Ergebnis Wir können nun die eingangs des zweiten Abschnitts gestellte Frage beantworten, ob πόθος/ποθή und ποθείν bei Homer überhaupt Begriffe des Verlangens sind: Das Ergebnis, das die vorangegangene semasiologische Untersuchung erbracht hat, berechtigt m.E. zu der eindeutigen Aussage, daß man die Grundbedeutung der genannten Wörter im Sinnfeld des Fehlens und Vermissens ansetzen muß, nicht in dem des Verlangens. Allerdings ist der bei Piaton bereits vollzogene Übergang in den Bereich „επιθυμία", wo sich πόθος neben ερως und ίμερος stellt, schon an manchen Stellen bei Homer vorbereitet (z.B. λ 196). E s ist offenbar ein Charakteristikum der Begriffe πόθος/ ποθή und ποθείν, daj3 in ihnen kein Streben zum Ausdruck kommt, keine zukünftige Idealsituation antizipiert wird - wie bei ερος als Handlungsantrieb und bei "μέρος als Reiz -, sondern der Blick von der Gegenwart in die Vergangenheit, auf vergleichbare Situationen zurückgeht. Insofern πόθος/ποθή und ποθείν bei Homer zwar Objekte, aber keine Ziele haben, sind sie nicht als Begriffe des Verlangens auszumachen. Dem entspricht die auffällige Tatsache, daj3 ποθείν mit dem Akkusativ steht, während doch die eigentlichen Verben des Verlangens und Begehrens den Genitiv (des Ziels) nach sich zu ziehen 186

Schmerzlich ersehnend AMEIS-HENTZE z. S t .

187 Die anderen Stellen dieser Gruppe: α 343, a 204, τ 136. Ϋ 16.

I. Homer: 3. πόθος/ττοθή

77

pflegen.188 Auch treten nomina actionis, ihrer Funktion nach Infinitiven zu vergleichen, gern im Genitiv zu ερος und ίμερος, niemals hingegen zu πόθος und ττοθή, denen ja jede finale Komponente fehlt. Ein Infinitiv bei ποθεΤν ist aus diesem Grunde für die homerische Sprache völlig undenkbar.

188 S. KÜHNER-GERTH I 351 f.

II. Hesiod und die homerischen Hymnen

1. Ιίρος/ϊρως und Verwandtes 1.1. ερος/ερως "Ερος und ερως kommen bei Hesiod und in den homerischen Hymnen insgesamt lOmal vor:

Hes. Th.

910-1

των

(Chariten)

καί από βλεφάρων ερος είφετο δερκομενάων

λυσιμελής· καλόν δε θ' ύττ' όφρύσι δερκιόωνται

Hes. fr. 266a,8 = 266c, 1

αύτάρ έπεί δαιτός μεν έίσης

H e s . fr. 2 9 8

δεινός γ ά ρ μιν ετειρεν ερως Πανοπηΐδος Α'Γγλης

h. Apoll. 499

αύτάρ έττήν σίτοιο μελίφρονος

h.

Apoll.

513

h. Merc. 434 h.

Merc.

447-9

έξ

ερον εντο

έξ

ερον ήσθε 1 8 9

αύτάρ έπε! ττόσιος καί έδητύος έξ ερον εντο τον

δ' ερος

έν στήθεσσιν αμήχανος α'ίνυτο θυμόν

τ!ς τέχνη, τίς μούσα άμηχανέων μελεδώνων, τίς τρίβος; άτρεκέως γ α ρ αμα τρία πάντα πάρεστιν εύφροσύνην καί έρωτα καί ηδυμον ϋπνον έλέσθαι

h . V e n . 91

Άγχίσην δ' ερος εϊλεν

= 144

Der Gebrauch von ερος und ερως bei Homer ließ sich in erstaunlich klaren Regeln beschreiben, deren Aussagekraft allerdings durch die geringe Anzahl der Belege etwas eingeschränkt erscheinen könnte. Es soll genügen, einige auffällige Punkte noch einmal zu skizzieren: 1. "Ερος steht immer mit, ερως ohne Genitiv. 2. "Ερως (oder ερος mit Genitiv der Person), das als beinahe göttliche Macht wirksame „Liebesverlangen", steht als Subjekt von Verben wie „bezwingen", „umhüllen"; ερος mit Genitiv eines nomen actionis ist stets Objekt von έξεΐναι/-έσθαι. 3. Weder ερος noch ερως haben adjektivische Attribute bei sich.190 189 Vgl. Λ 89. 190 Im Falle von έ'ρως wird dies allerdings Zufall sein, da vergleichbare Mächte wie Ύπνος/ϋττνος auch durch Epitheta charakterisiert werden können ( - » S. 38f.). Bei ερος, dem triebhaften Verlangen nach Sättigung, dem man „seinen Lauf läßt" (έξ ερον είναι/εσθαι), sind dagegen kaum sinnvolle Attribute denkbar.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 1. ερος/ϊρως und Verwandtes

79

Ein einziges Beispiel mag illustrieren, wie wenig von diesen Regeln im nachhomerischen Epos übriggeblieben ist: Hermes beschwichtigt den wegen des Rinderdiebstahls aufgebrachten Apollon durch besonders bezwingendes Spiel auf der Kithara, h. Mere. 434

τον δ' ερος έν στήθεοσιν αμήχανος αϊνυτο θιιμόν.

Die Verwendung von ερος an dieser Stelle unterscheidet sich in einigen Punkten von der homerischen: 1. Das Objekt des ερος ist nicht im Genitiv angeschlossen, oder anders gesehen: Absolutes ερος erscheint nicht als ερως. 2. Αΐνυσθαι, also einfach „ergreifen" statt homerisch „bezwingen" oder „umhüllen", ist aus dem Umfeld von ϊμερος (dort oft αίρείν 1 9 1 ) u n d πόθος (je e i n m a l m i t αυράν 1 9 2 ) auf ερος übertragen.

αί'νυσθαι, αϊρείν u n d αττ-

3. Έρος hat das Epitheton αμήχανος bei sich. 193

Zudem kommt keine der Bedeutungen, die man für ερος und ερως bei Homer ansetzen kann, an dieser Stelle in Frage: Weder kann ερος hier „Trieb zur Befriedigung eines elementaren Bedürfnisses" heißen noch „Liebesverlangen"; denn im ersten Fall müßte das Objekt des ερος, eine körperliche Tätigkeit, mindestens aus dem Kontext zu ergänzen sein, und von einem erotischen Verlangen, das den zweiten Bedeutungsansatz rechtfertigen könnte, ist ebenfalls nichts zu sehen. Wir müssen also anerkennen, daß ερος an dieser Stelle nicht im homerischen Sinne gebraucht wird und sich dahinter auch nicht der homerische „ερως" = ερος φιλότητος verbirgt.194 Was kann aber der Dichter meinen, wenn er sagt, den Apollon ergreife ein ερος, als er die lieblichen195 Klänge hört, die Hermes seiner Leier entlockt? Wenige Verse vorher scheint der gleiche Sach-

191 192 193

194

195

Bel Ερος, dem triebhaften Verlangen nach Sättigung, dem man „seinen Lauf läßt" (έξ ϊρον εΐναι/εσθαι), sind dagegen kaum sinnvolle Attribute denkbar. - > Kap. 12.3.2. - » A n m . 179. S. F. SCHOLZ. LfgrE s.v. άμηχαν(ής): 3. von Gewalten (Fabelwesen, Ungeheuern, h. H. Mere. 434 ΐρος), denen man preisgegeben ist, ohne durch entsprechende Maßnahmen etwas ausrichten zu können; etwa „unwiderstehlich" (nur Hes. und Hymnen). Zu άμήχανος im Zusammenhang mit ερος vgl. Sa. fr. 130,1 V. 'Έρος δηδτέ μ' 6 λυσιμέλης Sóvei, / γλυκύττικρον άμάχανον δρπετον. NORDHEIDER LfgrE s.v. Ερος weist der Stelle innerhalb der Gruppe Ια Ορος als tätige Macht einen Sonderplatz ( laß gegenüber laa erot Begierde) zu, den er aber nicht näher erläutert. Er verweist lediglich auf V. 455 (έρατόν κιθαρίζεις) und auf einen Abschnitt des Lemmas έρόεις. Έρατός steht dreimal kurz hintereinander: V. 421, 423, 426, ferner 455.

80

Erster Hauptteil: ερος/ερως - ίμερος - πόθος

verhalt schon einmal beschrieben worden zu sein, dort aber mit Hilfe eines homerischen Versatzstückes: h. Mere. 4 2 2 - 3

καί μιν γλυκύς "μέρος ηρει θυμώ άκουάζοντα.

Auch hier fehlt der bei Homer neben ίμερος übliche Genitiv derjenigen Sache, die das Denken und Fühlen der betroffenen Person völlig in ihren Bann zieht196. Es ist zunächst aus dem Text selbst nicht leicht zu sehen, welches diese Sache sein könnte. H. GÖRGEMANNS197 meint denn auch, man müsse wohl darauf verzichten, an ein Objekt des Eros zu denken, und ihn statt dessen als eine Gestimmtheit verstehen, die durch die Musik hervorgebracht wird. 'Έρος und "μέρος beschrieben hier die besondere Faszination des ästhetischen Genusses. Diese Interpretation wird durch den Vers 449 unterstützt, in d e m ερως n e b e n ευφροσύνη u n d ηδυμος ϋττνος als e i n e

der Wirkungen der Musik genannt wird. Ich würde nicht zögern, mich der Deutung von GÖRGEMANNS anzuschließen, wenn wir nicht danach fragen müßten, ob die innerhalb des Hermeshymnus sinnvolle Auffassung von ερος und ίμερος als „Faszination" (ohne einen Begriff des Verlangens!) mit dem, was wir sonst über diese Wörter wissen, in Übereinstimmung zu bringen ist. Gerade hier gibt es aber einige Schwierigkeiten: Daß ερος völlig mit "μέρος identifiziert worden wäre, ließe sich wohl noch hinnehmen; daß aber "μέρος hier - ohne Parallele in der gesamten griechischen Literatur - seiner Bedeutungskomponente „Verlangen" beraubt sein und durch die alleinige Geltung seiner anderen, besonders bei Homer gut, danach schlechter zu erkennenden Bedeutungskomponente „Faszination" geradezu in „vorhomerischem" Sinne gebraucht sein soll, ist für den späten Hermeshymnus kaum glaublich. Noch weit merkwürdiger ist, daß sich diese singulare archaische Reminiszenz auch auf ερος ausgebreitet haben müßte. Das alles läßt es geraten erscheinen, die andere mögliche Interpretation, die ερος und "μέρος als „Verlangen" auffaßt, nicht aus den Augen zu verlieren: Wir dürfen ja damit rechnen, daß der Zuhörer des Hymnus in Kenntnis des weiteren Fortgangs der Handlung wußte, worum es Apollon geht: um die Leier. 198 Diesen

196 Kap. I 2.2. 197 H. GÖRGEMANNS, Rhetorik und Poetik im homerischen Hermeshymnus, In: H. GÖRGEMANNS - E.A. SCHMIDT, Studien zum antiken Epos, Meisenheim a m Glan 1976, 122. 198 Vgl. DE JONG, LfgrE s.v. ίμερος Abschn. 3: either desire to play the lyre himself (499-502) or d(esire) for merriment, love and sleep (449) ... Or maybe sense

II. Hesiod und homerische Hymnen: 1. ερος/έ'ρως und Verwandtes

81

Wunsch, das Instrument selbst zu besitzen (oder zumindest das Spiel zu erlernen), versteckt der Gott in seiner Rede (436-62) hinter überschwänglichem Lob für das Spiel des Hermes, Fragen nach der Herkunft seiner Kunst und Versprechungen: Was sie von dem Angeredeten als Gegenleistung fordern, muß dieser verstehen Apollon denkt zu vornehm, um seinen Wunsch klar auszusprechen.199 Daß Hermes verstanden hat, zeigen die Verse 475ff.: h. M e r e . 4 7 5

αλλ' έπεί ouv t o i θ υ μ ό ς έπιθύει κ ι θ α ρ ί ζ ε ι ν ...

Apollons ερος in Vers 434 von dem ίμερος in Vers 422 zu trennen ist wohl kaum möglich. Während aber ein ϊμερος κιθάρας im Rahmen des von Homer bekannten Gebrauchs liegt, wäre ein ερος κιθάρας im homerischen Sinne nach dem oben (-> S. 31 f.) zu ερασθαι φυλόπιδος/ττολέμου (Π 208, I 64) Gesagten nur als uneigentlicher Ausdruck („geradezu körperlicher Drang nach dem Kitharaspiel") zu verstehen. Bei einer so ungewöhnlichen Verwendung müßte aber doch wohl das Objekt des ερος explizit genannt sein. Der Schluß liegt näher, daß der Sprache des Hymnendichters die ursprüngliche Unterscheidung zwischen ερος und ϊμερος verlorengegangen ist;200 beide bedeuten einfach nur noch „Verlangen nach etwas" in jedem denkbaren Sinne. Allenfalls die Tatsache, daß der Gedanke von V. 422 (mit ίμερος) zwölf Verse später, nach Hermes' Vortrag, mit ερος wiederholt wird, mag - im Sinne einer Steigerung - darauf hindeuten, daß letzterer Ausdruck als der stärkere empfunden wird. Der Zusammenfall von ερος und ίμερος überrascht in dem wahrscheinlich spätesten201 der großen Hymnen nicht sehr. Nur wenige Verse später (449) findet sich auch der früheste Beleg für den Dentalstamm έρωτ-:

weakened: .feeling of enjoying oneself, feeling of being charmed". Das erste scheint mir am überzeugendsten. 199 RADERMACHER 153. Überhaupt gehören Anspielungen und Andeutungen, wie jetzt J.A.F. DELGADO hervorhebt (Orakelparodie, mündliche Dichtung und Literatur im Hermes-Hymnus, in: W. KULLMANN - M. REICHEL |Hrsg.|, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990, 217f.), zu den charakteristischen Gestaltungsmitteln des Hermeshymnus. Auch unsere Stelle sieht DELGADO als Beispiel dafür. 200 S. H.M. MÜLLER 15. 201 R. JANKO, Homer, Hesiod and the Hymns, Cambridge 1982, 143 datiert den Hermeshymnus auf das Ende des 6. Jahrhunderts, G.S. KiRK in der Cambridge History of Classical Literature I, Greek Literature, Cambridge 1985, 115 setzt ihn zwischen das Ende des 6. und den Anfang des 4. Jahrhunderts, GÖRGEMANNS 128 an den Beginn des 5. Jahrhunderts.

82 h . Merc. 447-9

Erster Hauptteil:

ερος/ί'ρως -

ίμερος - πόθος

τίς τέχνη, τίς μούσα άμηχανέων μελεδώνων, τίς τρίβος; άτρεκέως γαρ αμα τρία πάντα πάρεστιν εύφροσύνην καί έρωτα κα! ηδυμον ϋττνον έλέσθαι.

Die Interpretation der Stelle birgt im einzelnen beträchtliche Schwierigkeiten 202 , doch läßt sich immerhin - es sei denn, wir folgen GÖRGEMANNS (s.o.) - festhalten, daß ερως im Zusammenhang mit ευφροσύνη und ηδυμος ϋπνος, zwei klassischen „angenehmen Situationen" 2 0 3 , eher die erotische Betätigung selbst meint als - wie sonst - das Verleingen danach. An zwei anderen Stellen (h. Ven. 91, 144) bleibt ερος in der erotischen Sphäre, folgt aber wiederum nicht den Regeln des homerischen Sprachgebrauchs: h . Ven. 91 = 144

Ά γ χ ί σ η ν δ' ερος εΤλεν.

Hier sind der absolute Gebrauch von ερος (ganz wie homerisch ερως) und das Verbum αϊρεϊν auffällig. Umgekehrt steht in dem Vers Hes. fr. 298

δεινός γάρ μιν ετειρεν ερως Πανοττη'ίδος Αϊγλης

unhomerisch ερως (statt ερος) mit dem Genitiv der Person, obwohl das Metrum hier auch ερος zugelassen hätte. Έ ρ ο ς und ερως bleiben also nachhomerisch ohne semantische Unterscheidung. 'Έρως wird zur Standardform, die zudem in die Dentalstämme übergeht, ερος hält sich daneben noch eine Zeit als äolisierende metrische Variante. Besonders problematisch ist die einzige Stelle in Hesiods Hauptwerken, an der ερος als Appellativum erscheint: Hes. Th. 910-1

των (Chariten) καί άπό βλεφάρων ερος ει'βετο δερκομενάων λυσιμελής - καλόν δέ θ' ύττ' όφρύσι δερκιόωνται.

Daß sich ein erotisches Verlangen aufgrund optischer Reize eines Menschen bemächtigt, also durch dessen Augen in ihn eindringt, haben wir schon bei Homer sehen können. Hier liegen die Dinge etwas anders: Der ερος entströmt (άπό ... ει'βετο) den Augen der Chariten. Damit befinden wir uns erneut völlig au ßerhalb jeder homerischen Verwendung von ερος/ερως 2 0 4 Bemerkenswert ist außerdem 202 -> Anhang II. 203 Vgl. Ν 636-9. 204 Dies ist auch eine der wenigen Stellen, an denen eines der in dieser Arbeit untersuchten Wörter aus der Sicht des „Senders", nicht der des „Empfängers" betrachtet wird: „ϊρος entströmt den Augen" heißt soviel wie „etwas entströmt

II. Hesiod und homerische Hymnen: 1. ϊρος/ερως und Verwandtes

83

die Übertragung des bei Homer nur an zwei Stellen (u 57, ψ 343) und dort nur als Epitheton von ϋττνος vorkommenden λυσιμελής auf den ερος. Wie schon mehrfach erwähnt wurde, hat ερος/ερως bei Homer niemals ein Epitheton bei sich. Ich denke, es leuchtet unmittelbar ein, daß ein ερος λυσιμελής nur eine nachhomerische Schöpfung sein kann: Während die Vorstellung eines „gliederlösenden" 205 , also eines entspannenden Schlafes ganz natürlich ist, erfordert es erheblich mehr Phantasie, sich vorzustellen, was mit einem „gliederlösenden ερος" gemeint sein kann206, der den Augen der Chariten entströmt. 207 Die Herkunft des Epithetons dürfte dem-

den Augen, das ϊρος hervorruft". Im gleichen Sinne werden sonst nur noch ίμερος (Ξ 198, 216) und πόθος (Hes. Op. 66) von Aphrodite Eds wirkungsmächtige Gaben an Hera bzw. Pandora verliehen. 205 Λυσιμελής ist hier wie selbstverständlich mit „gliederlösend" übersetzt, und das ist wohl auch richtig. Dennoch sollte erwähnt werden, daß Hesiod Op. 66 mit den Worten γυιοβόρους μελεδώνας (so schreibt WEST mit guten Gründen, s. Miscellaneous Notes on the Works and Days, Philologue 108 119641, 158-9, varía lectio ist γυιοκόρους, vgl. VERDENIUS ζ. St., LfgrE s.v. γυιοκόρ[ος]) ein Wortspiel vorführt, das die μελεδώναι, „Sorgen", als „Gliederfresser" (μέλη + ϊδειν) interpretiert, ja geradezu übersetzt (s. WEST, Miscellaneous Notes und Komm. z. St., W1LAMOW1TZ z. St.; vgl. Et. M. 576,23: μελεδώναι· al τά μέλη ίίδουσαι φροντίδες). Es ist also nicht abwegig zu vermuten, daß auch im Faille von λυσιμελής ein Doppelsinn des Hintergliedes („Glieder"/„Sorgen") beabsichtigt sein könnte. Schon das Scholion zu Th. 121 (λυσιμελής: 6 λύων τάς φροντίδας· ού γαρ ένταΰθα την μίξιν και την έττιθυμίαν λέγει, τήν λύουσαν τα μέλη .... vgl. WEST zu Hes. Th. 121, F. JACOBY, Hesiodstudien zur Theogonie, Hermes 61 119261, 168 Anm. 2.) kennt die zwei Interpretationen. Der Ursprung des ganzen Wortspiels ist bei Homer zu finden (sehr gut RUSSO zu υ 56; vgl. E. RlSCH, Namensdeutungen und Worterklärungen bei den ältesten griechischen Dichtern, Eumusia, Festschrift f. E. HOWALD, Erlenbach-Zürich 1947, 89f.): υ 56-7 und y 343 wird der Schlaf (ϋττνος) zugleich als λύων μελεδήματα θυμού und λυσιμελής beschrieben. Diese wohl schon von Homer bewußt eingesetzte Nebeneinanderstellung legt nahe, nach dem Vorbild von λυσιμελής auch in μελ-εδήματα die μέλη zu entdecken, wie es Hes. Op. 66 dann auch tut. Der erste Teil von Schol. Hes. Th. 121 zeigt die Umkehrung dieser Version (λυσιμελής „sorgenlösend" nach μελεδήματα). 206 LASSERRE 26f. hält λυσιμελής neben "Ερος sogar für sinnvoller als neben (ίττνος und erklärt: L'amour est une détente après les peines de la bataille. C'est le rôle queJoue aussi le sommeil chez Homère. Schlaf als Entspannung scheint dennoch das Näherliegende zu sein. LASSERRES Gedanke steht im Zusammenhang mit dem m. E. nicht besonders glücklichen Versuch, das Epitheton λυσιμελής auf eine vorhesiodeische und vorodysseische dichterische Tradition zurückzuführen. Das homerische Wortspiel mit λυσιμελής ϋττνος in υ 56-7 und ψ 342-3 (wozu ausführlich —> Anm. 205) hält er für ein Mißverständnis früherer nichtepischer Dichtung, die nur λυσιμελής ερως gekannt habe (27f.). 207 Für die Vorstellung des „Fließens" oder „Tropfens" im Zusammenhang mit ϊρος führen die Verbindungslinien wiederum, wie öfter bei Hesiod, nicht zu Homer, sondern in die Lyrik und die Tragödie: Alcm. fr. 59,1-2 Ρ. 'Έρως με δηδτε Κύττριδος ρέκατι / γλυκύς κατείβων καρδίαν Ιαίνει; Eur. Hipp. 525-6 Έρως, δ κατ' όμμάτων / στάζεις ττόθον; vgl. WEST zu Th. 910. FISCHER 57 und BARRETT zu Eur. Hipp. 525; H.M. MÜLLER 19Γ. 34, 92 u.ö.

84

Erster Hauptteil: £ρος/ερως - ίμερος - πόθος

nach in den beiden genannten Odyssee-Stellen zu suchen sein, von wo es nicht nur auf den ερος/ερως 208 , sondern später u. a. auch auf den πόθος 2 0 9 übertragen wurde.210 Unter Umständen hat aber eine andere Odyssee-Stelle, σ 212

των δ' αϋτοΟ λύτο γούνατ', ερω δ' άρα θυμόν εθελχθεν,

die Übertragung vom ϋπνος auf den ερος begünstigt, auch wenn sich die Knie der Freier im Angesicht Penelopes weniger aus Entspannung lösen. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, daJ5 - wie sich noch das eine oder andere Mal zeigen wird - Hesiod und die homerischen Hymnen in einigen Punkten, nicht zuletzt im Gebrauch solcher Epitheta, eine Mittelstellung einnehmen zwischen Homer, der ein eigenes festes Liebesvokabular noch kaum kennt, und der späteren Dichtung, der eine reiche Fülle von stets wiederkehrenden Ausdrücken im erotischen Bereich zu Gebote steht, mit denen die in der epischen Dichtung angeschlagenen Themen in immer neuen Variationen vorgetragen werden.211 Unglücklicherweise ist die Echtheit der Theogonieverse 910-1 mit der ungewöhnlichen Metapher eines den Augen entströmenden ερος nicht gesichert. W E S T läßt Hesiods Werk überhaupt schon mit V. 900 enden212 und geht daher auf eine eventuell besondere Stellung der Verse 910-1 im Zusammenhang der ganzen Passage (90129) nicht mehr näher ein. Wenn man das ursprüngliche Ende der Theogonie erst später ansetzt, dann hängt für die Echtheit der bewußten Verse viel davon ab, wie konsequent man die triadische Struktur des Abschnitts 901-29 vom Dichter durchgeführt wissen will. Die mögliche Aufteilung in 9 mal 3 wird nämlich nur durch das Stück V. 907-11 gestört. Inhaltliche und stilistische Bedenken - die singuläre Wiederholung des Verbs am Versende und das απαξ λεγόμενον δερκιάομαι 213 , der etwas künstlich wirkende Vergleich des ερος mit Tränen nach dem Muster des homerischen δάκρυα 208 Neben Hes. Th. 910-1 noch ebd. V. 120-1 (Έρος), PMG Carm. 873,3-4 P., Sa. fr. 130.1 V. H Anm. 193). 209 Archil, fr. 196 W. άλλά μ' ó λυσιμελής ώταΐρε δάμναται πόθος, Alcm. fr. 3,61 P. λυσιμελεΐ τε ττόοωι, τακερώτερα / δ' ϋττνω καΐ σανάτω ποτιδέρκετσι. 210 Von der δίψα λυσιμελής spricht Theogn. 838, vom θάνατος λυσιμελής Eur. Suppl. 47; vgl. WEST zu Hes. Th. 121. 211 S. die typologische Einordnung der ϋρος-ΐίρως-Themen bei FISCHER 47-62. 212 S. app. crit. zu 901-1020 und Komm, zu 881-1020. 213 S. KRAFFT 55 und dort Anm. 1; F. SCHWENN, Die Theogonie des Hesiodos, Heidelberg 1934, 51.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 1. ίρος/ίροις und Verwandtes

85

λείβειν214, die mangelnde Dichte des Ausdrucks - kommen dem Bestreben entgegen, die aus kompositorischen Gründen störenden Verse 910-1 zu eliminieren.215 Es ist jedoch verschiedentlich mit Recht davor gewarnt worden, die Triadenjagd?16 zum Prinzip zu erheben.217 In der Tat ist hier ohne zusätzliche Argumente nicht auszukommen. Besonders bedenkenswert ist dabei immer noch LEOS Hypothese218, der Autor von Hes. Sc. 7-8

της και από κρήθεν βλεφάρων τ αττο κυανεάων τοίον αηθ' οΤόν τε πολυχρύσου 'Αφροδίτης

habe die Syntax des Theogonieverses mißverstanden und das feminine Partizip δερκομενάων nicht auf των (sc. Χαρίτων), sondern auf βλεφάρων bezogen, dieses mithin als feminin aufgefaßt. V. 7 des Scutum sei diesem Modell nachempfunden (also της ... βλεφάρων τ' απο κυανεάων, Femininum!), Th. 910 also dem Autor des Scutum bereits bekannt gewesen. Man wird sich dieser Argumentation kaum mit KRAFFTS Behauptung verschließen können, Th. 9 1 0 sei gegenüber dem Scutum-Vers eine Vergröberung des Sinnes219, die Priorität somit eher entgegengesetzt zu beurteilen. Im Gegenteil erblicke ich in Sc. 8 den Versuch, das hesiodeische ερος είβετο, das in V. 7 keinen Platz mehr hatte, auf eine volle Hexameterlänge zu dehnen.220 Wie auch immer ein ästhetisches Urteil über die beiden Stellen ausfallen mag, die Syntax von Th. 910 kann wohl Vorbild für die von Sc. 7 gewesen sein, aber kaum umgekehrt, wenn - was wahrscheinlich ist - die beiden Verse in irgendeiner Beziehung zueinander stehen.221

214 KRAFFT 55. 215 Für die Athetese treten ein SCHWENN 51; ALY z. St.; KRAFFT 55f.; RUSSO zu Hes. Sc. 7; JACOBY 175 (vgl. 169 Anm. 2). Dagegen werden die Verse 910-1 für H. SCHWABLS (Hesiods Theogonie. Eine unitarische Analyse, Wien 1966) Versuch, in der Theogonie Symmetrien und Verszahlenresponsionen als Dispositionsprinzip nachzuweisen, benötigt: Die Partie 886-937 teilt sich nach SCHWABL in die zwei jeweils 26 Verse langen Abschnitte 886-911 und 912-37 (s. S. 124-6). 216 SCHWABL 126. 217 SCHWABL 124: WEST zu Th. 901-29. 218 F. LEO, Hesiodea, in: Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. u. eingel. v. E. FRAENKEL, II, Rom 1960, 352-354; vgl. ALY zu Th. 910. 219 S. 56. 220 Zudem bewegt sich Sc. 8 durchaus im Rahmen traditionellen Formulars: ϋητο erscheint in genau dieser Form zuerst Φ 386 und dann öfter im frühgriechischen Epos; für πολύχρυσος 'Αφροδίτη gibt es Parallelen bei Hesiod und im Aphroditehymnus, s. RUSSO zu Sc. 8. 221 Ib. fr. 287,1 Ρ. 'Έρος αϊτέ με κυανέοισιν ύττό βλεφάροις τακέρ' ΰμμασι δερκόμενος scheint beide Stellen vorauszusetzen: Die Verwendung von κυα νέος weist auf Sc.

86

Erster Hauptteil: ΐρος/ΐρως - ίμερος - ιτόθος

1.2. έράν/ερασθαι/έρατίζειν Ganz im Sinne homerischen Gebrauchs kommen die verbalen Verwandten von ερος/ερως im hesiodeischen Corpus und in den Hymnen in zwei Zusammenhängen vor: Liebe und Essen: 222 1. Liebe Hes. Th. 915

Μνημοσύνης δ' έξαϋτις έράσσατο καλλικόμοιο

Hes. fr. 30,32

τή]ς γ' έράεσκε Ποσειδάων ένοσίχθων

Hes. fr. 145,13

της δ' α ρ' [έν ό]φθαλμοΤσιν ,ίδών ήράσ[σατο

h. Ven. 56-7

τ ο ν δη επειτα ίδοΰσα φιλομμειδής 'Αφροδίτη ήράσατ', έκπάγλως δε κατά φρένας 'ίμερος εΤλεν

2. Essen h. Cer. 129

αλλ" έμοί ού δόρποιο μελίφρονος ηρατο θυμός

h. Mere. 130

ενθ' όσίης κρεάων ήράσσατο κύδιμος Έρμης κρειών έρατίζων 2 2 3

h. Merc. 64 = 287 3. unklar Hes. fr. 185,14

[

]αι θεοί αύτοί εραντο

7-8, δερκόμενος sowie die doppelte Beschreibung des Blickes (βλεφάρων und δμμασι) auf Th. 910-1. 222 Homer verwendet es daneben noch im uneigentlichen Sinne vom Krieg, S. 31. 223 S. Λ 551. Ρ 660.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 2. ίμερος und Verwandtes

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2. ίμερος und Verwandtes 2 . 1 . 'ίμερος

Ein Blick auf die Stellen, an denen ϊμερος bei Hesiod (lx) und in den homerischen Hymnen (8x) verwendet wird, bietet zunächst gegenüber dem von Homer Gewohnten nichts wesentlich Neues, sieht man vielleicht von der einzigen Hesiodstelle ab (darüber später). Zunächst die Belege: H e s . Op. 6 1 8

εΐ δέ σε ναυτιλίης δυσπεμφέλου ίμερος αίρει

h. Apoll. 4 6 1 - 2

αύτίκα δέ σφεας σίτοιο γλυκεροΐο περί φρένας ίμερος αίρει

h. Merc. 422-3

και μιν (Apollon) γλυκύς ϊμερος βρει θυμώ άκουάζοντα

h. Ven. 1-3

Μούσα μοι εννεπε εργα πολυχρύσου 'Αφροδίτης Κύπριδος, η τε θεοΤσιν έττί γλυκύν ϊμερον ώρσε καί τ' έδαμάσσατο φύλα καταθνητών ανθρώπων

h. Ven. 45-6

Τη δέ (Aphr.) και αύτη Ζεύς γλυκύν ϊμερον εμβαλε θυμώ άνδρί καταθνητώ μιχθήμεναι

h. Ven. 53

Άγχίσεω δ' αρα ο! γλυκύν ϊμερον έ'μβαλε θυμώ

h. Ven. 56-7

τον δή έ'πειτα ΐδοΰσα φιλομμειδής 'Αφροδίτη ήράσατ', έκπάγλως δέ κατά φρένας ϊμερος εΤλεν

h. Ven. 73-4

καί τοΐς (Tieren) έν στήθεσσι βάλ' ϊμερον, οί δ' αμα πάντες σύνδυο κοιμήσαντο κατά σκιόεντας έναύλους

h. Ven. 143-4

'Ώς ειπούσα θεά γλυκύν ϊμερον εμβαλε θυμώ. Άγχίσην δ' ερος εΤλεν

1. a) An sämtlichen sechs Stellen des Aphroditehymnus - zum ersten Mal schon in Vers 2! - bezeichnet ϊμερος den unwiderstehlichen erotischen Reiz im Sinne der homerischen Verse Γ 446 und Ξ 328 2 2 4 , mit dem Aphrodite das Denken selbst des 2 2 4 —> S. 63f. ; the poet of the Hymn to Aphrodite employs a traditional phraseology of sexual impulse (H. PARRY, The Homeric Hymn to Aphrodite: Erotic Ananke, Phoenix 4 0 [1986], 255).

88

Erster Hauptteil: ϊρος/ερως - Ιμερος - πόθος

G ö t t e r v a t e r s f e h l l e i t e t (παρέκ Ζηνος νόον η γ α γ ε , V . 3 6 ) u n d s e i n e n V e r s t a n d b e t r ü g t (ττυκινάς φ ρ έ ν α ς έ ξ α π α φ ο ΰ σ α , V . 3 8 ) .

b) Η. Apoll. 461 (Verlangen nach Speise) ist dem praktisch identischen Vers Λ 89 nachgebildet. c) Über h. Mere. 422 s.o. S. 80. Da hier mit Υμερος wohl das „Gebanntsein von der Kithara", also von ihren Klängen und dem Wunsch, sie selbst zu spielen, gemeint ist, wird man die Stelle in den Bereich „Verlangen nach angenehmer Betätigung" neben ψ 144-5 (μολττή, όρχηθμός)225 rücken dürfen. 2. Ganz homerisch werden mit ίμερος die drei Verben αίρείν, όρνύνσι u n d έμβάλλειν g e b r a u c h t . 2 2 6

3.

Das ebenfalls schon homerische Epitheton γλυκύς erscheint an fünf der neun Stellen.

Interessanter ist die Beobachtung, daß im Aphroditehymnus ϊμερος auch ohne vorhandenen oder zumindest aus einer Ellipse leicht herzustellenden Genitiv stets ein erotisches Verlangen bezeichnet. Das überzeugendste Beispiel dafür ist gleich der zweite Vers des Hymnus: Hier, am Anfang des Textes, ist der einzige Anhaltspunkt für die Interpretation von "μέρος die Verbindung mit der Göttin und ihren εργα. Der antike Hörer des Hymnus wäre wohl kaum überfordert gewesen, absolut gebrauchtes ίμερος, selbst wenn es ihm noch nie zuvor begegnet wäre, im Zusammenhang mit Aphrodite richtig zu verstehen. Doch nicht einmal dieser einfachen Kombination bedurfte es, da ein erotischer ίμερος ohne erklärende Zusätze im Genitiv schon längst zur poetischen Tradition gehörte: als Bestandteil von Aphrodites κεστός ¡μάς in der Ilias (Ξ 198, 216), als ihr personifizierter Begleiter bei Hesiod (Th. 201); die Inschrift des Nestorbechers von Ischia227 ist ein weiterer Beleg für die Verbindung des Wortes mit der Göttin. Auch im weiteren Verlauf des Textes ist eine Spezifizierung des Υμερος (durch Genitive oder Infinitive228) zwar möglich, aber nicht unabdingbar: Der Dichter eines Aphroditehymnus müßte - insbesondere nachdem er den Υμερος in Vers 2 geradezu zum έργον der Gottheit erklärt hat - schon klare und eindeutige 225 - > s . 31. 226 S. 34. 227 Νέστορος : ε[ιμ].ι : ευττοτ[ον] : ττοτεριον / hoç δ' αν τοδε ττιεσι : ττοτερι[ο] : αυτικα κενόν / Ιιιμερος Ιιαιρεσει : καλλιστε[φα]νο : Αφροδιτες (s. zuletzt S. WEST, Nestor's Bewitching Cup, ZPE 101 11994], 9-15, mit weiterer Literatur; E. RISCH, Zum Nestorbecher aus Ischia, ZPE 70 (1987), 1-9, ergänzt im ersten Vers zu εγομι). 228 Mit Genitiv V. 53, mit Infinitiv V. 45-6; ein Genitiv kann unmittelbar ergänzt werden V. 57 (aus τόν, 56). Anders in V. 73 und 143: Hier ist das Vorverständnis des Υμερος (absolut gebraucht) als eines Ausdrucks der erotischen Sphäre gefordert.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 2. ϊμερος und Verwandtes

89

Formulierungen gebrauchen, wenn er einmal nicht den erotischen 'ίμερος meinen sollte. Daj3 allerdings unser Autor diese semantische Doppelbelegung eines seiner zentralen Begriffe229 vermieden hat, kann nicht verwundern. Die einzige Hesiodstelle, an der ίμερος als Appellativum verwendet wird, Hes. Op. 618

εϊ δέ σε ναυτιλίης δυσπεμφέλου ίμερος αίρεΤ,

läJ3t sich dagegen nur lose an Homer anknüpfen: Der ganze Vers mit dem traditionellen ίμερος αίρει scheint hier Hesiods Mißbilligung des im Genitiv angeknüpften Vorhabens, nämlich der Seefahrt, zum Ausdruck zu bringen.230 Der ϊμερος wird also vom Sprecher negativ gesehen, ähnlich wie κ 431-2

τ ! κακών ΐμείρετε τούτων; Κίρκης ές μέγαρον καταβήμεναι. 2 3 1

Darauf weist auch das Adjektiv δυσπέμφελος, ebenso wie ναυτιλίη (θ 2 5 3 ) ein homerisches απαξ Χεγόμενον (Π 7 4 8 , dort vom πόντος gesagt). Aus homerischen Bausteinen ist also hier ein ganz neuer Zusammenhang geschaffen, der jedoch zu keiner Modifikation des bisherigen Bedeutungsansatzes „unwiderstehlicher Reiz" o.ä. Anlaß gibt.

2 . 2 . ίμείρειν/ίμείρεσθαι

Wir hatten beobachtet, daJ3 bei Homer in den Fällen, wo ερος und ερασθαι mit dem Genitiv der Person stehen, immer an den Geschlechtstrieb, den ερος φιλότητος, gedacht ist. Diese Junktur, an deren Stelle sonst homerisch bei absolutem Gebrauch ερως steht, begegnet immerhin einmal in der Ilias (Ν 636-8)232, in einer Aufzählung verschiedener *εροι. 229 Zur Funktion der Wiederholung von Υμερος s. H.N. PORTER. Repetition in the Homeric Hymn to Aphrodite, AJPh 70 (1949), 258; E. PELLIZER, Tecnica compositiva e struttura genealogica nell'Inno omerico ad Afrodite, QUCC 27 (1978), 122; vgl. C.A. SOWA, Traditional Themes and the Homeric Hymns, Chicago 1984, 73. 230 Siehe WEST, WILAMOWITZ z. St. 231 S. 51; den Unwillen des Sprechers in Wendungen wie „wenn du unbedingt willst ..." drückt bei Homer üblicherweise das Verbum λιλαίεσθαι aus, ζ. Β. λ 380 ε! S' ΐ.1 άκουέμεναί γε λιλαίεαι ... (-> Kap. 1.2. des zweiten Hauptteils), Ξ 331. 232 Vgl. Archil, fr. 191 W. φιλότητος Ερως.

90

Erster Hauptteil: ϊρος/ϊρως - ίμερος - πόθος

Dagegen kann bei der Verbindung „'ίμερος mit dem Genitiv der Person" allenfalls der Kontext Auskunft geben, in welcher speziellen Handlung sich das Verlangen nach einer Person erfüllen soll. Γ 4 4 6 (= Ξ 328: ώς σέο νυν εραμαι καί με γλυκύς 'ίμερος αίρει) w i r d m a n z w a r a n die φιλότης denken, Γ 139-40 ('ίμερον ... ανδρός τ ε προτέρου

καί αστεος ήδέ τοκήων) zeigt aber, daß 'ίμερος mit dem Genitiv der Person - anders als ερος - nicht auf die erotische Sphäre beschränkt ist. Wenn nicht ohnehin der Zusammenhang über die Art des 'ίμερος Aufschlug gibt (wie an den ϊμερος-Stellen im Aphroditehymnus), kann zur eventuell erforderlichen Präzisierung ein Infinitiv oder nomen actionis im Genitiv hinzutreten (so schon ε 209-10 ¡μειρόμενος ... ΐδέσθαι σήν αλοχον, g e n a u e r als ϊμειρόμενος σης άλόχου).

An den folgenden Stellen wäre das einfache ΐμείρων γυναικός wohl nicht eindeutig genug gewesen: Hes. T h . 176-7

ήλθε δε νύκτ έπάγων μέγας Ουρανός, άμφΐ δέ Γαίη ΐμείρων φ ι λ ό τ η τ ο ς έπέσχετο

Hes. Sc. 31

ΐμείρων φ ι λ ό τ η τ ο ς έυζώνοιο γυναικός

Hes. fr. 199,2

ΐμείρων 'Ελένης πόσις εμμεναι ήυκόμοιο

Die Junktur Ϊμείρων φιλότητος + gen. pers. kommt zwar bei Homer selbst nicht vor, ist aber im höheren Sinne nicht „unhomerisch" zu nennen: Die gleiche Struktur ('ίμερος + gen. nom. act. + gen. pers.) zeigt z.B. die W e n d u n g πατρός ... 'ίμερον ... γόοιο (Π 507).

Ebenfalls nichts Neues gegenüber Homer bietet die einzige Stelle mit ίμείρειν aus den Hymnen: h. Mere. 132-3

άλλ' ούδ' ώς oi έπείθετο θυμός άγήνωρ καί τε μάλ' ίμείροντι περην' ιερής κατά δειρής.

II. Heslod und homerische Hymnen: 3. Die Adjektive

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3. Die mit Κρος und Τμιρος verwandten Adjektive In den Kapiteln über ερατεινός etc. 233 und ϊμερόεις etc. 234 bei Homer ging es hauptsächlich um das Verhältnis dieser adjektivischen Ableitungen zu ihren Grundwörtern. Dabei konnte gezeigt werden, daß die zugrundeliegende Vorstellung eines ερος bzw. "μέρος noch vorhanden, im Falle von έρατεινός/έραννός aber schon etwas verblaßt ist: An 15 der insgesamt 2 5 Stellen sind ερατεινός und έ ρ α ν νός lediglich wenig aussagekräftige Epitheta zu Namen von Städten und Ländern. Ίμερόεις dagegen erscheint nicht nur deshalb als der farbigere Begriff, weil es nicht durch eine so formelhafte Verwendung abgenutzt ist (es steht bei Homer überhaupt nie neben geographischen Begriffen), sondern auch, weil ihm die Konnotation des „Göttlich-Faszinierenden" anhaftet, von der bei ερατεινός und έραννός nichts zu spüren ist. Die folgende Aufstellung soll einen Überblick über die Verwendungsweisen der neun von ερος und ίμερος abgeleiteten Adjektive im nachhomerischen Epos geben und sie zu den bei Homer beobachteten Tendenzen in Beziehung setzen. Έρόεις wird von Homer aus bereits genannten Gründen 235 nicht gebraucht. Im hesiodeischen Corpus erscheint es 4mal 236 als Epitheton von Frauen und weitet seinen Gebrauch erst in den Hymnen aus. 237 M. TREU238 bemerkt, έρόεις werde erst nach und nach von „natural objects" gebraucht. Umgekehrt scheint das Αφ. ερατεινός erst von Städten und Ländern und dann - seit Horn, δ 13 - von Menschen gebraucht worden zu sein. Das ist vom vorliegenden Material her richtig, trägt aber keine weitergehenden Schlußfolgerungen, da bei Homer überhaupt fehlt, und zwar wahrscheinlich gerade wegen seiner semantischen und metrischen Übereinstimmung mit ερατεινός; 2. bei Hesiod 239 , wo man beide Adjektive erstmals gegenüberstellen kann, έρόεις und έρατεινός gleichermaßen nur auf Personen und 1. έρόεις

233 234 235 236

-> Kap. I 1.3.6. -> Kap. I 2.3.5. -> S. 42f. Th. 245, 251, 357; fr. 169.1 (= Titan, fr. 12,1 BERNABÉ, Zuordnung unsicher). 237 lmal von einer Frau (h. Cer. 109), lmal als Anrede des Hermes an die gefundene Schildkröte (h. Mere. 31). lmal von den στόματα der άοιδο! (h. Cer. 425), lmal von einer Höhle (h. Ven. 263), lmal von άνθεα (h. 32,20). 238 Von Homer zur Lyrik, München 1955, 245. 239 Die 3 Fragmente (23a,22; 33a,5; 169,1) bleiben unberücksichtigt.

92

Erster Hauptteil: ?ρος/?ρως - ίμερος - πόθος

nie auf natural objects bezogen werden240, mit Ausnahme des Verses Th. 6 4 2 ( ά μ β ρ ο σ ί η ν έ ρ α τ ε ι ν ή ν ) , den SOLMSEN und WEST aber athetieren; 3. die beiden Wörter in den Hymnen je einmal von Menschen (dazu einmal έρόεις von den στόματα der αοιδοί241), sonst von Gegenständen und Orten gebraucht werden.242 Wo immer also synchron verglichen werden kann, ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte für unterschiedlichen Gebrauch. TREUS Bild wird dadurch ungenau, daß er eine Entwicklungslinie „Homer Hesiod" (für ερατεινός) gegen eine andere, gar nicht vergleichbare Linie „Hesiod - Hymnen usw." (für έρόεις) stellt, ohne das Fehlen von έρόεις bei Homer zu berücksichtigen. Έραννός kommt lediglich zweimal in den Hesiodfragmenten als Epitheton eines geographischen Begriffs vor.243 Έρατός, bei Homer nur einmal von den δώρα 'Αφροδίτης gesagt, ist sonst im frühgriechischen Epos mindestens 19mal belegt, 9mal in der Theogonie, 1 oder 2mal in den Hesiodfragmenten244, 8mal in den Hymnen und 1 oder 2mal bei Panyassis245. Zumeist ist kein Unterschied zu έρατεινός usw. zu sehen, etwa wenn es sich auf φιλότης246, auf Personen247 oder auf geographische Begriffe248 bezieht. Daβ aber akustische Eindrücke so bezeichnet werden, und zwar nicht weniger als 7mal249, ist neu, wenn auch angesichts des schon bekannten musikalischen ερος (Ν 636-8, vgl. h. Merc. 434) nicht schwer zu erklären. Im Bereich des Essens sind wir wohl wieder an der Stelle

240 Th. 245 (θαλίη, wie WEST schreibt, SOLMSEN θ' Άλ!η), 251, 357; 136, 909. 241 Anm. 237. 242 'Ερατεινός: 2x von Orten (h. Apoll. 179, 422), l x von λειμώνες (h. Merc. 72), 2x von der όμβροσίη (h. Merc. 248, h. Apoll. 124), 2x von Hermes' άθυρμα, der Leier (h. Merc. 40, 52), l x von einer Person (h. Cer. 423); έρόεις - » A n m . 237. 243 Fr. 70,37 γαία; fr. 10,3 "Αργός (s. METTE, Lustrum 27 [1985|, S. 6). 244 Fr. 64,17 ist es nur ergänzt. 245 Unsicher in fr. 16,14 BERNABÉ = 12,14 DAVIES. 246 Th. 970, 1009, 1018; fr. 235,3; fr. 64,17?; Panyassis fr. 19,3 BERNABÉ = 14,3 DAVIES. 247 Th. 259, 353, 355. 248 h. Apoll. 380, 477. 249 Th. 65 δσσα, 70 δούττος; h. Merc. 421 Ιώη. 426 φωνή; 423, 455, h. Apoll. 515 έρατόν κιθαρίζειν; dazu kommt noch die χελύς έρατή h. Merc. 153.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 3. Die Adjektive

Hes. Th. 8 7 9

(αυραι) εργ'

93

(Feldfrüchte) έρατά φθείρουσι χαμαιγενέων α ν θ ρ ώ π ω ν . 2 5 0

Bei έττήρατος251 und ττολυήρατος252 ist besonders die Verbindung mit εΤδος hervorzuheben, die Hes. Op. 63 als είδος έττήρατον vorkommt, Th. 908 aber zuerst in der sonst üblichen formelhaften Wendung π ο λ υ - / έ π ή ρ α τ ο ν είδος έ χ ο υ σ α . 2 5 3 E s ist keine Überraschung, daß sich über das Verhältnis der behandelten Adjektive zu ihrem Grundwort ερος/ερως wie schon bei Homer nur sehr wenig sagen läßt: An vielen Stellen ist der dahinterstehende ερος noch deutlich herauszuhören, oft ist die Bedeutung des Adjektivs aber auch bereits zu „schön" verblaJ3t (vor allem dort, wo man Schaulust heraushören muß). In einigen Fällen läßt auch die Einbindung dieser Adjektive in formelhafte Wendungen eine Einbuße ein Prägnanz vermuten. Ebenso wie bei Homer ist zwischen den einzelnen Wörtern kein Bedeutungsunterschied festzustellen. Ihre Verwendung scheint eher von den jeweiligen metrischen Erfordernissen abzuhängen. Ίμερέεις drückte bei Homer nicht nur ein ästhetisches Urteil aus, sondern wurde darüber hinaus ausschließlich von göttlichen Dingen oder Dingen göttlichen Ursprungs gebraucht. Dieser doch recht feine Unterschied zu ερατεινός usw. wird auch in der Theogonie beachtet. 2 5 4 Unklar ist die Konnotation des „Göttlichen" in den Hesiodfragmenten 2 5 5 ; in den Hymnen gibt es bei immerhin 12 Belegen kein eindeutiges Gegenbeispiel: Wenn es von den Keleos-Töchtern heißt h. Cer. 1 7 6 - 7

ώς ai έττισχόμεναι έανών τττύχας ίμεροέντων ηϊξαν κοίλην κατ' άμαξιτόν.

250 Bei Panyassis fr. 16,14-5 BERNABÉ = 12.14-5 DAVIES heißt es vom Wein beim Festgelage: iv μεν γαρ θαλίης έρατόν μέρος άγλαίης τε, / έν Sέ χοροιτυττίης, tv δ" Ιμερτης φιλότητος. 251 Sonst 4χ neben Orten wie νήσος (Hes. fr. 205,4), χώρος (h. Apoll. 521), α'ι'η (h. Apoll. 286, vgl. 529); lx im akustischen Bereich bei 6σσα (Hes. Th. 67). 252 Sonst mit εύνη (Hes. Th. 404, wie y 354), υΙός (fr. 305,1), δλσος (h. Merc. 186), ΰδωρ (I) (Hes. Op. 739), ήβη (fr. 30,31; 205,2; h. Ven. 225, 274 (wie o 366|). 253 Außerdem Hes. fr. 17,7; 25,39; 136,2; 10,20.32.45 (s. METTE, Lustrum 27 [1985), S. 6); h. Cer. 315. 254 V. 8-9 χ ο ρ ο ύ ς (der Musen) ... / καλούς Ιμερόεντας; 104 χαίρετε τέκνα Διός, δότε δ" Ιμερόεσσαν ά ο ι δ ή ν ; 359 Ιμερόεσσα Κ α λ υ ψ ώ ; 918-9 Απόλλωνα κα) "Αρτεμιν Ιοχέαιραν/ Ιμερόεντα γ ó ν ο ν ; keine Belege in den Erga; 2x im Scutum (V. 202 Iwie Σ 370| Ιμερόεν κιθάριζε; 280 [wie Σ 6031 χ ο ρ ó ν Ιμερόεντα). 2 5 5 Γάμος 37,6 und 211,6 (s. h. Ven. 141); πόλις 43a,62 (s. h. Apoll. 180); Φαιώ 291.3.

94

Erster Hauptteil: ΐρος/£ρως - Ιμερος - πόθος

so kann das Göttlich-Faszinierende durchaus mitverstanden sein, wie V. 108, der sich ebenfalls auf die Keleos-Töchter bezieht, zeigt:

h. Cer. 108

ώστε θεαί κουρήϊον άνθος έχουσα ι;

und Milet heißt (h. Apoll. 180) πόλις ΐμερόεσσα als Stadt Apolls.256 Ίμκρτός ist nicht ausreichend belegt, um auf eine prägnante Bedeutung schließen zu lassen: Die von Athene geflochtenen στέφανοι in Th. 577, der λειμών, von wo Persephone entführt wird, in h. Cer. 417 und des Hermes κίθαρις in h. Mere. 510 könnten vielleicht als „göttlich" interpretiert werden, ebenso πρόσωπον und άνθος in h. 10,2-3 (Aphrodite!), aber Β 751257 spricht doch sehr dagegen. Bei Panyassis fr. 16,15 BERNABÉ = 12,15 DAVIES (ίμερτης φιλότητος) ist es jedenfalls schon verblaßt. Die Wendung δτερ φιλότητος ίφιμέρου (Th. 132, Sc. 15) ist offenbar ein Gegenstück zu μιγεϊσ' έρατη φιλότητι (Th. 970 usw.). Zu erwähnen ist ferner das auf Hera bezogene Epitheton ¿ρατώττις (h. 34,2). Wenn man aus der nicht immer ergiebigen Fülle des ausgebreiteten Materials etwas hervorheben sollte, dann am ehesten die Eigentümlichkeiten des hesiodeischen Gebrauchs der untersuchten Adjektive: 1. die große Selbständigkeit gegenüber Homer, die sich darin äußert, daß a) die homerische Ökonomie, die keine zwei semantisch und metrisch völlig kongruenten Wörter nebeneinander duldet, bei Hesiod im Falle von ερατεινός und έρόεντ- aufgehoben ist; b) ερατεινός zugunsten vor allem von έρατός, aber auch von έρόεις zurückgedrängt wird; c) nahezu an der Hälfte der insgesamt 48 Homerstellen das Adjektiv neben Ortsnamen oder appellativischen Ortsbezeichnungen steht, während es dafür bei Hesiod (26 Stellen in Theogonie und Erga) nicht einen einzigen Beleg gibt; 2. ein merkwürdiges Ungleichgewicht zwischen der Theogonie mit 24 Belegen und den Erga mit nur 2 Stellen, das auch dann auf256 Die anderen Belege: ein Götter-χορός h. Mere. 481, h. 6,13; βρόμος αυλών (Musen) h. Merc. 452; καναχή (Apolls φόρμιγξ) h. Apoll. 185; άοιδή (wie Th. 104, hier von Aphrodite) h. 10,5; Ιμερόεν (v.l. zu σμερδαλέον) κονάβησε (Kithara unter den Händen Apolls) h. Mere. 502; γάμος (als 'έργον Aphrodites) h. Ven. 141; όδμή h. Merc. 231 (im όρος ήγάθεον Κυλλήνης) und h. Cer. 277 (von Demeters Kleidung); Καλυψώ h. Cer. 422. Oedip. fr. 1,1 BERNABÉ Ιμεροεστατον ΑΥμονα ist die einzige sichere Ausnahme. 257 - > Anm. 118.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 3. Die Adjektive

95

fällig bleibt, wenn man den Gebrauch solcher Adjektive als charakteristisches Stilelement von Katalogdichtung einsehen will (die 6 einschlägigen Homerstellen im zweiten Buch der Ilias 2 5 8 deuten in diese Richtung). Eine mögliche Erklärung könnte in der (allerdings nicht unumstrittenen) Bedeutung von Eros als allumfassendem kosmogonischem Prinzip in der Theogonie 259 liegen, auf das die von ερος abgeleiteten Adjektive (18 Stellen), ohne selbst den ganzen Gehalt dieses Prinzips mit sich zu tragen, eher zwanglos-formal anspielen.

2 5 8 Β 5 3 2 , 5 7 1 , 5 8 3 , 5 9 1 , 6 0 7 έρατεινός; 7 5 1 Ιμερτός. 259 Kap. II 5 .

96

4.

Erster Hauptteil: £ρος/έ'ρως - Υμερος - πόθος

πόθος

4.1. Die Stellen Der Stamm ποθ- ist im frühgriechischen Epos außerhalb von Ilias und Odyssee nicht eben zahlreich vertreten. Einzig πόθος ist 7mal belegt, während ποθή260 und ποθείν261 überhaupt nicht vorkommen: Hes. Op. 65-6

(Ζευς έκέλευσε) και χάριν άμφιχέαι κεφαλή χρυσέην Ά φ ρ ο δ ί τ η ν καί πόθον ά ρ γ α λ έ ο ν καί γυιοβόρους μελεδώνας

Hes. Sc. 41

τοίος γ α ρ κραδίην πόθος αϊνυτο ποιμένα λ α ώ ν

h. Cer. 200-1

άλλ' α γ έ λ α σ τ ο ς α π α σ τ ο ς έδητύος ήδέ π ο τ ή τ ο ς ή σ τ ο ( D e m . ) πόθω μινύθουσα βαθυζώνοιο θ υ γ α τ ρ ό ς

h. Cer. 3 0 4

h. Cer. 343-4

μίμνε π ό θ ω μινύθουσα βαθυζώνοιο θ υ γ α τ ρ ό ς

αΐδοίη παρακοίτι (Perseph.) πόλλ' άεκαζομένη μ η τ ρ ό ς πόθω

h. 19,33-4

θάλε γ α ρ πόθος υγρός έπελθών νύμφη έϋπλοκάμω Δρύοπος φιλότητι μιγήναι

260 —» Anm. 174; angesichts der Tatsache, daß ποθή nachhomerisch zumindest außerhalb Ioniens nicht der lebendigen Sprache angehört, läßt sich fragen, ob vielleicht πόθος in seine Funktion eingetreten ist. Das scheint erstaunlicherweise nicht der Fall zu sein, vielmehr hat das Verschwinden von ποθή eine Art semantischer Leerstelle hinterlassen: „Vermissen" ist nur mehr verbal auszudrücken. Einige vermeintliche Gegenbeispiele erweisen sich bei näherem Hinsehen als eher zufällige Annäherungen von πόθος an das homerische ποθή: Soph. El. 822 του βίου δ" ουδείς πόθος scheint zwischen homerisch ποθή2 (mit Blick auf die Funktion, also etwa „es gibt nichts, wofür sich noch zu leben lohnte") und πόθος („ich hänge nicht am Leben") zu stehen; doch die Parallelstelle Xen. Mem. 1,4,7 έμφϋσαι ... τοίς ... τραφείσι μέγιστον μέν πόθον του ζην („Lebenswillen"), μέγιστον 8ε φόβον του θανάτου zeigt, daß πόθος wohl auch an der Sophoklesstelle ganz unhomerisch als „Wille, Begehren" zu verstehen ist: „ich habe keinen Lebenswillen mehr" (vgl. unmittelbar davor [821-2] ώς χάρις μέν, ην κτάνη, / λύπη δ', έάν ζώ); Callin. fr. 1,18-9 W. λαω γάρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος άνδρός / θνήσκοντος, ζώων δ' άξιος ήμιθέων und das ähnliche Tyrt. fir. 12,27-8 W. τον δ' όλοφύρονται μέν όμως νέοι ήδέ γέροντες, / άργαλέω δέ πόθω πάσα κέκηδε πόλις zielen eher auf die Trauer (στενάχει Callin. V. 17, όλοφύρονται Tyrt.) als darauf, daß der Mann der Stadt in irgendeiner Funktion fehlt, vgl. Π 3-9, Kap. I 3.5.2.). 261 V o n ποθείν ist bei Hesiod und in den Hymnen nur der Aorist θέσοασθαι (Hes. fr. 231 θεσσάμενος γενεήν Κλεοδαίου κυδαλίμοιο; —> Anm. 166) belegt, der aber, wie die Existenz der konkurrierenden Formen ποθέσαι (β 375, δ 748) und πόθεσαν (O 219) bei Homer vermuten läßt, bereits als isoliert empfunden wurde.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 4. πόθος

Carm. Naupact. fr. 6,1-2 BERN. = 7 α , 1 - 2 DAV.

97

δή TÔT' ä p Αίήτη πόθον εμβαλε δΓ 'Αφροδίτη Εύρυλύτης φιλότητι μιγήμεναι, ής άλόχοιο

Ganz auf der Linie des homerischen Gebrauchs liegen noch die drei Belege von πόθος im Demeterhymnus: Demeter und Persephone empfinden ihre Trennung voneinander als schmerzlich, sie vermissen einander, ähnlich wie Antikleia ihren Sohn Odysseus vermißt (λ 202-3). 262 A n anderer Stelle dehnt πόθος jedoch seinen Bedeutungsumfang auf den Bereich „Liebe" aus. Der erste ausdrückliche Beleg dafür ist Hes. Op. 65-6

(Ζευς έκελευσε) καί χάριν άμφιχέαι κεφαλή χρυσέην Άφροδίτην καί πόθον άργαλέον καί γυιοβόρους μελεδώνας.

Πόθος bedeutet zwar auch hier noch ganz wie bei Homer „schmerzliches Vermissen"; und Liebe steht z.B. sicher auch hinter dem πόθος Penelopes, wenn es heißt τ 136

αλλ' Όδυσή ποθέουσα φίλον κατατήκομαι ήτορ,

jedoch bringt die Hesiodstelle insofern etwas Neues, als πόθος hier erstmals -

-

explizit, d.h. als Terminus in den Bereich Aphrodites gerückt wird: er ist das πήμα άνδράσιν άλφηστησιν (V. 82) unter den ansonsten erfreulichen εργα 'Αφροδίτης, der angemessene Beitrag der Göttin zu Pandora; verstanden wird als die „Fähigkeit, πόθος in anderen hervorzurufen" 263 , ganz entsprechend zu dem ίμερος an Aphrodites Gürtel im Ξ der Ilias (V. 198, 216) und zu dem ερος, der Th. 910 von den Augen der Chariten ausgeht. 264

Bedauerlicherweise ist Op. 66 der einzige Beleg für πόθος in Theogonie und Erga. So lcU3t sich nicht mehr bestimmen, ob diese Stelle den Übergang von πόθος in die erotische Terminologie schon voraussetzt oder selbst erst einleitet. In jedem Fall sehen wir Hesiods Sprachgebrauch erneut in einer Mittelstellung zwischen dem Homers und dem der frühgriechischen Lyriker:

262

s. 68.

263 Vgl. KRAFFT 100, 102. 264 Kap. II 1., S. 83 Anm. 207, vgl. VERDENIUS und WEST zu Op. 66.

98

Erster Hauptteil: ?ρος/£ρως - ίμερος - πόθος

Erstmals erhält der πόθος bei Heslod ein signifikantes Epitheton (άργαλέος).265 In späterer Dichtung kann er dann, wie der ερος bei Hesiod, λυσιμελής heißen 266 , γλυκύς wie der homerische und hesiodeische "μέρος267 oder auch, wie hier, άργαλέος268. Er wird zu einem festen Bestandteil des Liebesvokabulars269, gleichwertig, wenn auch nicht gleichbedeutend, jedenfalls aber vergleichbar mit ερως und ίμερος, in deren Nähe er - zumindest nach dem Ausweis der Überlieferung - an unserer Stelle erstmals gerät. Ganz im Sinne Homers oder Hesiods in den Erga (V. 66) läjSt sich πόθος auch an der Stelle Hes. Sc. 41 verstehen: Als Amphitiyon nach längerer Zeit zu seiner Frau Alkmene zurückkehrt, nimmt er sich nicht einmal die Zeit, erst im Hause nach dem Rechten zu sehen, sondern besteigt sofort das eheliche Lager (V. 39-40): Hes. Sc. 4 1

τοϊος γ α ρ κραδίην πόθος αϊνυτο ποιμένα λαών

- so sehr hat er seine Frau (aus Liebe) vermißt! Es ist nicht ersichtlich, warum πόθος hier weniger desiderium als vielmehr amor, cupido heißen soll, wie Russo meint.270 Überhaupt gibt es nur wenige Stellen in der frühgriechischen Dichtung, ein denen man eindeutig nachweisen kann, daß πόθος die Konnotation des Vermissens völlig eingebüßt hat.271 Man muß ja nicht annehmen, daß in Fällen wie T h e o g n . 1339

έκλέλυμαι δέ πόθου προς έυστεφάνου Κυθερείης

bei πόθος eine räumliche Entfernung von der geliebten Person mitverstanden wird; die Definition πόθος των απόντων272 läßt sich na265 266 267 268 269

Bei Homer nur 3mal μεγάλη ττοθή (Λ 471, Ρ 690, Ρ 704). Archil, fr. 196 W.; Alcm. fr. 3,61 P., - > A n m . 209. Pind. P. 4,184. lyrt. fr. 12,28 W „ Anm. 260. In der frühgriechischen Lyrik an den Stellen Archil, fr. 193,1. 196 W.; Sa. fr. 48.2; 94,23 (έξίης ττόθ]ο[ν !); 102,2 V.; Alcm. fr. 3,61 P.; Theogn. 1339; Pind. fr. 123,4; vgl. die Unterscheidung zwischen ερως und πόθος, die W . VOLLGRAFF, L'oraison funèbre de Gorgias, Leiden 1952, 87 hauptsächlich auf der Basis tragischer und philosophischer Texte gibt: Πόθος est souvent synonyme de έρως et de ¿πιθυμία, mais quand on l'oppose à έρως, on entend parler, non de l'amour satisfait, mais du désir inassouvi par rapport à un objet qu'on n'a pas plus, pas encore, ou pas assez. En matière d'amour, πόθος désigne le plus souvent l'amour-aspiration, et le chagrin d'amour, et έρως l'amour brûlant et l'amour-possession. 270 Z. St. (mit Hinweis auf Hes. Op. 66!); s.a. VAN ECK 116; vgl. E 413-4, τ 136 und dazu RUSSOS zutreffende Bemerkung, πόθος bedeute bei Homer immer desiderium. 271 Im Bereich der Lyrik sehe ich nur Pind. P. 4,184; an anderen Stellen, wie Alcm. fr. 3,61 P. und Archil, fr. 196 W.. ist mangels Kontext keine Sicherheit zu erzielen. 272 Kap. 3 der Einleitung, Anm. 30.

99

II. Hesiod und homerische Hymnen: 4. πόθος

türlich auch auf eine unerwiderte Liebe (zu einer durchaus nicht unbedingt entfernten Person) anwenden.273 Die beiden einzigen Belege für πόθος in der Bedeutung love, desire274 im frühgriechischen Epos sind wahrscheinlich zugleich die spätesten:275 h. 19,33-4

θάλε γ α ρ πόθος ύγρός νύμφη έϋπλοκάμφ Δρύοπος φιλότητι

έπελθών μιγήναι

Carm. Naupact.

δ ή τ ό τ ' α ρ ' Α ΐ ή τ η π ό θ ο ν ε μ β α λ ε δΤ Α φ ρ ο δ ί τ η

f r . 6 , 1 - 2 BERN.

Ε ύ ρ υ λ ύ τ η ς φ ι λ ό τ η τ ι μ ι γ ή μ ε ν α ι , ής ά λ ό χ ο ι ο 2 7 6

= 7 , 1 - 2 DAV. Α

Die Konstruktion mit dem Infinitiv (hier beide Male μεναι/ μιγήναι), die den Ü b e r g a n g v o n πόθος in

φιλότητι

das

μιγή-

Sinnfeld

„Verlangen, Begehren" signalisiert, hat in der gesamten frühgriechischen Dichtung nur noch eine Parallele bei Pindar.277

4.2. Zusammenfassung Die vorangegangenen Einzelbeobachtungen haben vielleicht schon die Umrisse der Entwicklung erkennen lassen, in deren Verlauf das homerische πόθος „schmerzliches Vermissen einer gefühlsmäßig nahestehenden Person" seine Bedeutung allmählich erweitert und schließlich love, desire (LSJ) heißen kann. Bei aller Vorsicht, die man angesichts des spärlichen und zudem fragmentarisch überlieferten Materials walten lassen sollte, scheint sich doch ein in sich schlüssiges Bild dieser Entwicklung zu ergeben. Um einer methodisch korrekten Darstellung willen halte ich es für sinnvoll, zunächst von einer logischen, nicht einer chronologischen Abfolge von semantischen Verschiebungen zu sprechen. In diesem Sinne gebührt Homer, was das Wort πόθος angeht, in der Tat die Priorität vor Hesiod. Einer signifikanten Häufung solcher logischen Prioritä273 Anm. 269. 274 S. LSJ s.v. πόθος I M ; vgl. VAN ECK 116. 275 Nach ALLEN-SIKES, Komm, und JANKO 184 1st der Pan-Hymnus eines der Jüngsten Stücke der Sammlung und frühestens zur Zeit Pindars entstanden; das Carmen Naupactium eines Karkinos aus Naupaktos (?) setzt BERNABÉ in seiner Ausgabe zögernd ins 6. Jahrhundert, vgl. A. LESKY, Geschichte der griechischen Literatur, Bern - München 3 1971, 131. 276 Ein Verständnis der Stelle im Sinne von Hes. Sc. 41 ist allerdings nicht ausgeschlossen. 277 Pind. O. 13,64 Πάγασον ίεϋξαι ποθέων.

100

Erster Hauptteil: £ρος/ΐρως - Υμερος - πόθος

ten wird man allerdings vernünftigerweise auch in der umstrittenen Chronologiefrage so viel Gewicht zukommen lassen, wie ein sprachliches Argument eben haben kann. Wenn nun Hesiod im Falle von πόθος wie auch schon bei ερος/ερως und Υμερος logisch auf Homer „folgt", so ist damit die Entscheidung für die zeitliche Priorität Homers natürlich noch lange nicht gefallen; denjenigen, die Hesiod an den Anfang der griechischen Literatur stellen wollen, werden allerdings für ihr Bild einige weitere Mosaiksteinchen fehlen. Die Bedeutung von πόθος erweitert sich von Homer bis zum Ausgang der archaischen Zeit in zwei Hauptrichtungen: 1. Dem πόθος als an sich nicht näher bestimmtem allgemeinem Vermissen stellt sich ein spezifisch erotischer πόθος an die Seite, ohne den homerischen Typus jedoch ganz zu verdrängen. 2. Πόθος kann schließlich auch τοΰ παρόντος gesagt werden: Nicht mehr auf dem schmerzlich empfundenen Fehlen einer Person oder Sache („Vermissen") liegt dann der Akzent, sondern auf dem Verlangen nach ihr. Doch auch hier bleibt die homerische Verwendung neben der neuen in Gebrauch. Wenn wir nun diese Veränderungen in die Gegensatzpaare (1) allgemein - Liebe und (2) Vermissen - Verlangen fassen, dann stellt sich die Bedeutungserweiterung von πόθος graphisch wie folgt dar:

allgemein

A

Homer h. Cer.

Lyrik Pindar

Verlangen

Vermissen·^·



Liebe

II. Hesiod und homerische Hymnen: 4. πόθος

101

In das Schema eingeordnet sind die Belege aus dem Bereich des frühgriechischen Epos. Lediglich der Fall „Verlangen/allgemein" kommt erst in der Lyrik vor, der im übrigen auch alle anderen Verwendungsweisen bekannt sind. Interessant für die Stellung von πόθος zum Sinnfeld „Verlangen, Begehren" ist vor allem die Feststellung, daß der Übergang von der Grundbedeutung „Vermissen" zu der erweiterten Bedeutung „Verlangen" (die überhaupt vor Pindar nicht zu belegen ist278) zuerst im Bereich „Liebe" stattfindet und sich dann auf den allgemeinen πόθος überträgt. Wenn wir also vier konsequent aufeinander aufbauende Stufen der Bedeutungsentwicklung von πόθος unterscheiden und ihr jeweils frühestes Vorkommen mit Homer, Hesiod, der Lyrik279 und der spätarchaischen Lyrik (Pindar) bezeichnen, so ist damit eine Folge gegeben, die man angesichts der gewonnenen Ergebnisse gern chronologisch nennen würde.

278 Pind. P. 4,184 (-> Anm. 271), dazu ττοθέων in Pind. O. 6,16. 279 Hier bleibt ein kleiner Unsicherheitsfaktor, was den ersten Beleg angeht; die beiden Sapphostellen fr. 48,2 V. und fr. 102,2 V. etwa lassen eine Interpretation von πόθος sowohl im Sinne von „Vermissen" (aus Liebe) als auch im Sinne von „Verlangen" zu. Der Kontext, der entscheiden könnte, fehlt. Man ahnt aber, daß der Übergang schon fließend gewesen sein muß.

102

Erster Hauptteil: εροςΛ'ρως - ϊμερος - πόθος

5. Έρος/"Έρως, Ίμερος, Πόθος Die Geschichte des Liebesgottes Eros beginnt nicht bei Homer - so viele Anhaltspunkte es auch dafür gibt, daJ5 man in ερως eine göttlich wirkende Macht zu sehen hat 280 -, sondern bei Hesiod, der je zweimal Έρος und Ίμερος erwähnt: 281 Erstmals kann man hier im eigentlichen Sinne von Personifizierungen der Liebesmacht sprechen. Hes. T h .

64

παρ δ' αύτης

(Musen)

Χάριτές τε καί "Ιμερος οίκί' εχουσιν

H e s . Th. 120-2

Έρος, δς κάλλιστος έν άθανάτοισι θεοίσι, λυσιμελής, πάντων τε θεών πάντων τ' ανθρώπων δάμναται έν στήθεσσι νόον καί έπίφρονα βουλήν

Hes. Th. 201

τη

δ' (Aphr.)

Έρος ώμάρτησε καί "Ιμερος εσπετο καλός.

Es ist unmöglich, im Rahmen einer Wortfelduntersuchung die Bedeutung insbesondere des Eros für die hesiodeische Darstellung der Weltentstehung in aller Ausführlichkeit zu behandeln. Andererseits sind die verschiedenen Ausprägungen des Eros in Kult, Mythologie, bildender Kunst und Literatur nicht voneinander zu trennen, verweisen vielmehr aufeinander. Und wenn die platonische Trias ερως - "μέρος - πόθος, von der diese Untersuchung ausging, nur wenige Zeit nach Piaton von Skopas als Göttergruppe für ein Heiligtum in Samothrake gestaltet werden konnte 282 , dann wird auch ein Blick auf die Tradition dieser Personifikationen nützlich sein, die uns eben mit Hesiod zuerst greifbar wird. Die uns interessierende Frage muß also lauten: In welchem Sinne sind Eros und Himeros bei Hesiod noch Personifikationen der Appellativa, deren Bedeutung wir in den vorangegangenen Abschnitten zu ermitteln versucht haben? Werden eventuell semantische Inkohärenzen sichtbar? Ferner ermöglicht uns die Betrachtung der nachhesiodeischen Verhältnisse, unsere eigene Ausgangsbasis, die Kratylos-Stelle mit dem ersten literarischen Beleg für die Dreiheit ερως - "μέρος - πόθος, zur Geschichte der entsprechenden Liebesgottheiten in Beziehung zu setzen.

280 Kap. 1.3.4. 2 8 1 Πόθος e r s c h e i n t z u e r s t bei Aischylos (Suppl. 1039), s.u. in diesem Kapitel. 2 8 2 P a u s . 1,43.6; s. E. SITTIG, Himeros, in: RE VIII (1913), 1637; G. HERZOGHAUSER, Pothos. in: RE XII (1953), 1181; FLIEDNER 49.

II. Heslod und homerische Hymnen: 5. 'Έρος/'Έρως, Ίμερος, Πόθος

103

An den Anfang der Welt stellt Hesiod drei Gottheiten: Chaos, Gala und Eros (Th. 116ff.), ohne Zeugung entstanden. Aus den ersten beiden werden nun wiederum die Finsternis und die Nacht (123) bzw. der Himmel, die Berge und das Meer geboren (126-32) die Reihe der Zeugungen ist eingeleitet. Neben den beiden Urgottheiten Chaos und Gaia ist die Rolle des Eros, der selbst keine Nachkommenschaft hat, umstritten. Worin besteht die überragende Bedeutung dieses Gottes, die seinen Platz am Anfang aller Weltentstehung rechtfertigen könnte? Die gängige Interpretation sieht ihn als kosmogonisches Prinzip, die treibende Kraft in der Entwicklung des Chaos zum Kosmos, die man sich nur in der Form der Zeugung denken konnte.283 Dagegen ist vorgebracht worden, daß von dieser Funktion des Eros gar keine Rede sei, er überhaupt nur noch ein weiteres Mal vorkomme (201), und dort auch noch im Gefolge der soeben geborenen Aphrodite. Der untergeordnete Rang und die Funktion des Eros als Liebesgott an dieser Stelle scheinen der Interpretation, die ihn 80 Verse vorher als Verkörperung eines über alle Zeugung waltenden Urprinzips auffassen will, den Boden zu entziehen.284 Man hat den Widerspruch, der darin gesehen wurde, durch den Hinweis auf einen uralten Eroskult im böotischen Thespiai, wo der Gott in Gestalt eines αργός λίθος verehrt wurde285, aufzuheben versucht: Diesem heimischen Eros erweise der Böoter Hesiod seine Reverenz, indem er ihn neben Chaos und Gaia stelle.286 Doch allein mit einer persönlichen Verehrung Hesiods für diesen Lokalgott ist ein so prominenter Platz in der Theogonie kaum zu begründen. Die Frage nach der Funktion des Eros in Vers 120 bleibt bestehen, auch wenn man eine persönliche Beziehung Hesiods zum Eroskult von Thespiai anerkennt.287 283 M.P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion I, München 2 1955, 621; vgl. C. SCHNEIDER, Eros I (literarisch,), in: RAC VI, Stuttgart 1966, 307; CALDWELL, Komm, zu Th. 120: Eros is a creative principle of Desire in the universe; his appearance is the necessary condition separating the first stage of the world from all later development. After Eros comes into existence, all creation will be procreation. 284 S. etwa O. KERN, Die Religion der Griechen, Berlin 1926, Bd. I, 250f.; JACOBY 166. 285 Paus. 9,27,1; s. Α. HERMARY - H. CASSIMATIS - R. VOLLKOMMER, Eros, LIMC III 1, 855f., Nr. 1; A. FURTWÄNGLER, Eros, in: W.H. ROSCHER, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie I 1, Leipzig 1884/86, 1340ÍT.; O. WASER. Eros, in: RE VI 1 (1907), 490; LASSERRE 20, 24. 286 S. KERN 251. 287 S. P. FRIEDLÄNDER, Rezension von JACOBYS Theogonie-Edition, G G A 193 (1931), 241-266, auch in: E. HEITSCH (Hrsg.), Hesiod, W d F Bd. 44, D a r m -

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Erster Hauptteil: ΐρος/ίρως - ίμερος - πόθος

Daß Eros kein kosmogonisches Prinzip sei, läßt sich nun aber kaum daran zeigen, daß Hesiod dies nicht ausdrücklich sagt, und seine vermeintlich geringe Bedeutung ist, wie WEST288 unter Hinweis auf die ερις der Erga betont, nicht schon daraus zu erschließen, daß er so selten auftritt. Hesiod hat es genügt, ihn ohne weitere Erläuterungen an den Anfang der Welt zu stellen. Wenn hierin auch nur irgendein Sinn liegt, der über eine persönliche Vorliebe hinaus im Charakter der Dichtung selbst begründet ist, dann mußte jedem Leser klar sein, daß Eros auch über dem Folgenden zu stehen habe - der bloße Name mußte schon Programm sein. Hier sind wir bei der Frage angelangt, wie sich der Gott Eros zum Appellativum ερος/ερως verhält. Das Problem scheint sich allerdings dadurch zu komplizieren, daß der Eros von Vers 120 und der von Vers 201 kaum übereinzubringen sind, wenn wir - was nötig scheint - der dritten Urgottheit eine universale Funktion in der Kosmogonie einräumen. Man hat in der Literatur über Eros zwei Traditionsstränge unterschieden:289 - der eine macht Eros zum Urgott, der eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Welt vom Chaos zum Kosmos spielt - dies ist das Eros-Bild der philosophisch und rhetorisch orientierten Literatur; - der andere stellt Eros in die Umgebung Aphrodites, macht ihn gar (seit Sappho290) zu ihrem Sohn - dieser Variante bedienten sich die Liebesdichtung und die Ikonographie. Die beiden so ganz unterschiedlichen Vorstellungen finden sich bei Hesiod nebeneinander, ohne daß der Dichter den Versuch einer sinnvollen Verbindung machte. Das spricht sehr dafür, daß Hesiod nicht erst eine der beiden Varianten aus der anderen herleitet (wo wäre die Gemeinsamkeit der beiden Vorstellungen, auf der eine solche Übertragung beruhen könnte?), sondern selbst schon auf zwei getrennten Traditionen fußt. So erklärt sich auch, warum es für Hesiod kein Widerspruch ist, den Urgott Eros ins Gefolge der gerade geborenen Aphrodite einzuordnen. Eros existiert in der Theogonie Stadt 1966, s. dort S. 116f.; Κ. V. FRITZ. Das Prooemium der hesiodeischen Theogonie, Festschrift für B. SNELL, München 1956, 29-45, auch in: HE1TSCH (s.o.). s. dort S. 297; WEST zu Th. 120: Hesiod could be understood Just as well if the cult had not existed. 288 Komm, zu Th. 120. 289 LI MC III 1, Eros, S. 850: A. RUMPF. Eros (Eroten) II (in der Kunst), RAC VI, Stuttgart 1966, 312f.; LASSERRE 130-149. 290 Fr. 198 V.; S. A. DELIVORR1AS - G. BERGER-DOER - A. KOSSATZ-DEISSMANN, Aphrodite. LIMC II 1, S. 3.

II. Hesiod und homerische Hymnen: 5. "Έρος/'Έρως, Ίμερος, Πόθος

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in zwei verschiedenen schon vorhesiodeischen Manifestationen, die zu harmonisieren Hesiod keine Veranlassung sieht. Da sich auch Himeros zu Aphrodite gesellt ( 2 0 1 ) , ohne daß von seiner Geburt die Rede gewesen wäre, seine Herkunft also im dunkeln bleibt, könnte man Gleiches für Eros vermuten. Nichts zwingt uns anzunehmen, daß dieser Eros in tieferem Sinne noch der Urgott von Vers 120 ist. Hier kommen uns die Ergebnisse zu Hilfe, die wir über die Verwendung der Appellativa ερος und ερως bei Homer gewonnen haben. In einer Zeit, da der unterschiedliche Gebrauch dieser beiden Wörter noch lebendig war291, könnte es analog auch zwei voneinander unabhängige Personifikationen gegeben haben, 'Έρος und 'Έρως, deren formale Trennung jedoch vorhesiodeisch wäre; mindestens aber sind die beiden voneinander verschiedenen gedanklichen Begriffe ερος und ερως als zwei deutlich getrennte Wesensaspekte in den einen Gott eingeflossen: ερος, der dem Menschen dauerhaft innewohnende Trieb zu bestimmten sehr natürlichen und elementaren Handlungen, wäre dann durch die Personifikation zum universalen Prinzip, einer die Theo- und Kosmogonie vorantreibenden Kraft erhoben worden. Daß hierbei im engeren Sinne vor allem an den Zeugungstrieb gedacht ist, liegt in der Natur des Gegenstandes; ερως als eigentliche Liebesmacht wird zum Begleiter Aphrodites, wie ja auch schon ίμερος in der Ilias zu ihrem Inventar zählt. Es muß uns nicht verwundern, daß die Attribute und Eigenschaften, die wir dem ερως zuzuweisen gewöhnt sind, von Hesiod dem kosmogonischen Eros beigegeben werden: H e s . T h . 120-2

Έ ρ ο ς , δς

κ ά λ λ ι σ τ ο ς

λ υ σ ι μ ε λ ή ς , δ ά μ ν α τ α ι

έν άθανάτοισι θεοϊσι,

π ά ν τ ω ν τ ε θεών π ά ν τ ω ν τ ' α ν θ ρ ώ π ω ν έν στήθεσσι νόον καί έπίφρονα βοιιλήν.

Eros geht durch die Augen (s. κάλλιστος) und ist eine Macht ( δ ά μ ν α τ α ι ) wie Schlaf und Tod.292 Eine formale Trennung zwischen einem 'Έρος und einem 'Έρως gibt es bei Hesiod nicht (mehr): verständlich, daß Zeugungstrieb und Liebesmacht die gleichen Attribute bekommen können.293 An der grundsätzlichen, traditionsbe291 Hesiod gibt hier keine Anhaltspunkte, da der einzige Beleg - Th. 910 - umstritten ist (-> S. 82ff.). Wer auch immer der Autor dieses Verses war, er kannte die homerische Unterscheidung nicht mehr. 292 -> Kap. 1.3.4. 293 WEST, Komm, zu Th. 120: The beauty of the god of love is one of his most constant characteristics, even when he represents a cosmogonieforce,cf. Aristoph. Av. 696-8.

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Erster Hauptteil: ϊρος/£ρως - ίμερος - πόθος

dingten Unterscheidung „Eros als treibende Kraft - Eros als Liebesmacht" ändert diese Vermischung nichts. Skeptisch werden wir auch der Behauptung gegenüberstehen, Himeros sei bei Hesiod nichts weiter als ein Doppelgänger des Eros. 294 Denn fassen wir ihn als personifizierte „Faszination" ("μέρος) auf, dann verstehen wir recht gut, warum er einmal (wie Eros) neben Aphrodite (201), ein anderes Mal neben den Musen (64) vorkommt (wo Eros nichts zu suchen hat) - die Parallelen zum Gebrauch des Appellativums stellen sich leicht ein. Das bedeutet aber auch, daß Aphrodite mit Eros und Himeros nicht einfach e i n e n Liebesgott in doppelter Ausfertigung bei sich hat. Die beiden Begleiter symbolisieren wohl vielmehr die zwei Funktionen Aphrodites als Göttin der Liebe (im Sinne eines Triebes) und des Liebreizes (die ästhetische Seite). Daher tendiere ich auch in der von A. BONNAFÉ295 aufgeworfenen Frage, ob Eros und Himeros in Vers 201 gemeinsam Aphrodite unterzuordnen seien oder Himeros allein einem gleichberechtigten Paar Aphrodite/Eros, zur erstgenannten Lösung. In der Ikonographie ist die gemeinsame Unterordnung von Eros und Himeros unter Aphrodite so deutlich, daß beide nachgerade zu Kindern der Göttin und darüber hinaus voneinander ununterscheidbar werden.296 Eros und Himeros, seit dem Ende des 5. Jahrhunderts auch Pothos und andere297, sind nur noch Individualnamen einer einzigen, vervielfachten Gottheit.298 Diese Begleiter Aphrodites treten zunächst in allen möglichen Kombinationen auf, darunter auch einmal bereits im ausgehenden 5. Jahrhundert in der Zusammenstellung Eros - Himeros - Pothos299. Im Laufe des 4. Jahrhunderts scheint diese Trias nach und nach kanonisch zu werden; hierauf deutet die schon erwähnte Skopas-Gruppe ebenso wie die nahezu zeitgleich bei Piaton einsetzenden Versuche von

294 CALDWELL ZU Th. 201. 295 S. 12f. 296 Das älteste Beispiel ist ein auf der Akropolis gefundener attischer Pinax aus der Mitte des 6. Jahrhunderts (LIMC II 1 u. 2, Aphrodite. Nr. 1255; die Begleiter Aphrodites haben die Beischriften Hl ΜΕΡΟΣ und Ε[ΡΟΣ]), dem zahlreiche ähnliche Darstellungen folgen (LIMC II 1. Aphrodite, S. 121-123). 297 - » A r a n . 296. 298 S. SITTIG 1636; RUMPF 313; zur Vervielfältigung s. v.a. T.G. ROSENMEYER. Eros - Erotes, Phoenix 5 (1951), 11-22; vgl. dazu die recht gekünstelten Abgrenzungsversuche der Philosophen und Grammatiker bezüglich der Appellativa, - » Einleitung, Kap. 3; s.a. FURTWÄNGLER 1339; WASER 484f.; HERZOG-HAUSER 1178. 299 Attische Hydria, LIMC II 1. Aphrodite, S. 122, Nr. 1273.

II. Hesiod u n d homerische Hymnen: 5. "Ερος/'ϊρως, Ίμερος, Πόθος

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Philosophen und Grammatikern, die Appellativa gegeneinander abzugrenzen. Etwas anders als in der Ikonographie stellt sich das Bild der Aphroditebegleiter in der Literatur zwischen Hesiod und Piaton dar. Die Dichter begnügen sich zumeist mit dem einen Eros, und an den wenigen Stellen, wo einmal die in den bildlichen Zeugnissen so häufige Vervielfältigung stattfindet (Pind. fr. 122,4; N. 8,5-6; 9,73300), erscheinen keine Individualnamen, sondern die Sammelbezeichnung 'Έρωτες. Himeros fehlt in dieser Zeit in der Literatur völlig, Pothos ist selten (Aesch. Suppl. 1039301, Eur. Bacch. 456, Aristoph. Av. 1320, Pax 456). Auch bei Piaton (Symp. 197d) ist die Personifizierung lediglich einmal angedeutet; immerhin werden hier ερως, ϊμερος und πόθος wie auch im Kratylos (419e-420b) in einem Atemzug genannt: ('Έρως) τρυφής, άβρότητος, χλιδής, χαρίτων, ιμέρου, πόθου πατήρ.

Die eigentliche Tradition der „Eroten" Eros, Himeros und Pothos in der Literatur beginnt aber erst - mit einigen Jahrhunderten Verspätung gegenüber der Ikonographie - in der hellenistischen Epigrammdichtung. Hier kommen die drei Götter einzeln, jeder für sich vervielfacht ('Έρωτες, Ίμεροι, Πόθοι302) oder auch nebeneinander 303 in verschiedenen Kombinationen vor.304 Wie ist nun in diesem Zusammenhang die „platonische" Trias zu sehen? Was verbindet sie eventuell mit der Skopas-Gruppe? A. ROUVERET305 meint zu den Standbildern: Ces allégories reprennent les distinctions platoniciennes entre l'amour actif (ερως), le désir ('ίμερος), l'attente insatisfaite, la langueur amoureuse (πόθος).

3 0 0 Dazu Simonides ep. 6 7 , 3 PAGE, wahrscheinlich unecht, vgl. ROSENMEYER 17; z u m Plural έρωτες bei Pindar s. ROSENMEYER 17ff. 3 0 1 Erster Beleg ist aber vielleicht Archil, fr. 196 W.. vgl. FLIEDNER 45. 3 0 2 In der Anthologia Graeca: "Ερωτες z.B. Philodemus X 3 = 3 2 2 0 G.-P. {Garland); Ίμεροι z.B. E u g e n e s I 1 = 4 5 0 PAGE; Πόθοι z.B. Philodemus XV 2 = 3 2 4 7 G.P. (Garland\. 3 0 3 Meleager 82.1-4 = 4438-41 G.-P. (Epigrams) 3 0 4 Zu Eros (Himeros, Pothos) im Kult vgl. SCHNEIDER 306: Die drei Götter bleiben in vorplatonischer Zeit fast ausschließlich im Bereich der Kunst während im Kult Aphrodite und die alten Liebesgötter verehrt werden. Der Gott E. ist eine Schöpfung der Dichter, Maler und Philosophen, nicht der Religion: vgl. LIMC III 1, Eros, S. 8 5 1 mit Verweis auf die Stellen Eur. Hipp. 538-44 u n d Plat. Symp. 189c, die auf d a s Fehlen eines Eroskults hindeuten. 3 0 5 Pline l'Ancien, Histoire Naturelle, Livre XXXVI, ed. J . ANDRÉ, trad. R. BLOCH, comm. A. ROUVERET, Paris 1981, zu 36,25.

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Erster Hauptteil: ϊρος/ϊρως - Υμερος - πόθος

Doch wie wir gesehen haben, geht die bildende Kunst der Literatur in der Darstellung der Eroten so weit voraus, daß Skopas kaum auf die platonische Trias von Appellativa im Kratylos oder auf die schon genannte Symposion-Stelle, wo die Dreiheit als solche kaum und eine Personifikation nur ansatzweise erkennbar ist, zurückgreifen mußte. Umgekehrt legt der ikonographische Befund (mit einem Beispiel für die Trias bereits in der Mitte des 6. Jahrhunderts) es nahe zu vermuten, daß die beiden Piatonstellen nur eine Entwicklung widerspiegeln, die bereits im Gange war und in deren Verlauf sich Eros, Himeros und Pothos als die drei wichtigsten Begleiter Aphrodites herauskristallisierten. Piaton seinerseits hat dann allerdings auf die philosophische und grammatische Spekulation über die Appellativa gewirkt.

Kriterien für die Auswahl weiterer Begriffe des Verlangens Aus der Zahl der Wörter, die von den Lexika mit verlangen, begehren wiedergegeben werden1, gilt es nun diejenigen herauszusuchen, die Gegenstand des zweiten Hauptteils der Arbeit sein sollen. Rein semantische Kriterien kommen für die Auswahl naturgemäß nicht in Frage; daher müssen objektiv feststellbare äußerliche Merkmale der Verwendung, etwa im Bereich der Syntax, ermittelt werden, die ein Wort aufweisen soll, um bei der weiteren Analyse Berücksichtigung finden zu können. Da es sich bei den zu überprüfenden Wörtern ausnahmslos um Verben handelt, kann ich mich bei der Formulierung der folgenden Punkte auf diese Wortart beschränken.

1. Genitiv als notwendige Bedingung DaJ3 die Verben des Verlangens dort, wo sie nicht entweder einen Infinitiv nach sich ziehen oder absolut gebraucht werden, mit dem Genitiv stehen, ist eine Regel, von der ποθεΐν, wie gesehen, nur scheinbar eine Ausnahme darstellt. Der Akkusativ, den es bei sich hat, erklärt sich leicht aus der Tatsache, daß es überhaupt kein Verbum des Verlangens ist. Aus demselben Grunde kann auch φιλείν, das man über die Bedeutung „lieben" an έράν heranrücken könnte, in dieser Untersuchung keine Berücksichtigung finden. Ein besonderer Bedarf, diese beiden Wörter zu unterscheiden, wurde offenbar in der Antike nicht empfunden. Jedenfalls gibt es meines Wissens nur eine nennenswerte Gegenüberstellung von έ ρ ά ν und φιλείν, und zwar im 3. Buch Περί σ υ ν τ ά ξ ε ω ς des Apollonios Dyskolos 2 , wo die Verschiedenheit der Kasusrektion der beiden Wörter damit erklärt werden soll, daß φιλείν eine Handlung, έ ρ ά ν dagegen ein Affiziertwerden3 bezeichne. Damit stimmt überein, daß etwa die Vergeltungsethik der archaischen Adelsgesellschaft in φιλείν eine soziale Verhaltensform sieht, deren Gegenteil mit eben-

1 2 3

Einleitung Anm. 36 und LfgrE s.v. (έ)έλδομαι („Wortfeld"); CHANTRAINE, Gr. H. II 54. G G vol. 2.2, p. 418-9 UHLIG, § 172. προσδιατίθεσθαι ύττό του έρωμένου.

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Kriterien für die Auswahl weiterer Begriffe des Verlangens

falls transitiven Verben wie ά δ ι κ ε ΐ ν und έ χ θ α ί ρ ε ι ν bezeichnet wird.4 Die Zusammenfassung von έ ρ ά ν und φιλείν im Wortfeld „Liebe, lieben" scheint somit kein Produkt der Antike zu sein.5 Die Forderung, dsü3 ein Verbum, welches für das Wortfeld „Verlangen, Begehren" in Frage kommt, nur 1. absolut oder 2. mit Genitiv oder 3. mit Infinitiv gebraucht werden soll, bedarf noch einer Präzisierung: Um eine Abgrenzung zu den Begriffen des Wollens, die ausschließlich mit dem Infinitiv stehen, zu gewährleisten, finden nur solche Verben Berücksichtigung, für die sich im frühgriechischen Epos die Verbindung mit dem Genitiv tatsächlich in nennenswerter Weise belegen läßt. Damit bleibt (u.a.) μενοινάν (nie mit Genitiv) von der weiteren Untersuchung ausgeschlossen. Μ ε ν ε α ί ν ε ι ν 6 kommt im frühgriechischen Epos nur einmal ( μ ά χ η ς , Hes. Sc. 361) mit dem Genitiv vor, so daß die Untersuchungsbasis hier ungenügend ist. Zudem zeigt die zweite Bedeutung „zürnen", daß das Verbum nicht ursprünglich ein Begriff des Begehrens ist (s. nächstes Kapitel).

2. Ausschließ von ursprünglich wortfeldfremden Begriffen Ausgeschlossen seien ferner Verben, die in ihrer Grundbedeutung erkennbar anderen Wortfeldern angehören und nur gelegentlich, wenn sie mit einem Genitiv erweitert werden, so etwas wie „verlangen, begehren" heißen, vor allem Verben der Bewegung und des Drängens wie έ π ε ί γ ε σ θ α ι ("Αρηος Τ 142, 189; ό δ ο ΐ ο α 309, γ 284, ο 4 9 ) , έ τ τ ι β ά λ λ ε σ θ α ι ( έ ν ά ρ ω ν Ζ 6 8 ) , σεύεσθαι ( τ τ ο λ έ μ ο ι ο / - ο υ Ν 8 1 5 , Ω

404;

733, h. Merc. 299), έττισσεύεσθαι ( τ ε ί χ ε ο ς Μ 388, Π 511; πεδίοιο Ξ 147, Χ 26), ιεσθαι7 und έττιμαίεσθαι ( δ ώ ρ ω ν Κ 401; σ κ ο π έ λ ω ν μ 220;

όδοΐο δ

4

5 6

7

Den Hinweis auf die transitiven Gegenwörter zu φιλείν verdanke ich Herrn Prof. Dihle (s. dazu seine Monographie Die goldene Regel Eine Einßlhrung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, Göttingen 1962, passim, bes. 32f.). Ein Wortfeld „lieben" mit diesen Begriffen nimmt etwa SCHMIDT, Synonymik der griechischen Sprache, Kap. 136 an (-4 S. 15f. mit Anni. 20). Z u diesem Wort vgl. J. IRMSCHER, Götterzorn bei Homer, Diss. Berlin 1947, Leipzig 1950, 14 und A.W.H. ADK1NS, Threatening, Abusing and Feeling Angry in the Homeric Poems, JHS 89 (1969), 14 und 17f. Verben des „Strebens" nach KÜHNER-GERTH I 351; s.a. CHANTRAINE, Gr. Η. II 54: zu ιεσθαι vgl. S. 165 Anm. 22.

Kriterien für die Auswahl weiterer Begriffe des Verlangens

111

344) „berühren"8. Bei all diesen Wörtern läßt die geringe Zahl der für diese Untersuchung relevanten Belege keine zuverlässigen Ergebnisse erwarten. Gleiches gilt für μέμονα/μέμαα, das nur dreimal (bei 141 Belegen!) mit dem Genitiv (E 732 έριδος και ά ο τ η ς ; Ν 197 θούριδος άλκής; Ρ 181 αλκής), sonst häufig mit dem Infinitiv steht. Interessanter ist ein anderer Fall: An drei Stellen bei Homer hat man ein Verbum ίχανάν 9 anzusetzen (P 572, V 300, θ 288), das allerdings fast einhellig als ¡σχανάν („festhalten" an sechs anderen Stellen) überliefert ist. Dennoch geben einige Handschriften an der Stelle V 300 ϊχανόωσαν 1 0 , θ 288 gewinnen wir ίχανόων aus einer entsprechenden Hesych-Glosse11, ebenso Ρ 572 ίχανάς» aus dem Lemma ϊχανρ bei Hesych. Man neigt heute dazu, an den genannten drei Stellen ίχανάν zu lesen und es von ίσχανάν fernzuhalten. Die Unterscheidung war auch in der Antike bekannt, wie das D-Scholion zu V 300 zeigt: νόστου ε

¡ σ χ α ν ό ω σ α ν έξεχομένην, έκτεινομένην. η επιθυμούσαν, αν fi άνευ τ ο υ σ.

In späterer Zeit gebrauchen auch Herondas und Babrios ίχανάν, Kallimachos ίχαίνειν. Anzuknüpfen sind ferner innergriechisch das aischyleische απαξ λεγόμενον Τχαρ (Aesch. Suppl. 850, cils ϊχαρ überliefert12) und αχήν (Theocr. 16,37) mit einigen Verwandten13, außergriechisch eine Reihe hauptsächlich indoiranischer Wörter, die von einer indogermanischen Wurzel *ä(i)gh-, *igh- abgeleitet sind, wie altindisch Ihä „Verlangen".14 Kann man also grundsätzlich die Zugehörigkeit von ίχανάν zum untersuchten Wortfeld als sicher betrachten, so fehlt bei nur drei Belegen doch die Basis für weiterge8

9

10 11 12 13 14

FRISK und CHANTRAINE, DEtym s.v. verneinen die Frage, ob im Präsens έττιμαίεσθαι „zu erreichen suchen" und im Aorist έπιμάσσασσθαι „berühren" verschiedene Verben vorliegen (so F. BECHTEL, Lexilogus zu Homer, Halle 1914 INdr. Darmstadt 19641, 220Γ). S. FRISK und CHANTRAINE. DEtym s.v.; BECHTEL, Lexilogus 182f.; CHANTRAINE, Gr. Η. I 360; RlSCH, Wortbildung der homerischen Sprache 321-2; J. WACKERNAGEL, Vermischte Beiträge zur griechischen Sprachkunde, Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel, 1897, 3-62 = Kleine Schriften I, Göttingen 1953, 764-823, dort AXHN, 778f.; POKORNY 14f.; G.C. WAKKER, LfgrE s.v. Ισχανάω (I); R.S.P. BEEKES, The Development of the Proto-Indo-European Laryngeals in Greek, Den Haag - Paris 1969, 129 u. 168. Vgl. Hesych ϊχανόωσαν· έττιθυμοΰσαν und das D-Scholion (s.u. im Text). Ιχανόων· έττιθυμών, γλιχόμενος. Schol ad loc. την έττιθυμίαν ϊχαρ εΤπεν; vgl. A.J. VAN WINDEKENS, Note sur le mot Ιχαρ „désir violent" et ses correspondants grecs, Glotta 49 (1971), 230-1. S. WACKERNAGEL 778-9. S. POKORNY 14-5.

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Kriterien für die Auswahl weiterer Begriffe des Verlangens

hende Aussagen. Zweimal steht es mit Genitiv eines nomea actionis (V 300, θ 288), einmal mit Infinitiv oder - nach anderer Auffassung15 - mit Genitiv und epexegetischem Infinitiv (P 572).

3. Ergebnis der Auswahl Die konsequente Anwendung der Kriterien läßt für die weitere Untersuchung noch vier Verben aus der Zahl derer, die zum Wortfeld „Verleingen, Begehren" gezählt werden könnten16, zu: 1. λιλαίεσθαι; 2. das Partizip κεχρημένος und χρηΐζειν; 3. χατεΐν/χατίζειν; 4. (έ)έλδεσθαι.17 Diese sollen nunmehr im folgenden zweiten Hauptteil der Arbeit einer kontextbezogenen Analyse unterzogen werden. Selbstverständlich kann sich dabei trotzdem ergeben, daj3 eines der Verben überhaupt nicht „verlangen, begehren" bedeutet, obwohl es die oben aufgestellten Bedingungen erfüllt. Doch wäre dies allein kein Grund, an den Kriterien zu zweifeln, die zwar für eine, wie ich meine, zufriedenstellende Vorauswahl der zu untersuchenden Wörter gesorgt haben, die eigentliche semantische Analyse aber nicht ersetzen können.

15 EßELING, Lex. Horn. s.v. Ισχανάν. 16 Anm. 1. 17 Zum „Akkusativ bei (έ)έλδεσθαι" (E 481, y 6, vgl. α 409), von dem auch KÜHNERGERTH I 352, CHANTRAINE, Gr. Η. II 46 und M. SCHMIDT, LfgrE s.v. (1 b/c) ausgehen, —» zweiter Hauptteil, Kap. 4.2.2.1.

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι — κεχρημένος/χρηΐζειν — χατεΐν/χατίζειν — (έ)έλδεσθαι 1. λιλαίεσθαι

1.1. Der Befund für das in den Lexika kaum einmal eine andere Bedeutung als „verlangen, begehren" angegeben wird, erscheint in der Ilias 13mal, in der Odyssee 15mal, in der Theogonie, im Scutum und in den Kyprien je lmal 1 : Λιλαίεσθαι,

Γ 133

όλοοΐο λιλαιόμενοι πολέμοιο

Γ 399

δαιμονίη, τ ί με ταύτα λιλαίεαι ήπεροπεύειν;

Δ 465-6

λελιημένος οφρα τάχιστα τεύχεα συλήσειε

Ε 690-1

λελιημένος οφρα τάχιστα ώσαιτ' Ά ρ γ ε ί ο υ ς

Λ 574 = Ο 317

(δοϋρα) έν γ α ί η ϊ σ τ α ν τ ο λιλαιόμενα χροός δσαι

Μ 106 = Π 552

βάν £>' ίθύς Δαναών λελιημένοι

Ν 252-3

ουδέ τοι αΰτός ήσθαι έν! κλισίησι λιλαίομαι, άλλα μάχεσθαι

Ξ 331

εΐ vûv έν φ ι λ ό τ η τ ι λιλαίεαι εύνηθήναι

Π 89

μή σύ γ' ανευθεν έμείο λιλαίεσθαι ττολεμίζειν

Υ 75-7

Άχιλλεύς "Εκτορος αντα μάλιστα λιλαίετο δΰναι ομιλον Πριαμίδεω

1

Das Wort, in späterer epischer Dichtung recht beliebt (es begegnet z.B. bei Apollonios Rhodios, Theokrit, Nikander, Euphorion, Oppian, Nonnos, Quintus Smyrnaeus, in der Anthologie Graeca und in den Orphica), ist anderen Gattungen völlig unbekannt.

114

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

Φ 168

(αιχμή 2 ) γαίη ένεστήρικτο λιλαιομένη χροός δ σα ι

α 15 = ι 30, 32, V 334

(Καλυψώ/Κίρκη) λιλαιομένη πόσιν εΤναι

α 315

μή μ' ετι νΰν κατέρυκε, λιλαιόμενόν περ όδοίο

ι 451-2

πρώτος δε σταθμόνδε λιλαίεαι άπονέεσθαι έσπέριος, νΰν αδτε πανύστατος

λ 223

αλλά φόωσδε τάχιστα λιλαίεο

λ 380

ει δ' ετ' άκουέμεναί γ ε λιλαίεαι

μ 328

βοών άπέχοντο λιλαιόμενοι βιότοιο

ν 31

ώς δ' δτ' άνήρ δόρποιο λιλαίεται

ο 308

ήώθεν προτ! αστυ λιλαίομαι άπονέεσθαι

ο 327

ή σύ γ ε πάγχυ λιλαίεαι αύτόθ' όλέσθαι

υ 27

μάλα δ' ώκα (άνήρ) λιλαίεται όπτηθήναι (γαστέρα)

χ 349 ω 536 Hes. Th. 6 6 5

μή με λιλαίεο δειροτομήσαι προς δε πόλιν τρωπώντο λιλαιόμενοι βιότοιο πολέμου δ' έλιλαίετο θυμός

Hes. Sc. 113-4

λιλαιόμενοι πολέμοιο φυλόπιδα στήσειν

Çypr.

φεΰγεν, Ζεύς δ' έδίωκε· λαβείν δ' έλιλαίετο θυμω

fr. 9 , 7 BERNABÉ = f r . 7 , 7 DAVIES

Bemerkenswert, aber nicht ungewöhnlich ist, daß λιλαίεσθαι im Vers fast ausschließlich nach der Zäsur κατά τρίτον τροχαΐον verwendet wird. 3 Der letzte Teil des Verses bleibt dann in aller Regel der Ergänzung des Verbums vorbehalten, so daß man durchaus von einem festen Bauschema in der zweiten Hexameterhälfte sprechen kann. Solche Ergänzungen können sein: 2 3

Vgl. AMEIS-HENTZE Z. s t . Dies entspricht der bei M.L. WEST, Greek Metre. Oxford 1982, 3 7 beschriebenen Tendenz. Möglich wäre aber a u c h [- ---(-)]. A u s n a h m e n sind d a s Perfektpartizip λελιημένος, die Stelle Hes. Th. 6 6 5 und d a s Kyprienfragment.

1. λιλαίεσθαι

115

1. ein Infinitiv, z.B. Π 89, o 308, Hes. Sc. 1134; 2. damit im Grunde gleichbedeutend, der Genitiv eines nomen actionis, z.B. Γ 133 , α 315, Hes. Th. 665s; 3. ein Acl, z.B. α 156; 4. Das Partizip Perfekt λελιημένος wird sowohl als Adjektiv verwendet (M 106, Π 552)7 als auch durch einen Finalsatz mit δφρα erweitert (Δ 465-6, E 690-1).8 Zu diesem Bild einer vielseitigen Verwendbarkeit von λιλαίεσθαι ρ aßt es auch, da£> es - anders als ερασθαι und ίμείρειν - in allen drei Personen vorkommt, wobei die zweite Person uns besonders beschäftigen wird. An einigen wenigen Stellen tritt es sogar in den Imperativ (λ 223, χ 349; vgl. Π 89), den man eigentlich bei einem Verbum des Begehrens nicht erwarten würde. Im Gegensatz zu ε ρ α σ θ α ι und ίμείρειν wird λιλαίεσθαι mitunter auch negiert (N 2 5 2 - 3 u.a.). Eine Beschränkung des Gebrauchs liegt darin, da3 nur ein Präsensstamm vorkommt, sieht man einmal von dem Partizip λελιημένος ab. Etymologisch ist λιλαίεσθαι noch keineswegs hinreichend erklärt. Zumindest über die Bildungsweise kann allerdings kein Zweifel bestehen: λιλαίεσθαι ist ein Jotpräsens mit Intensivreduplikation (daher heftig begehren FRISK, désirer vivement CHANTRAINE, long or desire earnestly LSJ, heftig begehren, verlangen, sich sehnen PAPE), von einer schwundstufigen Wurzel gebildet, also *li-la-siö. Unsicher ist aber, ob la- Schwundstufe von lä- (mit Anknüpfung an slavisch laska „Liebe", litauisch loksnùs „gefühlvoll, zärtlich") oder von lë(hierzu λ ή ν und λημα) ist. Diese zweite Verbindung, die früher allgemein gezogen wurde9, ist von CHANTRAINE10 zugunsten der ersten Hy4

Oder liegt hier die Verbindung „Genitiv + epexegetischer Infinitiv" vor, s. unter 2.? 5 WEST ZU Th. 665: πόλεμος = rifightingas oßerc, an vier der sechs Stellen von λιλαίεσθαι mit dem Genitiv eines nomen actionis ist die Verbalform ein Partizip (Γ 133, α 315, μ 328, ω 536; dagegen ν 31, Hes. Th. 665). Möglicherweise wirkt sich hier die nominale Komponente des Partizips aus, das ja in die Nähe eines Adjektivs (λιλαιόμενός τινος= „begierig nach etw."; vgl. den Gebrauch von λελιημένος an den Stellen M 106 und Π 552) rücken kann. Bei der geringen Zahl der Belegstellen ist aber ein Zufall der Verteilung nicht ausgeschlossen. 6 Man beachte den ganz ähnlichen Gebrauch von ίπείγεσθαι ν 29-30: πολλά προς ήέλιον κεφαλήν τρέπε παμφανόωντα, / δΰναι έπειγόμενος. 7 Der Genitiv Δαναών ist von Ιθύς abhängig, nicht von λελιημένος, wie CHANTRAINE, DEtym s.v. λιλαίεσθαι meint, vgl. Ρ 233, 340. 8 G.C. WAKKER, LfgrE s.v. λελιημένος läßt offen, ob die ö.32

32

Über Interpretation und Textgestaltung dieser Verse ist viel geschrieben worden; da der Sinn von κεχρημένος („bedürftig, arm") unstrittig ist, will ich hier nur kurz auf die bisher geführte Diskussion eingehen, die sich um die beiden miteinander zusammenhängenden Fragen dreht, ob 1. die αΙδώς in eine angemessene (άγαθή) und eine unangemessene (ούκ άγαθή) aufzuspalten und 2. in V. 317 κομίζειν oder das besser überlieferte κομίζει zu lesen sei; s. hierzu WEST z. St. (der κομίζειν liest); VERDENIUS z. St. (der κομίζει favorisiert); A. HOEKSTRA, Hésiode, les Travaux et les Jours, 405-407, 317-319, 21-24. L'élément proverbial et son adaptation, Mnemosyne 3 (1950), 99-106; KRAFFT 75; K.J. MCKAY, Ambivalent αΙδώς in Hesiod, AJPh 84 (1963). 17-27; E. LIVREA. Applicazioni della „Begriffsspaltung" negli Erga (αΙ8ως - θάρσος - νέμεσις - (ήλος), Hellkon 7 (1967), 81-100; F. BONA QUAGLIA, Gît Erga di Esiodo. Turin 1973, 147 Anm. 3; D.B. CLAUS, Deßriing Moral Terms in „Works and Days". TAPA 107 (1977). 78-84; W.L. LIEBERMANN, Die Hälfte mehr als das Ganze - zu Hesiods Rechtfertigung der Werte, Hermes 109 (1981), 402 Anm. 68; A. COZZO, Lavoro ed arricchimento negli „Erga" di Esiodo, Studi Storici 26 (1985), 386 Anm. 90 und zuletzt J.-U. SCHMIDT, Adressat und Parainese/orm. Zur Intention von Hesiods „Werken und Tagen", Göttingen 1986, 61-65; D.L. CAIRNS, Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993, 148-151. Mir scheint die Tatsache, daß in Vers 318 nur von der e i n e n αΙδώς die Rede ist, die den Menschen schaden oder nützen kann (so ganz richtig J.-U. SCHMIDT 61 und CAIRNS 149 Anm. 6), ein kräftiges Argument im Sinne WESTS zu sein: Es gibt nicht eine αΙδώς ούκ άγαθή im Unterschied zu einer αΙδώς άγαθή (in der Tat heißt der Gegensatz j a auch V. 319 αΙδώς - θάρσος; der Hinweis auf andere „Begriffsspaltungen", z.B. die der "Ερις in den Erga [s. LIVREA 82f.l, besagt m.E. für diesen Zusammenhang nichts), sondern nur angemessene oder unangemessene Anwendung der e i n e n αΙδώς. Ein Übergang „falsche Scheu ..., / Scheu, die ... schadet und nützt" in V. 317-8 würde m.E. einen kaum erträglichen gedanklichen Bruch bedeuten. Da ούκ άγαθή somit nicht attributiv aufgefaßt werden kann, sondern Prädikatsnomen ist, wird man am Versende von 317 (ebenso in V. 500) κομίζειν lesen müssen.

127

2 . κεχρημένος/χρηίζειν

Hes. Op. 500-1

έ λ π ί ς δ' ούκ α γ α θ ή κ ε χ ρ η μ έ ν ο ν ά ν δ ρ α

κομίζειν,

η μ ε ν ο ν έν λ έ σ χ η .

Ehrlichkeit beim Ausleihen und Zurückgeben ist eine der Grundlagen guter Nachbarschaft: Hes. Op. 349-51

εΰ μεν μ ε τ ρ ε ί σ θ α ι π α ρ ά γ ε ί τ ο ν ο ς , εδ δ' ά π ο δ ο ϋ ν α ι , α ύ τ ω τ ω μ έ τ ρ ω , καί λ ώ ι ο ν α ϊ κε δ ύ ν η α ι , ώ ς α ν χ ρ η ί ζ ω ν καί ές ύ σ τ ε ρ ο ν ά ρ κ ι ο ν ε ϋ ρ η ς

„wenn du einmal in einer schwierigen materiellen Lage bist..." Auch in den Augen der Phaiaken ist Odysseus jemand, der materielle Hilfe nötig hat: λ

339-40

(Arete:)

μηδέ τ α δ ώ ρ α

ο ϋ τ ω χρηΐζοντι κολούετε.

Der „Bettler" möchte trotz seiner Armut vor der Ankunft des Odysseus keine Kleidung als Geschenk annehmen: (Odysseus zu Eumaios:) ξ 155

π ρ ι ν δε κε, καί μ ά λ α π ε ρ κ ε χ ρ η μ έ ν ο ς , ο υ τ ι δ ε χ ο ί μ η ν .

Im homerischen Hymnus h. 34,1

Εις Ξένους

steht folgende Ermahnung:

αίδείσθε ξ ε ν ί ω ν κ ε χ ρ η μ έ ν ο ν ήδέ δ ό μ ο ι ο .

Es leuchtet unmittelbar ein, daß Nahrung, Kleidung und Wohnung für einen Menschen lebensnotwendig sind. Überraschenderweise gehören in diese Reihe aber auch unverzichtbare Personen: Der Arzt Podaleirios kann seiner Tätigkeit augenblicklich nicht nachgehen; er könnte selbst einen Arzt gebrauchen: Λ 834-6

τ ο ν μεν

(Podaleirios)

évi κλισίησιν ό ΐ ο μ α ι έλκος έ χ ο ν τ α

χ ρ η ' ί ζ ο ν τ α καί α ύ τ ό ν ά μ ύ μ ο ν ο ς ΐ η τ ή ρ ο ς κεΐσθαι.

Bei richtiger Wirtschaftsweise brauchst du keine Hilfe von anderen Hes. Op. 477-8

ούδέ π ρ ο ς ά λ λ ο υ ς α ύ γ ά σ ε α ι · σ έ ο δ' ά λ λ ο ς ά ν ή ρ κ ε χ ρ η μ έ ν ο ς ε σ τ α ι

(„materiell abhängig"). An dieser Stelle scheinen die beiden Vorstellungen der materiellen Bedürftigkeit (was etwa mit βίου κεχρημένος auszudrücken wäre) und des Angewiesenseins auf jemandes Hilfe (das wäre an dieser

128

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

Stelle σέο χατέων/χατίζων33) in dem Ausdruck σέο κεχρημένος verschmolzen zu sein. Die letzten drei zu besprechenden Stellen sind wohl diejenigen, die die Lexikographen am ehesten veranlagt haben, κεχρήσθαι mit „verlangen, begehren" wiederzugeben. Doch es macht sicher hervorragenden Sinn, wenn unmittelbar im Anschluß an das Proömium der Odyssee von dem Haupthelden gesagt wird, daß es ihm fern von Ithaka am Notwendigsten fehle, seiner Heimat und seiner Frau, daß er in dieser Hinsicht ein κεχρημένος sei: α 13-4

τ ο ν δ' οίον, νόστου κεχρημένον ήδέ γυναικός, νύμφη ττότνι' ερυκε Καλυψώ, δία θεάων.

Die Wahl gerade dieses Wortes an so prominenter Stelle der Erzählung könnte durchaus programmatisch auf den zweiten Teil der Odyssee vorausweisen, in dem Odysseus ja - nun wenigstens nicht mehr νόστου κεχρημένος - in einem ganz anderen, wörtlichen Sinne und aus eigenem Antrieb die Rolle des κεχρημένος άνήρ annimmt, um seine Frau wiederzugewinnen. Agamemnon beteuert bei der Rückgabe der Briseis gegenüber Achilleus, sie nicht angerührt zu haben: Τ 261-2

μη μεν ε γ ώ κούρη Βρισηΐδι χειρ' έπένεικα, οϋτ' εύνής πρόφασιν κεχρημένος οϋτέ τ ε υ ά λ λ ο υ .

Denn - was ein möglicher Anlaß hätte sein können, sie zu berühren 34 - es mangelte Agamemnon weder an der εύνή (vielleicht am besten allgemein ohne festen Bezug auf Briseis zu verstehen: Mög33 Vgl. v.a. Hes. Op. 394 und das folgende Kapitel. 34 Die Abhängigkeitsverhältnisse im Ausdruck εύνής πρόφασιν κεχρημένος sind durchaus nicht ganz klar; zumeist wird εύνης πρόφασιν zusammengezogen und zu κεχρημένος Briseis als Objekt mitverstanden, s. LEAF ζ. St. [for the sake of my bed: κεχρημένος desiring her), AMEIS-HENTZE (aus Anlaß des Beûagers: κεχρημένος ,ihrer' begehrend), WILLCOCK ζ. St. CHANTRAINE, Gr. Η. II 54, dagegen nimmt εύνής άπό κοινοί zu πρόφασιν und κεχρημένος. Πρόφασιν, das sonst bei Homer nur

noch T 302 vorkommt, ist ein adverbialer Akkusativ (so die Kommentatoren und auch LSJ s.v. πρόφασις, wo die beiden Stellen trotz ihrer Ähnlichkeit getrennt unter 1.2. bzw. ll.l. aufgeführt werden; PAPE s.v.; PASSOW s.v.), der offenbar durchaus nicht unbedingt einer Ergänzung im Genitiv bedarf, vgl. T 301-2 ώς εφατο κλαΐουσ', έπί 8ε στενάχοντο γυναίκες / Πάτροκλον πρόφασιν, σφών δ'

αύτών κήδε' έκαστη. Gemeint ist wohl, daß die Frauen a k t u e l l (s. LSJ s.v. πρόφασις, ll.l. actual motive) um Patroklos weinen, doch jede eigentlich um ihr eigenes κήδος, den Mann also, um den s i e sich sorgt (so versteht richtig EßELING s.v. κήδος, Ih: suas curas le. eos qui eis erant curae). Πρόφασιν heißt also etwa „dem Anlaß nach". Auch Τ 262 kann man πρόφασιν so auffassen; es steht absolut, εύνής läßt sich dann ohne Schwierigkeiten auf κεχρημένος allein beziehen (so - nach LEAF - schon MONRO): .... weil ich nicht dem Anlaß nach (= im Sinne eines Anlasses) Mangel hatte an der εύνή ..."

2. κεχρημένος/χρηίζειν

129

lichkeit zum Beischlaf) im Sinne einer elementaren Notwendigkeit noch an irgend etwas anderem, dessen Fehlen es hätte mit sich bringen können, sie zu berühren. Das gleiche Argument führt der Freier Eurymachos gegenüber Odysseus ins Feld, um alle Schuld auf Antinoos zu schieben und seine eigene Haut zu retten: Der nämlich habe sich nur in den Besitz der Macht bringen wollen, die Heirat mit Penelope sei Antinoos „nicht unbedingt ein elementares Bedürfnis" gewesen: χ 49-51

Άντίνοος· οΟτος γαρ έττίηλεν τάδε εργα, οϋ τ ι γάμου τόσσον κεχρημένος ούδε χατίζων, άλλ' α λ λ α φρονέων, τ ά οϊ ούκ έτέλεσσε Κρονίων.

Das Ergebnis der Interpretation ist recht eindeutig: Der ablativische Charakter des Genitivs ist in allen Fällen noch so deutlich spürbar, daj3 man allenfalls davon sprechen kann, κεχρημένος und χρηΐζειν seien auf dem Weg, zu Verben des Begehrens und Verlangens zu werden. Κεχρημένος/χρηΐζων τινός zu sein ist ein objektiver Zustand und an keinerlei geistig-emotionale Vorgänge gebunden, wie wir dies aufgrund des Beispiels von ερασθαι oder ίμείρειν bei verba cupiendi erwarten dürfen. Zu dieser Gruppe sind also die in diesem Kapitel untersuchten Wörter nicht zu rechnen.

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Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

3. χατ€ΐν/χατίζ£ΐν 3.1. Der Befund Den beiden eben (Kap. 2) untersuchten Verben stehen χ α τ ε ί ν / χατίζειν - metrisch verschieden einsetzbare35, aber semantisch ganz offenkundig völlig deckungsgleiche Ableitungen von einer Wurzel *ghë-, ghs- vide, manque36 - bedeutungsmäßig nahe. Das zeigen nicht zuletzt Hesychs Glossen χατεύει· χρήζει, επιθυμεί; χατεύουσα· χρηζουσα, δεομένη. Homer verwendet χατείν 2mal in der Ilias und 4mal in der Odyssee, χατίζειν 3mal bzw. 4mal; bei Hesiod erscheint es 2mal in den Erga und lmal in einem Fragment. Beide Verben bleiben auf den Indikativ Präsens (5x) und das Präsenspartizip (1 lx) beschränkt. Ein wesentlicher Unterschied zu κεχρημένος/χρηΐζειν zeigt sich darin, daß χ α τ ε ί ν und χατίζειν nicht nur den Genitiv - und zwar von Personen (z.B. Σ 392) ebenso wie von nomina actionis (z.B. θ 156) und Sachen (B 225) - zu sich nehmen, sondern auch den Infinitiv (z.B. o 376). In den Fällen scheinbar absoluten Gebrauchs (z.B. O 399) von χ α τ ε ί ν / χ α τ ί ζ ε ι ν kann durchweg ohne Schwierigkeiten ein Genitiv oder Infinitiv ergänzt werden.

3.2. Bedeutungsansatz Als Athene dem soeben nach Ithaka heimgekehrten Odysseus (der freilich noch nicht weiß, daß er wieder in seiner Heimat ist) entgegentritt, tischt der ihr, nicht ahnend, die Göttin vor sich zu haben, eine Lügengeschichte auf: er sei ein Kreter auf der Flucht, der mit einem phoinikischen Schiff nach Ithaka verschlagen worden sei; bei der Landung seien alle so müde gewesen, daß an ein Abendessen nicht mehr zu denken gewesen sei: ν

279-80

ούδέ τις ημιν δόρττου μνήστις εην μόλα περ χατέουσιν έλέσθαι.

Zwei wesentliche Charakteristika von χ α τ ε ί ν / χ α τ ί ζ ε ι ν werden aus dieser einen Stelle mit exemplarischer Deutlichkeit ersichtlich: 35 Die Formen von χατείν stehen in den Positionen [ - - - - ] (bzw. -] χατέουσ', γ 48) und [ - - - - ] , die von χατίζειν ausschließlich ani Versende als [- - -]. 36 CHANTRAINE, DEtym s.v. χατέω; vgl. POKORNY 418f.

3. χατείν / χατίζειν

131

1. Im Unterschied zu ερασθαι und ίμείρειν, aber ganz wie κεχρημένος/χρηΐζειν bezeichnen χ α τ ε ΐ ν / χ α τ ί ζ ε ι ν kein Begehren im Sinne eines psychischen Vorgangs, sondern ein objektives Bedürfnis: Eigentlich hätten die soeben Gelandeten ein Abendessen gebrauchen können, doch man war viel zu müde, um daran noch denken zu können. Gerade die geistig-seelische Beteiligung an einem Bedürfnis ist aber, wie schon mehrfach betont, Grundvoraussetzung für ein Begehren.37 Im Grunde ist der Aussagegehalt von ν 279-80 das genaue Gegenteil dessen, was in Λ 89 σίτου γ λ υ κ ε ρ ο ΐ ο ίμερος zum Ausdruck kommt: Der Holzfäller in der Ilias ist ganz gefangen von der Vorstellung eines erquickenden Mahles, Odysseus und seinen erdichteten Phoinikern hingegen kommt nicht einmal ein objektiv vorhandenes Bedürfnis überhaupt zu Bewußtsein. 2. Die Formulierung μάλα περ χατέουσιν έλέσθαι „obwohl wir es nötig gehabt hätten, (ein Abendessen) einzunehmen" zeigt klar, daß χ α τ ε ΐ ν / χ α τ ί ζ ε ι ν eine momentane, nicht wie κεχρημένος/ χ ρ η ΐ ζ ε ι ν eine chronische Mangelsituation bezeichnet. Denn Proviant war offenbar vorhanden, sonst wäre es sinnlos zu sagen, man hätte vor lauter Erschöpfung nicht daran gedacht, das Abendessen „einzunehmen". Ganz zu schweigen davon, daJ3 einem Dauerbedürftigen natürlich niemals nur das Abendessen (δόρττον) fehlt, sondern Essen überhaupt (σίτος, vgl. υ 378). Χατείν und χατίζειν beziehen sich also nicht auf das für alle Menschen zu allen Zeiten gleichermaßen Unverzichtbare, sondern auf das in einer gegebenen Situation Notwendige, das zudem, wie eben gesehen, keineswegs zu fehlen braucht. Von diesen grundlegenden Beobachtungen ausgehend, habe ich anhand fast des gesamten Materials (ausgeschlossen blieb zunächst lediglich die problematische Stelle Hes. Op. 21-6, s.u.) einen einheitlichen Bedeutungsansatz entwickelt, den ich der Einfachheit halber der Behandlung der Einzelstellen voranstellen möchte: Danach läßt sich χ α τ ε ί ν / χ α τ ί ζ ε ι ν am genauesten wiedergeben mit „nur schwer oder gar nicht auskommen können ohne etwas": 1. mit Genitiv der Person: „auf jemandes Hilfe angewiesen sein"; 37 BONA QUAGLIA 39f. untersucht zwar die Homerstellen mit χατίζειν, übergeht aber χοτείν und kommt - ohne freilich sehr eingehend zu interpretieren - zu der unhaltbaren Schlußfolgerung χατίζαν è usato sempre con una sfumatura soggettiva (40). Bereits die Berücksichtigung nur von ν 279-80 hätte sie sicher von dieser Auffassung Abstand nehmen lassen.

132

Zweiter Hauptteil: λιλαΐεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

2. mit Genitiv eines nomea actionis oder mit Infinitiv: „(eigentlich) unbedingt tun müssen"; 3. mit Genitiv der Sache: „unbedingt haben müssen".

3.3. Die Stellen

3.3.1.

mit Genitiv der Person

Die Stellen der ersten Gruppe sind ausgesprochen einfach zu verstehen und bedürfen kaum einer Bemerkung: γ 48

(Peisistratos:) πάντες δέ θεών χατέουσ' άνθρωποι „alle Menschen sind auf die Hilfe der Götter angewiesen".38

Als Thetis zum Haus des Hephaistos kommt, um eine Rüstung für Achilleus in Auftrag zu geben, muß Charis ihren Mann erst an die Tür rufen: Σ 392

"Ηφαιστε πρόμολ' ώδε - θ έ τ ι ς νύ τι σείο χατίζει

„Thetis braucht deine Hilfe bei etwas". Patroklos muß den verwundeten Euiypylos verlassen, den er bis dahin gepflegt hat: 0 399-400

Εύρύπυλ', οΰκ ετι TOI δύναμαι χατέοντί περ' εμπης

(sc. έμεΤο) ένθάδε παρμενέμεν

„so sehr du auf meine Hilfe angewiesen bist". Phoinix als Teilnehmer der 1 517-8

πρεσβεία

zu Achilleus:

ούκ αν ε γ ω γ έ σε μήνιν άπορρίψαντα κελοίμην Άργείοισιν άμυνέμεναι χατέουσί περ εμπης

Der Freier Leiokritos: β 249-50

οϋ κέν oi ( O d . ) κεχάροιτο γυνή ((Pen.), χατέουσα s c . ' O ô uμόλα o q o ç ) ,περ έλθόντ(ι)

38

S. HOEKSTRA. Hésiode 108 Anm. 69.

133

3. χατείν / χατίζϊΐν

Hektor treibt die Krieger aus den umliegenden Gegenden zum Kampf: Ρ 221-2

ού γαρ έγώ ττληθύν διζήμενος οΰδέ χατίζων (sc. ττληθύος) ένθάδ' αφ' υμετέρων πολίων ήγειρα εκαστον

„... weder auf der Suche nach einer ungeordneten Masse noch angewiesen auf ihre Unterstützung ..."

3.3.2.

mit Genitiv eines nomea actionis oder mit Infinitiv

Odysseus bei den Phaiaken: θ 156-7

vûv δέ μεθ' ύμετέρη άγορη νόστοιο χατίζων ήμαι

„nun aber sitze ich mitten in eurer Versammlung und müßte doch eigentlich die Heimfahrt eintreten". Ebenso sagt Alkinoos: λ 350-1

ξεΐνος δέ (Od.) τλήτω, μάλα περ νόστοιο χατίζων, εμττης οδν έπιμεΐναι ές αϋριον.

Recht nahe kommen sich κεχρημένος und χατίζειν ein der folgenden, schon im vorangegangenen Kapitel 2.2. besprochenen Stelle:39 χ 49-50

Άντίνοος· οΟτος γαρ έπίηλεν τάδε εργα, ου τι γάμου τόσσον κεχρημένος ουδέ χατίζων

„nicht so sehr, weil er etwa unverheiratet gewesen wäre oder darauf angewiesen zu heiraten". Der Sänger Phemios bittet Odysseus um Gnade:40 χ 351-2

ώς έγώ ου τι έκών ές σον δόμον ούδέ χατίζων πωλεύμην μνηστήρσιν άεισόμενος μετά δαίτας

„... weder aus freien Stücken noch weil ich darauf angewiesen gewesen wäre ..." Eumaios legt Odysseus dar, wie sehr Knechte auf Zuwendung von selten der Herrschaft eingewiesen sind: 39 S. 129. 40 - > S . 120.

134

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χοτεΐν/χατίξειν - (έ)έλδεσθαι

ο 376-9

μέγα δέ δμώες χατέουσιν άντία δεσποίνης φάσθαι κα! έκαστα ττυθέσθαι καΐ φαγέμεν πιέμεν τε, έπειτα δε καί τι φέρεσθαι άγρόνδ', οΤά τε θυμόν άεί δμώεσσιν ίαίνει.

Hesiod ermahnt Perses, alle Feldarbeit rechtzeitig zu tun: Hes. Op. 391-5

γυμνόν σπείρειν, γυμνόν δε βοωτείν, γυμνόν δ' άμάειν, ε'ί χ' ώρια π ά ν τ ' έθέλησθα έ'ργα κομίζεσθαι Δημήτερος, ώ ς τοι έκαστα ώρΓ άέξηται, μή π ω ς τ α μέταζε χ α τ ί ζ ω ν 4 1 π τ ώ σ σ η ς άλλοτρίους οίκους και μηδέν άνύσσης

„... damit du nicht, wenn du eigentlich darauf angewiesen wärest, die Ernte einzubringen42, zu fremden Häusern betteln gehen mußt und nichts ausrichtest". Eine ausführlichere Behandlung verdient die schwierige, in der Vergangenheit oft besprochene43 Stelle Hes. Op. 21-6

εις ετερον γ ά ρ τίς τ ε ΐδών έ'ργοιο χ α τ ί ζ ω ν ττλούσιον, ος σπεύδει μέν άρώμεναι ήδέ φυτεύειν οΤκόν τ ' εδ θέσθατ ζηλοί δέ τε γείτονα γ ε ί τ ω ν εις άφενος σπεύδοντ 1 · α γ α θ ή δ' 'Έρις ηδε βροτοίσιν.

41

42

43

Sc. ϊργα κομί^εσθαι Δημήτερος; denkbar wäre auch, etwas wie άλλων τινών (s. άλλοτρίους οίκους) zu ergänzen und χατίζων zum Folgenden zu ziehen: „... damit du nicht hinterher, auf (anderer Leute) Hilfe angewiesen, ..." Die Passage wäre dann der ersten Gruppe (3.3.1.) zuzuordnen. WEST gibt zu bedenken, daß bei der Interpretation „bring in the harvest" der folgende Finalsatz problematisch sei. Zumindest diese Schwierigkeit sollte sich aber auflösen lassen (andere bleiben, vgl. bes. WILAMOWITZ und WEST z u 391 f.), indem man den εΙ-Satz gedanklich an den Anfang der Periode stellt (oder - was auf das gleiche hinausläuft - mit VERDENIUS, Rez. zu WESTS ErgaKommentar, Mnemosyne 33 [1980], 381, als Parenthese auffaßt) und den Finalsatz nicht an ε1' χ' ώρια ... Δημήτερος, sondern an γυμνόν ... άμάειν anschließt: „Wenn du die Ernte rechtzeitig einfahren willst, dann mußt du nackt säen ..., damit ein jedes rechtzeitig wächst ..." - there can be no doubt that κομίζεσθαι means ,to bring in' (VERDENIUSebd.). Neben den Kommentaren, insbesondere WILAMOWITZ, WEST, VERDENIUS, s. v.a. O.A. DANIELSSON, Hesiodea, Eranos 1 (1896), 1-6; P. FRIEDLÄNDER, Hesiods Ύποθήκαι, Hermes 48 (1913), 558-572, auch in: Hesiod (hrsg. v. E. HEITSCH), W d F Bd. 44, Darmstadt 1966, s. dort S. 227 Anm. 7; HOEKSTRA, Hésiode 106-114; M. HOFINGER, Hesiodea, Notes sur la traduction des vers 20 à 23 a des Travaux, Recherches de Philologie et de Linguistique, Travaux de la Faculté de philosophie et lettres de l'Université catholique de Louvain 3 (1968). 7-13; G. ARRIGHETTI. Esiodo, Erga 21-26. in: Studi in onore di A. ARDIZZONI, a cura di E. LIVREA e G.A. PRI VITE RA, Vol. I, R o m 1978, 25-35: N.J. RICHARDSON, Rez. zu WESTS Erga-Kommentar, J H S 99 (1979), 170.

3. χατεΐν / χατίζειν

135

καί κεραμεύς κεραμεϊ κοτέει καί τέκτονι τ έ κ τ ω ν , και π τ ω χ ό ς τττωχφ φθονέει καί α ο ι δ ό ς ά ο ι δ ώ .

Die Verse werfen einen ganzen Komplex von inhaltlichen, textkritischen, lexikalischen und syntaktischen Fragen auf, die sich gegenseitig bedingen und daher auch nur im Zusammenhang zu beantworten sind. Dabei macht es die Intensität der bisher geführten Diskussion und die Berücksichtigung aller denkbaren Aspekte ganz unwahrscheinlich, daβ die beste Lösung nicht unter den schon früher geäußerten Vorschlägen zu finden sein sollte. Da im Rahmen dieser Versuche auch und gerade die Bedeutung von χατίζειν ein Moment der Unsicherheit darstellte, können wir von der Induktion des oben gewonnenen Bedeutungsansatzes in unseren Zusammenhang einen wesentlichen Hinweis für die Interpretation der ganzen Stelle erwarten. Die Überlieferung schwankt in Vers 21 zwischen χ α τ ί ζ ε ι 4 4 und χ α τ ί ζ ω ν 4 5 . Letzteres ist die lectio diffìcilior, weil unklar bleibt, wo das finite Verb des Satzes zu suchen ist. Χατίζει, von den Verfechtern der anderen Lesart für eine spätere Glättung gehalten, ergibt dagegen eine ganz reguläre Syntax, die den Satz in Vers 23 nach θέσθαι enden läßt. Im Anschluß an SINCLAIR hat HOEKSTRA 4 6 deutlich gemacht, welche Konsequenzen die Wahl der einen oder anderen Lesart für die anzunehmende Bedeutung von χατίζειν hat: Wer χατίζει liest, muß übersetzen mit il désire (HOEKSTRA; il prend le gout du travail M A Z O N ; desiderare bzw. sentendo il bisogno del lavoro BONA QUAGLIA): ε ρ γ ο ι ο χατίζειν wäre dann aber un désir dont la satisfaction dépend du sujet, usage un peu curieux, wie HOEKSTRA Z U Recht bemerkt. Dies deckt sich mit der schon an anderer Stelle gemachten Beobachtung47, daß die Annahme einer sfumatura soggettiva (BONA QUAGLIA 4 8 ) bei χατεΐν/χατίζειν mindestens unnötig, gelegentlich (ν 279-80) geradezu unmöglich ist. Die Lesart χ α τ ί ζ ω ν muß demnach als gesichert gelten. HOEKSTRA 4 9 (und später ARRIGHETTI 50 , der - ohne HOEKSTRA Z U erwähnen - zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt) hat die sich erge-

44 45 46 47 48 49 50

So lesen ΜΑΖΟΝ (Ausg. u. Komm.), RZACH, BONA QUAGLIA, RICHARDSON (Rez. WEST). So DANIELSSON, FRIEDLÄNDER, Wl LAMO WITZ, SINCLAIR, HOEKSTRA, HOFINGER, SOLMSEN, ARRIGHETTI, WEST, VERDENIUS. Hésiode 107. -> A n m . 37. S. 4 0 A n m . 11. Hésiode 108ÍT. S. 301T.

136

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

bende syntaktische Struktur in überzeugender Weise interpretiert51 (darüber später). Die Frage bleibt, was χατίζων an dieser Stelle bedeuten soll. HOEKSTRA bemerkt ganz richtig, daß es mit Übersetzungen wie manquant de travail c'est-à-dire: ne travaillant pas lui même nicht getan ist, weil sie den Grund des Nicht-Arbeitens nicht erkennen lassen mais, comme l'a observé M. Sinclair, le contexte demanderait le sens: négligeant son travaiL SINCLAIR selbst52 zweifelt allerdings daran, daß εργοιο χ α τ ί ζ ω ν heißen könne letting work slide, während WILAMOwiTz 5 3 den Übergang wagt: einer, dem das Arbeiten fehlt, der nicht arbeitet, wie er sollte. HOEKSTRA 54 nennt diese Übersetzung forcé und geht andere Wege.55 Im Lichte der bisher über χατεΐν/χατίζειν gewonnenen Erkenntnisse scheint WILAMOWITZ aber doch das Richtige getroffen zu haben; denn εργοιο χατίζων muß - nach Analogie der anderen Stellen - bedeuten „einer, der (eigentlich) unbedingt arbeiten muß", sc. es aber nicht tut, ebenso wie Odysseus, obwohl ν ό σ τ ο ι ο χ α τ ί ζ ω ν (θ 156, λ 350), nicht heimkehrt. Erfreulicherweise liefert also die Anwendung des allgemeinen Bedeutungsansatzes auf unsere spezielle Passage den vom Kontext geforderten Sinn. Zusätzlich wird diese Interpretation durch den Vergleich mit dem ähnlichen Gedanken Hes. Op. 312-3

εί δε κεν έργάζη, τ ά χ α σε ζηλώσει ά ε ρ γ ο ς ττλουτεΰντα

gestützt: Statt

steht an unserer Stelle - wohl metri causa paraphrasiert zu Recht wenn ein Fauler auf seinen reichen Nachbarn sieht...; denn daß der Grund für das Nicht-Arbeiten bei dem εργοιο χατίζων selbst liegt, zeigt die Tatsache, daß ein gutes Vorbild ihn zur Arbeit anspornen kann. VERDENIUS 58 argumentiert dabei übergenau, wenn er über eine Bedeuάεργος

εργοιο χ α τ ί ζ ω ν . 5 6 FRIEDLÄNDER57

51 52 53 54 55

56

57 58

Die meißgeblichen neueren Kommentare von WEST und VERDENIUS folgen seiner Auflassung in diesem Punkt. Komm. z. St. Komm. z. St. Hésiode 107 Anm. 65. Seine Interpretation quelqu'un qui α bésoin de travail (c'est-à-dire pour gagner sa vie, donc un homme ordinaire) - ebenso HOFINGER 10 - ist geistreich wie der ganze Artikel, genügt aber nicht ganz (vgl. den Einwand von VERDENIUS zu V. 21: χατίζων). Metrical substUute WEST z. St.; vgl. VERDENIUS z. St., ARRIGHETTI 3 0 und FRIEDLÄNDER [χατίζειν ist ,egere' und .carere', hier lehrt die Betrachtung des ganz parallelen Satzes und Gedankens 312/3, daß ,carere' gemeint ist, und tpyoio χατίζων ist soviel wie dort άεργος |sol|, 227 Anm. 7). S. 226. Komm. z. St.

137

3. χατίϊν / χατίζειν

tung being without work, not working nicht hinausgehen will und die Übersetzung von WILAMOWITZ ablehnt, da die idea of unwillingness or neglect nicht in χατίζων, sondern nur im Kontext zu suchen sei, wie die Parallele ά ε ρ γ ο ς beweise. Richtiger wäre es m.E. zu sagen, daß es Kontexte gibt, die sowohl χατίζειν als auch ά ε ρ γ ο ς die Konnotation des Zurückbleibens59 hinter einem erforderlichen Verhalten annehmen lassen60 - und Hes. Op. 21 und 312 sind Beispiele dafür! Zur Syntax der Passage genügen einige wenige Sätze, da HOEKSTRAS überzeugende Lösung inzwischen unter den Verfechtern der Lesart χ α τ ί ζ ω ν allgemein akzeptiert zu sein scheint.61 Diese Interpretation macht Textänderungen62 ebenso überflüssig wie die Auffassung von δς als Demonstrativum63: Für die in Vers 23 zu erwartende Hauptaussage ζηλοί α ύ τ ό ν tritt eine allgemeinere Formulierung sprichwörtlichen Charakters64 ein: ζηλοΐ δέ τε γείτονα γ ε ί τ ω ν , die sich gedanklich eng an das Vorhergehende anschließt (γείτονα ... εις

αφενός

σττεύδοντα

Ξ πλούσιον,

δς

σπεύδει

...; γ ε ί τ ω ν = εργοιο

durch den syntaktischen Neuansatz aber einen Anakoluth ergibt.65

χατίζων),

Recht blaj3 bleibt log: H e s . fr. 4 3 a , 4 1

χατίζειν

schließlich an einer Stelle im Frauenkata-

ε]0τέ τις άντ' ώνοιο χ α τ ί ζ η 6 6 χ[ρη]μ' άνελ[έσθαι.

Es muß offen bleiben, ob die Kenntnis des ganzen Zusammenhanges dieser nur fragmentarisch erhaltenen Passage das für Homer und den echten Hesiod gewonnene Ergebnis bestätigen würde.

59 60 61 62 63 64 65

66

S. Moschopoulos-Scholion zu Op. 21 (ed. GAISFORD): έργου χατίζων ήγουν ένδεής ών έργου, λειπόμενος, τουτέστιν ούδέν έργαζόμενος. Vgl. νόστοιο χατίζων (s.o.) und άεργος In Hes. Op. 302-3. S. WEST, VERDENIUS z. St. Ίδεν WAESCHKE, noch von SOLMSEN gedruckt; πλησίον DANIELSSON; δς del. WILAMOWITZ U.a., S. HOEKSTRA 108, WEST z. St. SINCLAIR, FRIEDLÄNDER. S. HOEKSTRA 113, VERDENIUS z. St. Zum Partikelgebrauch in V. 2Iff. vgl. ARRIGHETTI 32f.; J.D. DENNISTON, The Greek Particles. Oxford 2 1954: apodotic use von δέ 1771Γ., bes. 181; zu τίς τε 533; zu apodotic τε 534; zu δέ τε in apodost (s. Hes. Th. 784) 529. Désirer M. HOFINGER, Lexicon Hesiodeum cum indice inverso, Leiden 1973/78, s.v. χατίίω.

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χατεΐν/χατϋειν - (ί)έλδεσθαι

138

3.3.3. mit Genitiv der Sache Für die dritte Verwendungsweise ist die folgende Stelle der einzige Beleg: Die Frage, mit der Thersites Agamemnon schmähen will: Β 225

Ά τ ρ ε ΐ δ η , τ έ ο δ' α δ τ ' έττιμέμφεαι ήδέ χ α τ ί ζ ε ι ς ;

ist vielleicht mit

SCHADEWALDTS

Atreus-Sohn! worüber beklagst du dich wieder und wonach gierst du? nicht ganz zureichend wiedergegeben, da die ironisch-pointierte Boshaftigkeit der Formulierung dabei nicht zum Ausdruck kommt. Έ π ι μ έ μ φ ε σ θ α ι mit dem Genitiv gebraucht Homer sonst noch A 6 5 und 93, und zwar vom Zorn eines Gottes über religiöse Pflichtversäumnis der Menschen67, das Ausbleiben eines Opfers oder die Nichteinhaltung eines Gelübdes. Wenn man diese Konnotation in Thersites' Frage miterfassen wollte, müßte man also etwa frei übersetzen: „Was ist es nun schon wieder, das man deiner Heiligkeit vorenthält und ohne das du nicht auskommen kannst?"

3.4. χητος

Das Substantiv χ ή τ ο ς , das Hesych mit ενδεια, σ τ έ ρ η σ ι ς glossiert, kommt bei Homer, Hesiod, in den Hymnen und auch später überhaupt nur im Dativ vor und ist von FRISK68 mit Mangel annähernd richtig, mit Sehnsucht aber viel zu prägnant wiedergegeben. Schon die fünf Stellen im frühgriechischen Epos, aber auch andere Belege, etwa bei Herodot (9,11,1) und bei Piaton (Phaedr. 239d) zeigen, daß χ ή τ ε ι ( χ η τ ε ϊ ) fast schon zur Präposition verblaßt ist und kaum mehr als „ohne" (zumeist jedoch mit einer leicht kausalen Färbung, unpoetisch etwa „in Ermangelung von") bedeutet: Telemachos zu Eumaios: π 34-5

Ό δ υ σ σ ή ο ς δε π ο υ εύνή χήτει έ ν ε υ ν α ί ω ν κάκ' ά ρ ά χ ν ι α κείται έ χ ο υ σ α .

67 68

Umgekehrt der Vorwurf vom Menschen ein die Gottheit in Soph. Trach. 122. S.v. χατέω; vgl. C HANTRAI NE, DEtym s.v. χατέω und LSJ (s.v. χητος) want, lack.

3 . χατείν / χατί^ειν

139

Deutlich erkennbar stehen χήτει und έχουσα am Anfang und Ende des Verses in Opposition zueinander. Hektor zu seinem kleinen Sohn: Ζ 462-3

σο! δ' αδ νέον εσσεται άλγος χήτεϊ τοιοΰδ' ανδρός άμύνειν δούλιον ήμαρ.

Etwas farbiger ist χητεϊ allenfalls an der Stelle Τ 323-4

ος (Peleus) που vûv Φθίηφι τέρεν κατά δάκρυον εΥβει χήτεϊ τοιοΰδ' υΤος.

Hes. Th. 604-5

δς κε γάμον φεύγων καί μέρμερα εργα γυναικών μή γήμαι έθέλη, όλοόν δ' έπί γήρας "κηται χήτει γηροκόμοιο.

Die Insel Délos: h. Apoll. 7 7 - 8

πουλύποδες δ' έν έμοί θαλάμας φώκαί τε μέλαιναι οίκία ποιήσονται άκηδέα χήτεϊ λαών.

140

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐίειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

4 . (έ)έλδεσθαι

4.1. Der Befund Mit ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι komme ich zum Schluß noch einmal auf ein besonders interessantes Wort zu sprechen, dessen vielfältige Verwendung - an einer Stelle wird sogar ein Passiv angenommen! - jeder Einordnung unter eine einheitliche Grundbedeutung zu widerstreben scheint. M. SCHMIDT, der Verfasser des einschlägigen Artikels im LfgrE, wußte sich bei zwei schwierigen Stellen nicht anders zu helfen, als sie unter Je Sonderfälle einzuordnen. Im Gegensatz zu der von mir bisher geübten Praxis möchte ich zugunsten einer eingehenderen Analyse einiger weniger Stellen, zu deren Erklärung ich Neues beizutragen hoffe, auf eine Auflistung und Besprechung der meisten anderen Passagen verzichten und auf den genannten LfgrE-Artikel verweisen. ( Έ ) έ λ δ ε σ θ α ι leitet sich aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Wurzel ft\- ab, mit der auch griechisch ε λ π ε σ θ α ι und lateinisch velie in Verbindung gebracht werden. 69 Homer verwendet sowohl ε λ δ ε σ θ α ι - allerdings nur dreimal - als auch έ έ λ δ ε σ θ α ι , die Variante mit prothetischem ε- (16x), je nach metrischem Bedürfnis. Letztere Formen treten dabei bevorzugt an die Position hinter der Zäsur κ α τ ά τ ρ ί τ ο ν τ ρ ο χ α ΐ ο ν (eine Ausnahme bildet nur Π 4 9 4 ) , obwohl έ έ λ δ ε σ θ α ι auch vor der Mittelzäsur des Hexameters leicht einsetzbar wäre. 70 Im frühgriechischen Epos außerhalb Homers ist Hes. Op. 381 ( έ έ λ δ ε τ α ι ) der einzige Beleg. ( Έ ) έ λ δ ε σ θ α ι bleibt wie λιλαίεσθαι und χ α τ ε ΐ ν / χ α τ ί ζ ε ι ν auf den Präsensstamm beschränkt: Die 20 Belege (7x Ilias, 12x Odyssee, l x Erga) verteilen sich auf 10 Stellen im Indikativ Präsens, je eine im Imperativ Präsens und Indikativ Imperfekt und 8 im Partizip Präsens. M. SCHMIDTS LfgrE-Artikel unterscheidet für ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι mehr Verwendungsweisen, als für jedes andere der bisher von mir untersuchten Wörter festzustellen waren. Es scheint mir sinnvoll, SCHMIDTS Einteilung zunächst kurz zu skizzieren, bevor ich sie im zweiten Teil einer kritischen Überprüfung unterziehen werde:

69

S. FRISK und CHANTRAINE, DEtym s.v.; BRAUN 337; nach CHANTRAINE, Gr. Η. I 181 bedeutet die Wurzel „wel-~ espérer, attendre; vgl. A.J. VAN WINDEKENS, Remarques sur quelques termes grecs. Emerita 56 (1988), 82-84; O. SZEMERÉNYI, Einfiihrung in die vergleichende Sprachwissenschaft, Darmstadt 4 1990, 105. 70 -> S. 114 mit Anm. 3.

4. (έ)έλδεσθαι

141

1. absolut und mit Genitiv oder Akkusativ a) absolut, immer Dativ des Partizips (H 4 u.a.) b) mit partitivem Genitiv bzw. Akkusativ Plural Neutrum (Ξ 276, ε 210, ξ 42 mit Genitiv; ψ 6, E 481 mit Akkusativ) c) Sonderfälle (V 122, α 409) 2. mit Infinitiv oder Acl (ε 219 u.a.) 3.

Π 494 (έελδέσθω Passiv)

Die wunden Punkte dieser Gliederung des Bestandes liegen sicher in der Abteilung Je Sonderfälle, die ich noch näher betrachten werde, und in der merkwürdigen Vermischung von Ausdrücken mit dem Genitiv und solchen mit dem Akkusativ in 1 b. Auch die Interpretation von έ ε λ δ έ σ θ ω als Passiv in Π 494 (3.; vûv TOI έ ε λ δ έ σ θ ω πόλεμος κακός) 7 1 ist keineswegs unumgänglich.72

4.2. Interpretation

4.2.1. Zur Bedeutung von

(έ)έλδεσθαι

Nicht zuletzt aufgrund seiner Zusammengehörigkeit mit dem Substantiv έ έ λ δ ω ρ 7 3 , das stets „Gebet an einen Gott, Wunsch" bedeutet, wird (έ)έλδεσθαι zumeist als „wünschen" übersetzt74, so auch von M. SCHMIDT, der aber in seinem LfgrE-Artikel die Schwierigkeiten einer genauen Wiedergabe des semantischen Wertes von (έ)έλδεσθαι sehr wohl sieht: Sicher trifft auf einen großen Teil der Stellen zu, daJ3 ein eher „passives" Ersehnen (teilweise mit ήματα πάντα: dauernder Zustand) eines Ereignisses oder Zustandes, den man selbst nicht herbeiführen kann, gemeint ist:

71 Schol. bT z. St.: έελδέσθω: έν έττιθυμκρι γινέσθω. 72 -> Kap. 4.2.2. b). 73 Έέλδωρ. 6x in der Illas, 4x In der Odyssee, lx im Scutum, lx im Aphroditehymnus, nur im Nominativ und Akkusativ gebräuchlich und - bis auf y 54 stets am Versschluß verwendet, kommt ausschließlich im Zusammenhang mit Verben wie (έττι)κραίνειν und τελεϊν/τελευτάν .erfüllen" vor. 74 Es ist so recht eigentlich unser „wünschen". J.H.H. SCHMIDT, Synonymik der griechischen Sprache, Kap. 146.11., S. 619.

142

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χατεΐυ/χατίζειν - (έ)έλδεσβαι

Η 4-5

ώς δέ θεός ναύτησιν έελδομένοισιν έ'δωκεν ουρον u . a .

Aber S C H M I D T hat völlig recht, wenn er diese Bedeutung nicht an allen Stellen ansetzt, sondern durch (έ)έλδεσθαι bisweilen auch einen „aktiven" Wunsch nach einer Sache bzw. danach, etwas zu tun ausgedrückt sieht, z.B. σ 164-5

(Pen.:) θυμός μοι έέλδεται, oü τι πόρος γ ε , μνηστήρεσσι φανήναι

Hes. Op. 3 8 1

σοί δ' ει πλούτου θυμός έέλδεται έν φρεσί σησιν.

Ich sehe nicht, warum man nicht statt „aktiver" Wunsch auch „Verlangen" sagen könnte. Welcher Art dieses Verlangen freilich ist, kann, wie ich glaube, kaum mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden. Mein Eindruck ist, daß (έ)έλδεσθαι oft als metrisch günstigere Variante für verschiedene andere Verben des Begehrens fungiert: In ο 66

μοι θυμός έέλδεται οί'καδ' ίκέσθαι

wird es praktisch wie λιλαίεσθαι für ein drängendes, ungeduldiges Verlangen verwendet.75 Im Sinne von ϊμείρειν steht es Ξ 276

Πασιθέην, ής τ' αυτός έέλδομαι ηματα π ά ν τ α 7 6

und - besonders klar erkennbar ε 209-10

ίμειρόμενός π ε ρ ίδέσθαι σήν δίλοχον, τ η ς τ' αίέν έέλδεαι ηματα πάντα.

Der Relativsatz in Vers 210 bringt gegenüber dem Vorhergehenden keine entscheidend neue Aussage, wenn man einmal von dem formelhaften ηματα πάντα absieht. Daher dürfte es schwerfallen, an dieser Stelle zwischen ίμείρεσθαι und (έ)έλδεσθαι einen eindeutigen semantischen Unterschied festzumachen.

75 Ebenso in a 164; vgl. α 3 1 5 λιλαιόμενόν ττερ ¿δοίο und ι 451 / ο 3 0 8 λιλαίομαι/ λιλαίεαι άττονέεσθαι. 76 Vgl. Ξ 163-4 εί πως Ιμείραιτο παραδραθέειν φιλότητι / fi χροιη und Stellen mit Υμερος wie Γ 139-40; der in einigen Handschriften und bei Eustathios belegte unechte Vers Ξ 269 entspricht Ξ 276, n u r daß statt des zu erwartenden έέλδεαι das metrisch unpassende Ιμείρεαι eingesetzt wurde (1-1).

4. (έ)έλδεσθαι

An

κεχρημένος

143

fühlt man sich bei

ξ 42-3

κείνος έελδόμενός που έδωδής πλάζετ(αι)77

erinnert. Offensichtlich für έπείγεσθαι (oder λιλαίεσθαι) tritt es im Sinne eines durchaus sehr aktiven räumlichen Strebens an der Stelle V 122 ein78, auf die ich noch näher eingehen werde. In den schon erwähnten Passagen σ 164-5 und Hes. Op. 381 79 wird έ έ λ δ ε τ α ι ganz wie das sonst mehrfach in dieser Funktion belegte, metrisch äquivalente έπέσσυται gebraucht. Man vergleiche I 398-400

ενθα δέ μοι μόλα ττολλόν έπέσσυτο θυμός ά γ ή ν ω ρ γ ή μ α ν τ α μνηστήν δλοχον έ ϊ κ υ ΐ α ν ακοιτιν κτήμασι τέρπεσθαι

sowie Ζ 3 6 1 und vor edlem A 1 7 3 , wo έ έ λ δ ε τ α ι sogar durch das zugehörige T-Scholion und durch einen Papyrus als antike Variante zu έπέσσυται bezeugt ist.80 Überhaupt fällt die verhältnismäßig große Zahl von Stellen auf, an denen Formen von (έ)έλδεσθαι variae lectiones zu anderen semantisch nahestehenden Ausdrücken sind:81 Für das semantisch wie etymologisch nahestehende (έ)έλπεσθαι steht (έ)έλδεσθαι dreimal (K 105, M 407, Ν 813)82, je einmal für έπείγεσθαι (M 374) und - wie gesehen - έπισσεύεσθαι (A 173), einmal sogar - in einem Zitat bei Platon (Legg. 706e) - statt έπικρατείν, was natürlich für die semantische Untersuchung belanglos ist (Ξ 98). Bemerkenswert scheint mir unter anderem die Tatsache zu sein, daß (έ)έλδεσθαι auch als varia lectio stets in seiner angestammten metrischen Position nach der Zäsur κ α τ ά τ ρ ί τ ο ν τ ρ ο χ α ΐ ο ν verwendet wird; ja ich möchte vermuten, daß die fast völlige Festlegung des Wortes auf diese eine Stelle im Vers (s.o.) überhaupt die Voraussetzung dafür ist, daß es so häufig als Variante in andere Passagen eindringen konnte.83 77 Bedürftig M. SCHMIDT, LfgrE; vgl. σίτου καί οίνου κεχρημένον υ 378, κομιδης κεχρημένοι ξ 124 usw. 78 So auch SCHMIDT, LfgrE. 79 - + S . 142. 80 Schol. Τ zu A 173b: γράφεται δέ καί „ή TOI θυμός έέλδεται"; P. Frelb. 5 (Mitteilungen aus der Freiburger Papyrussammlung 1. Literarische Stücke, hrsg. v. W. ALY, Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl. 1914, 2, S. 59-60). 81 S. SCHMIDT, LfgrE, Abt. „D". 82 Das sind drei von fünf Stellen bei Homer mit (έ)έλπεσθαι in der Position nach der Zäsur κατά τρίτον τροχαΐον. 83 Für das genannte Zitat bei Piaton (Ξ 98) hat J. LABARBE, L'Homère de Piaton, Lüttich 1949, die Bedeutung der Standard position von έέλδεσθαι, insbesondere des Partizips έελδομένοισι(ν), nach dem dritten Trochäus hervorgehoben (—> Anm. 3 und 70): La variante ¿ελδομένοισι (indique) une réminiscence des vers où

144

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

Betrachtet man nun die geradezu verwirrende Vielfalt der möglichen syntaktischen Verwendungsweisen und der semantischen Konnotationen, die (έ)έλδεσθαι bald in die Nähe von (έ)έλπεσθαι (als „passives" Ersehnen), bald zu so verschiedenen Verben wie λιλαίεσθαι, κεχρησθαι oder ϊμείρειν rücken, und vergegenwärtigt man sich auf der anderen Seite die sehr weitgehende Beschränkung auf eine einzige metrische Position, so kommt man kaum umhin, beides in einem Zusammenhang zu sehen: Mag (έ)έλδεσθαι vielleicht ursprünglich ein „passives " Ersehnen bezeichnet haben und auch in den meisten Fällen noch bezeichnen, worauf sein nominales Pendant έέλδωρ und die Verwandtschaft zu (έ)έλπεσθαι hindeuten 84 , so m u ß doch jeder Versuch, eine einheitliche Grundbedeutung festzustellen, die nicht auf den allgemeinsten Begriff des Begehrens oder Verlangens beschränkt bleibt, an der Bandbreite der mitschwingenden Nebenbedeutungen scheitern, die von „Hoffnung" über „Sehnsucht" bis zu „drängender Bewegung" reichen. Diese Konnotationen sind so disparat, daß ich große Zweifel habe, ob Homer und Hesiod selbst überhaupt noch genau wußten, was (έ)έλδεσθαι bedeuten sollte. Ich denke, daß dieses Wort seine Existenzberechtigung in der Sprache des frühgriechischen Epos nicht zuletzt aus seiner metrischen Valenz bezieht: Kein anderer Begriff des Verlangens - sieht man von dem nur bedingt synonymen έπείγεσθαι ab - ist an der wichtigen Position hinter der Zäsur κ α τ ά τ ρ ί τ ο ν τ ρ ο χ α ΐ ο ν nach einem Wort, das mit Konsonant endet, einsetzbar. Möglicherweise hatte sich der Sinn von (έ)έλδεσθαι schon lange so verdunkelt 85 , daß das nur mehr vage als verbum cupiendi zu klassifizierende, aber metrisch noch nützliche Wort je nach Bedarf im Sinne anderer, untereinander recht verschieden konnotiercette forme prothétique était employée après le troisième trochée (particulièrement H 4 et 7), S. 421; ausführliche Diskussion ebd. 243-245. Der inhaltliche Anstoß zu der Änderung von έττικρατέουσι in έελδομένοισι ging wohl von dem Wort εύκτά im gleichen Vers a u s (LABARBE 245). G. LOHSE. Untersuchungen über Homerzitate bei Platon. Diss. H a m b u r g 1960, 114-116 n i m m t an, d a ß Piaton d u r c h die T e x t ä n d e r u n g die ganze Passage seinem Beweisziel a n p a ß t , indem er d a s i h n störende έττικρατέουσιν eliminiert. Auch in diese Argumentation p a ß t es, d a ß der Ersatz, έελδομένοισι, sowohl inhaltlich gegenüber seiner Umgebung n a h e z u n e u tral ist (vgl. G.E. HOWES, Homeric Quotations in Plato and Aristotle, HSCPh 6 118951, 200) als a u c h metrisch b e k a n n t e n Mustern folgt. 8 4 Möglich ist immerhin a u c h , d a ß (έ)έλπεσθαι auf die Bedeutungsentwicklung d e s lautlich ähnlichen (έ)έλδεσθαι eingewirkt hat. 8 5 In vorhellenistischer Zeit k o m m t (έ)έλδεσθαι, soweit ich sehe, s o n s t n u r n o c h einmal bei Pindar (O. 1,4) vor, war also zu dieser Zelt längst kein lebendiger A u s d r u c k der gesprochenen Sprache mehr; zu der Möglichkeit, d a ß die Dichter selbst von ihnen verwendete Wörter nicht mehr verstanden h a b e n k ö n n t e n vgl. LEUMANN 32Iff.

4. (έ)έλδεσθαι

145

ter Wörter seines Feldes eintreten konnte, wann immer ein Verb des Verlangens mit der metrischen Valenz [- 1 -- (-)(-)] gefordert war. Ob die Tatsache, daß der Begriff des „passiven" Ersehnens, des „Wünschens" doch gegenüber dem „aktiven Verlangen" überwiegt, noch auf einem - wenn auch bereits abgeschwächten - ursprünglichen Verständnis von (έ)έλδεσθαι beruht oder ob sich diese Konnotation erst sekundär unter dem Einfluß von έ έ λ δ ω ρ oder (έ)έλπεσθαι herausbildete, vermag ich allerdings nicht zu entscheiden. 4.2.2. Zur sytaktischen Verwendung von

(έ)έλδεσθαι

Wenn es auch nicht gelungen ist, eine alle Stellen umfassende Grundbedeutung des Verbums (έ)έλδεσθαι zu ermitteln, so läj3t sich doch über seine Verwendung im Satz, also die syntaktische Seite, einiges sagen, was über die zum Teil unangemessene Gliederung von M. SCHMIDTS LfgrE-Artikel hinausgeht, der einige Male Zusammengehöriges trennt und tatsächlich Verschiedenes derselben Gruppe zuordnet. Eine Neugliederung muß von SCHMIDTS Unterpunkt 2 mit Infinitiv oderAcI ausgehen: Bei einem Verbum, das den Begriff des Wunsches in unserem Sinne mitumfaßt, ein Begehren also, dessen Erfüllung in fremden Händen liegt, ist es keine Überraschung, daß eine der möglichen Ergänzungen der Acl ist. 86 Mit all ihren Bestandteilen finden wir diese Konstruktion bei (έ)έλδεσθαι allerdings nur einmal, im 20. Buch der Odyssee, wo Telemachos bezeichnet wird als υ 35

π ά ϊ ς , οΤόν πού τ ι ς έ έ λ δ ε τ α ι εμμεναι υϊα.

Aber an einer ganzen Reihe von Stellen, die SCHMIDT unter la absoluter Gebrauch einordnet, lassen sich die erhofften Vorgänge so leicht aus den jeweiligen Subjekten und Prädikaten ergänzen, daß man statt von „absoluter" eher von „elliptischer" Verwendung sprechen sollte.87 Zwei Beispiele: Η 4-5

ώς δε θεός ναύτησιν έελδομένοισιν εδωκεν oöpov ( s c . έελδομένοισιν θεόν τινα οδρον σφίσι δούναι)

86 87

Mit (έ)ελδεσθαι teilt dieses Charakteristikum von den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Verben nur λιλαίεσθαι, vgl. α 15 usw. λιλαιομένη πόσιν είναι; υ 27. Siehe R M . FRAZER, Eurymachus' Question at Odyssey 1.409. CPh 6 8 (1973), 266.

146

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - «χρημένος/χρη{ζειν - χοτεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

φ 209

σφώϊν έελδομένοισιν ίκάνω (sc. έελδομένοισί με ¡κάνειν)

Auch an den anderen drei Stellen (H 7, μ 438, ω 400) ist das scheinbar absolute Dativpartizip zwanglos auf diese Weise zu interpretieren. Demnach wäre es logisch, SCHMIDTS Abteilungen la absolut, immer Dativ des Partizips und 2 mit Infinitiv oder Acl näher zusammenzurücken. Hiervon müßte die Konstruktion mit dem Genitiv sauber getrennt werden, da der Inhalt des Wunsches in keinem der (fünf) Fälle eine Handlung oder ein Vorgang ist.88 Mein vorläufiger Verbesserungsvorschlag für einen Lexikonartikel hätte demnach folgendes Aussehen: 1. Objekt des Wunsches ist eine Person oder Sache: (έ)έλδεσθαι mit Genitiv: Ξ 276, ε 210, ξ 42, Hes. Op. 381 2. Objekt des Wunsches ist ein Vorgang: a) mit Infinitiv: Ν 638, δ 162, ε 219, o 66, σ 164 b) mit Acl: υ 35 c) elliptisch: Η 4, Η 7, μ 438. φ 209, ω 400 Die fünf problematischen Stellen, die in dieser Gliederung fehlen, werde ich im folgenden ausführlicher behandeln und, wenn möglich, in den Zusammenhang des Systems einordnen.

a) E 481 und y 6 In seiner Gruppe lb faßt M. SCHMIDT alle seiner Meinung nach sicher identifizierbaren Fälle einer Kasusergänzung zu (έ)έλδεσθαι zusammen. Dabei stehen neben drei Stellen mit dem bei einem verbum cupiendi zu erwartenden Genitiv auch zwei Belege mit dem Akkusativ: Sarpedon wirft Hektor vor, die Vornehmen Trojas kümmerten sich weniger um die Verteidigung der Stadt als die Bundesgenossen (E 472ÍT.), etwa als er selbst, der doch aus dem fernen Lykien komme, E 480-1

ενθ' αλοχόν τε φίλην ελιττον καί νήττιον uióv, κάδ δέ κτήματα πολλά, τα ελδεται δς κ έττιδευής.

Euiykleia weckt Penelope, um ihr mitzuteilen, Odysseus sei zurückgekehrt: 88

Die (partitiven) Genitive sind: ής/τής (eine Frau) Ξ 2 7 6 / t 210, έδωδης ξ 42, πεΒίοιο V 122 (s. aber Kap. 4.2.2. c), πλούτου Hes. Op. 381.

4. (έ)έλδεσθαι

V 5-6

147

ε γ ρ ε ο , Πηνελόπεια, φίλον τέκος, δφρα ϊδηαι όφθαλμοΐσι τεοίσι τ ά τ' ελδεαι ηματα π ά ν τ α .

Der Akkusativ bei einem Verbum des Verlangens, zudem neben dem regulären Genitiv, wäre singulär, und als Ausnahme wurden die beiden eben angeführten Belege auch zumeist betrachtet. 89 Einfacher scheint es mir jedoch, mit FRAZER 90 die Konstruktion als elliptisch aufzufassen und jeweils einen Infinitiv zu ergänzen, von dem τ ά als direktes Objekt abhängt: Bei τά τ' ελδεαι (y 6) ist leicht ¡δέσθαι aus dem finiten Verbum ϊδηαι (5) mitzuhören; nur im Detail, nicht vom Prinzip schwieriger ist der Fall in E 481: J e nachdem, ob man was beides sehr gut möglich ist - κτήσασθαι oder κεκτήσθαι (aus κ τ ή μ α τ α , 481) ergänzen will, schließt man sich der Interpretation von L E A F oder A M E I S - H E N T Z E an. Im ersten Fall würde Sarpedon auf das Risiko hinweisen, das er eingegangen ist, als er seinen Besitz ungeschützt in Lykien zurückgelassen hat. Nach A M E I S - H E N T Z E will Sarpedon seine Güter nur als besonders begehrenswert beschreiben. 91 Eine eindeutige Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Lösung ist wohl kaum möglich. b) Π 494 In recht ungewöhnlicherweise wird (έ)έλδεσθαι an der Stelle im 16. Buch der Ilias verwendet, wo der sterbende Sarpedon seinen Kameraden Glaukon anfeuert: Π 494

vûv TOI έ ε λ δ έ σ θ ω πόλεμος κακός.

Wenn man gezwungen wäre, έελδέσθω als Passiv aufzufassen, wie das im allgemeinen geschieht 92 , dann hätte man prinzipiell auch mit einem transitiven Gebrauch von (έ)έλδεσθαι und demzufolge mit der Möglichkeit eines direkten Akkusativobjekts zu rechnen. Doch spielt bekanntlich das Passiv bei Homer noch eine sehr unterge-

8 9 S. KÜHNER-GERTH I 352; CHANTRA1NE, Gr. Η. II 4 6 und 54. 9 0 S . 266. 9 1 FRAZER 266 weist auf die überhaupt sehr elliptische Redeweise in E 481 hin: κάδ stands for κατέλιπον, and £ησι must be understood after ΰς κ'. 9 2 So L S J , PAPE, EBEUNG und die Kommentatoren, s. FRAZER 2 6 6 Anm. 21. Anscheinend hielt a u c h Eustathius έελδέσθω für eine Passivform: παθητικον ... τη φωνή καί τω σημαινομένω; allerdings gebraucht er παθητικός auch für d a s Medium, s. VAN DER VALK ZU Eust. 445,37f.; interessant ist die Paraphrase mit μελέσθω S. 890,3.

Z w e i t e r H a u p t t e i l : λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χ α τ ε ΐ ν / χ α τ ί ζ ε ι ν -

148

(έ)έλδεσθαι

ordnete Rolle93, und nur gelegentlich wird ein medium tantum (wie (έ)έλδεσθαι) passivisch verwendet, vorzugsweise dann, wenn es daneben ursprünglich auch aktive Formen desselben Verbums gab.94 Der Ausweg, daß (έ)έλδεσθαι zwar mit dem Genitiv stehen, aber ein persönliches Passiv bilden könnte, steht uns nicht zur Verfügung: Diese Erscheinung begegnet zuerst bei Thukydides.95 Die plausibelste Lösung scheint mir, έελδέσθω in Π 4 9 4 als intransitiv aufzufassen: Offenbar erfüllt es an unserer Stelle die Funktion von μέλειν/μέλεσθαι, das den gleichen Wechsel der Konstruktionen aufweist: Neben Ν 297

μέγα τττολέμοιο μεμηλώς

stehen z.B. Ζ 492

πόλεμος δ' ανδρεσσι μελήσει

und (medial) κ 505

μη τί τοι ήγεμόνος γε ποθή π α ρ ά νηΐ μελέσθω.

c) Υ 122 Keine andere Stelle stört die Vorstellung, (έ)έλδεσθαι bezeichne eher ein „passives" Ersehnen ( M . SCHMIDT) als ein aktives Verlangen, so sehr wie V 122, wo es im Sinne von Υεσθαι, έπείγεσθαι oder λιλαίεσθαι, mithin als „drängen, streben" erscheint: Maultiere schleppen Holz für den Scheiterhaufen des Patroklos von den Waldhöhen des Idagebirges in die Ebene: Y 121-2

ταί δέ ( s c . ήμίονοι) χθόνα ποσσί δ α τ ε ΰ ν τ ο έλδόμεναι πεδίοιο δια (!>ωπήϊα πυκνά. 9 6

Man hat zu fragen, warum gerade an einer Stelle, ein der dem Dichter ein Audruck wie ΐέμεναι97 zur Verfügung gestanden hätte, das reichlich unklare έλδόμεναι offenbar mit der sonst nicht belegten Konnotation des räumlichen Strebens erscheint. Was dieses Problem erst eigentlich interessant macht, ist der Umstand, daß 93

S. SCHWYZER II 239; H. JANKUHN, Die passive Bedeutung medialer Formen untersucht an der Sprache Homers, Göttingen 1969, 112, der έελδέσθω nicht berücksichtigt, wohl weil er es für keine eigentliche Passivform hält.

94

S . S C H W Y Z E R II 2 4 0 .

95

S . S C H W Y Z E R II 2 4 0 .

96 97

Désireuses de (gagner) la plaine C HANTRAI NE, Komm. z. St., zustrebend AMEIS-

HENTZE.

S . Λ 1 6 8 Ιέμενοι ττόλιος, κ 5 2 9 Ιεμενος ποταμοΐο

(¡οάων.

4. (έ)έλδεσθαι

149

tatsächlich ein Papyrus (P. Heidelb. 1264)98 aus der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. die Lesart ίέμεναι liefert und zugleich statt 99 πεδίοιο πεδίονδε aufweist. Das έλδόμεναι der Vulgata steht dabei als Variante über ίέμεναι. S. WEST 1 0 0 hält nun die Lesart des Papyrus für sekundär und vermutet, daß die Ersetzung von έλδόμεναι durch ίέμεναι notwendigerweise den Wechsel von πεδίοιο zu πεδίονδε nach sich gezogen habe. 101 In der Tat könnte πεδίοιο neben einem verbum movendi nur den Ort, nicht den Zielpunkt der Bewegung angeben: „in der Ebene (dahineilend)".102 Doch auch die umgekehrte Lösung wäre denkbar, wie sie A. DI Luzio vertritt 103 , der meint, daß die Lesart des Papyrus die ursprüngliche und mit der ausgedrückten Idee der Bewegung besser zu vereinbarende sei. Das δια ^ωπήϊα πυκνά, so DI LUZIO mit Recht, sei neben έλδόμεναι πεδίοιο nur schwer konstruierbar. Allerdings versäumt er zu erklären, wie sich das unproblematische ίέμεναι zu dem schwierigen έλδόμεναι verhält. Trotz aller Anstöße sollte man schon deswegen an der lectio diffìcilior έλδόμεναι festhalten und ίέμεναι als in den Text gelangte Vereinfachung betrachten. Für erwägenswert halte ich dabei jedoch auch die Lösung έλδόμεναι πεδίονδε, analog zu λ 2 2 3 φόωσδε λιλαίεο 1 0 4 : Die Ergänzung des neben διό (!>ωπήϊα πυκνά unentbehrlichen Infinitivs eines verbum movendi wird nun durch die Richtungsangabe πεδίονδε nahegelegt.

98

99

100 101

102 103 104

Die zusammengehörigen P. Grenfell 2,4; P. Hibeh 22; P. Heidelb. 1262-1266 wurden ediert von G.A. GERHARD, Griechisch (sol) literarische Papyri I. Ptdemäische Homerfragmente, Heidelberg 1911 u n d jetzt von S. WEST, The Ptolemaic Papyri of Homer, Papyrologica Coloniensia III, Köln - Opladen 1967. 136-191; in ALLENS Editio maior trägt dieser Papyrus die Nummer 12. Die L e s u n g von .Ιέ[μεν]αι ist n i c h t ganz sicher; d o c h GERHARDS (S. 92) π[ρήσσουσ]αι ist zu lang f ü r die Lücke und eine Alternative nicht in Sicht; eine Parallele zur Lesart des Papyrus ist h. Mere. 8 7 - 8 τον δέ γέρων ένόησε δέμων άνθοΰσαν άλωήν / Ιέμενον πεδίον δέ δι' Όγχηστόν λεχεποίην, wahrscheinlich a b hängig von der Iliasvariante. S. 173. Πεδίοιο u n d πεδίονδε w e r d e n öfter verwechselt: Φ 2 4 7 , X 4 5 6 , Ζ 393; vgl. GERHARD 92 u n d A. DI LUZIO, I papiri omerici d'epoca tolemaica e la costituzione del testo dell'epica arcaica, Rom 1969 (estratto da: Rivista di c u l t u r a classica e medievale 11 119691), 23f. S. CHANTRAINE, Gr. Η. II 58f. und KÜHNER-GERTH I 384f.; DI LUZIO 23; vgl. insbesondere V 4 7 5 πεδίοιο δίενται. S. 23f.; vgl. Ν. WECKLEIN, Die Homervulgata und die ägyptischen Papyrusfunde, RhM 74 (1925), 20. Anm. 23.

150

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηΐζειν - χβτεΐν/χατίζειυ - (έ)έλδεσθαι

d)a 409 In dem Ausdruck έόν α ύ τ ο ΰ χρείος έ ε λ δ ό μ ε ν ο ς (α 4 0 9 ) pflegte man bisher den dritten Fall - neben E 4 8 1 und y 6 , -> Kap. 4 . 2 . 2 . a) - der vermeintlichen Konstruktion „ ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι mit Akkusativ" zu sehen. 105 Mit den anderen Fällen - so viel steht von vornherein fest wäre α 409 aber auch dann nicht zu vergleichen, wenn das neutrale τ ά in E 4 8 1 und ψ 6 als direktes Objekt zu ε λ δ ε τ α ι bzw. ελδεαι aufgefaj3t werden könnte. Denn was sollte sein eigenes Bedürfnis begehrend ( A M E I S - H E N T Z E ) überhaupt heißen? SCHADEWALDT übersetzt ein eigenes Begehren zu betreiben, was M . SCHMIDT (LfgrE) zögernd übernimmt. Dahinter scheint die von A M E I S - H E N T Z E vertretene Ansicht zu stehen, έόν α ύ τ ο ΰ χρείος sei Akkusativ des Inhalts zu έ ε λ δ ό μ ε ν ο ς und der ganze Ausdruck bedeute in eigener Sache. Diese Interpretation könnte für sich genommen befriedigen, da ihr zufolge auch α 409 kein Beleg für transitives (έ)έλδεσθαι wäre.106 Zu Recht hat jedoch R.M. FRAZER107 auf ein interpretatorisches Problem hingewiesen, das zu einer Überprüfung dieser zunächst plausiblen Erklärung zwingt: Als Athene alias Mentes Telemachos verläßt, gibt sie ihm das Selbstvertrauen und die Zuversicht (α 320-1 τω δ' ένί θυμώ / θήκε μένος καί θάρσος), die er später brauchen wird, um auf die Suche nach seinem Vater zu gehen. Ein veränderter Telemachos tritt seiner Mutter (α 346-59) und insbesondere den Freiern gegenüber, die sich über sein ungewohnt sicheres Auftreten wundern und die Erklärung in dem Besuch des Fremden (Athene-Mentes) suchen. Einer der Freier, Eurymachos, fragt schließlich: α 405-11

α λ λ ' έ θ έ λ ω σε, φ έ ρ ι σ τ ε , περί ξείνοιο έ ρ έ σ θ α ι , ό π π ό θ ε ν ο ύ τ ο ς ά ν ή ρ · ποίης δ' έξ εύχεται είναι γ α ί η ς ; π ο ύ δέ νύ o¡ γ ε ν ε ή και π α τ ρ ί ς ä p o u p a ; ήέ τιν' ά γ γ ε λ ί η ν π α τ ρ ό ς φέρει έ ρ χ ο μ έ ν ο ι ο , ή έόν α ύ τ ο ΰ χρείος έ ε λ δ ό μ ε ν ο ς τ ό δ ' ¡κάνει;

410

οίον ά ν α ' ί ξ α ς α φ α ρ ο ϊ χ ε τ α ι , ούδ' ϋπέμεινε γ ν ώ μ ε ν α τ ού μεν γ ά ρ τι κ α κ ώ εις £>πα έωκει.

Die ebenfalls sieben Verse lange Antwort des Telemachos geht auf alle angesprochenen Punkte ein: 105 So LSJ, PAPE s.v. ¡ίλδομαι; KÜHNER-GERTH I 352; S. WEST, Komm, zu α 409. 106 Z u m Akkusativ des Inhalts bei intransitiven V e r b e n vgl. KÜHNER-GERTH I 3031Γ., insbesondere 304: Ob das Intransitiv mit dem Genetive oder Dative verbunden wird, ist gleichviel, als: ΐρωτα ipâv, άπειλεϊν άτκιλάς. 107 - > Anm. 87.

4 . (έ)έλδεσθαι

α

413-9

415

151

Εύρύμαχ', fj TOI νόστος άπώλετο πατρός έμοΐο· OUT' οΟν άγγελίη ετι πείθομαι, εϊ πόθεν ελθοι, οϋτε θεοπροπίης έμπάζομαι, ην τινα μήτηρ ές μέγαρον καλέσασα θεοπρόπον έξερέηται. ξεΐνος δ' οδτος έμός πατρώϊος εκ Τάφου εστί, Μέντης δ' Άγχιάλοιο δαΐφρονος εύχεται εΤναι υιός, άτάρ Ταφίοισι φιληρέτμοισιν άνάσσει.

hat nun Anstoß daran genommen, daß die Verse 415-6 eine negative Antwort auf eine Frage enthalten, die Euiymachos scheinbar gar nicht gestellt hat. Da man aber annehmen sollte,

FRAZER108

daß das ήέ ... ή (408-9) der Frage mit dem οϋτε ... οϋτε (414-6) der

Antwort korrespondiert, und da sich die Verse 408 und 414 auch tatsächlich klar entsprechen („bringt er eine Nachricht?" - „ich glaube keiner Nachricht mehr"), erwartet man, daß sich die Aussage des Telemachos, er gebe nichts auf Prophezeiungen, auf eine vorangegangene Frage „Bringt er eine Prophezeiung?" bezieht. 1 0 9 Das hätte im Munde eines Freiers, der den Grund für das selbstsichere Verhalten des Telemachos erfahren will, auch mehr Sinn als die blasse Frage, ob der Fremde „in eigener Sache" gekommen sei. Das Problem ist m.E. von FRAZER richtig gesehen worden, seine Lösung hingegen überzeugt nicht ganz: Er will έελδόμενος als Passiv und χρεΤος als prophecy verstehen. 110 Meine Vorbehalte gegen die Auffassung von έελδέσθω (Π 494) als Passiv habe ich bereits in Kapitel 4.2.2. b) dargelegt.111 Für ganz unwahrscheinlich halte ich aber besonders die Interpretation von έόν αύτοΰ χρείος als a prophecy of his owrc An der entscheidenden Parallelstelle β 42-5 1 1 2 antwortet Telemachos auf die Frage, ob er die Rückkehr des Heeres oder etwas anderes von öffentlichem Interesse vor der Volksversammlung bekanntgeben wolle (τι δήμιον, β 44), er werde „in eigener Sache" sprechen (έμόν αύτοΰ χρείος, Β 45). FRAZERS Ansicht, mit χρείος sei die prophecy der Verse 138-45 gemeint, scheint mir doch angesichts der hier von Telemachos offensichtlich intendierten Gegenüberstellung von Staats- und Privatangelegenheiten wenig einleuchtend. Wenn χρεΐος in α 409 aber nicht „Prophezeiung" heißt, wie muß dann der Vers verstanden werden, damit begreiflich wird, warum

108 S. 260. 1 0 9 E i n e s e h r ä h n l i c h e Korrespondenz gibt e s zwischen β 3 0 - 2 u n d 4 2 - 5 : ήέ τιν' άγγελίην ... ήέ τι δήμιον άλλο ... - οϋτε ... οϋτε ... &λλ" έμόν αύτοΰ χρεΐος, —» S . 1 5 3 . 1 1 0 FRAZER 2 6 0 . 111 FRAZER 266 zitiert Π 494 als Parallelstelle. 1 1 2 - > Anni. 1 0 9 .

152

Zweiter Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρημένος/χρηίζειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)ελδεσθαι

Telemachos mit den Worten οϋτε θεοπροπίης έμπάζομαι ... (α 415-6) darauf eingeht? Ich meine, daß AMEIS-HENTZE und auch FRAZER113 recht haben, έόν αύτοΟ χρείος als Akkusativ des Inhalts zu έελδόμενος aufzufassen und nicht als direktes Objekt. Damit aber bleibt die Möglichkeit offen, da$ auch an dieser Stelle eine elliptische Verwendung von (έ)έλδεσθαι in seiner bekannten Bedeutung „wünschen" vorliegt. Wenn wir zu έελδόμενος (α 409) aus dem π α τ ρ ό ς έρχομένοιο des vorangehenden Verses ein π α τ έ ρ α ερχεσθαι ergänzen, ergibt sich ein hervorragender Sinn: Euiymachos ahnt, daß das plötzliche selbstbewußte Aufbegehren des Telemachos nach dem Besuch des Fremden mit Odysseus zu tun haben muß: Seine Frage an Telemachos ist daher weniger, ob der Gast wegen einer Nachricht über Odysseus oder einer Privatangelegenheit gekommen sei, als vielmehr, ob die Information, die Telemachos offensichtlich über die Ankunft seines Vaters erhalten habe, auf sicherer Kunde beruhe oder dem Wunschdenken des Fremden selbst entsprungen sei: „Bringt er eine (sichere) Botschaft, daß dein Vater auf dem Heimweg ist, oder ist das (sc. π α τ έ ρ α ερχεσθαι) eine Wunschvorstellung auf eigene Rechnung, mit der er hierher114 kommt?" Diese Frage steckt, wie schon der erste Teil der Rede des Euiymachos (400-4), voller Hohn auf Telemachos, der sich so plötzlich anheischig macht, die Zügel in seinem Haus in die Hand zu nehmen: Viele Boten und viele Wahrsager sind schon gekommen, nie hat sich ihre Nachricht bestätigt oder ihre Voraussage bewahrheitet, wie auch Telemachos sagt (414-6); daher die spöttische Frage des Euiymachos, von welcher Sorte die erlösende Information denn diesmal gewesen sei, von der „sicheren" oder der prophetischen. Auch hier gilt, was M. MÜLLER115 an der Freierrede α 384-7 festgestellt hat: Was hier ironisch gemeint ist, trifft ins Schwarze. Es läßt sich noch oft beobachten, daß die Freier etwas sagen, ohne zu wissen, wie recht sie damit haben, und daß es sich in der Tat so verhält: In immer neuer Steigerung wird damit ihre Verblendung demonstriert

113 S. 260. 114 Τόδε ist inneres Objekt zu Ικάνει, KÜHNER-GERTH I 3091".; wie es vor den Augen der Anwesenden erfolgt ist: „kommt daher", AMEIS-HENTZE; s. etwa Ξ 298, 309, κ 75, ρ 444 u.a. 115 M. MÜLLER, Athene als göttliche Helferin in der Odyssee, Heidelberg 1966, 39.

4. (έ)έλδεσθαι

153

Beides, Nachricht und Prophezeiung, hat Athene-Mentes gebracht, für Telemachos nunmehr durchsichtig, da er die Göttin erkannt hat ( ό ί σ α τ ο γ α ρ θεόν εΤναι, α 323; φρεσί δ' άθανάτην θεόν εγνω, α 420): α 194-205 195

δή γ ά ρ μιν ε φ α ν τ ' έπιδήμιον εΐναι, σον πατέρ'· α λ λ ά vu τόν γε θεοί βλάπτουσι κελεύθου. ού γ ά ρ πω τέθνηκεν επί χθονί δίος 'Οδυσσεύς, άλλ' ετι που ζωός κατερύκεται εύρέϊ πόντω, ν ή σ φ έν άμφιρύτη, χαλεποί δέ μιν άνδρες εχουσιν, άγριοι, οϊ που κείνον έρυκανόωσ' άέκοντα - die ά γ γ ε λ ί η π α τ ρ ό ς έρχομένοιο!

200

205

α ύ τ α ρ νΰν τοι εγώ μ α ν τ ε ύ σ ο μ α ι , ώ ς έ ν ί θυμώ αθάνατοι βάλλουσι καί ώς τελέεσθαι ό ΐ ω , οϋτε τι μάντις έών οϋτ' οιωνών σ ά φ α είδώς. ου τοι ετι δηρόν γε φίλης ά π ό πατρίδος αΐης εσσεται, ούδ' ει' πέρ τε σιδήρεα δέσματ' εχησι· φ ρ ά σ σ ε τ α ι ώς κε νέηται, έπε! πολυμήχανος έστιν

- die Prophezeiung! 116 Telemachos antwortet Euiymachos mit Nachdruck (Ή TOI), aber wider besseres Wissen, sein Vater könne nicht mehr nach Hause zurückkehren (α 413), und er glaube deshalb weder an Nachrichten noch an die Prophezeiungen, die sich seine Mutter bei irgendwelchen θεοπρόποι bestelle. Dieser Besucher sei aber ein Gastfreund seines Vaters gewesen, keiner der üblichen θεοπρόποι. Frage und Antwort sind in dieser Passage nach dem gleichen Muster aufgeteilt wie an der vergleichbaren Stelle β 30-2/42-5: Einer Doppelfrage mit ήέ ... ήέ entspricht die negative Antwort ούτε ... οϋτε, der dann die positive adversativ (mit δέ, α 417, bzw. άλλά, β 45) entgegengestellt wird.

116 Sehr schön hat K. RÜTER, Odysseeinterpretationen, Göttingen 1969. 135f., auf die Verflechtung von Wirklichkeit und Schein in den Worten von Athene-Mentes hingewiesen, die, obwohl in fast allen Punkten der Wahrheit entsprechend, für Telemachos zunächst doch nur die trostreichen Vermutungen des Gastes sind, auch das μαντεύσομαι des Verses 200. Was RÜTER nicht sagt: Mit der Erkenntnis, daß Mentes in Wirklichkeit Athene war, muß Telemachos auch der wahre Gehalt ihrer Worte klargeworden sein.

154

Z w e i t e r Hauptteil: λιλαίεσθαι - κεχρη μένος/χρηΐ£ειν - χατεΐν/χατίζειν - (έ)έλδεσθαι

e) Zusammenfassung Die eingehende Behandlung der fünf schwierigsten Stellen hat gezeigt, daß zumindest drei davon (E 481, y 6; α 409) mit einiger Zuversicht in bekannte Schemata einzuordnen sind (elliptische Verwendung, 2c) und daß es keinen zwingenden Grund gibt, eine Konstruktion „ ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι mit direktem Akkusativobjekt" anzunehmen. Zu diesen drei Stellen könnte sich Y 122 hinzugesellen, wenn man π ε δ ί ο ν δ ε statt des π ε δ ί ο ι ο der Vulgata liest, was die Schwierigkeit beseitigt, in έ λ δ ό μ ε ν α ι den Begriff der Bewegung suchen zu müssen, der von dem Ausdruck δια £ ω π ή ϊ α πυκνά gefordert wird. Ein Sonderfall wird έ ε λ δ έ σ θ ω in Π 4 9 4 bleiben, auch wenn man nicht annehmen muß, daß hier ein passiver Gebrauch des Verbums vorliegt. Wenn ich also meine, das allzu unklare Bild, das der LfgrE-Artikel von M. SCHMIDT über die vielfältigen syntaktischen Verwendungsmöglichkeiten von ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι zeichnet, etwas vereinheitlicht und geordnet zu haben, so gilt dies in wesentlich geringerem Umfang für die semantische Seite. Läßt sich auch ein gewisser Schwerpunkt bei der Bedeutung „wünschen, (passiv) ersehnen" ausmachen, so kann doch ( έ ) έ λ δ ε σ θ α ι auch die Funktionen anderer so unterschiedlicher Begriffe wie ΐμείρειν, λ ι λ α ί ε σ θ α ι , κ ε χ ρ ή σ θ α ι , μέλειν übernehmen, möglicherweise deswegen, weil seine ursprüngliche Bedeutung schon früh verdunkelt war und das Wort so als metrisch verschiedene, aber bedeutungsgleiche Variante zu anderen Verben interpretiert werden konnte.

Schlußbetrachtung Sieben Wörter und ihre Ableitungen sind in dieser Untersuchung ausführlich daraufhin geprüft worden, ob sie in der Sprache des frühgriechischen Epos dem Wortfeld „Verlangen, Begehren" angehören und was gegebenenfalls jeden Begriff von den anderen dieses Feldes unterscheidet. In einem ersten Schritt konnte die von Piaton im Sinne eines Wortfeldes unter dem Archilexem επιθυμία konstituierte Trias ερως ίμερος - πόθος nicht aufrechterhalten werden: πόθος/ποθή/ποθείν sind weder semantisch noch syntaktisch mit ερος/ερως/ερασθαι und "μερος/ϊμείρειν zu vergleichen, die eindeutig dem Wortfeld „Verlangen" zugeordnet werden können. Das Verhältnis der anderen vier analysierten und möglicherweise weiterer in dieser Untersuchung aus methodischen Gründen unberücksichtigt gebliebener Wörter zu ερος, ίμερος und deren Ableitungen läßt sich dagegen hauptsächlich im Bereich der Semantik feststellen. Während κεχρημένος/χρηΐζειν und χατεΐν/χατίζειν nicht im eigentlichen Sinne als Verben des Verlangens betrachtet werden können, weil sie - etwas vereinfacht gesagt - lediglich seine o b j e k t i v e Negativseite („einer Sache ermangeln") bzw. die o b j e k t i v e Positivseite („auf jemanden oder etwas angewiesen sein") erfassen 1 , so erweisen sich λιλαίεοθαι und (έ)έλδεσθαι insofern als Begriffe des Verlangens, als sie, wie ερασθαι und ¡μείρειν, ein s u b j e k t i v e s , zielgerichtetes Interesse ein einer Person, einer Sache oder einem Vorgang bezeichnen. Dennoch muß man auch hier zumindest für die homerischen Epen noch weiter unterscheiden: 1.

Ίμερος/ίμείρειν und ερος/ερως/ερασθαι bezeichnen zwei verschiedene A s p e k t e des einen Phänomens „Verlangen": das Verlangen als Faszination, als Inanspruchnahme der geistigseelischen Funktionen durch einen von außen an den Menschen hereintretenden Reiz (Υμερος) und das Verlangen als Trieb, als Grundkonstante des menschlichen Innenlebens (ερος). Für ερως gelten bei Homer noch besondere Regeln, von denen bei Hesiod und in den Hymnen nichts mehr zu sehen ist. Dort kann ερος/ερως, wenn es nicht in der homerischen Wendung έξ ερον είναι/εσθαι vorkommt, eigenartig verschwommene Konturen

1

Vergleichbar sind lat. carere f ü r κεχρημένος/χρηίζειν und egere f ü r χατεΐν/χατίζειν.

156

Schlußbe trachtung

bekommen; ich erinnere hier besonders an die zwei Belege im Hermeshymnus. 2. Λιλαίεσθαι und (έ)έλδεσθαι - letzteres einmal als „wünschen" aufgefaßt - meinen dagegen A r t e n des Verlangens, Arten zu verlangen: das drängende, ungeduldige, auch als aufdringlich empfundene Verlangen (λιλαίεσθαι) und das passive Verlangen, auf dessen Erfüllung das Subjekt keinen Einfluß hat ([έ]έλδεσθαι).

Hierbei ist es nun wichtig zu erkennen, daß, wenn von .Arten" des Verlangens gesprochen wird, damit immer schon eine Entfernung vom Zentrum des Begriffs, wie er von ερασθαι und ίμείρειν gebildet wird, ausgedrückt ist. So nähert sich λιλαίεσθαι den Verben des Wollens, zumal denen, die in einigen wenigen Fällen auch den Genitiv zu sich nehmen (wie μέμαα), und (έ)έλδεσθαι ist bisweilen von (έ)έλπεσθαι kaum zu unterscheiden, abgesehen davon, daß es je nach Kontext auch andere Arten des Verlangens bezeichnen kann. Die Bedingung, daß ein Verbum des Begehrens mit dem Genitiv stehen sollte, hat sich in unserem Zusammenhang als sinnvoll erwiesen, und zwar sowohl in Hinsicht auf eine notwendige Beschränkung in der Zahl der zu untersuchenden Wörter als auch wegen ihrer Objektivität. Daß diese Bedingung nicht völlig genügte, um allenfalls sehr am Rande des Wortfelds „Verlangen" liegende Wörter wie κεχρημένος und χατεΐν von vornherein auszublenden, konnte sicherlich in Kauf genommen werden, da die Außengrenzen des Wortfeldes j a selbst erst ermittelt werden sollten. Die wichtige Frage nach den Außengrenzen des untersuchten Feldes führt auf methodisch interessantes, aber schwieriges Terrain. Wir sahen, daß bei der Definition der Grenzen des abgesteckten Wortfeldes „Verlangen/Begehren" in der Regel semantische Kriterien wie Objektivität/Subjektivität usw. ausreichten. An anderer Stelle genügt ein nur auf der Bedeutung aufgebauter Wortfeldbegriff den Anforderungen nicht mehr: Um die große Gruppe der Verben des Wollens von der Betrachtung auszuschließen, mußte ein syntaktisches Kriterium herangezogen werden, die Unterscheidung zwischen Verben mit Genitiv und solchen mit Infinitiv. Man könnte sich nun damit begnügen, Verben wie λιλαίεσθαι, die beide Konstruktionen kennen, in eine Grauzone zwischen „begehren" und „wollen" einzuordnen. Doch gerade dieses für ein einzelnes Feld besonders adäquate Modell eines Wortfeldkerns mit einer eher intuitiv erfaßten Peripherie ruft im größeren Kontext einiges Unbehagen hervor, ist es doch sehr wenig geeignet, Aussagen über das Verhältnis eines Wortfeldes zu anderen zu ermöglichen. Genau das ist

Schluß be trachtung

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aber wünschenswert, will man die TRiERSche Forderung nach einer

diachronen Betrachtung von Wortfeldern, die allein erst das volle Verständnis der zugrundeliegenden Strukturen schaffen kann, nicht aus den Augen verlieren: Ein Wortfeld kann seine Binnengliederung verändern2, aber auch seine Außengrenzen, die man mithin präziser erfassen sollte, als es ein Modell vermag, das mit Schwarz- und Grauabstufungen, mit Kernbereich und Peripherie operiert. Es scheint daher zweckmäßig, auf Elemente der Merkmalanalyse zurückzugreifen, wie sie in der strukturellen Semantik üblich ist. Leider ergeben sich auch hier nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten, die in der Eigenart des zu betrachtenden Wortschatzausschnittes und nicht zuletzt in der Tatsache, daß es sich um griechische Wortfelder handelt, begründet liegen. Grundsätzlich wäre es nämlich begrüßenswert, wenn sich Merkmale in der Weise gewinnen ließen, die K . BAUMGÄRTNER3 in einer bekannten Untersuchung vorgezeichnet hat: Im Falle eines Verbums etwa werden Sätzen, die dessen minimale kontextuelle Anforderungen (z.B. Sbj: Person; Dir: Ebene υ Raum)4 erfüllen, Paraphrasen gegenüberstellt, deren überschießender adverbialer Bestandteil als Merkmal dieses Verbums in die Metasprache aufgenommen wird. Ein Beispiel: - Der Mann l ä u f t über die Straße. - Der Mann g e h t s c h n e l l über die Straße. „Laufen" ist damit (au ßer durch das noch weiter analysierbare GEHEN) durch das Merkmal SCHNELL charakterisiert. Leider zeigt eine der Stärken dieses Ansatzes, der unmittelbare Rückgriff auf die Kompetenz des Sprechers zum Zwecke der Entwicklung eines Merkmalvorrats, zugleich die Problematik seiner Anwendung auf das Griechische: Wir müßten eine Metasprache aus Begriffen des frühgriechischen Epos erstellen, ein ebenso schwieriges wie unzweckmäßiges Unterfangen; denn die Merkmalanalyse kann ihrem Wesen nach einer semasiologischen Fragestellung weder vorangehen noch begleitend zu ihrer Beantwortung eingesetzt werden, sondern bedarf selbst als Voraussetzung der vollständigen Beherrschung der Wortschatzstrukturen, zu deren Erhellung sie herangezogen wird. Davon aber kann im Falle der homerischen Sprache nur sehr bedingt die Rede sein. Und selbst 2 3

4

S. LYONS 256. Die Struktur des Bedeutungsfeldes, in: Satz und Wort im heutigen Deutsch, Jahrbuch 1965/66, Düsseldorf 1967, 165-197. BAUMGÄRTNER I79f.

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wenn unsere Sprachkompetenz für eine Merkmalanalyse ausreichte, wäre die gewonnene Begrifflichkeit für unseren beabsichtigten Vergleich (etwa mit dem Prosagriechisch des 5./4. Jahrhunderts) ganz ungeeignet. Wenn ich also im folgenden die Merkmalanalyse weitgehend mit Begriffen der deutschen Sprache durchführe, bin ich mir der Gefahren dieser Vorgehensweise bewußt; andererseits besteht darin die einzige Möglichkeit, zwischen so verschiedenartigen Erscheinungsformen des Griechischen wie der homerischen Kunstsprache und der klassischen Prosa, insbesondere dem Attischen, zu vermitteln. Wenn wir gerade diese beiden Komplexe zum Vergleich auswählen, dann sollte klar sein, daß wir nur sehr bedingt Wortfeldgeschichte im Sinne T R I E R S schreiben: Voraussetzung dazu wäre ja ein enger Zusammenhang der beiden Sprachstufen, d.h. eine weitgehend kontinuierliche Entwicklung der einen aus der anderen. Davon kann bekanntlich im Falle der epischen Dichtersprache und der attischen Prosa nur in dem einen, sehr eingeschränkten Sinne die Rede sein, daß die homerischen Epen und ihre Sprache zum selbstverständlichen Bildungsgut aller folgenden Epochen gehörten und auch im Wortschatz anderer Dialekte späterer Zeit ihre Spuren hinterließen. Doch zurück zu der Frage, die den Ausgangspunkt dieser theoretischen Überlegungen bildete: Gibt es eine Möglichkeit, die Außengrenzen des Wortfelds „Verlangen/Begehren" insbesondere gegenüber „Wollen" genauer zu beschreiben?5 Und wie verhält sich in einem solchen Modell ein Verb wie λιλαίεσθαι? Ein Sprecher des Deutschen könnte hier durch die Verhältnisse in seiner Sprache leicht zu falschen Schlüssen auf das homerische Griechisch verleitet werden: „Begehren" und „wollen" können im Deutschen jeweils den Akkusativ wie auch den Infinitiv zu sich nehmen,6 womit das Schwergewicht einer Differenzierung zwischen den beiden Verben auf der semantischen Seite liegen dürfte. Aber auch hier werden die Gemeinsamkeiten größer sein als die Unterschiede. Der Sprachge-

5

6

Es kann hier nicht darum gehen, alle Implikationen des griechischen Willensbegriffs zu berücksichtigen; dies wäre Thema einer anderen Untersuchung (s. dazu A. DIHLE, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985 |zu βούλεσθαι und (έ)θέλειν lnsbes. S. 31-331). Vielmehr ist nach einer einfachen und praktikablen Abgrenzung zu suchen, die auch auf sinnvollen, nicht weiter zu untersuchenden Grundannahmen beruhen darf, etwa der, daß βούλεσθαι und έθέλειν die repräsentativen Vertreter des Wortfeldes »wollen" sind. Daß .wollen" + Inf. Modalverb ist und ohne „zu" gebraucht wird, ändert grundsätzlich nichts an der Ähnlichkeit der Konstruktionen, wenn auch dieses Merkmal eine Feinunterscheidung ermöglicht.

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Schlußbe trachtung

brauch Homers ist indes sehr viel klarer: Das Verbum έθέλειν 7 steht nie mit dem bloßen Akkusativ der Person oder Sache im Sinne von „besitzen wollen" wie im Deutschen, sondern ist reines Modalverb mit Infinitiv. Das bedeutet, daß jeder Versuch, etwa ΐμείρειν mit Genitiv als „begehren, verlangen" in bewußten Gegensatz zu „wollen" zu bringen, vom Standpunkt des Griechischen, den wir ja einnehmen müssen, unsinnig ist oder jedenfalls nicht mehr erbringen kann als eine Antwort auf die Frage nach der besten deutschen Übersetzung für ΐμείρειν τ ι ν ό ς . Aufmerksamkeit verdienen dagegen diejenigen Verwendungsweisen der Verben des Begehrens, die mit έθέλειν + Infinitiv konkurrieren, und zwar: -

ίμείρειν/-εσθαι + I n f .

-

λιλαίεσθαι + I n f .

-

(έ)έλδεσθαι + l n f . 8

Zum Unterschied zwischen έθέλειν und MATTHIESSEN in seinem LfgrE-Artikel έθέλειν:

(έ)έλδεσθαι

bemerkt K.

Die durch έθέλω bezeichnete Regung ist, anders als bei έέλδομαι, punktuell oder zeitlich kurz bemessen, Jedenfalls langdauerndes έθελω nirgends erwähnt Es scheint allerdings angesichts solcher Stellen wie σ 164-5

θυμός μοι έέλδεται, ου τ ι π ά ρ ο ς γ ε , μνηστήρεσσι φανηναι

(spontaner Impuls!)

sehr zweifelhaft, ob eine derartige Differenzierung in den Rang eines Merkmals erhoben werden kann, zumal sich das Verbum (έ)έλδεσθαι, wie gesehen, jedem Versuch einer genauen Bestimmung seines semantischen Grundwertes entzieht. An den fünf Stellen, an denen es mit Infinitiv oder Acl gebraucht wird, kann ich über den von MATTHIESSEN angenommenen Bedeutungsunterschied hinaus keine Differenz zu έθέλειν entdecken. Eine unvoreingenommene (d.h. alle Erkenntnisse über ϊμερος unberücksichtigt lassende) Betrachtung von ίμείρειν/-εσθαι + Inf. kann eigentlich nur das gleiche Ergebnis erbringen, da die Zahl der relevanten Stellen9 zu niedrig ist, als daß man Differenzierungen wagen könnte. Selbst wenn wir mit Hilfe des Substantivs Υμερος die 7 8 9

D a s a n d e r e attische Standardverb mit der Bedeutung .wollen", βούλεσθαι, heißt bei Homer stets lieber wollen, s. R. NEUBERGER-DONATH, Die Bedeutung von βούλομαι bei Homer, Grazer Beiträge 3 (1975). 263-275; LfgrE s.v. χατεΐν/χοτίζειν + Inf. k a n n hier a u ß e r Betracht bleiben, d a es offenbar weder „wollen" noch „begehren" bedeutet; ερασθαι + Inf. kommt bei Homer nicht vor. o 59, Ξ 163, ε 209, dazu κ 431 (vgl. S. 46 mit Anm. 95).

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differentia specifica zu έθέλειν gefunden haben, ist die Zugehörigkeit zu demselben Feld dennoch nicht mit guten Gründen in Zweifel zu ziehen. Ebenso definiert sich λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Inf. durch die Merkmale WOLLEN und HEFTIG oder UNGEDULDIG. Dagegen können nach dem an BAUMGÄRTNER angelehnten Wortfeldkonzept, das die jeweiligen Kontextbedingungen mitberücksichtigt,10 (έ)έλδεσθαι, ίμείρειν und λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Genitiv nicht mit έθέλειν zusammengerückt werden. Es mag zunächst wenig einleuchtend erscheinen, daß auf diese Weise z.B. λ ι λ α ί ε σ θ α ι ττολεμίζειν mit έ θ έ λ ε ι ν zusammengestellt, aber von λ ι λ α ί ε σ θ α ι π ο λ έ μ ο ι ο getrennt wird (das wiederum mit ίμείρειν τ ι ν ό ς zusammengehört). Der Vorteil dieses nur scheinbar willkürlichen Verfahrens liegt aber auf der Hand: Die Grenzlinie zwischen deutsch ausgedrückt - „wollen" und „begehren" konnte so lange nicht gezogen werden, wie man pauschal ganze Lexeme, nicht deren einzelne Bedeutungen unter Einschlug der Kontexttypen (s.o.) in Felder einzuordnen versuchte. Das zugespitzte Entweder-Oder bei der Zuweisung eines Lexems an das eine oder andere Wortfeld verliert bei der Betrachtung von Bedeutungen in diesem Sinne an ganz unnötiger Schärfe.11 Es sollte hervorgehoben werden, daß die vorgestellte Analysemethode nicht den Lexembegriff an sich modifizieren soll: λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Infinitiv und λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Genitiv bleiben natürlich über das Lexem λ ι λ α ί ε σ θ α ι aufs engste miteinander verbunden (zwischen λ ι λ α ί ε σ θ α ι π ο λ ε μ ί ζ ε ι ν und λ ι λ α ί ε σ θ α ι π ο λ έ μ ο ι ο gibt es ja keinen sichtbaren semantischen Unterschied). Die Ergebnisse der semantischen Analyse von λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Genitiv kommen daher auch der wortfeldinternen Unterscheidung von λ ι λ α ί ε σ θ α ι + Infinitiv und έ θ έ λ ε ι ν zugute usw. Wichtige Hinweise können auch direkt verwandte, d.h. derselben Wortfamilie zugehörige Wörter geben, wie oben am Beispiel ίμείρειν/-εσθαι (das durch Υμερος erhellt wird) angedeutet. Eine Wortfeldanalyse, die den Kontextaspekt berücksichtigt, führt also nicht 10 Vielleicht sollte man hier nicht mehr von „Wortfeld" sprechen, obwohl es schwierig ist, einen passenden ErsatzbegriiT vorzuschlagen. „Semantisches Feld" ist jedenfalls neutraler und vermeidet die mit dem Begriff „Wort" verbundenen terminologischen Probleme. 11 Prof. Dr. M. Schlaefer, mit dem ich ein aufschlußreiches und ermutigendes Gespräch über Wortfeldforschung hatte, schlägt vor, in solchen Fällen, wo die Differenzierung nur über syntaktische Kriterien möglich ist, von „Teilfeldern" zu sprechen. Diese Terminologie scheint sehr hilfreich zu sein bei dem Versuch, das Scheinproblem der Unterscheidung zwischen „begehren" und „wollen" in den Griff zu bekommen.

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zu einer Atomisierung oder unsinnigen Aufteilung des Wortschatzes, da die mehrfache Verankerung eines Wortes - als Lexem mit seinen verschiedenen Bedeutungen - kontexttypweise in verschiedenen (Wort-/semantischen) Feldern - semantisch unter seinen Verwandten („Wortfamilie") seine Position im Wortschatz adäquat zu beschreiben erlaubt. Unter Berücksichtigung aller Grenzen, an die eine Anwendung moderner Analysemethoden von Wortschatzausschnitten auf unseren Fall stößt, sollen im folgenden 1. die Substantive 2. die Verben mit Genitiv des in dieser Arbeit untersuchten Wortschatzausschnittes jeweils untereinander in Beziehung gesetzt werden. Einige der unter 2. behandelten Lexeme gehören, wenn sie mit Infinitiv konstruiert werden, auch zum Wortfeld „wollen" (s.o.). Eine auch nur oberflächliche Analyse dieses Feldes ist in diesem Rahmen unmöglich: Die lange Liste der Ausdrücke des Wollens und Nichtwollens bei KÜHNERG E R T H 1 2 zeigt, wie viele Verben aus anderen semantischen Bereichen den Infinitiv annehmen und dadurch in das Wortfeld „wollen" eindringen. Es soll nun betrachtet werden, wie der so definierte Wortschatzausschnitt a) im homerischen Griechisch b) in der attischen Prosa der klassischen Zeit repräsentiert ist. Ein Seitenblick auf die ionische Prosa des 5. und 4. Jahrhunderts wird gelegentlich von Interesse sein. Die Schemata, die dabei gegeben werden, dienen in erster Linie der Veranschaulichung von Beziehungen zwischen bestimmten wichtigen Lexemen. Sie sind daher nicht notwendigerweise vollständige Beschreibungen der jeweiligen Wortschatzausschnitte. Liest man also ein Schema von oben nach unten, dann wird man bemerken, daß sich an manchen Stellen durch Einführung weiterer Merkmale bisher unberücksichtigte Lexeme einfügen ließen. Ein Oberbegriff'kann also bisweilen mehr enthalten als die tatsächlich unter ihm subsumierten Unterbegriffe, ohne daß auf eine solche „Lücke" eigens hingewiesen wird.

12 II 6.

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1. Die Substantive13 a) homerisch (geistiges Abzielen)

(passiv)* Wunsch

(aktiv)** Verlangen

έέλδωρ

(Reiz) ψερος

(Trieb)

(körperliche Liebe)

(speziell) k

*

(nicht speziell) ερως

'P°S

Verwirklichung von anderen abhängig

** Verwirklichung nicht oder nicht notwendig von anderen abhängig

b) attisch Hier ergibt sich ein weniger klares Bild, dem eine stemmatische Darstellung eigentlich kaum gerecht werden kann. Gemeinsam ist

13 ττόθος/ποθή und χητος gehören, wie dargestellt, in den Bereich „Mangel/Nichtvorhandensein". Ein Schema hätte etwa folgendes Aussehen: Fehlen/Mangel (objektiv) ττοθή2 χητος

(subjektiv) Vermissen (funktional) ττοθή2

(emotionell) πόθος

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allen Prosaikern des 5. und 4. Jahrhunderts die Verwendung und zumeist dominierende Stellung von επιθυμία 1 4 als allgemeinsprachlichem Ausdruck für Verlangen, in dessen Bereich nach dem schon oft erwähnten Zeugnis Piatons im Kratylos auch π ό θ ο ς 1 5 a l s επιθυμία απόντος τινός gehört. Die Konkurrenzausdrücke von έπιθυμία dagegen sind bei den einzelnen sehr unregelmäßig vertreten. Eine Sonderstellung nimmt dabei naturgemäß das Ionische ein, wo έπιθυμίη 1 6 , ε ρ ω ς 1 7 und ϊ μ ε ρ ο ς 1 8 ohne unmittelbar greifbaren Bedeutungsunterschied verwendet werden: Verlangen

έπιθυμίη

ερως

ίμερος

Innerhalb des Attischen ist es die philosophische Fachsprache, der das Standardwert επιθυμία, das j a auch „ A f f e k t " bedeutet, nicht zum terminus technicus zu taugen scheint (obwohl es auch bei Piaton und Aristoteles mehrere hundert Mal belegt ist) und die in verschiedenen Richtungen nach Auswegen sucht. Während Piaton in Anlehnung an dichterischen Sprachgebrauch die selten gewordene Bedeutung „Verlangen (allgemein)" (= homerisch ερος^ des alten Wortes ε ρ ω ς als Terminus wiederbelebt19, wird bei Aristoteles das unübliche und unattische ο ρ ε ξ ι ς 2 0 zu einem spezifischen Ausdruck für „Streben" im philosophischen Sinne.21 14 Jeweils Hunderte von Stellen bei Piaton und Aristoteles; außerdem belegt bei Thukydides, Herodot (nur 1,32,6 |2mal|), Xenophon, Gorgias und der Mehrzahl der attischen Redner, im ionischen Bereich bei Hippokrates. 15 Piaton, Aristoteles, Thukydides (6,24,3 kurz nach ερως: της τε άπούσης ττόθω