Untersuchungen zu antiken griechischen Rätseln: Materialsammlung 3110663295, 9783110663297

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Untersuchungen zu antiken griechischen Rätseln: Materialsammlung
 3110663295, 9783110663297

Table of contents :
Inhalt
Inhalt Band 1
A Metaphorisierende Rätsel
B Paraphrasierende Rätsel
C Wissensrätsel
D Göttlich inspirierte Rätsel
E Mathematische Rätsel
F Ungelöste Rätsel
Index der Rätsellösungen

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Luisa Schneider

Untersuchungen zu antiken griechischen Rätseln Band 2: Materialsammlung

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

ISBN 978-3-11-066329-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067474-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067477-4 ISSN 1616-0452 Library of Congress Control Number: 2020934027 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt A Metaphorisierende Rätsel 1 1 A. I Sprachliche Rätsel 1 A. I. 1 Einfache Rätsel (simple riddle) 1 A. I. 1.1 Direkte Angabe der Kategorie A. I. 1.2 Ersetzung der Kategorie des Rätselobjekts durch ein ähnliches 13 Element A. I. 1.3 Ersetzung des Rätselobjekts durch ein willkürliches 128 Element 131 A. I. 1.4 Kategorie des Rätselobjekts annulliert 182 A. I. 1.5 Sonstige A. I. 2 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle bzw. string 184 riddle) 204 A. II Nicht-sprachliche Rätsel 204 A. II. 1 Ersetzung durch ein ähnliches Element 204 A. II. 1.1 Konkretisierung (species pro genere) A. II. 1.2 Verallgemeinerung (genus pro specie bzw. causa pro 207 effectu) 209 A. II. 1.3 Analogie in Form und bzw. oder Farbe 219 A. II. 1.4 Analogie in der Funktion A. II. 1.5 Übergang zu einer anderen Bedeutung desselben Wortes 228 (Homonymie) 232 A. II. 2 Ersetzung durch ein willkürliches Element 238 A. III Metasprachliche Rätsel B Paraphrasierende Rätsel 245 245 B. I Unvollständige Beschreibung 245 B. I. 1 Einfache Rätsel (simple riddle) 245 B. I. 1.1 Kategorie des Rätselobjekts (identisch) angegeben 290 B. I. 1.2 Kategorie des Rätselobjekts annulliert 320 B. I. 2 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle) 327 B. II HOMONYMIE 327 B. II. 1 In der Frage 327 B. II. 1.1 Name – Name 337 B. II. 1.2 Name – Objekt 338 B. II. 1.3 Objekt – Objekt 348 B. II. 2 In der Lösung 348 B. II. 2.1 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle)

VI

Inhalt

B. II. 2.2 B. III B. III. 1 B. III. 1.1 B. III. 1.2 B. III. 2 B. III. 2.1 B. III. 2.2 B. III. 3 B. III. 3.1 B. III. 3.2 B. III. 4

Einfache Rätsel (simple riddle) 352 356 METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG 356 Buchstabenrätsel 356 Explizit metasprachlich 386 Verdeckt metasprachlich 397 Silbenrätsel 397 Explizit metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung 399 Verdeckt metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung 400 Buchstaben-Silben-Rätsel (explizit metasprachlich) 400 Metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung Metasprachlich mit psephischen Angaben und unvollständiger 412 Beschreibung Psephische Rätsel (mit unvollständiger Beschreibung) 419

C C. I. C. I. 1 C. I. 2

Wissensrätsel 423 Superlativische Fragen 423 Vereinigung von superlativischen Gegensätzen 423 Philosophisch-kosmologische Fragen (allgemeine Superlative) 427 C. I. 3 Lebenspraktische Fragen 465 C. II Literarische Wissensfragen 472 C. II. 1 Mythologisches Wissen 472 C. II. 2 Metrisches Wissen 472 C. III Abstrakte Wissensfragen 474 C. IV Sonstige Wissensfragen 483 D D. I D. II

Göttlich inspirierte Rätsel 493 Privatwissen 493 Inkommensurables Wissen 497

504 E Mathematische Rätsel E. I Arithmetische Aufgaben 504 E. I. 1 Einfache Aufgaben 504 E. I. 1.1 Gewicht und Zusammensetzung von Statuen und Schalen E. I. 1.2 Fontänen 512 E. I. 1.3 Alter bzw. Lebensdauer 519 E. I. 1.4 Apfelraub und -Verteilung 522 E. I. 1.5 Nussraub 528 E. I. 1.6 Tageszeit 533 E. I. 1.7 Vermögensverteilung 538

504

Inhalt

E. I. 1.8 E. I. 2 E. II F

544 Sonstige 558 Schwierige Aufgaben 573 Philosophische Aufgaben Ungelöste Rätsel

Index der Rätsellösungen

578 595

Die Kapitel I–VIII finden Sie im Band 1: Abhandlung, ISBN 978-3-11-066329-7.

VII

VIII

Inhalt

Inhalt Band 1 Danksagung

V

I 1 2

Einleitung 1 Forschungsstand 9 Methode und Erkenntnisziele

II 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1

Antike Rätseltheorie. Lexikalische Merkmale 53 Die Hauptbegriffe: αἴνιγμα und γρῖφος 57 Antike Etymologie 57 Das Verhältnis der beiden Rätselbegriffe 68 Lexikalische Verbindungen 101 „Rätsel stellen“ 102 „Rätsel lösen“ 153 Synonym verwendete Begriffe 175 Rätsel als fabelhafte sprachliche Äußerung: αἶνος und λόγος 176 Rätsel als schwierige Aufgabe und Hindernis: πρόβλημα und ἀπορία 187 Rätsel als Frage: ζήτημα 193 Rätsel als Lied: μέλος, ᾠδή und μούσα 196 Antike Definitionen 202 Die funktionsbestimmte Definition: Klearchos und Athenaios 203 Die formal orientierte, normative Definition: RhetorischGrammatische Handbücher 272 Zum Bedeutungsumfang der griechischen Rätselbegriffe. Von Textsorte, Stilmittel und übertragener Bedeutung 301

3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 5

III 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4

36

Moderne Beschreibung des antiken Rätsels 313 Die Gattungsfrage oder: Was eine Familie zur Familie macht 319 Eine Merkmalssammlung 327 Die Struktur des Rätsels. Von „Frage“ und Antwort 327 Die „Träger-Medien“ des Rätsels. Vom Sagen und Tun 346 Die äußere Form des Rätsels. Literarische Merkmale 353 Verrätselungsmethoden. Zwischen obscuritas und Lösbarkeit 381

Inhalt

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4 IV 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 V 1 2 3 4 5 6 7 8

497 Die Typologie des Rätsels Antike Typologien 497 Moderne Typologien 499 Allgemeine typologische Merkmale Paraphrasierende Rätsel 509 Metaphorisierende Rätsel 521 Wissensrätsel 528 Beschreibung des Rätsels 545

503

Soziologische Merkmale des Rätsels 551 Die Rätselrollen: Rätselsteller und Rätsellöser 552 Die Macht der Offensive. Der Rätselsteller 553 Der Zwang der Defensive. Der Rätsellöser 560 Zusammenfassung 565 Das Rätsel in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter und sozialem Stand 566 Frauen (und Männer) und das Rätsel 566 Kinder (und Alte) und das Rätsel 578 Der Pöbel (und die Herrscher) und das Rätsel 585 Bewertungen des Rätsels. Von Ruhm und Spott 594 Der ruhmreiche Rätselsteller 595 Anfeindungen des Rätselstellers 624 Der ruhmreiche Rätsellöser 646 Der erfolglose, verspottete Rätsellöser 678 Fazit 694 Funktionen und (lebensweltliche) Anwendungskontexte des Rätsels 699 Praeliminaria 699 Die Unterhaltungsfunktion. Das Rätsel im Symposion 715 Die didaktische Funktion. Das Rätsel in der Schule 728 Die aggressionskanalisierende und die existenzielle Funktion. Das Rätsel als Wettstreit (und) in der Politik 735 Die Verzögerungsfunktion. Das Rätsel in der Brautwerbung 751 Die dialektische Funktion. Das Rätsel in der Philosophie und im Orakel 760 Die magische (Formel-)Funktion. Rätsel und Zauberspruch im Kult 772 Rätselsammlungen 795

IX

X

Inhalt

VI

Beispielinterpretation 1: Von Läusen und Fischen. 811 Eine Neuinterpretation von Heraklit frg. 56 DK 811 Zur Geschichte des Läuserätsels Die terminologische/lexikalische Dimension des Rätsels: 824 Begrifflichkeiten Merkmale und Typologie: Ein zusammengesetztes, 826 paraphrasierendes Homonymie-Rätsel Soziologie: Homer und seine Unfähigkeit im Rätsellösen Situation und Funktion: Ein aggressionskanalisierender 846 Wettstreit Der „dunkle“ Heraklit und das Läuserätsel 854 in der Philosophie

1 2 3 4 5 6

VII 1 2 3

4 5 6

VIII

837

Beispielinterpretation 2: Das Rätsel der Sphinx. Von Selbsterkenntnis 863 und Menschlichkeit 863 Zur Geschichte des Sphinx-Rätsels Die terminologische/lexikalische Dimension des Rätsels: 888 Begrifflichkeiten Merkmale und Typologie: Ein einfaches metaphorisierendes Rätsel mit Ersetzung mehrerer Objektbestandteile durch ähnliche 898 Elemente 908 Soziologie: Von Ungeheuern und Krüppeln Situation und Funktion: Aggressionskanalisation, Halslösung 923 und Brautwerbung Das Rätsel vom Menschen als strukturbildendes Element 928 in Sophokles’ König Ödipus Literaturverzeichnis

937

A Metaphorisierende Rätsel A. I Sprachliche Rätsel A. I. 1 Einfache Rätsel (simple riddle) A. I. 1.1 Direkte Angabe der Kategorie 1 Orakel vom silbernen Pflug an die Spartaner Thuk. 5,16, Jones […] Διὸς υἱοῦ ἡμιθέου τὸ σπέρμα ἐκ τῆς ἀλλοτρίας ἐς τὴν ἑαυτῶν ἀναφέρειν, εἰ δὲ μή, ἀργυρέᾳ εὐλάκᾳ εὐλαξεῖν· […]. Den Sproß des halbgöttlichen Sohnes des Zeus sollten sie aus einem fernen Land in sein eigenes überführen, wenn aber nicht, dann würden sie mit silbernem Pflug pflügen.

Form: Prosa Kontext: Die Spartaner befragen bei bevorstehendem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) zwischen dem Peloponnesischen Bund und dem Attischen Seebund unter Athens Führung das Orakel über den Ausgang des Krieges. Die Pythia verheißt den Spartanern den Sieg durch die Hilfe Apolls (Thuk. 1,118), fordert jedoch die Rückholung des exilierten Königs Pleistoanax. Erklärung: Das Orakel hatte auf die Frage nach dem Ausgang der bevorstehenden Schlacht unmissverständlich den Sieg der Spartaner verkündet: πέμψαντες δὲ ἐς Δελφοὺς ἐπηρώτων τὸν θεὸν εἰ πολεμοῦσιν ἄμεινον ἔσται· ὁ δὲ ἀνεῖλεν αὐτοῖς, ὡς λέγεται, κατὰ κράτος πολεμοῦσι νίκην ἔσεσθαι, καὶ αὐτὸς ἔφη ξυλλήψεσθαι καὶ παρακαλούμενος καὶ ἄκλητος. (Thuk. 1,118)

Und sie [sc. die Spartaner] schickten nach Delphi und befragten den Gott, ob sie im Kampfe überlegen sein würden, und das Orakel habe, wie es heißt, geantwortet, wenn sie mit ganzer Kraft kämpften, würden sie siegen, und er selbst würde ihnen zur Seite stehen, gebeten oder ungebeten. Zusätzlich zu dieser unmissverständlichen Ankündigung ergeht jedoch die Forderung des Orakels nach der Rückholung des exilierten Königs Pleistoanax – offenbar nicht nur als Voraussetzung für das allgemeine Wohlbefinden des Staates, sondern als Bedingung für den so offen vorausgesagten Sieg. https://doi.org/10.1515/9783110674743-009

2 1.

2.

A Metaphorisierende Rätsel

Der spartanische König Pleistoanax (458–408/7 v. Chr.) war Sohn des aus den Perserkriegen berühmten spartanischen Königs Pausanias. Er übernahm, zunächst unter Vormundschaft, die spartanische Herrschaft 458 v. Chr. und führte 446 v. Chr. die Spartaner gegen das durch den Abfall Euboias geschwächte Athen. Er soll durch Perikles bestochen und so zum Abzug bewegt worden sein, woraufhin er in Sparta verurteilt wurde und nach Arkadien ins Exil ging; Thuk. 1,114. 2,21; Plut. Perikles 22 f. Dessen Rückführung während oder kurz vor dem Ausbruch der Perserkriege forderte das delphische Orakel. Διὸς υἱοῦ ἡμιθέου τὸ σπέρμα ist er als spartanischer König, insofern sich das Königshaus der Agiaden von dem Herakles-Nachkommen Eurysthenes, bzw. von dessen Sohn Agis I. ableitet. Herakles selbst war ἡμίθεος, insofern er von Zeus und der Sterblichen Alkmene gezeugt wurde. So kehrte Pleistoanax tatsächlich 426 v. Chr. für eine zweite Regentschaft nach Sparta zurück, wo er 421 v. Chr. den Nikiasfrieden mit Athen schloss. Bei der ἀργυρέα εὐλάκα liegt eine kausative Enallage vor. Aus Silber ist nicht der Pflug selbst, sondern das von einem Pflug hergestellte Erzeugnis, d. h. jede Art von landwirtschaftlich erwirtschafteten Nahrungsmitteln, würde – bei Nichterfüllen der Bedingung – ἀργυρέα in dem Sinne sein, dass es mit Geld zu bezahlen wäre. Für Getreide bezahlen muss aber nur derjenige, der selbst kein Land zum Bebauen hat. Es scheint somit das Orakel darauf hinzudeuten, dass der den Spartanern vom Schicksal beschiedene Sieg sich in eine Niederlage verkehrt, wenn Pleistoanax nicht nach Sparta zurückgeholt wird, dass die Spartaner also in Abhängigkeit von Athen geraten – und, als Symptom dieser unterdrückenden Abhängigkeit, ihre Ländereien verlieren würden. Besonders pointiert dabei, dass auch der Bogen Apollons, der den Spartanern in dem Orakel seine Hilfe verspricht, als ἀργύρεος gilt, vgl. Hom. Il. 1,49; Pind. O. 9,32.

Erschwert wird das Verständnis der metaphorischen Formulierung zusätzlich durch die ungebräuchliche Wortwahl, die sich mit αὐλάκα und εὐλάξειν zweier Hapax legomena bedient; vgl. Graves (1891) z. St.; ferner Classen (31912) z. St.: εὐλάκαν τὴν ὕνιν Λακεδαιμόνιοι λέγουσιν, εὐλάξειν δὲ ἀρόσειν. ἀργυρέᾳ εὐλάκα εὐλαξεῖν τοῦτ’ ἔστι λιμὸν ἔσεσθαι καὶ πολλοῦ σφόδρα τὸν σῖτον ὠνήσεσθαι ὥσπερ ἀργυροῖς ἐργαλείοις χρωμένους – εὐλάκα nennen die Lakedaimonier den Pflug und zu „pflügen“ sagen sie εὐλάξειν. „mit silbernem Pflug pflügen“, das bedeutet, sie würden hungern und für sehr viel Geld Getreide kaufen, als ob sie das Silber als Werkzeug benutzten. Intertextuelle Verweise: Es rekurriert auf dieses Orakel ferner Plut. de Pyth. or. 19, 403b: Λακεδαιμονίοις τε γάρ, ὡς Θουκυδίδης ἱστόρηκε, περὶ τοῦ πρὸς Ἀθηναίους πολέμου χρωμένοις ἀνεῖλε νίκην καὶ κράτος, καὶ βοηθήσειν αὐτὸς καὶ παρακαλούμενος καὶ

A. I Sprachliche Rätsel

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ἀπαράκλητος· καὶ Πλειστοάνακτα [Παυσανίαν] εἰ μὴ καταγάγοιεν „ἀργυρέᾳ εὐλάκᾳ εὐλάξειν“.

2 Orakel für Byzanz über Tyros Ach. Tat. 2,14, Vilborg; AP XIV 34 Νῆσός τις πόλις ἐστὶ φυτώνυμον αἷμα λαχοῦσα, ἰσθμὸν ὁμοῦ καὶ πορθμὸν ἐπ’ ἠπείροιο φέρουσα, ἔνθ’ ἀπ’ ἐμῆς ἔσθ’ αἷμα ὁμοῦ καὶ Κέκροπος αἷμα· ἔνθ’ Ἥφαιστος ἔχει χαίρων γλαυκῶπιν Ἀθήνην· κεῖθι θυηπολίην πέμπειν κελόμην Ἡρακλεῖ. Eine Insel ist Stadt, ihr Blut hat den Namen einer Pflanze, einen Isthmos und zugleich eine Meerenge hat sie auf dem Festland; dort gibt es Blut von mir und zugleich auch Blut des Kekrops; dort hat Hephaistos mit Freude die blauäugige Athene; dorthin rate ich dir, dem Herakles Opfer zu weihen.

Form: 5 Hexameter Erklärung: Die Frage der Byzantiner an das Orakel, ob sie also etwa nach dem passenden Ort für ihre Opfer suchten, oder viel allgemeiner danach fragten, wie sie etwas zu Wege bringen könnten, und das Orakel daraufhin die Opfer nannte, ist nicht überliefert. Der Spruch umschreibt jedoch in einer Mischung aus paraphrasierenden und metaphorischen Elementen das phönizische Tyros als Ort für die Opfer, die es den Byzantinern an Herakles zu entrichten rät (v. 5). v. 1a: Die Stadt Tyros lag ursprünglich auf einer Insel unmittelbar vor dem phönizischen Festland. 332 v. Chr. ließ Alexander der Große die Insel während einer Belagerung durch einen Damm mit dem Festland verbinden, der auch später bestehen blieb und sich im Laufe der Zeit (durch Anschwemmung u. ä.) verbreiterte. So lag Tyros auf einer Halbinsel. Die scheinbar paradoxe Verbindung von νῆσος und (zugleich) πόλις, die wohl zugleich Festland (ἤπειρος, v. 2) impliziert, trägt dieser geographischen Lage zwischen Meer und Land Rechnung. v. 1b: αἷμα (Blut) steht hier metaphorisch für das Geschlecht, d. h. das Volk bzw. die Bewohner der Insel. Durch den homonymen Begriff φοῖνιξ wird einerseits der Phönizier, andererseits die Dattelpalme bezeichnet, sodass das Volk gleichsam den Namen jener Pflanze trägt (φυτώνυμον). v. 2: Rückgriff auf v. 1b. ἰσθμός und πορθμός beziehen sich auf die Landzunge, durch die die Halbinsel mit dem Festland verbunden ist. ἐπ’ ἠπείροιο φέρουσα ist die Halbinsel offenbar, insofern sie nicht im Meer „treibt“ und nur durch die Landzunge an Ort und Stelle gehalten wird, sondern selbst mit dem Meeres-

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A Metaphorisierende Rätsel

boden verwachsen, also lediglich von Wasser umspült ist; vgl. Nonn. Dion. 40,319–326 (Koechly): νηχομένῃ δ’ ἀτίνακτος ἁμοίιος ἔπλετο κούρῃ, καὶ κεφαλὴν καὶ στέρνα καὶ αὐχένα δῶκε θαλάσσῃ, χεῖρας ἐφαπλώσασα μέση διδυμάονι πόντῳ, γείτονι λευκαίνουσα θαλασσαίῳ δέμας ἀφρῷ, καὶ πόδας ἀμφοτέρους ἐπερείσατο μητέρι γαίῃ. καὶ πόλιν Ἐννοσίγαιος ἔχων ἀσπεμφέι δεσμῷ νυμφίος ὑδατόεις περινήχεται, οἷα συνάπτων πήχεϊ παφλάζοντι περόπλοκον αύχένα νύμφης. Unerschütterlich [mit dem Meeresboden verwurzelt] gleicht es einem schwimmenden Mädchen und Kopf, Brust und Hals hat es dem Meer überlassen, die Hände links und rechts unter den beiden Wasserflächen ausstreckend, mit dem angrenzenden Meeresschaum ihren Leib weiß färbend und beide Füßen ruhen auf der Mutter Erde. Und Poseidon hat die Stadt in undurchtrennbaren Banden und umgibt sie als Wasserbräutigam von allen Seiten als hielte er mit brausendem Arm den Hals der Braut umschlungen.

v. 3: Auch hier scheint αἷμα im Sinne einer genealogischen Verbindung gebraucht zu sein. Kekrops mag als erster König von Athen für seine Stadt stehen wie der Orakelgott selbst für Delphi als Orakelstätte steht. Inwiefern sich beide Städte (oder ihre Bewohner) jedoch in Tyros vermischen, bleibt unklar; vgl. allerdings Fox (2011) 253 zu einer mythologischen Verwandtschaft zwischen Tyros und Delphi, auf die sich die Tyrer in ihrer Konkurrenz mit Sidon beriefen. v. 4: Das in der Gründungssage von Tyros mit dem Olivenbaum verbundene Feuer wird hier gemeinsam mit demselben allegorisiert in der ehelichen Verbindung von Hephaistos (Feuer) mit Athena (Olivenbaum). Vgl. zur Gründungssage Nonn. Dion. 40,467–474, wo auf einer der ursprünglich zwei, später vereinten Inseln ein Olivenbaum inmitten sprühenden Feuers (eines Vulkans?) steht: […] ὁπόθε δισσαὶ ἀαταθέες πλώουσιν ἀλήμονες εἰν ἁλὶ πέτραι, ἃς φύσις Ἀμβροσίας ἐπεφήμισεν, αἷς ἔτι θάλλει ἥλικος αὐτόῤῥιζον ὁμόζυγον ἔρνος ἐλαίης, πέτρης ὑγροπόροιο μεσόμφαλον· ἀκροτάτοις δὲ αἰετὸν αθρήσητε παρεδρήσσοντα κορύμβοις, καὶ φιάλην εὔθικτον· ἀπὸ φλογεροῖο δὲ δένδρου θαμβαλέους σπονθῆρας ἐρεύγεται αὐτόματον πῦρ [...]. Athene war ferner dem Hephaistos von Zeus als Braut zugedacht, nachdem der Schmiedegott sich als Geburtshelfer erwiesen hatte, als Athene dem Haupte des Zeus entsprang. Um ihre Jungfräulichkeit zu wahren, entzog sich Athene, und als Hephaistos sie im Kampf stellte, fiel sein Samen auf die Erde, woraus Gaia den attischen König Erechtheus I. gebar (Hdt. 8,55).

A. I Sprachliche Rätsel

5

v. 5: Herakles wurde früh mit Melkart, dem Stadtgott von Tyros und Schutzgott von Kolonisation und Schifffahrt, identifiziert. Da das Orakel empfiehlt, diesem Gotte Opfer nach Tyros zu senden, mag das Anliegen der Byzantiner durchaus mit einer Stadtgründung in Zusammenhang gestanden haben. Intertextuelle Verweise: Vgl. Ach. Tat. 2,14 mit einer um v. 3 verkürzten Variante des Orakels und einer Erklärung desselben. Vgl. Nonn. Dion. 40, 319 ff. 429 ff. über die Gründung von Tyros. Sowohl die Erklärungen des Achilleus Tatios als auch die Schilderungen bei Nonnos sind anachronistisch (so besteht etwa der Damm bzw. die Landzunge bereits in mythischer Vorzeit). Literatur: Vgl. Eisler (1925) 221 f., der (vielleicht zu Unrecht) auf ein Zentralheiligtum mit heiligem Ölbaum und ewigem Feuer auf Tyros schließt. 3 Rätsel von der Hyazinthe AP IX 121, Beckby Σπάρτης καὶ Σαλαμῖνος ἐγὼ φυτὸν ἀμφήριστον· κλαίω δ’ ἠιθέων ἔξοχον ἢ προμάχων. Von Sparta und Salamis bin als Pflanze ich im Wettkampf umstritten; ich beweine aber den schönsten Jüngling oder einen tapferen Vorkämpfer.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Die Hyazinthe beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive mit Anspielungen auf ihre mythologische Entstehung gemäß zweier unterschiedlicher Traditionen. v. 1: In φυτόν ist die Kategorie des gesuchten Rätselobjekts direkt angegeben, gesucht ist eine Pflanze. Dass sich nun Salamis und Sparta um ein solches Gewächs streiten sollen, erscheint zunächst, v. a. da die berühmte Stadt im Süden der Peloponnes und die Insel im Saronischen Golf nicht unmittelbar benachbart sind und so ein Streit um lokale Zugehörigkeiten ausgeschlossen sein muss, unglaubwürdig. Tatsächlich ist hier jedoch, wie v. 2 aufklären wird, kein Kampf oder Wettstreit im engeren Sinne gemeint, sondern vielmehr das Nebeneinander zweier – gewissermaßen rivalisierender – mythologisch-aitiologischer Traditionen beschrieben. v. 2: Bei der gesuchten Pflanze mit doppelter mythologischer Bedeutung handelt es sich um die Hyazinthe.

6

A Metaphorisierende Rätsel

v. 1a bezieht sich dabei auf den namensgebenden spartanischen Königssohn Hyakinthos, der zu den berühmtesten männlichen Geliebten des Apollon zählt. Durch einen unglücklichen Zufall oder durch die Eifersucht des Westwinds Zephyros tötet Apoll den geliebten Jüngling durch einen abgelenkten Diskuswurf (Eur. Hel. 1470 ff.; Apollod. 1,3,3). Aus seinem Blut soll die Hyazinthe hervorgewachsen sein (Ov. met. 13,396). v. 1b geht auf den Freitod des berühmten Trojakämpfers und salaminischen Königssohnes Aias (des Großen), der sich nach seiner Niederlage gegen Odysseus im Kampf um die Waffen Achills in sein Schwert stürzte. Auch aus seinem Blut soll, nach einer rivalisierenden Mythentradition, die Hyazinthe hervorgewachsen sein (Ov. met. 13,391–395). Da die beiden in der Blume vergöttlichten Figuren aus Sparta bzw. Salamis stammen, lässt sich die Rivalität der jeweiligen Aitiologien wie in der Rätselfrage als lokaler Wettstreit darstellen. Die Klage der Blume (κλαίω), die sich auf beide Toten gleichermaßen beziehen lässt, ist nach Ov. met. 13,397 f. in Form des Klagelautes ΑΙ auf die Blütenblätter geschrieben. Im Falle des Hyakinthos ist es Apoll, der um seinen verstorbenen Geliebten klagt, im Falle des Aias mag darin auch die Klage des Trojakämpfers selbst um das eigene Unglück und die eigene Schmach liegen. Es liegt auf diese Weise eine weitere terminologische Verknüpfung zwischen den beiden Entstehungsmythen vor: Während Hyakinthos selbst der Blume seinen Namen leiht, sind es die Anfangsbuchstaben des Aias, die auf ihren Blütenblättern verewigt sind. Ov. met. 13,391–398, wo alle hier angesprochenen Aspekte berücksichtigt sind, könnte als unmittelbares Vorbild für das Rätsel gelten, das die beiden aitiologischen Erzählungen zur Entstehung der Blume nebeneinander stellt: dixit et in pectus tum demum vulnera passum, qua patuit ferro, letalem condidit ensem. Nec ualuere manus infixum educere telum; expulit ipse cruor, rubefactaque sanguine tellus purpureum viridi genuit de caespite florem, qui prius Oebalio fuerat de vulnere natus. littera communis mediis pueroque uiroque incripta est foliis, haec nominis, illa querellae.

So sprach er [sc. Aias] und stieß in die bisher von Wunden verschonte Brust, die dem Schwert sich nun offen darbot, hinein das tödliche Eisen. Nicht vermochte eine Hand das fest gesteckte Schwert zu entfernen, der Blutstrom selbst spülte er heraus, und die vom Blut rotgefärbte Erde ließ aus grünem Rasen entspringen die purpurne Blume, die früher schon wuchs aus der Wunde des Oebaliussohnes; Buchstaben, die passend sind sowohl für den Knaben als auch für den Mann, sind eingeschrieben auf die Blätter, für den einen Zeichen des Namens, für den anderen Zeichen der Klage.

A. I Sprachliche Rätsel

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4 Orakel an Kaiser Konstantin über Byzanz AP XIV 115, Beckby Οὐ θέμις ἐν Τροίης σε πάλαι τμηθέντι θεμείλῳ Ῥώμης ἱδρῦσαι νέον οὔνομα· βαῖνε δὲ χαίρων ἐς Μεγαρήιον ἄστυ Προποντίδος ἄγχι θαλάσσης, ἔνθ’ ἰχθῦς ἔλαφός τε νομὸν βόσκονται ἐς αὐτόν. Es ist nicht Recht, dass du auf Trojas vor langem verwüsteten Grundmauern dem Namen Roms einen neuen Rahmen geben willst; geh aber fröhlich zur megarischen Stadt nahe am propontischem Meer, wo Fisch und Hirsch nach Gewohnheit zusammen weiden.

Form: 4 Hexameter Kontext: Der spätantike Kirchenhistoriker Sozomenos berichtet, Kaiser Konstantin habe seine neue Stadt zunächst bei Troja bauen wollen, habe sich dann jedoch wegen eines göttlich inspirierten Traums umentschieden und Byzantion ausgebaut und in Κωνσταντινούπολις umbenannt (Soz. 2,3,2): Καταλαβὼν δὲ τὸ πρὸ τοῦ Ἰλίου πεδίον, παρὰ τὸν Ἐλλήσποντον ὑπὲρ τὸν Αἴαντος τάφον, οὗ δὴ λέγεται τὸν ναύσταθμον καὶ τὰς σκηνὰς ἐσχηκέναι τοὺς ἐπὶ Τροίαν τότε στρατευσαμένος Ἀχαιοὺς, οἵαν ἐχρῆν καὶ ὅσην τὴν πόλιν διέγραψε· καὶ πύλας κατεσκεύασεν ἐν περιωπῇ, αἳ δὴ νῦν ἔτι ἀπὸ θαλάσσης φαίνονται τοῖς παραπλέουσι. Ταῦτα δὲ αὐτῷ πονοῦντι, νύκτωρ ἐπιφανεὶς ὁ Θεός, ἔχρησεν ἕτερον ἐπιζητεῖν τόπον. Καὶ κινήσας αὐτὸν εἰς τὸ Βυζάντιον τῆς Θράκης, πέραν Χαλκηδόνος τὴς Βιθυνῶν, ταύτην αὐτῷ οἰκίζειν ἀπέφηνε πόλιν, καὶ τῆς Κωνσταντίνου ἐπωνυμίας ἀξίαν.

Erklärung: Die Grundaussage des Orakels, welches dem Traum des Kaisers in der Erzählung des Sozomenos entsprechen muss, ist eindeutig: Konstantinopel soll nicht über bzw. bei Troja gegründet werden. Für die Erkenntnis dieser Aussage ist das exakte Verständnis der einzelnen Formulierungen unerheblich, die hingegen den alternativen Ort für die Stadtgründung in einer Verbindung paraphrasierender und metaphorisierender Elemente näher umschreiben. vv. 1–2a: Ohne Zweideutigkeiten legt das Orakel dem Kaiser offen, dass er den Plan seiner Stattgründung über Trojas Ruinen nicht umsetzen soll. Als Grund wird die Verletzung der θέμις angegeben. Besonders da bereits Aeneas das Palladion aus Troja raubte, um in Italien Rom zu gründen, wäre es wohl „taktlos“, ein zweites Rom auf Trojas Ruinen zu errichten. vv. 2b–3: Paraphrasierend und dennoch nicht unzweideutig benennt das Orakel den Ort, an den Konstantin für seine Stadtgründung ziehen soll: Das Μεγαρήιον ἄστυ scheint für Μέγαρα selbst zu stehen, doch liegt Megara nicht

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A Metaphorisierende Rätsel

einmal in der Nähe der Propontis. Das Attribut Μεγαρήιον ist nicht identifizierend, sondern besitzanzeigend (im weiteren Sinne): Gemeint ist die von Megara aus gegründete Kolonie Byzantion. v. 4: Hier wird der Hinweis gegeben, der von dem geographisch ausgeschlossenen Megara auf Byzantion als korrekte Lösung führt. Dass Fisch und Hirsch – Tiere, die in unterschiedlichen Elementen, nämlich im Wasser und an Land, leben – sich an einem Ort aufhalten, klingt paradox. Der Fisch stirbt an Land und der Hirsch ertrinkt unter Wasser. Doch das üblicherweise von Vieh gebrauchte βόσκειν (weiden) wird hier ebenso auf den Fisch wie auf den Hirsch bezogen. Eine Auflösung ergibt sich womöglich durch eine Deutung jener kurios anmutenden Verbindung im Lichte der besonderen geographischen Lage Konstantinopels am Goldenen Horn: Die Stadt vereint gewissermaßen Land und Wasser als Lebensraum von Hirsch und Fisch bzw. stellt beides in ein direktes räumliches Nebeneinander. Auch Megara selbst, auf die in v. 3 angespielt ist, zeichnet sich durch eine vergleichbare Lage auf der Landenge zwischen griechischem Festland und Peloponnes aus. Megareus als mythologischer Herrscher über Megara wiederum gilt als Sohn oder Enkel des Poseidon (Paus. 9,26,5; Plut. mor. 295a (qu. Gr.)) und begründet so für die in Frage stehenden Städte eine gewisse dynastische Verbindung zum Areal der Fische.

5 Rätsel um Aphrodite, Dionysos und Adonis Plat. Com. PCG VII, frg. 3, p. 435 K.-A.; zit. Athen. X 456ab ὦ Κινύρα, βασιλεῦ Κυπρίων, ἀνδρῶν δασυπρώκτων, παῖς σοι κάλλιστος μὲν ἔφυ θαυμαστότατός τε πάντων ἀνθρώπων, δύο δ’ αὐτὸν δαίμον’ ὀλεῖτον, ἡ μὲν ἐλαυνομένη λαθρίοις ἐρετμοῖς, ὁ δ’ ἐλαύνων. Oh Kinyras, König der Kyprier, der Männer mit rauem Hintern, als Sohn ist dir gegeben der schönste und bewunderungswürdigste aller Männer, zwei Gottheiten aber werden ihn zugrunde richten, die eine getrieben von heimlichen Rudern, der andere aber treibend.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Adonis, der Sohn des Königs Kinyras, war für seine Schönheit bekannt. Der gängigen Überlieferung nach wurde er von Aphrodite geliebt (und offenbar auch von Persephone, denn Zeus verfügte, er solle jeweils ein Drittel des Jahres mit jeder von beiden verbringen, Apollod. 3,14,4), vgl. Apollod. 3,14,3; Antonius Liberalis, met. 34; Ov. met. 10,431 ff.; Bion Smyrn. epit. Adon. 1 ff.; Orph. h. 56, und von dem eifersüchtigen Ares in Gestalt eines Ebers getötet.

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Mit Dionysos hat Adonis dagegen außer in dieser Erklärung des Athenaios zu einem dem König erteilten Orakel nirgendwo direkt zu tun. Dionysos aber ist wiederum ein Liebhaber der Aphrodite, die sich auf eine Liebschaft mit dem Gott und in dessen Abwesenheit zusätzlich mit Adonis einließ und daraufhin den Priapos empfing (Schol. Apoll. Rhod. 1,932 f., p. 79 f. Wendel; Schol. Lykophr. 831, p. 265 f. Scheer). Adonis ist dagegen als Liebhaber sowohl von Apoll als auch von Herakles bekannt (s. u.). Gesucht sind a. eine Göttin, getrieben von λαθρίοις ἐρετμοῖς. ἐρετμά stehen als obszöne Metapher für das männliche Glied, vgl. hierzu Hesych. s. v. mit der Erklärung τὸ ἀνδρεῖον αἰδοῖον. Verborgen bzw. geheim sind diese „Ruder“, weil sie Teil der geheimen Affäre sind (Enallage). Die Anforderungen des ersten Gesuchs erfüllt Aphrodite als von Adonis heimlich Geliebte (d. h. Getriebene). b. Einen Gott, der – ob ebenfalls λαθρίοις ἐρετμοῖς bleibt offen – treibt. Athenaios nennt X 456b in unmittelbarem Anschluss an das zitierte Rätsel Dionysos als zweiten Gott, der in einer homoerotischen Verbindung mit Adonis durchaus in der Rolle des Treibenden auftreten könnte. Doch gibt es hierzu, wie gesagt, und auch zu einem dem Orakel entsprechenden unglücklichen Ende des Adonis, in das Aphrodite und Dionysos verwickelt wären, keine weitere Überlieferung. Ares hingegen, ein weiterer Liebhaber der Aphrodite, ist als eifersüchtiger Mörder des schönen Jünglings verschiedentlich bezeugt (Schol. Hom. Il. 5,385 ff., Bd. 2, p. 60 Erbse; Serv. ecl. 10,18). Er könnte ohne Mühe die Rolle des im Orakel genannten ἐλαύνων ausfüllen, selbst wenn das nicht explizit wiederholte λαθρίοις ἐρετμοῖς auch hier mitzudenken wäre. Schließlich ist auch er nur ein (heimlicher) Geliebter der Aphrodite, die rechtmäßig mit dem Schmiedegott Hephaistos vermählt ist; vgl. für eine vollständige Darstellung der Episode, in der Hephaistos die Untreuen mit einem Netz in flagranti ertappt, Hom. Od. 8,291–300. Es scheint somit die von Athenaios dem zitierten Komödienfragment beigegebene Erklärung falsch zu sein. Besser als Aphrodite und Dionysos lösen Aphrodite und Ares das Rätsel, durch deren eifersüchtiges Liebestreiben Adonis gemäß der traditionellen mythologischen Überlieferung zu Tode kam. Intertextuelle Verweise: Vgl. Phot. 190 (151b), 5,7, wo Adonis Geliebter des Apollon ist: Ὡς Ἄδωνις ἀνδρόγυνος γενόμενος τὰ μὲν ἀνδρεῖα πρὸς Ἀφροδίτην πράσσειν ἐλέγετο, τὰ θηλυκὰ δὲ πρὸς Ἀπόλλωνα. Ebenso Phot. 190 (147b), 10,12, wo ihn Herakles liebt: Ὡς Ἀφροδίτη διὰ Ἄδωνιν τὸν αὐτῆς τε καὶ Ἡρακλέους ἐρώμενον.

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Literatur: Vgl. den Kommentar von Pirrotta (2009) zu den fragmentarischen Komödien von Platon comicus, hier bes. 72. Schweighäuser V (1804) 591.

6 Rätsel von Niobe AP XIV 25, Beckby; S 55 Ὀφθαλμοὺς Σκύλλης ποθέω, τοὺς ἔσβεσεν αὐτὸς ἠέλιος μήνη τε· πατὴρ δέ με δείδιε κούρην· λοῦμαι δ’ ἀενάοισι δύω ποταμοῖσι θανοῦσα, οὓς κορυφὴ προΐησιν ἐπ’ ὀφρυόεντι κολωνῷ. Die Augen der Skylla ersehn ich, die haben verlöscht die Sonne selbst und der Mond; mein Vater aber fürchtet mich, seine Tochter; mich aber baden zwei ewig fließende Ströme, die Tote, welche mein Haupt entsendet von einem hoch aufragenden Berg.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Aus der Ich-Perspektive beschreibt sich das gesuchte Rätselobjekt, welches von Boissonade trefflich auf Niobe gedeutet wurde (dagegen Schultz (1909) 54, der die Lösung als „recht gezwungen“ kritisiert). v. 1a: Dem Meeresungeheuer Skylla wuchsen aus dem menschlichen Oberkörper einer Frau sechs Hundeköpfe als Unterleib. Sie hatte somit insgesamt sieben Köpfe mit 14 Augen. Diese Zahl entspricht der Kinderzahl der Niobe, die mit Amphion zusammen sieben Töchter und sieben Söhne zeugte. Beckby spricht in seiner Lösung fälschlicherweise von 12 Kindern und vergisst, zu den sechs Hundeköpfen mit 12 Augen auch den des Menschenmädchens hinzuzunehmen. Die Augen der Skylla stehen hier somit metaphorisch für die toten Kinder der Niobe, mit denen sie in der Anzahl übereinstimmen. Das Verb ποθέω, das ein Sehnen oder Wünschen zum Ausdruck bringt, muss jedoch für den Rezipienten, der den Inhalt des Rätsels noch nicht durchdrungen hat, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit der Skylla, die Seefahrer unbedingt zu vermeiden suchten, irreführend wirken. vv. 1b–2a: Hier stehen ἠέλιος und μήνη als Antonomasien für das göttliche Geschwisterpaar Apoll und Artemis, deren Mutter Leto von Niobe gekränkt worden war, als diese über die kleine Zahl ihrer Nachkommenschaft spottete. Aus Rache, erlegten Apoll und Artemis die 14 Kinder der Niobe mit Pfeil und Bogen. Da σβέννυμι sich durchaus auch auf das Löschen von Feuer beziehen lässt, mag die Verbindung mit Sonne und Mond als Subjekten, die Licht gewöhnlich gera-

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de spenden, nicht löschen, paradox erscheinen. Es ist aus dem allgemeineren ἀπολλύναι (vgl. auch die lautliche Ähnlichkeit mit Ἀπόλλων) oder διαφθείρειν zur Irreführung konkretisiert. v. 2b: Das Bild des Vaters, der seine Tochter fürchtet, scheint ebenfalls paradox, insofern das hierarchische Verhältnis gemeinhin andersherum aufgebaut ist. Der Vater der Niobe aber ist Tantalos, einer der kanonischen Unterweltsbüßer, der, weil er, um die Götter auf die Probe zu stellen, ihnen bei einem Gastmahl seinen jüngsten Sohn Pelops als Speise vorsetzte, in der Unterwelt nicht nur vergeblich nach dem Wasser dürstete, das ihm bis zum Kinn stand, und sich nach den Früchten reckte, die außerhalb seiner Reichweite waren, sondern über dessen Kopf zusätzlich ein großer Felsblock schwebte, der jeden Moment herabzustürzen und ihn zu erschlagen drohte; vgl. Hom. Od. 11,582–592; Pind. O. 1,59; Eur. Or. 4–7. Der Felsblock steht nun beinahe in Form einer Antonomasie für Niobe, die nach dem Tod ihrer Kinder so lange weinte, bis sie versteinerte, d. h. zu einem Felsen wurde. vv. 3–4: Hier wird das Schicksal der Gepeinigten nach dem Tode ihrer Kinder umschrieben: Sie weinte so lange und beständig, dass sie sich schließlich in einen Stein verwandelte, aus dem weiterhin in Bächen die Tränenströme ihrer beiden Augen flossen. λούομαι ist in dieser Hinsicht gewissermaßen euphemistisch. Der Berg, auf den ein Wind die Versteinerte versetzte, gilt als der Berg Sipylos in Phrygien; vgl. die gesamte Episode im Zusammenhang z. B. bei Ov. met. 6,146–312. Intertextuelle Verweise: Vgl. Hyg. fab. 9, wo die Tötung der Niobe-Kinder durch Apoll und Artemis berichtet wird (Ob id Apollo filios eius in silva venantes sagittis interfecit et Diana filias in regia sagittis interemit praeter Chloridem), deren Mutter Leto Niobe wegen der geringen Anzahl ihrer Kinder verspottet hatte (se numero filiorum Latonam superare). Auch Tantalos wird als Vater der Niobe genannt (Amphion in coniugium Niobam Tantali et Diones filiam accepit, ex qua procreavit liberos septem totidemque filias), ebenso wie ihre Versteinerung vor Trauer (At genetrix liberis orba flendo lapidea facta esse dicitur in monte Sipylo). Literatur: Schultz (1909) 54 kritisiert die auf Boissonade zurückgehende Lösung „Niobe“ als gezwungen. 7 Orakel über die ehernen Männer an Psammetichos Hdt. 2,152, Wilson ἐπιστάμενος ὦν ὡς περιυβρισμένος εἴη πρὸς αὐτῶν, ἐπενόεε τίσασθαι τοὺς διώξαντας. πέμψαντι δέ οἱ ἐς Βουτοῦν πόλιν {ἐς τὸ χρηστήριον τῆς Λητοῦς}, ἔνθα δὴ Αἰγυπτίοισί

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ἐστι μαντήιον ἀψευδέστατον, ἦλθε χρησμὸς ὡς τίσις ἥξει ἀπὸ θαλάσσης χαλκέων ἀνδρῶν ἐπιφανέντων. So hielt er sich für schlecht behandelt von ihnen und wusste sich auf seine Rache gegen sie vorzubereiten. Er schickte aber nach Buto zum Orakel der Leto, denn dort befindet sich das untrüglichste Orakel der Ägypter, und es erging der Orakelspruch, dass als Rache über das Meer eherne Männer kommen und sich zeigen würden.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Der vertriebene zwölfte König Ägyptens, Psammetichos, will sich an seinen Verfolgern rächen und befragt deshalb das Orakel der Leto in Buto. Er erhält die für ihn unverständliche Antwort, χάλκεοι ἄνδες würden über das Meer kommen und ihn rächen. Erklärung: Im Kern des Orakels stehen die als χάλεκοι attribuierten ἄνδρες. Es handelt sich dabei um eine kausative Enallage, denn aus Eisen bestehen eben nicht die ἄνδρες selbst, sondern ihre Rüstungen. Herodot berichtet, dass Psammetichos von derlei Rüstungen keine Kenntnis besaß (οὐκ ἰδὼν πρότερον χαλκῷ ἄνδρας ὁπλισθέντας), sodass ihm der intellektuelle Bezugsrahmen für die korrekte Deutung der Formulierung fehlt. Diese mag zusätzlich dadurch erschwert werden, dass der Spruch die Ankunft der Männer ἀπὸ θαλάσσης ankündigt – eine Vorstellung, die sich mit dem hohen Gewicht des genannten Eisens nicht leicht in Verbindung bringen lässt. Bemerkenswert ist besonders, dass in diesem Orakel ebenso wie in dem 3,147. 151 überlieferten Orakel an die zwölf ägyptischen Könige die facettenreiche Zuordnung des Attributs χάλκεος im Mittelpunkt steht. In beiden Fällen durchschaut Psammetichos den Spruch zunächst nicht und in beiden Fällen bleibt er (ungewöhnlicherweise) trotzdem schlussendlich erfolgreich. Denn als die Ioner und Karer mit ihren Rüstungen nach Syrien, wo sich Psammetichos im Exil befand, schiffen und ihm von ihrer als rätseltypischem Kuriosum empfundenen Rüstung berichtet wird (ὡς χάλκεοι ἄνδρες ἀπιγμένοι ἀπὸ θαλάσσης λεηλατεῦσι τὸ πεδίον. ὁ δὲ μαθὼν τὸ χρηστήριον ἐπιτελεύμενον), begreift der König unmittelbar, dass sich das Orakel auf diese Männer bezog, die er sich daraufhin zu Verbündeten nimmt. Mit ihrer Hilfe stürzte er dann die übrigen elf ägyptischen Könige und avancierte zum Alleinherrscher. Intertextuelle Verweise: Vgl. Hdt. 2,147. 151 das Orakel über die eherne Opferschale an die zwölf ägyptischen Könige, welches zur Vertreibung des Psammetichos führte. Der Aufmerksamkeit wert ist dabei sicher, dass beide Orakel sich (in unterschiedlicher Weise) um Eisen (χαλκέος) als Material drehen.

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A. I. 1.2 Ersetzung der Kategorie des Rätselobjekts durch ein ähnliches Element 1 Rätsel von der (Vogel-)Falle Ion, TrGF I, 19 F 40 Snell; zit. Athen. X 451de δρυός μ’ {εν} ἱδρώς καὶ θαμνομήκης ῥάβδος ἥ τ’ Αἰγυπτία βόσκει λινουλκὸς χλαῖνα θήραγρος πέδη Der Schweiß der Eiche und eine lange Rute und auch das ägyptische Gewand aus Flachs nähren mich, ein Fangnetz für Wildtier.

Form: Iambische Trimeter Erklärung: Die Rede ist in diesem aus der Ich-Perspektive geschilderten Rätsel offenbar von einer Art Falle für Vögel (verallgemeinert zu θῆρες), die aus Ästen und Flachs, zusammengehalten von Harz, besteht. Der Schluss der Formulierung, θήραγος πέδη, umschreibt somit das Rätselobjekt direkt in seiner Funktion. Die Bestandteile der Falle „nähren“ (βόσκειν) dieselbe im übertragenen Sinne insofern sie dafür sorgen, dass Beute hineingeht; vgl. zu den beim Vogelfang verwendeten Instrumenten Anderson (1985) 20; ferner (zu Netzen und Fußfallen) Hull (1964) 10–18; bes. zu Vogelleim Lindner (1973) 29–77. Als Schweiß kann das Harz im Sinne einer metaphorischen Begriffsübertragung auf der Grundlage der (mehr oder weniger) analogen Konsistenz der beiden Flüssigkeiten bezeichnet werden, die auf ähnliche Weise, wenn auch nicht in derselben Funktion (schwitzen reguliert die Körpertemperatur, Harz versiegelt „Wunden“ in der Baumrinde), aus dem jeweiligen Körper (Baum bzw. menschlicher Körper) austreten; vgl. für eine Erläuterung, die das Baumharz (ἰξός) explizit nennt, auch Eust. Il. 3,261, Bd. 3, p. 260 f. van der Valk. Intertextuelle Verweise: Eust. Il. 3,261, Bd. 3, p. 261 f. van der Valk: Τὸ δὲ „ἱδρῶσαι“ ἢ κατὰ διάθεσιν εἴρηται δευτέρας συζυγίας τῶν περισπωμένων ἢ ἐκ τοῦ ἱδρώουσαι συγκέκοπται. Ἱδρὼς δὲ καὶ ἱδρῶσαι κυρίως ἐπὶ ζῴων κεῖται. ὁ δέ γε τὰς πηγὰς γῆς ἱδρῶτας εἰπὼν τροπικῶς εἶπεν, ὥσπερ καὶ ὁ τὸν οἶνον εἰπὼν „Βρομιάδος ἱδρῶτα πηγῆς“, ἀμπέλου δηλαδή, καὶ τὸν ἰξὸν δὲ δρυὸς ἱδρῶτα, ὡς τὸ „δρυὸς ἱδρὼς καὶ θαμνομήκης κλάδος“. Das ἱδρῶσαι (schwitzen) wird entweder gesagt im Sinne einer Zusammenordnung zweier Getrennter oder es wird aus ἵδρώουσαι verkürzt. Schweiß aber und schwitzen sind prinzipiell Eigenschaften von Lebewesen. Der Raureif der Erde aber wird, mit tropischen Wor-

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ten benannt, als Schweiß bezeichnet, wie er auch den Wein den „Schweiß der BromiosQuelle“ nennt, des wilden Weins natürlich, so nennt er auch das Harz der Eiche Schweiß, wie in „der Eiche Schweiß und ihr langer Ast“.

Literatur: Gulick (1930) z. St. 451, Anm. c meint, das Rätselobjekt sei die Hohltaube, die sich von Misteln nährt (Athen. IX 394e). Das Gewand aus Flachs deutet er auf ein Feld mit Flachssaat. Schweighäuser V (1804) 555 f. 2 Rätsel vom Schatten Theodektes, TrGF I, 72 F 18 Snell; AP App. VII 12; zit. Athen. X 451e; S 30 τίς φύσις οὔθ’ ὅσα γαῖα φέρει τροφὸς οὔθ’ ὅσα πόντος οὔτε βροτοῖσιν ἔχει γυίων αὔξησιν ὁμοίαν, ἀλλ’ ἐν μὲν γενέσει πρωτοσπόρῳ ἐστὶ μεγίστη, ἐν δὲ μέσαις ἀκμαῖς μικρά, γήρᾳ δὲ πρὸς αὐτῷ μορφῇ καὶ μεγέθει μείζων πάλιν ἐστὶν ἁπάντων; Welches Wesen ist weder wie alles, was die Nährerin Erde hervorbringt oder die See, noch hat es ein den Sterblichen ähnliches Wachstum der Glieder, vielmehr bei seinem ersten Entstehen ist es am größten, mitten in der Blüte des Lebens klein, im Alter dann aber ist es an Gestalt und Größe mächtiger wieder als alles?

Form: 5 Hexameter Erklärung: Das Rätsel ist aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers formuliert und weist mit dem Begriff φύσις vorsichtig darauf hin, dass ein Abstraktum, keine Person, gesucht ist. vv. 1–2: Hier wird jeder denkbare Vergleich mit dem Menschen und allen Land- und Meerestieren oder -Pflanzen und damit (scheinbar) jeder Hinweis, der aus einer Analogie abgeleitet werden könnte, negiert. Offen bleibt – aus unklaren Gründen – nur die Luft mit ihren Lebewesen. Die Kategorie der Rätsellösung ist mit φύσις äußerst ungenau bzw. sehr allgemein angegeben und unterstützt das konkrete Rätselraten kaum. vv. 2–5: Als Referenz für ein natürliches Wachstum, d. h. für ein lineares Wachstum von klein nach groß (und u. U. wieder zurück zu kleiner) wird der Mensch angeführt. Die Entwicklung des gesuchten Objekts jedoch ist gegenläufig, von groß nach klein und wieder nach groß (bzw. am größten) beschrieben. Da von einer γυίων αὔξησις die Rede ist, welche eine zu einem gewissen Grad vermenschlichende Vorstellung evoziert (unterstützt durch die konkretisierten

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Zeitbestimmungen ἐν γενέσει und γήρᾳ, die auf den Verlauf eines Menschenlebens hindeuten), die insofern mit der abstrakten φύσις (v. 1) kollidiert, mutet die Beschreibung als allgemeines logisches Paradoxon an. Einen direkten Hinweis auf die Lösung des Rätsels im Schatten (σκία) liefert der Rätseltext nicht. Ein Rezipient muss eigenständig auf den Gedanken verfallen, dass weder die (Körper)Glieder (γυῖα) noch Geburt (γένεσις) oder Alter (γῆρας) im konkreten, menschlichen Sinne, sondern vielmehr im abstrahiertverallgemeinerten Sinne auf der Grundlage einer Analogie der Form bzw. der chronologischen Abfolge zu verstehen sind. Ein besonderes Spiel liegt zusätzlich darin, dass der Mensch selbst ja einen Schatten wirft, dessen Größe sich im Laufe eines Tages exakt entgegengesetzt zur Größe des menschlichen Körpers im Laufe seines Lebens entwickelt. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche, paraphrasierende Rätsel vom Schlaf, AP App. VII 11; ferner die ganz ähnliche Struktur im Sphinx-Rätsel vom Menschen (Hyp. Eur. Phoen.). Literatur: Schweighäuser (1804) 536 f. Jacobs (1803) 350. 3 Orakel von Mann und Frau als Feigenbaum und Weinstock Diod. 8,23, Vogel Ἀψία ᾗ ποταμῶν ἱερώτατος εἰς ἅλα πίπτει, ἔνθ’ εἴσω βάλλοντι τὸν ἄρσενα θῆλυς ὀπυίει, ἔνθα πόλιν οἴκιζε, διδοῖ δέ σοι Αὔσονα χώραν. Wo der Apsia, der Flüsse heiligster, ins Meer sich ergießt, dort am Eingang vermählt sich dem Manne das Weib, dort gründe die Stadt, er schenkt dir das ausonische Land.

Form: 3 Hexameter Kontext: Die Chalkidier befragen das Orakel wegen der Gründung einer Stadt nach einem geeigneten Ort (χρησόμενοι περὶ ἀποικίας). Erklärung: Das Orakel gibt den Ort für die glückliche Gründung einer Kolonie an. Die Beschreibung des Ortes ist recht explizit, sie wird durch eine wörtliche Angabe und einen zusätzlichen metaphorischen Hinweis gegeben. v. 1: Explizite Benennung des favorisierten Ortes: Die Stadt soll an der Mündung des Flusses Apsia ins Meer gegründet werden.

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v. 2: Die hier verwendete Metapher konkretisiert die Beschreibung des Ortes noch näher. An der Mündung vereinigt sich eine Frau mit einem Mann. Das Verständnis dieses scheinbar obszönen Bildes wird dadurch erschwert, dass ὀπυίειν in aktiver Bedeutung eigentlich nur von Männern gesagt wird. Diodor selbst überliefert jedoch, wie die Chalkidier die Lösung des Spruchs fanden (8,23): οἱ δὲ κατὰ τὸν Ἀψίαν ποταμὸν εὑρόντες ἄμπελον περιπεπλεγμένην ἐρινεῷ (τὸ λεγόμενον ἀρσενόθηλυν) ἔκτισαν πόλιν. Sie aber fanden beim Fluss Apsia einen Weinstock, der sich um einen wilden Feigenbaum wand (die beschriebene Verbindung von Mann und Frau) und gründeten dort ihre Stadt.

Hier spielen bildlich-optische Hinweise und metasprachliche Lösungsprinzipien zusammen. Der Anblick der Pflanzen, von denen die Weinrebe (ἡ ἄμπελος) tatsächlich aktiv den Feigenbaum (ὁ ἐρινεός) umschlingt, verweist die Chalkidier auf die metasprachliche Lösungsebene, nach der das Genus der Pflanzennamen ihre Bezeichnung als Mann (ἄρσην) und Frau (θῆλυς) rechtfertigt. Der Umstand, dass die Adjektive anstelle der Substantive (ἀνήρ und γύνη) verwendet sind, mag einen dezenten Hinweis darauf geben, dass keine menschlichen Personen als Rätselobjekte gesucht sind und die Benennung der Geschlechter im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Als Kategorie für die Lösungsobjekte steht die Angabe der Geschlechter in einem sehr allgemeinen Sinne, der Mann und Frau beinahe schon als willkürliche Ersetzungen für Feigenbaum und Weinrebe erscheinen lässt. 4 Rätsel vom gefällten Lorbeerbaum AP IX 124, Beckby Ποῖ Φοῖβος πεπόρευται; Ἄρῃς ἀναμίγνυτο Δάφνῃ. Wo ist Phoibos denn hin? Ares verbindet sich mit Daphne.

Form: Hexameter Erklärung: Es handelt sich laut Beckby um eine „wirkliche Inschrift“. Die Identifizierung des Einzeilers als Rätsel durch Berra (2008) 668 f. ist daher zweifelhaft, da die Inschrift u. U. nur ohne ihren ursprünglichen Kontext rätselhaft wirkt, ursprünglich aber nicht zwingend als Rätsel intendiert gewesen sein muss (wenn es sich etwa um eine „Bildunterschrift“ zu einer entsprechenden Darstellung gehandelt hätte). Sofern der Hexameter jedoch als Rätsel aufgefasst werden soll, was in einer entsprechenden Rätselsituation freilich durchaus möglich wäre, ist er folgendermaßen zu verstehen:

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Phoibos Apollon ist für seine große, unerfüllte Liebe zu der Bergnymphe Daphne bekannt, die sich auf der Flucht vor dem sie verfolgenden Gott in einen Lorbeerbaum verwandelte (Ov. met. 1,545–556). In der ersten Hälfte des Verses wird nun die Abwesenheit jenes unerfüllt Liebenden suggeriert, der im Gedenken an die ewig Unerreichte nicht nur die Lorbeerpflanze zu einem geheiligten Baum erklärte, sondern selbst den Lorbeerkranz als allbekannte Insignie trug. Da, so suggeriert es die Formulierung, ein kausaler Zusammenhang zwischen jener Abwesenheit und der Vereinigung (ἀναμίγνυτο) von Ares und Daphne, von welcher in der zweiten Vershälfte die Rede ist, zu bestehen scheint, muss der Rezipient in erster Instanz an eine erotische Verbindung denken, die der eifersüchtige Sonnengott in seiner Anwesenheit wohl zu verhindern gewusst hätte. Zugleich stellt sich freilich die Frage danach, wie eine solche Vereinigung, sofern Daphne bereits in den Baum verwandelt wäre, vollzogen werden könnte. Tatsächlich aber steht Ares hier nicht als personelle Gottheit, sondern metonymisch (causa pro effectu) für das Eisen einer Axt oder einer anderen Waffe, die sich zum Fällen eines Baumes eignet. Jene Verbindung ist mithin ganz und gar nicht euphemistisch als erotisch-zärtliche, sondern im Gegenteil als kriegerisch-aggressive zu verstehen. Nur wo Apoll, dem der Lorbeerbaum heilig ist, für den Daphne allegorisch steht, abwesend ist, kann mit der Kraft des Ares, d. h. durch die wiederholte Berührung einer Axt, als die wohl jene euphemistisch als solche bezeichnete Vereinigung aufzufassen ist, ein Lorbeerbaum gefällt werden.

5 Rätsel vom Topf Anaxandrid. PCG II, frg. 6, p. 241 K.-A. mit Konjektur von Kaibel; zit. Athen. X 455f. ἀρτίως διηρτάμηκε, καὶ τὰ μὲν διανεκῆ σώματος μέρη δαμάζετ’ ἐν πυρικτίτῳ στέγᾳ· Τιμόθεος ἔφη ποτ’, ἄνδρες, τὴν χύτραν οἶμαι λέγων. 2 ἐν πυρικτίτοισι γᾶς K.-A.

Kürzlich hat er es zerschnitten und die zusammenhängenden Teile des Körpers hat er gezähmt in einem feuergestärkten, irdenen Gefäß. Timotheos hat das einst gesagt, ihr Männer, und dabei, glaube ich, den Topf gemeint.

Form: 3 trochäische Tetrameter Erklärung: Ob es sich um eine rätselhafte Metapher handelt, oder ob das Rätsel von jemandem rezitiert wird, der es selbst einmal (als Rezipient) gehört hat, lässt sich aus dem Zusammenhang nicht eindeutig erschließen. Die Verwendbarkeit der

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Formulierung (ἐν πυρικτίτῳ στέγᾳ) als Rätsel in entsprechendem Kontext ist jedoch ohne Zweifel. v. 1: Hier wird ein echter Hinweis auf den Vorgang des Kochens gegeben. Fleisch, darauf scheint die Erwähnung eines σῶμα (v. 2) hinzudeuten, wird zuerst mundgerecht zerschnitten, vom Knochen gelöst o. Ä. (διηρτάμηκε) und dann in dem zu erratenden Gefäß gekocht. Ein scheinbarer Widerspruch entsteht zwischen den gegensätzlichen Begriffen διηρτάμηκε (er zerschnitt) und διανεκῆ (die unversehrten, zusammenhängenden, d. h. nicht-zerschnittenen). Gedacht ist offenbar an größere Fleischscheiben, die beide Eigenschaften verbinden, insofern sie (a) von einem noch größeren Stück, nämlich dem σῶμα, abgeschnitten sind und (b) jeweils für sich genommen zugleich ein zusammenhängendes Stück darstellen. v. 2: Hier steht einerseits στέγη (eigentlich „Haus“) in einer metaphorischübertriebenen Verallgemeinerung für ein Gefäß (mit Außenwänden), in das man etwas hineinlegen kann. Der Zusatz πυρικτίτῳ gibt einen Hinweis auf das Material bzw. die Herstellung des irdenen Topfes. Zugleich ist jedoch eine Irreführung durch die Formulierung denkbar, insofern auch Ziegel aus Lehm o. Ä. gebrannt waren, wodurch erneut die engere Bedeutung von στεγή nahegelegt wird. Andererseits steht δαμάζειν (eigentlich „zähmen“, „unterwerfen“) metaphorisch konkretisierend in der Bedeutung „kochen“, ein Mahl „den eigenen Wünschen entsprechend zubereiten“. v. 3 enthält einen Hinweis auf die ursprüngliche Provenienz des Rätsels und ist für seine Lösung unerheblich. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ähnliche von Athen. X 449b dem Antiphanes zugeschriebene rätselartige Parodie auf einen Topf. Literatur: Schweighäuser V (1804) 589 f.

6 Rätsel vom Aulos Philetas frg. 15 Lightfoot (frg. 16 Powell); Athen. II 71a γηρύσαιτο δὲ νεβρός ἀπὸ ψυχὴν ὀλέσασα, ὀξείης κάκτου τύμμα φυλαξαμένη. Es soll singen das Rehkitz, das sein Leben verlor, wenn es einer Verwundung durch die stachelige Artischocke entging.

Form: Elegisches Distichon

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Erklärung: Das Rätsel vom Aulos umschreibt das aus einem Reh-Knochen gefertigte Instrument durch Bezugnahme auf das lebendige Tier selbst. v. 1: In νεβρός ist das Rätselobjekt selbst in verallgemeinerter Form angegeben. Das (lebendige) Rehkitz steht als Ganzes für seinen Knochen, der ihm nach seinem Tod entfernt und zu einem Instrument verarbeitet wird. Der geschilderte kausale Zusammenhang erscheint dabei zunächst paradox: Erfahrungsgemäß gilt das Vorhandensein einer (intakten) ψυχή schließlich als Voraussetzung für alle aktiven Tätigkeiten eines Lebewesens und besonders für etwas so Lebhaftes wie das Erzeugen von Musik (γηρύειν). Vice versa wird der Tod eines Lebewesens gewöhnlich mit seiner (endgültigen) Stummheit assoziiert. Die Darstellung des Rätsels verkehrt nun diese gewohnte Verkettung von Voraussetzung und Folge ins Gegenteil. v. 2: Zunächst verwundert, dass dasselbe Wesen, das seinen Lebensatem offenbar bereits ausgehaucht hat (ἀπὸ ψυχὴ ὀλέσασα), einer Verletzung – die in einer erwartbaren logischen Kausalkette den Ausgangspunkt für den beschriebenen Verlust der ψυχή hätte bilden können – gerade entgangen sein soll. Auch hierin liegt ein gewisser (leichter) Widerspruch. Dabei konkretisiert der Vers das für die Verarbeitung als Instrument geeignete Rehkitz weiter: Da der Knochen eines durch die stachelige Pflanze verletzten Tieres als unmusikalisch galt (Antigonos, Mirabilia 8; Hesych. s. v. κάκτος), avancierten zum Aulos nur solche Knochen von unversehrten Tieren. Die Todesursache (v. 1) desjenigen Rehkitzes, dessen Knochen als Instrument Verwendung findet, ist somit gerade nicht die Verletzung an den Dornen der stacheligen Artischocke (v. 2). Intertextuelle Verweise: Der Topos von einem im Tod als Instrument tönenden Tier bzw. einem seiner Körperteile findet sich auch in anderen Rätseln, vgl. das Muschelhorn als Trompete, AP App. VII 32; Widder und Schildkröte als Lyra, AP XIV 30; Reh- bzw. Pfauenknochen als phrygische Flöte, Kleobuline, IEG II, frg. 3 West; ferner zum „klangvollen Tod“ auch Hom. h. 4, 37 f. (zur Lyra); Pacuv. Antiopa frg. 3 Schierl; Cic. div. 2,64,133. Literatur: Vgl. Kwapisz (2013a) 158, der eine bewusste Bezugnahme, vielleicht auch eine gezielte Polemik auf Kleobuline, IEG II, frg. 3 West annimmt, wo es heißt, die Auloi würden nicht (mehr) aus den Knochen von Rehkitzen, sondern aus denen von Pfauen hergestellt. Zum Motiv des stummen Lebens gegenüber einem klagvollen Tod vgl. Borthwick (1970) 373 ff. 380; Nisbet-Rudd (2004) 153 f. Jacobs (1803) 344.

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7 Ungelöstes Rätsel von der Trichterwahlurne Eubulos, PCG V, frg. 106,21–25, p. 253 K.-A.; Addenda et Corrigenda zu AP App. VII; zit. Athen. X 450bc; S 33. O 163 f. ἔστιν ἄγαλμα μεμυκὸς ἄνω, τὰ κάτω δὲ κεχηνός, εἰς πόδας ἐκ κεφαλῆς τετρημένον ὀξὺ διαπρό, ἀνθρώπους τίκτον κατὰ τὴν πυγὴν ἕν’ ἕκαστον, ὧν οἱ μὲν μοίρας ἔλαχον βίου, οἱ δὲ πλανῶνται, † αὐτὸ δ’ ἕκαστος ἔχων αὐτόν, καλέω δὲ φυλάττειν † Es gibt eine Gestalt, die ist oben eng und unten weit offen, vom Kopf bis zu den Füßen durchbohrt, gänzlich scharf, die Menschen gebiert sie aus ihrem Rumpf jeden einzeln, von denen die einen zwar das Los des Lebens erhalten, die anderen aber herumwandern; Ich sage, jeder soll selbst das Seinige haben und wachsam sein.

Form: 5 Hexameter Erklärung: Verrätselt ist offenbar eine zweiteilige Konstruktion aus einem Trichter mit darunter befindlichem Gefäß, in dem das durch den Trichter Eingeworfene gesammelt wird. Es könnte sich diese Vorstellung, wie sie gemeinhin gedeutet wird, auf eine Wahlurne mit darüber gesetztem Trichter beziehen (Casaubon II (1843) 468–470 z. St.), der anhand seiner äußeren Form und seiner Funktion umschrieben wird. Die Kategorie des Rätselobjekts ist in ἄγαλμα sehr allgemein angegeben und gleicht beinahe einer Annullierung, die das konkrete Raten aufgrund der mangelnden Spezifik des Wortes nur wenig unterstützt. Einzig, es mag das ἄγαλμα auf die positive Wirkung des Objekts sowie auf seinen Charakter als statuenähnliches Gebilde hinweisen, vgl. LSJ 5 s. v. 2 und 4. v. 1: Der Trichter hat oben am Einwurf eine enge, kleine Öffnung (μεμυκός), hinter der wohl ein schmaler Durchlauf (ὀξὺ διαπρό, v. 2) zu denken ist. Am unteren Ende öffnet sich der Trichter weit (κεχηνός) und entlässt das Eingeworfene in ein darunter stehendes Gefäß, das freilich ebenso mit einer ausreichend großen Öffnung versehen sein muss. Der Aufbau eines Menschenkörpers, v. a. eines weiblichen, der hier als metaphorische Bezugsgröße (v. 2 πόδες und κεφαλή) dient, ist entsprechen ausgerichtet: Der Kopf als oberster und schmalster Punkt, der schlanke Hals, verbreitert über die Schultern und Hüften, auslaufend in die nach unten geöffneten primären Geschlechtsorgane; vgl. zu dieser Körperanalogie auch ἄγαλμα als Statue (LSJ 5 s. v. 4). Ein solcher Aufbau ist für die moderne Vorstellung mit einem Trichter befremdlich, vgl. Ohlert (21912) 164, der mit Verweis auf Poll. 8,17 – vice versa – von einer oberen, breiten und einer unteren, schmalen Öffnung ausgeht.

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v. 2a: Der Trichter muss an beiden Enden offen sein, damit das Eingeworfene, etwa ein Stimmstein, von oben nach unten in das darunter stehende Gefäß hindurchgeleitet werden kann. Das gewählte Verb τετραίνειν bringt diesen Zustand zum Ausdruck, suggeriert aber zusätzlich als Irreführung, dass dieser Zustand in irgendeiner Form durch Gewalt hergestellt worden sei; vgl. zur Formulierung „von Kopf bis Fuß“ (εἰς πόδας ἐκ κεφαλῆς) Hom. Il. 16,640. 18,353. 23,169. vv. 3–4: Die Abstimmung mit Stimmsteinen an der Wahlurne entscheidet in verschiedenen Zusammenhängen über das Schicksal von Menschen. Die Urne bzw. der Trichter sind hier als Entscheidungsträger personifiziert. Den Vorgang mit einer Geburt (τίκτειν) zu vergleichen, deutet u. U. die existenziellen Urteile an, die mithilfe des Mechanismus gefällt wurden. Andererseits lässt sich eine obszöne Konnotation der ganzen Beschreibung mit dem anatomisch begrenzt vergleichbaren weiblichen Geschlechtsorgan kaum leugnen, vgl. hierzu Schultz (1912) 40 nr. 33. v. 5: Der Abschluss des Rätsels ist ungewiss, scheint jedoch eine Ermahnung zu enthalten, die rät, das eigene Schicksal gut zu verwalten. In einzelnen Handschriften ist darüber hinaus ein direkter Lösungsaufruf (καὶ ζήτει λύσιν) enthalten, vgl. Kassel-Austin, PCG V, p. 253 z. St. Intertextuelle Verweise: Hesych. s. v. κημός. Poll. 8,17. Literatur: Schweighäuser V (1804) 544–548.

8 Rätsel vom Muschelhorn Theogn. 1229 f., IEG I, p. 233 West; zit. Athen. 457b ἤδη γάρ με κέκληκε θαλάσσιος οἴκαδε νεκρός, τεθνηκὼς ζωῶι φθεγγόμενος στόματι. Gerade nämlich rief mich ein Toter aus dem Meer nach Hause, im Tode mit lebendigem Munde singend.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Sprecher ist das lyrische Ich des Dichters, das gesuchte Rätselobjekt der θαλάσσιος νεκρός. Obwohl Theognis die Verse im Kontext seiner Elegien, wo sie

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den Abschluss des ersten Buches bilden, wohl eher als metaphorische Sprechweise, denn als Rätsel im engeren Sinne verwendet, steht außer Frage, dass sie, ganz wie es Athenaios, der sie im Rahmen seines Diskurses über das Rätsel als Beispiel der Gattung anführt, versteht, in einer entsprechenden Situation und mit der betreffenden Intention ganz eigentlich als Rätsel Verwendung finden können. v. 1: Der θαλάσσιος νεκρός lässt sich identifizieren als Haus einer verstorbenen (νεκρός) Meeresschnecke (θαλάσσιος). Das Muschelhorn, selbst freilich nicht tot im engeren Sinne, sondern vielmehr unbelebte Hinterlassenschaft des sterblichen Tiers (verallgemeinerte Kategorie des Rätselobjekts) und in diesem übertragenen Sinne νεκρός, findet Verwendung als eine Art Trompete und ruft (κέκληκε) in diesem ebenfalls metaphorisch transformierten Sinne als Signalinstrument denjenigen, dem das Signal gilt. In dem vorliegenden Fall wird der Dichter nach Hause (oἴκαδε) gerufen, womit – am Ende des Elegienbuches – wohl nur gemeint sein kann, dass er wiederum im übertragenen Sinne von der Arbeit heimgerufen wird, mithin das Buch an der betreffenden Stelle beendet. In einem anderen Kontext erzählt, wäre jenes Heimrufen jedoch auf jegliche Art von Abberufung von einer gegenwärtigen Tätigkeit zu beziehen. Dass einem Toten überhaupt das aktive Ausführen einer Handlung zugeschrieben ist, erzeugt hier, vor der metaphorischen Ausdeutung, einen ersten paradoxen Eindruck. v. 2: Erschwert wird das Verständnis des Gesagten durch den scheinbaren Widerspruch in der Verbindung τεθνηκὼς ζῳῷ, der durch die direkte Nachbarschaft beider Worte unterstrichen wird. Gewöhnlich sind Lebewesen während ihrer Lebensdauer sprach- bzw. stimmbegabt und verlieren jene Artikulationsfähigkeit dann im stummen Tod. Die Rätselformulierung suggeriert nun, dass es ein Wesen gibt, bei dem die Zuordnung der Eigenschaften umgekehrt verläuft. Einen Ausweg aus diesem gedanklichen Dilemma bietet die „Zweiteiligkeit“ der (Meeres)Schnecke. Nicht das (ganze) Tier selbst, dessen lautliche Äußerungen sich wohl auch zu seinen Lebzeiten in Grenzen halten, tönt nach seinem Tod, sondern nur das zum Instrument gewordene Schneckenhaus. Der Mund (στόμα), von dem in diesem Zusammenhang die Rede ist und der als geläufiges Körperteil eines Lebewesens fälschlicherweise suggeriert, hier sei tatsächlich auf das Wesen in seiner körperlichen Gesamtheit angespielt, ist in diesem Sinne als Öffnung der Muschel zu verstehen, aus welcher der durch Hineinblasen erzeugte Ton – wie aus einem Mund (funktionale Analogie) – entweicht. Intertextuelle Verweise: Vgl. die inhaltlich sehr ähnlichen, jedoch anders formulierten Schlussverse des Rätsels von der Schnecke (AP App. VII 32). Zum klingenden Tod gegenüber dem stummen Leben ferner AP XIV 30 (Lyra) und Pacuv. frg. 3 Schierl (= frg. 4 Warmington = frg. 1 D’Anna).

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Literatur: Zum Motiv des stummen Lebens gegenüber einem klagvollen Tod vgl. Borthwick (1970) 373 ff. 380; Nisbet-Rudd (2004) 153 f. Schweighäuser V (1804) 593 f.

9 Rätsel von der phrygischen Flöte Kleobuline, IEG II, frg. 3, p. 51 West; Plut. conv. sept. sap. 150ef; S 38a ὁ δ’ Αἴσωπος, „εἴ γε” εἶπεν „εἰδείης ὦ ξένε τοὺς νῦν αὐλοποιοὺς ὡς προέμενοι τὰ νεβρεῖα χρῶνται τοῖς ὀνείοις καὶ βέλτιον ἠχεῖν λέγουσιν. διὸ καὶ Κλεοβουλίνη πρὸς τὸν Φρύγιον αὐλὸν ᾐνίξατο· κνήμηι νεκρὸς ὄνος με κερασφόρωι οὖας ἔκρουσεν· ὥστε θαυμάζειν τὸν ὄνον, εἰ παχύτατος καὶ ἀμουσότατος ὢν τἄλλα, λεπτότατον καὶ μουσικώτατον ὀστέον παρέχεται. Darauf sagte Aesop: „Du dürftest wohl wissen, mein Freund, dass die heutigen Flötenbauer, da sie abgelassen haben von den Knochen der Rehkitze, Eselsknochen verwenden, und sie behaupten, dass die einen besseren Klang haben. Deshalb stellte auch Kleobuline über die phrygische Flöte folgendes Rätsel: „Mit einem Schienbein aus Horn schlug ein toter Esel in meinen Ohren Musik.“ Sodass man sich wundert, dass der Esel, der bezüglich aller anderer Dinge grob und unmelodisch ist, einen ganz feinen und harmonischen Knochen bereitstellt.“

Form: Hexameter mit Prosa-Rahmen Erklärung: Die Flöte wird aus dem Schienbeinknochen des Esels hergestellt, vgl. Plin. nat. 7,204. 11,215. 16,172. Das Schienbein aus Horn (κνήμη κερασφόρος) bezeichnet metaphorisch im Hinblick auf das Material den Knochen (Synekdoche, materia pro opere), d. h. den Teil des Beins, der nach dem Tod des Esels übrig bleibt, den die Formulierung zum ganzen Bein verallgemeinert. Hinzu kommt das Paradoxon von einem toten Esel, dem eine aktive Handlung zugeschrieben wird, zumal κρούειν mit einer gewissen Kraft bzw. Vitalität assoziiert wird. Besonders irreführend wirkt sich die ungenaue Verschiebung des Subjekts auf den (toten) Esel aus, wo die Aktion eigentlich von der Flöte, d. h. dem Beinknochen, oder sogar von dem unerwähnten Flötenspieler ausgeht. Das Verb κρούειν scheint in musikalischen Kontexten gebräuchlich, vgl. Eur. Suppl. 720; Plat. Lys. 209b; Sim. 183,6; Athen. XIV 636d, doch in der Verbindung mit den Ohren als direktem Objekt (οὖας) wirkt es eher militant. In militärischen Kontexten werden z. B. Schilde zusammengeschlagen, eventuell suggeriert der Kontext με ... οὖας fälschlicherweise diese Bedeutungskomponente, denn das direkte Objekt zu κρούειν ist in der Regel das Instrument, das „geschlagen“ wird, um einen Ton zu erzeugen.

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10 Orakel über ein Heilmittel für Epilepsie AP XIV 149, Beckby Μείζον’ ἀειράμενος κεφαλῆς ποιμνηίου εὐλὴν μηκάδος ἀγρονόμοιο δέμας περικάββαλε μήλου, ἑρπηστὰν πολύπλαγκτον ἐυρρήνου ἀπὸ κόρσης ... Nimm den größeren Wurm vom Haupte des Bocks der Herde der meckernden wilden Ziege Körper leg zu Boden, und den kriechenden Wurm vom starkwolligen Kopf …

Form: 3 Hexameter Erklärung: Das Orakel ist nicht vollständig überliefert, doch das Scholion zur Stelle gibt den Inhalt zusammenhängend wieder: χρησμὸς δοθεὶς Τιμοκράτῃ Ἀθηναίῳ ἐρωτήσαντι περὶ ἐπιληψίας. – Τοῦτον τὸν χρησμὸν διεσάφησε Θεόγνωστος ὁ Δημοκρήτειος ἔτος ἐλαύνων οὗτως· τῶν ἐν τοῖς ποιμνίοις αἰγῶν φυσικῶς, φησίν, ἔγκυος γίνεται ἡ κεφαλὴ κατὰ τὴν τοῦ ἐγκεφάλου βάσιν πολλῶν σκωλήκων· ἐπερχομένου γοῦν πταρμοῦ τῷ ζῴῳ, ἀπαλλάττονται πολλοὶ ἐκ τῶν ῥωθώνων τῆς αἰγὸς σκώληκες· χρὴ οὖν ὑποστορέσαντα ἱμάτιον διὰ τὸ μὴ ἅψασθαι τῆς γῆς τοὺς σκώληκας, λαβεῖν α´ η´ γ´ καὶ ἐνδήσαντα εἰς δέρμα μέλανος προβάτου ἐξάψαι ἁπαλῆς ἀπὸ δειρῆς, καὶ ἔστιν ἀντιπαθὲς τῆς νόσου. Das Orakel wurde Timokrates aus Athen gegeben, der wegen Epilepsie anfragte. – Dieses Orakel legte deutlich Theognostos, der Demokrit-Schüler, aus, indem er ganz richtig folgendermaßen sagte: Von Natur aus wird in Viehherden der Kopf der Ziegen schwanger an vielen Würmern unter der Basis des Gehirns; wenn dem Tier dann ein Niesen entfährt, fallen viele Würmer aus der Nase der Ziege. Man muss also einen Mantel darunter ausbreiten, damit die Würmer nicht den Boden berühren, dann muss man 1, 2, 3 nehmen und in die Haut eines schwarzen Schafes wickeln und sie am weichen Hals befestigen, und das ist ein Gegenmittel gegen die Krankheit.

Es scheint also, als enthalte der Orakelspruch im Wesentlichen unverschlüsselte Angaben zur Behandlung der Krankheit, die wohl insbesondere für einen fachsprachlich gebildeten Arzt eher einem Rezept als einem Rätsel gleichen. Einzig der δέμας μήλου (Schafskörper) scheint, vergleicht man ἱμάτιον als Entsprechung im Scholion, metaphorisch im Sinne einer Metonymie (totum pro parte) gemeint. Nicht das ganze Schaf, sondern sein Fell bzw. seine Haut sollen – als Mantel – am Boden ausgebreitet werden, um die Würmer aufzufangen. Dabei spielt δέμα kunstvoll paraphon auf das eigentlich gemeinte δέρμα μήλου an, aus dem der Mantel (ἱμάτιον) gefertigt ist.

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11 Ungelöstes Rätsel vom Seiltänzer/Weltenbaum AP App. VII 22. 51, Cougny; Basil. Megalomit. 8, Anecd. Gr. III, p. 440 Boiss.; S 81 Ἔστι τι δένδρον τῶν ἀνακτόρων μέσον, οὗ ῥίζα καὶ ζῇ, καὶ λαλεῖ καρποῖς ἅμα, μιᾷ δ’ ἐν ὥρᾳ καὶ φυτεύεται ξένως, καὶ καρπὸν αὔξει, καὶ τρυγᾶται ῥιζόθεν. 3 Ὥρᾳ δὲ μιᾷ AP App. VII 51

4 καὶ πάλιν πίπτει AP App. VII 51

Es gibt einen gewissen Baum in der Mitte der Herrschersitze, dessen Wurzel zugleich mit den Früchten lebt und spricht, zu einer Jahreszeit aber wird er auch auf ungewöhnlich Weise verpflanzt und er vermehrt die Frucht und wird von der Wurzel her abgepflückt.

Form: 4 byzantinische Senare Erklärung: Das Rätsel ist unter dem Lemma Κοντοπαίκτης überliefert. Inwiefern der Inhalt des Textes jedoch auf einen Seiltänzer zu deuten sein könnte, ist bislang unklar geblieben. Schultz (1909) 51 f. nr. 81 glaubt, es könnte eine frühere volkstümliche, heute unverstandene Deutung auf einen Weltendom gegeben haben, spricht sich jedoch selbst für den Phallus als obszöne Lösung des Rätsels aus. In diesem Fall müsste wohl v. 1 auf die Anatomie des männlichen Gliedes gedeutet werden, während die vv. 3–4 auf den Geschlechtsakt und die Zeugung gingen. v. 2 hingegen bliebe in dieser Deutung im Wesentlichen unerklärt; Schultz (1909) 51 f. vergleicht Hüsing (1909) 174 ff. für eine solche „sprechende Pflanze“. Intertextuelle Verweise: AP App. VII 22 (Julianos Apostata) und AP App. VII 51 (Basil. Megalomit. 8 Boiss.) sind bis auf geringe sprachliche Abweichungen in vv. 3 und 4 identisch. Ein echtes Rätsel vom Seiltänzer (funambulus) bietet Symphosius 95 Leary: inter luciferum caelum terrasque iacentes aera per medium docta meat arte viator. Semita sed brevis est, pedibus nec sufficit ipsis.

12 Rätsel vom Hahn Basil. Megalomit. 23, Anecd. Gr. III, p. 445 Boiss.; S 85 Ἔστι τις ἄρσην ἐξελθὼν λευκῆς πέτρας, Οὗ πώγων ὡς πῦρ ἀπαστράπλει μακρόθεν· Αὐτοῦ δὲ ποσὶ συνταράσσεται γαῖα·

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Αὐτοῦ δὲ φωνήσαντος πᾶς δαίμων φεύγει· Τούτου δὲ ταῖς πλέρυξιν ἄεμος πνέει. Es gibt ein männliches Wesen, das kommt aus einem weißen Stein, und dessen Bart leuchtet von weitem wie Feuer; durch seine Füße wird die Erde in Unordnung gebracht; jeder Daimon flieht seinen Schrei; für seine Flügel bläst der Wind.

Form: 5 byzantinische Senare Erklärung: Das aus der Erzählerperspektive vorgetragene Rätsel verfährt beinahe ausschließlich paraphrasierend. Metaphorisch ist einzig der λευκὴ πέτρα, der aufgrund seiner Analogie in Form und Farbe für das (Hühner-)Ei steht, aus welchem der Hahn als Rätselobjekt schlüpft. Jeder der fünf Verse enthält einen einzelnen Hinweis, die sich zu einem recht vollständigen Bild des gesuchten Objekts addieren. v. 1: Neben der Metapher vom weißen Stein liegt in ἄρσην ein echter Hinweis, insofern alle Hennen ausgeschlossen werden. Sofern der λευκὴ πέτρα korrekt auf ein Ei gedeutet wird, ist der semantische Lösungsraum auf die männlichen Vögel eingeschränkt (Synekdoche, genus pro specie). v. 2: In der Umschreibung des Aussehens, die auf die roten Kehlklappen (u. U. auch auf den noch charakteristischeren Kamm?) anspielt, liegt ein echter Hinweis für die Lösung. v. 3: Auch hierin liegt ein echter Hinweis, da Hähne wohl gewohnheitsmäßig mit den Füßen in der Erde scharren. Die Gelegenheit zu einem schönen Gegensatz hat sich der Rätseldichter jedoch entgehen lassen: Während er mit den Füßen die Erde aufwühlt, ordnet er sie (als Welt) mit seiner Stimme (als Weckruf und Tageszeitanzeige). v. 4: Es wird auf die religiöse Konnotation des Hahns angespielt, der mit seinem Weckruf den Tag heraufführt bzw. ansagt und damit das Dunkel der Nacht und ihre Liebhaber (πᾶς δαίμων, v. 4) vertreibt; vgl. hierzu die anderen Rätsel vom Hahn, s. u.; ferner Prud. Cath. 1,38: Ferunt vagantes daemonas, laetos tenebris noctium, Gallo canente exterritos sparsim timere et cedere. v. 5: Hierin liegt ein weiterer echter Hinweis auf die Gattung „Vogel“ als semantischer Lösungsraum. Intertextuelle Verweise: Vgl. die inhaltlich eigenständigen Rätsel vom Hahn in AP App. VII 30 (Buchstabenrätsel vom (ἀλ)έκτωρ) und AP App. VII 66 (Sklave, der seinen Herren zur Arbeit ruft).

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13 Orakel über die Nachbarschaft an Theben Hdt. 5,79 f., Wilson Θῃβαῖοι δὲ μετὰ ταῦτα ἐς θεὸν ἔπεμπον, βουλόμενοι τίσασθαι Ἀθηναίους. ἡ δὲ Πυθίη ἀπὸ σφέων μὲν αὐτῶν οὐκ ἔφη αὐτοῖσι εἶναι τίσιν, ἐς ‹ἀγορὴν› πολύφημον δὲ ἐξενείκαντας ἐκέλευε τῶν ἄγχιστα δέεσθαι. ἀπελθόντων ὦν τῶν θεοπρόπων ἐξέφερον τὸ χρηστήριον ἁλίην ποιησάμενοι· ὡς ἐπυνθάνοντο δὲ λεγόντων αὐτῶν τῶν ἄγχιστα δέεσθαι, εἶπαν οἱ Θηβαῖοι ἀκούσαντες τούτων· Οὐκ ὦν ἄγχιστα ἡμέων οἰκέουσι Ταναγραῖοί τε καὶ Κορωναῖοι καὶ Θεσπιέες; καὶ οὗτοί γε ἅμα ἡμῖν αἰεὶ μαχόμενοι προθύμως συνδιαφέρουσι τὸν πόλεμον. τί δεῖ τούτων γε δέεσθαι; ἀλλὰ μᾶλλον μὴ οὐ τοῦτο ᾖ τὸ χρηστήριον. τοιαῦτα ἐπιλεγομένων εἶπε δή κοτε μαθών τις· Ἐγώ μοι δοκέω συνιέναι τὸ θέλει λέγειν ἡμῖν τὸ μαντήιον. Ἀσωποῦ λέγονται γενέσθαι θυγατέρες Θήβη τε καὶ Αἴγινα· τουτέων ἀδελφεῶν ἐουσέων, δοκέω ἡμῖν Αἰγινητέων δέεσθαι τὸν θεὸν χρῇσαι τιμωρητήρων γενέσθαι. Die Thebaner schickten darauf nach dem Gotte, denn sie wollten einen Rachefeldzug gegen Athen unternehmen. Die Pythia gab zur Antwort, aus sich selbst heraus würden sie ihnen keine Rache bringen, und sie wies sie an, ihr Anliegen in der Volksversammlung vorzutragen und ihre Nachbarn um Hilfe zu bitten. Als die Boten fortgegangen waren, überbrachten sie den Orakelspruch und verkündeten ihn der Volksversammlung; als sie hörten, sie sollten ihre Nachbarn um Unterstützung ersuchen, sagten die Thebaner: „Sind denn nicht die Tanagrier, die Koronaier und die Thespier unsere Nachbarn? Und sie kämpfen immer mit uns gemeinsam und ziehen frohen Mutes in die Schlacht. Was ist es dann nötig, sie gesondert zu bitten? Aber dies ist ganz sicher nicht der Sinn des Orakels.“ Als sie so sprachen, sagte einer, der den Sinn verstand: „Ich glaube, ich verstehe, was das Orakel uns bedeuten will. Des Asopos Töchter, heißt es, seien Thebe und Aigina; so sind diese unsere Brüder und mir scheint, der Gott meint, wir sollen die Aigineten bitten, unsere Bundesgenossen zu werden.“

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Im andauernden Streit um die Vorherrschaft in Böotien, und weil Athen sich mit den Ioniern verbündet und kriegerisch gegen die Böotier und Chalkis vorgegangen war (5,77), sinnen die Thebaner auf Rache für ihre hohen Verluste und befragen das delphische Orakel über den Ausgang eines Vergeltungsschlags. Erklärung: Das Orakel äußert einerseits unzweideutig, dass Theben allein im Kampf mit Athen unterliegen wird. Als Bedingung für eine siegreiche Schlacht nennt es die Bundesgenossenschaft mit den ἄγχιστα. Hierin liegt nun eine Metapher. Während ἄγχος gewöhnlich in räumlichem (oder temporalem) Sinne gebraucht wird und damit auf die Theben nächstgelegenen Städte als ἄγχιστα bezogen sein müsste, verwendet das Orakel den Begriff in einem übertragenen, nämlich genealogischen Sinne der Nähe. Die Flussnymphe Thebe, eine Tochter des Asopos, wurde mit Zethos vermählt. Dieser eroberte mit seinem Bruder Amphion die Stadt Kadmeia, die da-

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raufhin zu Ehren seiner Frau in Theben umbenannt wurde, Pind. O. 6,4; I. 8,16 ff.; Apollod. 3,5,6; Paus. 2,5,1. 5,22,6; Diod. 4,72,1. Die auf diese Weise geehrte Nymphe hatte eine Schwester namens Aigina, die ebenfalls namensgebend wurde: Die Insel Oinone erhielt, nachdem die Asopos-Tochter von Zeus geraubt und auf die Insel verschleppt worden war, ihren Namen und wurde zu Aigina, Nonn. Dion. 7,122. Ov. met. 6,133. Pind. O. 9,69 f. Wie die Thebaner Nachfahren der Thebe sind, so stammen die Aigineten von Aigina ab. Da diese beiden Schwestern sind, sind auch die beiden Völker gleichsam durch mythologische Blutsbande miteinander verbunden. Auf diese „Nähe“ spielte das Orakel an und so verbündeten sich die Thebaner mit den Aigineten für ihren Kampf gegen Athen. Erschwert wird das Verständnis durch die neutrale Pluralform ἄγχιστα, welche (a) den Bezug auf mehrere Verbündete (etwa als τὰ πλήσια) nahelegt und (b) sich streng genommen grammatikalisch nicht auf die feminine Aigina beziehen lässt. Hieran zeigt sich eine minderwertige Qualität des Orakelspruchs als Rätsel – wenigstens in seiner hier paraphrasierten Form. Die stimmige Konstruktion derartiger sprachlich-grammatikalischer Feinheiten ist nämlich sonst in Rätseln durchaus üblich, vgl. die auf das Genus des Lösungswortes abgestimmten Formulierungen bes. in Verwandtschaftsrätseln, so bspw. Tag und Nacht als Schwestern (AP App. VII 14), Spielwürfel (Tryphon, de tropis 4, zit. Alkibiades, Ep. Gr. varia *1120 Kaibel) dagegen als Brüder u.ä. Die Thebaner als Rätsellöser: Die Thebaner erweisen sich als sehr besonnene und darum am Ende erfolgreiche Rätsellöser. Die naheliegende, falsche Lösung des Rätsels, die Deutung der ἄγχιστα auf die Nachbarstädte, schließen sie selbst aufgrund logischer Unstimmigkeiten aus. Die selbstverständliche und lange eingespielte Unterstützung durch die Nachbarstädte bedarf einerseits (1) keiner Bitte (δέεσθαι), sodass der zweite Teil des Spruchs bei einer entsprechenden Deutung gegenstandslos würde. Andererseits (2) müsste auch der erste Teil des Orakels unter diesen Umständen widersprüchlich erscheinen, da Theben offenbar nie ganz allein (ἀπὸ σφέων μὲν αὐτῶν), sondern immer mit entsprechender Unterstützung aus dem Umland kämpfte. Durch diese Einsicht eröffnen sich die Thebaner den Blick für eine zweite Bedeutungsebene des Gesagten – und damit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Rätsellösung. Der Rätsellöser, der bei Herodot anonym bleibt, verfügt zusätzlich über das mythologische Spezialwissen, welches als Bezugssystem für eine erfolgreiche Erklärung dieser zweiten Bedeutungsebene notwendig ist.

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Literatur: Vgl. zu den Töchtern des Asopos Nagy (2011) 41–78, bes. 76 f. zu Hdt. 5,79 und der zugrunde liegenden mythologischen Verwandtschaft zwischen Aigina und Theben; hierzu ferner Fearn (2003) 359 und (2007) 88–95. 14 Rätsel von der Doppelflöte AP XIV 14, Beckby; S 69 Εἷς ἄνεμος, δύο νῆες, ἐρέττουσιν δέκα ναῦται· εἷς δὲ κυβερνήτης ἀμφοτέρας ἐλάει. Ein Wind, zwei Schiffe, es rudern zehn Matrosen; ein Steuermann aber nur lenkt beide Schiffe.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Aus der Sicht eines auktorialen Erzählers wird die Doppelflöte mithilfe einer Schiffsmetapher verrätselt. Im Mittelpunkt der Beschreibung stehen Aufbau bzw. Verwendung der Flöte. v. 1: Der Wind steht abstrahierend für den Atem desjenigen, der das Instrument spielt und hineinbläst. Die Schiffe stehen als Metapher für die zwei Rohre der Doppelflöte. Eine direkte Analogie im Hinblick auf Form (vielleicht länglich?) oder Funktion gibt es nicht. Sowohl die Flöte als auch das Schiff werden von einem Lufthauch bestimmt, und „auf“ beiden arbeitet eine Vielzahl von kleineren Elementen (Matrosen bzw. Finger), die das Schiff bzw. die Flöte kontrollieren. v. 2: Paradox erscheint auf der Bildebene, dass für zwei Schiffe nur ein Steuermann benötigt wird. Gemeint ist der Flötenspieler, der die Bewegungen seiner zehn Finger bestimmt wie ein Steuermann die Matrosen als seine verlängerten Glieder befehligt. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel von den fünf Männern auf zehn Schiffen (AP App. VII 31), das einige formale Ähnlichkeiten aufweist. Literatur: Jacobs (1803) 349. 15 Rätsel von den Pfeilen des Eros AP XIV 107, Beckby; S 96 Λαμπάδα μὲν προέηκεν Ἔρως καὶ τόξα καὶ ἰούς, Αἰθιόπων δὲ κόνιν ἀντὶ βελῶν προχέει.

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Die Fackel legte Eros beiseite und den Bogen und die Pfeile, und aithiopischen Sand schießt er nun anstelle von Geschossen.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Beckby, Boissonade und mit ihnen Schultz geben – ohne nähere Erklärung – Gold als Lösung des Rätsels an. Es soll damit offenbar der aithiopische Sand metaphorisch ausgedeutet werden, der offenbar z. T. in der Tat sandkorngroße Goldteilchen mit sich führt. Fraglich bleibt jedoch bei dieser Erklärung, inwiefern und aus welchem Anlass der Liebesgott Eros seine Insignien niederlegen und statt Pfeilen Gold(-körner) schießen bzw. wie Sand ausgießen (προχεῖν) sollte. In hellenistischer Tradition, die Eros als Bogenträger überhaupt erst populär macht, sind die Pfeile des Gottes in solche mit einer die Leidenschaft anfachenden Goldspitze und solche, die mit einer Bleispitze die Lust hemmen, unterschieden, Eur. Iph. A. 549–551; Ov. .et. 1,468–471. Da der Gott Pfeil und Bogen aber ja gerade zur Seite gelegt hat (προέηκεν), kann dies wohl kaum der Zusammenhang sein, auf den das Rätsel anspielt. Vielmehr ließe sich eine zugrunde liegende Homonymie des Namens Ἔρος vermuten, der nicht nur den Liebesgott, sondern, sagen wir, zugleich auch einen aithiopischen Fluss bezeichnet, dessen Wasser den von Beckby und Boissonade vermuteten Goldsand führte. Es wäre dann der erste Vers auf den berühmten Gott zu deuten, während sich der zweite auf einen namensgleichen, weniger bekannten Fluss bezöge. Die besondere Schwierigkeit der Formulierung bestünde in diesem Fall darin, dass der Wechsel von dem einen Objekt auf das andere nicht explizit angezeigt, durch die Nennung des Namens, den ein Rezipient aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades sofort zu verstehen glaubt, sogar vielmehr aktiv verschleiert wird. Ein solches Vorgehen wäre für ein Rätsel durchaus typisch, vgl. bspw. die beiden Anfangsverse von AP XV 21 auf die Syrinx, wo zunächst von der ithakischen Penelope, dann aber von der gleichnamigen Dryade die Rede ist, ohne dass dies für den Rezipienten eigens deutlich gemacht wäre. Einzig, mir ist kein afrikanischer Fluss des betreffenden Namens bekannt, was jedoch die hypothetische Trefflichkeit des Lösungsvorschlags nicht zu schmälern braucht. 16 Rätsel vom Skrotum AP XIV 43, Beckby; S 60. O 191 Εἰμὶ πόλου μίμημα· δύω δέ με θῆρες ἄγουσι, πρόσθε μὲν Ἠριγόνης, Πασιφάης δ’ ὄπιθεν·

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Ἡρακλέους τηρεῖ με συνευνέτις, ἡ δέ με Φοίβου τείρει νύμφα φίλη πολλάκι δαιομένη. Ich bin der Himmelssphäre Abbild; zwei Tiere aber führen mich, vorne einerseits das der Erigone, das der Pasiphae aber hinten; des Herakles Weib wacht über mich, aber des Phoibos liebes Mädchen bedrängt mich und verbrennt mich oftmals.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Das obszöne Rätsel, das aus der Ich-Perspektive formuliert ist, deutet Beckby auf das Skrotum. Demzufolge verrätselt sich das männliche Genital im Hinblick v. a. auf seine Anatomie. v. 1a: Das (Haupt-)Rätselobjekt das sich, wohl der äußeren Form nach, mit der runden Himmelssphäre (πόλος) vergleicht, muss dann auf das Skrotum, also auf den rundlichen Hodensack gedeutet werden. vv. 1b–2: Tiermetaphorik. Das Tier der Erigone ist der Hund, κύων (Hyg. fab. 130; Nonn. Dion. 47,219–264), das der kretischen Minotauros-Mutter Pasiphae ist freilich der Stier, ταῦρος. Die Namen beider Tiere werden auch – metaphorisch – zur obszönen Beschreibung der primären Geschlechtsorgane, v. a. der männlichen, aber auch der weiblichen, verwendet – insbesondere in der Komödie; vgl. hierzu Henderson (1975) s. v.; ταῦρος als Phallus nach Henderson (1975) 127, nr. 89. 202 f., nr. 453, vgl. hierzu auch Suda s. v.; als weibliches Organ bei Phot. s. v. σάραβον; als gebräuchlicher Slang-Begriff in der Komödie nach Henderson (1975) 202, nr. 453. κύων als männliches Organ nach Henderson (1975) 133, nr. 117 „usually indicating the phallus“, als weibliches Organ etwa Aristoph. Lys. 158 (κύνα δέρειν δεδαρμένην, über weibliche Masturbation). Beckby deutet nun sowohl κύων als auch ταῦρος auf das männliche Genital, nämlich κύων auf das Frenum Praeputii (so auch Schultz (1909) 50) oder die Mentula, den ταῦρος auf das Perineum bzw. den Anus. Es müsste dann also der vor (πρόσθε) dem Skrotum gelegene κύων der Phallus selbst sein, der dahinter (ὄπιθεν) gelegene ταῦρος aber der After; vgl. für eine solche Ausdeutung des Begriffes Henderson (1075) 202, nr. 453 „ταῦρος […] can also indicate the hindquarters“; ferner die Anm. Beckbys zu AP XII 225, v. 2 in Bd. IV, p. 521. Bewegt würde das Skrotum zwischen diesen beiden Körperteilen dann etwa beim Geschlechtsverkehr durch die Bewegung derselben. vv. 3–4: Hier geht es um die Schambehaarung des Intimbereichs und seine Enthaarung. v. 3a: Die Ἡρακλόυς συνευνέτις ist Ἥβη, deren homonymer Name nicht nur die Barthaare, sondern auch die Schamhaare bezeichnet. Diese bedecken (τηρεῖν) das Genital.

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vv. 3b–4: Die Φοίβου νυμφά ist Δάφνη. Der homonyme Lorbeer (δάφνη) aber wurde offenbar zum Depilieren der Schamhaare (mithilfe von Feuer?) gebraucht, Aristoph. Eccl. 12 f.; hierzu auch Jacobs nach Ohlert (21912) 191: Coniux Phoebi est Daphne; et lauro utebantur ad pilos urendos. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Epigramm AP XII 225, Beckby, in dem ebenfalls κύων und ταῦρος in ganz ähnlicher sexueller Konnotation auftreten: Οὐδέποτ’ ἠελίου φάος ὄρθριον ἀντέλλοντος μίσγεθαι ταύρῳ χρὴ φλογόεντα κύνα, μή ποτε καρπολόχου Δημήτερος ὑγρανθείσης βρέξῃς τὴν λασίην Ἡρακλέους ἄλοχον.

Literatur: Schultz (1909) 50 f., nr. 60 und (1912) 106 f. glaubt, dass hier ein altes kosmologisch-astronomisches Rätsel vom Feuerkwirnen bzw. Feuerbohren, das offenbar als „festliche Veranstaltung“ ((1912) 134) gilt, zugrunde liegt, das später mit dem obszönen Doppelsinn überlagert wurde. Eine derart diachrone Untersuchung des Rätsels ist m. E. auf keine Weise verlässlich zu bewerkstelligen. Ferner aber meint Schultz (1909) 51 nicht ohne Grund, das Rätsel gehe auf das Zusammenspiel der männlichen und weiblichen Geschlechtsteile beim Koitus. Er deutet κύων als weibliches Geschlechtsorgan, ἥβη als das zugehörige Schamhaar, den ταῦρος als Phallus, der mit δάφνις behaart ist. Dass durchaus sowohl κύων als auch ταῦρος für das weibliche und das männliche Geschlechtsorgan verwendet werden, war bereits oben gesagt. Besonders der Vergleich mit AP XII 225, wo die Interaktion von ταῦρος und κύων als μίσγεθαι bezeichnet ist, scheint auf einen reziproken Akt hinzudeuten, denn inwiefern die Bestandteile eines Körperteils sich derart miteinander verbinden könnten, ist nicht nachvollziehbar. Das runde Ich-Rätselobjekt aus v. 1 könnte dann auf die Eichel des Mannes gedeutet werden, die beim Koitus zwischen Vagina (κύων) und Phallus (ταῦρος) bewegt wird. Einzig die Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Schamhaar, die Schultz vornimmt, scheint mir unnötig und irreführend, denn (1) scheint δάφνις nicht eigentlich als Bezeichnung für das (männliche) Schamhaar belegt und (2) interagiert doch das Rätselobjekt, d. h. die Eichel, gleichermaßen mit Ἡρακλέους συνευνέτις als auch mit Φοίβου νύμφα (vv. 3–4). Gemeint sein kann also nur das männliche Schamhaar, das, wenn auch nicht die Eichel selbst, so doch das männliche Glied im Allgemeinen bedeckt und durch verbrannten Lorbeer depiliert wird.

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17 Das Sphinx-Rätsel vom Menschen Hyp. Eur. Phoen, Diggle; AP XIV 64; Asklepiades, FGrH 12 F 7 Jacoby; zit. Athen. X 456b; S 12. O 25–27 Ἔστι δίπουν ἐπὶ γῆς καὶ τετράπον, οὗ μία φωνή, καὶ τρίπον· ἀλλάσσει δὲ φυὴν μόνον, ὅσσ’ ἐπὶ γαῖαν ἑρπετὰ γίνονται ἀνά τ’ αἰθέρα καὶ κατὰ πόντον. ἀλλ’ ὁπόταν πλεόνεσσιν ἐρειδόμενον ποσὶ βαίνηι, ἔνθα μένος γυίοισιν ἀφαυρότατον πέλει αὐτου. 1 οὗ μία Par. 3058 οὐ μία codd. AP Laur. Soph. Eur., Athen. βοήν Tzetz.

μορφή Tzetz.

2 φυὴν codd. Soph. φύσιν Schol.

3 γίνονται Hyp. Eur. Phoen κινεῖται Hyp. Soph. OT.

Soph. OT. πλεόνεσσιν Hyp. Eur. Phoen. τρίσσοσιν Schol. Eur. Phoen.

4 πλείστοισιν Hyp.

5 μένος Schol. Eur. τάχος Athen.

Es gibt ein zweibeiniges Wesen auf Erden und ein vierbeiniges, das nur eine Stimme hat, und ein dreibeiniges, es ändert seine Gestalt als einziges Wesen, das auf der Erde, am Himmel und im Meer lebt, aber wenn es auf die meisten Füße gestützt geht, dann bewegt die geringste Geschwindigkeit seine Glieder.

Form: 5 Hexameter Kontext: Theben wird von der Sphinx heimgesucht, die ihr verhängnisvolles Rätsel stellt und alle Bewohner tötet, die es nicht beantworten können. Erst Ödipus, der in dem Bemühen, das Orakel über sein Schicksal (Vatermord und Heirat der eigenen Mutter) zu vermeiden, von seinen vermeintlich leiblichen Eltern fortgeht und nach Theben gelangt (nachdem er Laios bereits getötet hat), löst das Rätsel und erfüllt auf diese Weise sein Schicksal. Denn als Lohn für die Befreiung von der Sphinx, die sich nach der Rätsellösung in den Tod stürzt, erhält Ödipus die Herrschaft über Theben und seine Mutter Iokaste zur Frau. Erklärung: Der Rätseltext besteht in der vorgelegten Form aus fünf Hexametern, von denen die ersten drei die Aufzählung der Eigenschaften des Rätselobjekts (δίπουν (v. 1), τετράπον (v. 1), τρίπον (v. 2)) sowie die Erwähnung ihres Zusammenhangs (ἀλλάσσει (v. 2)) enthalten, während die Verse vier und fünf die zweite Eigenschaft näher charakterisieren. vv. 1–3: Die Schwierigkeit des Rätsels liegt erstens und vor allem in der scheinbaren Unvereinbarkeit der aufgezählten Merkmale: Es gibt schlichtweg kein Wesen, das – zugleich oder sukzessive, dies ist durch den Wortlaut des Rätsels offen gelassen – auf natürliche Weise die Anzahl seiner Beine verändert. Zudem scheint zweitens auch die Asymmetrie einer natürlichen Dreibeinigkeit die Lösbarkeit des Rätsels zu verwehren. Der Schlüssel zur Auflösung der Verrätselung liegt dabei in dem richtigen Verständnis des metaphorisch gebrauchten Wortes πούς. Ein besonders hoher Schwierigkeitsgrad ergibt sich daraus,

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dass es bei dreifacher Verwendung auf jeweils individuelle Weise zu begreifen ist: Die erste Erwähnung (δίπουν) macht von dem regelmäßig nur für den Fuß stehenden Begriff in etwas weiterer Bedeutung Gebrauch und lässt den Fuß gleichsam pars pro toto für das Bein eintreten. Bei der zweiten (τετράπον) und dritten (τρίπον) Erwähnung kommt dagegen eine wiederum erweiterte, gleichsam bildliche Verwendung jenes Beines mit dem gedehnten Wortsinn eines (mehr oder weniger) länglichen Instruments, auf das sich der Mensch zur Fortbewegung stützt, zur Anwendung. Es handelt sich somit um eine doppelte (oder gestaffelte) Ersetzung durch ein gemäß der Form und der Funktion ähnliches Element. Dabei unterscheiden sich beide Nennungen noch darin, dass im ersten Fall die Arme als weiterer, den Beinen ihrer Form nach ähnlicher Körperteil bezeichnet werden, während im zweiten Fall der Gehstock als externes, formal und funktional dem Bein analoges Hilfsmittel gemeint ist. Jener letzte Aspekt sprengt – zusätzlich zu all den anderen Schwierigkeiten – genau genommen sogar die mit φύην mehr oder weniger explizit gesetzte Rahmenbedingung einer natürlichen Veränderung, da es sich bei dem dritten Bein zwar um ein konventionelles Hilfsmittel, jedoch nicht um ein genuines Körperglied handelt. Spätestens, wenn auch nicht allein, durch diesen (leichten) Bruch mit den Rätselvorgaben wird die Lösung nahezu unratbar: Die Tatsache, dass πούς nicht nur nicht im eigentlichen Wortsinn gebraucht ist – was für ein Rätsel vielleicht geradezu vorhersehbar scheint – sondern zudem mit drei (!) unterschiedlichen Bedeutungen, auf deren jeweilige Zuordnung kein Hinweis gegeben wird, versehen ist, trägt ihren nicht unerheblichen Teil zur Schwierigkeit des Rätsels bei. Erschwerend kommt die Reihenfolge, in welcher die Eigenschaften genannt werden, hinzu:

Anzahl der Beine I

II

III

Reihenfolge der Nennung im Text = Frage

2

4

3

numerisch aufsteigend

2

3

4

numerisch absteigend

4

3

2

natürliche Abfolge beim Menschen = Lösung

4

2

3

Wie die Zusammenstellung veranschaulicht, stimmt die Abfolge in der Nennung der Eigenschaften, d. h. die Reihenfolge der Beinanzahlen, im Rätseltext weder mit der auf den Menschen als Lösung zutreffenden noch mit einer der aufgrund

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ihrer Regelmäßigkeit für eine Entwicklung möglicherweise als logisch empfundenen Abfolgen überein. Es ist evident, dass hierdurch die Auffindung der korrekten Lösung weiter erschwert wird: Die Abfolge der Eigenschaften in dem Rätseltext folgt keiner echten Logik. Die auf den Menschen im Allgemeinen bezogene Anzahl der Beine (zwei) steht an erster Stelle, worauf die beiden Abweichungen in chronologischer Reihe (vier, drei) folgen. Eine Umformulierung des Rätsels mit konsequenter Einhaltung der chronologischen Reihenfolge, die der natürlichen Abfolge bei dem Menschen entspricht, veranschaulicht eindeutig die daraus resultierende, im Rätseltext wohl absichtlich unterdrückte Hilfestellung für die Lösungsfindung: „Es gibt ein Wesen, das (zuerst) vier, (dann) zwei und (schließlich) drei Beine hat“. Obwohl die Lösung noch immer keineswegs offensichtlich ist, zeigt sich doch deutlich die in die richtige Richtung weisende Gedankenführung. Als Ablenkung von der korrekten Lösung ist ferner der Gebrauch des Wortes ἑρπετὰ (v. 3) anzusehen. Während es regelmäßig für (wilde) Tiere (vgl. Hom. Od. 4,418; Herakl. frg. 11 DK) steht und so den Menschen gedanklich gerade nicht umfasst, liegt hier ein gewissermaßen verallgemeinernder Gebrauch vor, der das Wort als (Lebe-)Wesen an sich verstanden wissen will. Da dies dem Rätsellöser jedoch (zunächst) verborgen ist, suggeriert der Rätseltext eine vollkommen falsche, dem Lösungsobjekt geradezu antithetisch entgegengesetzte semantische Sphäre für die Suche nach der Lösung und bedient sich auf diese Weise dem Prinzip der enttäuschten Erwartung. Unterstützt wird dieser Zug durch den Gebrauch des Exklusivität markierenden μόνον (v. 2), welches tatsächlich die Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tierreich markiert und somit indirekt auf die Lösung deutet, in der Konzeption des Rätseltextes jedoch in Opposition zu der durch die Aufzählung der drei räumlichen Sphären (γαῖα, αἰθήρ, πόντος), welche die ganze Welt umspannen, konstruierten Vielheit gebracht wird. Hier wird der schon früher aufgebaute Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit erneut aufgenommen, der unter Berücksichtigung des suggerierten (falschen) Lösungsfeldes andeutet, dass die Lösung schwer zu finden ist, weil sie sich auf einen singulären, unbekannten Sonderfall bezieht. Der Rätseltext klingt nun beinahe wie die Beschreibung eines ausgefallenen tropischen Tieres, sodass es ausgeschlossen erscheint, der Rätsellöser könne noch über etwas Bekanntes, Vertrautes – sich selbst – nachdenken. Die Nennung der Merkmale des Rätselobjekts in den ersten drei Versen führt somit so weit wie nur irgend möglich von dem richtigen Lösungsobjekt fort. vv. 4–5: Mit der sich anschließenden genaueren Beschreibung eines der bereits erwähnten Merkmale, der Vierbeinigkeit, wird jener bereits präsente Kontrast zwischen Vielheit und Einheit bzw. viel und wenig erneut aufgegriffen: Die größte Anzahl der Beine korreliert mit der geringsten Geschwindigkeit der Fortbewegung. Hiermit ist ein weiteres scheinbar unlösbares Paradoxon ge-

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schaffen, welches zusätzlich durch die den zweiten Teil des Rätseltextes strukturierende Korrelation von ὁπόταν und ἔνθα verstärkt wird. Der verallgemeinernde Charakter dieser temporalen Angabe scheint eine fakultative, nicht einmalig chronologische Veränderlichkeit der Beinanzahl zu suggerieren, die nun vollends die Vorstellungskraft des Rätsellösers übersteigen muss. Hinweise auf die korrekte Rätsellösung liefern – außer dem erwähnten, leicht misszuverstehenden μόνον (v. 2) – nur ἐρειδόμενον (v. 4) und γυίοισιν (v. 5). Der Gebrauch beider Wörter deutet auf die übertragene Bedeutung des Beines hin, indem ἐρειδόμενον auf die funktionale Ähnlichkeit der Stütze verweist und γυίοισιν, das synonym für das im vorangegangenen Vers stehende ποσί eingesetzt ist, auf dessen verallgemeinernden Gebrauch, ja sogar auf seinen impliziten Bezug zu Arm bzw. Hand verweist (als Hand bei Theokr. 22,81. 121; γυῖα ποδῶν als Füße bei Hom. Il. 13,512.). Dass der Rätseltext nicht die formale Struktur einer direkten Frage trägt bzw. nicht tragen muss, verwundert – trotz jener kleinen Hilfestellungen – nach der Analyse seiner Komposition nicht länger: Die Fülle der Paradoxa und Gegenüberstellungen scheinbar unvereinbarer Gegensätze ist Ersatz genug und regt den Hörer an, das scheinbar Falsche der Aussage in einen funktionierenden Zusammenhang zu setzen, der alles scheinbar Unvereinbare vereint. Der hohe Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe, welcher neben der vorgeführten Komplexität des Rätseltextes auch durch zeitgenössische Bezeichnungen, die das Rätsel in die Nähe eines Orakelspruchs rücken, bezeugt ist, wird unter Berücksichtigung des narrativen Kontextes der Sphinxsage verständlich: Da den Thebanern prophezeit worden war (Apollod. 3,5,8), dass sie von der tödlichen Plage der Sphinx nur durch die Lösung ihres Rätsels befreit würden, handelt es sich bei dem Aufeinandertreffen zwischen Sphinx und Ödipus bzw. dessen Vorgängern um einen Rätselkampf auf Leben und Tod, ein Halslösungsrätsel („rate oder stirb“): Nur die richtige Lösung rettet Ödipus das Leben und gibt der Sphinx den Tod. Obwohl eigentlich Ödipus der zum Tode Verurteilte ist und die Struktur deshalb gleichsam umgekehrt analog verläuft, entspricht sie aus der Sicht der Sphinx genau dem Halslösungsrätsel: Das Ungeheuer muss sterben, weil ihr Rätsel, das sie gleichsam am Leben erhielt, gelöst wurde. In jedem Fall machen die Nähe zu jener die Existenz am unmittelbarsten betreffenden Form des Rätselratens sowie die zusätzliche Integration des Brautwerbungsmotivs durch den für die korrekte Lösung ausgesetzten Preis die Bedeutungsschwere des SphinxRätsels deutlich: Dass bei Einsatz derart hoher Güter kein leicht zu lösendes Rätsel zum Einsatz kommen kann, ist evident, zumal anderenfalls die innere Logik der vielen Ödipus vorangegangenen Opfer vernichtet würde. Die schließlich aus dem Munde des Ödipus überlieferte Lösung lässt dagegen von den zuvor wahrgenommenen Schwierigkeiten nichts mehr erkennen

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(Hyp. Eur. Phoen., p. 80 Diggle; Schol. Eur. Phoen. 50, Bd. 1, p. 256 Schwartz; ebenso in AP II 643): Κλῦθι καί οὐκ ἐθέλουσα, κακόπτερε μούσα θανόντων, φωνής ἡμετέρης, σῆς τέλος ἀμπλακίης· ἄνθρωπον κατέλεξας, ὃς ἡνίκα γαῖαν ἐφέρπει πρῶτον ἔφυ τετράπους νήπιος ἐκ λαγόνων, γηραλέος δέ πέλων τρίτατον πόδα βάκτρον ἐρείδει, αὐχένα φορτίζων, γήραϊ καμπτόμενος. Höre, auch wenn du nicht willst, du schrecklich gefiederte Muse der Toten, meine Stimme, das Ende deines Frevels: Den Menschen hast du beschrieben, der, wenn er auf die Erde gekrabbelt kommt, zuerst als Kind auf vier Beinen sich bewegt, als alter Mann aber als drittes Bein einen Stock aufstützt unter des Hauptes Gewicht vom Alter ermüdet.

Das erste Verspaar gibt mit der Anrede der Sphinx als Μούσα θανόντων einen Hinweis auf den Ursprung des Rätsels, welches das Ungeheuer von den Musen gelernt hatte (Apollod. 3,5,8; hierzu dann auch Soph. Oid. T. 36. 130. 391; Eur. Phoen. 50. 808. 1028.), und stellt explizit die entwirrende Erklärung durch Ödipus der täuschenden Undeutlichkeit (ἀμπλακία, v. 2) der Sphinx gegenüber. Mit v. 3, der mit ἄνθρωπον sogleich das Lösungswort enthält, beginnt die eigentliche Lösung des Rätsels, wobei in ἐπὶ γαῖαν / ἑρπετὰ wohl auf v. 1 ἐπὶ γῆς des Rätseltextes direkter Bezug genommen wird. Diese Genauigkeit setzt sich darin fort, dass die Erklärung der Lösung der in dem Rätseltext vorgegebenen Reihenfolge der Eigenschaften folgt: Die Nennung des Menschen an sich impliziert die Zweibeinigkeit (δίπουν, v. 1), worauf die Erörterung der Vierbeinigkeit (τετράπον, v. 1) mit Verweis auf das krabbelnde Kleinkind folgt. Schließlich löst sich die Dreibeinigkeit des Greisen (τρίπον, v. 2) in der Identifizierung τρίτατον πόδα = βάκτρον auf. Diese genaue Abstimmung der Antwort auf die (implizite) Rätselfrage unterstreicht die in seiner Anrede an das Ungeheuer ebenfalls ausgedrückte Souveränität, mit welcher Ödipus der Sphinx entgegen tritt. Abschließend sei auf die sich aus anderen Überlieferungen ableitende Vermutung, es handle sich bei diesem bekannten Sphinx-Rätsel nur um den dritten Teil einer längeren Rätselkette, dem möglicherweise die bei Athenaios unmittelbar vor Erwähnung des Sphinx-Rätsels stehenden Rätsel des Theodektes von Tag und Nacht (Athen. X 451 f.; TrGF I, 72 F 4 Snell) und von dem Schatten (Athen. X 451e; TrGF I, 72 F 18 Snell) vorausgegangen sein mögen, verwiesen, die, obgleich äußerst interessant, für unsere Erkenntnisabsichten kaum nutzbar ist, da Überlieferungen zum Kontext dieser Rätsel an sich und vor allem innerhalb der Rätselkette fehlen; vgl. Hüsing (1909) passim, 42–45; zum Vorzug der Dreizahl in derlei Kontexten Wundt (1909) 119; Schultz (1912) 64 f.; Schultz (1914) 93 f.; Lesky (1929) 1721 f.

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Festzustellen bleibt deshalb in diesem Zusammenhang lediglich, dass die Rätselobjekte aller drei Rätsel mit ihrer Art als allgemein menschliche und doch abstrakte Phänomene gut zueinander stimmen und dass der Schwierigkeitsgrad des Sphinx-Rätsels durch die exponierte Stellung am Ende der Kette, deren Komplexität sinnvollerweise als von dem ersten bis zum letzten Glied stetig ansteigend zu denken wäre, zusätzlich unterstrichen würde. Die Sphinx als Rätselstellerin: Dass es sich bei der Sphinx um eine in frühester Zeit aus dem Orient in den griechischen Kulturraum übernommene Figur handelt, die dort sowohl ihrer äußeren Form als auch ihrer Bedeutung nach neu besetzt wurde, steht dank umfangreicher Forschung zu dem Verhältnis zwischen jenen Hochkulturen und dem griechischen Raum heute außer Frage; vgl. die Zusammenstellungen bei Ilberg (1896) 2–12; Ilberg (1909–1915) 1339–1356. Ihre Entwicklung innerhalb der griechischen Antike (auch chronologisch) exakt nachzuvollziehen, fällt demgegenüber schwerer. Klar ist nur, dass die zunächst vornehmlich ornamental oder in sepulkraler Verwendung gebrauchte Figur bei ihrer Einwanderung nicht mit einem konkreten Mythos oder einer Sage verbunden war. Ihr grausiges Aussehen als Mischwesen mit dem Haupt einer Jungfrau, dem Körper eines Löwen und den Flügeln eines Adlers sowie die Vasenbilder, welche sie als Jünglinge hinwegraffendes Ungeheuer zeigen, werden sie in die Nähe ähnlicher im Volksglauben existierender ungeheuerlicher Mischwesen wie Sirenen und Harpyien gerückt haben, in deren Gesellschaft sie sodann als konkretisierte Gestalt der gewöhnlich abstrakt gedachten Todesdämonen auftreten konnte. Mit dem auf dem Φίκιον ὄρος ansässigen böotischen Lokalungeheuer, welches zuvor nur wenig konkret umrissen gewesen sein mag, wird sie aufgrund ihrer so geprägten Konnotation als Todbringer und ihrer mythologischen Ungebundenheit nachträglich identifiziert worden sein, bis die thebanische Sage mittels ihrer Popularität den vormaligen Verwendungsbereich der Sphinx sogar weitestgehend überlagert hatte. Einmal in der griechischen Mythologie angekommen, wurden rund um die Sphinx entsprechende Sagen gesponnen, welche das Ungeheuer als ureigenes griechisches Geschöpf erscheinen ließen: Ihre Abstammung, in welcher der Ursprung ihrer Schrecklichkeit begründet liegt, wird regelmäßig auf Echidna und Typhon (Schol. Hes. theog. 326, p. 504 Gaisford; Schol. Eur. Phoen. 1020, Bd. 1, p. 356 Schwartz; Apollod. 3,5, 8; Hyg. fab. 67, 151; Hes. scut. 32 zur Nachbarschaft von Phikion und Typhaonion, dagegen jedoch Robert II (1915) 29, der die Nachbarschaft für Zufall halten will), oder – nicht weniger scheußlich – auf Echidna und Orthos (Hes. theog. 326; vgl. Eur. Phoen. 1020, hierzu jedoch auch Robert II (1915) 29) zurückgeführt. Zahlreiche andere Ungeheuer wie die Medusa stehen somit in ihrer Ahnenreihe und finden sich, wie Chimaira, Nemeischer Löwe und Hydra, unter ihren Geschwistern. Selbst in den Rationalisierungsversuchen (Eur. Phoen. 26;

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Paus. 9,26,3; Palaeph. incred. 4.) der thebanischen Sage, welche die Sphinx zur unehelichen Tochter des Laios oder zur eifersüchtigen Gattin des Kadmos machen und so an eine menschliche Figur denken lassen, behält sie jenen von ihren mythologischen Ursprüngen herstammenden Charakter des Ungeheuers. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in einer alten, später überlagerten Sagenversion die Sphinx in eben jener für sie charakteristischen Rolle des Ungeheuers, dessen Macht in physischer Überlegenheit und gewalttätiger Grausamkeit besteht, auftrat. Dass unser Rätselkampf und mit ihm die Sphinx als nicht nur an physischer Kraft, sondern auch und vor Allem an kognitiven Fähigkeiten überlegene Rätselstellerin dagegen erst als sekundäre Sagenelemente in die Erzählungen um Theben eingegangen sein können, belegt die dem Kinaithon von Lakedaimon zugeschriebene Oidipodie aus dem achten Jahrhundert (IG XIV 1292; PEG I, p. 17–20 Bernabé), die von einer Rätsellösung zur Überwindung der Sphinx noch nichts weiß. In dieser frühen Vorstellung belagert die Sphinx die Stadt von dem nahe gelegenen Berg aus und sucht sich ihre Opfer, die sie im Flug entführt und anschließend frisst, nach bloßer Willkür, ganz in der Manier eines echten Ungeheuers. Ihr Ende findet die Sphinx entsprechend, als sie im Kampf von Ödipus durch bloße Gewalt besiegt wird. Auch in der bildlichen Verarbeitung der Sage, namentlich auf einer rotfigurigen Lekythos des Bostoner Museums, hat sich dieses Szenario niedergeschlagen: Der Heros holt mit seiner Keule zum tödlichen Schlag gegen das ihm in Angriffsposition gegenüberstehende Monstrum aus. Dieser auf der Lekythos festgehaltenen Momentaufnahme kann ein Rätselwettkampf gedanklich selbstverständlich nicht vorausgegangen sein. Die Überwindung der Sphinx hat in diesem frühen Stadium der Überlieferung ebenso wie ihre Tyrannei der Stadt ausschließlich mit physischer Macht zu tun. Vermittlungstendenzen zwischen jener alten Auffassung und der wohl seit dem sechsten Jahrhundert kanonischen, für die Folgezeit bestimmenden Fassung, die den Rätselkampf als zentrales Element der Sage beinhaltet, zeigt die Beschreibung einer täglichen Versammlung der Thebaner auf ihrem Marktplatz, wo sie versuchten, das Rätsel zu lösen. Nach ihrem Scheitern suchte sich die Sphinx ihr Opfer jeweils willkürlich aus der Menge der Versammelten (Apollod. 3,5,8; Schol. Eur. Phoen. 45, Bd. 1, p. 255 Schwartz). Die schließlich mit den das Schicksal des Ödipus thematisierenden Tragödien fest etablierte Fassung der Sage lässt den Tod der Sphinx-Opfer kausal an die fehlerhafte Lösung des Rätsels geknüpft sein und so bei anhaltend grausamer Strafe doch geringfügige Verharmlosung oder Plausibilisierung des Geschehens erkennen, die der Verschiebung von dem physischen hin zum kognitiven Charakter der Auseinandersetzung geschuldet ist: Die Strafe bleibt verheerend, doch wird sie durch die Einführung der Rätselsituation gewissermaßen situationsimmanent logisch begründbar. Der Unterlegene in einem Rätselstreit, bei welchem das eigene Haupt

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als Einsatz ausgelobt ist, verliert nun einmal sein Leben. Ferner scheint das Wüten des Ungeheuers in der Tragödie insofern eingeschränkt, als dass sie ihr Rätsel nur noch an vorüberziehende Reisende richtet, die ihren Sitz außerhalb der Stadt passieren. Diese Aufgabe erfüllt sie im Auftrage einer – je nach Überlieferung verschiedenen – Gottheit, gleichsam als Werkzeug höherer Macht: Als besonders populär gilt hierunter die Sendung der Sphinx durch Hera aus Zorn über das ehebrecherische Verhältnis des Laios mit Chrysipp (Schol. Eur. Phoen. 1760, Bd. 1, p. 414 f. Schwartz). Andererseits erscheint es glaubhaft, dass insbesondere in der Tragödie, in deren Ödipussage Apoll als delphischer Orakelgott von besonderer Bedeutung ist, der Gott der Weissagekunst als Urheber der thebanischen Plage zur Strafe für die Missachtung seines Orakelspruchs an Laios und Iokaste und als Instrument zur Erfüllung des an Ödipus gerichteten Spruchs aufgetreten sein mag; vgl. Ilberg (1896) 21; Colli (1990) 48. Insgesamt scheint die Verbindung des Ungeheuers zu Apoll bei gleichzeitiger Aufwertung der Verbindung zu anderen Gottheiten bisher unterschätzt worden zu sein. Insbesondere ist die Tatsache, dass die Sphinx ihr Rätsel und damit das, wenn auch erst sekundär eingeführte, so doch insgesamt populärste Element der sich um sie rankenden Sage von den Musen, als deren Führer Apoll bekannt ist, gelernt hat, bisher nicht mit der entsprechenden Bedeutung versehen und in die Erörterung des Sphinxrätsels höchstens als Marginalie einbezogen worden. Dabei ist doch ganz besonders bei einer Rätselstellerin, die genuin mit physischer Macht, Grausamkeit und Schrecklichkeit, jedoch nicht vorrangig mit Wissen verbunden ist, nach dem Grund dieser Diskrepanz zu fragen. Dass es sich hierbei faktisch um das Eindringen des Rätselkampfes als überaus beliebtes und weit verbreitetes volkstümliches Element in die frühere Sagenform handelt, die aufgrund der Präferenz jenes volkstümlichen Rätselelements bald von ihrer Nachfolgerin verdrängt wurde, mag nachvollziehbar erscheinen. Dennoch bleibt davon auszugehen, dass derlei Veränderungen sich nur vollziehen, solange die innere Logik der Erzählung dadurch nicht beeinträchtigt wird, solange also die Sphinx stimmigerweise und mit einiger Plausibilität auch als Rätselstellerin denkbar wird. Eine Begründung, die im Zusammenhang des Rätselratens kaum trefflicher sein könnte, ist sicher der musische Ursprung ihres Rätsels: Die Musen, die ebenso wie Seher und Götter wissen, was war, was ist und was sein wird (Hes. theog. 36–39; Pind. Paian. VIIa 18–20), die also jeden (wirklichen) Zusammenhang aller Dinge untereinander kennen, sind mit diesen Eigenschaften als Autoritäten auf dem Gebiet des Rätselratens anzusehen. Ein von ihnen ersonnenes Rätsel muss nicht nur gut, d. h. schwer zu lösen, und poetisch, d. h. metrisch gebunden, sein, sondern geradezu die Essenz aller Wahrheit in sich tragen. Dass die Sphinx, ausgestattet mit einem Rätsel von dieser Art, zur erfolgreichen Rätselstellerin avanciert, ist kaum verwunderlich. Wel-

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chen Grund aber hätten die Musen, als reine Wesen, die das Schöne verkörpern, einem Ungetüm wie der Sphinx, einer Ausgeburt der schlimmsten Ungeheuerlichkeiten, ihr vollkommenes Wissen anzuvertrauen, außer dass Apoll als ihr Führer und Vater sie dazu gebracht hätte, um seine Macht und die Gültigkeit seines Orakels, das von Laios wissentlich missachtet worden war, zu demonstrieren? Eine jenseits der Verbindung zu dem delphischen Gott liegende Begründung scheint nicht ersichtlich, sodass nur anzunehmen bleibt, dass die Beziehung zwischen Sphinx und Apoll enger zu denken ist als gemeinhin angenommen. Neben beider prominentem Auftreten in dem Kontext des thebanischen Sagenkreises stützt auch die bereits erkannte Position der Sphinx als Hüterin des Pythongrabes ihren Zusammenhang. Es ist somit anzunehmen, dass die Sphinx ihren Status als Rätselstellerin par excellence, der ihr von Späteren beigelegt worden ist (Alexis, PCG II. frg. 172 K.-A.; Philemon, PCG VII, frg. 114 K.-A.; Straton, PCG VII, frg. 1 K.-A.; Zenob. s. v. Βοιώτια αἰνίγματα), sowie ihre spätere symbolische Bedeutung als fleischgewordener Weisheit (Eur. Phoen. 48; Et. Mag. s. v.; Clem. Al. strom. 5,7,43. 5,31; Plut. Is. 354c); dagegen die Sphinx als Sinnbild menschlicher Torheit, die bei der Lösung des Rätsels überwunden wird, Dion Chrys. 1,115.; Kebes, Pin. 3; Zenob., Suda, Phot. s. v. Καδμεία νίκη) ihrer Verbindung zu Apoll und den Musen zu verdanken hat. Da sie in der Überlieferung nirgendwo konkret in der Rätselsituation in Erscheinung tritt, ist ihre Aktion als Rätselstellerin jenseits der Qualifikation durch die musische Verbindung kaum zu fassen. Deutlich ist nur, dass sie, obwohl sie wohl streng genommen nicht als Rätseldichterin ihrer verhängnisvollen Frage zu gelten hat, in ihrer Rolle trotz ihres genuinen Charakters sehr erfolgreich gewesen sein muss, da ihr vor Ödipus eine nicht unerhebliche Zahl thebanischer Bürger, darunter selbst Haimon als Sohn des Königs, zum Opfer gefallen ist. Durch sie spricht bei dem Stellen des Rätsels wohl der Geist der Musen, ihre kognitive Überlegenheit ist nicht eigentlich ihre, oder hat doch ihren Ursprung bei den Musen, sodass die Wissensübertragung entweder als umfassend zu denken ist, wodurch die Sphinx selbst über exakt dasselbe Wissen wie die Musen verfügte, sodass sie selbst das Rätsel nicht nur stellen, sondern auch verstehen und sogar gedichtet haben könnte. Andererseits wäre denkbar, dass die Sphinx, im Kern noch immer das grausige Monstrum, nur den ihr vorgegebenen Rätseltext wiederholt und die ihrem Wesen entsprechende Strafe (den Tod) für die Fehllösung ausführt. Für letztere Annahme spricht die diffizile, persönliche Ausrichtung des Rätsels auf Ödipus, dessen Name ihn mit dem Rätseltext wenigstens in formaler Hinsicht verbindet, muss es doch als unwahrscheinlich gelten, dass die Sphinx, deren individuelles Interesse als Ungeheuer nicht das Einzelschicksal des Ödipus, sondern nur die Tyrannei der Stadt und die sich für sie daraus ergebenden Opfer sein kann, gleichsam zufällig ein der-

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art zu dem Schicksal des Ödipus passendes Rätsel erfände, selbst wenn sie kognitiv dazu in die Lage gesetzt wäre. Glaubwürdig ist dagegen der Gedanke an die exakte intentionale Führung der Sphinx durch die Musen bzw. den dahinter stehenden Apoll, welche nur sinnvoll bleibt, solange das nötige Wissen geborgt, nicht vollständig übertragen ist. Auch die nicht ganz unbedeutende Tatsache, dass die Wahl des Menschen als Rätselobjekt viel besser zu den Musen, die mit den schönen Künsten, den Wissenschaften, den die Menschen ausmachenden Gegenständen im Allgemeinen befasst sind, passt, deutet in die suggerierte Richtung. Dass die Sphinx somit als Instrument fungiert und ihre kognitive Überlegenheit gegenüber einer Reihe unglücklicher Rätsellöser nur geborgt ist, schmälert diese Überlegenheit im direkten Umgang mit ihren Kontrahenten nicht, da erstens zwischen der Sphinx als Ungeheuer und ihren menschlichen Gegnern ohnehin eine gewisse graduelle Abstufung besteht und da zweitens das Verhältnis zwischen Sphinx und Musen für den jeweiligen unglücklichen Rätsellöser nicht unbedingt transparent gewesen zu sein braucht. Die Sphinx zeigt sich somit bei genauerer Betrachtung entgegen jeder oberflächlichen Erwartung als untypische Rätselstellerin, deren kognitive Kompetenzen nicht mit Sicherheit exakt zu benennen, wahrscheinlich jedoch eher eingeschränkt sind. Ihre dennoch zur Schau gestellte Überlegenheit ergibt sich aus der Kombination des fremden oder geborgten Wissens mit der eigenen physischen Übermacht, welche durch die existenzielle Struktur der Rätselsituation in das Charakterbild der Rätselstellerin integriert wird. Ödipus als Rätsellöser: Der aus dem Geschlecht des Kadmos stammende Ödipus tritt in allen bekannteren Sagenformen als Sohn des thebanischen Königs Laios und dessen Gattin Iokaste auf. Sein Vater zeugte ihn trotz des ihm gegebenen, auf den Fluch des Pelops (Hyp. Aischyl. Sept.; Hyp. Eur. Phoen) zurückgehenden Orakels (Pind. O. 2,72 f.; Soph. Oid. T. 711 ff.; Eur. Phoen. 1597 f.; Apollod. 3,5,7; Hyg. fab. 66; Paus. 9,5,10), welches ihm den Tod durch die Hand seines Sohnes voraussagte. Als Laios nach der Geburt des Kindes zur Besinnung kam und sich vor den Konsequenzen seiner Handlung fürchtete, ließ er den Jungen mit durchbohrten Füßen aussetzen, um eine Bedrohung von seiner Seite auszuschließen. Ödipus aber, der seinen Namen nach einhelliger altertümlicher Etymologie aufgrund jener Fußverletzung trägt (Eur. Phoen. 25–27; Soph. Oid. T. 1036; Diod. 4,64,1; Nikolaos von Damaskus, FGrH 90 F 8 Jacoby; Sen. Oed. 812 f.; Apollod. 3,5,7; Zenob. 2,68; Hyg. fab. 66; Suda s. v.; dagegen nur Michael Apostolios 3,1), gelangt als Findelkind in die Obhut des böotischen Königs Polybos, wo er im Unwissen über seine wahre Herkunft aufwächst. Er wird somit in sein tragisches Schicksal hineingeboren, ihm ist die Selbsterkenntnis verwehrt, denn er weiß nicht, wer er ist. Dieser Umstand weckt Erstaunen darüber, dass ausgerechnet

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der auf diese Weise benachteiligte Ödipus in der Lage ist, das Rätsel der Sphinx, an dem viele andere scheiterten, zu lösen. Sein Wissen um die eigene Person nämlich, das man geneigt ist, auf seine Erkenntnisfähigkeit im Allgemeinen zu projizieren, lässt ihn, gemessen an den Anforderungen an einen guten Rätsellöser, nicht in dem besten Licht erscheinen. Auch seine aufbrausende und unreflektierte Persönlichkeit, die sich in der Auseinandersetzung mit seinem ihm noch unbekannten leiblichen Vater und der unkritischen Annahme der Hand der Königin zeigt, spricht keineswegs für seine kognitiven Fähigkeiten. Wir müssen uns also fragen, woher Ödipus die Lösung des schwierigen Rätsels kennt: (1) Analog zu der oben skizzierten Entwicklung des Sphinxmythos muss auch Ödipus in der frühesten Form der Sage sich zur Überwindung der Sphinx bloßer physischer Macht bedient haben. Obwohl er mit seinen verstümmelten Füßen kaum das Paradebeispiel eines heroischen Kämpfers abgibt, ist er doch vor seinem Aufbruch aus Korinth auch für seine bemerkenswerte Kraft bekannt gewesen (Apollod. 3,5,7; Hyg. fab. 67; Zenob. 2,68), die ihm wohl den Sieg über das Ungeheuer ermöglicht haben wird. Auffällig bleibt trotzdem, dass Ödipus und nur Ödipus die Sphinx überwinden kann, auch wenn vor ihm sicher schon einige – der körperlichen Konstitution nach vielleicht sogar besser geeignete – Kandidaten erfolglos ihr Glück versuchten. Verständlich wird diese Sonderstellung des Ödipus erst bei Einbeziehung des weiteren Sagenkontextes: Der Frevel des Laios, auf dem bereits das von Kadmos herrührende Unheil lastete, überträgt das Verderben auf sein weiteres Geschlecht, insbesondere seinen Sohn, und kann nicht ungesühnt bleiben. Es besteht somit, um dem Willen der gekränkten Gottheit zu entsprechen, eine gewisse Notwendigkeit, das grausame Schicksal des Ödipus voranzutreiben. Während der Vatermord bei einem zufälligen Zusammentreffen innerhalb der narrativen Logik des Mythos nicht allzu schwierig arrangierbar scheint, ist die Mutterehe weniger leicht herbeizuführen: Da Ödipus als verlorener Sohn mit dem thebanischen Königshaus nicht länger in Verbindung gebracht wird, liegt die einzige plausible Möglichkeit, ihn in eine Ehe mit Iokaste zu setzen, darin, ihn die Hand der Königin in einem Wettkampf gewinnen zu lassen. Für die Erfüllung seines Schicksals, das durch die Vergehen seiner Vorfahren unabänderlich vorherbestimmt ist, gelten somit die beiden folgenden Voraussetzungen: a) Ödipus muss (!) die Sphinx besiegen, damit er in die inzestuöse Verbindung zu seiner Mutter gelangt, die weiteres Unheil über das Geschlecht des Kadmos bringen soll. b) Ödipus (!) muss die Sphinx besiegen, damit (1) überhaupt wirksam werden kann. Aus der zweiten Voraussetzung lässt sich ableiten, dass die Sphinx (als Ungeheuer) für niemanden außer Ödipus besiegbar sein darf. Einerseits erzeugt die-

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ser Sachverhalt gleichsam automatisch den Eindruck großer Schwierigkeit jener Aufgabe. Andererseits mag genau dies Anlass zur Einführung des Rätselwettkampfes in den Mythos gegeben haben: Wir sahen, dass es nicht ohne Schwierigkeiten verständlich werden will, warum ausgerechnet Ödipus in einem physischen Kampf einem Ungeheuer wie der Sphinx überlegen sein sollte. Es bleibt zu untersuchen, ob die Einführung des ohnehin volkstümlich äußerst beliebten Rätselkampfes den zusätzlichen Vorteil einer Plausibilisierung des überlieferten Sagenstoffes mit sich gebracht haben kann. (2) Auch Ödipus tritt also seiner kognitiven Konstitution nach nicht als prototypischer, erfolgreicher Rätsellöser in Erscheinung. Leichter jedoch als im Falle der physischen Auseinandersetzung ist hier ein Ausgleich des Missstandes zu denken. Erstens wäre die richtige Lösung des Rätsels durch Zufall möglich und tatsächlich führen einzelne Überlieferer den Erfolg des Ödipus hierauf zurück (Schol. Eur. Phoen. 50, Bd 1, p. 256 Schwartz; Dion Chrys. 1,115; bei Paus. 9,26,4 träumt Ödipus die Lösung). Auch wäre die Eingebung des nötigen Wissens durch eine Gottheit, der an der Fortführung des tragischen Schicksals gelegen sein musste, vorstellbar und eventuell sogar unauffälliger umzusetzen als eine physische Stärkung im Kampf. Doch da wir von einer solchen Unterstützung in der Überlieferung nichts hören, bleibt zweitens die Überlegung, dass Ödipus tatsächlich aufgrund seines Wesens und seines Schicksals, das vielerlei Menschliches (z. B. Affekte wie Begierde und Zorn sowie (pervertierte) familiäre Strukturen) veranschaulicht, über das zur Lösung des Rätsels notwendige Wissen verfügt. Obwohl man sich schwer tun wird, ihn mit Ilberg (1896) 23, Anm. 2 als „Fußkundigen“ anzureden, erscheint es ebenso unmöglich, die lautliche Ähnlichkeit seines Namens zu πούς (in δίπους, τρίπους und τετράπους) als dem Begriff des Rätseltextes, auf dem die gesamte Verschlüsselung beruht, vollständig zu ignorieren. Sein Schicksal, das sich in seinem Namen spiegelt, macht Ödipus zu demjenigen Einen, der des Rätsels Lösung kennt. Sein Wissen ist dabei jedoch leer, denn er ist sich über dessen Ursprung nicht bewusst, stellt die Verbindung zu seiner Person nicht her. An dieser Stelle ist auf die sinnvollen Bemühungen, das Rätsel der Sphinx mit dem delphischen Leitspruch γνῶθι σεαυτόν in Verbindung zu setzen, hinzuweisen: Der Mensch, dem das Rätsel gestellt wird, soll sich selbst raten, d. h. doch erkennen (!), wie und wer er selbst wirklich ist. Die im Rätsel umschriebene äußere Erscheinung steht dabei nur als sichtbare Eigenart für die gedanklich damit verknüpften inneren (auch individuellen) Wesensmerkmale des Menschen. Ödipus rät zwar des Rätselobjekt, den Menschen, doch so, wie er auch das Ichneumon (Eubulos, PCG V, frg. 106,10–15 K.-A.) oder die Distel (Eubulos, PCG V, frg. 106,16 f. K.-A.) oder sonst ein Rätselobjekt raten würde: Wie etwas, das mit ihm nichts zu tun hat. Er mag zwar das Rätsel der Sphinx lösen, doch durchschaut er nicht, dass in dessen Lösbarkeit für ihn der wahre Hinterhalt besteht. Da liegt doch – nach allem,

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was bisher zur Rolle Apolls in dem Mythos gesagt worden ist – die Ansicht, es handle sich bei dem Rätsel der Sphinx gleichsam um eine vergröberte Form des γνῶθι σεαυτόν nicht fern. Es offenbart sich damit auch die Sphinx als doppelter Schaden für Theben und Ödipus: a) Die Sphinx frisst Bewohner und Reisende. b) Die Abschaffung von (1), die nur durch Ödipus erfolgen kann, stürzt die Königsfamilie ins Unglück. Es zeigt sich die für die Tragödie typische Unentrinnbarkeit des Übels. Die Vermeidung eines Unglücks setzt ein zweites, eventuell noch schlimmeres in Gang: Der Lohn, den Ödipus für seinen (notwendigerweise vorausbestimmten) Sieg im Rätselkampf erhält, ist die Vermeidung seines Todes. Die Strafe, die ihm für die von Laios herrührenden, von ihm selbst fortgesetzten – wenn auch unbewussten – Frevel auferlegt ist, ist sein Leben. Die insgesamt offensichtlich unübliche Rätselsituation wird vollständig bestimmt durch die Rahmenbedingungen des Mythos. In den beiden skizzierten Auseinandersetzungen (1) und (2) fällt die Entscheidung zugunsten des Ödipus weniger – wie es unter narrativ unabhängigen Umständen zu erwarten wäre – aufgrund seiner tatsächlichen auf seinen Fähigkeiten beruhenden Überlegenheit als vielmehr aufgrund des durch den mythologischen Zusammenhang ausgeübten Zwanges. Die den Rätselkampf enthaltende Fassung (2) lässt den Ausgang dabei ein wenig plausibler erscheinen: Ödipus ist der große Rätselheld, welcher der Sphinx den Tod und den Thebanern die Freiheit bringt. Dass er dennoch nicht im eigentlichen Sinne als erfolgreicher Rätsellöser zu bezeichnen ist, bedingt die oben erwähnte, von Ödipus verkannte eigentliche List der Lösbarkeit des Sphinxrätsels, die er nicht lösen kann und erst erkennt, als alles zu spät ist. Obwohl das Sphinx-Rätsel aufgrund seiner Bekanntheit gemeinhin als das griechische Rätsel schlechthin zu gelten scheint, müssen wir also konstatieren, dass es ganz und gar untypisch ist: Der Sphinx und Ödipus sind die Rollen von Rätselsteller und Rätsellöser geradezu aufgepfropft, ihre genuinen Charaktere lassen sie keine besondere Tauglichkeit für das Rätselspiel aufweisen. Auch der Lohn für das gelöste Rätsel, der in Wahrheit nur als Strafe aufgefasst werden kann, läuft der üblichen Rätselstruktur zuwider. Dass die erfolgreiche Lösung eines Rätsels in der literarischen Verwendung der Form eine absolute Ausnahme bildet, zeigt die Untersuchung der übrigen Rätsel. Daher müsste mit dem Gelingen des Ödipus eigentlich eine besonders große Auszeichnung verbunden sein. Formal wird dem durch die Eheschließung mit der Königin Rechnung getragen, die faktisch jedoch nur weiteres Unheil über Ödipus bringt. Intertextuelle Verweise: Vgl. AP XIV 67, Beckby mit dem Rätsel, welches Laios vor seinem eigenen Sohne warnt:

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Λάιε Λαβδακλιδη, παίδων γένος ὄλβιον αἰτεῖς. Laios, aus dem Geschlecht des Labdakos, δώσω τοι φίλον υἱόν· ἀτὰρ πεπρωμένον ἐστί um Kindersegen bittest du. σοῦ παιδὸς χερσὶν λείψειν φάος· ὣς γὰρ ἔνευσα. Ich will dir also einen Sohn geben; aber es ist dir bestimmt, von der Hand deines Sohnes zu fallen; so nämlich ist es mein Wille.

Eine ausführlichere Fassung des Orakelspruches enthält etwa die Hypothesis zu Euripides̕ Phoenissen (p. 78 Diggle). Zur Vorgeschichte des Rätsels (Zeugung und Aussetzung des Ödipus, Ermordung des Laios in Phokis) vgl. Apollod. 3,5,7–8. Eur. Phoen. 45–54, die Rede der Iokaste mit einer zusammenfassenden Rückschau über die Bedrohung durch die Sphinx, die Rätsellösung durch Ödipus, die Heirat zwischen Ödipus und seiner Mutter; hierzu auch Schol. Eur. Phoen. 45, Bd. 1, p. 255 Schwartz. Schol. Eur. Phoen. 50, Bd. 1, p. 256 Schwartz, wo neben einem Zitat der Rätselfrage auch eine Antwort aus dem Munde des Ödipus gegeben ist. Für eine Gesamtdarstellung der Ereignisse (mit verkürzter Rätselfrage) vgl. Diod. 4,64; ähnlich Hyg. fab. 67. Zur Rolle der Sphinx als vatis und zur Belohnung des siegreichen Ödipus mit der Herrschaft über Theben dann auch Sen. Oed. 87–109. Paus. 9,26,2–4 berichtet mehrere alternative Versionen des Mythos: 1. Die Sphinx als Seeräuberin, die sich sekundär auf ihrem Berg niederließ. 2. Der Sieg über die Sphinx gelang Ödipus mit einem Heer, d. h. in einer physischen Auseinandersetzung. 3. Die Sphinx als uneheliche Tochter des Laios, die auf der Grundlage der Kenntnis des von Laios an sie weitergegebenen Orakels zur Gründung Thebens schwierige Fragen zur Prüfung der Rechtmäßigkeit thebanischer Thronanwärter stellt. Ausonius, Griph. 38–41 betont die Dreigliedrigkeit des Rätsels (zwei Beine, drei Beine Vierbeine) im Zusammenhang mit der Dreigestaltigkeit der Sphinx (Vogel, Löwe, Jungfrau). Plut. frg. 136 Sandbach thematisiert das Verhältnis der ποῦς-Metapher und der Wahrheit. Vgl. Hist. Apoll. Reg. Tyr. 1,4 das Rätsel vom Inzest zwischen Vater und Tochter, welches auffällige Parallelen zum Rätsel der Sphinx und seinem inzestuösen Kontext aufweist, u. U. sogar aus dem Sphinx-Mythos herausgesponnen sein könnte, da offenbar das inzestuöse Verhältnis zwischen Sohn und Mutter

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(wie zwischen Ödipus und Iokaste), nicht das auf König Antiochos und seine Tochter tatsächlich zutreffende zwischen Vater und Tochter verrätselt ist: Scelere vehor, maternam carnem vescor, quaero fratrem meum, meae matris virum, uxoris meae filium: non invenio. In sträflichem Tun ergehe ich mich, das Fleisch der Mutter genieße ich, suche meinen Bruder, den Mann meiner Mutter, den Sohn meiner Gattin: Ich finde ihn nicht.

Zu den unterschiedlichen Überlieferungen von der Sendung der Sphinx als Strafe durch die eine oder andere Gottheit: Zu einem Verhältnis zu Dionysos vgl. Hdt. 4,79; Schol. Lykophr. 1465, p. 396 Scheer, wo die Sphinx in Gesellschaft der Sibylle, Kassandras und der Bakchen auftritt. Hier wäre allerdings auch an eine Verbindung zu dem Orakelgott (Dionysos, oder, was nach den oben folgenden Überlegungen glaubwürdiger erscheint, Apoll) vorstellbar; vgl. ferner ihre gelegentliche Darstellung in der Gesellschaft von Silenen, z. B. auf einer Lampe und einem Krater aus Castelvetrano (abgeb. bei Robert I (1915) 260, Abb. 45. 261, Abb. 46), wo der Silen der Sphinx das Rätsel von dem lebenden oder toten Vögelchen stellt. Vgl. auch Lesky (1929) 1722. Dionysos, der aus der Pentheussage für seine Abneigung gegen Theben bekannt ist, schickt die Sphinx dorthin bei Schol. Hes. theog. 326, p. 504 Gaisford; Schol. Eur. Phoen. 1031, Bd. 1, p. 358 Schwartz. Ares schickt die Sphinx nach Theben aus Zorn über die Tötung des Drachens durch Kadmos bei Eur. Phoen. 934 und Schol. z. St. (Bd. 1, p. 349 Schwartz) sowie Schol. Eur. Phoen. 1065, Bd. 1, p. 360 Schwartz. Von Hades wird sie nach Theben gesandt bei Eur. Phoen. 810. Mit Aphrodite wird sie bisweilen aufgrund ornamentaler Verwendung ihrer Figur zur Ausschmückung von Toilettengegenständen und des erotischen Charakters anderer chthonischer Gestalten in Verbindung gesetzt, vgl. Laistner (1889) 60; Ilberg (1909–1915) 1381 f.; Lesky (1929) 1708. Literatur (neben der für die Beispielinterpretation in Kapitel VII der Abhandlung herangezogenen): Schweighäuser V (1804) 591 f. Jacobs (1803) 350–352. Róhem, G. (1934); Rokem (1996); Vernant (1970), Boder (2004); Voehler (2011).

18 Rätsel vom Wein Antiphan. PCG II, frg. 55,12, p. 340 K.-A.; zit. Athen. X 449c Α. Βρομιάδος δ’ ἱδρῶτα πηγῆς; Β. οἶνον εἰπὲ συντεμών. A: B.

Der Bromios-Quelle Schweiß? Sag „Wein“ in aller Kürze.

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Form: 2 trochäische Tetrameter Erklärung: Athenaios zitiert eine weitere Rätsel-Parodie aus dem Aphrodision des Antiphanes. Das beschreibende Rätsel, welches hier zugrunde liegt, oder sich doch aus der metaphorischen Formulierung leicht ableiten lässt (Was ist der Schweiß der Bromios-Quelle?), beruht auf zwei Komponenten: 1. Der große Becher (βρομιάς) steht hier metaphorisch und in großer lautlicher Ähnlichkeit für den Becher-Gott Bromios bzw. Dionysos selbst. Dieser wird als Gott des Weines angesprochen, wodurch bereits ohne Zweifel ist, von welcher Flüssigkeit die Rede ist. Er steht mit seinem Namen in einer Art Metonymie causa pro effectu für den Gegenstand, dessen Herr bzw. Schöpfer er ist. Zu einer lokalen Quelle (πηγή) des Gottes, aus welcher der Vorstellung nach der Wein direkt entspringen würde, gibt es keine Überlieferung. Die Quelle als Ursprung des Weins könnte beispielsweise die Traube bezeichnen, aus welcher der Wein als Flüssigkeit (ἱδρώς) beim Keltern austritt. Möglich scheint ferner die Deutung auf einen Mischkrug oder Becher, aus welchem der Wein zum Verzehr geschöpft wird, d. h. aus welchem er als Flüssigkeit (analog zum Schweiß) austritt. 2. Paradox erscheint zunächst die Wendung ἱδρῶτα πηγῆς, da unklar sein muss, inwiefern etwas selbst schon Flüssiges schwitzen kann. Der Schweiß ist hier, vergleichbar mit seinem Vorkommen in dem Rätsel von der Mistel (Ion, TrGF I, 19 F 40 Snell; Athen. X 451de), jedoch in metaphorischem Sinne gebraucht und bezeichnet den Wein als austretende (Teil-)Flüssigkeit. Die Metapher dürfte jedoch, besonders in Verbindung mit der Nennung des Dionysos, leicht verständlich sein, sodass sich das Rätsel nur punktuell von einem vergleichbaren paraphrasierenden unterscheidet (etwa Was ist der Ausfluss der Dionysos-Frucht?) Der Schweiß der Bromios-Quelle wird mithin zu dem Ausfluss der gekelterten Traube, d. h. zu Wein. Bewertung des Rätsels: Die Aufforderung des Gesprächspartners, sich kurzzufassen (συντεμών), verrät, dass insbesondere die Länge der als unnötig kompliziert empfundenen Formulierung auf Ablehnung stößt. Dies belegt, dass Rätsel nicht nur – wie sonst typischerweise – durch Verkürzung bzw. Unvollständigkeit einer Beschreibung erzeugt werden, sondern auch durch das Gegenteil – Überlänge. Die Kritik richtet sich damit offenbar gegen die Diskrepanz zwischen einfachem Inhalt und komplizierter Form.

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Intertextuelle Verweise: Vgl. die vier weiteren Komödienfragmente bei Athen. X 449bd, die ähnliche Rätselparodien über Topf (χύτρα), Kuchenfladen (πλακοῦς), Wasser (ὕδωρ) und Myrrhe (σμύρνα) enthalten. Literatur: Heilmann (2014) passim, bes. 42 f. 54–79 beleuchtet die christlichen Konnotationen, in denen der mit Dionysos so eng verbundene Wein für das Blut (als Körperflüssigkeit) des Gottes steht. Schweighäuser V (1804) 534.

19 Totenorakel der Melissa an Periander über den Ort eines Pfandgeldes (Rätsel von den Broten im kalten Ofen) Hdt. 5,92η Wilson πέμψαντι γάρ οἱ ἐς Θεσπρωτοὺς ἐπ’ Ἀχέροντα ποταμὸν ἀγγέλους ἐπὶ τὸ νεκυομαντήιον παρακαταθήκης πέρι ξεινικῆς οὔτε σημανέειν ἔφη ἡ Μέλισσα ἐπιφανεῖσα οὔτε κατερέειν ἐν τῷ κεῖται χώρῳ ἡ παρακαταθήκη· ῥιγοῦν τε γὰρ καὶ εἶναι γυμνή· τῶν γάρ οἱ συγκατέθαψε εἱμάτων ὄφελος εἶναι οὐδὲν οὐ κατακαυθέντων· μαρτύριον δέ οἱ εἶναι ὡς ἀληθέα ταῦτα λέγει, ὅτι ἐπὶ ψυχρὸν τὸν ἰπνὸν Περίανδρος τοὺς ἄρτους ἐπέβαλε. ταῦτα δὲ ὡς ὀπίσω ἀπηγγέλθη τῷ Περιάνδρῳ (πιστὸν γάρ οἱ ἦν τὸ συμβόλαιον, ὃς νεκρῷ ἐούσῃ Μελίσσῃ ἐμίγη), ἰθέως δὴ μετὰ τὴν ἀγγελίην κήρυγμα ἐποιήσατο ἐς τὸ Ἥραιον ἐξιέναι πάσας τὰς Κορινθίων γυναῖκας. αἱ μὲν δὴ ὡς ἐς ὁρτὴν ἤισαν κόσμῳ τῷ καλλίστῳ χρεώμεναι, ὁ δ’ ὑποστήσας τοὺς δορυφόρους ἀπέδυσέ σφεας πάσας ὁμοίως, τάς τε ἐλευθέρας καὶ τὰς ἀμφιπόλους, συμφορήσας δὲ ‹τὰ ἱμάτια› ἐς ὄρυγμα Μελίσσῃ ἐπευχόμενος κατέκαιε. ταῦτα δέ οἱ ποιήσαντι καὶ τὸ δεύτερον πέμψαντι ἔφρασε τὸ εἴδωλον τὸ Μελίσσης ἐς τὸν κατέθηκε χῶρον τοῦ ξείνου τὴν παρακαταθήκην. Als er [sc. Periander] nämlich Boten zu den Thesprotern an den Acheron schickte, um das Totenorakel nach dem Versteck für das niedergelegte Pfand eines Gastfreundes zu befragen, sagte Melissa, als sie erschien, sie würde weder zeigen noch sagen, an welchem Ort das Pfandgeld liege, denn sie fröre und sei nackt, denn sie habe die mit ihr begrabenen Kleider verloren, weil diese nicht [mit ihr] verbrannt wurden; Beweis dafür, dass sie diese Dinge wahrheitsgemäß sagte, sollte sein, dass Periander Brote in einen kalten Ofen geschoben hatte. Dies wurde im Gegenzug dem Periander gemeldet (und glaubwürdig schien ihm der Beweis, denn er hatte sich mit Melissa vereinigt, als die schon tot war) und unmittelbar nach der Meldung ließ er einen Herold alle korinthischen Frauen in den Heratempel führen. Sie sahen aus wie zum Feste und zierten sich mit Schmuck auf das Schönste, er aber stellte seine Leibwachen auf und ließ ihnen allen gleichermaßen, den freien wie den Sklavinnen, die Kleidung ausziehen und verbrannte sie unter Anrufung der Melissa in einer Grube. Als er dies verrichtet hatte und ein zweites Mal schickte, sagte ihm das Abbild der Melissa, an welchem Ort sie das Pfandgeld des Gastfreundes hinterlegt hatte.

Form: Prosa

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Kontext: Der korinthische Tyrann Periander sucht das Pfandgeld eines Gastfreundes und schickt, um den Ort des Verstecks zu erfahren, nach dem Totenorakel am Acheron. Seine verstorbene Frau Melissa hat offenbar zu Lebzeiten das Pfandgeld versteckt, das Periander jetzt sucht. Bei der Anfrage an das (Toten-)Orakel handelt es sich also nicht, wie gewöhnlich bei einer Orakelbefragung, um höhere Ratsuche. Vielmehr fragt Periander einfach diejenige, die das Versteck gewählt hat. Dass Melissa als tote Seele eventuell tieferen Einblick in den Zusammenhang der Dinge hat, spielt dabei keine Rolle; vgl. zu den prophetischen Fähigkeiten der Toten Most (1993) 108 f.; Janko (1992) 420 ad Il. 16,852–854. Er hätte sie auch gefragt, wenn sie noch am Leben wäre. Melissa verweigert die Antwort, bis ihr Kleider (durch Verbrennung) in die Unterwelt geschickt werden; vgl. Kees (1935) zur generellen Affektionsfähigkeit der Totenseelen aufgrund ihrer Sehnsucht nach dem irdischen Leben, welche die Lebenden nutzen, um sie zu zitieren und unter Druck zu setzen. Erklärung: In der an Periander gestellten Aufgabe, seiner im Totenreich frierenden Frau Kleider zu schicken, liegt kein Rätsel noch ist die Erfüllung außergewöhnlich schwierig. Obwohl Melissa die Verbrennung zur Bedingung für ihre Aussage macht, scheint sie nicht auf die mechanische Verbrennung abzuheben. Denn sie bittet nicht nur direkt um die Kleider, sondern fügt zusätzlich einen Beweis (μαρτύριον) für ihren Zustand, d. h. für ihr Frieren an. Inwiefern sie etwas zu beweisen hat, scheint zunächst fragwürdig, da doch Periander in der Rolle des Bittstellers auftritt. Die Logik der Handlung klärt sich jedoch im weiteren Verlauf. Melissa spielt in einer metaphorischen Umschreibung darauf an, dass Periander den Geschlechtsakt noch einmal mit ihr vollzog, als sie bereits tot war. Dabei steht der kalte Ofen (ψυρὸς ἰπνός) für die Vagina der toten, d. h. schon erkalteten Melissa. Es muss gesondert erkannt werden, dass ψυχρός hier im Sinne von „defekt“ benutzt ist, nicht im Sinne von „noch nicht warm“. Denn in Wirklichkeit schiebt ein Bäcker die Brote ja meistens in einen kalten Ofen, der sich erst im Laufe des Backvorgangs erhitzt. Die (unfertigen) Brote vertreten (a) (wohl aufgrund der Form und der Bewegung) das männliche Glied und (b) als Teigrohlinge die Spermien. Die Metapher bezieht sich nicht nur auf die Bewegung (hineinschieben), sondern besonders auch auf die Funktion: Aus einem funktionierenden, heißen Ofen gehen frische Brote (Kinder) hervor, ein kalter, d. h. defekter Ofen (die Vagina einer toten Frau) stellt den rohen Teig (Sperma) nicht zu Broten (Kindern) fertig. Die Analogien beruhen also vordergründig auf der äußeren Form der verglichenen Gegenstände (Brote und das männliche

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Glied länglich; Ofen und Vagina als dreidimensionaler Raum mit einer Öffnung), beziehen sich jedoch in zweiter Instanz auch auf ihre Funktion (Brotteig und Spermien als Rohling, aus dem etwas fertiggestellt wird; Ofen und Vagina als Ort, an dem diese Fertigstellung von statten geht). Das Rätsel wäre vor diesem Hintergrund ebenso sinnvoll unter A. I. 1.1.2.3. einzugruppieren. Vgl. den richtigen Hinweis bei Hornblower (2013) 265, dass sich auch das Rätsel des Thrasybulos an Periander um Korn bzw. Ähren dreht (ebenso 5,92). Falsch jedoch die Annahme, einmal stünden die (rohen) Weizenkörner im Zentrum, dann aber die zu Broten gebackenen. Schließlich liegt die Pointe des Rätsels gerade darin, dass die Spermien-Samenkörner in dem kalten Ofen nicht mehr zu Broten (Kindern) gebacken werden. Melissa und Periander als Rätselsteller und Rätsellöser: Dieses Rätsel hat die Funktion einer Geheimsprache, denn außer Periander und der Seele der toten Melissa selbst kann niemand von dem intimen Akt wissen. Die Boten überbringen den Spruch entsprechend unverstanden. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass kein Unbefugter an das versteckte Geld gelangen kann. Der rätselhafte Spruch ist damit nicht nur ein Beweis dafür, dass Melissa tatsächlich friert (weil sie schon kalt war, d. h. „fror“, als Periander sie bei ihrem letzten Beischlaf berührte) und ihr Anliegen somit gerechtfertigt ist. Vielmehr beweist der befragte Geist einerseits (1) auch seine eigene Identität und stellt damit das begehrte Wissen in Aussicht (πιστὸν γάρ οἱ ἦν τὸ συμβόλαιον). Vgl. jedoch Hornblower (2013) z. St. nach Johnston (1999) viii mit der falschen Vermutung, Melissa müsse ihre Identität den Boten gegenüber unter Beweis stellen, weil Periander das Orakel nicht selbst besuchte. Den Boten aber kann sich der Sinn des Rätsels ganz und gar nicht erschließen, das doch auf den intimen Akt mit Periander rekurriert. Der Beweis findet gegenüber Periander statt, der nach dem Bericht der Boten sichergehen kann, dass seine Abgesandten die richtige Seele befragt haben; so dann auch Hornblower (2013) 265. So stellt dieses μαρτύριον andererseits (2) besonders auch die Identität des Fragenden auf die Probe bzw. ruft dazu auf, sie unter Beweis zu stellen. Periander wird nicht als konkretes Individuum geprüft, denn für ihn ist das Verständnis des Gesagten ein Leichtes. Vielmehr wird der Fragende als solcher auf seine „Periander-Identität“ geprüft. Insofern gibt es auch kein übliches Autoritätsgefälle zwischen Melissa als überlegener Rätselstellerin und Periander als Rätsellöser, sondern vielmehr eine Abgrenzung gegenüber uneingeweihten Dritten. Das entspricht natürlich einem Autoritätsgefälle zwischen Melissa als Rätselstellerin und jedem anderen potentiellen Rätsellöser (etwa jemandem, der sich das versteckte Geld ergaunern will), also der Rätsellöserrolle. Melissa hat ja vor Periander in

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dieser Sache keinen Wissensvorsprung, sondern es geht gerade um den Bezug auf ein Wissen, über das (nur) die beiden verfügen. Im Stellen und Lösen dieses Rätsel bildet sich somit das üblicherweise mit einem Pfand ausgegebene Erkennungszeichen (σύμβολον) ab, welches den späteren Abholer identifizieren sollte; vgl. etwa Hdt. 6,86, wo Glaukos mit dem Pfand des Milesiers Erkennungsmarken erhält, damit die Söhne, die das Geld später abholen wollen, sich als rechtmäßige Eigentümer ausweisen können. Glaukos will das Geld dann jedoch trotz vorhandener Erkennungszeichen nicht herausgeben. Hier zeigt sich, dass der Verwahrer an sich schon vertrauenswürdig sein muss. Geprüft wird primär der Abholer. Doch auch der Verwahrer kann sich mit seinem Gegenstück zu der Erkennungsmarke ausweisen, ganz wie Melissa es hier zunächst tut. Der sog. χειρόγραφος, ein Lederriemen, der zweimal die ‚Bestimmung‘ mit dem dazwischen geschriebenen Wort χειρόγραφος enthält, wurde in der Mitte durchgeschnitten. Bei der Auslösung mussten beide Teile zusammenpassen. Fälschungsecht war das Ganze vermutlich aufgrund der jeweiligen Handschrift, die als schwer nachahmbar galt. Das geheime Erkennungszeichen liegt in diesem Fall also darin, dass Periander etwas fragt, das nur Melissa weiß, und Melissa mit etwas antwortet, das nur Periander (zu verstehen) weiß. Der Umstand, dass Melissa nach der richtigen Reaktion auf ihre Antwort die Lösung zu Perianders Frage ohne weitere Verschleierung oder Aufgabe preisgibt, bildet die übliche Orakelstruktur exakt ab: 1. Jemand befragt das Orakel. (hier: Periander) 2. In der Antwort des Orakels liegt ein Rätsel. (hier: Melissa scheint zwar die Antwort zu verweigern, doch in den erläuternden Ausführungen liegt eben gerade doch das Orakel-Antwort-Rätsel, dessen Lösung zum Erfolg, d. h. zum Finden des Geldes führt) 3. Die Lösung des Rätsels führt zum Erfolg. Da die zweite Antwort ausdrücklich ist, muss die zweite Befragung nicht als zweite Aufgabe gewertet werden. Die Belohnung folgt somit unmittelbar auf die Lösung des Rätsels. Die zweite Befragung ist nur aus erzähllogischen Gründen eingeschaltet, sie hat sonst keine eigene Funktion. Das Rätsel der Melissa lautet also sinngemäß: „Es gibt einen kalten Ofen, in den trotzdem Brote geschoben sind.“ Oder mit direktem Bezug auf Perianders Identität als Rätsellösung: „Es gibt einen Bäcker, der Teig in einen kalten Ofen schob und nie fertige Brote erhielt.“ Intertextuelle Verweise: Zu dem Verhältnis Perianders zu seinen beiden Söhnen vgl. Hdt. 3,50–53. Zu Lysikle als eigentlichem Namen der Melissa vgl. Diog. Laert. 1,94; Pind. P. 4,60; Paus. 4,22,3; zu Melissa allgemein Loraux (1993).

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Zur Topographie des Acherons, die die Vorstellung von einem Zugang zur Unterwelt begünstigt, vgl. Thuk. 1,64; Strab. 324; Paus. 1,17,5. Andere Totenorakel waren in Phigalea (Paus. 3,17,9), Heraklea Pontica (Plut. Kimon 6) und Tainarum (Plut. mor. 560e (de sera numinis vindicta)) lokalisiert; vgl. Hornblower (2013) 263. Literatur: Die Episode ist behandelt (allerdings ohne besonderes Augenmerk für das Rätselmotiv) bei Hornblower (2013) 263–267. Zu griechischen Totenglauben und den Orakelstätten im Allgemeinen vgl. Johnston (1999); Ogden (22004) passim, bes. 53–60.

20 Rätsel vom Himmel AP App. VII 75 bzw. 46 Cougny; Basil. Megalomit. 41, Anecd. Gr. III, p. 451 Boiss.; S 9. O 104 Στοὰ ξύλων ἄμοιρός εἰμι καὶ λίθων, ὕλης τε λοιπῆς γηΐνης πάσης ἅμα· οὐδεὶς περιστρέφει με, καὶ παρατρέχω· οὐδεὶς ἐγείρει, καὶ συνίσταμαι πάλιν. 2 οὐσίας AP App. VII 46

3 καταστρέφει AP App. VII 46

Ich bin ein Säulengang ohne Holz und Stein und zugleich ohne Materie und alles übrige Irdische; Niemand umwandelt mich und ich laufe vorbei; niemand verscheucht mich und doch richte ich mich wieder auf.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Die beiden im Wortlaut beinahe identischen Rätsel AP App. VII 75 (Basileios Megalomites) und 46 (anonym) sind unter den abweichenden Lemmata οὖρανός und εἰς τὴν ἐν οὐρανῷ ἶριν überliefert. Ohlert (21912) 104 verwirft beide Lemmata (explizit nur dasjenige zu 46) und deutet das Rätsel auf einen bestimmten Zeitabschnitt wie das Jahr. Seiner Lösung ist aus verschiedenen Gründen zuzustimmen. 1. οὐρανός: Der Himmel lässt sich u. U. durchaus als immaterielle stofflose Säulenhalle imaginieren (vv. 1–2), welche die Welt gleichsam in einem Innenhof umschließt. Nicht schlüssig zu erklären ist hingegen, inwiefern das Prädikat παρατρέχειν durch den οὐρανός regiert sein kann und in welchem Sinn sich der Himmel wieder aufrichten sollte (συνίσταμαι πάλιν).

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2. εἰς τῆν ἐν οὐρανῷ ἶριν: Im Unterschied zur Deutung auf den Himmel selbst müsste die στοά hier wohl – als Analogie zur Form des Regenbogens – als an einer Seite offen, d. h. in U-Form, gedacht werden. Der geflügelte Name der Stoa poikile stimmt zudem zur Farbenpracht des Regenbogens, der ebenso immateriell ist wie der Himmel selbst, an dem er erscheint. Der dritte Vers mag darauf gehen, dass der Regenbogen, obwohl in der Form einer Brücke, von niemandem als solche genutzt, d. h. überschritten (κατα- bzw. περιστρέφει) wird, selbst aber im übertragenen räumlichen Sinne an Landschaften u.Ä. vorbeizieht (παρατρέχω). Beide Verben lassen sich jedoch nur mehr oder weniger künstlich in die Ausdeutung einfügen. Der Schlussvers hingegen trifft den sich wiederholenden Charakter des Regenbogens. Ohne dass dieser von Handwerkern erzeugt oder wieder zerstört würde (οὐδεὶς ἐγείρει), entsteht (συνίσταμαι πάλιν) und vergeht er in Abhängigkeit von der Wetterlage. 3. ἔτος/ ἐνιαυτός bzw. ἦμαρ: Ohlert hingegen scheint mit seiner Auslegung des Rätsels auf eine Zeiteinheit wie das Jahr oder den Tag als Lösung alle Zweifelsfälle zugleich auszuräumen. Die umlaufende stofflose Säulenhalle (vv. 1 f.) stimmt bei dieser Deutung besonders gut mit dem Schlussvers des Rätsels zusammen, der ebenfalls auf den zyklischen Charakter jener Zeiteinheiten verweist (… πάλιν, v. 4); vgl. hierzu das Rätsel von den beiden Schwestern als Tag und Nacht, die im Wechsel beständig entstehen und vergehen, AP XIV 40. 41; ferner AP App. VII 11 das Rätsel vom Schlaf, der ebenfalls im Rhythmus eines Tages bzw. einer Nacht entsteht und wieder vergeht (ἀλλὰ φύεσθαί τ’ ἀεὶ/ καινῶς, φθίνειν τε τὴν παρουσίαν πάλιν). v. 3 gibt einen dezenten Hinweis darauf, dass στοά nicht im engeren architektonischen Sinne zu verstehen ist: Die Säulenhalle, von der die Rede ist, wird von niemandem durchwandert, insofern sie gar nicht als materielle Säulenhalle existiert. Vielmehr vollführt die Säulenhalle bspw. als Jahr ihre zyklischen Umläufe (παρατρέχω) und zieht dabei an den Menschen vorbei. Ob an eine größere oder kleinere Zeiteinheit gedacht ist, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Da sowohl das Jahr als auch der Tag eine in sich geschlossene Einheit darstellen, haben sie ihre je eigene Berechtigung zur Lösung des Rätsels. Das Jahr betont den allumfassenden Charakter der Säulenhalle, der Tag hingegen fokussiert auf den ständigen zyklischen Wechsel zwischen Bestehen und Vergehen, vgl. AP App. VII 11. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel vom Zelt (AP App. VII 38), in dem ebenfalls die Negation aller gängigen Baumaterialien für eine architektonische Einheit negiert ist.

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21 Rätsel von der Weinrebe/Distel Chairemon, TrGF I, 71 F 41 Snell; Kokondrios (Rhet. Gr. VIII, p. 789,26 Walz); S 87. O 173 †ἔαρος ἡ νύμφη τέκνον τι μετὰ θέρους εἰς ὕστερον, ἐν χειμῶνι δ’ οἴχεται σὺν τῷ ἀνέμῳ κεκαρμένη† Im Frühling eine junge Frau, ein Kind später nach dem Sommer, im Winter aber geht sie mit geschorenem Haar fort mit dem Wind.

Form: 2 iambische Trimeter Erklärung: Aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers ist hier in metaphorischen Verwandtschaftsbeziehungen die Entwicklung einer Pflanze im Laufe eines Jahres über drei Stadien bzw. Generationen, die den Jahreszeiten Frühling (ἔαρ), Sommer/Herbst (μετὰ θέρους) und Winter (χειμών) entsprechen, beschrieben. v. 1a: Im Frühling gleicht das gesuchte Objekt einer νύμφη, die aufblüht und befruchtet wird. Besonders im Hinblick auf v. 1b dürfen wir hier wohl annehmen, dass die Pflanzenblüte gemeint ist. v. 1b: Aus der Blüte wird nämlich im Sommer die Frucht, wie aus der νύμφη ein τέκνον hervorgeht. v. 2: Im Winter schließlich weht der Wind die geschorenen Haare, welche wohl die verblühten Blütenstände vertreten müssen, fort. Ob hierbei an eine alte Frau, die ihre Haare verliert (oder als Witwe schert), gedacht ist, oder im Gegenteil an ein Neugeborenes, das noch keine Haare hat, lässt sich kaum entscheiden. Sofern die κόμαι mit den Samenkörnern der (verblüten) Blüten zusammenhängen, ließe die Generationsmetapher beides gleichermaßen zu: Der Same (in der Erde), aus dem alles hervorgeht, beansprucht sowohl die Generation der Großeltern für sich als auch die der Enkel, wenn er von der Blüte neu hervorgebracht wird. Irritierend wirkt für einen Rezipienten die Reihenfolge der genannten Entwicklungsabschnitte. Von der (erwachsenen) Frau über das Kind hin zur Alten bzw. zum Neugeborenen – dies ist weder kohärent ansteigend, noch konsequent rückläufig und lässt sich darum nur schwer mit der natürlichen Entwicklung des Menschen, die ja als Bezugsgröße im Hintergrund steht, in Einklang bringen. In dieser unorthodoxen Entwicklung liegt ein Hinweis darauf verborgen, dass es sich um eine saisonale Entwicklung handelt, dass also etwas gesucht ist, das innerhalb eines Jahres einen vollständigen Lebenszyklus durchläuft – womit die Deutung auf eine (bestimmte) Pflanze geboten scheint. Als konkrete Lösung überliefert Kokondrios selbst die Weinrebe, die freilich mit ihrer femininen Bezeichnung ἡ ἄμπελος trefflich zu der νύμφη am Eingang des Rätsels passt. So auch Schultz (1909) 52, nr. 87 und (1912) 22. 30. Ohlert (21912)

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173 hingegen wendet sehr richtig ein, dass der Weinrebe der Winterwind nicht mehr zu schaffen macht als anderen Pflanzen. Die Distel (ἡ ἄκανθα) hingegen, von dem auch das Rätsel AP App. VII 10 auf ähnliche Weise handelt, wirft ihre verblühte Distelwolle (πάππος) im Winter in den Wind. Das τέκνον hingegen wiederum scheint besonders trefflich auf die Trauben der Weinrebe hinzudeuten. Zum Überlieferungskontext: Kokondrios weist auf die rätselübliche Verschleierung des sprachlichen Ausdrucks – als bestimmendes Merkmal des Rätsels selbst – hin und konkretisiert dabei (ohne weitere Erläuterung), das (Beispiel-)Rätsel trenne Zusammengehöriges (ἀποκρύπτων τὸ νοούμενον διὰ τὰ ἀνακεχωρηκότα τῶν συμβεβηκότων). Inwiefern damit dem oben beschriebenen Mechanismus der vorliegenden Verrätselung Rechnung getragen wird, bleibt unklar. Intertextuelle Verweise: Vgl. zu unterschiedlichen Entwicklungsstadien einer Pflanze in der Analogie zur menschlichen Entwicklung mit Betonung der abgeblühten Blütenreste im Alter, das Rätsel von der Distelwolle (AP App. VII 10). 22 Rätselbotschaft vom Hunger Kallisth. FGrH 124 F 13 Jacoby; zit. Athen. X 452ab τοιοῦτόν τι καὶ Καλλισθένης ἐν ταῖς Ἑλληνικαῖς φησιν, ὡς Ἀρκάδων πολιορκούντων Κρῶμνον – πολίχνιον δ’ ἐστὶν ἱδρυμένον πλησίον Μεγάλης πόλεως – Ἱππόδαμος ὁ Λάκων εἷς ὢν τῶν πολιορκουμένων διεκελεύετο τῶι παρὰ Λακεδαιμονίων πρὸς αὐτοὺς ἥκοντι κήρυκι, δηλῶν ἐν αἰνιγμῶι τὴν περὶ αὐτοὺς κατάστασιν, ἀπαγγέλλειν τῆι μητρὶ λύεσθαι τὸ γύναιον δέχ’ ἡμερῶν τὸ ἐν Ἀπολλωνίωι δεδεμένον, ὡς οὐκ ἔτι λύσιμον ἐσόμενον ἐὰν αὗται παρέλθωσι. καὶ διὰ ταύτης τῆς γνώμης ἐμήνυεν σαφῶς τὸ μήνυμα. αὕτη γάρ ἐστιν ἐν τῶι Ἀπολλωνίωι παρὰ τὸν τοῦ Ἀπόλλωνος θρόνον διὰ γραφῆς ἀπομεμιμημένος Λιμὸς ἔχων γυναικὸς μορφήν. φανερὸν οὖν ἐγένετο πᾶσιν ὅτι δέκα ἡμέρας ἔτι καρτερῆσαι δύνανται οἱ πολιορκούμενοι διὰ τὸν λιμόν. συνέντες οὖν οἱ Λάκωνες τὸ λεχθὲν ἐβοήθησαν κατὰ κράτος τοῖς ἐν τῆι Κρώμνηι. Solches sagt auch Kallisthenes in seiner Griechisch Geschichte; als die Arkader Kromnos belagerten (es ist ein kleines Städtchen, gegründet in der Nähe von Megalopolis), verdeutlichte der Spartaner Hippodamos, der einer von den Belagerten war, dem zu ihnen gesandten Herold ganz klar in einem Rätsel den Zustand bei ihnen und ließ ihn der Mutter melden, die im Apollon-Heiligtum gefesselte Frau innerhalb von zehn Tagen zu erlösen, weil man sie nicht länger würde erlösen können, wenn diese vergangen sein würden. Und durch diesen verschlüsselten Spruch eröffnete er deutlich die notwendige Information. Dieselbe ist nämlich der im Apollon-Heiligtum neben dem Thron des Apollon auf einem Bild dargestellte Hunger, der eine Frauengestalt hat. So wurde also allen klar, dass die Belagerten wegen des Hungers (nur) noch zehn Tage ausharren konnten. Es verstanden die Spartaner das Gesagte und kamen denen in Kromna nach Kräften zu Hilfe.

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Kontext: 365 v. Chr. kommt es zu einem Zerwürfnis zwischen Arkadien und dem mit Sparta verbündeten Elis. Um den durch die Arkader bedrängten Bewohnern von Elis zu Hilfe zu kommen, nehmen die Spartaner unter Archidamos die kleine Festung Kromnos ein, wo sie daraufhin selbst von den Arkadern belagert werden. Im Verlaufe der Belagerung geraten die belagerten Spartaner in Versorgungsnöte, welche zu dem verschlüsselten Hilferuf des hier genannten Hippodamos führen. Erklärung: Die Rätselbotschaft vom lebensbedrohlichen Hunger (λιμός) der in Kromnos belagerten Spartaner verbindet allegorische Elemente der bildenden Kunst mit sprachlich-metaphorischen Verrätselungskomponenten. Das Rätsel basiert auf der allegorischen Personifikation des Hungers als Frauengestalt in einem Gemälde des spartanischen Apollon-Tempels, auf das Hippodamos hier anspielt. Die Spartaner, denen der Hilfsgesandte die Botschaft überbringt, müssen das γύναιον ἐν Ἀπολλωνίῳ δεδεμένον in mehrerer Hinsicht richtig deuten: 1. Die Frau muss als die auf dem Gemälde abgebildete identifiziert werden, nicht etwa als echte Geisel. Hierauf gibt die Verwendung des neutralen Adjektivs gegenüber der γύνη eventuell einen Hinweis. 2. Die gemalte Frauengestallt muss sodann allegorisch ausgedeutet und als personifizierter Hunger aufgefasst werden. 3. Ob die Fesselung (δεδεμένον) auf dem Gemälde tatsächlich abgebildet ist, geht aus der Beschreibung nicht klar hervor. Sehr gut denkbar ist jedoch auch, dass δεδεμένον hier metaphorisch die ununterbrochene Anwesenheit der gemalten Frau, die ja nicht aus dem Tempel fortgehen kann, bezeichnet. Die belagerten Spartaner hingegen sind δεδεμένοι in einem zweiten metaphorischen Sinn, der auf ihre hungerbedingte Handlungsunfähigkeit hindeutet. 4. Auch die geforderte Loslösung (λύεσθαι) ist metaphorisch aufzufassen. Nicht etwa sollen die Spartaner das Gemälde aus dem Heiligtum entfernen, sondern die Belagerten von ihrem Hunger durch die Sendung von Hilfstruppen erlösen. Die Verbindung λίμνην λύειν steht hier also als metaphorisches Synonym für ἐμπιμπλάναι o. ä. Ferner kann der (aus dem Tempel) freigelassene Hunger fortgehen und muss die Spartaner nicht länger durch sein Verweilen bedrängen. 5. Dass die Frau binnen einer festgesetzten Frist gelöst werden muss, weil sie anderenfalls nicht mehr gelöst werden könne (οὐκ ἔτι λύσιμον ἐσόμενον ἒὰν αὗται παρέλθωσι), erscheint zunächst paradox. Wer gefesselt ist, bleibt

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schließlich gefesselt und kann prinzipiell zu jedem beliebigen Zeitpunkt freigelassen werden. In dieser Andeutung des bevorstehenden Hungertodes liegt jedoch nicht primär der Hinweis darauf, dass der Hunger nach zehn Tagen nicht mehr gestillt werden kann, weil er unendlich groß geworden wäre, sondern darauf dass alle Bemühungen dann gegenstandslos sein würden, weil der Hunger gleichsam nicht mehr vorhanden ist, wenn die Belagerten tot sind. Hippodamos als Rätselsteller und die Spartaner als Rätsellöser: Dass Hippodamos jene lebenswichtige Botschaft als Rätsel formuliert und dadurch prinzipiell riskiert, dass sie missverstanden wird, lässt nur einen Schluss zu: Er kann sich sicher sein, dass die Spartaner, die das gemeinte Gemälde vermutlich gut kennen, den Sinn des Gesagten trotz der Verschlüsselung verstehen. Das Rätsel erfüllt hier die Funktion einer Geheimsprache, die von ihren designierten Empfängern verstanden wird, für Feinde, denen die Nachricht unter Umständen in die Hände fällt, jedoch nutzlos ist. Diese Hypothese wird unterstützt durch den Umstand, dass Athenaios das Rätsel mit den Begriffen δηλόω, σαφής und φανερός verbindet. Anders als für das Rätsel üblich verschleiert es hier das Gesagte offenbar nicht, sondern macht es sogar besonders deutlich (δηλῶν ... ἐμήνυεν σαφῶς) und für alle verständlich (φανερὸν πᾶσιν). Gemeint kann hiermit nur sein, dass es für die Spartaner, an die sich der Hilferuf richtet, verständlich ist, weil sie das zur Lösung notwendige Bezugssystem kennen, nicht aber allgemein nachvollziehbar, da außer den Spartanern niemand das betreffende Gemälde kennt. Auf diese Weise konnte Hippodamos sicher gehen, dass die Arkader nicht erfuhren, wie schlimm es um ihre Gegner bereits stand. Ob der Bote selbst die Rätselbotschaft versteht, ist fraglich, vgl. ähnliche Konstellationen, in denen der Bote uneingeweiht ist, etwa Hdt. 5,92 (Thrasybulos und Periander). Taktisch klüger wäre es auch in diesem Fall, den Boten nicht in den wahren Sinn der Botschaft einzuweihen – sollte er dem Feind in die Hände fallen und zur Aussage gezwungen werden, könnte er die Notlage der Spartaner dann nicht verraten. Da er selbst aus Sparta stammt, müsste er jedoch das Gemälde im Heiligtum kennen und könnte so theoretisch den vollen Sinn erschließen. Dass Hippodamos die Botschaft direkt an seine Mutter richtet (ἀπανγέλλειν τῇ μητρί) lässt aber vermuten, dass vielleicht nur besonders gut mit dem Tempel Vertraute den Zusammenhang herstellen würden. Intertextuelle Verweise: Athenaios gibt das Rätsel X 452ab wieder. Er nennt es in einer Reihe vergleichbarer Rätsel, die jedoch alle aus der Tragödie stammen. Es scheint, als wolle er

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das Paradigma des Rätseltypus (Verrätselung eines Abstraktums durch allegorische Personifikation) verdeutlichen und zöge deshalb bewusst auch ein Beispiel aus einer anderen Gattung heran, denn er leitet durch die Formulierung τοιοῦτόν τι καὶ Καλλισθένης ἐν ταῖς Ἑλληνικαῖς φησιν vom einen zum anderen Rätsel hinüber. Das anaphorische τοιοῦτον deutet dabei die innere Ähnlichkeit der beiden Rätsel an. Er bezeichnet das Rätsel als γνώμη und betont auf diese Weise seinen kognitiven Charakter. Literatur: Schweighäuser V (1804) 557.

23 Orakel an Aigeus über das Verschlossenhalten des Weinschlauches Apollod. 3,15,6, Wagner; AP XIV 150 ἀσκοῦ τὸν προύχοντα ποδάονα, φέρτατε λαῶν, μὴ λύσῃς, πρὶν ἐς ἄκρον Ἀθηναίων ἀφίκηαι. 1 Ποδαιόνα AP XIV 150

φίλτατε AP XIV 150

2 λῦσαι AP XIV 150

πρὶν γουνὸν Ἀθηναίων

ἀφικέσθαι AP XIV 150

Des Schlauches schmales Ende, du tapferster der Menschen, löse nicht, bevor du die Anhöhe der Athener erreicht hast.

Form: 2 Hexameter (mit Prosarahmen) Kontext: Aigeus war Sohn des Pandion, des Königs von Attika, und hatte drei Brüder, Pallas, Nisos und Lykos. Nach dem Tod des Vaters teilen die Brüder das Reich in vier Teile, doch Aigeus behält als ältester Sohn die ungeteilte Herrschaftsgewalt. Weil Aigeus trotz zweier Ehen keine Kinder bekam und fürchtete, die Herrschaft an die Nachkommen seiner Brüder zu verlieren, befragte er das Orakel über seine Nachkommenschaft. Erklärung: Eigentlich wird die Frage, die vermutlich sinngemäß lautete „Wird Aigeus Söhne haben?“ oder „Was muss Aigeus tun, damit ihm ein Sohn geboren wird?“, gar nicht (direkt) beantwortet. Vielmehr handelt es sich offenbar um eine gewisse Warnung. Die obszöne Metapher vom Öffnen des Weinschlauchs ist dabei auf folgende Weise wirksam. Ein ποδέων bezeichnet im wörtlichen Sinne die knotigen Teile eines Pelzes oder eines Leders, wo das Tier seine Füße und seinen Schwanz hatte. Aus einer dieser Stellen wurde bei der Verarbeitung zu einem Weinschlauch (ἀσκός) das Mundstück gefertigt, auf welches der πόδεων sich hier als Öffnung im weiteren Sinne bezieht. Der ἀσκός selbst ist hier jedoch

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metaphorisch gebraucht und vertritt auf der Grundlage einer Analogie in Form (länglich mit einer Öffnung am vorderen Ende), Material (Haut bzw. Leder) und Funktion (etwas, woraus Flüssigkeit kommt) das männliche Glied. Dessen ποδέων wiederum bezieht sich nach einer Form-Analogie offenbar auf die Eichel, die beim Geschlechtsverkehr von der Vorhaut freigelegt wird (λύειν im übertragenen Sinne). Aigeus soll also erst in Athen wieder – d. h. mit einer seiner Ehefrauen – Verkehr haben. Apollodor berichtet zudem, dass Aigeus betrunken (μεθύσας, 3,15,7) gemacht wurde, bevor er gegen den Rat des Orakels doch schon in Troizen, auf der Heimreise nach Athen, mit der Tochter seines Freundes Pittheus verkehrte. Sogar die wörtliche Anweisung des Orakels auf der Bildebene, keinen Weinschlauch zu öffnen, d. h. sich nicht zu betrinken, missachtet Aigeus. Aigeus als Rätsellöser: Apollodor berichtet, Aigeus habe den Sinn des Orakels nicht verstanden (ἀπορῶν δὲ τὸν χρησμὸν, 3,15,7), obwohl die Metapher doch im Kontext der Anfrage über seine Fortpflanzung leicht zu deuten sein müsste; vgl. auch Eur. Med. 667–685, wo Aigeus Medea gesteht, dass er den Spruch nicht zu deuten weiß (σοφώτερ’ ἢ κατ’ ἄνδρα συμβαλεὶν ἔπη, v. 675). Seinen Rückweg nimmt der König laut Apollodor über Troizen, wo er bei seinem Freund Pittheus einkehrt. Da Troizen von der direkten Verbindung zwischen Delphi und Athen ein gutes Stück abseits liegt, muss man fragen, was Aigeus dorthin führte, noch bevor er – was das Orakel ja als erstrebenswert nahelegt – wieder in Athen angelangt war. Auch hier scheint Eur. Med. Klärung zu verschaffen: Dort nimmt Aigeus den Umweg absichtlich auf sich, um seinen als weise bekannten Freund Pittheus nach dem Sinn des Orakels zu befragen, vgl. 685 f. A. τούτωι θεοῦ μάντευμα κοινῶσαι θέλω. / Mη. σοφὸς γὰρ ἁνὴρ καὶ τρίβων τὰ τοιάδε. Und dieser durchschaute den Sinn tatsächlich (τὸν χρησμὸν συνείς, Apollod. 3,15,7), klärte aber Aigeus offenbar nicht darüber auf, sondern machte ihn gar noch betrunken, um ihn zu verleiten, sich mit seiner Tochter Aithra zu vereinigen. Aigeus jedenfalls missachtet den Rat des Orakels (gleich doppelt) und zeugt, in derselben Nacht, in der auch Poseidon dem Mädchen beiwohnt, mit Aithra den Theseus. Dieser wird ihm in der Zukunft – als Strafe für das nicht gelöste Orakelrätsel? – (indirekt) den Tod bringen. Als er bei seiner erfolgreichen Rückkehr aus Kreta, wo er den Minotauros besiegt hatte, vergisst, das verabredete weiße Segel zu hissen, stürzt Aigeus sich aus Trauer um den vermeintlich toten Sohn in den Tod. Bei Aithra lässt er ein Schwert und Sandalen unter einem großen Stein zurück und verbindet dies mit der Anweisung, das Kind, sofern es ein Junge werden sollte, nach Athen zu schicken, sobald er den Stein eigenhändig beiseite

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rollen könne. Sandalen und Schwert fungieren in diesem Zusammenhang gewissermaßen als Erkennungszeichen, vgl. bes. deutlich hierzu Hyg. fab. 37, ferner Plut. Theseus 3. 6; Diod. 4,59,1; Paus. 1,27,8. 2,32,7. Sowohl Aigeus (Sandalen und Schwert) als auch Theseus (Segelfarbe, trickreiche List im Labyrinth des Minotauros) sind also grundsätzlich recht eng mit einzelnen Elementen verbunden, die aus dem klassischen Repertoire des Rätsels stammen. Es ist vorstellbar, dass das Orakel zu der Vereinigung mit einer seiner Ehefrauen riet, weil 1. beide unfruchtbar waren und Aigeus (wie Laios) bestimmt war, durch seinen Sohn zu sterben, sofern ihm einer geboren würde (vgl. seinen Freitod aufgrund des Theseus)2. aus einer solchen Verbindung „ungefährlichere Kinder“ hervorgegangen wären. Pittheus als Rätselsteller und Rätsellöser: Pittheus galt als weise und war für seine Sehergabe bekannt, vgl. Plut. Theseus 3 (ἀνὴρ λόγιος ἐν τοῖς τότε καὶ σοφώτατος); Schol. Eur. Hipp. 11, Bd. 2, p. 5 Schwartz (σοφὸς καὶ χρησμολόγος καὶ ἱερὸς θεοῖς); Schol. Eur. Hipp. 264, Bd. 2, p. 39 Schwartz (ὡς τὰ Σισύφου λεγόμενα καὶ Πιτθέως, οἷον ‚Μηδὲν ἄγαν‘, ‚Μηδὲ δίκαν δικάσῃς‘). Sein Name ist überdies nach Pape-Benseler II (1911) 1203 s. v. von πείθω und πιστός herzuleiten, wonach er als „guter Ratgeber“ bzw. als fähiger Ausleger eines rätselhaften (Orakel-)Spruchs gelten könnte. Pittheus scheint aufgrund seiner allgemeinen Weisheit potentiell für beide Rätselrollen qualifiziert. Bei der Deutung des Orakels erweist er sich – gemäß Apollodor – als erfolgreicher Rätsellöser, er durchschaut den Spruch (τὸν χρησμὸν συνείς, 3,15,7). Warum er allerdings Aigeus den Sinn nicht offenbart, sondern ihn einem Rätselsteller vergleichbar – in der eindeutigen Absicht, ihn zu täuschen – betrunken macht, um ihn zu einer Vereinigung mit seiner Tochter zu bringen, geht aus der Darstellung nicht eindeutig hervor. Naheliegend scheint, dass Pittheus selbst sein Geschlecht mit dem Königshaus zu verbinden trachtet und Aigeus deshalb im Unklaren lässt. Der eigentliche Sinn der OrakelWarnung, den Pittheus hier verheimlicht, müsste dann sein, dass Aigeus bei seinem nächsten Geschlechtsverkehr einen Sohn zeugen würde (oder dass keine seiner Ehefrauen ihm einen Sohn gebären würde). Intertextuelle Verweise: Vgl. hingegen Paus. 1,14,7, dass Aigeus seine Kinderlosigkeit auf den Zorn der Aphrodite Urania zurückführte und zur Versöhnung ihren Kult in Athen einführte.

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24 Orakel von den zwei weißen Jungfrauen Diod. 22,9,5, Walton; O 142 f. Ὅτι οἱ ἐν Δελφοῖς ὄντες κατὰ τὴν τῶν Γαλατῶν ἔφοδον θεωροῦντες πλησίον ὄντα τὸν κίνδυνον ἐπηρώτησαν τὸν θεὸν εἰ τὰ χρήματα καὶ τὰ τέκνα καὶ τὰς γυναῖκας ἀποκομίσωσιν ἐκ τοῦ μαντείου πρὸς τὰς ὀχυρωτάτας τῶν πλησίον πόλεων. ἡ δὲ Πυθία τοῖς Δελφοῖς ἀπόκρισιν ἔδωκεν προστάττειν τὸν θεὸν ἐᾶν τὰ ἀναθήματα καὶ τἄλλα τὰ πρὸς τὸν κόσμον τῶν θεῶν ἀνήκοντα κατὰ χώραν ἐν τῷ μαντείῳ· φυλάξειν γὰρ ἅπαντα τὸν θεὸν καὶ μετ’ αὐτοῦ τὰς λευκὰς κόρας. ὄντων δὲ ἐν τῷ τεμένει δυεῖν νεῶν παντελῶς ἀρχαίων Ἀθηνᾶς Προναίας καὶ Ἀρτέμιδος, ταύτας τὰς θεοὺς ὑπέλαβον εἶναι τὰς διὰ τοῦ χρησμοῦ προσαγορευομένας λευκὰς κόρας. Als die Einwohner von Delphi sahen, dass die Gefahr beim Herankommen der Galater immer näher rückte, befragten sie den Gott darüber, ob sie die Schätze und Kinder und Frauen vom Heiligtum fortbringen sollten in die am besten befestigten Städte im Umland. Die Pythia aber gab den Bewohnern von Delphi zur Antwort, der Gott verfüge, die Weihgeschenke und die übrigen Dinge, die zum Schmuck der Götter gehörten, am Orte in der Orakelstätte zu lassen; es würde alles der Gott selbst beschützen und mit ihm die weißen Jungfrauen. Es gab nämlich im heiligen Bezirk zwei sehr alte Heiligtümer der Athene Pronaos und der Artemis und man nahm an, diese Göttinnen seien die im Orakel genannten weißen Jungfrauen.

Form: Prosa Kontext: 279 v. Chr. fielen Kelten in den Balkan ein und plünderten u. a. Delphi. Beim Anrücken der Feinde befragt Delphi sein Orakel wegen der Sicherung der Tempelschätze. Eine Evakuierung erklärte der Gott jedoch für unnötig und verhieß, er selbst würde mit den λευκὰς κόρας alles bewachen. Erklärung: Trotz der für das Orakel zentralen Metapher von den weißen Jungfrauen (λευκαὶ κόραι) ist der Spruch in seiner Gesamtaussage eindeutig: Der Orakelgott wird Delphi (oder doch das Heiligtum) selbst verteidigen, die Bewohner müssen niemanden (und nichts) zum Schutz von dort fort in Sicherheit bringen. Die λευκαὶ κόραι, mit denen er im Verbund auftreten will, konkretisieren nur die genauen Rahmenbedingungen für die Verteidigung. Diodor überliefert als Lösungsansatz die Deutung der λευκαὶ κόραι auf Athene und Artemis, von denen offenbar jede ein Tempel im heiligen Bezirk in Delphi, also in der Nähe der vor den Galatern zu schützenden Orakelstätte, besaß. Als κόραι gelten beide Göttinnen in der Tat mit Leichtigkeit, besonders im Hinblick auf ihre Jungfräulichkeit. Die Bedeutung des Attributs λευκός hingegen ist bei dieser Lösung nicht ganz eindeutig zu erklären. λευκαί sind beide vielleicht in dem Sinne ihrer jungfräulichen Reinheit oder im Hinblick auf ihre göttliche Strahlkraft.

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Paus. 10,23,4 hingegen berichtet davon, dass die Witterung – strenger Frost und Schnee – den Griechen in Delphi zu Hilfe gekommen sei und viele der Angreifer (etwa durch herabstürzende (Eis-)Brocken) vernichtet habe: τὰ δὲ ‹ἐν› τῆι νυκτὶ πολλῶι σφᾶς ἔμελλεν ἀλγεινότερα ἐπιλήψεσθαι· ῥῖγός τε γὰρ ἰσχυρὸν καὶ νιφετὸς ἦν ὁμοῦ τῶι ῥίγει, πέτραι τε ἀπολισθάνουσαι τοῦ Παρνασσοῦ μεγάλαι {τε} καὶ κρημνοὶ καταρρηγνύμενοι σκοπὸν τοὺς βαρβάρους εἶχον, καὶ αὐτοῖς οὐ κατὰ ἕνα ἢ δύο ἀλλὰ κατὰ τριάκοντα καὶ ἔτι πλείοσιν, ὡς ἕκαστοι ἐν τῶι αὐτῶι φρουροῦντες ἢ καὶ ἀναπαυόμενοι τύχοιεν, ἀθρόοις ἡ ἀπώλεια ἐγένετο ὑπὸ τῆς ἐμβολῆς τῶν κρημνῶν.

Vgl. hierzu auch Cic. div. 1,37,81, der den Schnee als Waffe gegen die Gallier neben den beiden allegorischen Mädchenfiguren nennt: „ex quo factum ut et viderentur virgines ferre arma contra et nive Gallorum obrueretur exercitus.“ In diesem Sinne ließen sich die λευκαὶ κόραι sehr trefflich auch auf die – ebenfalls femininen – Schneeflocken (αἱ νιφάδες) deuten. Intertextuelle Verweise: Vgl. Justinian 24,8,5, wo Apoll im Gefolge beider Göttinnen erscheint: „Dum omnes opem die suppliciter implorant iuvenem supra humanum modum insignis pulchritudinis comitesque ei duas armatasque virgines ex propinquis duabus Dianae Minervaeque aedibus occurrisse.“ Dagegen Paus. 10,23,4, der von Frost und Schneegestöber nach dem ersten Angriff der Gallier auf den Tempel spricht. Schließlich Cic. div. 1,37,81, der beide Erklärungen ((1) Athene und Artemis, (2) Schnee) zu verbinden scheint. Vgl. ferner Hdt. 8,36–39 mit einer ganz ähnlichen Episode, in welcher die Delpher von den Heranrückenden Persern unter Xerxes bedroht werden und das Orakel ebenfalls versichert, der Gott werde den Tempelbezirk eigenmächtig schützen. Auch hier fallen, ähnlich wie bei Paus. 10,23,4 (Blitze und) Felsen herab und erschlagen die Feinde.

25 Pythagoreische Symbole Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 734 f. Walz) κατὰ μὲν ὅμοιον, οἷον Ἀνδροκύδης ὁ Πυθαγορικὸς ἔλεγε· Ζυγὸν μὴ ὑπερβαίνειν ἀντὶ τοῦ τὸ δίκαιον μὴ παραβαίνειν. Γαμψώνυχας μὴ τρέφειν ἀντὶ τοῦ ἅρπαγας φεύγειν Μελάνουρον μὴ ἐσθίειν ἀντὶ τοῦ ψευδῆ λόγον μὴ προΐεσθαι· τὸ γὰρ ψεῦδος ἐν τοῖς ἐσχάτοις μέρεσι μελαίνεται καὶ ἀμαυροῦται. Ἐπὶ χοίνικος μὴ καθίζειν· τουτέστι, μὴ ἐπαναπαύεσθαι τῇ ἐφημέρῳ τροφῇ, ἀλλὰ προεισφέρειν. Μαχαίρᾳ πῦρ μὴ σκαλεύειν, τουτέστι τὸν θυμούμενον λόγοις μὴ ἐρεθίζειν· […]. Ähnlichkeitsrätsel sind solche, wie der Pythagorasschüler Androkydes sie sagte, nämlich „Nicht über das Joch steigen!“ anstelle von „Das Gerechte nicht umgehen!“, „Krummkral-

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lige nicht füttern!“ anstelle von „Räuber meiden!“, „Den Schwarzschwanz nicht essen!“ anstatt „Ein lügnerisches Wort nicht fortschicken!“; die Lüge macht nämlich in den äußersten Teilen [sc. der Flosse] schwarz und undeutlich. „Nicht auf einer Coinix sitzen!“, das bedeutet, sich nicht auf der (Korn-)Menge für einen Tag ausruhen, sondern vorsorgen. „Feuer nicht mit einem Messer reizen!“ das heißt „Den Zornigen nicht mit Worten provozieren!“.

Form: Prosa Erklärung: Bei den pythagoreischen Symbolen handelt es sich um Verhaltensrichtlinien, die in metaphorisch-rätselhafter Form formuliert sind, um ihren wahren Sinn dem inneren Kreis der philosophisch Eingeweihten vorzubehalten. Die Analogien, auf denen die Metaphern beruhen, sind häufig äußerlich-formaler, jedoch auch funktionaler Natur. Eine entsprechende Einordnung unter den Typus A. I. 1.1.2.3 wäre in diesem Sinne ebenso denkbar. 1. ζυγόν (das Joch, die Grenze) steht metaphorisch auf der Grundlage einer moralischen Analogie (a) nach Tryphon für das Gerechte (τὸ δίκαιον), das dem menschlichen Handeln moralische Grenzen setzt, bzw. (b) allgemeiner nach Demetrios Byz. 4 für die (moralische) Grenze zwischen Maß und Übermaß. 2. γαμψῶνυξ wird eigentlich von Vögeln gesagt – die man, hat man sie einmal angefüttert, nicht wieder loswird. Von Tryphon wird der Begriff jedoch als Metapher für den unersättlichen Dieb (ἅρπαξ) gebraucht. Mit der schlechten Gesellschaft soll man sich nicht einlassen (φεύγειν). 3. Der Schwarzschwanz (μελάνουρος) ist ein Fisch mit schwarzer Flosse; vgl. Thompson (1947) 159–161 s. v. Tryphon erklärt, sein lügnerischer Charakter habe seine Extremitäten schwarz gefärbt. Das (metaphorische?) Verbot von Verzehr dieses Fisches beruht damit offenbar auf der Annahme, dass man die verzehrte Lüge in irgendeiner Weise selbst wieder von sich gibt – was man nicht soll. 4. Die χοίνιξ steht für den menschlichen Tagesbedarf an Korn. καθίζειν ist hier in der konkreten Bedeutung „sich zur Ruhe setzen“ gebraucht. Damit ruft die Regel zu allgemeiner Weitsicht (betont bei Demetrios) und zur Vorsorge für den Lebensunterhalt (τροφῆ) auf. 5. πῦρ vertritt hier als Metapher auf der Grundlage seiner zügellosen Gefährlichkeit den θυμούμενος, den Zornigen. Das Messer (μαχαίρα) hingegen, das zur genuinen Wut des Feuers weiteren Zorn addiert, steht (a) nach Tryphon für die Worte (λόγοι), mit denen man jemanden, und insbesondere einen schon gereizten Menschen, provozieren kann bzw. (b) nach Demetrios allgemeiner für den Streit (ἔρις), auf den man sich mit einem Zornigen nicht einlassen soll.

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Intertextuelle Verweise: Demetrios Byz. nach Athen. X 452de, der die pythagoreischen Symbole ebenfalls – mit leichten Abweichungen und einigen Erläuterungen – überliefert; vgl. hierzu auch Schweighäuser V (1804) 560 f.

26 Orakel über die eherne Opferschale an die zwölf ägyptischen Könige Hdt. 2,147. 151, Wilson […] Ἡφαίστου βασιλεύσαντα (οὐδένα γὰρ χρόνον οἷοί τε ἦσαν ἄνευ βασιλέος διαιτᾶσθαι) ἐστήσαντο δυώδεκα βασιλέας, δυώδεκα μοίρας δασάμενοι Αἴγυπτον πᾶσαν. οὗτοι ἐπιγαμίας ποιησάμενοι ἐβασίλευον νόμοισι τοῖσιδε χρεώμενοι, μήτε καταιρέειν ἀλλήλους μήτε πλέον τι δίζησθαι ἔχειν τὸν ἕτερον τοῦ ἑτέρου, εἶναί τε φίλους τὰ μάλιστα. τῶνδε δὲ εἵνεκα τοὺς νόμους τούτους ἐποιέοντο, ἰσχυρῶς περιστέλλοντες· ἐκέχρηστό σφι κατ᾽ ἀρχὰς αὐτίκα ἐνισταμένοισι ἐς τὰς τυραννίδας τὸν χαλκέῃ φιάλῃ σπείσαντα αὐτῶν ἐν τῷ ἱρῷ τοῦ Ἡφαίστου, τοῦτον ἁπάσης βασιλεύσειν Αἰγύπτου· […]. [151 ] Τῶν δὲ δυώδεκα βασιλέων δικαιοσύνῃ χρεωμένων, ἀνὰ χρόνον ὡς ἔθυσαν ἐν τῷ ἱρῷ τοῦ Ἡφαίστου, τῇ ὑστάτῃ τῆς ὁρτῆς, μελλόντων κατασπείσειν, ὁ ἀρχιερεὺς ἐξήνεικέ σφι φιάλας χρυσέας, τῇσί περ ἐώθεσαν σπένδειν, ἁμαρτὼν τοῦ ἀριθμοῦ, ἕνδεκα δυώδεκα ἐοῦσι. ἐνθαῦτα ὡς οὐκ εἶχε φιάλην ὁ ἔσχατος ἑστεὼς αὐτῶν Ψαμμήτιχος, περιελόμενος τὴν κυνέην ἐοῦσαν χαλκέην ὑπέσχε τε καὶ ἔσπενδε. κυνέας δὲ καὶ οἱ ἄλλοι ἅπαντες ἐφόρεον βασιλέες καὶ ἐτύγχανον τότε ἔχοντες. Ψαμμήτιχος μέν νυν οὐδενὶ δολερῷ νόῳ χρεώμενος ὑπέσχε τὴν κυνέην, οἳ δὲ ἐν φρενὶ λαβόντες τό τε ποιηθὲν ἐκ Ψαμμητίχου καὶ τὸ χρηστήριον […]. Nach der Regierung des Hephaistospriesters setzten sie zwölf Könige ein und teilten das ganze Ägypten in zwölf Teile ein, denn sie konnten gar keine Zeit ohne König sein. Diese verschwägerten sich untereinander und herrschten als Könige, nachdem sie gewisse Verträge gemacht hatten, einander nicht zu stürzen und nicht jeweils nicht mehr als ein anderer von ihnen zu erstreben, sondern sehr gute Freunde zu sein. Aus folgenden Gründen stellten sie diese Vorschriften auf, an die sie sich streng hielten: Sie erhielten nämlich gleich zu Beginn ihrer Herrschaft einen Orakelspruch, dass der, der aus einer ehernen Schale ein Trankopfer darbringen würde im Tempel des Hephaistos, über ganz Ägypten herrschen würde. […] Die zwölf Könige verhielten sich ganz gerecht, aber als sie einmal in dem Tempel des Hephaistos opferten und am letzten Tage des Festes im Begriff waren, ein Trankopfer zu bringen, da brachte der Opferpriester ihnen die goldenen Opferschalen, mit denen sie gewohnt waren, zu opfern, doch er machte einen Fehler bei der Anzahl und es waren nur elf anstelle von zwölf Schalen. Damals nahm der letzte, der keine Schale bekommen hatte, das war Psammetichos, seinen Helm ab, der aus Eisen bestand, hielt ihn hin und opferte daraus. Solche Helme trugen auch die anderen Könige und hatten sie damals bei sich. Psammetichos zwar handelte nicht in böser Absicht als er den Helm hinhielt; die anderen aber erfassten die Handlung des Psammetichos und das Orakel […].

Form: Prosa (Paraphrase)

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Kontext: Das befreite Ägypten wird in zwölf Teile mit je einem eigenen König aufgeteilt. Ein Orakel sagt voraus, dass derjenige der zwölf, der im Tempel des Hephaistos aus einer Schale aus Eisen opfern würde, König über Gesamtägypten werden würde. Um diese vorausgesagte Übermacht eines Einzelnen zu vermeiden und die Chancengleichheit untereinander zu sichern, schwören die Könige, einander gegenseitig nicht anzugreifen. Erklärung: Bei einem in dem besagten Tempel des Hephaistos abgehaltenen Opfer bringt der Opferpriester versehentlich nur 11 der goldenen Opferschalen, mit denen die Könige gewöhnlich ihre Trankopfer ausführten. Der letzte der zwölf Könige, Psammetichos, nahm daraufhin – wie Herodot berichtet nicht in böser Absicht (οὐδενὶ δολερῷ νόῳ), sondern vielmehr rein pragmatisch – seinen Eisenhelm ab, um daraus zu opfern. Die übrigen Könige erkennen, dass damit die Erfüllung des Orakels bevorsteht: Auf der Grundlage einer Analogie der äußeren Form (halbrund, gewölbt, gefäßartig) steht die χάλκη φιάλη als Metapher für den κυνέη χαλκή. Diese Identifikation wird dadurch erschwert, dass κυνέη gegenüber etwa der κόρυς oder dem κράνος durchaus nicht die gebräuchliche Bezeichnung für den (Eisen-)Helm darstellt. Vielmehr steht sie für eine Lederkappe der Soldaten – die ohne das ergänzende Attribut χαλκή somit ganz und gar nicht als Metapher für die eherne Opferschale stehen könnte. Dass Psammetichos ohne die Absicht, das Orakel zu erfüllen und die Herrschaft über ganz Ägypten an sich zu bringen, handelte weist ihn als erfolglosen Rätsellöser aus. Insbesondere der weitere situative Kontext – im Tempel des Hephaistos – hatte aber doch die Könige in eine gewisse Alarmbereitschaft gegenüber dem Eintreten der Prophezeiung versetzen müssen. Und so verhinderten die übrigen Könige gleichsam als erfolgreiche Rätsellöser das schicksalhafte Opfer und verbannten Psammetichos. Trotz dieser Konstellation, in welcher Psammetichos zunächst unterlegen erscheinen mag, sollte die im Orakel prophezeite Zukunft Ägyptens eintreten und Psammetichos alleiniger König des Landes werden (2,153). Diese für die Struktur eines Rätselprozesses untypische Folge lässt sich womöglich dadurch erklären, dass zur Erfüllung des Orakels gar nicht das bewusste an dem Spruch ausgerichtete Handeln gefordert war, sondern dass das Orakel vielmehr nur ein zeitliches Anzeichen für die Übernahme der Herrschaft, nicht ein sachlich relevantes Ereignis angekündigte oder gar eine entsprechende Handlung verlangte. Es mag schließlich Psammetichos gerade durch sein pragmatisches, von Hochmut und Kalkül vollkommen freies Handeln seinen Charakter als für eine gerechte Alleinherrschaft besonders qualifiziert erwiesen

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haben, sodass das Orakel durch seinen Spruch eine gewisse indirekte Qualitätssicherung für den Königsthron etabliert hatte. Sein Verdienst liegt damit nicht in der Lösung des Rätsels, sondern in einer von dem Rätsel inhaltlich gänzlich unabhängigen Handlung. Da in der Tat kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Opfer und der Alleinherrschaft zu erkennen ist, scheint dies naheliegend. Intertextuelle Verweise: Vgl. Hdt. 2,152 mit einem zweiten, direkt an Psammetichos gestellten metaphorischen Orakel über die ehernen Männer, welches dem Verbannten zu einem Sieg ihn seinem Rachefeldzug gegen die übrigen Ägypterkönige verhilft, obwohl er es zunächst nicht durchschaut. 27 Orakel von den Amphoren im Brennofen an Arkesilaos IV. Hdt. 4,163, Wilson Ἐπὶ μὲν τέσσερας Βάττους καὶ Ἀρκεσίλεως τέσσερας, ὀκτὼ ἀνδρῶν γενεάς, διδοῖ ὑμῖν Λοξίης βασιλεύειν Κυρήνης· πλέον μέντοι τούτου οὐδὲ πειρᾶσθαι παραινέει. σὺ μέντοι ἥσυχος εἶναι κατελθὼν ἐς τὴν σεωυτοῦ. ἢν δὲ εὕρῃς πλέην ἀμφορέων, μὴ ἐξοπτήσῃς τοὺς ἀμφορέας ἀλλ᾽ ἀπόπεμπε κατ᾽ οὖρον· εἰ δὲ ἐξοπτήσεις {τὴν κάμινον}, μὴ ἐσέλθῃς ἐς τὴν ἀμφίρρυτον· εἰ δὲ μή, ἀποθανέαι καὶ αὐτὸς καὶ ταῦρος ὁ καλλιστεύων. Es gewährt Loxias Apollon euch, dass viermal Battos und viermal Arkesilaos, also acht Generationen deiner Sippe, über Kyrene herrschen, darüber hinaus aber rät er nicht, es zu versuchen. Du selbst bist noch sicher, wenn du zurückkehrst zu deiner Herrschaft. Wenn du aber [einen Brennofen voll von] Amphoren findest, brenne die Amphoren nicht, sondern schicke sie fort außerhalb des Landes; wenn du aber doch Feuer im Ofen machst, dann sollst du nicht an einen wasserumspülten Ort dich begeben; wenn du nicht danach handelst, wirst du selbst und auch der wunderschöne Stier den Tod finden.

Form: Prosa Kontext: Battos IV. hatte das Orakel über eine gute Verfassung für Kyrene befragt (4,161). Auf den eindeutigen Befehl des Orakels holen die Kyrenaier Demonax aus Mantineia als Gesetzgeber, der die Einwohner in drei Phylen teilt und die Königsbesitztümer stark einschränkt. Arkesilaos IV., der Sohn des Battos, wollte sich mit den auf diese Art eingerichteten Verhältnissen nicht abfinden und einen Angriff auf die Bewohner von Kyrene unternehmen, um die königlichen Vorrechte wiederzuerlangen. Zunächst zurückgeschlagen flieht er nach Samos und lässt das Orakel über seine Rückkehr und den Ausgang einer erneuten Schlacht befragen. Erklärung: Das Orakel zerfällt in zwei Teile. Die erste Hälfte verkündet ohne Zweideutigkeiten, acht Generationen der Familie (vier Wechsel zwischen Battos und Arkesi-

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laos) würden über Kyrene herrschen, d. h. die Kinder des Arkesilaos IV. würden die Herrschaft nicht mehr erlangen oder verlieren, er selbst aber könne noch sicher nach Kyrene zurückkehren (σὺ μέντοι ἥσυχος εἶναι κατελθὼν). Die zweite Hälfte des Orakels hingegen ist metaphorisch und umschreibt einen Zeitpunkt bzw. ein konkretes Ereignis (ἢν), an dem von Arkesilaos ein bestimmtes Handeln gefordert ist, um sein Leben zu retten. Der Spruch kreist in diesem Abschnitt um die Metapher vom Brennofen (κάμινος), der verallgemeinernd für einen geschlossenen Raum steht (Analogie der äußeren Form, eventuell auch des irdenen Materials), in dem etwas ge- oder verbrannt wird (Analogie der Funktion). Da nicht zu entscheiden ist, welche der Analogien hierunter den gedanklichen Vorrang hat, ließe sich das Orakel mit gleicher Berechtigung auch dem Typus A. I 1.1.2.4. zuordnen. Der Bildebene entspricht auf der Sachebene ein (1) Turm in Kyrene (κάμινος), in den sich nach der Rückkehr des Arkesilaos einige seiner Gegner flüchten. Der König lässt Holz um den Turm aufschichten und die Flüchtigen (als ἀμφορῆς) darin verbrennen (4,164): ἑτέρους δέ τινας τῶν Κυρηναίων ἐς πύργον μέγαν Ἀγλωμάχου καταφυγόντας ἰδιωτικὸν ὕλην περινήσας ὁ Ἀρκεσίλεως ἐνέπρησε. Die (2) Amphoren, die auf der Bildebene als Rohlinge aus Ton in den Brennofen geschoben und solange gebrannt werden, bis der Ton fest ist, ähneln den eingesperrten Menschen im Hinblick auf ihre aufrecht-längliche Form, ihre Henkel (für die Arme), die Füllöffnung (für den Kopf) und die nach unten auf den Fuß zulaufende Form, die oben breiter ist (entsprechend den Schultern). Sie, wie durch den Orakelspruch vorgegeben, κατ᾽ οὖρον wegzuschicken, würde einerseits bedeutet haben, sie aus dem Turm, wo sie gleichsam in der Falle saßen, zu entlassen, und andererseits, sie nicht zu töten, sondern des Landes zu verweisen. (3) ἐξοπτάω ist in einem weiteren Sinne als gewöhnlich, gewissermaßen auch euphemistisch, gebraucht, insofern das Verb, insbesondere als Simplex, normalerweise für Back- oder Kochvorgänge gebraucht wird, die ja gerade darauf beruhen, das Geröstete nur bis zu einem gewissen Punkt im Ofen zu lassen und es herauszunehmen, bevor es verbrannt ist. Zu raten sind somit nicht drei einzelne Rätselobjekte, sondern vielmehr auch die räumlich-funktionale Relation, die zwischen ihnen herrscht. Nicht metaphorisch, sondern schlicht paraphrasierend steht (4) ἀμφίρρυτον für den vom Meer eingeschlossenen Ort, von dem Arkesilaos sich fernhalten soll, falls er die übrigen Anweisungen des Orakels missachtet. Der König selbst glaubt fälschlicherweise, damit sei Kyrene gemeint, und flieht von dort. Hinweise dafür, dass mit dieser Auslegung ein Missverständnis vorliegt, sind, dass (1) Kyrene zwar an der Küste liegt, jedoch nicht von allen Seiten (ἀμφί) von Wasser umgeben ist, und dass (2) das Orakel verbietet ἐς τὴν ἀμφίρρυτον zu gehen.

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Dass mit dieser Richtungsangabe der Ort gemeint ist, an dem Arkesilaos sich bereits befindet, scheint ausgeschlossen. Seine Flucht nach Barka, das ebenfalls an der libyschen Küste liegt, bleibt erfolglos, denn in dem Versuch, sein Schicksal abzuwenden, erfüllt er es erst und wird in Barka von flüchtigen Kyrenaiern erschlagen; vgl. für weitere geographisch missdeutete Orakelsprüche zu Todesorten: Paus. 8,11,10–12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/ Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)); ähnlich auch die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen), Paus. 8,11,12. Arkesilaos als Rätsellöser: Arkesilaos, der sich von Anfang an im Recht gegen die volksfreundlichen Entwicklungen in Kyrene sieht, schenkt dem Orakel keine ausreichende Beachtung (τοῦ μαντηίου οὐκ ἐμέμνητο) und orientiert sich nur an der klaren ersten Hälfte des Spruchs, der in seinem Sinne zu sein scheint: Er kann ohne Gefahr nach Kyrene zurückkehren (ἥσυχος εἶναι κατελθὼν ἐς τὴν σεωυτοῦ). Diesem unkritischen, selbstüberschätzenden Charakter ist es zuzuschreiben, dass Arkesilaos die zweite Hälfte des Spruchs, die die Bedingungen für das Eintreten der ersten Hälfte enthält – nur wenn Arkesilaos den Ofen nicht anzündet, ist seine Rückkehr sicher –, missachtet und so den Sinn des Orakels nicht bzw. erst zu spät erkennt (4,164): μαθὼν δὲ ἐπ᾽ ἐξεργασμένοισι τὸ μαντήιον ἐὸν τοῦτο, ὅτι μιν ἡ Πυθίη οὐκ ἔα εὑρόντα ἐν τῇ καμίνῳ τοὺς ἀμφορέας ἐξοπτῆσαι, ἔργετο ἑκὼν τῆς τῶν Κυρηναίων πόλιος, δειμαίνων τε τὸν κεχρησμένον θάνατον καὶ δοκέων τὴν ἀμφίρρυτον Κυρήνην εἶναι.

Als er aber erkannte, dass das Orakel auf dies hingewiesen hatte, dass die Pythia verboten hatte, dass er in einem Ofen Amphoren brenne, verließ er freiwillig Kyrene, weil er den vorausgesagten Tod fürchtete und ihm schien, dass Kyrene der von Wasser umgebene Ort sei. Dabei löst Arkesilaos das Orakel sogar in mehreren Instanzen falsch. Er erkennt (1) erst, nachdem er den Turm als Ofen bereits in Brand gesetzt hat, dass er damit dem Rat des Orakels zuwider gehandelt hat. Bei dem Versuch, die zweite Bedingung einzuhalten, deutet er mit seiner Flucht nach Barka (2) auch den ἀμφίρρυτος falsch. Gleichsam als Strafe für diesen Misserfolg, und um dadurch sein Schicksal zu erfüllen, findet Arkesilaos in Barka den Tod, den er zu vermeiden suchte (4,164): Ἀρκεσίλεως μέν νυν […] ἁμαρτὼν τοῦ χρησμοῦ ἐξέπλησε μοῖραν τὴν ἑωυτοῦ.

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28 Rätselbrief mit dem Todesurteil des Bellerophontes in Geheimschrift Hom. Il. 6,167–170, West κτεῖναι μέν ῥ’ ἀλέεινε, σεβάσσατο γὰρ τό γε θυμῶι, πέμπε δέ μιν Λυκίηνδε, πόρεν δ’ ὅ γε σήματα λυγρά, γράψας ἐν πίνακι πτυκτῶι θυμοφθόρα πολλά, δεῖξαι δ’ ἠνώγειν ὧι πενθερῶι, ὄφρ’ ἀπόλοιτο. Er [sc. Proitos] vermied es aber, ihn [sc. Bellerophon] zu töten, denn das fürchtete er im Herzen. Er schickte ihn stattdessen nach Lykien, gab ihm aber verhängnisvolle Zeichen, die er – viele tödliche – in eine gefaltete Tafel geschrieben hatte, und bestimmte, er [sc. Bellerophon] solle sie seinem [sc. des Proitus] Schwiegervater [sc. Iobates] zeigen, auf dass er getötet würde.

Form: Hexameter Kontext: Bellerophon wurde wegen einer Mordangelegenheit aus Korinth verbannt und kam daraufhin zur Reinigung nach Tiryns. Dort verliebte sich die Frau des Königs Proitos, Anteia, in ihn und verleumdete ihn, als er sie zurückwies. Proitus wagte jedoch nicht (weil er sein Gastfreund / ein Schutzflehender war und eventuell auch wegen seines Rufes als Mörder), ihn selbst zu töten, und schickte ihn unter falschem Vorwand (?) und mit einer entsprechenden Nachricht zu seinem Schwiegervater Iobates, der seine Tochter rächen sollte (Hom. Il. 6,155–170). Erklärung: Ein Rätsel ist der Brief insofern, als dass er a) vor Bellerophon verschlossen und sein Inhalt damit nicht direkt zugänglich ist b) offenbar das Anliegen nicht klar ausformuliert, sondern in einer Art Geheimsprache/-schrift enthält, die nur der eingeweihte, vorgesehene Empfänger versteht (vgl. σήματα, die nur Andeutung oder Zeichen für etwas sind, nicht das Etwas selbst). Welcher Art die Rätselhaftigkeit der Nachricht sich im Einzelnen gestaltet, geht aus der Darstellung der Episode bei Homer nicht hervor. Es muss jedoch eine gewisse Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Geschriebenem und dem Gemeinten vorgelegen haben, die eine Entschlüsselung für dem Empfänger möglich machte. Proitos stellt also das Rätsel, Bellerophon ist zunächst der Bote und Iobates ist der erfolgreiche Rätsellöser. Diese Verteilung der Rätselrollen verschiebt sich, als auch Iobates Bellerophon nicht eigenhändig töten mag, nachdem die beiden Freundschaft geschlossen haben. Bellerophon muss dann den vermeintlich tödlichen Kampf mit der Chimaira als Mischwesen aufnehmen. Dieser Kampf er-

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setzt gleichsam das Rätsel, in dem es um sein Leben geht, und so wird Bellerophon selbst zum Rätsellöser. Das eigentlich für Iobates bestimmte Rätsel aus dem Brief wird damit geradezu an Bellerophon weitergereicht und in eine schwierige körperliche Aufgabe transformiert. Vgl. hierzu das Sphinxrätsel, an dessen Stelle in frühen Überlieferungen ebenfalls die physische Auseinandersetzung zwischen Ödipus und der Sphinx stand. Bemerkenswert ist nämlich, dass der Sieg über die Chimaira gerade nicht auf bloßer körperlicher Überlegenheit beruht, sondern dank eines klugen Einfalls gelingt. Bellerophon schießt der feuerspeienden Chimaira einen Bleiklumpen in den Rachen, der im Feuer schmilzt und das Ungeheuer so ersticken lässt. Bellerophon als Rätsellöser: Vgl. die Verwandtschaft des Bellerophon, dessen Vorfahre Sisyphos für seine Weisheit bekannt war (Hom. Il. 6,153 f.); weiter Pind. O. 13,60 ff. mit der Zähmung des Pegasus (wie die Chimaira und die ebenfalls für ihr Rätsel berüchtigte Sphinx ein Mischwesen; vgl. zu dem Status des Mischwesens in der antiken (bes. orientalischen) Tradition einführend Green (1997); zu Mischwesen wie der Sphinx und der Chimaira als „personifizierten Rätseln“ ferner Cook (2006) 7– 26). Verrätselungsmechanismus: Geheimsprache. Genaueres ist nicht gesagt, doch ist es in hohem Maße wahrscheinlich, dass diese Sprache oder Schrift durch einen metaphorischen oder symbolischen Charakter nur für Eingeweihte verständlich war; vgl. andere Fälle von Rätseln in einer Geheimsprache bzw. Geheimschrift, die von nichts ahnenden Boten überbracht werden, etwa die Rätselbotschaft vom Hunger (Kallisth. FGrH 124 F 13 Jacoby); das Rätsel von den abgeschlagenen Ähren zwischen Periander und Thrasybulos (Hdt. 5,92); das Rätsel von den Broten im kalten Ofen zwischen Melissa und Periander (Hdt. 5,92). Lohn für das gelöste Rätsel: Nachdem er auch in anderen Prüfungen siegreich gewesen war, erhielt Bellerophon zum Lohn die Tochter des Rätselstellers Iobates, Philonoe/Antiklea/Kassandra, zur Frau. Intertextuelle Verweise: Zu Bellerophons Kampf mit der Chimaira: Asklepiades, FGrH 12 F 13 Jacoby. Zur Abstammung der Chimaira, ihrem Mischwesencharakter und ihrer Verwandtschaft mit der Sphinx: Hes. theog. 319–327; Hom. Il. 6,178–183. 16,319– 328. Zu der Verbindung von Rätsel (als Geheimsprache) und Brief (mit Verweis auf das Rätsel vom Brief, Antiphan. PCG II, frg. 194 K.-A.): Eust. Il. 6,169, Bd. 2, p. 270 van der Valk.

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29 Seherspruch von den Thunfischen im Netz (an Peisistratos) Hdt. 1,62, Wilson ἔρριπται δ᾽ ὁ βόλος, τὸ δὲ δίκτυον ἐκπεπέτασται, θύννοι δ᾽ οἰμήσουσι σεληναίης διὰ νυκτός. Ausgeworfen ist das Netz, es breitet sich aus, die Thunfische aber stürzen sich hinein in der mondbeschienenen Nacht.

Form: 2 Hexameter Kontext: Peisistratos, der nach dem Fortgang Solons aus Athen mit Lykurg und Megakles um die Herrschaft konkurrierte, zieht (gegen 456 v. Chr.) von Marathon aus nach Athen. Als die beiden Heere vor der Stadt aufeinander treffen und sich einander gegenüber lagern, erhält Peisistratos von dem Seher Amphilytos den positiven Seherspruch über den erfolgreichen Thunfischfang als Fischer. Erklärung: Der Spruch des Sehers bedient sich einer Fischer-Metaphorik, in der Peisistratos von dem erfolgreichen Thunfisch-Fischer vertreten wird. v. 1: Worin die konkrete Entsprechung des Fischernetzes liegt, ist nicht leicht zu bestimmen. Es könnte in diesem Sinne beinahe als willkürliche Ersetzung des eigentlich Gemeinten gelten. Dass es ausgeworfen (ἔρριπται) und in der richtigen Position (ἐκπεπέτασται) ist, deutet hingegen an, dass es nun Sache des Fischers ist, das Netz mit seinem Fang (zur rechten Zeit) wieder einzuholen. Das Netz mag dabei abstrakt für die Fähigkeit des Peisistratos als Fischer stehen, die Athener – als Thunfische – zu unterwerfen oder sich auf eine besondere Taktik bei seinem Vorgehen beziehen. Erschwert wird das Verständnis u. U. durch die zwei unterschiedlichen Netz-Begriffe βόλος und δίκτυον, die, durch ὁ ... τὸ δέ verbunden, nicht ganz leicht miteinander identifiziert werden. v. 2: Die gejagten Thunfische vertreten die angegriffenen Athener. Dass sie sich regelrecht in das Netz als Falle hineinstürzen (οἱμήσουσι) erscheint zunächst paradox, da ein Fisch doch gemeinhin versehentlich und unwissentlich in ein Fangnetz gerät. Aufklärung verschafft die Mondnacht (v. 2b). Das sich im Wasser spiegelnde Mondlicht ködert die Fische, die auf die Reflexe losstürzen, in dem Glauben, es sei Beute, und dabei ins Netz gehen. Dieser Täuschung entspricht auf der Sachebene der Angriff des Peisistratos zu einer völlig unvermuteten und daher gerade richtigen Zeit, als die Athener sich fälschlicherweise in Sicherheit wähnen. Hdt. 1,63 berichtet, wie Peisistratos den Angriff auf die Athener befielt, als diese gerade gefrühstückt haben und schlafen oder sich mit Würfelspiel die Zeit vertreiben (Ἀθηναῖοι δὲ οἱ ἐκ τοῦ ἄστεος πρὸς ἄριστον τετραμμένοι ἦσαν δὴ τηνικαῦτα καὶ μετὰ τὸ ἄριστον μετεξέτεροι αὐτῶν {οἱ μὲν}

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πρὸς κύβους οἳ δὲ πρὸς ὕπνον). So sind die Athener ganz wie die Thunfische durch die Täuschung der (gerade vollendeten) Nacht in die Falle des Peisistratos als Fischer gegangen. Die Grundaussage des Spruchs ist vergleichsweise eindeutig als positives Vorzeichen formuliert – wenngleich der Fischer selbst nicht erwähnt ist, sodass eigentlich unklar sein muss, ob Peisistratos Fischer oder Fisch ist. Die besondere Herausforderung liegt darin, wie ein Fischer, den rechten Zeitpunkt, um das Netz einzuholen, zu erkennen. Diesen deutet der Seherspruch durch die Nennung der (Mond-)Nacht an. Amphilytos als Rätselsteller: Die Episode zeigt, dass Amphilytos, obwohl er kein athenischer (Voll-)Bürger war und darum kein Bürgerrecht besaß, als Seher außerordentlichen politischen Einfluss nehmen konnte. Diese Macht wird ihm durch seine Rolle als überlegener, weil göttlich inspirierter Rätselsteller zuteil. Peisistratos als Rätsellöser: Der Tyrann erweist sich als erfolgreicher Rätsellöser, der sich nach dem Sinn des Seherspruchs richtet und dadurch gleichsam als Lohn für diese Entscheidung den Sieg über Athen davonträgt. Nicht nur vermag er die Metapher zu dechiffrieren und sich selbst als Fischer zu identifizieren, sondern es gelingt ihm zudem, den Hinweis auf die Handlungsnotwendigkeit korrekt zu deuten und den passenden Zeitpunkt für den Angriff gegen die Athener klug zu wählen; vgl. Hdt. 1,63: Πεισίστρατος δὲ συλλαβὼν τὸ χρηστήριον καὶ φὰς δέκεσθαι τὸ χρησθὲν ἐπῆγε τὴν στρατιήν.

30 Orakel an Athen beim Nahen der Perser (480 v. Chr.) Hdt. 7,140, Wilson; AP XIV 92 ὦ μέλεοι, τί κάθησθε; λιπὼν φύγ’ ἐς ἔσχατα γαίης δώματα καὶ πόλιος τροχοειδέος ἄκρα κάρηνα. οὔτε γὰρ ἡ κεφαλὴ μένει ἔμπεδον οὔτε τὸ σῶμα, οὔτε πόδες νέατοι οὔτ’ ὦν χέρες, οὔτε τι μέσσης λείπεται, ἀλλ’ ἄζηλα πέλει· κατὰ γάρ μιν ἐρείπει πῦρ τε καὶ ὀξὺς Ἄρης, Συριηγενὲς ἅρμα διώκων. πολλὰ δὲ κἆλλ’ ἀπολεῖ πυργώματα, κοὐ τὸ σὸν οἶον· πολλοὺς δ’ ἀθανάτων νηοὺς μαλερῷ πυρὶ δώσει, οἵ που νῦν ἱδρῶτι ῥεούμενοι ἑστήκασι, δείματι παλλόμενοι, κατὰ δ’ ἀκροτάτοις ὀρόφοισιν αἷμα μέλαν κέχυται, προϊδὸν κακότητος ἀνάγκας. ἀλλ’ ἴτον ἐξ ἀδύτοιο, κακοῖς δ’ ἐπικίδνατε θυμόν.

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Ihr Elende, was sitzt ihr still? Verlasst eure Häuser und flieht an die äußersten Ränder der Welt, verlasst die hohen Felsen der Rundstadt. Denn weder der Kopf bleib bestehen noch der beständige Körper oder die Füße am unteren Ende, auch nicht die Hände und ebenso wenig die Mitte bleibt bestehen, sondern alles wird dahingerafft; denn Feuer wird es niederreißen und der grimmige Ares, Wagenlenker des syrischen Gespanns; viele andere Burgen auch vernichtet er, nicht nur die deine; viele Tempel der Unsterblichen wird er hingeben dem rasenden Feuer, Unsterbliche, die jetzt noch dastehen triefend vor Schweiß und aschfahl vor Furcht; denn von den höchsten Dächern strömt schwarzes Blut als Vorzeichen des bevorstehenden Unglücks. Aber verlasst das heilige Gemach, erhebt aber den Mut trotz der Übel.

Form: 12 Hexameter Kontext: Bei dem bevorstehenden Angriff durch die Perser (480 v. Chr.) befragen die Athener das delphische Orakel nach dem besten Vorgehen für die Griechen (zwischen 482 und 480 v. Chr., vgl. How/Wells (21928) und ebenfalls Macan (1908) z. St.). Die Pythia rät (mit vergleichsweise klaren Worten) die schnelle, vollständige Flucht und sagt (anderenfalls) eine verlustreiche Niederlage gegenüber den Persern voraus. Die Situation der Athener scheint ausweglos. Erklärung: vv. 1–2: Ohne jede Zweideutigkeit warnt das Orakel vor der bevorstehenden Niederlage und rät zur vollständigen Flucht, metaphorisch gesprochen bis an die äußersten Ränder der Welt, d. h. sehr weit weg. Auch die Akropolis (πόλιος τροχοειδέος ἄκρα κάρηνα) wird als Rückzugsort ausgeschlossen. vv. 3–4: Körpermetaphorik. Die Stadt wird mit ihren einzelnen Bestandteilen, vielleicht auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten, mit dem aus unterschiedlichen Gliedern bestehenden menschlichen Körper verglichen, einem Körper, der im Kampf von dem Feind ganz und gar, d. h. im Hinblick auf jedes einzelne Körperteil (κεφαλή, σῶμα, πόδες, χέρες, μέσση), vernichtet wird. Die konkrete Identifikation der einzelnen Körperteile ist für das Verständnis der Metapher nicht notwendig und vielleicht überhaupt nicht intendiert. vv. 5–6: Alles wird im Kampf durch den Feind zerstört. Dabei steht das Feuer (πῦρ, v. 6) einerseits wörtlich als Waffe, andererseits in Verbindung mit dem Wagenlenker Ares im übertragenen Sinne für die Wut der Perser über den Doppelmord an ihren Gesandten (vgl. Hdt. 7,133), der überhaupt erst den Angriff der Perser als Vergeltungsschlag provoziert hat. Syrisch (Συριηγενής) ist der Streitwagen der Perser, den Ares als der gerechte Zorn im übertragenen Sinne lenkt, insofern die persischen Großkönige den Wagen von den assyrischen Königen übernommen hatten.

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vv. 7–12: Hinweis auf die enorme Expansionskraft der Perser, die vor Athen schon viele andere Städte und Landteile unterworfen haben. Die unheilvoll schwitzenden und blutenden Götterstatuen gelten als gängiges Vorzeichen für bevorstehendes Übel; vgl. Cic. div. 1,74. 1,98. 2,58; Diod. 17,10,4; Hom. h. 2,293. Intertextuelle Verweise: Vgl. das zweite Orakel, welches sich die Athener nach diesem allzu pessimistischen in Delphi geben ließen, Hdt. 7,141.

31 Rätsel von der Schreibtafel AP XIV 60, Beckby; S 78 Ὕλη μέν με τέκεν, καινούργησεν δὲ σίδηρος· εἰμὶ δὲ Μουσάων μυστικὸν ἐκδόχιον· κλειομένη σιγῶ· λαλέω δ’, ὅταν ἐκπετάσῃς με, κοινωνὸν τὸν Ἄρη μοῦνον ἔχουσα λόγων. Der Wald zwar erzeugte mich, ein zweites Mal erschuf mich aber das Eisen; ich bin aber ein mystisches Behältnis der Musen; verschlossen schweige ich, ich spreche aber, wenn du mich ausbreitest, nur Ares habe ich als Gefährten meiner Worte.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Die Schreibtafel beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf das Material, aus dem sie besteht (Holz), und ihre Funktion. v. 1: Ähnlich wie im Rätsel von der zweifachen Geburt des Dionysos (AP XIV 31) ist hier von dem unglaublich erscheinenden Phänomen einer Doppelgeburt die Rede. Dabei ist das Verb τίκτειν im weiteren Sinne zu verstehen: Die Tafel besteht aus Holz, wird also aus dem Stamm eines Baumes geschnitten, der im Wald (ὕλη) wächst. Dieses Verhältnis wird konkretisierend auf eine Genealogie übertragen. Die zweite Geburt durch das Eisen spielt auf den genauen Zuschnitt des Materials in die Form der Schreibtafel an, die dem gesuchten Gegenstand das charakteristische Aussehen verleiht. v. 2: Hier werden die Musen als Göttinnen der Inspiration thematisiert, die in einer übertragenen Personifikation für das stehen, was sie den Schriftstellern eingeben, nämlich die Worte, Sätze etc. Als ἐκδόχιον lässt sich die Tafel bezeichnen, insofern die Schrift – eingeritzt in das auf dem Holz verteilten Wachs – auf der Tafel festgehalten und – bei einer zweiteiligen, faltbaren Tafel – regelrecht darin eingeschlossen sind. Als μυστικόν gilt jenes Behältnis wohl aufgrund der Verbindung der Musen zu den Mysterien, vgl. hierzu Hardie (2004).

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v. 3: Der Gegensatz κλειομένη – ἐκπετάσῃς bezieht sich auf die äußere Form der einem Buch mit seinen Deckeln vergleichbar zusammenklappbaren Tafel. Die Verben σιγῶ und λαλέω sind im übertragenen Sinne zu verstehen. Ist die Tafel geschlossen, ist das innen Geschriebene unsichtbar, d. h. es kann nicht gelesen werden, die Tafel ist in diesem Sinne stumm. Liegt sie aber offen, stellt sie die Schrift zur Schau und spricht somit in diesem übertragenen Sinne. Die Formulierung des Verses ist besonders kunstvoll gestaltet, insofern das Partizip κλειομένη einerseits von κλείω (ich schließe) kommen und im Gegensatz zu ἐκπετάννυμι stehen kann, andererseits aber auch das Partizip von κλέω, d. h. καλέω darstellen kann und somit im direkten Widerspruch zu dem unmittelbar folgenden σιγῶ stünde. v. 4: Wie in AP XIV 45 steht hier Ares metonymisch (causa pro effectu) für das Eisen des Schreibgriffels, mit dem die Schrift in das Wachs auf der Tafel geritzt wird. Intertextuelle Verweise: Vgl. das thematisch verwandte Rätsel von der hölzernen Schreibtafel, AP XIV 45, in dem ebenfalls Ares für den Griffel steht; ferner das ähnliche Rätsel von der hölzernen Schreibtafel, AP App. VII 65 (Basil. Megalomit. 27 Boiss.). Literatur: Jacobs (1803) 357.

32 Orakel an Eetion über den rollenden Stein Hdt. 5,92α, Wilson; AP XIV 86 Ἠετίων, οὔτις σε τίει πολύτιτον ἐόντα. Λάβδα κύει, τέξει δὲ ὀλοοίτροχον· ἐν δὲ πεσεῖται ἀνδράσι μουνάρχοισι, δικαιώσει δὲ Κόρινθον. Eetion, niemand ehrt dich, obwohl dir große Ehre gebührt. Labda ist schwanger, sie wird einen rollenden Stein gebären; er aber wird herfallen über Herrscher und Korinth züchtigend in die rechte Ordnung setzen.

Form: 3 Hexameter Kontext: Die in Korinth bis 657 v. Chr. herrschenden Bakchiaden heirateten stets nur innerhalb ihres Geschlechtes, um die Herrschaft (Oligarchie) in der Familie zu halten. Die lahme Tochter Labda (der sprechende Name Λά(μ)βδα spielt auf ihren physischen Zustand an) des Bakchiaden Amphion aber wollte niemand aus dem vornehmen Geschlecht heiraten, sodass sie Eetion aus Petra zur Frau gegeben wurde. Als ihm keine Nachkommen geboren wurden, begab er sich nach

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Delphi, um das Orakel in dieser Angelegenheit zu befragen. Die obenstehende Antwort erhielt er, noch bevor er seine Frage überhaupt explizit an den allwissenden Gott gerichtet hatte (ἐσιόντα δὲ αὐτὸν ἰθέως ἡ Πυθίη προσαγορεύει τοισίδε τοῖσι ἔπεσι, 5,92α). Erklärung: Das Orakel kündigt in der Metapher vom rollenden Stein die Geburt und das Schicksal des Kypselos an. Vgl. zur formalen Besonderheit des ersten Verses, in dem gehäuft T-Laute auftreten, Hornblower (2013) 256. v. 1: Die Pythia adressiert Eetion direkt. Die Verbindung der Eigenschaften a: „von niemandem geehrt“ (οὔ τίς σε τίει) und b: „Ehre verdienend“ (πολύτιτον) erzeugt ein Paradoxon. Ohne Ehrung ist Eetion wohl insofern er (a) bisher keine Nachkommen hat und (b) man ihm die lahme Labda als minderwertige Frau gegeben hat, sodass er als Angehöriger des Bakchiadengeschlechts kaum ernstgenommen wird. In welcher Hinsicht ihm aber Ehre gebührt, geht aus den Angaben Herodots nichts ausdrücklich hervor. Das Orakel könnte auf die zukünftigen Taten des Kypselos als Sohn Eetions rekurrieren, der durch seinen Sohn indirekt den Niedergang des Bakchiadengeschlechts bewirken wird (doch inwiefern ist das ehrenvoll?). Andererseits mag hier vielleicht auf den ehrenhaften Namen des Bittstellers angespielt sein, den er beispielsweise mit dem Vater der Andromache und dem Sohn der Elektra teilt, vgl. Hornblower (2013) z. St. v. 2a: Zunächst teilt das Orakel mit, worum die Sorge Eetions primär kreiste: Labda ist schwanger (κύει) und wird gebären (τέξει). Paradox erscheint die Aussage des Orakels, die Frau werde einen (rollenden) Stein, einen ὀλοοίτροχος hervorbringen. Diese Formulierung ist als Rätsel besonders kunstvoll gewählt und wirkt auf mehreren Ebenen: (1) Die Fortpflanzung der menschlichen Gattung scheint in Frage zu stehen. Wie kann eine Frau einen Stein gebären? ὀλοοίτροχος ist dementsprechend metaphorisch aufzufassen (s. u.) (2) Eetion stammt aus Πέτρα. Der homonyme Stadtname scheint entsprechend auf den Charakter seiner Nachkommenschaft hinzuweisen; vgl. hierzu Hom. Il. 13,137 den Vergleich Hektors ὀλοοίτροχος ὡς ἀπὸ πέτρης. Hornblower (2013) z. St. liegt richtig, wenn er glaubt, das Orakel habe viele Hörer an den Homer-Vers erinnert, der noch deutlicher als ὀλοοίτροχος selbst auf die Heimat des Eetion hinweist. (3) Nicht nur, dass Labda einen Stein gebären soll, dieser Stein ist auch noch ein Läufer (τροχός). Die Lahme muss damit ihr eigenes Gegenteil hervorbringen. Hierzu stimmt sehr trefflich der Name Κύψελος, den der Sohn zwar laut Herodot wegen seines Verstecks in einer Kiste (κυψέλη) trug, der jedoch auch synonym zu ἄπους ist, vgl. Lukian. Lex. 11; Aristot. hist. an. 618a, also einerseits (a) ohne Fuß, d. h. lahm, andererseits aber auch (b) schnell bedeutet.

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Kypselos verbindet auf diese Weise sogar auf terminologischer Ebene das Erbe seiner benachteiligten Mutter mit seinem eigenen vorbestimmten Schicksal. vv. 2b–3: Kypselos wird als Stein jedoch nicht nur einfach rollen, er wird dies auf eine bestimmte Weise tun. ὀλοός- deutet darauf hin, dass sein Lauf Verderben bringen wird, und zwar den gegenwärtigen Herrschern von Korinth, den Bakchiaden; vgl. McGlew (1993) 65. Wie Belagerte Rundsteine über ihre Belagerer rollen lassen, so wird Kypselos auf die Bakchiaden niedergegen (πεσεῖται). Der rollende Stein steht so als Zeichen für etwas (oder jemanden), das nicht aufzuhalten ist und große Kraft hat, das zermalmt, was ihm im Weg steht. Inwiefern sein Handeln, das Herodot selbst später (τυραννεύσας δὲ ὁ Κύψελος τοιοῦτος δή τις ἀνὴρ ἐγένετο· πολλοὺς μὲν Κορινθίων ἐδίωξε, πολλοὺς δὲ χρημάτων ἀπεστέρησε, πολλῷ δέ τι πλείστους τῆς ψυχῆς, 5,92ε) als blutig und grausam beschreibt, als δικαιοῦν bezeichnet werden kann, bleibt implizit. Es wird wohl der Hochmut der Bakchiaden gestraft und so die Verschmähung der Labda gerächt; vgl. zur Endogamie der Bakchiaden Gernet (1981) 293 f. Eetion und die Bakchiaden als Rätsellöser: Die Bakchiaden, deren Untergang das Orakel prophezeit, hatten laut Herodot schon vorher ein anderes Orakel mit gleichem Sinn erhalten, das ihnen jedoch zunächst unverständlich blieb (Hdt. 5,92β): αἰετὸς ἐν πέτρῃσι κύει, τέξει δὲ λέοντα καρτερὸν ὠμηστήν· πολλῶν δ᾽ ὑπὸ γούνατα λύσει. ταῦτά νυν εὖ φράζεσθε, Κορίνθιοι, οἳ περὶ καλὴν Πειρήνην οἰκεῖτε καὶ ὀφρυόεντα Κόρινθον. Ein Adler im Gebirge geht schwanger, er wird aber einen Löwen hervorbringen, einen starken mordlustigen, der wird vielen die Knie lösen. Das bedenkt nun sorgfältig, Korinther, die ihr das schöne Pirene bewohnt und das hochaufragende Korinth.

Als ihnen jenes zweite Orakel zu Ohren kam, erkannten sie (wohl aufgrund der doppelten metaphorisch Verbindung von Schwangerschaft und Stein), dass sich beide auf dasselbe Kind, nämlich den Nachfahren des Eetion (und der Labda) bezogen. Sie planten daraufhin, das Kind nach der Geburt zu töten, verfehlten ihr Anliegen jedoch, sodass Kypselos heranwachsen und sich der Herrschaft bemächtigen konnte (5,92). Über die Auffassung des Orakels durch Eetion berichtet Herodot nichts. Es scheint jedoch, dass er den Spruch nicht (gänzlich) verstanden hat. Anderenfalls sollte man doch meinen, dass er und seine Frau vorsichtiger gewesen wären, um ihren Sohn vor Anschlägen der Bakchiaden zu schützen, vgl. dagegen die Naivität der Frau beim Besuch der Schergen (ἡ δὲ Λάβδα εἰδυῖά τε οὐδὲν τῶν εἵνεκα ἐκεῖνοι ἀπικοίατο καὶ δοκέουσά σφεας φιλοφροσύνης τοῦ πατρὸς

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εἵνεκα αἰτέειν φέρουσα ἐνεχείρισε αὐτῶν ἑνί, 5,92γ). Das an die Bakchiaden gerichtete Orakel (AP XIV 87) kennt Eetion offenbar nicht. Intertextuelle Verweise: Drei Orakel kreisen um den Sturz des Bakchiaden-Geschlechtes und die Herrschaft des Kypselos über Karinth. Das chronologisch früheste, bei Herodot jedoch an zweiter Stelle berichtete Orakel vom adlergeborenen Löwen an die Bakchiaden (Hdt. 5,92β = AP XIV 87) und das zeitlich darauf folgende Orakel vom rollenden Stein an Eetion (Hdt. 5,92α = AP XIV 86) umschreiben metaphorisch, was das dritte Orakel von der Herrschaft über Korinth an Kypselos selbst ohne Rätsel ausdrücklich verkündet: Kypselos wird die Bakchiaden stürzen und über Korinth herrschen, ebenso seine Kinder (Periander), nicht jedoch das Geschlecht seiner Enkel (5,92γ): ὄλβιος οὗτος ἀνὴρ ὃς ἐμὸν δόμον ἐσκαταβαίνει, Κύψελος Ἠετίδης, βασιλεὺς κλειτοῖο Κορίνθου, αὐτὸς καὶ παῖδες, παίδων γε μὲν οὐκέτι παῖδες.

Vgl. zu Kypselos und Eetion ferner Paus. 2,4,4. 5,18,7; Nikolaos von Damaskus, FGrH 90 F 57 Jacoby. Literatur: Vernant (1982) über Parallelen zwischen dem Geschlecht der Kypseliden und Ödipus mit seinen Nachfahren. Zu dem obenstehenden Orakel im Speziellen auch Hornblower (2013) 256. Allgemein zu den Bakchiaden vgl. Oost (1972) passim und Salmon (1984) 55–74. 186–195 (zum Sturz der Bakchiaden durch Kypselos); ferner zum Verhältnis zwischen Kypselos und den Bakchiaden auch Bockisch (1982) 51–66. 33 Orakel an Argos über Neutralität im Krieg der Griechen gegen die Perser Hdt. 7,148, Wilson; AP XIV 94 ἐχθρὲ περικτιόνεσσι, φίλ’ ἀθανάτοισι θεοῖσι, εἴσω τὸν προβόλαιον ἔχων πεφυλαγμένος ἧσο καὶ κεφαλὴν πεφύλαξο· κάρα δὲ τὸ σῶμα σαώσει. Feind den Nachbarn, Freund den unsterblichen Göttern, den Speer nach innen gerichtet bleibe wachsam versteckt und schütze dein Haupt; das Haupt aber wird den Körper bewahren.

Form: 3 Hexameter Kontext: Der Peloponnesische Bund unter der Führung Spartas schickt nach Argos, um die Stadt für das Bündnis gegen die Perser zu gewinnen. Erst kurz zuvor hatte

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jedoch Sparta unter Kleomenes Argos angegriffen und der Stadt (und ihren Frauen) schweren Schaden zugefügt, vgl. Hdt. 6,76–83 mit dem Orakel über die Beteiligung der Frauen von Argos im Kampf (6,77). Weil Argos den Lakedaimoniern auf der Grundlage dieser Vorgeschichte nicht direkt zugetan ist, befragt die Stadt das Orakel darüber, was das vorteilhafteste Vorgehen für sie wäre (ἐπειρησομένους, ὥς σφι μέλλοι ἄριστα ποιέουσι γίνεσθαι, 7,147). Erklärung: Das Orakel, das zur Neutralität und damit zur Ablehnung des spartanischen Gesuchs rät, ist in seiner Grundaussage trotz verwendeter Körpermetaphorik eindeutig und weitestgehend unmissverständlich. v. 1: Der Eingang des Spruchs ist bestimmt durch den Gegensatz zwischen ἐχθρός und φίλος, die die beiden parallel gebauten Vershälften einleiten. Die nachbarschaftliche Feindschaft bezieht sich wohl unmittelbar auf das angespannte Verhältnis zu dem nicht ganz abgelegenen Sparta. Die Anspielung macht bereits deutlich, dass Argos nach Sparta Verhalten nicht in ihrer Schuld steht. Obwohl Argos als ἐχθρός angeredet wird, ist die feindliche Intention doch sicher eher Sparta unterstellt. Die Freundschaft zu den Göttern hingegen scheint einen gewissen Schutz der Stadt zu versprechen, sofern Argos den Rat des Orakels befolgt und sich neutral verhält. v. 2: Die Formulierung εἴσω τὸν προβόλαιον ἔχων ist, wo nicht regelrecht metaphorisch, doch sehr bildhaft. Die Verbindung des Adverbs (Ausrichtung nach innen) mit dem (übrigens seltenen, vgl. aber Thoekr. 24,123–125) Substantiv erscheint wie ein Oxymoron, εἰς- und προ- sind einander direkt entgegengesetzt, der Speer geradezu für seine Ausrichtung nach außen gemacht. Ihn stattdessen nach innen zu halten steht sinnbildlich dafür (a) nicht zu kämpfen, d. h. neutral zu bleiben und (b) (dadurch) sich selbst zu schützen. Die Speere endgültig fortzuwerfen rät das Orakel hingegen nicht und ruft zudem zu Wachsamkeit auf. Die Richtungsangabe εἴσω ließe sich höchstens noch im Sinne von „nach innen, d. h. gegen die eigenen Leute, also Griechen“ verstehen. Dass diese Deutung nicht ganz abwegig ist, beweist 7,150, wo von einer, wenn auch nicht unmittelbar kriegerischen, neutralen Stellungnahme der Argeier zugunsten der Perser, d. h. indirekt gegen die Spartaner gehandelt wird. v. 3: Körpermetaphorik. Es scheint naheliegend, dass das Haupt (einmal durch κεφαλή, dann als κάρα ausgedrückt) das Haupt der Stadt, d. h. ArgosStadt mit Burg bezeichnet. Schon in der kurz zurückliegenden Auseinandersetzung mit Sparta hatte in einem bildhaften Götterzeichen das unberührte Haupt eines Götterbildes Argos-Stadt symbolisiert, vor deren Einnahme Kleomenes Halt gemacht hatte. Die verschonte Stadt und der mit ihrer Schonung verbundene Abzug der Spartaner hatte in der Bilanz den Sieg für Argos gebracht, welcher die Argeier vor spartanischer Herrschaft bewahrt hatte. Der durch das bzw. mit

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dem Haupt gerettete Körper (σῶμα) steht in diesem Bild für alles dem Stadtzentrum Angelagerte. Vgl. hingegen How/Wells (21928) und ebenso Macan (1908) z. St. nach Rawlinson (1952), die meinen, κεφαλή bezeichne die aus der vorigen Schlacht übrig gebliebenen Vollbürger, die das dorische Blut bewahrten, während σῶμα die Masse der Bevölkerung benenne. Die Argeier als Rätsellöser: Herodot überliefert zwei unterschiedliche Reaktionen der Argeier auf das unmissverständliche Orakel: 1. Nach argeischer Überlieferung (ταῦτα λέγουσι τὴν βουλὴν ὑποκρίνασθαι) hätten die Argeier ihren Beitrag zu dem Peloponnesischen Bund trotz des Orakels zugesagt, falls ihnen (a) dreißigjähriger Friede mit Sparta und (b) die halbe Befehlsgewalt über das Bündnis zugestanden worden wäre. Herodot überliefert, die Forderung des Friedens habe das Orakel, etwa durch rechtliche Absicherung gegenüber Sparta, erfüllen sollen (σπουδὴν δὲ ἔχειν σπονδὰς γενέσθαι τριηκοντοέτιδας, καίπερ τὸ χρηστήριον φοβεομένοισι, 7,149). Nur weil Sparta die gleichmäßige Verteilung der Befehlsgewalt ablehnte, habe Argos den Beitritt doch abgelehnt. Nach dieser Überlieferung hätte Argos das Orakel missverstanden oder absichtlich umgehen wollen und entsprechend negative Folgen zu tragen gehabt. Da sie jedoch schließlich mehr oder weniger zufällig den Rat des Orakels doch befolgen, fällt ihr anfängliches Fehlverhalten offenbar nicht so sehr ins Gewicht; vgl. hingegen Glaukos, dem aufgrund seines nur versuchten Gelgunterschlagens nicht ebenso viel Nachsicht zuteil wird, Hdt. 6,86. Wahrscheinlicher ist in diesem Sinne die 7,150 berichtete zweite Variante der Episode. 2. Einer zweiten, offenbar volkstümlichen, Überlieferung zufolge hatte Argos, dem Rat des Orakels entsprechend und durch ein Versprechen der Perser, Argos im Falle ihrer Neutralität nicht anzugreifen, dem Bündnis niemals beitreten wollen und absichtlich Forderungen gestellt, die Sparta nicht akzeptieren würde, um nicht in den Ruf unpatriotischer Perserfreundlichkeit zu geraten (7,150). Nach dieser Überlieferung treten die Argeier als erfolgreiche und überaus klug taktierende Rätsellöser auf, deren Lohn ihre Unversehrtheit in dem folgenden Krieg ist.

Intertextuelle Verweise: Vgl. bereits Hdt. 6,77 das Orakel über die Beteiligung der Frauen von Argos im Kampf gegen die Spartaner unter Kleomenes.

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34 Rätsel von der Schreibtafel AP App. VII 65, Cougny; Basil. Megalomit. 27, Anecd. Gr. III, p. 446 Boiss.; S 70 Τραφὲν ὄρεσι καὶ φάραγξιν ἀγρίαις, κήρυξ πέφυκα τῶν λόγων ὑμνῳδίας· φωνὴν μὲν οὐκ ἔναρθρον, εὔηχον δ’ ἔχω. Genährt in den Bergen und in rauen Talniederungen werde ich zum Herold der Worte, die in Hymnen gesungen werden; ich habe zwar eine nicht vernehmbare, aber doch wohlklingende Stimme.

Form: 3 byzantinische Senare Erklärung: In dem in der Ich-Perspektive formulierten Rätsel von der Schreibtafel steht die κήρυξ-Metapher im Mittelpunkt. v. 1: Hier ist auf das hölzerne Material der Schreibtafel angespielt. Gefertigt wird diese aus dem Holz von Bäumen, die sowohl auf Bergen (ὄρη) als auch in Tälern (φάραγγες) als Wald wachsen; vgl. ὕλη μέν με τέκεν (AP XIV 60, v. 1a). Genährt (τρέφειν) wird in den Bergen und Tälern also zunächst der Baum bzw. das Holz selbst. Nach Art einer kausativen Enallage ist das Prädikat jedoch auf die Schreibtafel als Endprodukt übertragen. Überzogen sind derlei Tafeln mit Wachs, in welches – in getrocknetem Zustand – die Schrift mit einem Griffel eingeritzt zu werden pflegt. Auf diese Beschichtung scheint das Lemma σημαντήριον (eigentlich Siegel), unter dem das Rätsel überliefert ist, hinzuweisen. Siegelmaterial ist in der Regel eine anteilige Mischung aus Wachs, Fett und Pech; vgl. AP XIV 61 das Rätsel vom Pech, dessen Herkunft ebenfalls aus den Bergen abgeleitet wird (οὔρεσι μὲν γενόμην). Pech entsteht bei der Pyrolose von Holz als Spaltprodukt (neben z. B. Holzkohle). Aus dem Holz der Berge und Täler wird somit nicht nur die Tafel als Untergrund selbst hergestellt, sondern u. U. auch das darauf verteilte Wachs (mit Pechanteil?), vgl. δένδρον δέ μοι ἔπλετο μήτηρ, AP XIV 61, v. 1b. v. 2: Als κήρυξ kann die Schreibtafel gelten, insofern sie – wie ein Bote – Mitteilungen in geschriebener Form zu überbringen vermag. Mit dem im Lemma genannten Siegel teilt der Herold hingegen seine ankündigende Funktion. Die suggerierte Personalisierung, die an eine Person als Rätselobjekt denken lässt, erschwert das Verständnis an dieser Stelle. v. 3: Die scheinbar paradoxe Verbindung der gegensätzlichen Eigenschaften a: οὐκ ἔναρθρον und b: εὔηχον bezieht sich auf die schriftliche, d. h. stimmlose (οὐκ ἔναρθρον) Überlieferung sprachlicher (εὔηχον) Zusammenhänge; vgl. auch AP XIV 60, v. 3 κλειομένη σιγῶ· λαλέω δ’, ὅταν ἐκπετάσῃς με; ferner AP App. VII 7, v. 2 τὰ δ’ ἄφωνα βοὴν ἵστησι […].

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Intertextuelle Verweise: Vgl. AP XIV 60 ein anderes, in den Hauptpunkten vergleichbares Rätsel von der Schreibtafel; dann auch das thematisch verwandte, paraphrasierende Rätsel vom schwarzen Ball (Pech), AP XIV 61. Ferner die Rätsel vom Buch bzw. vom Brief (AP App. VII 7. 8; Antiphan. PCG II, frg. 194 K.-A.; nachgeahmt von Basil. Megalomit. 39 (Anecd. Gr. III, p. 450 f., s. v. βίβλος Boiss.), in denen ebenfalls der Gegensatz von Nicht-Sprachlichkeit und weithin vernehmbarer Stimme eine Rolle spielt. Literatur: Schultz (1909) 51, nr. 70 macht keine erklärenden Bemerkungen zu dem Rätsel, nennt es lediglich in der Gruppe 63–80, die er als „Artefakte“ betitelt, ohne auf den Grund für eine solche Bezeichnung einzugehen. Im Register seiner Rätsel (1912) 137 führt er das Rätsel unter dem Lemma „Trompete“, natürlich auch hier ohne Anmerkungen, die diese haltlos erscheinende Einordnung verständlich machen könnten. Offenbar liegt hier die sekundäre Bedeutung von κήρυξ als Muschelhorn (triton nodiferum) zugrunde. Anecd. Gr. III, p. 446 Boiss. scheint zu glauben, das Rätsel ginge auf eine Holzplatte, die – auf welche Weise bleibt mir unklar – mit Glocken in Verbindung steht, welche er offenbar als κήρυξ πέφυκα τῶν λόγων ὑμνῳδίας identifiziert: „Σημαντήριν, id est σημαντήριον, Graecis vocatur, σήμαντρον etiam, lignea tabula qua pro campanis utuntur.“ So dann ebenfalls die Anm. zu AP App. VII 65; beide geben Leone Allacci, de templis Graecorum 1,3 und Hieronymus Magium, de tintinnabulis 15 als Referenzen für die entsprechenden Glocken an. Wie der Gedanke an eine Glocke im Kontext des vorliegenden Rätsels überhaupt entstanden sein kann, lässt sich für mich nicht rekonstruieren. Weder das Lemma (σημαντήριον) noch der Rätseltext selbst geben hierfür konkrete Hinweise.

35 Rätsel vom Ichneumon Eubulos, PCG V, frg. 106,10–15, p. 252 f. K.-A.; zit. Athen. X 450a; S 84 ἀττελεβόφθαλμος, † μὴ πρόστομος †, ἀμφικέφαλος, αἰχμητής, παίδων ἀγόνων γόνον ἐξαφανίζων 1 καὶ πρόστομος vel μίκροστομος Casaubonus πικρόστομος Meineke

Hervorstehende Augen, keine vorstehenden Lippen, mit zwei Köpfen, ein Krieger, der ungeborener Kinder Geburt zunichte macht.

Form: 2 Hexameter

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Erklärung: Der Ichneumon gehört zur Familie der Mangusten. Er ist in diesem Rätsel mit Hinblick auf sein Aussehen und seine Fressgewohnheiten umschrieben. v. 1a: Die Gegend rund um die kleinen Augen des Tieres ist unbehaart, wodurch sie besonders hervorstechen, vgl. Aristot. hist. an. 556a; Opp. kyn. 3,435– 437; zur Frage der hervorstehenden, besonders glühenden Augen ausführlich Casaubonus bei Schweighäuser (1808) 539 f.; vgl. auch Kassel-Austin, PCG V, p. 252 z. St.; ferner Brehm (21883) 38. v. 1b: Warum dem Wiesel, das in der Tat über eine bemerkenswert spitz zulaufende Schnauze verfügt, diese Eigenschaft hier durch die Negation μή abgesprochen wird, ist unklar. Vgl. Ohlert (21912) 162, der zwar denselben Text druckt, jedoch unter Auslassung der Verneinung „mit spitzigem Mund“ übersetzt. Es ist nötig und überdies naheliegend, einen der beiden Vorschläge von Casaubonus (nach Schweighäuser (1804) 540) – καὶ πρόστομος oder μικρόστομος – zu konjizieren. Beide Varianten ergeben guten Sinn. Während die erste die lange spitze Schnauze des Tieres beschreibt (wie zuvor die hervorstechenden Augen), hebt letztere darauf ab, dass das Maul des Tieres zu klein ist, um die Eier, die seine Speise sind, zu überbeißen und so zu knacken, wodurch ein zweites Werkzeug nötig wird, s. v. 1c, der hier bei dieser Lesart bereits vorbereitet wäre. v. 1c: Das dritte Attribut ἀμφικέφαλος, welches an ein Ungeheuer mit zwei Köpfen denken lässt, erscheint prima vista besonders irreführend. Tatsächlich ist der Begriff offenbar metaphorisch gebraucht, vgl. die unterstehende Erklärung des Rätsels durch den Dichter selbst, wo anstelle des hier gebrauchten ἀμφικέφαλος das vergleichbare ἀμφίστομος steht, welches den Fokus jedoch von dem gesamten Haupt auf den Mund als Teil davon verschiebt; vgl. auch Meineke (1840) III, 256 z. St. κεφαλή bezeichnet in diesem Fall als Kopfteil wohl den Körperteil, mit dem Nahrung aufgenommen wird. Und hierzu bedient sich der Ichneumon in der Tat zweier Werkzeuge: Da es ihm nicht gelingt, die (Krokodils-)Eier, deren Inneres er frisst, mit seinen zwar durchaus scharfen Zähnen aber dem vergleichsweise kleinen Maul zu überbeißen, um sie zu knacken, fasst er die Eier zunächst (1) mit zwei Pfoten und schleudert sie auf den Boden, um sie anzuknacken, bevor er die angeschlagenen Eier (2) mit dem Maul ganz öffnet. v. 2: Der Ichneumon frisst durchaus nicht ausschließlich Eier, sondern auch andere Kleintiere, Insekten und sogar (Gift-)Schlangen. Unter den Eiern ferner verschmäht er nicht die von anderen Tieren wie Hühnern u.Ä. Seine Feindschaft mit dem Krokodil allerdings ist legendär, vgl. ägyptische Erzählungen über den Mut des Ichneumons, der in den Rachen schlafender Krokodile schlüpfte, um diesen das Herz herauszureißen und die gewaltigen Raubtiere auf diese Weise zu töten, Opp. kyn. 3,407 ff., vgl. Graf (2012) 53.

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Der militärische Terminus αἰχμητής ist in übertragenem Sinne gebraucht und spielt u. U. auf die Fähigkeit des Wiesels an, auch weitaus größere Gegner niederzuringen. Die Vernichtung (oder: Vertilgung) ungeborener Kinder, die dem kämpferischen Tier hier zugeschrieben ist, erscheint paradox, insofern etwas Ungeborenes, d. h. nicht Lebendiges, kaum getötet werden kann. Gemeint sind die Eier anderer Tiere (bes. der Krokodile), welche sich der Ichneumon schmecken lässt. Die Eier (γόνος) enthalten das Samengut der Tiere, die sich zu Foeten entwickeln, woraus wiederum die Jungtiere entstehen, die schließlich aus den Eiern schlüpfen und so geboren werden. Da der Ichneumon die Eier vor dem Schlupf frisst, tötet er die noch nicht zu solchen herangereiften potentiellen Neugeborenen. Ob ἐξαφανίζειν als Metapher betrachtet wird, hängt von der Einstellung in der Frage nach dem Zeitpunkt des beginnenden Lebens (schon als befruchtete Zelle, als Foetus, oder erst als geschlüpftes Jungtier) ab. Die Terminologie ist hier unklar. Eubulos selbst gibt eine entsprechende Erklärung, welche sich jedoch vorrangig auf die Verständlichmachung der Tötung der Ungeborenen mithilfe der Doppelköpfigkeit beschränkt und die übrigen äußeren Merkmale, u. U. als zu selbsterklärend, übergeht (Eubulos, PCG V, frg.106,12–15): ἰχνεύμων Αἰγύπτιος· τῶν γὰρ κροκοδίλων οὗτος ὠιὰ λαμβάνων πρὶν θηριοῦσθαι τὸν γόνον καταγνύει, ἔπειτ’ ἀφανίζει. διότι δ’ ‹ἔστ’› ἀμφίστομος; κεντεῖ κάτωθε, τοῖς δὲ χείλεσιν δάκνει Das Ägyptische Wiesel, d. h. Ichneumon: Der Krokodile Eier nämlich nimmt dieser, bevor die Brut sich zu vollständigen (Raub-)Tieren entwickelt und bricht sie auf, dann macht er sie ganz zunichte; in diesem Sinne aber ist es doppelmündig, er sticht von unten, mit den Lippen aber beißt es zu.

Intertextuelle Verweise: Die Eier des Krokodils frisst der Ichneumon auch bei Diod. 1,87,4 (FGrH 264 F 25 Jacoby): τὸν δ’ ἰχνεύμονα τῶν κροκοδείλων παρατηροῦντα τοῦς γόνους τὰ καταλειφθέντα τῶν ᾠῶν συντρίβειν […]; dagegen frisst er Schlangeneier bei Nik. Ther. 190–194; Ail. nat. 6,38: […] τὸν ἰχνεύμονα τῆς ἀσπίδος τὰ ᾠὰ ἀφανίζειν, οἱονεὶ τοῖς ἑαυτοῦ παισὶν ὑπεξαίροντα τοὺς μέλλοντας ἀντιπάλους. Literatur: Zum Ichneumon im Allgemeinen vgl. Gossen (1956) 233 s. v.

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Eine von der Erläuterung des Dichters abweichende Erklärung für die Beschreibung als ἀμφικέφαλος bietet offenbar Meineke (1840) III, 256: bicipitem autem ichneumonem vocat, quod cauda eius speciem aliquam capitis prae se fert. Schultz (1912) 52, nr. 84 hält das Rätsel „trotz der hinzugehörigen Erklärung [für] unverständlich“, verwendet jedoch keine Mühe auf einen Erklärungsversuch. Ohlert (21912) 162 paraphrasiert den Inhalt des Rätsels grob entsprechend der Erklärung des Dichters. Er gibt dem Tier in seiner Übersetzung allerdings einen „spitzigen Mund“ und übergeht damit die Negation μή. Schweighäuser V (1804) 539–543, bes. 541–543 zu der Frage nach den zwei Köpfen (ἀμφικέφαλος). 36 Rätsel von der hölzernen Mauer Hdt. 7,141, Wilson; AP XIV 93 οὐ δύναται Παλλὰς Δί’ Ὀλύμπιον ἐξιλάσασθαι, λισσομένη πολλοῖσι λόγοις καὶ μήτιδι πυκνῇ. σοὶ δὲ τόδ’ αὖτις ἔπος ἐρέω, ἀδάμαντι πελάσσας· τῶν ἄλλων γὰρ ἁλισκομένων ὅσα Κέκροπος οὖρος ἐντὸς ἔχει κευθμών τε Κιθαιρῶνος ζαθέοιο, τεῖχος Τριτογενεῖ ξύλινον διδοῖ εὐρύοπα Ζεὺς μοῦνον ἀπόρθητον τελέθειν, τὸ σὲ τέκνα τ’ ὀνήσει. μηδὲ σύ γ’ ἱπποσύνην τε μένειν καὶ πεζὸν ἰόντα πολλὸν ἀπ’ ἠπείρου στρατὸν ἥσυχος, ἀλλ’ ὑποχωρεῖν νῶτον ἐπιστρέψας· ἔτι οἵ ποτε κἀντίος ἔσσῃ. ὦ θείη Σαλαμίς, ἀπολεῖς δὲ σὺ τέκνα γυναικῶν ἤ που σκιδναμένης Δημήτερος ἢ συνιούσης. Nicht vermag Pallas, Zeus, den großen Olympier, zu beschwichtigen, weder, indem sie wortreich bittet, noch durch klugen Rat. Dir aber will ich wiederum dieses Wort sagen, ein Wort wie aus Stahl gemacht; von den Feinden nämlich ist in Beschlag genommen, so viel zwischen dem Berg/ der Grenze des Kekrops und der Schlucht des heiligen Kithairon liegt, eine hölzerne Mauer nur lässt der Donnerer Zeus der Tritogeneia unversehrt zum Schluss, dir und den Kindern als Rettung. Nicht harre der Reiterheere und denen, die zu Fuß marschieren über Land, in Ruhe, sondern kehre ihnen den Rücken und lauf davon; in der Zukunft wirst du dich einmal gegen sie stellen. Oh göttliches Salamis, du vernichtest die Kinder der Frauen, wenn Demeter das Korn aussät und wenn sie es mäht.

Form: 12 Hexameter Kontext: Nach dem durch und durch pessimistischen ersten Orakel im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Angriff der Perser (AP XIV 92 = Hdt. 7,140) ersuchen

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die Athener die Pythia ein zweites Mal und bitten um einen gnädigeren Orakelspruch (1,141). Die Deutung des (exakt gleichlangen) metaphorischen Spruchs übernimmt schließlich Themistokles (1,142 f.). Erklärung: Im Kern des rätselhaften Orakels steht die Metapher τεῖχος ξύλινον (v. 6), die entsprechend ihrer Relevanz auch räumlich genau im Zentrum des Spruchs (sechster Vers, ξύλινον zudem in der Mitte des Verses auf den dritten und vierten Fuß verteilt) platziert ist. Auf der Grundlage einer Analogie der Funktion und des Materials verweist sie auf die Flotter der Athener, die ihnen die Rettung vor den Persern in der Seeschlacht bei Salamis bringt (7,142 f.). vv. 1–2: Der Eingang des Orakels ist in Aussage und Formulierung ebenso eindeutig wie das vorangegangene Orakel 7,140. Das Athen durch den Willen des Zeus bestimmte Schicksal lässt sich nicht abwenden – nicht einmal durch den mächtigsten denkbaren Beistand, Athene als personifizierte Schutzpatronin der Stadt. Zeus zürnte den Athenern als Gott des Gastrechtes, weil sie zwei Gesandte des persischen Königs Dareios ermordet hatten (Hdt. 7,133). v. 3: Anspielung auf das zuvor (7,140) bereits erteilte, besonders pessimistische Orakel. ἀδάμαντι πελάσσας vielleicht einerseits ein Hinweis auf die Verlässlichkeit, andererseits die Versicherung, dass die neue, abgemilderte Version des Spruchs die höchstmögliche Nachsicht mit den Athenern walten lässt. Größere Zugeständnisse dürfen sie nicht erwarten. vv. 4–5: Erneut wird hier der Gedanke der vollkommenen Vernichtung durch den Feind, der in 7,140 prominent war, aufgenommen. Die Formulierungen Κέκροπος οὖρος und κευθμὼν Κιθαιρῶνος sind metaphorisch und stehen für die äußersten Grenzen Attikas. Ob οὖρος für ὅρος steht und damit ganz Attika bezeichnet, oder der Berg des Kekrops (οὖρος in diesem Fall von ὄρος) die Akropolis mein, wo sich unter der Korenhalle des Erechteions das Grab des Heros befindet, ist umstritten; vgl. Macan (1908) z. St. mit einer Zusammenstellung der unterschiedlichen Forschungsmeinungen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Rätsel die bildhafte Sprache liebt (und anderenfalls die Nennung des Kithairons als Teil Attikas auch ganz überflüssig wäre), scheint letzteres die naheliegendere Auflösung: Ganz Attika, von ihrem höchsten Gipfel (Akropolis) bis zu ihrer tiefsten Schlucht (am Kithairon, der zudem die Grenze nach Böotien markiert), wird den Persern gehören; vgl. außerdem die Akropolis als Κεκροπία πέτρα bei Eur. Ion 936. vv. 6–7: Die Mitte des Spruchs, der letzte Vers der ersten Hälfte und der erste Vers der zweiten Hälfte, enthalten nun eine Einschränkung zu dem zuvor Gesagten, worin die Änderung gegenüber dem vorigen Orakel (7,140) besteht: Das alles einschließende ὅσα (v. 4) wird durch das bescheidene μοῦνον (v. 7) relativiert. Das τεῖχος ξύλινον, die hölzerne Mauer, gewährt Zeus der bittenden

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(λισσομένη, v. 2) Athene Τριτογένεια (vgl. für den Beinamen Hes. theog. 924; Aristoph. Eq. 1189; für die unterschiedlichen Etymologien des Namens, die sogar zu einem Rätsel taugen, Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 Walz), der den Namen als Beispiel für ein αἴνιγμα καθ’ ἱστορίαν anführt) und den Athenern als Rückzugsort (ὄνησις) vor den Feinden. Die metaphorische Formulierung trägt zudem den Charakter eines Oxymorons. Holz als Material, das im Kampf wenig wiederstandfähig, weil z. B. durch Feuer leicht zu zerstören, ist, scheint überaus ungeeignet als Schutz vor einem Feind, den Berge und Schluchten nicht abhalten können; vgl. den direkt korrelierenden v. 6 in dem Vorgängerorakel 7,141 (AP XIV 92), wo, sicher zur Verwirrung der Rezipienten, πῦρ noch ausdrücklich als Gefährdung genannt ist. Das τεῖχος ξύλινον muss deshalb zunächst wie ein karger Trost, vielleicht sogar wie ein makabrer Scherz wirken. Die Auflösung bringt einzig die von einer auf der Funktion (Schutz) und dem Material (Holz) beruhenden Analogie ausgehenden Deutung der Metapher auf die Flotte der Athener: Die Schiffe, mit denen die Griechen zur See kämpfen und damit das gefährdete Gebiert Attikas hinter sich lassen können, bieten in ihren Bäuchen, die wohl auch im Hinblick auf ihre hoch aufragende Form eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Mauer aufweisen, Schutz vor den angreifenden Persern, die die Griechen auf diese Weise in die gefährliche Meerenge von Salamis locken können. vv. 8–9: Der Aufruf zur Flucht nimmt den Tenor der ersten Rätselhälfte (und den von 7,140) wieder auf und gibt zugleich einen echten Hinweis auf die forcierte Seeschlacht von Salamis: Wenn die Konfrontation mit (a) Berittenen und (b) dem Fußvolk ausgeschlossen wird, bleibt nach dem Ausschlussverfahren nur ein Kampf zur See. vv. 10–12: Die beiden Schlussverse sind in ihrer Authentizität (vgl. How/ Wells (21928) und Macan (1908) z. St.) und in ihrer Bedeutung umstritten. Da sie eine inhaltliche Fortschreibung des Versprechens ἔτι τοί ποτε κἀντίος ἔσσῃ (v. 9) zu sein scheinen, bin ich von ihrer Echtheit überzeugt. Hingewiesen ist offenbar sowohl auf Salamis als Austragungsort der Schlacht als auch auf den Zeitpunkt des Kampfes. Ob es sich um eine bloße Anspielung auf Frühling (Aussaat) oder Herbst (Ernte) oder auf konkrete Zusammenhänge mit den eleusinischen Mysterien handelt, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Angabe wird jedoch den Griechen einen Hinweis auf den richtigen Zeitpunkt gegeben haben. Um die Identität der τέκνα γυναικῶν rankten sich offenbar bereits in der Antike unterschiedliche Hypothesen, denn Herodot berichtet, dass die Griechen Schwierigkeiten mit der Auslegung der Schlussverse hatten, weil ihnen zunächst schien, das Orakel würde zwar zu einer Seeschlacht raten (v. 6), zugleich aber den Untergang der Griechen als τέκνα γυναικῶν voraussagen. Themistokles als Befürworter der Seeschlacht habe argumentiert, die ermordeten τέκνα

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γυναικῶν seien die unterliegenden Perser, da das Athen gewogene Orakel Salamis anderenfalls nicht als θείη, sondern vielmehr als σχετλίη hätte bezeichnen müssen (7,143): οὗτος ὡνὴρ οὐκ ἔφη πᾶν ὀρθῶς τοὺς χρησμολόγους συμβάλλεσθαι, λέγων τοιάδε, εἰ ἐς Ἀθηναίους εἶχε τὸ ἔπος ‹τὸ› εἰρημένον ἐόντως, οὐκ ἂν οὕτω μιν δοκέειν ἠπίως χρησθῆναι, ἀλλὰ ὧδε Ὦ σχετλίη Σαλαμίς, ἀντὶ τοῦ Ὦ θείη Σαλαμίς, εἴ πέρ γε ἔμελλον οἱ οἰκήτορες ἀμφ᾽ αὐτῇ τελευτήσειν. Da Themistokles mit seiner Auslegung des Rätsels am Ende richtig liegen sollte, scheint auch dieser Erklärungsteil (wenigstens nach der Auffassung Herodots) das Richtige zu treffen. Inwiefern die allgemeine Formulierung τέκνα γυναικῶν die Perser exklusiv bezeichnet, ist jedoch schwer verständlich. Denkbar wäre u. U. ein indirekter Weichlichkeitsvorwurf an die Barbaren durch die Betonung ihrer Abstammung von Frauen – anstatt ihre Väter zu benennen.

Alternativer Lösungsansatz: Herodot berichtet von einem zweiten Lösungsvorschlag, der zugunsten der bekannten Flotten-Lösung zurückgewiesen wurde (7,142): ὡς δὲ ἀπελθόντες οἱ θεοπρόποι ἀπήγγελλον ἐς τὸν δῆμον, γνῶμαι καὶ ἄλλαι πολλαὶ ἐγίνοντο διζημένων τὸ μαντήιον καὶ αἵδε συνεστηκυῖαι μάλιστα· τῶν πρεσβυτέρων ἔλεγον μετεξέτεροι δοκέειν σφίσι τὸν θεὸν τὴν ἀκρόπολιν χρῆσαι περιέσεσθαι· ἡ γὰρ ἀκρόπολις τὸ πάλαι τῶν Ἀθηναίων ῥηχῷ ἐπέφρακτο. Als die Gesandten Delphi verließen und den Spruch dem Volk berichteten, entstanden viele verschiedene Auslegungen derjenigen, die das Orakel deuteten, und die beiden folgenden vereinten die meisten auf sich: Einige der Älteren meinten, es scheine, als deute der Gott an, dass die Akropolis gerettet wurde. Die Akropolis nämlich war in alten Zeiten eingezäunt von einer Mauer aus Holz.

Diese als falsch zurückgewiesene Lösung deutet das τεῖχον ξύλινον als die Akropolis, die jedoch dasselbe Orakel (v. 4) als Κέκροπος οὖρος bezeichnet und als besonders gefährdet benannt hatte. Fraglich ist, ob zu der Zeit der Perserkriege noch eine Art Palisadenzaun aus Holz um die Akropolis verlief, auf welchen sich das Orakel hätte beziehen können; vgl. Macan (1908) z. St. zur historisierend-chronologischen Ausdeutung von πάλαι. Alle Annahmen, die darauf beruhen, es habe in der frühen Vergangenheit der Stadt einmal einen entsprechenden Zaun gegeben, der zur Zeit des Orakels nicht mehr existierte, scheinen jedoch hinfällig, da das Orakel dann keinen direkten Bezug hätte. Auch ein direkter innerlicher Zusammenhang zwischen den πρεσβύτεροι und dem Adverb ist nicht zwingend. Weitaus charakteristischer wäre für ein doppeldeutiges Orakel, mit der Formulierung τεῖχος ξύλινον scheinbar-oberflächlich auf eine unmittelbar vor Augen liegende, wörtliche Holzmauer zu verweisen, deren echter, übertragener Sinn sich auf die Flotte bezieht. Die Frage, aus welchem Holz

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(Dornengehölz oder das Holz der wilden Olive, vgl. Macan (1908) z. St.) ein solcher Zaun gewesen sein kann, spielt für unser Verständnis des Orakels hingegen keine entscheidende Rolle. Themistokles als Rätsellöser: Themistokles’ Eignung für die Rolle des erfolgreichen Rätsellösers ist eine doppelte. Einerseits gilt der athenische Staatsmann ganz allgemein als besonders klug und geschickt, bedacht und von guter Urteilskraft. Besonders eindrücklich kommt dieses Bild in einer Schilderung des Thukydides zum Ausdruck (Thuk. 1,138,3): Ἦν γὰρ ὁ Θεμιστοκλῆς βεβαιότατα δὴ φύσεως ἰσχὺν δηλώσας καὶ διαφερόντως τι ἐς αὐτὸ μᾶλλον ἑτέρου ἄξιος θαυμάσαι· οἰκείᾳ γὰρ ξυνέσει καὶ οὔτε προμαθὼν ἐς αὐτὴν οὐδὲν οὔτ᾽ ἐπιμαθών, τῶν τε παραχρῆμα δι᾽ ἐλαχίστης βουλῆς κράτιστος γνώμων καὶ τῶν μελλόντων ἐπὶ πλεῖστον τοῦ γενησομένου ἄριστος εἰκαστής· […]. Es war nämlich Themistokles ein Mann, der besonders große natürliche Stärke und Klugheit an den Tag legte, und er war darin mehr als alle anderen der Bewunderung wert; durch seine natürliche Klugheit und ohne diese durch Gelerntes erweitern zu müssen war er der beste Urteilsfäller in Angelegenheiten, die höchstens die geringste Beratung zulassen, und bezogen auf die Zukunft, auch auf die noch weit entfernt liegende, war er der beste Vorausseher.

Ausdrücklich ist hier auf seine kognitiven Stärken hingewiesen, die ihn in besonderer Weise als erfolgreichen Rätsellöser qualifizieren (1,138,3): τό τε ἄμεινον ἢ χεῖρον ἐν τῷ ἀφανεῖ ἔτι προεώρα μάλιστα. καὶ τὸ ξύμπαν εἰπεῖν φύσεως μὲν δυνάμει, μελέτης δὲ βραχύτητι κράτιστος δὴ οὗτος αὐτοσχεδιάζειν τὰ δέοντα ἐγένετο. Das Gute und Schlechte im Unsicheren vorauszusehen war er ferner besonders kompetent. Und, um es kurz zu sagen, durch sein natürliches Vermögen und mit geringster Vorbereitung war er der Beste darin, aus dem Stehgreif das Notwendige zu tun.

Nicht nur, das Themistokles’ Entschlossenheit und seine Fähigkeit ad hoc die richtige Entscheidung zu treffen – für einen Rätsellöser keine schlechte Eigenschaft – betont wird, explizit ist auch sein Geschick im Umgang mit dem Unsicheren, Undeutlichen (ἐν τῷ ἀφανεῖ), d. h. auch mit dem Rätselhaften, zum Ausdruck gebracht. Andererseits widmete Themistokles sein politisches Streben bekanntermaßen schon früh, also schon lange vor dem für die Schlacht von Salamis entscheidenden Orakelspruch, dem Ausbau Athens zur Seemacht. So trieb er 493/ 2 als Archon den Ausbau des Piräus voran (Thuk. 1,93,3) und arbeitete seither konsequent und mit großer Weitsicht auf Athens politische und soziale Verwandlung in eine Seemacht hin; vgl. Schachermeyr (1966) 89f; Bengtson (21969) 167. Vor diesem Hintergrund lässt sich somit durchaus behaupten, dass Themis-

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tokles in nautischen Dingen sowohl besonders bewandert als auch – im Bezug auf Athen – besonders empfänglich für derartiges Gedankengut war. Dass er mit dieser Disposition in den hölzernen Mauern des Orakelspruchs die Schiffswände einer von ihm ohnehin lange ersehnten athenischen Flotte erkennt, verwundert also nicht im Geringsten. Vielmehr ließe seine Grundhaltung in Fragen der Nautik geradezu erwarten, dass er den Orakelspruch um jeden Preis auf die athenischen Schiffe zu deuten bemüht wäre, selbst wenn dies nicht der Wahrheit entsprochen hätte. Allein, dies würde ihm wohl sein achtsamer, bedachter Charakter verboten haben. Zusammengenommen qualifizieren beide Kompetenzen – die allgemein-kognitive und die konkret-nautische – Themistokles also in übergroßem Maße als erfolgreichen Löser dieses auf ihn geradezu persönlich zugeschnittenen Rätsels. Intertextuelle Verweise: Vgl. das pessimistischere erste Orakel, welches die Athener auf ihre Anfrage nach ihrem Schicksal in der Auseinandersetzung mit den Persern erhielten, Hdt, 7,140. Beide Orakel sind gleich lang (12 Hexameter) und das zweite ist eine direkte Umgestaltung des ersten. Es bleibt in seiner Kernaussage konstant (dringliche Warnung vor der Macht der Perser), schränkt die Unabwendbarkeit der Niederlage jedoch mit dem metaphorisch verschlüsselten Hinweis auf die Seeschlacht ein. Hdt. 8,41 über die Evakuierung Athens. Die Tempelschlange als Hüterin der Akropolis verschmähte den ihr geopferten Honigkuchen als Zeichen dafür, dass die Stadt verloren war. Hdt. 8,51–53 erweist sich bei der Einnahme der Akropolis durch die Perser die Auslegung der hölzernen Mauer als Zaun um die Akropolis als Irrglaube. Literatur: Zum Mauerbau des Themistokles: von Stern (1904); Busolt (1905); Meyer (1905); Gercke (1913); Miltner (1938); Blösel (2007). Zur Darstellung des Themistokles bei Herodot: Goldschneider (1963); Blösel (2001).

37 Rätsel vom Tisch Timokles, PCG VII, frg. 13, p. 765 K.-A.; zit. Athen. X 455f–456a ὡς δ’ ἦν ἠρμένη βίου τιθήνη, πολεμία λιμοῦ, φύλαξ φιλίας, ἰατρὸς ἐκλύτου βουλιμίας, τράπεζα (Β.) περιέργως ‹γε›, νὴ τὸν οὐρανόν· ἐξὸν φράσαι τράπεζα συντόμως

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A:

B:

Als aber aufgehoben war die Amme des Lebens, die Feindin des Hungers, die Hüterin der Freundschaft, die Ärztin gegen zügellosen Hunger, der Tisch. Unnötig kompliziert, bei Gott, wenn es doch möglich ist, kurz und knapp „Tisch“ zu sagen.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: In der zitierten Situation der Komödie ist die Formulierung offenbar nicht direkt als Rätsel gestellt, da der erste Sprecher die Lösung unmittelbar hinzusetzt, bevor noch sein Gegenüber zu Wort kommt. Es ließe sich jedoch nichtsdestoweniger trefflich als Rätsel verwenden, ließe der Rätselsteller schlicht jenen letzten Zusatz (τράπεζα) fort. Die Reaktion des Gesprächspartners könnte dann durchaus die eines unterforderten Rätsellösers sein. Zur Beschreibung des Tisches als Rätselobjekt werden zwei seiner Haupteigenschaften – (1) Platz zum Essen, (2) Ort für geselliges Beisammensein – in vier Metaphern (davon drei für (1) und eine für (2)) umschrieben, die jedoch als derart geläufig gelten dürfen, dass das Rätsel insgesamt beinahe paraphrasierenden Charakter hat. a) βίου τιθήνη: Als Amme oder Nährerin des Lebens lässt sich der Tisch bezeichnen, insofern der Mensch dort lebenswichtige Nahrung zu sich nimmt. τιθήνη ist dabei jedoch in einer Art kausativer Enallage auf den Tisch übertragen, der selbst ja nicht aktiv die Nahrung bereitstellt, sondern nur das Medium für diese Handlung bietet. Diese Verschiebung erschwert das Verständnis u. U. geringfügig. b) πολεμία λιμοῦ: Die Funktion, nach welcher der Tisch Nahrung bereitstellt, wird hier ein zweites Mal aufgegriffen: Am Tisch wird gegessen, d. h. Hunger wird gesättigt bzw. bekämpft. Die πολεμία darf entsprechend im metaphorisch verallgemeinernden Sinn in der Bedeutung des direkten Gegenteils verstanden werden. Die Kriegsmetaphorik verstärkt diesen Kontrast. c) φύλαξ φιλίας: Freunde speisen zusammen und volle Mägen sorgen für gute Stimmung. Ein Tisch, an dem mehrere Personen sitzen, schafft außerdem rein räumlich eine gewisse Verbundenheit. Dennoch liegt auch hier eine gewisse Verschiebung von dem Essen, welches sinngemäß im Fokus steht, auf den Tisch vor. d) ἰατρὸς ἐκλύτου βουλιμίας: Wie schon in a. und b. Am Tisch findet Sättigung statt, welche den Hunger vertreibt. Wiederum wird die Wirkung, die genau genommen die Speisen haben, auf den personifizierten Tisch übertragen. Die Identifikationen finden mit Personen, nicht mit Objekten statt. Hierdurch wird eine irreführende Personifikation des Rätselobjekts erzeugt. Das feminine

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Genus der gewählten Personenbezeichnungen (unmittelbar in τιθήνη und πολεμία, doch auch φύλαξ und ἰατρός, die keine separaten femininen Formen bilden, sind hier in ihrer weiblichen Form gemeint; vgl. φύλαξ für die Wächterinnen der Hekabe, Eur. Tro. 462; die Stärke (ἡ ῥώμη) der Richter als Wächterin der Gesetze, Plat. rep. 305c; Xen. mem. 2,1,32; Artemis als ἰατρός, Diogenes Tragicus 1,5; Aphrodite als ἰατρός, Plut. mor. 143d (coniugalia praecepta); so auch Phot. 531b und Hesych. s. v. μαῖα) deutet auf das Genus des Lösungswortes (ἡ τράπεζα) hin. Bewertung des Rätsels: Der Aufruf des Gesprächspartners zu Kürze (συντόμως) verrät, dass sein Hauptkritikpunkt an dem Rätsel seine als unnötig (ἐξόν) empfundene Länge ist. Hier liegt ein auf Pragmatismus und Klarheit ausgerichtetes Sprachideal zugrunde, welches für die Wege des Rätsels kein Verständnis aufbringt. Literatur: Übersetzungen, die für die Personenbezeichnungen maskuline Substantive setzen, beeinträchtigen den Sinn des Ganzen zwar kaum, verkennen jedoch die innere Systematik des Rätsels, nach der die Personen alle feminin sein müssen, um der femininen τράπεζα entsprechen zu können. Vgl. beispielsweise die unaufmerksame Übersetzung der Passage bei Friedrich (1998) zu Athen. X 455f– 456a: „… der Born des Lebens, Feind des Hungers, Hüter auch der Freundschaft, Arzt für Eßverlangen …“ Schweighäuser V (1804) 590 f.

38 Rätsel von Tag und Nacht Theodektes, TrGF I, 72 F 4 Snell; AP App. VII 14; zit. Athen. X 451f–452a εἰσὶ κασίγνηται δισσαί, ὧν ἡ μία τίκτει τὴν ἑτέραν, αὐτὴ δὲ τεκοῦσ’ ὑπὸ τῆσδε τεκνοῦται Es gibt zwei leibliche Schwestern, von denen die eine die andere gebiert, die aber, die selbst gebar, wird von jener (Geborenen) geboren.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Es handelt sich um ein metaphorisches Verwandtschaftsrätsel in der auktorialen Erzählperspektive. Das bestimmende Paradoxon beruht auf der Unmöglichkeit, dass Schwestern, d. h. zwei Frauen, die dieselbe Mutter haben, einander gegenseitig Mutter sind.

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v. 1a: Der Begriff κασίγνηται verbürgt, dass es sich nicht um Halb- oder Stiefschwestern handelt, und verschärft so das Paradoxon. Anderenfalls wären die Aussagen „A und B sind Schwestern“ und „A ist Mutter von B“ oder „B ist Mutter von A“ prinzipiell vereinbar:

Der feminine Begriff der Schwester trägt dem Genus Rechnung, das sowohl νύξ als auch ἡμέρα haben. vv. 1b–2: Während, wie oben gezeigt, in einem inzestuösen Verhältnis prinzipiell die Möglichkeit besteht, dass die eigene Mutter zugleich die Halbschwester ist, gibt es kein Szenario, in welchem sich die beiden Schwestern gegenseitig Mütter sein können. Denn jemand (oder etwas), der bzw. das nicht existiert, d. h. noch nicht geboren ist, kann unmöglich selbst jemanden oder etwas gebären. Hier wird die philosophische Frage nach der Priorität von Tag oder Nacht (Huhn oder Ei) thematisiert. Es kommt also sekundär auch darauf an, dass es sich um ungleich alte, nicht um Zwillingsschwestern handelt; vgl. das Rätsel von den Stunden, AP App. VII 45. Die allgemein gehaltenen Formulierungen deuten den iterativen Charakter des abstrakten Geschehens an, der den Schlüssel zum Verständnis bildet: Wenn zwei Dinge immer (abwechselnd) auseinander hervorgehen, impliziert das, dass sie in der Zwischenzeit jeweils wieder vergehen. Wenn eins immer wieder aus dem anderen hervorgeht, muss das Zweite im Ersten immer schon angelegt sein. So wechseln sich Tag und Nacht kontinuierlich ab. Schwestern sind sie im Sinne einer hierarchisch-systematischen Gleichrangigkeit. Sie bilden die gleichwertigen Hälften eines Ganzen. Mütter sind sie im Sinne der chronologischen Abfolge: Eine war immer schon vor der anderen, die aus der ersten entsteht. Intertextuelle Verweise: Vgl. die thematisch verwandten Rätsel von den zwei Schwestern (AP XIV 40) und von der kindgeborenen Mutter (AP XIV 41). Literatur: Schweighäuser V (1804) 556 f.

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39 Rätsel von den zwei Schwestern AP XIV 40, Beckby; S 28 Εἰσὶ κασίγνηται δύ’ ἀδελφεαί· ἡ μία τίκτει τὴν ἑτέρην, αὐτὴ δὲ τεκοῦσ’ ἀπὸ τῆσδε τεκνοῦται, ὥστε κασιγνήτας οὔσας ἅμα καὶ συνομαίμους αὐτοκασιγνήτας κοινῇ καὶ μητέρας εἶναι. Es gibt zwei leibliche Schwestern: Die eine gebiert die andere, die Gebärende selbst aber wird von jener anderen geboren, sodass sie einander Schwestern sind und zugleich als blutsverwandte Schwestern auch jeweils der anderen Mutter.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Es handelt sich um eine um zwei Hexameter erweiterte Version von AP App. VII 14. Die vv. 3–4 enthalten jedoch gegenüber AP App. VII 14 keine zusätzlichen Inhalte, wiederholen nur noch einmal die Gegenüberstellung von Schwester und Mutter, wobei hier die Mutter nicht rein prädikativ (durch Formen von τίκτειν) umschrieben, sondern auch direkt als μήτερ benannt ist. Intertextuelle Verweise: Vgl. die thematisch verwandten Rätsel von Tag und Nacht (AP App. VII 14) und von der kindgeborenen Mutter (AP XIV 41).

40 Rätsel vom Fisch im Topf AP XIV 23, Beckby Νηρέος ὄντα με παῖδα φέρει γαιήιος υἱός, τὸν Στυγὸς ἱμερτοῖς νάμασι δυόμενον. Mich, der ich ein Sprössling des Nereus bin, trägt ein Erdenkind, während ich in der Styx lieblichen Gewässern versinke.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Ein zum Mahl zubereiteter Speisefisch beschreibt sich metaphorisch aus der Ich-Perspektive. Dabei wird das gesamte Rätsel von dem Gegensatz zwischen Wasser (v. 1a, v. 2) und Erde (v. 1b) bestimmt. v. 1a: Einer, der von dem Meeresgott Nereus abstammt, muss auch selbst ein Meereswesen sein. Alle Fische sind somit gleichsam „Kinder des Nereus“ (metaphorisches Verwandtschaftsverhältnis).

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v. 1b: Als Abkömmling der Erde gelten in der Regel Gegenstände, die aus entsprechenden Naturmaterialien hergestellt sind, wie irdene Gefäße u. ä.; vgl. das Rätsel vom Ölbaum (AP XIV 37), welches das irdene Gehäuse einer Lampe auf diesem Wege umschreibt. Hier ist ein Kochtopf oder ein anderes irdenes Geschirr gemeint, in dem der Fisch als Speise zubereitet bzw. angerichtet wird. φέρει ist in diesem Lichte als etwas konkreter als eigentlich notwendig aufzufassen: Der Topf trägt den Fisch, insofern dieser in jenem liegt (und transportiert werden kann). Auf der Bildebene ist besonders die Zusammenstellung der beiden Söhne jener ganz verschiedenen Elemente schwierig zu verstehen. Dass etwas Irdenes etwas Wässriges trägt, ohne es zu absorbieren, erscheint auch im Hinblick der Flüssigkeit aufsaugenden Funktion von (trockener) Erde schwer vorstellbar. v. 2: Der Fisch schwimmt in einer Sauce, insofern er darin gekocht bzw. angerichtet wird. Die Flüssigkeit wird metaphorisch mit dem Totenfluss, der Styx, verglichen. Dieser Vergleich beruht auf einer Analogie im Hinblick auf den Transport von Toten: Der Fisch ist als Teil einer Mahlzeit tot und wird schlussendlich beim Verzehr mit der Sauce in den Magen des Menschen wie in die Unterwelt gespült. δυόμενον ist natürlich ebenfalls im übertragenen Sinne aufzufassen, denn, sofern der Fisch nicht lebendig gekocht wird und erst bei diesem Prozess zu Tode kommt, ertrinkt er eben nicht wirklich in der Flüssigkeit (was für einen Fisch ohnehin als paradoxe Todesursache erscheinen muss), sondern wird – bereits tot – von ihr um- und überspült, sodass es ein Ertrinken nur im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse (oben – unten) ist.

41 Rätsel von dem Welten-Tempel vit. Aesop. 120, Perry (vita W) οἱ δέ φασιν „ἔστι ναὸς στῦλος ἐπι τῷ ναῷ ἔχων πόλεις δώδεκα, ἑκάστη δὲ πόλις ἐστεγασμένη τριάκοντα δοκοῖς. ταύτας περιτρέχουσι δύο γυναῖκες.“ Αἴσωπος ἔφη „τοῦτο τὸ πρόβλημα καὶ οἱ παρ’ ἡμῖν παῖδες διαλύουσι. ὁ ναὸς οὖν ἐστιν ἡ οἰκουμένη, διὰ τὸ περιέχειν ἅπαντα, ὁ δὲ ἐπὶ τῷ ναῷ στῦλος ὁ ἐνιαυτός ἐστιν, αἱ δὲ ἐπὶ τούτῳ δώδεκα πόλεις οἱ δώδεκα μῆνές εἰσιν, οἱ δὲ τριάκοντα δοκοὶ αἱ τοῦ μηνὸς τριάκοντά εἰσιν ἡμέραι, αἱ δὲ περιερχόμεναι δύο γυναῖκες ἡ ἡμέρα ἐστὶ καὶ ἡ νύξ, ἄλλη παρ’ ἄλλην πορευόμεναι […].“ Die [Gefolgsleute des Ägypterkönigs Nektenabo] aber fragten von neuem: „Es gibt einen Tempel, drinnen eine Säule, die zwölf Städte trägt, jede Stadt aber mit dreißig Holzsparren überdacht; um diese laufen zwei Frauen herum.“ Aesop antwortete: „Das Rätsel können bei uns selbst die Kinder lösen. Der Tempel ist die Welt, insofern sie alles umschließt, die Säule in dem Tempel ist das Jahr, die darauf ruhenden zwölf Städte sind die zwölf Monate, die dreißig Dachsparren sind die dreißig Tage jedes Monats, die beiden herumlaufenden Frauen aber sind Tag und Nacht, von denen immer eine die andere hervorbringt.“

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Form: Prosa Kontext: Der kluge und v. a. im Umgang mit Rätselfragen geschickte Aesop ist als Berater des babylonischen Königs Lykurg zu Gast bei dem Ägypterkönig Nektenabo. Nachdem er bereits verschiedentlich seine Klugheit unter Beweis gestellt hat, richten die Gefolgsleute des ägyptischen Königs das obenstehende Rätsel an den Fabeldichter. Erklärung: Es handelt sich um ein mehrteiliges allegorisches Rätsel, welches, der Rätselsituation entsprechend, aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers formuliert ist. Obwohl insgesamt mehrere Rätselobjekte zu erraten sind, hat das Rätsel eher nicht als zusammengesetzt zu gelten, da (a) keine komplexe Situation oder Handlung zu erraten ist und (b) die einzelnen Rätselobjekte so eng miteinander verwoben bzw. jeweils Teil voneinander ist, dass man auch von einem mehrgliedrigen Rätselobjekt sprechen könnte. Es steht der Tempel (ναὸς) für die Welt in ihrer Ganzheit (ἡ οἰκουμένη). Die Analogie zwischen Tempel und Welt betrifft neben ihrer Größe, die in einer Parallelüberlieferung, die den ναός offen als μέγας bezeichnet, explizit zum Ausdruck kommt, die folgenden Aspekte: Einerseits ist der Tempel die äußerste Hülle, die alles umfängt (διὰ τὸ περιέχειν ἅπαντα), wie die Oikumene den Rahmen für alle Geschehnisse bildet. Die Relation, in der das erste Rätselobjekt zu den anderen Teil-Objekten steht, ist somit analog zu der Relation, in der die Welt zu all ihren Inhalten steht. Andererseits verrät die Darstellung der Welt als Tempel, d. h. als Sakralbau, auch etwas von einer gewissen ihr innewohnenden Heiligkeit als Ort für göttliches Wirken. Die, von außen gezählt, zweite Ebene der Beschreibung bildet eine einzelne Säule (στῦλος), mit der sich gleich zwei Paradoxa verbinden: Einerseits erzeugt die Vorstellung, dass in einem (großen) Tempel nur eine einzige Säule stehen soll, eine gewisse Verwunderung. Dass diese Säule dann jedoch das Fundament für zwölf Städte oder Burgen (πόλεις) sein soll, ist andererseits ein paradoxes Zahlen- und Größenverhältnis. Ohnehin scheint es beinahe unmöglich, dass in einem – auch sehr großen – Tempel, d. h. in einem einzelnen Bauwerk, zwölf ganze πόλεις, von denen man annimmt, dass sie aus einer Vielzahl von Einzelbauten bestehen, Platz haben sollen. Irreführend ist bei dieser Darstellung des Jahres zudem, dass die Säule in ihrer Funktion eher nicht in einer direkten Analogie zu dem Jahr steht. Denn während eine Säule Träger und Fundament für das auf ihr Errichtete ist, besteht das Jahr doch viel eher aus seinen Monaten, die Teil von ihm sind, als dass es die Monate „auf der Grundlage“ des Jahres gäbe.

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Die zwölf πόλεις geben einen Hinweis auf ihre eigentliche Bedeutung nur durch ihre Anzahl, die, insbesondere in Verknüpfung mit der Anzahl der dreißig Dachsparren, als geläufige Eigenschaft der Monate zu werten ist. Ein anderer, inhaltlicher Bezug besteht zwischen der πόλις und dem Monat jedoch nicht. Ebenso verhält es sich mit den dreißig Dachsparren, die für die Tage eines jeden Monats stehen. Außer in der genannten Anzahl gibt das Rätsel keinen Hinweis (etwa in Bezug auf die unterschiedliche (zeitliche) Dimension der einzelnen Teil-Rätselobjekte) für ihre Identifikation. Die zwei Frauen, die sich irgendwo zwischen den beschriebenen architektonischen Elementen bewegen, könnte man zunächst für Tempeldienerinnen halten. Doch genau genommen bewegen sie sich gemäß der Beschreibung nicht um den Tempel, die Säule oder eine der πόλεις herum, sondern umkreisen die Dachsparren – eine auf der Bildebene nicht wenig irritierende Vorstellung. Doch beide Frauen stehen mit ihrem femininen Geschlecht für Tag (ἡ ἡμέρα) und Nacht (ἡ νύξ), deren grammatikalisches Geschlecht (als Begriff) die geschlechtsspezifische Analogie ermöglicht. Als Tag und Nacht aber müssen sie freilich um die dreißig Tage kreisen, insofern sie mit ihrem zyklischen Ablauf die Hell- und Dunkelphasen derselben bestimmen. Der Zusatz zu Aesops Rätsellösung, der betont, wie leicht dem klugen Fabeldichter die Auslegung fällt – so leicht nämlich, dass er sie sogar babylonischen Kindern zutrauen würde, unterstreicht die allgemeine Überlegenheit der Babylonier in dem freundschaftlichen Rätselspiel: Was die Ägypter für ein schwieriges Rätsel halten, lösen bei den Babyloniern die Kinder. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel von Tag und Nacht als zwei Schwestern, die sich immer wieder gegenseitig hervorbringen, AP App. VII. 14; ferner das Rätsel vom Jahr als Vater von zwölf Kindern (Monate) mit jeweils zweimal dreißig eigenen Kindern (Tage und Nächte), Kleobulos, PLG III4, frg. 2, p. 201 f. Bergk.

42 Rätsel von den Stunden AP App. VII 45, Cougny; Psellos 18, Anecd. Gr. III, p. 435 f. Boiss.; S 7 Ἡμεῖς ἀδελφαὶ γνήσιαι ψυχῶν δίχα. Ἄλλη μὲν ἄλλης τῷ χρόνῳ πρεσβυτέρα, ἴσαι δὲ πᾶσαι τοὺς διαύλους τῶν χρόνων. Αἳ καὶ καλοῦμεν, οὐκ ἀνοίγουσαι στόμα, βαδίζομεν δὲ, μὴ πόδας κεκτημέναι. Ἐνταῦθά σοι λαλοῦμεν, ὡς ὁρᾶν ἔχεις, καὶ πανταχοῦ πάρεσμεν, εἰ σκοπεῖν θέλεις.

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Wir sind rechtmäßige Schwestern ohne Seelen. Die eine freilich ist durch die Zeit älter als die andere und doch sind wir alle gleich im Hinblick auf den Kreislauf der Zeit. Und wir rufen, ohne den Mund zu öffnen, wir gehen, ohne Füße zu haben. Hier sprechen wir mit dir, wie du sehen kannst, und wir sind überall anwesend, wenn du uns sehen willst.

Form: 7 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein Verwandtschaftsrätsel in der Wir-Perspektive. Gesucht werden dabei nicht eigentlich verschiedene Rätselobjekte, sondern ein mehrteiliges Objekt. Das gesuchte Wir steht für ein Kollektiv. Da das Rätsel unter dem Lemma Ὧραι überliefert ist, ist es auf die Stunden, mit abgeschwächtem Bezug auf die zeitliche Dimension (vv. 2–3) vielleicht auch auf die Jahreszeiten zu deuten. An die Horen ( Ὧραι) Eunomia, Dike und Eirene, die als Töchter von Zeus und Themis (Hes. theog. 901) tatsächlich Schwestern (ἀδελφαί, v. 1) sind, ist dagegen in Anbetracht der Betonung des abstrakten Charakters des Rätselobjekts (ψυχῶν δίχα, v. 1) wohl nicht gedacht. v. 1 ist bestimmt von dem Paradoxon, das sich aus der Verbindung der Eigenschaften a: „Schwestern“, d. h. Lebewesen und b: „ohne Seele“ ergibt. Die Einschränkung ψυχῶν δίχα weist auf den metaphorischen Charakter des dargestellten Verwandtschaftsverhältnisses hin und lässt vermuten, dass kein (konkretes) Lebewesen, sondern ein Abstraktum gesucht ist. Die vv. 2–3 thematisieren das Verhältnis der Schwestern untereinander, allerdings ohne dass bekannt wäre, um wie viele Schwestern es sich konkret handelt. πᾶσαι (v. 3) deutet zumindest eine Zahl an, die größer als zwei ist. v. 2 benennt die hierarchische Abstufung zwischen den einzelnen Schwestern und bezieht diese metaphorisch auf ihr Alter. Die Tatsache, dass eine Stunde vor der nächsten kommt, macht sie im chronologischen Ablauf des Tages älter als die jeweils folgenden. v. 3 betont dagegen die systematische Ebenbürtigkeit aller Schwestern im Hinblick auf den zyklisch-iterativen Tagesablauf (δισαύλος τῶν χρόνων); vgl. zur Verbindung dieser scheinbar entgegengesetzten Eigenschaften das Rätsel von Tag und Nacht, AP App. VII 14, AP XIV 40. 41. Die Formulierung suggeriert einem Rezipienten u. U. fälschlicherweise einen existenziellen Zusammenhang, nach dem alle Menschen (am Beispiel der Schwestern) bei Ablauf der Zeit, also im Tode, gleich sind. Die vv. 4–5 sind durch zwei Paradoxa bestimmt, die auf das suggerierte Familienverhältnis, das die gesuchten Schwestern automatisch personifiziert, abgestimmt sind. Sowohl rufen (καλοῦμεν, v. 4) als auch gehen (βαδίζομεν, v. 5) sind typisch menschliche Handlungen, doch keine von beiden kann streng ge-

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nommen durch den jeweils zuständigen Körperteil ausgeführt werden; vgl. hierzu das Rätsel vom Traum AP XIV 110. Die Eigenschaft a: „rufen und gehen“ ist in der Regel eine Folge der Eigenschaft b: „Mund und Füße haben“. Hier jedoch wird durch den Bruch dieses Musters (a folgt aus nicht-b) die Erwartung des Rezipienten enttäuscht, was ihm die Lösung erschwert. Beide Verben sind metaphorisch aufzufassen: Die Stunden gehen, indem sie vergehen bzw. ablaufen. Sie sprechen einerseits, insofern der Text der Rätselfrage aus ihrer Perspektive formuliert, d. h. ihnen geradezu in den Mund gelegt ist (v. 6), andererseits im erweiterten Sinne einer Kommunikation, wenn sie, etwa auf einer Uhr, einen gewissen Zeitpunkt ansagen (v. 4). Die vv. 6–7 enthalten eine direkte Ansprache an den Rezipienten. v. 6 bezieht sich auf die Wir-Perspektive bzw. die personifizierten Stunden. Die allgegenwärtige Anwesenheit der Schwestern (v. 7) betont dagegen ihren abstrakten Charakter und ist dem Vorgängervers so direkt entgegengesetzt: Die Zeit ist immer und überall, ohne körperlich anwesend zu sein, vgl. hierzu auch ein anderes Rätsel von der Zeit, das bei Athen. X 453b zitiert ist.

43 Rätsel vom schwarzen Ball (Pech) AP XIV 61, Beckby; S 93 Οὔρεσι μὲν γενόμην, δένδρον δέ μοι ἔπλετο μήτηρ, πῦρ δὲ πατήρ, βῶλος δ’ εἰμὶ μελαινομένη· ἢν δέ μ’ ἔσω κεράμοιο πατὴρ τήξῃσι, βαθείας ἅρματος ὠτειλὰς ῥύομαι εἰναλίου. In den Bergen wurde ich gezeugt, ein Baum war meine Mutter, Feuer aber mein Vater, ein geschwärzter Klumpen aber bin ich; wenn aber der Vater mich im Innern eines Kessels schmilzt, beschütze ich vor tiefen Wunden das Meeresgefährt.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es handelt sich um ein Verwandtschaftsrätsel. Das Pech beschreibt sich aus der Ich-Perspektive als Rätselobjekt im Hinblick auf seine Entstehung und seinen Gebrauch in der Schifffahrt. vv. 1–2: Pech entsteht bei der Pyrolose von Holz als Spaltprodukt (neben z. B. Holzkohle), vgl. Theophr. h. plant. 9,3,1–4; Plin. nat. 16,52–55. 24,40. Die Familienbezeichnungen μήτηρ und πατήρ stehen hier somit metaphorisch für die Materialien, aus denen Pech gewonnen wird (Analogie im Hinblick auf die „Genealogie“). Dass Holz (abstrahiert aus δένδρον) und Feuer gemeinsam etwas erzeugen können, erscheint dabei kontraintuitiv, da automatisch die restlose

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Verbrennung des Holzes assoziiert wird. Die Beschreibung als βῶλος μελαινομένη klingt mithin nach einem im Feuer umgekommenen Kind und beinahe grausam. Tatsächlich werden hier jedoch Farbe und Konsistenz des gesuchten Objekts als echte Hinweise angegeben. vv. 3–4: Glaubt ein Rezipient hier noch an das wörtliche Verständnis der Familienbezeichnungen, muss er an eine fürchterliche Gewalttat denken. Anderenfalls gibt die Beschreibung einen Hinweis darauf, dass gerade nicht eine menschliche Familie Inhalt des Rätsels ist. Pech lässt sich durch Feuer (d. h. durch den an der Entstehung des Pechs erst beteiligten Vater) schmelzen und wird dann zum Kalfatern von Schiffen (paraphrasierend umschrieben als ἅρμα ἔνάλιος) verwendet. Die Nähte (ὠτείλας) zwischen den hölzernen Schiffsplanken werden dabei mit der zähflüssigen klebrigen Masse verschlossen, um das Eindringen von Wasser zu verhindern. Intertextuelle Verweise: Vgl. das thematisch verwandte, metaphorisierende Rätsel vom Siegel, AP App. VII 65.

44 Rätsel vom Jahr Kleobulos, PLG III4, frg. 2, p. 201 f. Bergk; Diog. Laert. 1,91; AP XIV 101; S 5 Εἷς ὁ πατήρ, παῖδες δὲ δυώδεκα· τῶν δὲ ἑκάστῳ παῖδες δὶς τριήκοντα διάνδιχα εἶδος ἔχουσαι· αἱ μὲν λευκαὶ ἔασιν ἰδεῖν, αἱ δ’ αὖτε μέλαιναι· ἀθάνατοι δέ τ’ ἐοῦσαι ἀποφθινύθουσιν ἅπασαι. Es gibt einen Vater, der hat zwölf Kinder; von denen hat jedes wiederum zweimal dreißig Kinder, die eine zweifache Erscheinung haben; die einen sehen nämlich weiß aus, die anderen aber wiederum schwarz; sie sind zwar unsterblich und dennoch vergehen sie alle.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Es handelt sich um ein Verwandtschaftsrätsel. Die familiären Beziehungen stehen metaphorisch für vergleichbare Strukturen. So bringt das Verhältnis von Vater und Kindern die nach Größe abgestuften hierarchischen Dimensionen von Jahr, Monat und Tag zum Ausdruck. Die Zahlen sind als echte Hinweise exakt, das Genus der Familienmitglieder richtet sich nach dem Genus der Rätselobjekte. So ist das Jahr (ὁ ἐνιαυτός) maskulin und somit ein Vater, die Kinder sind als Monate (μηνές) maskulin und somit Söhne (παῖδες), die Tage und Nächte (αἱ ἡμέραι, αἱ νυκταί), welche die weißen, d. h. hellen, und schwarzen Enkel des Jahres versinnbildlichen, sind dagegen feminin. Die Rätsellösung wird zu-

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sätzlich erschwert durch die für eine menschliche Familie merkwürdig anmutenden Zahlenverhältnisse. Zwölf Kinder mag ein Vater noch haben, doch zweimal dreißig Enkel scheinen zu viel. Ebenso irreführend dürften der Gegensatz zwischen hellen und dunklen Enkeln (v. 3) und das Paradoxon von der unsterblichen Vergänglichkeit (v. 4) sein. Letzteres erklärt sich in dem immer fortlaufenden (und in diesem Sinne unsterblichen) Wechsel von Entstehen und Vergehen der Tage und Nächte (die ja in der Tat nur für das Auge eines festen Betrachters tatsächlich diesem Wechsel unterliegen, genau genommen aber wirklich unendlich sind und sich nur lokal verschieden ausbreiten); vgl. hierzu das Rätsel von Tag und Nacht, AP App. VII 14, AP XIV 40. 41. Intertextuelle Verweise: Vgl. Hypomnemata der Pamphila, FHG III, frg. 4, p. 521 Müller; Hesych. u. Suda s. v. Κλεοβουλίνη; Stob. 1,8,37; Diog. Laert 1,89. 91; vit. Aesop. 88b. In einzelnen Aspekten vergleichbar sind die Rätsel AP App. VII 11 (vom Schlaf) und 48 (vom Licht).

45 Rätsel von der jungfräulichen Mutter AP XIV 42, Beckby; S 90. O 174 Παρθένος εἰμὶ γυνή, καὶ παρθένου εἰμὶ γυναικός, καὶ κατ’ ἔτος τίκτω παρθένος οὖσα γυνή. Ich bin eine jungfräuliche Frau und ich stamme ab von einer jungfräulichen Frau, und jedes Jahr gebäre ich und bleibe doch immer eine Jungfer.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das metaphorische Rätsel aus der Ich-Perspektive wird bestimmt von dem Paradoxon, das aus der Zusammenstellung der beiden logisch unvereinbaren Eigenschaften a: „Jungfrau“ und b: „Mutter“ entsteht. Die Häufung des paradoxen Begriffspaars „παρθένος und γύνη“ (in unterschiedlichen Kasus) – zweimal in v. 1 und ein weiteres Mal in v. 2 – erzeugt in Verbindung mit in v. 2 gehäuften κ-Lauten (καὶ κατ’ ἔτος τίκτω) eine besondere lautliche Dimension des Rätsels. v. 2 gibt mit der Formulierung κατ’ ἔτος einen Hinweis auf das saisonbedingte pflanzliche Wachstum und so auch darauf, dass es sich bei dem Rätselobjekt nicht um ein menschliches Wesen handelt. Gesucht ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Pflanze, die sich durch Parthenogenese vermehrt oder in der Vorstellung der Antike ohne Begattung Früchte hervorbringt. Nach Ohlert (21912) 174 gibt der Codex Laurentinianus als Lösung βάλανος φοινίκων, was an die Dattel als Lösung glauben lässt. Ohlert

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selbst deutet das Rätsel hingegen (ohne rechte Begründung) auf den Weinstock. In keiner der beiden Deutungen ist eine echte Erklärung für die Auffassung der betreffenden Pflanze oder Frucht als Jungfrau enthalten. Literatur: Vgl. vielleicht Giesecke (2014).

46 Rätsel vom Rauch AP XIV 5, Beckby; Psellos 4, Anecd. Gr. III, p. 430 Boiss.; S 94 Εἰμὶ πατρὸς λευκοῖο μέλαν τέκος, ἄπτερος ὄρνις ἄχρι καὶ οὐρανίων ἱπτάμενος νεφέων· κούραις δ’ ἀντομένῃσιν ἀπενθέα δάκρυα τίκτω· εὐθὺ δὲ γεννηθεὶς λύομαι εἰς ἀέρα. Ich bin eines weißen Vaters schwarzer Sohn, ein federloser Vogel, der sogar bis zu den Wolken des Himmels fliegt; Mädchen aber, denen ich begegne, errege ich kummerlose Tränen; direkt nach meiner Geburt aber löse ich mich in Luft auf.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es handelt sich um ein Verwandtschaftsrätsel. Das angegebene Vater-SohnVerhältnis ist ein metaphorisches, beruhend auf der analogen Hierarchie zwischen (chronologisch) Primärem, Erzeugendem und Sekundärem Erzeugtem. Der Sohn beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive. v. 1a: Bestimmend ist das paradox anmutende (wenn vielleicht auch nicht gänzlich unmögliche) Gegensatzpaar von einem weißen bzw. hellen Vater und einem schwarzen Sohn. Ganz allgemein scheint schwer verständlich, wie weiß schwarz hervorbringen kann. Ferner wirkt besonders bei einer wörtlichen Auffassung des Verwandtschaftsverhältnisses die dann naheliegende Deutung der Farben auf die Hautfarbe der Personen unlogisch. Der Vater, d. h. der Erzeuger von Rauch, der selbst in der Tat gräulich bis schwarz ist, ist das helle bzw. weiße Feuer. vv. 1b–2: Es schließt sich als zweites (sogar zweistufiges) Paradoxon der Gedanke von einem federlosen Vogel an, der trotzdem fliegen kann. Mit eben jenem Vogel (ὄρνις) ist die inhaltliche Kategorie des Lösungsobjekts festgelegt (etwas, das fliegt). Hierbei scheinen einerseits die Merkmale a: „ohne Federn“ und b: „Vogel“ an sich schon unvereinbar, wird dem Vogel doch mit den Federn und den Flügeln, für die sie im Sinne eines pars pro toto stehen, eines seiner charakteristischsten Merkmale abgesprochen. Zusätzlich besteht ein scheinba-

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rer kausaler Widerspruch zwischen den Merkmalen a: „ohne Federn“ und c: „flugfähig“. Wer keine Federn respektive Flügel besitzt, der kann nicht fliegen. Die Lösung bietet auch hier die nicht-wörtliche, metaphorische Auffassung des Vogels. Der Rauch wird, wohl auf der Grundlage seiner wie ein Vogel durch die Luft aufsteigenden Bewegungsrichtung, als Vogel bezeichnet. Dass die Eigenschaft der Federlosigkeit genannt wird, schränkt die Richtigkeit dieser Angabe ein bzw. weist auf ihre Metaphorizität hin. Gesucht ist ein Vogel, der doch kein Vogel ist, also etwas, das einem Vogel in bestimmter Hinsicht ähnlich ist; vgl. hierzu das Rätsel von Eunuch und Fledermaus, AP App. VII 15. 16, Schol. Plat. rep. 479bc, p. 235 Greene. v. 3: Ein irreführender Gegensatz besteht in der Verbindung ἀπενθέα δάκρυα, da Tränen (mit der Ausnahme von Lachtränen) gemeinhin als Indiz für Trauer und Kummer (πένθος) gelten. ἀπενθέα δάκρυα hingegen müssen als Wasser, das sich in Tränenform aus den Augen ergießt, aber nicht (!) als Ausdruck der Trauer, aufgefasst werden. Der Sinn des Verses wird deutlich, wenn seine zweite Schwierigkeit, der homonyme Charakter der κούρα bzw. κόρη, die sowohl (1) das Mädchen als auch (2) das Auge bzw. die Pupille bezeichnet (vgl. den Einsatz dieser Homonymie auch in den Rätseln um Polyphems geblendetes Auge, AP XIV 52. 109), einbezogen wird: Augen tränen unter der Einwirkung von Rauch – obwohl ihre „Besitzer“ dabei keineswegs traurige Gefühle zu hegen brauchen. v. 4: Der Schluss des Rätsels ist bestimmt von dem existenziellsten aller denkbaren Gegensätze, dem zwischen Geburt und Tod, der durch die Auflösung ins luftige Nichts metaphorisch umschrieben zu sein scheint. Dass beides im Leben des Rätselobjekts unmittelbar aufeinander folgt, erscheint, auch im Hinblick auf die anderen beschriebenen Handlungen (fliegen, jemanden treffen, zu Tränen rühren), die jeweils eine gewisse Zeit beanspruchen, unverständlich. Auch hier löst die metaphorische Sichtweise die Irritation: Zur Geburt wird die eigentlich gemeinte, und als γένεσις vollkommen zutreffend bezeichnete allgemeinere Entstehung nur aufgrund des eingangs suggerierten Verwandtschaftsverhältnisses konkretisiert. Die Formulierung λύομαι εἰς ἀέρα dagegen ist gerade nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen: Rauch verflüchtigt sich in der Luft, und zwar bald, nachdem er entstanden ist. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche Rätsel Symphosius 7 Leary (Anth. Lat. 1,1,189 Riese): Sunt mihi, sunt lacrimae, sed non est causa doloris. Est iter ad caelum, sed me gravis impedit aër, et qui me genuit, sine me non nascitur ipse.

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Literatur: Jacobs (1803) 353.

47 Rätsel vom Brief Antiphan. PCG II, frg. 194,1–5, p. 424 K.-A.; AP App. VII 7; zit. Athen. X 450e– 451b; S 35 (Σα.) ἔστι φύσις θήλεια βρέφη σώιζουσ’ ὑπὸ κόλποις αὑτῆς, ὄντα δ’ ἄφωνα βοὴν ἵστησι γεγωνoν καὶ διὰ πόντιον οἶδμα καὶ ἠπείρου διὰ πάσης οἷς ἐθέλει θνητῶν, τοῖς δ’ οὐδὲ παροῦσιν ἀκούειν ἔξεστιν· κωφὴν δ’ ἀκοῆς αἴσθησιν ἔχουσιν 2 γεγωνόν Kaibel

(Sappho.) Es gibt ein weibliches Wesen, das seine Kinder an der eigenen Brust birgt; jene aber erregen, obwohl sie stimmlos sind, einen Lärm, auf dass er sowohl durch die Wogen des Meeres als auch über jedes Festland hin ertöne, für wen er will; selbst denen, die nicht anwesend sind, ist es möglich, zu hören, genauso denen, die einen schlechten Gehörsinn haben.

Form: 5 Hexameter Kontext: Aus der auktorialen Perspektive wird der Brief (ἐπιστολή) in personifizierter Form im Hinblick auf seine Mitteilungsfunktion beschrieben. Der wissende Erzähler harmoniert mit der Erzählsituation, die Athen. X 450e von dem Rätsel zu berichten weiß, wonach die Dichterin Sappho das Rätsel stellt und den Staat als falsche Lösung zurückweist (PCG II, frg. 194,6–16 K.-A.): (B.) ἡ μὲν φύσις γὰρ ἣν λέγεις ἐστὶν πόλις, βρέφη δ᾽ ἐν αὑτῆι διατρέφει τοὺς ῥήτορας. οὗτοι κεκραγότες δὲ τὰ διαπόντια τἀκ τῆς Ἀσίας καὶ τἀπὸ Θράικης λήμματα ἕλκουσι δεῦρο. νεμομένων δὲ πλησίον αὐτῶν κάθηται λοιδορουμένων τ᾽ ἀεὶ ὁ δῆμος οὐδὲν οὔτ᾽ ἀκούων οὔθ᾽ ὁρῶν. (Σα.) … πῶς γὰρ γένοιτ᾽ ἄν, ὦ πάτερ, ῥήτωρ ἄφωνος; (Β.) ἢν ἁλῶι τρὶς παρανόμων. … καὶ μὴν ἀκριβῶς ὠιόμην ἐγνωκέναι τὸ ῥηθέν. ἀλλὰ δὴ λέγε. B: Das Wesen, das du meinst, ist die Polis, die Brut aber, die sie in sich nährt, sind die Redner/ Politiker. Sie ziehen durch das Meer überquerendes Geschrei aus Asien und Thrakien Geld hierher. Und während sie ganz nahe wohnen

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und sich immer streiten, hört und sieht das Volk nichts. S: „… wie nämlich könnte es geschehen, Väterchen, dass ein Redner/Politiker einmal sprachlos ist? B: Wenn er dreimal überführt wird dabei, dass er gegen das Gesetz verstieß. Und ich glaubte doch, genau verstanden zu haben, was du sagtest. Aber erkläre es nun selbst.

Erklärung: v. 1: Die als Hauptwesenszug des beschriebenen Objekts geltende Weiblichkeit ist metaphorisch und bezieht sich auf das grammatikalische Genus des Begriffs ἡ ἐπιστολή. Dass zusätzlich von an der (Mutter-)Brust getragenen Kindern die Rede ist, unterstützt die irreführende Personifikation des Rätselobjekts. Die konkrete lokale Verortung an der Brust hat auf der Sinnebene keine direkte Entsprechung. Die βρέφη steht metaphorisch für die Buchstaben (oder Worte), d. h. die kleineren Einheiten, aus denen der Brief besteht, bzw. die er beim Lesen im übertragenen Sinne hervorbringt. vv. 2–5: Hier sind verschiedene Elemente gängiger Brieftopik aufgeführt. Im Mittelpunkt steht die typische Briefsituation, die von räumlicher, z. T. großer (v. 3) Distanz geprägt ist. In v. 2 bildet die Zusammenstellung der gegensätzlichen Eigenschaften a: „ἄφωνα“ und b: „βοὴν ἵστησι“ ein Paradoxon. Beide Begriffe sind im übertragenen Sinne aufzufassen: Stumm sind die Buchstaben insofern sie nicht lebendig sind und deshalb nicht über eine Stimme verfügen. Die Übertreibung βοὴν ἵστησι dagegen bezieht sich auf die (stimmlose, d. h. schriftliche) Vermittlung von Sprache über große Entfernungen hinweg. Die vv. 2–4a greifen erneut die Entfernung, die ein Brief überbrücken kann, auf und beziehen den willentlich gewählten Adressaten eines Schreibens mit ein. Dass so auch Abwesende und Schwerhörige die Nachricht im übertragenen Sinne „hören“, insofern sie sie lesend (eventuell laut vorlesend?) rezipieren, bedingt gerade nicht die in v. 2 suggerierte Lautstärke, sondern in der nichtausgesprochenen Schrift geradezu das Gegenteil. Eine entsprechende Erklärung bietet wiederum das Antiphanes-Fragment 14 (PCG II, p. 424,17–21 K.-A.; AP App. VII 8): (Σα.) θήλεια μέν νυν ἔστι φύσις ἐπιστολή, βρέφη δ’ ἐν αὐτῆι περιφέρει τὰ γράμματα· ἄφωνα δ’ ὄντα ‹ταῦτα› τοῖς πόρρω λαλεῖ οἷς βούλεθ’· ἕτερος δ’ ἂν τύχhi τις πλησίον ἑστὼς, ἀναγιγνώσκοντος οὐκ ἀκούσεται

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Der Brief ist ein weibliches Wesen, denn er trägt die Buchstaben als Kinder in sich herum; Obwohl diese (Kinder) ohne Stimme sind, reden sie auch mit solchen, die weit weg sind, mit welchen er (sc. der Brief) will; ein Anderer dagegen, der durch Zufall in der Nähe steht, wird das Bekannte nicht hören.

Die Erklärung enthüllt ein zusätzliches Paradoxon in der kontraintuitiven Zusammenstellung Distanz – Hörbarkeit, Nähe – Unhörbarkeit. Anders als im Rätsel selbst wird hier der Fokus gerade auf die fehlende Akustik gelegt, die unerwünschte Mitwisser ausschließt (vv. 4 f.). Intertextuelle Verweise: Vgl. die Nachahmung des Rätsels in Anecd. Gr. III, p. 450 f., s. v. βίβλος Boiss. Ferner Heinrici (1911) 66, nr. 88 (mit Anm. 8). Zitiert ist das Rätsel sowohl mit dem gescheiterten Lösungsversuch als auch mit der korrekten Auflösung bei Athen. X 450e–451b. Literatur: Schweighäuser V (1804) 550–552. Jacobs (1803) 349 f. 48 Rätsel vom Buch (βίβλος) Basil. Megalomit. 39, Anecd. Gr. III, p. 450 f. Boiss.; S 35a Ἔστι τις φύσις θήλεια, φωνήεσσα καὶ λάλος, Καὶ βρέφη περικόλπια σώζει καὶ περικρύπτει. Ἄγλωσσα δὲ καὶ λαλιᾶς ἀδίδακτα τὰ βρέφη· Ἀλλ’ ὅμως ἔντρανον αὐτοῖς καὶ γεγωνὸν τὸ φθέγμα· Κἀν τοῖς ποντίοις ὕδασιν οἷς θέλουσι λαλοῦσι, Καὶ τοὺς ἐν νήσοις φθάνουσι καὶ τοὺς ἐν ταῖς ἠπείροις. Πολλοῖς δὲ οὐκ ἔστιν αὐτῶν ἀκούειν καὶ παροῦσι· Τῆς δ’ ἀκοῆς τὴν αἴσθησιν κωφὴν ἔχει τὰ βρέφη. Es gibt ein weibliches Wesen, mit Stimme begabt und geschwätzig, das schützt und verbirgt ihre umbauschten Jungen. Ohne Sprache und ungeübt im Gespräch sind die Jungen: Aber es entsteht ihnen doch gleichermaßen eine durchdringende Stimme; und wenn sie durch die Meerwasser sprechen, mit wem sie wollen, übertreffen sie sowohl die auf den Inseln als auch die auf dem Festland. Vielen ist es nicht möglich, sie zu hören und bei ihnen zu sein; die Kinder haben die stumme Wahrnehmung des Hörens.

Form: 8 byzantinische trochäische Sechzehnsilbler Erklärung: Das Rätsel ist beinahe identisch mit AP App. VII 7 (Athen. X 450e-451b), das allerdings auf den Brief gedeutet ist (AP App. VII 8). Die φύσις θήλεια steht

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genus pro specie für die ἐπιστολή bzw. die βίβλος selbst. Die Kinder dieses weiblichen Wesens sind als die Buchstaben bzw. Worte der Schrift, als kleinere Teile des größeren Ganzen also, aufzufassen. Ihre Stimme ist keine von selbst klingende, artikulierte. Sprachbegabt und insofern stimmhaft sind aber sowohl Buch als auch Brief insofern, als dass sie gleichsam als Behälter – passiv – Sprache in Form von zu Worten gruppierten Buchstaben, die zwar keine Sprache, aber sehr wohl einen Klang (φτέγγμα) besitzen, enthalten bzw. transportieren. Abweichend von AP App. VII 7 ist in dem vorliegenden Rätsel ein weiteres Paradoxon etabliert, das aus der Zuweisung von Sprachbegabung zwar an die Mutter (λάλος, v. 1), nicht aber an die Kinder (ἄγλωσσα, v. 3) resultiert. Da Eltern und Kinder in der Regel übereinstimmende Haupteigenschaften besitzen, erschwert dieser Gegensatz das Verständnis des Rätsels. Die Formulierung hebt u. U. darauf ab, dass einzelne Buchstaben im Unterschied zu zusammenhängenden Texten zwar einen Klang, aber keinen Sinn in der Manier einer typischen sprachlichen Äußerung haben. Der Schluss des Rätsels (vv. 5–8) unterscheidet sich nur geringfügig von den entsprechenden Versen in AP App. VII 7. Konkreter als dort ist hier wohl auf die Verbreitung von Büchern durch Verschiffung Bezug genommen. Die zur See verbreiteten Bücher haben gewissermaßen eine größere Reihweite und übertreffen in diesem Sinne alle anderen. v. 7 enthält einen gewissen Exklusivitätsgedanken, der darauf bezogen sein mag, dass (1) nur wenige lesen, also den Klang bzw. die Stimme des Geschriebenen „hören“ konnten und (2) Bücher zudem kostspielig waren und deshalb nur von wenigen besessen wurden. Intertextuelle Verweise: Vgl. AP App. VII 58 = Basil. Megalomit. 15 ein anderes Rätsel von der βίβλος.

49 Orakel an Kroisos über ein Maultier als König der Meder Hdt. 1,55, Wilson; AP XIV 112 δωρησάμενος δὲ τοὺς Δελφοὺς ὁ Κροῖσος ἐχρηστηριάζετο τὸ τρίτον. ἐπείτε γὰρ δὴ παρέλαβε τοῦ μαντηίου ἀληθείην, ἐνεφορέετο αὐτοῦ. ἐπειρώτα δὲ τάδε χρηστηριαζόμενος, εἴ οἱ πολυχρόνιος ἔσται ἡ μουναρχίη. ἣ δὲ Πυθίη οἳ χρᾷ τάδε· ἀλλ’ ὅταν ἡμίονος βασιλεὺς Μήδοισι γένηται, καὶ τότε, Λυδὲ ποδαβρέ, πολυψήφιδα παρ’ Ἕρμον φεύγειν μηδὲ μένειν, μηδ’ αἰδεῖσθαι κακὸς εἶναι. τούτοισι ἐλθοῦσι τοῖσι ἔπεσι ὁ Κροῖσος πολλόν τι μάλιστα πάντων ἥσθη, ἐλπίζων ἡμίονον οὐδαμὰ ἀντ᾽ ἀνδρὸς βασιλεύσειν Μήδων, οὐδ᾽ ὦν αὐτὸς οὐδ’ οἱ ἐξ αὐτοῦ παύσεσθαί κοτε τῆς ἀρχῆς.

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Nachdem Kroisos die delphischen Bürger beschenkt hatte [wegen des vorangegangenen Orakels von der Zerstörung eines großen Reiches, welches ihm zu seinen Gunsten auszufallen schien], befragte er das Orakel ein drittes Mal; weil er nämlich die Wahrhaftigkeit des Orakels erkannt hatte, wollte er es ständig gebrauchen. Er fragte das Orakel darüber, ob seine Herrschaft wohl von Dauer sein würde. Die Pythia aber gab Folgendes zur Antwort: „Aber wenn ein Maultier König bei den Medern wird, dann musst du, zartfüßiger Lyder, zum steinigen Hermenos fliehen und nicht innehalten und dich nicht schämen, feige zu sein.“ Als diese Worte Kroisos zu Ohren kamen, freute er sich ganz übermäßig, denn er war der Ansicht, kein Maultier könne anstelle eines Menschen König der Meder werden, und dass weder er selbst noch seine Nachkommen aufhören würden, zu herrschen.

Form: 3 Hexameter (mit Prosarahmen) Kontext: Nachdem Kroisos das Orakel zu seinem Zug gegen die Perser befragt und es (unwissentlich) missverstanden hat, befragt er es, überzeugt von der Richtigkeit seiner Aussagen (ἐπείτε γὰρ δὴ παρέλαβε τοῦ μαντηίου ἀληθείην), nach dem langfristigen Fortbestand seiner Herrschaft. Erklärung: Im Kern des Rätsels steht der metaphorische Gebrauch des Maultiers (ἡμίονος), welcher die unmöglich erscheinende Identifikation von ἡμίονος und βασιλεύς ermöglicht. Die temporale Korrelation τότε ... ὅταν (vv. 1–2) deutet eigentlich an, dass hier ein reales Ereignis angekündigt wird, doch Kroisos, der das Gesagte wörtlich auffasst, sieht in der Angabe ein Konditionalgefüge. Diese Bedingung (v. 1) für das Ende seiner Herrschaft (vv. 2–3) scheint Kroisos deshalb unerfüllbar (οὐδαμά). Selbst die korrekte temporale Auffassung der Verbindung suggeriert schließlich (fälschlicherweise) ein hypothetisches Szenario in ferner Zukunft – unterstützt durch die Verbform γένηται, die eher eine Entwicklung als einen Zustand beschreibt. Der gegenwärtige Mederherrscher Kyros kommt somit für Kroisos als Referenz gar nicht in Betracht. Eben dieser jedoch wird durch das metaphorische Maultier tatsächlich bezeichnet. Wie der Halbesel (ἡμίονος) ein Pferd als Mutter und einen Esel als Vater hat, so stammte der Mederkönig (βασιλεύς) Kyros von einer edlen Mutter, der medischen Königstochter Mandane, und einem hierarchisch untergeordneten Vater, dem Perser Kambyses, ab (Verwandtschaftsrätsel); vgl. hierzu die spätere Erklärung des Orakels selbst (1,91): {ὧ} καὶ τὸ τελευταῖον χρηστηριαζομένῳ ἐπείτε εἶπε Λοξίης περὶ ἡμιόνου, οὐδὲ τοῦτο συνέλαβε. ἦν γὰρ δὴ ὁ Κῦρος οὗτος ἡμίονος· ἐκ γὰρ δυῶν οὐκ ὁμοεθνέων ἐγεγόνεε, μητρὸς ‹μὲν› ἀμείνονος, πατρὸς δὲ ὑποδεεστέρου· ἣ μὲν γὰρ ἦν Μηδὶς καὶ Ἀστυάγεος

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θυγάτηρ τοῦ Μήδων βασιλέος, ὁ δὲ Πέρσης τε ἦν καὶ ἀρχόμενος ὑπ᾽ ἐκείνοισι καὶ ἔνερθε ἐὼν τοῖσι ἅπασι δεσποίνῃ τῇ ἑωυτοῦ συνοίκεε.

Anders als der hochmütige, allzu siegessichere Kroisos glaubte, gab das Orakel also keine unerfüllbare Bedingung für seinen Sturz an, sondern eine ganz konkrete, zeitlich unmittelbar relevante Warnung vor demselben. Der Lyderkönig bekommt hier eine zweite Gelegenheit, sein Vorhaben, gegen die Perser zu ziehen, aufgrund des hohen Risikos abzubrechen, doch Kroisos zieht auch hier gar nicht in Betracht, dass hinter der vordergründigen Aussage noch eine verborgene Bedeutungsebene liegen könnte (dies kritisiert auch das Orakel in seiner Antwort auf die ungerechte Anklage des gefallenen Kroisos, 1,91), sondern freut sich darüber (ἥσθη), dass das Gesagte ihm in den Sinn passt. Intertextuelle Verweise: Vgl. das schon zuvor missverstandene Rätsel von der Zerstörung eines großen Reiches (1,53 f.) sowie die hochmütige Prüfung der Orakel durch Kroisos (1,46– 49). Kroisos’ mangelndes Rätseltalent zeigt sich überdies in den Vorwürfen, die der entthronte König dem Orakel später macht (1,87–90), und in der Antwort des Orakels auf die Anschuldigungen (1,91).

50 Orakel vom γαμβρός an die Athener Hdt. 7,189, Wilson λέγεται δὲ λόγος ὡς Ἀθηναῖοι τὸν Βορῆν ἐκ θεοπροπίου ἐπεκαλέσαντο, ἐλθόντος σφι ἄλλου χρηστηρίου τὸν γαμβρὸν ἐπίκουρον καλέσασθαι. Βορῆς δὲ κατὰ τὸν Ἑλλήνων λόγον ἔχει γυναῖκα Ἀττικήν, Ὠρείθυιαν τὴν Ἐρεχθέος. κατὰ δὴ τὸ κῆδος τοῦτο οἱ Ἀθηναῖοι, ὡς φάτις ὅρμηται, συμβαλλόμενοι σφίσι τὸν Βορῆν γαμβρὸν εἶναι, ναυλοχέοντες τῆς Εὐβοίης ἐν Χαλκίδι ὡς ἔμαθον αὐξόμενον τὸν χειμῶνα ἢ καὶ πρὸ τούτου, ἐθύοντό τε καὶ ἐπεκαλέοντο τόν τε Βορῆν καὶ τὴν Ὠρείθυιαν τιμωρῆσαι σφίσι καὶ διαφθεῖραι τῶν βαρβάρων τὰς νέας, ὡς καὶ πρότερον περὶ Ἄθων. Es heißt aber, die Athener hätten Boreas gemäß eines Orakelspruchs angerufen, denn es sei ein Orakel darüber ergangen, dass sie ihren Schwager zu Hilfe rufen sollten. Boreas hat nämlich nach hellenischer Sage eine attische Frau, Oreithyia, die Tochter des Erechtheus. Gemäß dieser Verschwägerung, so heißt es, glaubten die Athener, dass Boreas ihr Schwager sei, und als sie in Chalkis auf Euboia im Hafen lagen und merkten, wie der Wind stärker wurde, oder auch schon vorher, da opferten sie Boreas und der Oreithyia und riefen sie an, ihnen zu helfen und die Schiffe der Barbaren zu vernichten, wie schon früher am Athos.

Form: Prosa (Paraphrase)

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Kontext: Als sich Perser und Griechen auf die Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.) vorbereiteten, zog ein heftiger Sturm auf, durch den die Flotten z. T. erheblich geschwächt wurden. Erklärung: Das Orakel enthält eine Art Verwandtschaftsrätsel auf der Grundlage einer mythologischen Genealogie. Als γαμβρός der Athener sind nicht die jeweils individuellen Verwandten der einzelnen Bürger bezeichnet. Vielmehr verweist das Orakel auf eine mythologisch-abstrakte Genealogie der Athener als Volk. Demnach wurde die Nymphe Oreithyia, eine Tochter des attischen Königs Erechtheus, von Boreas geraubt und zur Frau genommen, Apollod. 3,15,2; Apoll. Rhod. 1,212. Diese Verschwägerung (κῆδος) macht den Windgott zum Schwiegersohn des Erechtheus als Ur-Athener bzw. zum Schwager der Athener, die – metaphorisch gesprochen – ebenfalls „Kinder“ des mythischen Königs sind. Jenes allegorische Verwandtschaftsverhältnis mit dem Nordwind verschafft den Athenern einen mächtigen Verbündeten gegen die Perser, deren Flotte tatsächlich durch den Boreas zerstört wird. Ein Heiligtum für Boreas und Oreithyia am Ilisos, wo Boreas die Nymphe geraubt haben soll, bezeugt die Dankbarkeit der Athener; vgl. Apollod. 3,15,2; Plat. Phaedr. 229a; Paus. 1,19,5; Apoll. Rhod. 1,212. Intertextuelle Verweise: Vgl. ein ähnlich mythologisch-genealogisches Prinzip in Hdt. 5,79, wo Aigina als ἄγχιστα Thebens im Orakel an die rachsüchtigen Thebaner figuriert.

51 Rätsel vom Auge des Polyphem AP XIV 109, Beckby; S 57 Ἐν πυρὶ κοιμηθεῖσα κόρη θάνεν· ὁ προδότης δὲ οἶνος· ὑφ’ οὗ δὲ θάνεν, Παλλάδος ἦν στέλεχος· ὁ κτείνας ναυηγός· ἐνὶ ζώοντι δὲ τύμβῳ κεῖται μεμφομένη τὰς Βρομίου χάριτας. Παλλὰς καὶ Βρόμιος καὶ ὁ κλυτὸς Ἀμφιγυήεις, οἱ τρεῖς τὴν μούνην παρθένον ἠφάνισαν. Im Feuer kam ein schlafendes Mädchen zu Tode; der Verräter aber war der Wein; durch den sie aber starb, der war der Pallas Stumpf; der Mörder war ein Schiffbrüchiger; in einem lebenden Grab aber liegt sie nun und beschuldigt des Bromios Gaben. Pallas und Bromios und der berühmte Lahme, die drei rafften zu dritt die eine Jungfrau dahin.

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Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Nach Art einer auktorialen Erzählung wird die Blendung am Auges des Polyphem (Rätselobjekt) durch Odysseus verrätselt. Im Kern des Rätsels steht das homonyme κόρη, vgl. AP XIV 52. Obwohl das (Haupt-)Rätselobjekt ohne Zweifel das Kyklopenauge ist, steht das Rätsel, das en passant auch die Blendung als Handlung und die daran beteiligten mythologischen Figuren verrätselt, der Grundform des zusammengesetzten Rätsels nahe. v. 1a: Das Homonym κόρη bezeichnet nicht nur das Mädchen, sondern auch die Pupille des Auges, die hier gemeint ist. Das Attribut κοιμηθεῖσα und das Verb θάνεν personifizieren die κόρη allerdings in einer Art, die fälschlicherweise Assoziationen mit dem Mädchen erzeugt. Das Auge des Kyklopen schlief bei der Blendung, insofern der Kyklop selbst, betrunken von dem starken Wein des Odysseus, in einen rauschhaften Schlaf gefallen war (Hom. Od. 9,371–374). Im Feuer der Kyklopenhöhle erhitzten Odysseus und seine Gefährten ihren Olivenknüttel, bevor sie ihn dem Kyklopen ins Auge trieben (Hom. Od. 9,375– 380. 389–394). Dass hier das Feuer als Hauptakteur bei der Tat genannt wird, verschiebt die Gegebenheiten gegenüber der zugrundeliegenden Episode, wodurch das Raten erschwert ist; vgl. Hom. Od. 9,346–396 für eine Darstellung der Blendung im Zusammenhang. vv. 1b–2a: Der starke Wein des Odysseus hatte Polyphem betrunken gemacht, der berauscht in einen festen Schlaf viel und Odysseus und seinen Gefährten auf diese Weise ausgeliefert war. Als προδότης lässt er sich trefflich bezeichnen, insofern Odysseus dem Kyklopen mit voller Absicht dreimal von dem schweren Wein einschenkte, gerade um ihn betrunken zu machen (Hom. Od. 9,361–363). v. 2b: Der Παλλάδος στέλεχος bezeichnet als Metonymie (causa pro effectu) den Ast von dem der Athene heiligen Ölbaum, mit dem Odysseus und seine Gefährten, angespitzt und erhitzt, dem Ungeheuer das Auge ausbrennen. v. 3a: Als ναυηγός ist Odysseus sehr deutlich, geradezu in einer Antonomasie, benannt. vv. 3b–4: Die Formulierung ζώων τύμβος erscheint paradox und bezieht sich auf die eine Augenhöhle des Kyklopen. Diese ist ζώων, insofern der Kyklop selbst noch am Leben ist, ein Grab aber zugleich, insofern die in ihr liegende Pupille „getötet“, d. h. ihrer Funktion beraubt und unbrauchbar gemacht wurde; vgl. hierzu das Rätsel vom gekochten Speisefisch (AP XIV 23), der im Magen des Speisenden sein lebendiges Grab findet. In den Βρομίου χάριτας ist erneut auf den in v. 2 bereits direkt genannten Wein (οἶνος) angespielt.

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vv. 5–6: Es stehen die Götter jeweils für die mit ihnen eng verbundenen Attribute, Pallas für den Olivenzweig, Bakchos als Dionysos für den Wein und der lahme Hephaistos als Schmiedegott für das Feuer. Alle drei Gegenstände waren an der Blendung beteiligt. Die Formulierung suggeriert eine ungerechte Übermacht dreier Götter gegen ein Mädchen. Dabei ging die Ungerechtigkeit gerade umgekehrt von dem das Gastrecht nicht achtenden Polyphem aus. Dass hier παρθένος für das homonyme κόρη steht, verschleiert die eigentlich gemeinte Bedeutung der Pupille, über welche παρθένος nicht verfügt, zusätzlich. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel vom Wein, AP XIV 52, wo ebenfalls das homonyme κόρη benutzt wird, um das Auge Polyphems zu umschreiben. Hier steht zuerst κόρη (v. 1), dann gleichsam in Anspielung auf diese Homonymie die παρθένος (v. 6), die selbst keinen inhaltlichen Bezug zum Auge mehr hat. Ferner Eur. Cykl. 454–459. 52 Rätsel vom anwesend abwesenden Euripides Aristoph. Acharn. 395–400, Wilson Δι. Θε. Δι. Θε.

ἔνδον ἔστ’ Εὐριπίδης; οὐκ ἔνδον ἔνδον ἐστίν, εἰ γνώμην ἔχεις. πῶς ἔνδον, εἶτ’ οὐκ ἔνδον; ὀρθῶς, ὦ γέρον. ὁ νοῦς μὲν ἔξω ξυλλέγων ἐπύλλια κοὐκ ἔνδον, αὐτὸς δ’ ἔνδον ἀναβάδην ποιεῖ τραγῳδίαν.

DI. Ist Euripides drinnen? THE. Nicht drinnen und doch drinnen ist er, falls du genug Verstand besitzt. DI. Wie kann er drinnen sein, wenn er nicht drinnen ist? THE. Ganz genau, alter Mann. Sein Geist sammelt draußen kleine Versstückchen und ist insofern nicht „drinnen“, er selbst aber hat die Füße hochgelegt und schreibt eine Tragödie.

Form: 5 iambische Trimeter Kontext: Der Bauer Dikaiopolis, der sich wegen seines Rückzugs aus dem Peloponnesischen Krieg vor den Acharnern schützen muss, kommt zu Euripides, um sich Requisiten zu leihen und seine Ächter so zu täuschen. Sein Anliegen hat damit eine gewisse Rätselaffinität, insofern er sucht, seinen Verfolgern eines aufzugeben. Das eigentliche Rätsel liegt jedoch in der Antwort seines Gesprächspartners.

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Erklärung: Dikaiopolis fragt bei seiner Ankunft, ob Euripides ἔνδον sei, und denkt dabei an das Innere des Hauses. Er erhält darauf von dessen Sklaven die paradox erscheinende Antwort, Euripides sei zugleich οὐκ ἔνδον (und) ἔνδον. Da ein Teilchen jedoch, mathematisch gesprochen, nicht zugleich zu den entgegengesetzten Mengen A und nicht-A gehören kann, erscheint dem Ratsuchenden, der hier in die Rolle des (erfolglosen) Rätsellösers gerät, die Aussage verständlicherweise unmöglich (verletzter Satz vom Widerspruch). Das Missverständnis zwischen dem Bauern und dem Sklaven beruht auf ihrem unterschiedlichen, nämlich einerseits expliziten, andererseits metaphorischen Gebrauch des Begriffs ἔνδον sowie auf der gedanklichen Aufspaltung einer Person in Körper und Geist. Dikaiopolis benutzt und versteht Worte in einfacher, naheliegender Form: a) Für ihn bezeichnet der Name Euripides den Menschen, der diesen Namen trägt. b) ἔνδον bezieht er auf das Innere des Hauses, dies geht aus dem Kontext – Dikaiopolis kommt als Suchender bei dem Haus an – unzweifelhaft hervor. Der Sklave dagegen verwendet die Worte subtiler. Dass die Worte nicht (nur) wörtlich zu verstehen sind, deutet v. 396b an (εἰ γνώμην ἔχεις): a) Der Name „Euripides“ bezeichnet für ihn die Einheit aus dem Körper und dem Geist des Euripides, die sich jeweils separat betrachten und bezeichnen lassen. Diese Aufspaltung der Person, die unausgesprochen bleibt, ermöglicht es, dass sie bzw. ihre beiden Teilkomponenten gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein können. b) Der Körper des Euripides ist im Haus anwesend. Damit bejaht der Sklave die Frage im Prinzip, ohne dass Dikaiopolis es merkt, denn Körper und Geist sind ja nicht vollständig voneinander getrennt, sondern wo der Körper ist, dahin kann auch der Geist jederzeit zurückgerufen werden. Und doch verneint der erste Teil der Antwort die eigentliche (implizite) Frage, ob Euripides für ein Gespräch verfügbar sei. Dass der Geist sich außerhalb, also οὐκ ἔνδον befindet, ist als Metapher dafür zu verstehen, dass er sich mit anderen Gegenständen beschäftigt. Der Körper ist somit zwar im Haus anwesend, der Geist aber, der – nach der Erklärung des Sklaven – die Ideen für die Dichtung sammelt, nicht (direkt). Damit ist jedoch weder gemeint, dass der Geist den Körper (endgültig) verlassen hat, in diesem Falle müsste Euripides tot sein, noch dass er nicht im Haus ist, sondern dass der Geist und damit die Person Euripides zwar im Haus anwesend, aber anderweitig beschäftigt, d. h. für eine Unterredung nicht verfügbar ist. Zusätzlich wäre eine Ausdeutung auf den inspirierten

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Zustand, in dem sich Euripides beim Dichten befindet, während dessen er „nicht bei Sinnen“ ist denkbar, die allerdings nicht gesondert forciert ist. Es scheint nicht darum zu gehen, dass Euripides nicht in der Lage wäre, Besuch zu empfangen, sondern darum, dass er nicht will. Der Sklave meint die Begriffe ἔνδον und οὐκ ἔνδον also gar nicht (ausschließlich) räumlich, sondern im übertragenen Sinne in der Bedeutung „nicht verfügbar“. Er beantwortet damit die implizit gebliebene, jedoch eigentlich relevante Frage des Dikaiopolis, dem es nicht primär darum geht, wo Euripides sich aufhält, sondern ob er mit ihm sprechen kann.

Zur scheinbar ungewöhnlichen Rätselsituation: Die Konstellation scheint zunächst ungewöhnlich. Dikaiopolis, der sich auch sonst mit Täuschungen auszukennen scheint (daher sein Ersuchen um Requisiten), kann das Rätsel dennoch nicht lösen. Der Sklave hingegen, der wegen seines niedrigen Standes und seiner geringen Bildung gewöhnlich als untypischer Rätselsteller erscheinen müsste, übertrumpft seinen Gesprächspartner hier. Hieran zeigt sich einerseits, dass seine Rolle als Rätselsteller seine Überlegenheit, unabhängig von seiner individuellen Beschaffenheit, determiniert. Andererseits ist sehr gut denkbar, dass Euripides sich hier absichtlich von seinem Sklaven verleugnen lässt, um ungestört zu bleiben. Der begabte Dichter könnte seinem Boten in diesem Fall durchaus vorgegeben haben, was dieser im Zweifelsfall, d. h. sofern sich störender Besuch ankündigte, zu sagen hätte. Der Sklave wäre dann in seiner Rolle vergleichbar mit der Sphinx, die das von den Musen ersonnene Rätsel nur rezitiert (Apollod. 3,5,8). Gegen ein rein mechanisches Nachplappern eines vorgegebenen Textes scheint freilich die Tatsache zu sprechen, dass der Sklave die Lösung des Rätsels erklären kann – doch auch diese Erklärung könnte ihm prinzipiell von seinem Herren eingegeben worden sein. 53 Orakel von der dritten Frucht über die Heimkehr der Herakliden auf die Peloponnes Apollod. 2,8,2, Wagner Ὕλλος δὲ τὴν μὲν Ἰόλην κατὰ τὰς τοῦ πατρὸς ἐντολὰς ἔγημε, τὴν δὲ κάθοδον ἐζήτει τοῖς Ἡρακλείδαις κατεργάσασθαι. διὸ παραγενόμενος εἰς Δελφοὺς ἐπυνθάνετο πῶς ἂν κατέλθοιεν. ὁ δὲ θεὸς ἔφησε περιμείναντας τὸν τρίτον καρπὸν κατέρχεσθαι. νομίσας δὲ Ὕλλος τρίτον καρπὸν λέγεσθαι τὴν τριετίαν, τοσοῦτον περιμείνας χρόνον σὺν τῷ στρατῷ κατῄει ... τοῦ Ἡρακλέους ἐπὶ Πελοπόννησον, Τισαμενοῦ τοῦ Ὀρέστου βασιλεύοντος Πελοποννησίων. καὶ γενομένης πάλιν μάχης νικῶσι Πελοποννήσιοι καὶ Ἀριστόμαχος θνήσκει. ἐπεὶ δὲ ἠνδρώθησαν οἱ Κλεοδαίου παῖδες, ἐχρῶντο περὶ καθόδου. τοῦ θεοῦ δὲ εἰπόντος ὅ τι καὶ τὸ πρότερον, Τήμενος ᾐτιᾶτο λέγων τούτῳ πεισθέντας ἀτυχῆσαι. ὁ δὲ θεὸς ἀνεῖλε τῶν ἀτυχημάτων αὐτοὺς αἰτίους εἶναι· τοὺς γὰρ χρησμοὺς οὐ συμβάλλειν· λέγειν γὰρ οὐ

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γῆς ἀλλὰ γενεᾶς καρπὸν τρίτον, καὶ στενυγρὸν τὸν τὴν εὐρυγάστορα δεξιὰν κατὰ τὸν Ἰσθμὸν ἔχοντα τὴν θάλασσαν. Hyllos aber, der nach dem Willen seines Vaters Iole heiratete, bemühte sich, eine Rückkehr für die Herakliden zu bewerkstelligen. Zu diesem Zweck ging er nach Delphi und fragte, wie sie zurückkehren könnten. Der Gott aber sagte, sie sollten die dritte Frucht abwarten, um zurückzukehren. Es glaubte aber Hyllos, die dritte Frucht bezeichnete einen Zeitraum von drei Jahren, und er wartete so lange und zog dann mit dem Heer zurück. Es zog aber Aristomachos, der Urenkel des Herakles, gegen die Peloponnes, als Tisamenes, der Sohn des Orestes, König auf der Peloponnes war. Und wiederum gab es eine Schlacht und es siegten die Peloponnesier und Aristomachos fand den Tod. Als aber zu Männern geworden waren die Söhne des Kleodamas, befragten sie das Orakel wegen der Rückkehr. Weil der Gott sagte, was er auch zuvor schon gesagt hatte, beklagte sich Temenos und sagte, die Befolgung dieses Rates habe ihnen kein Glück gebracht. Der Gott aber verkündete, sie seien selbst der Grund für ihr Unglück; denn sie hätten die Orakel nicht begriffen; es sei nämlich nicht die dritte Frucht der Erde, sondern des Geschlechtes gemeint und als Engpass die breitbäuchige Enge, die das Meer vom Isthmos aus rechts hat.

Form: Prosa Kontext: Das Geschlecht des Herakles wurde von Eurystheus verfolgt und floh deshalb von der Peloponnes. Hyllos, der Sohn des Herakles, befragt das Orakel über eine mögliche Heimkehr – und so nach ihm noch weitere Nachfahren, da der Sinn des Spruchs zunächst nicht erkannt wird. Erklärung: Das Orakel ist in der hier vorliegenden Paraphrase offenbar nicht vollständig wiedergegeben, denn die Erklärung nennt nicht nur die Bedeutung des τρίτος καρπός, sondern auch die eines στενυγρός, von dem im Orakel, eventuell im Hinblick auf den passenden Ort für den Wiedereintritt auf die Peloponnes, ursprünglich die Rede gewesen sein muss. Auf eine Frage nach der Art und Weise, wie (πῶς) die Herakliden ihre Rückkehr bewerkstelligen sollen, antwortet das Orakel nur mit einer Zeitangabe. Die Herakliden verkennen jedoch den eigentlichen Sinn des Spruchs und damit den richtigen Zeitpunkt für ihre Rückkehr, indem sie καρπός recht wörtlich als landwirtschaftliche Frucht bzw. Ernte deuten. Da die meisten Pflanzen einmal im Jahr Früchte tragen, bemühen sie sich (unter Hyllos) nach drei Jahren vergeblich um die Rückkehr. Auch bei folgenden Rückeroberungsversuchen bleiben die Herakliden erfolglos. Denn καρπός steht in dem Orakel in einem erweiterten (nicht streng metaphorischen, eher homonymen, vgl. Eur. Ion 922, wo Apoll als καρπός von Leto und Zeus benannt ist) Sinne für den Nachfahren. Das Orakel deutete also auf die dritte Generation des Heraklidengeschlechtes (ab Hyllos).

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Besonders kunstvoll auf lautliche Ähnlichkeiten (γῆς und γενεᾶς) bedacht ist die entsprechende Erklärung des Orakels, die auf eine verständnislose Klage des Temenos folgte (Apollod. 2,8,2): οὐ γῆς ἀλλὰ γενεᾶς καρπὸν τρίτον; vgl. für die Beschwerde der Orakelbefrager über die Nichtsnutzigkeit des Spruchs die ganz ähnlich geartete Beschwerde des Kroisos, Hdt. 1,87–90. Beide werden durch die Erklärung des Orakels widerlegt.

54 Orakel über die Ruhe an die Athener Plut. de Pyth. or. 403b, Babbitt Ἀθηναίοις δὲ περὶ τῆς ἐν Σικελίᾳ μαντευομένοις στρατιᾶς προσέταξε τὴν ἐξ Ἐρυθρῶν ἱέρειαν ἄγειν τῆς Ἀθηνᾶς· ἐκαλεῖτο δ’ Ἡσυχία τὸ γύναιον. An die Athener erging ein Orakelspruch über ihren Feldzug in Sizilien, der vorschrieb, dass sie die Priesterin der Athene aus Erythra holen sollten; die Priesterin aber wurde Ἡσυχία genannt.

Form: Prosa Kontext: Plutarch lässt Theon und die anderen Gesprächspartner Beispiele für in Prosa abgefasste Orakel vorbringen. Darunter befindet sich auch dieses Orakel an die Athener, die 415–413 v. Chr. im Zuge des Peloponnesischen Krieges eine Sizilienexpedition mit verheerendem Ausgang unternahmen. Erklärung: Die Anweisung ἱέρειαν ἄγειν ist als Antwort auf die Frage der Athener nach dem richtigen Verhalten im Krieg, speziell in der Auseinandersetzung mit Sizilien, aufzufassen. In diesem Kontext wirkt der Rat des Orakels, als wären von der Priesterin siegbringende Prophezeiungen zu erwarten. Das Orakel suggeriert damit fälschlicherweise, die Athener sollten nach Erythra gehen und die Priesterin um Rat ersuchen. Tatsächlich steht die Person – ἐξ Ἐρυθρῶν ἱέρεια τῆς Ἀθηνᾶς – hier aber gleichsam in der Manier einer Antonomasie für den Namen der Priesterin, Ἡσυχία, der dann wiederum, selbst ein Homonym, nicht als Eigenname, sondern als Bezeichnung für die Ruhe (ἡσυχία) aufgefasst werden muss. ἡσυχίαν ἄγειν bedeutet dann nicht ein tatsächliches „Holen“ der Priesterin, sondern im übertragenen Sinne das Bewahren bzw. Ausüben der Ruhe. Das Orakel rät somit dazu, in Sizilien keine Unruhe zu stiften, also nicht anzugreifen. Die Priesterin trägt ihren Namen u. U. in allegorischem Sinn, weil sie als die personifizierte Ruhe gilt. Sofern sie einen solchen Ruf gehabt hätte, wäre das Orakelverständnis erleichtert. In diesem Fall wäre selbst das (eigentlich falsche)

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wörtliche Verständnis des Spruchs hilfreich, weil die Priesterin, von den Athenern befragt, sicherlich zur Ruhe raten würde. Da die Athener – bewusst oder unbewusst – dem Orakelspruch keine Beachtung schenken und ihre Pläne in Sizilien fortsetzen, trifft sie, gleichsam als Strafe für die erfolglose Rätsellösung, die verheerende Niederlage im Kampf (413 v. Chr.), die den Zerfall des attischen Reichs zur Folge hat. Intertextuelle Verweise: Den Rat des Orakels erwähnt ebenfalls Plut. Nikias 13 (532a). Vgl. als Quelle für die verheerende Sizilienexpedition v. a. Thuk. 6–7. Vgl. hingegen Paus. 8,11,12 mit einem Orakel, welches die Sizilienexpedition scheinbar (!) befürwortet; dazu auch Nilsson (21955) 793 darüber, dass Befürworter der Expedition Seher und Chresmologen derartige Orakel absichtlich in Umlauf bringen ließen, um die Bevölkerung von ihrem Anliegen zu überzeugen; Thuk. 8,1 mit der im Nachhinein einsetzenden Kritik sowohl an den Politikern als auch an den bestochenen Sehern.

55 Orakel an den Opferpriester Teisamenos über den Sieg im Fünfkampf Hdt. 9,33, Wilson Τεισαμενῷ γὰρ μαντευομένῳ ἐν Δελφοῖσι περὶ γόνου ἀνεῖλε ἡ Πυθίη ἀγῶνας τοὺς μεγίστους ἀναιρήσεσθαι πέντε. ὃ μὲν δὴ ἁμαρτὼν τοῦ χρηστηρίου προσεῖχε γυμνασίοισι ὡς ἀναιρησόμενος γυμνικοὺς ἀγῶνας […]. Λακεδαιμόνιοι δὲ μαθόντες οὐκ ἐς γυμνικοὺς ἀλλ᾽ ἐς ἀρηίους ἀγῶνας φέρον τὸ Τεισαμενοῦ μαντήιον, μισθῷ ἐπειρῶντο πείσαντες Τεισαμενὸν ποιέεσθαι ἅμα Ἡρακλειδέων τοῖσι βασιλεῦσι ἡγεμόνα τῶν πολέμων. Dem Teisamenos aber, der in Delphi wegen seiner Nachkommenschaft anfragte, verkündete die Pythia, er werde in den fünf größten Kämpfen den Sieg davontragen. Der aber verstand den Spruch falsch und betrieb eifrig die gymnischen Künste, weil er meinte, in den gymnischen Wettkämpfen zu siegen. […] Die Lakedaimonier aber erkannten, dass sich der Orakelspruch des Teisamenos nicht auf die gymnischen, sondern auf kriegerische Wettkämpfe bezog, und versuchten, Teisamenos durch Lohn davon zu überzeugen, gemeinsam mit den Heraklidenkönigen den Oberbefehl bei ihren Schlachten zu übernehmen.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Herodot berichtet, wie Teisamenos aus Elis, der den Griechen das Opferorakel vor der Schlacht von Plataiai abhielt (9,36), als Opferpriester zu den Spartanern kam und wie er, was als große Ausnahme gilt, das Bürgerrecht der Spartaner erlangen konnte.

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Erklärung: Die Antwort, die Teisamenos aus Delphi erhält, geht in der Darstellung Herodots auf die vorgebrachte Anfrage nach der eigenen Nachkommenschaft nicht ein, sondern prophezeit ihm stattdessen – davon inhaltlich völlig unabhängig – die Siege in fünf großen Agonen (ἀγῶνες μέγιστοι πέντε). Diese fünf Agone deutet Teisamenos fälschlicherweise als ἀγῶνες γυμνικοί und damit auf das πένταθλον, zu dessen Disziplinen ἅλμα, ποδωκείην, δίσκον, ἄκοντα und πάλην gehören. Ein echter Erfolg als Fünfkämpfer blieb dem Orakelpriester jedoch verwehrt. Die Spartaner hingegen erkennen den wahren Sinn des Orakelspruchs darin, dass sie die ἀγῶνες als ἀγῶνες ἄρειοι auffassen und als fünf große Schlachten deuten. Weil das Orakel Teisamenos auf diese Weise gleichsam als Garanten bzw. Talisman für den Sieg im Kriege ausgezeichnet hatte, überzeugten die Spartaner Teisamenos durch Geld und die nach Herodot ausgesprochen seltene Verleihung ihres Bürgerrechtes, als Orakelpriester auf ihrer Seite in den Perserkriegen mitzuwirken. Die erste der fünf Schlachten, für deren Sieg Teisamenos den Spartanern das relevante Opferorakel gibt, ist die bei Plataiai (479 v. Chr.), in der die Griechen die Perser besiegen sollten (Hdt. 9,36). Nach ihrem Sieg über die Perser bei Plataiai griffen die Spartaner nicht nur persische Verbündete und im Perserkrieg neutral gebliebene Griechen an, sondern auch die eigenen ehemaligen Verbündeten. Es folgten siegreiche Schlachten (2) bei Tegea (gegen Tegeaten und Argeier), (3) bei Dipaia, (4) bei Isthmos im dritten Messenischen Krieg (464–460/ 459 v. Chr.) und (5) bei Tanagra, in denen Teisamenos den Spartanern als Opferpriester diente (9,35). Auf diese Weise erfüllte sich die Prophezeiung des Orakels. Teisamenos und die Spartaner als Rätsellöser: Dass Teisamenos als Orakel- bzw. Opferpriester den Sinn des Orakels nicht durchschaut, die Lakedaimonier als Kollektiv hingegen schon, ist überaus ungewöhnlich. Umso mehr, weil doch der wahre Sinn des Orakels Teisamenos gerade als besonders untrüglichen Opferpriester auszeichnet. Erzähllogisch aber soll die Episode freilich begründen, wie der aus Elis in der Nordwest-Peloponnes stammende Teisamenos zum Seher der Spartaner (Süd-Peloponnes) in der Schlacht um Plataiai (Südboiotien) werden konnte. Wie Flower (2008) bes. 198 und Foster (2018) 35–45, bes. 37 richtig beschreiben, ist anzunehmen, dass Teisamenos vor Plataiai, d. h. auch zu dem Zeitpunkt, als er das delphische Orakel über seine Nachkommenschaft befragte und missversteht, noch überhaupt nicht als Seher tätig war. Umso größer ist für Herodot sicher die Notwendigkeit zu einer plausiblen Begründung für die Wahl des – völlig unerfahrenen – Ora-

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kelpriesters auf Seiten der Spartaner gewesen. Anders als Pritchard (2012) 212, der fälschlicherweise meint, Teisamenos sei als Orakelpriester für die Spartaner attraktiv gewesen, weil er aus dem Sehergeschlecht der Iamiden (daneben im Übrigen auch verbunden mit einem zweiten, auf Melampus zurückgehenden Sehergeschlecht der Klytiaden, vgl. Foster (2018) 36) stammte, ist mit Flower (2008) ins Feld zu führen, dass der Ruhm der Iamiden sich vielmehr vice versa erst auf den Erfolg des Teisamenos an der Seite der Spartaner gründet. Vielmehr ist es allein das delphische Orakel, das den anderweitig nicht persönlich als weise oder mantisch begabt ausgezeichneten Teisamenos zum verlässlichen Talisman (Foster (2018) 37 f.) für die Spartaner weiht. Erst mit jenem Orakelspruch erlangt der Eleate – gleichsam nach göttlichem Willen – jene Gabe, die ihm und den Spartanern die prophezeiten fünf Kriegssiege bescheren würde. Literatur: Vgl. zu der Teisamenos-Episode und ihrer Funktion innerhalb der Darstellung Herodots Kindt (2016) 46 f.; Dillon (2017) 94. Dann besonders ausführlich zur Figur des Teisamenos, seiner Verbindung zu den Spartanern und seiner „Karriere“ als Seher Foster (2018) 35–45.

56 Orakel für Siphnos Hdt. 3,57, Wilson; AP XIV 82 Ἀλλ’ ὅταν ἐν Σίφνῳ πρυτανήια λευκὰ γένηται λεύκοφρύς τ’ ἀγορή, τότε δὴ δεῖ φράδμονος ἀνδρὸς φράσσασθαι ξύλινόν τε λόχον κήρυκά τ’ ἐρυθρόν. Aber wenn in Siphnos das Prytaneion weiß ist und die Agora weiß umzäunt, dann ist es Sache des wachsamen Mannes, sich vor dem hölzernen Feind und dem roten Herold zu hüten.

Form: 3 Hexameter Kontext: Als die Samier dringend Geld benötigten, reisten sie zu der Insel Siphnos, die aufgrund eigener Goldvorkommen sehr reich war. Sie schickten Boten (auf Schiffen) mit der Bitte um zehn Talente. Als die Siphnier dies ablehnten, verwüsteten die Samier das Land und es kam zu einem Kampf, in welchem die Siphnier unterlagen. Schließlich mussten sie einhundert Talente Lösegeld zahlen. Vor diesem Vorfall hatte sie ein Orakel gewarnt, welches sie in Delphi – bei der Errichtung ihres Schatzhauses – auf die Frage nach der Beständigkeit ihres Glücks erhalten hatten.

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Erklärung: Das Orakel verkündet den Abbruch des bisher beständigen Glücks der Stadt für einen bestimmten Zeitpunkt. Bei dessen Umschreibung steht die Metapher von dem ξύλινον λόχος im Zentrum. vv. 1–2a: Der Zeitpunkt des Umschwungs wird zunächst grob zeitlich eingegrenzt. λευκός waren offenbar sowohl das Prytaneion als auch die Markthalle zu einer bestimmten Zeit tatsächlich im wörtlichen Sinne, insofern sie aus weißem (parischem) Marmor bestanden (τοῖσι δὲ Σιφνίοισι ἦν τότε ἡ ἀγορὴ καὶ τὸ πρύτανήιον Παρίῳ λίθῳ ἠσκημένα, 3,57). Im übertragenen Sinne soll diese temporale Kondition wohl bedeuten „wenn Siphnos den Höhepunkt seines Wohlstandes erreicht hat“, denn weißer Marmor an den öffentlichen Bauten deutet auf ausgesprochen großen Reichtum hin. v. 2b: Hier deutet das Orakel die intellektuelle Kapazität an, die für das Verständnis des rätselhaften Orakels notwendig ist. Nur der φράδμων ἀνήρ wird den Spruch richtig deuten und sich zur rechten Zeit in Acht nehmen. v. 3: Der Schluss des Orakels ist metaphorisch. Der ξύλινος λόχος steht für das hölzerne Schiff, auf dem die Boten der Samier nach Siphnos kommen. Es liegt eine kausative Enallage vor, denn hölzern ist im wörtlichen Sinne nicht der Feind (die Samier selbst), sondern das Transportmittel, das er benutzt. Und zum Feind wird es auch erst in zweiter Instanz: Dann sind es mehrere Schiffe, die die kämpfenden Samier auf die Insel bringen. Auch für diese kann der singularische Ausdruck – als Verallgemeinerung – stehen. Ebenso verhält es sich mit dem κῆρυξ ἐρυθρός. Der auf dem Botenschiff eintreffende Gesandte ist nicht selbst rot. Dies trifft auf die Schiffskörper zu, die laut Herodot in alter Zeit stets rot gefärbt waren (τὸ δὲ παλαιὸν ἅπασαι αἱ νέες ἦσαν μιλτηλιφέες, 3,58). Die Formulierung suggeriert einem Rezipienten u. U., dass es sich um zwei unterschiedliche Personen, einen Feind und einen Herold, handelt. Dafür, dass beide Ausdrücke miteinander zu identifizieren und auf das Schiff bzw. auf die Schiffe der Samier zu deuten sind, gibt es keinen direkten Hinweis. Herodot schildert das Orakel als von den Siphniern vollkommen unverstanden – selbst noch im Anblick der herannahenden Samier (τοῦτον τὸν χρησμὸν οὐκ οἷοί τε ἦσαν γνῶναι οὔτε τότε ἰθὺς οὔτε τῶν Σαμίων ἀπιγμένων, 3,58). Gleichsam als Strafe für die misslungene Rätsellösung folgt die Niederlage im Kampf, als deren Folge sie den Samiern einhundert Talente Gold zahlen müssen. Intertextuelle Verweise: Vgl. zu der Metapher vom hölzernen Feind (ξύλινος λόχος) das Orakel an Athen vor der Seeschlacht von Salamis, welches die ganz ähnliche Metapher von den (eigenen) Schiffen als hölzerne Mauer (ξύλινον τεῖχος) verwendet (AP XIV 93 = Hdt. 7,141).

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57 Orakel an die Bakchiaden über die Geburt des Kypselos Hdt. 5,92β, Wilson; AP XIV 871 αἰετὸς ἐν πέτρῃσι κύει, τέξει δὲ λέοντα καρτερὸν ὠμηστήν· πολλῶν δ’ ὑπὸ γούνατα λύσει. ταῦτά νυν εὖ φράζεσθε, Κορίνθιοι, οἳ περὶ καλὴν Πειρήνην οἰκεῖτε καὶ ὀφρυόεντα Κόρινθον. Ein Adler im Gebirge geht schwanger, er wird aber einen Löwen hervorbringen, einen starken mordlustigen, der wird vielen die Knie lösen. Das bedenkt nun sorgfältig, Korinther, die ihr das schöne Pirene bewohnt und das hochaufragende Korinth.

Form: 4 Hexameter Kontext: Das korinthische Herrschergeschlecht der Bakchiaden erhält vor der Geburt des Kypselos ein Orakel, welches sinngleich (Untergang der Bakchiaden) mit dem späteren Orakel an Eetion (Hdt. 5,92γ; AP XIV 86) ist. Es enthält den Hinweis auf eine bevorstehende Gefahr, bleibt allerdings unverstanden, bis sich im Kontext des zweiten Orakels erschließt, wer der bedrohliche Löwe sein würde (πρότερον ... ἄσημον ... τοῦτο μὲν δὴ τοῖσι Βακχιάδῃσι πρότερον γενόμενον ἦν ἀτέκμαρτον, τότε δὲ τὸ Ἠετίωνι γενόμενον ὡς ἐπύθοντο, αὐτίκα καὶ τὸ πρότερον συνῆκαν ἐὸν συνῳδὸν τῷ Ἠετίωνος, 5,92βγ). Erklärung: Das rätselhafte Orakel vom Sturz der Bakchiaden durch den Eetion-Spross Kypselos dreht sich im Kern um die metaphorische Dimension der Tierbezeichnungen αἰετός und λέων sowie um den homonymen Begriff πέτρα. v. 1a: Der Adler (αἰετός), der als Tier des Vorzeichens geradezu das personifizierte Rätsel ist, ist metaphorisch. Auf diesen Umstand deutet die angekündigte paradoxe Geburt des Löwen hin, die im wörtlichen Sinne unter keinen Umständen auf einen Adler zurückgehen kann. Die Metapher vom schwangeren Adler hat die folgenden beiden Dimensionen: 1. Da der Adler Subjekt zu dem nur von Frauen gebrauchten κύειν ist, muss die Metapher primär für Labda stehen; vgl. die ausdrückliche Entsprechung Λάβδα κύει in dem später an Eetion gerichteten Orakel (AP XIV 86). Eine solche Benennung ausgerechnet der lahmen Labda als Adler ist nichtsdestoweniger erklärungsbedürftig:

1 Die AP überliefert nur die vv. 1–2 des Orakels, die Herodot in identischem Wortlaut führt und um zwei weitere Verse ergänzt.

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a) Der Adler ist – wie Labda – zu Fuß schlecht, d. h. lahm, in der Luft aber, wo er seine Füße nicht benutzen muss (ἄπους = κύψελος) äußerst flink und majestätisch; vgl. Hornblower (2013) 259 nach Bechtel (1917) 583 mit der Hypothese, dass Κύψελος eigentlich ein Vogelname ist. b) Der Adler nistet auf Felsen (ἐν πέτρῃσι), wo seine Jungen zur Welt kommen. So auch Labda: Ihren Sohn bringt sie offenbar in Πέτρα, der Heimat ihres Mannes, zur Welt, denn dort suchen sie die Schergen der Bakchiaden nach der Geburt auf, um Kypselos zu töten (5,92γ). Und auch (Akro-)Korinth selbst dürfte wohl als Felsen durchgehen. Vgl. ferner die sprichwörtliche Formulierung αἰετοῦ ἐν νεφέλῃσιν (Aristoph. Av. 987), zur Bezeichnung von etwas außerhalb der Reichweite Liegendem als Hinweis auf den Ort. Neben dem homonymen Städtenamen spielt die Formulierung ἐν πέτρῃσι κύειν zudem deutlich mit der aus dem zweiten Orakel (AP XIV 87) bekannten Formulierung „mit einem Stein schwanger sein“. c) Der Adler als Tier der Könige steht als Vorzeichen dafür, dass Kypselos die Herrschaft an sich reißen und sein Geschlecht zu einem königlichen machen wird. Hierbei steht die Lahmheit der Mutter nicht im Wege. Vielmehr war sie sogar vielfach als dämonisches Anzeichen von Begabung und Macht angesehen, vgl. Ogden (1997) bes. 87–94. Obwohl Eetion grammatikalisch selbst nicht Subjekt zu κύει sein kann, kann doch die Nähe seines Namens, Ἠετίων, dorisch Ἀετίων ἐκ Πέτρης, zu dem des Adlers, αἰετός = ἀετός (ἐν πέτρῃσι), kaum zufällig sein. So stößt die lautliche Ähnlichkeit vielleicht wenigstens die richtige Assoziationskette an.

v. 1b: Auch der adlergeborene Löwe ist metaphorisch. Er steht für Kypselos. Die Metapher beruht ähnlich wie die vom rollenden Stein (AP XIV 86) auf einer Analogie der Wirkung bzw. Funktion. Sie steht für Macht, Stärke, Königlichkeit und Gewalt. Als Raubtier wird Kypselos wie ein Löwe seine Feinde erbarmungslos töten. v. 2: Durch Nennung typischer Charakteristika des Löwen wird die Metapher weiter expliziert. Kypselos wird sich verhalten wie ein Löwe. vv. 3–4: Die zweite Hälfte des Orakelspruchs (nicht überliefert in AP XIV 87) enthält eine direkte Ansprache an die Bakchiaden als Rezipienten und eine allgemeine Warnung. Die Erwähnung ihrer Heimat, insbesondere das Attribut ἐφρυόεις jedoch kann als echter Hinweis darauf gelten, dass es sich um einen heimischen Adler, d. h. um eine Frau aus den eigenen Reihen handelt. Als einer kommt, der (fast) den Namen „Adler“ trägt und Labda ausgerechnet mit nach Πέτρα nimmt, müssten die Bakchiaden eigentlich schon nach die-

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sem Orakel hellhörig werden. In ihrem Sinne wäre sogar, Labda intern zu verheiraten, um die Geburt des Löwen bzw. des rollenden Steins von vornherein zu unterbinden. Doch erst in Verbindung mit dem zweiten Orakel kommt ihnen die Erkenntnis (συνῆκαν ἐὸν συνωιδόν). Der Plan, den Sohn des Eetion noch als Kleinkind zu töten, wird allerdings nicht umgesetzt, weil die ausgesandten Männer, als sie von dem Kind angelacht werden, es nicht über sich bringen und das Baby am Leben lassen. Als sie sich umentscheiden wollen, hat Labda das Kind bereits in einer Kiste (κυψέλη) versteckt (5,92δ). Intertextuelle Verweise: Drei Orakel kreisen um den Sturz des Bakchiaden-Geschlechts und die Herrschaft des Kypselos über Karinth. Das chronologisch früheste, bei Herodot jedoch an zweiter Stelle berichtete Orakel vom adlergeborenen Löwen an die Bakchiaden (Hdt. 5,92β = AP XIV 87) und das zeitlich darauf folgende Orakel vom rollenden Stein an Eetion (Hdt. 5,92α = AP XIV 86) umschreiben metaphorisch, was das dritte Orakel von der Herrschaft über Korinth an Kypselos selbst ohne Rätsel ausdrücklich verkündet: Kypselos wird die Bakchiaden stürzen und über Korinth herrschen, ebenso seine Kinder (Periander), nicht jedoch das Geschlecht seiner Enkel: ὄλβιος οὗτος ἀνὴρ ὃς ἐμὸν δόμον ἐσκαταβαίνει, Κύψελος Ἠετίδης, βασιλεὺς κλειτοῖο Κορίνθου αὐτὸς καὶ παῖδες, παίδων γε μὲν οὐκέτι παῖδες. (5,92γ)

Vgl. zu Kypselos und Eetion ferner Paus. 2,4,4. 5,18,7; Nikolaus von Damaskus, FGrH 90 F 57 Jacoby. Literatur: Hornblower (2013) 260.

58 Das οὖτις-Rätsel des Odysseus Hom. Od. 9,364–370, West Κύκλωψ, εἰρωτᾷς μ’ ὄνομα κλυτόν, αὐτὰρ ἐγώ τοι ἐξερέω· σὺ δέ μοι δὸς ξείνιον, ὥς περ ὑπέστης. Οὖτις ἐμοί γ’ ὄνομα· Οὖτιν δέ με κικλήσκουσιν μήτηρ ἠδὲ πατὴρ ἠδ’ ἄλλοι πάντες ἑταῖροι.“ ὣς ἐφάμην· ὃ δέ μ’ αὐτίκ’ ἀμείβετο νηλέϊ θυμῶι· „Οὖτιν ἐγὼ πύματον ἔδομαι μετὰ οἷσ’ ἑτάροισιν, τοὺς δ’ ἄλλους πρόσθεν· τὸ δέ τοι ξεινήϊον ἔσται. Du fragst, Kyklop, nach meinem berühmten Namen? Ich aber will ihn dir verraten; du aber gib mir ein Gastgeschenk, wie du es versprochen hast.

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‚Niemand‘ ist mein Name; ‚Niemand‘ nennen mich nämlich Mutter und Vater und alle anderen Gefährten.“ So sprach er, der aber antwortete sogleich mit mitleidlosem Sinn: „Niemand werde ich zuletzt essen nach den Gefährten, die anderen vorher. Dies soll dein Gastgeschenk sein.

Form: 7 Hexameter Erklärung: Das Rätsel liegt in der Antwort. Denn eine Frage hatte Polyphem beim ersten Zusammentreffen in der Höhle gestellt (9,252). Der Kyklop fragt, wer und woher, vielleicht auch wohin (253) Odysseus und seine Gefährten (unterwegs) sind. Zunächst gibt Odysseus eine allgemeine und unverfängliche Antwort, indem er sich und seine Gefährten als Griechen aus Troja ausweist. Dann erkundigt sich Polyphem noch einmal – aus scheinbarer Höflichkeit – direkt nach Odysseus’ Namen (9,355 f.), weil dieser ihm guten Wein anbietet. Als Odysseus sich als niemand(en) (οὖτις) bezeichnet, gibt er an den Kyklopen gleichsam die Rätselfrage „Wer bin ich?“ zurück, die dieser jedoch nicht erkennt. Er weiß natürlich nicht, wie recht er mit seiner Aussage „Niemand(en) werde ich zuletzt fressen“ (369) haben wird, denn wenn man οὖτιν hier nicht als Eigennamen versteht, sieht man es klar: Zum Schluss wird Polyphem niemanden mehr fressen, weil Odysseus und seine Gefährten dann geflohen sein werden. 401–412 kann Polyphem sich den anderen Kyklopen nicht mitteilen, weil er οὖτις noch immer als Namen versteht und so, ohne es zu wissen, die Fragen der anderen, ob ihm jemand Gewalt antue, verneint, indem er οὖτις als Täter benennt. Nicht ganz rätseltypisch scheint, dass es für Odysseus und seine Gefährten ja gerade darauf ankommt, dass Polyphem nicht versucht, das Rätsel zu lösen, d. h. dass er nicht erkennt, dass die Antwort ein Rätsel und οὖτις kein Name ist. Andererseits gleicht das einem gescheiterten Lösungsversuch und den wiederum versuchen ja die meisten Rätselsteller zu provozieren. Vgl. außerdem andere Rätsel, bei denen eine besondere Schwierigkeit ebenfalls darin besteht, zu erkennen, was überhaupt die Frage ist, bes. etwa das Rätsel vom „Mann Diomedes“ (AP XIV 18), dessen Rätselfrage vordergründig als unauffällige, plausible Aussage erscheint. Rätseltypisch ist das Wissensgefälle zwischen dem klugen, listigen Odysseus als Rätselsteller und dem plumpen, einfältigen Kyklopen als Rätsellöser. Damit harmoniert, dass der Rätselsteller, also Odysseus, das Rätsel schließlich auflöst, weil der Rätsellöser dazu nicht in der Lage ist (vgl. bes. pointiert, dass Polyphem mit seiner Aussage „Niemand(en) werde ich zuletzt fressen“ recht hat, ohne es zu wissen). So erklärt sich, dass Odysseus gegen jede Vernunft und den Rat seiner Gefährten schließlich bei der Flucht von der Kyklopeninsel seinen wahren Namen doch noch preisgibt. Durch die Nennung der Lösung wird

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der Rätselprozess psychologisch beendet und der Rätselsteller macht die ihm gebührende Autorität geltend – Odysseus erhält die Anerkennung für die spektakuläre Flucht, die er ins Werk gesetzt hat. Wie viele andere Rätsel bezieht sich auch das οὖτις-Rätsel auf prinzipiell Bekanntes, das unter einem besonderen Gesichtspunkt neu entdeckt werden muss: Denn Polyphem wusste bereits aus einer Prophezeiung (9,507–512), er würde sein Auge durch einen Odysseus verlieren. Spätestens als er geblendet ist und die anderen Kyklopen ihn fragen, könnte er aus dem, was er weiß, darauf schließen, dass οὖτις für Ὀδυσσεύς steht. Verrätselungsmechanismus: Man ist nicht abgeneigt, zu fragen, ob die Antwort des Odysseus nicht eher schon eine Lüge als ein Rätsel ist. Denn berühmt (364) ist sein Name zwar, jedoch nur sein echter. Aus den Epen wissen wir nichts über einen alternativen Namen Οὖτις, bei dem ihn, wie er hier behauptet, alle nennen (366 f.). Und doch lässt sich die Antwort des heldenhaften Seefahrers in zweierlei Hinsicht als sachlich korrekt erweisen. (1) Plausibel ist Odysseus’ Behauptung insofern, als dass er jemand ist, den es eigentlich gar nicht gibt bzw. geben kann: Jemand, der so viele Abenteuer besteht, dass seine Existenz derart unmöglich ist, dass er – selbst von seinen Angehörigen – (beinahe) für tot gehalten wird. Niemand scheint diese Eigenschaften tatsächlich für sich in Anspruch nehmen zu können. Ferner ist er bei seiner Rückkunft in Ithaka zuerst ein Niemand, ein Niederer, als er in der Gestalt eines Bettlers auftritt. (2) Es ist sicher die klangliche Ähnlichkeit im Anlaut der beiden Namen kein Zufall. Wie Ziegler (1962b) mit Verweis auf entsprechende etruskische Namensformen zeigt, ist durchaus denkbar, dass Οὖτις als Verballhornung oder Kosename des eigentlichen Rufnamens fungierte. Es wäre in diesem Sinne vorstellbar, dass der Herrscher von Ithaka durch seine Eltern und Freunde (367) tatsächlich als Οὖτις bezeichnet zu werden pflegt – auch wenn das Epos auf eine solche Benennung keine weiteren Hinweise gibt. Gestützt wird die Hypothese von einem Wortspiel mit dem dann als Homonym (Personenname – Pronomen) zu denkenden οὖτις m. E. auch durch die Formulierungen im Kontext des eigentlichen Rätsels. Als Polyphem vor Schmerz an seinem geblendeten Auge brüllt und die anderen Kyklopen der Insel wegen des auf diese Weise entstandenen Lärms zu seiner – verschlossenen – Höhle gelangen, ereignet sich die folgende Szene (9,403–414): „τίπτε τόσον, Πολύφημ᾽, ἀρημένος ὧδ᾽ ἐβόησας νύκτα δι᾽ ἀμβροσίην καὶ ἀΰπνους ἄμμε τίθησθα; ἦ μή τίς σεο μῆλα βροτῶν ἀέκοντος ἐλαύνει; ἦ μή τίς σ᾽ αὐτὸν κτείνει δόλωι ἠὲ βίηφιν;“ τοὺς δ᾽ αὖτ᾽ ἐξ ἄντρου προσέφη κρατερὸς Πολύφημος·

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„ὦ φίλοι, Οὖτίς με κτείνει δόλωι, οὐδὲ βίηφιν.“ οἱ δ᾽ ἀπαμειβόμενοι ἔπεα πτερόεντ᾽ ἀγόρευον· „εἰ μὲν δὴ μή τίς σε βιάζεται οἶον ἐόντα, νοῦσον γ᾽ οὔ πως ἔστι Διὸς μεγάλου ἀλέασθαι. ἀλλὰ σύ γ᾽ εὔχεο πατρὶ Ποσειδάωνι ἄνακτι.“ ὣς ἄρ᾽ ἔφαν ἀπιόντες· ἐμὸν δ᾽ ἐγέλασσε φίλον κῆρ, ὡς ὄνομ᾽ ἐξαπάτησεν ἐμὸν καὶ μῆτις ἀμύμων. „Was widerfuhr dir, Polyphem, dass du so brüllst durch die ambrosische Nacht und uns aus dem Schlaf reißt? Ist da etwa einer von den Menschen, der dir gegen deinen Willen deine Schafe davontreibt? Oder rückt etwa einer dir selbst zu Leibe mit List oder Gewalt?“ Ihnen aber entgegnete aus der Höhle der starke Polyphem: „Freunde, Niemand verletzt mich durch eine List, nicht mit Gewalt.“ Die aber antworteten und entgegneten die geflügelten Worte: „Wenn dir keiner Gewalt antut, eine von Zeus, dem Großen gesandte Krankheit lässt sich nicht anders heilen, als dass du zu deinem Vater, dem Herrn Poseidon flehst.“ So sprachen sie und gingen fort, mir aber lachte das liebe Herz, weil mein untadeliger Name und meine Schläue ihn getäuscht hatten.

Gleich zweimal verwenden die Kyklopen, die Polyphem nach seinem Befinden befragen, zur Einleitung ihrer Frage die Floskel ἦ μή (τίς), weil sie nicht erwarten, dass der Kyklop tatsächlich von einem Menschen beraubt oder verletzt wurde. Durch Synkrasis, ein durchaus beliebtes lautliches Rätselmotiv (vgl. Quint. inst. 7,9,4 mit Ohlert (21912) 6–8; Pepicello (1980) 3–6), klingt nun aus der Formulierung das fragende ( 405 f.) bzw. konditional wiederholte (410) Pronomen μήτις heraus. Da es sich um eine – grammatikalisch bedingte – Variation des (vermeintlichen) Pronomens οὖτις (408) handelt, das Polyphem im Sinne der vorliegenden Täuschung, von den anderen Kyklopen unerkannt, jedoch als Personennamen verwendet, scheitert die Kommunikation zwischen den ungeheuerlichen Gestalten. Doch endet das Wortspiel nicht bereits im Changieren zwischen den beiden Negatoren μή und οὐ. Odysseus selbst lobt seinen Namen und seine Klugheit (414), durch die ihm die Flucht gelang. In der Erwähnung seiner μῆτις liegt dabei freilich eine besondere Pointe: μῆτις ist lautlich identisch mit μήτίς (bzw. μή τίς), μήτις ist synonym mit οὖτις (bzw. Οὖτις) und Οὖτις schließlich steht als Kurz- oder Koseform für Ὀδύσσευς. ὄνομα und μῆτις (414) sind dementsprechend identisch, Odysseus Name ist seine Klugheit, das eine zeigt sich durch das und in dem anderen. Intertextuelle Verweise: Vgl. Theokrits Figurengedicht von der Syrinx (AP XV 21), wo Odysseus als οὐδείς verrätselt ist. Ferner: Eur. Cykl. 548–675; Aristoph. Vesp. 184 f.; Lukian. dial. marini 2.

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Literatur: Zu dem lexikalischen Zusammenhang des „Kosenamen“ Οὖτις und dem eigentlichen Rufnamen Odysseus vgl. Ziegler (1962a) 1894; Ziegler (1926b) 396–298; Wöhrmann (1963) 549.

A. I. 1.3 Ersetzung des Rätselobjekts durch ein willkürliches Element 1 Rätsel vom Schiff AP App. VII 41 Cougny; Psellos 14, Anecd. Gr. III, p. 434 Boiss.; S 72 Ζῶόν τι πεζὸν, ἀλλὰ νηκτὸν, εὑρέθη ἔμψυχον, ἀλλ’ ἄψυχον, ἔμπνουν, ἀλλ’ ἄπνουν, ἕρπον, βαδίζον, καὶ πτεροῖς κεχρημένον. Ἄκουε, καὶ θαύμαζε, καὶ δίδου λύσιν. Es ist ein gewisses fußläufiges Tier erfunden worden, was jedoch schwimmen kann, beseelt und doch ohne Seele, mit Vernunft und doch ohne Vernunft, schleichend, gehend und im Gebrauch von Flügeln. Höre und wundere dich und gib die Lösung an!

Form: 4 byzantinische Senare Erklärung: Aus der auktorialen Erzählperspektive wird das Schiff (ναῦς) als Rätselobjekt im Hinblick auf seine Fortbewegung und seine Besatzung beschrieben. v. 1: ζῷον steht hier für ναῦς in der allgemeinen Bedeutung „Ding“ oder „Gegenstand“. Als lebendig lässt sich das Schiff eventuell im Hinblick auf Holz als sein Material bezeichnen, das gewachsen und somit im übertragenen Sinne lebendig ist. Eine enge innere bzw. inhaltliche Verbindung zwischen beiden Begriffen gibt es jedoch im strengen Sinne nicht. Dagegen wird durch diese Attribuierung schon auf v. 2 vorausgewiesen, der sich auf die lebendige, menschliche Besatzung des Schiffs bezieht. Es ist also lebendig auch in dem Sinne, dass es Lebendige enthält. πέζον und νηκτόν bilden einen (leichten) Gegensatz, sind aber gedanklich nicht ganz unvereinbar. Schließlich gibt es Meerestiere mit Füßen oder wenigstens mit Flossen (wofür ποῦς verallgemeinernd ebenfalls stehen könnte). v. 2: Hier liegen zwei einander inhaltlich direkt entsprechende Paradoxa vor, die aus der Verbindung der widersprüchlichen Eigenschaften a: ἔμψυχον und b: ἄψυχον bzw. ἔμπνουν und ἄπνουν entstehen (verletzter Satz vom Widerspruch). Denkbar scheint eine Anspielung auf die Schiffe der Phaiaken, die dafür bekannt waren, ohne Steuermann, gleichsam nach eigenem Willen fahren zu können; vgl. Hom. Od. 8,557–563 über die Schiffe der Phaiaken, die über das

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Meer fahren, als hätten sie Flügel (vgl. v. 3). Denkbar ist auch, dass die menschliche Besatzung als lebendiger Teil des ansonsten als Gegenstand leblosen Schiffes gemeint ist. v. 3: Die Zusammenstellung der drei Fortbewegungsarten beschreibt eine gewisse Klimax von langsamer, schleichender, über mittlere bis hin zu schneller, fliegender Geschwindigkeit. Es handelt sich um die für das Schiff wetterabhängigen Fortbewegungsarten treiben (bei Flaute), rudern und segeln: a) ἕρπω (sich langsam bewegen, gehen): Gemeint ist hier wohl die gleichmäßige, gemächlich wirkende Bewegung, bes. bei Flaute. Mit Rückbezug auf πέζον wird ἕρπω beinahe synonym mit dem folgenden βαδίζον. b) βαδίζον ((zu Fuß) gehen): Umschrieben wird die Fortbewegung bei mittlerer Geschwindigkeit. Bei Rückbezug auf πέζον werden die Füße zu Rudern, die für das Schiff als Körper (auch in diesem metaphorischen Sinne ein ζῷον) dieselbe Funktion (Fortbewegung) übernehmen wie die Füße für den menschlichen Körper. c) πτεροῖς κεχρημένον (Flügel nutzend, als Umschreibung für „fliegen“): Wie in b. stehen hier die Flügel sowohl ihrer Funktion als auch ihrer ungefähren Form nach metaphorisch als Körperglied für die Segel, welche die schnellste Fortbewegung ermöglichen. Dass nicht direkt πέτεσθαι, sondern die indirektere Umschreibung gewählt ist, trägt dem Analogiecharakter Rechnung. Schließlich fliegt ein Schiff nicht im engeren Sinne (durch die Luft), sondern bewegt sich „wie im Fluge“. Es mag jedoch diese Zusammenstellung der Fortbewegungsarten fälschlicherweise auch an die berüchtigte Sphinx als Mischwesen gemahnen; vgl. das Rätsel, in dem die Sphinx mit den ihren heterogenen Körperteilen entsprechenden Fortbewegungsarten selbst zum Rätselobjekt wird (AP XIV 63). v. 4 enthält einen direkten Lösungsaufruf an den Rezipienten.

2 Rätsel von dem, was seinen Schild wegwirft Aristoph. Vesp. 15–23, Wilson Ξα.

ἐδόκουν αἰετὸν καταπτάμενον εἰς τὴν ἀγορὰν μέγαν πάνυ ἀναρπάσαντα τοῖς ὄνυξιν ἀσπίδα φέρειν ἐπίχαλκον ἀνεκὰς εἰς τὸν οὐρανόν, κἄπειτα ταύτην ἀποβαλεῖν Κλεώνυμον. Σω. οὐδὲν ἄρα γρίφου διαφέρει Κλεώνυμος. Ξα. πῶς δή; Σω. προερεῖ τις τοῖσι συμπόταις, λέγων

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ὅτι “ταὐτὸν ἐν γῇ τ’ ἀπέβαλεν κἀν οὐρανῷ κἀν τῇ θαλάττῃ θηρίον τὴν ἀσπίδα.” X:

S: X: S:

Ich erträumte einen großen Adler, der auf die Agora hinabstieß und einen bronzenen Schild ganz in seine Klauen nahm und in den Himmel hinauftrug und es dann als Kleonymos wegwarf. Kleonymos unterscheidet sich also um nichts von einem Rätsel. Inwiefern? Es könnte jemand seine Symposionsgesellen befragen, indem er sagt: „Ein und dasselbe Tier wirft seinen Schild fort auf der Erde, am Himmel und im Meer.“

Form: 8 iambische Trimeter Kontext: In den Wespen wird komische Kritik am Athener Justizwesen und der ausgeprägten Prozesssucht vieler Athener geübt. Angespielt ist auf Kleon und dessen Anhänger, hier im Besonderen auf den als prozesssüchtig und bestechlich verschrienen Philokleon. Dessen Sohn, der den sprechenden Namen Bdelykleon trägt, verachtet die Unart seines Vaters und versucht, ihn zu heilen. Weil ihm keine andere Möglichkeit bleibt, lässt er ihn von zwei Sklaven in seinem Haus einsperren, um ihn von den Gerichten fernzuhalten. Die beiden Sklaven Sosias und Xanthias bewachen das Haus, schlafen aber abwechselnd vor Müdigkeit ein und träumen. Die Nacherzählung und Deutung ihrer Träume gleicht dem Stellen und Lösen eines Rätsels; vgl. zur Traumdeutung im Kontext des Rätsels auch Bordier (1991) 312 f. Erklärung: vv. 15–19: Xanthias träumt von einem Adler, der einen Schild zunächst aufhebt und dann aus der Luft fallen lässt; vgl. Hom. Il. 12,200–207 mit dem Vogelzeichen von einem in der Luft mit einer großen Schlange (Griechen) kämpfenden Adler (Trojaner), der die Schlange schließlich fallen lassen muss. Es ist in ἀσπίς (v. 17) jene Schlange mit dem Schild des aristophanischen Traums verbunden, denn das Homonym bezeichnet (1) den Schild und (2) die Schildotter oder Aspisschlange. Xanthias selbst stellt die Analogie zu einem gewissen Kleonymos her, der gemeinhin als feige bekannt war und – besonders von Aristophanes (Lenz (2014) 69) – dafür verspottet wurde. So soll er – analog zu dem Adler im Traum – seinen Schild in einer Schlacht weggeworfen haben, um zu fliehen; vgl. Nub. 353. Eq. 1372. Pax 446. 673 ff. 1295 ff. Av. 290. 1473 ff. Soweit handelt es bei dem Adler um ein rätselhaftes Symbol, welches im übertragenen Sinne für Kleonymos steht. Die Übertragung beruht auf einer einfachen Analogie der Relation des gesuchten Objekts zu dem Schild. vv. 20–23: Interessant ist die Antwort des Sosias, der aus jener Analogie ein Rätsel ableitet, dessen Lösung Kleonymos ist (οὐδὲν γρίφου διαφέρει Κλεώνυ-

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μος). So könne man bei einem Symposion nach einem Wesen (ταὐτὸν θηρίον) fragen, welches auf der Erde, in der Luft und im Meer, d. h. also überall, seinen Schild wegwirft. Dieser Rätselentwurf gemahnt an das viel ältere kosmologische Rätsel (Was ist dasselbe am Himmel, auf der Erde und im Meer? Lösung: Adler, Schlange, Bär, deren Bezeichnung jeweils für ein Sternbild, ein Landlebewesen und ein Meerestier steht), das Athen. X 453b überliefert, nimmt jedoch eine andere Wendung. Anders als in dem alten Rätsel, und anders als hier vielleicht zunächst suggeriert, ist hier nicht nach einem homonymen Begriff gefragt, der drei Wesen bezeichnet, die alle in unterschiedlicher, u. U. auch metaphorischer Form einen Schild wegwerfen. Vielmehr liegt die Lösung des spontan ersonnenen Rätsels in der komischen Überspitzung der Feigheit des Kleonymos: Dieser selbst ist nämlich so feige, dass er überall und unter allen Umständen eher seinen Schild wegwerfen und fliehen als kämpfen würde. Es handelt sich somit um eine Art Scherzrätsel, das dem Witz sehr nahe kommt, wodurch dem allgemeinen Charakter der Komödie Rechnung getragen wird. Es braucht deshalb keiner strengen Logik zu folgen. Dass Kleonymos nicht wirklich auch in der Luft und im Meer seinen Schild weggeworfen hat, weil er dort gar nicht gekämpft hat, ist für die Pointe des Rätsels unerheblich. Literatur: Lenz (2014) 71 zu der Ähnlichkeit der beiden Rätsel. Storey (1989) 247–261 zum Spott über Kleonymos bei Aristophanes.

A. I. 1.4 Kategorie des Rätselobjekts annulliert A. I. 1.4.1 Ergänzt nur durch Bestandteile des Rätselobjekts 1 Rätsel von Pallas und Hephaistos AP XIV 53, Beckby; S 68 Ἡφαίστῳ ποτὲ Παλλὰς ὑπ’ ἀγκοίνῃσι δαμεῖσα εἰς εὐνὴν ἐμίγη Πηλέος ἐν θαλάμοις· τοὶ δ’ ὡς οὖν λιπαρῇσι καλυφθήτην ὀθόνῃσιν, αὐτίκ’ ἐγεννήθη νυκτιπόλος Φαέθων. Von Hephaistos’ kräftigen Armen ward einst Pallas bezwungen und im Gemach des Peleus verband sie sich ihm (sc. Hephaistos) im Bette; als aber sie sich also mit ölig schimmernden Laken bedeckten, wurde plötzlich der Nächtedurchwanderer Phaeton gezeugt.

Form: 2 elegische Distichen

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Erklärung: Das Rätsel von dem Licht in der Lampe, das von einem auktorialen Erzähler gestellt wird, ist von einer Häufung von Metonymien (causa pro effectu) bestimmt, die metaphorisch ausgedeutet werden müssen, um zur Lösung zu gelangen. Die derartige Personifikation der einzelnen Lampenteile lässt das Ganze wie eine Liebesgeschichte der Götter klingen. vv. 1–2: Pallas steht für das Öl des ihr geweihten Olivenbaums, Hephaistos als Schmiedegott für das Feuer und der Genitiv Πηλέος (von Πηλεύς) steht für πηλοῦ (des lautlich ähnlichen πηλός), der Sohn des Lehms ist wie schon im Rätsel vom Ölbaum (AP XIV 37) das irdene Lampengefäß, in dem Feuer Öl entzündet (das Öl ist als Verbranntes dem Brennenden unterlegen, δαμεῖσα, v.1) und so zum Licht der Lampe verbindet. Besonders irritierend an der Beschreibung ist auf der Bildebene die Angabe, die als Jungfrau bekannte Athene habe sich einem Mann hingegeben (und sogar ein Kind gezeugt, v. 4). vv. 3–4: Das zweite Verspaar führt die Umschreibung aus vv. 1–2 weiter aus, die beschriebenen Handlungen folgen aber nicht wirklich aufeinander, sondern verschmelzen in der Realität zu einer einzigen Handlung. Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Helios, steht hier für das erzeugte Licht der Lampe. Das Attribut νυκτιπόλος erscheint aufgrund seiner Abstammung vielleicht zunächst unpassend, da er gerade nicht mit der Nacht, sondern mit der Sonne des Tages eng verbandelt ist, doch vertreiben Helios und auch Phaeton selbst (Ov. met. 1,747–2,400) die Nacht mit ihrem Sonnenwagen, wenn sie die Morgenröte heraufziehen lassen; vgl. ferner den gleichnamigen Sohn (Phaeton) der Eos, den bezeichnenderweise Aphrodite, weil sie ihn liebte, zu einem nächtlichen Diener (νηοπόλος νύχιος) an ihrem Tempel machte (Hes. theog. 986–991). Nicht eindeutig ist die Deutung der λιπαρῇσι ὀυόνῃσιν, mit denen Athene und Hephaistos sich zudecken. Beckby deutet sie aufgrund des Materials auf den Docht der Lampe. Doch ist kaum verständlich, inwiefern καλύπτειν dann eine Analogie zu der tatsächlichen Handlung bilden könnte. Da λιπαρός das Schimmern bezeichnet, welches das Öl erzeugt, halte ich es für denkbar, dass hier erneut das Öl selbst gemeint ist, welches wie eine Decke auf dem Lampenboden liegt. Intertextuelle Verweise: Vgl. das sich inhaltlich stark unterscheidende paraphrasierende Rätsel von der Lampe, AP XIV 47. Literatur: Jacobs (1803) 346.

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2 Rätsel vom Versfuß (ποῦς) AP App. VII 27, Cougny Ἦν ὅτ’ ἔην βροτῷ εἴκελος ἄψεα ἠδὲ νόημα, καὶ νόος ἐστύγεεν πᾶσαν ἀγηνορίαν· αὐτὰρ ἔπειτ’ ἐδάην κενεὴν σοφίην καὶ τῦφον, καὶ πάντ’ ἤμειψα, χρῶτα, νόον, μέλεα. Δάκτυλον ἐκπάγλως πόδα, καὶ πόδα δάκτυλον ἴσχω· ὄμματά μοι ποῦς καὶ δάκτυλος, ἀνθερεὼν ποῦς, καὶ ξύμπαντα μέλη ποῦς, αὐτὰρ ὁ ποῦς οὔ μοι ποῦς· καὶ κεφαλὴν φορέω δακτύλῳ ἀντίθετον. Ich lebte, solange ich einem Sterblichen ähnlich war sowohl an Gliedern als auch an Verständigkeit, und mein Geist hasste allen Hochmut; aber, nachdem ich Weisheit als leeren Unsinn erkannt habe, habe ich mich auch vollständig verändert: Farbe, Geist, Glieder. Den Finger (δάκτυλος) habe ich auf wundersame Weise als Fuß und den Fuß (καὶ πόδα) als Finger; Die Augen (ὄμματα) sind mir ein Fuß, und zwar der Finger, das Kinn (ἀνθερεών) ein Fuß, und alle Glieder (μέλη) sind mir ein Fuß, nur der Fuß (ποῦς) ist mir kein Fuß; und den Kopf (κεφαλή) trage ich dem Finger entgegengesetzt.

Form: 4 elegische Distichen Erklärung: Das aus der Ich-Perspektive formulierte Rätsel vom Versfuß beruht auf dem homonymen ποῦς, der (1) den Fuß als menschliches Körperteil und (2) den Versfuß als metrische Einheit bezeichnet. Das Rätsel lässt sich in zwei Hälften teilen, von denen die erste (vv. 1–4) den homonymen Charakter des Wortes im Allgemeinen betrifft, während die zweite (vv. 5–8) doppeldeutige Formulierungen als Beispiele für den ποῦς als Versmaß anführt. vv. 1–4: Beschrieben sind hier offenbar die unterschiedlichen Charakteristika des Körperteils und des Versfußes. v. 1 bezieht sich auf den ποῦς als Körperteil eines Menschen (βροτός). Ähnlich (εἴκελος) ist der Fuß dem verständigen (νόημα) Menschen vielleicht, insofern er Teil von ihm ist. Ähnlich sind sich überdies das Körperglied „Fuß“ sowie die metrische Einheit „Versfuß“, insofern sie beide denselben (homonymen) Namen ποῦς tragen. Die vv. 2–3 scheinen sich auf die gedankliche Verschiebung von dem Fuß als Teil des vernunftbegabten Menschen auf den Versfuß als metrische (leblose) Einheit zu beziehen. v. 4 fasst diesen Unterschied zusammen: Fuß und Versfuß sind vollkommen verschieden – und tragen doch denselben Namen. vv. 5–8: Identifizierung verschiedener Körperteile, d. h. der Lautfolgen ihrer Bezeichnungen, als ποῦς im Sinne des Versfußes. Die Verbindung der vielen

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Körperteile führt leicht dazu, dass ποῦς fälschlicherweise im wörtlichen Sinne als Körperteil aufgefasst wird. Aus der (scheinbaren) Gleichsetzung mit anderen Körperteilen ergeben sich Oxymora, die das Rätselobjekt als merkwürdiges, nur aus Füßen bestehendes Wesen imaginieren lassen. v. 5: Hier ist mit den homonymen Begriffen ποῦς und δάκτυλος gespielt. Wie der (Vers-)Fuß bezeichnet nämlich auch der δάκτυλος sowohl den Finger als menschliches Körperglied als auch den Versfuß Daktylus, der aus einem langen und zwei kurzen Elementen zusammengesetzt ist. Das Wort δάκ-τυ-λος besteht aus einer eben solchen Silbenfolge, sodass die homonyme Bezeichnung zugleich ein Beispiel für den Versfuß bzw. das Metrum selbst ist. D. h. auch der Finger (δάκτυλος) lässt sich – im metrischen Sinne – als (Vers-)Fuß (ποῦς) bezeichnen. Auch die Wortfolge καὶ πό-δα besteht aus einer langen und zwei kurzen Silben, bildet also einen daktylischen Versfuß und lässt sich deshalb als δάκτυλος bezeichnen. Das Verständnis ist hier zusätzlich dadurch erschwert, dass nicht die beiden Begriffe ποῦς und δάκτυλος direkt miteinander in Verbindung gesetzt werden, sondern dass (a) das καὶ und (b) der Akkusativ πόδα zwingend notwendig sind, damit die Formulierung sinnvollerweise als δάκτυλος bezeichnet werden kann. Der Rezipient aber, der sich über diese metrische Herangehensweise nicht bewusst ist, kann nur von einer direkten Gleichsetzung zwischen ποῦς und δάκτυλος ausgehen. Die Schwierigkeit der Formulierung besteht also darin, dass für den Rezipienten nicht gekennzeichnet ist, wann ποῦς und δάκτυλος als metrische Termini eingesetzt sind und wann sie die Körperteile bezeichnen, sodass durch die gleichmäßige Auffassung aller Nennungen als Körperteile, die durch die in v. 1 genannten ἅψεα begünstigt ist, fälschlicherweise suggeriert wird, Finger und Fuß seien bei dem gesuchten Rätselobjekt vertauscht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Verwendung der (scheinbar) besitzanzeigenden Verbformen von ἔχειν. vv. 6–7: Hier werden nun nach dem in v. 5 eingeführten Muster die Bezeichnungen weiterer Körperteile als (Vers-)Fuß identifiziert, wodurch der kuriose Eindruck entsteht, das gesuchte Objekt besitze ausschließlich Füße als Körperteile. v. 6a: Die Augen als ὄμ-μα-τα sind aufgrund der Quantitätenfolge ihrer Silben (lang-kurz-kurz) als ποῦς καὶ δάκτυλος, d. h. als Versfuß, und zwar als Daktylus bezeichnet. Der epexegetische Charakter des καὶ löst die vordergründige Problematik, die Augen vermeintlich nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei anderen Körperteilen identifizieren zu müssen – δάκτυλος (als daktylisches Metrum) steht hier somit als Spezifizierung des ποῦς (als allgemeine Bezeichnung des Versfußes). Alle Begriffe als Körperteile verstanden, ergibt sich

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ein besonders unvorstellbares Bild, in welchem die Augen sowohl Fuß als auch Finger des gesuchten Objekts sind. Dieses irreführende Verständnis mag zusätzlich durch den Paarcharakter der Augen begünstigt sein, der den zwei genannten Gliedern zu entsprechen scheint. v. 6b: Auch das Kinn als ἀνθερεών wird nun als ποῦς bezeichnet. In der Tat gilt die Silbenfolge lang-kurz-kurz-lang (ἀν-θε-ρε-ών) als choriambischer Versfuß. v. 7: Verallgemeinernd und scheinbar zusammenfassend werden nun nach der Aufzählung der einzelnen Körpereile die Glieder als solche, die μέλη (als Entsprechung zu den ἅψεα, v. 1), als ποῦς bezeichnet. Gemeint sind dabei nicht tatsächlich alle Körperteile (oder deren Bezeichnungen), sondern vielmehr im ganz wörtlichen Sinne der Begriff μέλη, der mit der Quantitätenfolge kurz-lang (μέ-λη) einen Iambus darstellt. Besonders widersprüchlich wirkt sodann, dass als einziges Körperglied ausgerechnet der Fuß selbst nicht als Fuß gelten soll. In v. 5 aber war der Fuß ja bereits (scheinbar) zum Finger erklärt worden. Das Wort ποῦς aber, das aus einer einzelnen langen Silbe besteht, bildet für sich genommen tatsächlich keinen Versfuß. v. 8: Neben den vielen Füßen (und einem Finger, v. 5) wird dem Gesuchten auch ein Kopf (κεφαλή) zugeschrieben. Die Position des Kopfes ist jedoch scheinbar nicht zentral den Füßen als oberstes Körperglied dem untersten entgegengesetzt, da die Füße ja schließlich in diesem Falle auch überall zu sein scheinen, sondern dem einen Finger entgegengesetzt. Da der Finger in v. 5 ja nun gerade zum Fuße erklärt wurde, scheint die Gegenüberstellung jedoch vergleichsweise gerechtfertigt. Die eigentliche Lösung liegt jedoch erneut auf der metrischen Ebene: Der Begriff κε-φα-λή bildet mit seiner Quantitätenfolge kurz-kurz-lang als Anapäst ein Spiegelbild des Daktylus (lang-kurz-kurz) und ist ihm in diesem Sinne entgegengesetzt (ἀντίθετον). Intertextuelle Verweise: Vgl. AP XIV 15 auf den jambischen Trimeter, wo der Trimeter allerdings ausdrücklich in dem Text des in diesem Sinne rätsellosen Epigramms genannt ist. Literatur: Vgl. zu πούς als metrischem Begriff Schroeder (1929) 38; Gentili/Lomiento (2003) 47.

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A. I. 1.4.2 Ergänzt nur durch Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Orakel an Sparta über das Grab des Orestes Hdt. 1,67 Wilson; AP XIV 78 ἔστι τις Ἀρκαδίης Τεγέη λευρῷ ἐνὶ χώρῳ, ἔνθ’ ἄνεμοι πνείουσι δύω κρατερῆς ὑπ’ ἀνάγκης, καὶ τύπος ἀντιτύπῳ καὶ πῆμ’ ἐπὶ πήματι κεῖται· ἔνθ’ Ἀγαμεμνονίδην κατέχει φυσίζοος αἶα· τὸν σὺ κομισσάμενος Τεγέης ἐπιτάρροθος ἔσσῃ. Es liegt Tegea in der weiten Ebene von Arkadien, wo zwei Winde blasen unter großem Zwang, und Schlag liegt auf Gegenschlag und Leid liegt auf Leid; dort hält den Agamemnonsohn umschlossen die fruchtbare Erde; wenn du diesen heimholst, wirst du Bezwinger Tegeas sein.

Form: 5 Hexameter Kontext: Die im Kampf mit Tegea seit ihrem auf einem missverstandenen Orakel (AP XIV 76 = Hdt. 1,66) beruhenden Angriff stets unterlegenen Spartaner befragen das delphische Orakel, welchen Gott sie beschwichtigen müssen (τίνα ἂν θεῶν ἱλασάμενοι), d. h. was sie tun müssen, um das Schicksal zu wenden (1. Frage). Scheinbar unverschlüsselt (Herodot gibt nur eine Paraphrase), wenn auch nicht als direkte Antwort auf die eigentliche Frage (τίνα θεῶν), stellt das Orakel den Spartanern die Aufgabe, die Gebeine des Orestes nach Sparta zu holen (1. Antwort). Agamemnon galt als Ahnherr der Spartaner. Die Überführung von Orestes, dem Rächer des Agamemnon, zur Stärkung von Sparta ist somit im Sinne des Heroenkultes plausibel. Das versteckte Rätsel liegt darin, dass niemand den Ort des Grabes kennt, vgl. Soph. Oid. K. 1522. Weil die Spartaner das Grab nicht finden können, fragen sie das Orakel nach dessen Ort (2. Frage). Das in der ersten Antwort nur implizite Rätsel wird jetzt in Worte gekleidet und so mit einigen Hinweisen versehen (2. Antwort). Erklärung: Das metaphorische Rätsel kreist um die Schmiede, unter der die Gebeine des Orestes begraben sind. Die Schmiede ist im Hinblick auf die dort gebräuchlichen Werkzeuge umschrieben. v. 1: Zunächst grenzt das Orakel die Suche nach den Gebeinen räumlich ein, indem es den Großraum Tegea als Fundort nennt. Die Kraft der Gebeine wird damit bei ihrer Überführung nicht nur Sparta zugeschlagen, sondern zugleich auch Tegea abgezogen, sodass Spartas Macht die Tegeas schließlich übersteigt.

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v. 2: Der ἄνεμος, der gewöhnlich den (Nord-/Süd-/West-/Ost-)Wind bezeichnet, steht hier in einer metaphorischen Verallgemeinerung bzw. Verkleinerung für den Lufthauch. Ein solcher wird in einer Schmiede durch den Blasebalg erzeugt, der mit großer Kraft (κρατερῆς ὑπ’ ἀνάγκης) gedrückt werden muss. Die irreführende Verdopplung dieses Windes – denn wie sollen im wörtlichen Sinne zwei (verschiedene) Winde gleichzeitig an demselben Ort wehen? – bezieht sich auf die Konstruktion eines solchen Schmiedeblasebalges, der genau genommen aus zwei übereinanderliegenden Balgen besteht. Der untere versorgt den oberen mit Luft (erster ἄνεμος), der obere gibt sie kontinuierlich an die Glut ab (zweiter ἄνεμος). Auf diese Weise wird das gleichmäßige Erwärmen des Schmiedegutes sichergestellt. Die Verdoppelung (δύω) ist also keine wirkliche, sondern bezeichnet nurmehr die Zweiteiligkeit des einen ἄνεμος. v. 3: Hier liegt eine abstrakte Beschreibung der Schmiedearbeit vor. Beide Vershälften beschreiben auf ähnliche Weise denselben Umstand: Der Schmied formt Gegenstände aus Eisen mit Werkzeugen aus Eisen. Anstelle dieses bestimmenden Materials wird nun zunächst in τύπος und ἀντίτυπος seine Wirkung in dem Fokus gerückt. Prägendes und Geprägtes treffen im Schlag aufeinander. Dabei liegt das eine Eisen auf dem anderen (πῆμ’ ἐπὶ πήματι κεῖται). πῆμα steht dabei metaphorisch (Effekt statt Ursache) für das Eisen, welches als Waffe Leid verursacht, vgl. auch die Erklärung des Rätsellösers selbst (ἐπὶ κακῷ ἀνθρώπου σίδηρος ἀνεύρηται, 1,68). Zudem steht das Eisen für das letzte (fünfte) und als am leidvollsten bekannte Zeitalter, vgl. Hes. erg. 185–201. Der eiserne Amboss, auf dem Waffen geschmiedet werden, verursacht, d. h. ist, indirekt Leid, indem er das Vorhandensein der Waffen ermöglicht. v. 4: Orest als Sohn Agamemnons (Ἀγαμεμνονίδης) liegt an dem beschriebenen Platz begraben. v. 5: Der Heros wirkt als Patron Spartas und wird sie zum Sieger über Tegea machen. Liches als Rätsellöser: Die Spartaner finden trotz redlicher Bemühungen das gesuchte Grab nicht (ὡς δὲ καὶ ταῦτα ἤκουσαν οἱ Λακεδαιμόνιοι, ἀπεῖχον τῆς ἐξευρέσιος οὐδὲν ἔλασσον, πάντα διζήμενοι, 1,67). Einzig der alte Ritter Liches, der aufgrund seines hohen Alters aus der königlichen Garde ausgeschieden war, vermag die Aufgabe zu erfüllen. Sein hohes Alter verleiht ihm wohl einen gewissen Grad an Weisheit und qualifiziert ihn so, wenn auch nicht zwingend (vgl. Homer als unglücklichen Rätsellöser gegenüber den Fischerjungen, Herakl. frg. 56 DK), als Rätsellöser. Beachtlich ist die Angabe Herodots, der Alte habe das Grab durch eine Mischung aus Zufall und Klugheit (καὶ συντυχίῃ καὶ σοφίῃ, 1,68) gefunden. Dabei soll wohl nicht wirklich sein Verdienst geschmälert werden. Zufällig ist nur,

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dass er auf die richtige Schmiede trifft. Denn die Ausdeutung des Rätsels und die Identifikation mit der Schmiede bewerkstelligt Liches eigenständig: ὁ δὲ ἐννώσας τὰ λεγόμενα συνεβάλλετο τὸν Ὀρέστεα κατὰ τὸ θεοπρόπιον τοῦτον εἶναι, τῇδε συμβαλλόμενος· τοῦ χαλκέος δύο ὁρέων φύσας τοὺς ἀνέμους εὕρισκε ἐόντας, τὸν δὲ ἄκμονα καὶ τὴν σφῦραν τόν τε τύπον καὶ τὸν ἀντίτυπον, τὸν δὲ ἐξελαυνόμενον σίδηρον τὸ πῆμα ἐπὶ πήματι κείμενον, κατὰ τοιόνδε τι εἰκάζων, ὡς ἐπὶ κακῷ ἀνθρώπου σίδηρος ἀνεύρηται. (1,68) Der aber verstand das [von dem Schmied] Gesagte und erkannte, dass dies [sc. der von dem Schmied beschriebene Tote] nach dem Orakelspruch Orestes sei, indem er Folgendes verstehend deutete: Als er den Blasebalg des Schmiedes sah, erkannte er, dass dies die beiden Winde waren, den Amboss und den Hammer erkannte er als Schlag und Gegenschlag, das geschmiedete Eisen aber als Leid, das auf Leid lag, weil das Eisen dem Menschen doch als Übel erfunden wurde.

Dass es sich um eine (eigenständige) Verstandesleistung handelt, verbürgen die verwendeten Verben (ἐννώσας, συμβαλλόμενος, εὕρισκε). Ganz untypisch scheint, dass (a) ein Rätsellöser erfolgreich ist und damit die durch seine Rolle determinierte Unterlegenheit besiegt und (b) einem solchen erfolgreichen Rätsellöser keine entsprechenden Ehrungen als Lohn zuteil werden. Vielmehr glauben die verblendeten Spartaner ihm nicht und er muss die Überführung heimlich zu Wege bringen (1,68). Dass er mit seiner Lösung richtig lag, zeigt sich ausschließlich an der Wirkung: Die Spartaner sind den Tegeaten von da an überlegen. In den Vordergrund soll hier u. U. auf Kosten des Liches die Verbohrtheit der (meisten) Spartaner gestellt werden, die ja bereits früher ihre Unfähigkeit im Umgang mit Rätseln bewiesen haben, vgl. Hdt. 1,66. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Orakel AP XIV 76 = Hdt. 1,66, dessen Missverständnis Sparta zum Angriff auf Tegea bringt, als Vorlage für das hier in Frage stehende Orakel. 2 Rätsel vom Picknickteilnehmer Antiphan. PCG II, frg. 122,1–11, p. 376 f. K.-A.; zit. Athen. X 448f–449a ἐγὼ πρότερον μὲν τοὺς κελεύοντας λέγειν γρίφους παρὰ πότον ὠιόμην ληρεῖν σαφῶς λέγοντας οὐδέν· ὁπότε προστάξειέ τις εἰπεῖν ἐφεξῆς ὅ τι φέρων τις μὴ φέρει, ἐγέλων νομίζων λῆρον, οὐκ ἂν γενόμενον οὐδέποτέ γ’, οἶμαι, πρᾶγμα παντελῶς λέγειν, ἐνέδρας δ’ ἕνεκα. νυνὶ δὲ τοῦτ’ ἔγνωχ’ ὅτι ἀληθὲς ἦν· φέρομεν γὰρ ἄνθρωποι δέκα ἔρανόν τιν’, οὐ φέρει δὲ τούτων τὴν φορὰν

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οὐδείς. σαφῶς οὖν ὅ τι φέρων τις μὴ φέρει, τοῦτ’ ἔστιν, ἦν θ’ ὁ γρῖφος ἐνταῦθα ῥέπων. Ich habe früher, wenn Leute dazu aufforderten, beim Gelage Rätsel zu lösen, geglaubt, dass sie offensichtlich Unsinn plapperten und nicht wirklich etwas sagten, wenn zum Beispiel einer vorlegte, der Reihe nach zu beantworten, wer, wenn er etwas bringt, nichts bringt, dann lachte ich und meinte, es sei Unsinn, weil es niemals geschehen könnte, wie ich meinte, und dazu auch absolut nichts zu sagen sei, nur um der Irreführung willen. Nun aber habe ich erkannt, dass es wahr war; wir zehn Menschen nämlich tragen etwas zum Picknick bei, und doch trägt keiner von uns selbst die Last. Klar ist also, wer, wenn er etwas bringt, nicht bringt, das meint dies und es bezog sich also das Rätsel auf uns.

Form: 11 iambische Trimeter Erklärung: Ein vormaliger Rätselgegner, nunmehr geläutert, berichtet von einem Beispielrätsel, welches er offenbar erst nach längerem Nachdenken vollständig durchdrungen und als sinnvoll erkannt hat. Zentral ist für den Verrätselungsmechanismus das scheinbare Paradoxon, welches sich aus der Verbindung von τι φέρων und μὴ φέρει ergibt (verletzter Satz vom Widerspruch). Möglich wird die Vereinigung dieser Gegensätze durch zwei unterschiedliche Auslegungen des Verbs φέρειν, welche der Sprecher selbst erklärt: So benennt es (1) in einem streng wörtlichen, konkreten Sinne das Transportieren einer Last von einem Ort zum anderen, wie etwa bei einem auf dem Land veranstalteten Picknick (ἔρανος, hierzu auch Athen. VIII 362e), zu dem die Speisen transportiert werden müssen, oder ganz allgemein bei einem Mahl, wo die Sklaven die Speisen für ihre Herren auftragen. Andererseits bezeichnet φέρειν (2) in einem erweiterten Sinne auch ein Beitragen im Sinne einer partiellen Unterstützung oder Teilnahme. Dies trifft auf die Picknickteilnehmer selbst zu, von denen einer der hier zitierte Sprecher ist: Sie nehmen Teil an dem Picknick und stellen u. U. jeweils anteilig die verzehrten Speisen zur Verfügung. Zur Bewertung des Rätsels: Die Rahmenerzählung, in der das von dem Sprecher bereits früher als Rezipient wahrgenommene Rätsel referiert wird, bildet deutlich zwei gegensätzliche Einstellungen zu Rätseln, insbesondere als Unterhaltungsspiel im Symposion (παρὰ πότον), ab. Während die Ansicht der Befürworter, zu denen sich seit einer gewissen Einsicht auch der Sprecher selbst rechnet, nicht näher charakterisiert wird (abgesehen davon, dass das Rätsel eine (verborgene) Wahrheit enthält), werden konkrete Kritikpunkte gegen das Rätselspiel genannt: Es sei unsinnig

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(ληρεῖν) und nichtig (λέγοντας οὐδέν), gegenstandslos (λῆρον, οὐκ ἄν γενόμενον οὐδέποτε) und diene der Irreführung (ἔνέδρα). Der Sinneswandel des Sprechers scheint schließlich eine Kritik an der Rätselkritik selbst zu belegen, die offenbar aus mangelndem Verständnis entspringt: Unsinnig und nichtig ist ein Rätsel nur für den, der es nicht versteht. Literatur: Gulick (1930) 535, Anm. a deutet mit Blick auf PCG II, frg. 122,12–15 das Kollektiv der genannten Zehn auf von Philipp II. bestochene Generäle. Schweighäuser V (1804) 526–531, der ebenfalls den Bezug zu Philipp II. herstellt (531).

3 Rätsel vom Pergament AP App. VII 34, Cougny = Psellos 7, Anecd. Gr. III, p. 431 Boiss.; S 79 Ἔζων ὅτ’ ἔζων, πλὴν λόγου παντὸς δίχα· ἔθανον ἄρτι, καὶ γέμω παντὸς λόγου. Ich lebte, solange ich lebte, war aber frei von allem Logos; gerade bin ich gestorben und (jetzt) bin ich voll mit allem Logos.

Form: 2 byzantinische Senare Erklärung: Das Rätsel vom Pergament, das sich selbst aus der Ich-Perspektive a) als Kuhhaut und b) als Schreibmaterial beschreibt, ist bestimmt von den Gegensätzen ἔζων – ἔθανον und πλὴν λόγου παντὸς δίχα – γέμω παντὸς λόγου, deren Bestandteile kontraintuitiv zugeordnet sind: λόγος kommt gemeinhin nur lebendigen Wesen zu, wird hier aber gerade andersherum zugeschrieben. v. 1 bezieht sich auf die Haut der lebenden Kuh. Diese ist ein vernunftloser (beinahe toter, jedenfalls unbeseelter) Teil eines – zudem wahrscheinlich als recht vernunftlos gedachten – Lebewesens. v. 2 bezieht sich auf die zu Pergament verarbeitete Haut eines toten Rindes. Sie dient in dieser Form als Beschreibstoff und hat bzw. trägt in diesem Sinne Vernunft, a. insofern sie vernünftig komponierte Gedanken in Schriftform enthält und b. insofern λόγος als Homonym nicht nur die abstrakte Vernunft, sondern auch das (geschriebene) Wort an sich bezeichnen kann. Die Logik der Ich-Perspektive ist nicht ganz streng durchgehalten, denn es ist ja nicht die Haut, die lebt (v. 1) und stirbt (v. 2), sondern das Tier. Geraten werden muss aber die Haut. Eine zusätzliche Feinheit liegt in der homonymen Verbform ἔζων (v. 1), welche als Subjekt, verstanden als 1. Person Singular Imperfekt, implizit sowohl

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die Kuhhaut (an erster Stelle) als auch, verstanden als 3. Person Plural Imperfekt, (an zweiter Stelle) die Kühe haben kann: Die Haut „lebt“ im übertragenen Sinne (insofern sie Teil von einem Lebewesen ist), solange die Kühe, denen sie gehört, leben. Dieser gedachte Subjektswechsel erschwert für einen Rezipienten das Verständnis zusätzlich. Intertextuelle Verweise: Vgl. für die kontraintuitive Zuordnung von lebendig – vernunftlos, tot – vernunftbegabt die entsprechende Zuordnung lebendig – stumm, tot – sprechend/ tönend in dem Rätsel vom Muschelhorn als Trompete (AP XIV 30. AP App. VII 32).

A. I. 1.4.3 Ergänzt nur durch Relationen des Rätselobjekts zu anderen Objekten 1 Orakel an Aristodemos von den (blinden) Augen Paus. 4,12,3–4; 4,12,9–4,13,4 Rocha-Pereira; Fontenrose Q16 = PW nr. 364 ἁμαρτόντες δὲ οἱ Λακεδαιμόνιοι τοῦ ἐγχειρήματος δεύτερα ἐπειρῶντο τῶν Μεσσηνίων διαλῦσαι τὸ συμμαχικόν· ἀντειπόντων δὲ τῶν Ἀρκάδων – παρὰ γὰρ τούτους πρότερον ἀφίκοντο οἱ πρέσβεις – οὕτω τὴν ἐπ’ Ἄργος ἐπέσχον πορείαν. Ἀριστόδημος δὲ πυνθανόμενος τὰ πρασσόμενα ὑπὸ τῶν Λακεδαιμονίων πέμπει καὶ αὐτὸς ἐρησομένους τὸν θεόν, ἡ δὲ Πυθία σφίσιν ἔχρησε· κῦδός σοι πολέμοιο διδοῖ θεός· ἀλλ’ ἀπάταισι φράζεο μὴ Σπάρτης δόλιος λόχος ἐχθρὸς ἀνέλθηι – κρείσσων δὴ γὰρ Ἄρης κείνων – εὐήρεα τείχη καί ‹τε› χορῶν στεφάνωμα πικροὺς οἰκήτορας ἕξει, τῶν δύο συντυχίαις κρυπτὸν λόχον ἐξαναδύντων. οὐ πρόσθεν δὲ τέλος τόδ’ ἐπόψεται ἱερὸν ἦμαρ, πρὶν τὰ παραλλά‹ξαν›τα φύσιν τὸ{ξαν} χρεὼν ἀφίκηται. τότε μὲν δὴ Ἀριστόδημος καὶ οἱ μάντεις ἀπείρως εἶχον συμβαλέσθαι τὸ εἰρημένον· ἔτεσι δὲ ὕστερον οὐ πολλοῖς ἀναφαίνειν τε καὶ ἐς τέλος ἄξειν ἔμελλεν ὁ θεός. […] [4,12,9] συνέβη δὲ καὶ Ὀφιονέα τὸν μάντιν τοῦτον, τὸν ἐκ γενετῆς τυφλόν, ἀναβλέψαι παραλόγως δὴ μάλιστα ἀνθρώπων. ἐπέλαβε γὰρ τῆς κεφαλῆς ἄλγημα αὐτὸν ἰσχυρόν, καὶ ἀνέβλεψεν ἀπ᾽ αὐτοῦ. Τὰ δὲ ἐντεῦθεν – ἔρρεπε γὰρ ἤδη τὸ χρεὼν ἐς ἅλωσιν τῶν Μεσσηνίων – προεσήμαινεν αὐτοῖς τὰ μέλλοντα ὁ θεός. τό τε γὰρ τῆς Ἀρτέμιδος ἄγαλμα, ὂν χαλκοῦν καὶ αὐτὸ καὶ τὰ ὅπλα, παρῆκε τὴν ἀσπίδα· καὶ Ἀριστοδήμου τῶι Διὶ τῶι Ἰθωμάται θύειν μέλλοντος τὰ ἱερεῖα, οἱ κριοὶ ἐπὶ τὸν βωμὸν αὐτόματοι καὶ βίαι τὰ κέρατα ἐνράξαντες ἀποθνήσκουσιν ὑπὸ τῆς πληγῆς. τρίτον δὲ ἄλλο συνέβη σφίσιν· οἱ κύνες συνιόντες ἐς τὸ αὐτὸ ἀνὰ πᾶσαν νύκτα ὠρύοντο, τέλος δὲ καὶ ἀπεχώρησαν ἀθρόοι πρὸς τὸ τῶν Λακεδαιμονίων στρατόπεδον. ταῦτά τε δὴ τὸν Ἀριστόδημον ἐτάρασσε καὶ ὀνείρατος ὄψις ἐπιγενομένη τοιάδε. ἔδοξεν ἐξιέναι οἱ μέλλοντι ἐς μάχην καὶ ὡπλισμένωι τῶν ἱερείων τὰ σπλάγχνα ἐπὶ τραπέζηι προκεῖσθαι, τὴν δέ οἱ θυγατέρα ἐπιφανῆναι μέλαιναν ἐσθῆτα ἔχουσαν καὶ φαίνουσαν τό τε στέρνον καὶ τὴν γαστέρα ἀνατετμημένα, ἀναφανεῖσαν δὲ

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ἀπορρῖψαι μὲν τὰ ἀπὸ τῆς τραπέζης, ἀφελέσθαι δὲ αὐτοῦ τὰ ὅπλα, ἀντὶ τούτων δὲ στέφανον ἐπιθεῖναι χρυσοῦν καὶ ἱμάτιον ἐπιβαλεῖν λευκόν. ἔχοντος δὲ Ἀριστοδήμου τά τε ἄλλα ἀθύμως καὶ τὸν ὄνειρον ἡγουμένου προλέγειν οἱ τοῦ βίου τελευτήν, ὅτι οἱ Μεσσήνιοι τῶν ἐπιφανῶν τὰς ἐκφορὰς ἐποιοῦντο ἐστεφανωμένων καὶ ἱμάτια ἐπιβεβλημένων λευκά, ἀπαγγέλλει τις Ὀφιονέα τὸν μάντιν οὐχ ὁρᾶν ἔτι ἀλλ᾽ ἐξαίφνης γενέσθαι τυφλόν, ὥσπερ γε καὶ ἦν τὸ ἐξ ἀρχῆς. συνιᾶσι δὴ καὶ τοῦ χρησμοῦ τότε, ὡς τοὺς ἀναδύντας δύο ἐκ τοῦ λόχου καὶ ἐς τὸ χρεὼν αὖθις ἐλθόντας τοῦ Ὀφιονέως τοὺς ὀφθαλμοὺς εἶπεν ἡ Πυθία. ἐνταῦθα Ἀριστόδημος τά τε οἰκεῖα ἀναλογιζόμενος, ὡς οὐδὲν ὠφέλιμον γένοιτο φονεὺς θυγατρός, καὶ τηι πατρίδι οὐχ ὁρῶν ἔτι ὑποῦσαν σωτηρίας ἐλπίδα, ἐπικατέσφαξεν ἑαυτὸν τῆς παιδὸς τωι τάφωι, […]. Als Aristodemos von den listigen Machenschaften der Spartaner erfuhr, schickte er auch selbst Männer, die den Gott befragen sollten, die Pythia aber antwortete ihnen: Es mag der Gott dir κῦδος im Krieg geben; aber achte darauf, dass nicht eine tückische, feindliche Truppe Spartas die gut gefügten Mauern ersteigt, es ist nämlich ihr Kriegsgott der stärkere. Und der Tanzplatz für die bekränzten Chorsänger wird unheilvolle Bewohner erfassen, wenn die zwei nach der Fügung des Schicksals aus ihrem dunklen Versteck ausbrechen. Und nicht wird der heilige Tag auf sein Ende blicken, bevor die Pfeile der Notwendigkeit kommen und die Natur in ihr Gegenteil verändern. Damals hatten Aristodemos und die Seher nicht die Fähigkeit, den Spruch zu durchschauen, aber wenige Jahre später war der Gott im Begriff, ihn zu enthüllen und zur Erfüllung zu führen. […] Es ereignete sich aber auch, dass der Seher Ophiones, der von Geburt an blind war, sehend wurde auf die unvorstellbarste Art und Weise: Ein starker Schmerz nämlich befiel seinen Kopf und von da an war er sehend. Als nächstes, denn da neigte sich schon das Schicksal zur Einnahme Messeniens, deutete der Gott ihnen die Zukunft an. Das Standbild der Artemis nämlich, das selbst ganz aus Bronze war wie auch die Waffen, ließ seinen Schild fallen. Und als Aristodemos dem Zeus von Ithome ein Opfer bringen wollte, da sprangen die Böcke von allein auf den Altar und rammten mit Gewalt ihre Hörner dagegen, sodass sie durch den Stoß zu Tode kamen. Noch ein weiteres, drittes Vorzeichen ergab sich für sie: Die Hunde kamen an derselben Stelle zusammen und heulten die ganze Nacht hindurch und zum Schluss liefen sie als Rudel in das Lager der Spartaner davon. Diese Dinge beunruhigten Aristodemos wie auch der Anblick des folgenden Traums, der sich ihm ereignete: Es schien, als wolle er bewaffnet in den Kampf ziehen und die Eingeweide der Opfertiere lagen vor ihm auf einem Tisch und es schien seine (tote) Tochter in ein schwarzes Gewand gehüllt mit aufgeschnittener Brust und aufgeschnittenem Bauch zu erscheinen und dabei das, was auf dem Tisch lag, herunterzuwerfen und ihm seine Waffen wegzunehmen und ihm stattdessen eine goldene Krone aufzusetzen und ein weißes Gewand überzuwerfen. Aristodemos aber war auch im Hinblick auf die anderen Hinweise mutlos und glaubte, der Traum sage ihm das Ende seines Lebens voraus, weil die Messenier die Begräbnisse ihrer Könige so ausrichteten, dass sie sie bekränzten und weiß kleideten; außerdem berichtete einer, Ophiones der Seher könne nicht länger sehen, sondern sei plötzlich wieder

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blind geworden, wie er es auch von Anfang an gewesen war. Da verstand er das Orakel, dass die Pythia mit den beiden, die aus einem Versteck auftauchten und schicksalsgemäß wieder dorthin zurückgingen, die Augen des Ophiones gemeint hatte. Da erschlug sich Aristodemos selbst, als er seine privaten Unglücksfälle zusammenzählte und erkannte, dass der Mord an seiner Tochter nutzlos geblieben war und dass keine Hoffnung für die Rettung der Heimat übrig war, auf dem Grab seiner Tochter […].

Form: 7 Hexameter (mit Prosarahmen) Kontext: Im Messenischen Krieg (735–715 v. Chr.) zwischen Messenien und Sparta hatte Sparta ein Orakel erhalten, welches ihnen den Sieg über ihren Gegner für den Fall, dass sie den Krieg nicht nur mit körperlicher Kraft vorantreiben, sondern zu Listen und Täuschungen (ἐπάτη, τέχνη) greifen würden (4,12,1), ohne Zweideutigkeit prophezeit. Es versuchten deshalb die Spartaner (1) nach dem Vorbild der Griechen vor Troja (Ilias mikra, EGF frg. 37 Kinkel) 100 Deserteure in das Lager der Messenier einzuschleusen (4,12,2) und, als dies vergeblich blieb, (2) das Bündnis der Messenier mit den Arkadern zu zerstören und (3) Argos abtrünnig zu machen, um Messenien zu schwächen (4,12,3). In dieser Situation schickt der messenische König Aristodemos nach Delphi, um das Orakel nach dem Schicksal seines Volkes zu befragen. Erklärung: Das Orakel, das sich im Kern um die Metapher von den blinden bzw. sehenden Augen des messenischen Sehers Ophiones dreht, verweist auf zwei weitere Orakel aus dem Kontext des messenischen Krieges, nämlich (a) auf das Orakel, welches die Opferung einer messenischen Jungfrau fordert (vgl. dazu den unheilvollen Traum des Aristodemos, 4,13.2–4), und (b) auf das Orakel, das demjenigen Messenien verspricht, der dem Zeus Ithomatas zuerst 100 Dreifüße opferte (v. 2 und v. 4, ferner das Orakel bei Paus. 4,12,7). vv. 1–3: Durch den schwierigen Begriff κῦδος ist bereits der Beginn des Spruchs schwer verständlich. Es halten sich die gängigen Übersetzungen an die landläufige Bedeutung „Ruhm“ – einzig, ein solches Verständnis scheint kaum mit dem Folgegeschehen zusammenzupassen. Denn einerseits (1) unterliegt Messenien den Spartanern schließlich und andererseits (2) zieht Aristodemos gar nicht in die Entscheidungsschlacht, sondern tötet sich vorher. Keiner dieser beiden Umstände lässt sich wohl mit Recht als von dem Gott verliehenes κῦδος bezeichnen. Es ergäbe dagegen der Akkusativ κύδον von ὁ κύδος in der Bedeutung einer Schmähung oder Schande größeren Sinn, wenn darin auch eine bemerkenswert eindeutige Formulierung des messenischen Schicksals läge; problematisch für eine solche Deutung jedoch das adversative ἀλλὰ (v. 1), das eine positive Formulierung für den ersten Versteil suggeriert. Ebenso eindeutig ist

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das messenische Schicksal jedoch auch in v. 3 (κρείσσων δὴ γὰρ Ἄρης κείνων) beschrieben: Die Kampfkraft der Spartaner – allegorisch personifiziert in dem Kriegsgott Ares – ist größer als die der Messenier, d. h. Sparta wird im Kampf überlegen bleiben. κείνων kann dabei nicht als Gen. Comp. Auf die hier direkt angesprochenen Messenier bezogen sein, sondern meint, als einfacher Objektsgenitiv, die Spartaner. Es wird damit die Warnung (φράζεο) vor einer Einnahme durch Sparta zu einer reinen Formalie. Das Schicksal der Messenier ist bereits bestimmt. Die ἀπάται (v. 1) und der δόλιος λόχος (v. 2) der Spartaner mögen einerseits auf die versuchte Einschleusung von Schein-Deserteuren bzw. auf das Bemühen, Messeniens Bundesgenossen abtrünnig zu machen, bezogen sein, spielen dann aber auch bereits auf das Orakel 4,12,7 an, nach welchem Messenien demjenigen zufallen würde, der dem Zeus Ithomatas zuerst 100 Dreifüße opferte; hierzu konkreter v. 4. vv. 4–5: Da sich das Heiligtum des Zeus Ithomatas innerhalb der messenischen Festung befand, wähnten die Messenier sich ob des Dreifuß-Orakels in Sicherheit (ταῦτ’ ἀκούσαντες γεγονέναι τε ἡγοῦντο ὑπὲρ αὑτῶν τὴν μαντείαν καὶ σφίσι διδόναι τοῦ πολέμου κράτος, 4,12,8). Es schlich sich jedoch der Spartaner Oibalos, verkleidet als Jäger mit 100 kleinen Dreifüßen aus Ton, verborgen in einem Sack (τούτους τε ἀποκεκρυμμένους ἐν πήραι καὶ δίκτυα ἅμα αὐτοῖς ἔφερεν ὡς ἀνὴρ θηρευτής, 4,12,9), in die Stadt und stellte diese im Heiligtum auf. Dieses Vorgehen war listig im Hinblick auf die Verkleidung als θηρευτής und außerdem im Hinblick auf die Modifizierung der gewöhnlich größeren bronzenen Dreifüße, die einen solchen heimlichen Transport unmöglich gemacht haben würden. Die Messenier, die aufgrund finanzieller Knappheit Dreifüße aus Holz hergestellt hatten, bemerkten die Täuschung, vor der das Orakel hier warnt, nicht und stellten ihre Gaben daher zu spät im Heiligtum auf. Zu dem Umstand, dass weder die Spartaner noch die Messenier die Forderung des Orakels nach den Dreifüßen vollständig erfüllen, weil Dreifüße im 8. bzw. 7. Jh. gewöhnlich aus Bronze hergestellt wurden, vgl. Casevitz/Auberger (2005) z. St. p. 153, die sogar vermuten, es habe einen zweiten messenischen Krieg gegeben, weil Sparta die Forderung nicht vollständig erfüllt und damit den endgültigen Sieg über Messene noch nicht verdient hatte. v. 4 umschreibt die verhängnisvollen Dreifüße metaphorisch als πικροὺς οἰκήτορας und spielt damit auf ihren Standort im Heiligtum an, den sie in einem übertragenen Sinne als Kolonisten aus Sparta als neue Wohnstadt einnehmen. Das χορῶν στεφάνωμα scheint dabei nach einer glaubwürdigen communis opinio einen bestimmten Bereich des Zeus-Heiligtums, wie etwa eine Orchestra, zu bezeichnen, wo die Weihgaben deponiert wurden; vgl. Kayser (1847) 363 f., der auseinandersetzt, wo Opfergaben in einem solchen Heiligtum ihren Platz

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hatten und wie dies mit dem χορῶν στεφάνωμα als Tanzplatz vereinbar wird; hierzu auch Hitzig/Blümner (1901) 128. Daneben stehen die siegesbekränzten χοροί auf einer anderen Bildebene eben auch für die siegreichen Spartaner, deren Agora als χόρος bezeichnet wird, vgl. Paus. 3,11,9. v. 5: Das Kuriosum, dass der von Geburt an blinde Seher Ophiones plötzlich sehend wird, gibt das Orakel in metaphorisch verschlüsselter Form als Zeitpunkt für die Erfüllung der Dreifuß-Orakelforderung und damit für die Entscheidung des Kampfes zugunsten der Spartaner an. Dass λόχος in v. 2 schon einmal vorkam, und zwar mit Bezug auf die Spartaner, erschwert dabei das Verständnis. Obwohl das Attribut κρυπτός zunächst als reines Epitheton ornans erscheint – schließlich sind Verstecke immer heimlich bzw. verborgen –, gibt es einen echten inhaltlichen Hinweis auf die Lösung. Es ist im konkretisiert-transformierten Sinne als „dunkel“ aufzufassen, sodass der κρυπτὸς λόχος einerseits (a) abstrakt die angeborene Blindheit des Sehers, andererseits (b) eventuell auch die Augenhöhle des Blinden bezeichnet. Auf die Augen als konkrete Lösung wird allerdings ausschließlich über ihre Zweizahl in οἱ δύοι angespielt. Selbst wenn die Messenier zufällig, denn darauf gibt es eigentlich keinen inhaltlichen Hinweis, auf Körperteile als semantischen Lösungsraum verfallen, gibt es in diesem Pool ja mehrere Paare, so neben den Augen etwa die Ohren, Hände, Arme, Füße, Beine. Da selbst der Kontrast zwischen hell und dunkel, d. h. zwischen sehend und blind nur implizit vorliegt, weist höchstens der Artikelgebrauch darauf hin, dass es sich um ein bes. prominentes, d. h. wichtiges Paar handelt. ἐξαναδύεσθαι schließlich ist ebenfalls im übertragenen Sinne zu verstehen. Die Augen bzw. Augäpfel vollführen, wenn sie ihre Sehkraft erlangen, nicht im engeren Sinne eine Aufwärtsbewegung. Es mag aber eine ungefähre Analogie „oben – hell – sehend“ und „unten – dunkel – blind“ zugrunde liegen. Die eigentlich sehr aktive Bewegungsbedeutung verleitet ferner zu dem Trugschluss, die δύοι bezeichneten aktiv Handelnde, d. h. Personen. In Verbindung mit dem aus v. 2 wieder aufgenommenen λόχον entsteht der falsche Eindruck, diese zeitliche Bedingung beträfe das Handeln der Feinde. vv. 6–7: Wie um die Kuriosität des plötzlichen Wandels von Blindheit zur Sehfähigkeit noch zu steigern, wird diese Entwicklung schließlich wieder rückgängig gemacht und der Seher wird wieder blind, kehrt also gewissermaßen zu seinem natürlichen Geburtszustand zurück (παραλλάξαντα φύσιν […] Ὀφιονέα τὸν μάντιν οὐχ ὁρᾶν ἔτι ἀλλ᾽ ἐξαίφνης γενέσθαι τυφλόν, ὥσπερ γε καὶ ἦν τὸ ἐξ ἀρχῆς, 4,13,3). Dies kündigt das Orakel als zeitliche Bedingung für das Ende des Krieges und die Entscheidung zugunsten der Spartaner an. ἱερός ist dieser ἦμαρ sicher nicht im Sinne einer positiven Konnotation für die Messenier, sondern

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vielmehr im Sinne der göttlichen Bestimmung, die das Kriegsende verbürgt, wie auch τόξαν χρεών (v. 7). Eine inhaltliche Verknüpfung zwischen dem Wechsel der Sehfähigkeit und dem Geschick im Kampf lässt sich nicht direkt aufzeigen. Dass Ophiones wieder blind wird, mag man zwar als schlechtes Omen werten, aber warum er überhaupt erst sehend gemacht wurde, bleibt unklar. Auch sein Status als Seher scheint in diesem Zusammenhang belanglos, da seiner Seherfähigkeit, wenigstens nach Pausanias, gar nicht in Erscheinung tritt und deshalb für den Ausgang des Krieges offenbar unerheblich ist. Es mag sein, dass der Verlust der beinahe stereotypen Seher-Blindheit, d. h. das optische Sehvermögen mit einer seherischen Blindheit, d. h. dem Unvermögen, richtige bzw. nützliche Prophezeiungen zu machen einhergeht, sodass das temporäre Sehvermögen eher Fluch als Segen für Ophiones und die Messenier wäre. Erst, als bereits alles verloren ist, würde der Seher dann im Tausch gegen funktionierende Augen seine Gabe wiedererlangen. Gesagt ist jedoch von einem solchen inneren Zusammenhang bei Pausanias nichts. Zu den weiteren schlechten Vorzeichen: Das Unheil, welches das Orakel den Messeniern verschleiert verkündet, deutet sich zudem in weiteren unheilvollen Götterzeichen an (προεσήμαινεν αὐτοῖς τὰ μέλλοντα ὁ θεός). (1) Die Artemis-Statue (4,13,1): Als Kriegsgöttin deutet sie mit dem fallengelassenen Schild auf die Niederlage der Messenier hin. Dabei ist unklar, ob sie die Vernichtung im Kampf symbolisiert, ob ihr der Schild also aus der Hand geschlagen wird, oder ob sie zur Kapitulation rät, den Schild also fallen lässt, um den Widerstand aufzugeben. Dass die Statue aus Bronze gefertigt ist, betont ferner die grundsätzliche Standhaftigkeit der Messenier, auf deren Seite Artemis in diesem rätselhaften Gleichnis steht. (2) Die besessenen Opfertiere (4,13,1): Dass es sich um ein schlechtes Vorzeichen handelt, erschließt sich intuitiv. Zeus kann durch die Opfer nicht gnädig gestimmt und zugunsten der Messenier beeinflusst werden. Ob das Opfer missglückt, weil seine Abläufe entweiht werden, oder ob es besonders hingebungsvoll – sogar von den Opfertieren selbst – ausgeführt wird, weil es besonders nötig und zugleich eben vergeblich ist, bleibt hingegen unklar. (3) Die desertierenden Hunde (4,13,1): Das Geheule der Hunde gleicht einer Klage über die ausweglose Situation der Messenier. Da Hunde gemeinhin als feige verschrien sind, müssten sie sich eigentlich zuerst ergeben. Hier ist aber offenbar eher gemeint, dass keinerlei Hoffnung mehr besteht, wenn sich sogar die Hunde ergeben und zu den Feinden überlaufen. (4) Der unheilvolle Traum (4,13,2–4): Aristodemos träumt schließlich von seiner eigenen Bestattung, wobei diese ihm anhand von Bekränzung und Lei-

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chenmantel als gängiger Bestattungsrequisiten angedeutet wird. Dass ausgerechnet seine tote Tochter in schwarzer Leichenkutte die Bestattung durchführt, weist als besonders subtile Pointe darauf hin, dass alle Bemühungen und Rettungsversuche des Aristodemos, die sogar Pausanias noch einmal gesondert hervorhebt (τὰ μὲν ἐς ἀνθρώπου λογισμὸν ἥκοντα Μεσσηνίους σώσας, τῆς τύχης δὲ ἐς τὸ μηδὲν ἀγαγούσης τά τε ἔργα αὐτοῦ καὶ τὰ βουλεύματα, 4,13,4), zwecklos bleiben. Als sie die Kleinstädte ihres Reiches in den von Sparta besonders bedrohten Randregionen ihres Reiches räumten und sich am Berg Ithome ansiedelten, forderte ein Orakel von den Messeniern die Opferung einer Jungfrau aus dem messenischen Geschlecht der Aipytiden. Weil die Adoptivtochter des Lykiskos, auf die das Los zunächst gefallen war, nicht von den Aipytiden abstammte, bot Aristodemos seine eigene Tochter an. Obwohl es hieß, sie sei schwanger, also keine Jungfrau mehr, schnitt er ihr den Bauch auf und weil er keinen Fötus fand, glaubte er, der Forderung des Orakels durch diese Opferung Genüge getan zu haben (Paus. 4,9,4–6). Dass selbst dieses persönliche Opfer vergeblich war, verdeutlich die beinahe tragisch-ironische Traumbestattung des Vaters durch seine hingeopferte Tochter. Es gibt sich schließlich nach der Erkenntnis des unausweichlichen Schicksals Aristodemos auf dem Grab eben dieser Tochter selbst den Tod und erfüllt damit geradezu erst selbst seinen Traum. Ob er sich damit für sein Handeln bestraft, oder sich von dem noch bevorstehenden Unheil erlöst, bleibt unklar. Aristodemos und die messenischen Seher als Rätsellöser: Im Umgang mit dem Orakel von den Dreifüßen für Zeus Ithomatas erweisen sich die Messenier als unkritisch und leicht zu täuschen, da sie die Möglichkeit einer listigen Bewerkstelligung durch die Spartaner nicht als möglich kalkulieren. Dass Aristodemos und seine Seher das hier besprochene Orakel nicht sogleich verstehen, sondern die Lösung erst als richtig erkennen, als sie ihnen zufällig – und bereits zu spät – präsentiert wird, ist hingegen vollkommen nachvollziehbar. Der zweifache Wechsel der Seherfähigkeit stellt ein derartiges Kuriosum, ja geradezu eine logische Unmöglichkeit dar, dass er kaum von alleine erdacht werden kann; vgl. dass die Messenier auch den ähnlich undenkbaren Sinn des Orakels vom Bock am Wasser der Neda (Paus. 4,20,1–4) aus dem Kontext des Messenischen Krieges erst spät, zu spät, durchschauen, als ihnen die Lösung zufällig visuell präsentiert wird. In Verbindung mit den übrigen schlechten Vorzeichen für die Messenier erkennt Aristodemos jedoch schließlich das Schicksal seines Volkes und den Sinn des Orakelspruchs (ταῦτά τε δὴ τὸν Ἀριστόδημον ἐτάρασσε […] συνιᾶσι δὴ καὶ τοῦ χρησμοῦ τότε, ὡς τοὺς ἀναδύντας δύο ἐκ τοῦ λόχου καὶ ἐς τὸ χρεὼν αὖθις ἐλθόντας τοῦ Ὀφιονέως τοὺς ὀφθαλμοὺς εἶπεν ἡ Πυθία, 4,13,3).

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Intertextuelle Verweise: Das Orakel, welches den Spartanern den Sieg durch Gebrauch von List und Täuschung verheißt, mit unwesentlichen Abweichungen auch bei Diod. 8,13; Eus. Pr. Ev. 5,27. Den Untergang Messeniens im Krieg gegen Sparta verkündet dann auch das Orakel vom Bock am Wasser der Neda, Paus. 4,20,1–4. Literatur: Kayser (1847) 363 f. zur Textgestalt des Orakels und zur konkreten Verortung der Dreifüße im messenischen Heiligtum des Zeus Ithomatas. Zum Kontext der Erzählung bei Pausanias: Hitzig/Blümner (1901) 127 f. z. St. Parke (1938) 66 f. Frazer (1965) 580 z. St. zur Textgestalt. Fontenrose (1978) 105. Musti/Madollio (2000) 221 f. z. St. zu den unterschiedlichen Materialien der Dreifüße; ebenso Casevitz/Auberger (2005) 153 z. St.

2 Rätsel von Widder und Schildkröte AP XIV 30, Beckby; S 16 Κριὸν ἔχω γενετῆρα, τέκεν δέ με τῷδε χελώνη· τικτομένη δ’ ἄμφω πέφνον ἐμοὺς γονέας. Einen Widder habe ich als Vater, es gebar mich aber von diesem die Schildkröte; Noch bei meiner Geburt aber tötete ich meine beiden Elternteile.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Die Lyra beschreibt sich aus der Ich-Perspektive als Gegenstand im Hinblick auf die Materialien, aus denen sie besteht. v. 1: In der Form eines Verwandtschaftsrätsels werden Widder (Darmfasern als Saiten) und Schildkröte (Panzer als Klangkörper), aus denen die Lyra verfertigt wird, als Eltern der Lyra vorgestellt; vgl. für denselben Mechanismus das Rätsel von der Klistierspritze (AP XIV 55), die als Kind von Ziege (Leder) und Elefant (Elfenbeinröhre) beschrieben ist. Die „Kreuzung“ dieser beiden ganz unterschiedlichen Tiere mutet selbstverständlich fragwürdig an, obwohl das unterschiedliche grammatikalische Geschlecht des Widder-Vaters (ὁ κριός) und der Schildkröten-Mutter (ἡ χελώνη) eine solche Verbindung prinzipiell zulässt. Eine geläufige Verbindung besteht

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zwischen beiden Tieren überdies im militärischen Bereich, wo der Widder als Rammbock (aries) gewöhnlich von einem mobilen Panzerdach, das entsprechend seiner Funktion als testudo bezeichnet wurde, zum Schutz vor von oben andrängenden Geschossen umgeben wurde; vgl. Veg. mil. 4,14, wo die Namensgebung anhand der unter dem Schirmdach vorstoßenden Bewegung des Rammbocks in Analogie zu dem aus ihrem Panzer hervorschnellenden Schildkrötenkopf erklärt ist; hierzu auch McCartney (1922) 165. Pointiert ist zudem, dass die Schildkröte, als χέλυς bezeichnet, sogar ihren, hier sicher bewusst unterdrückten, geläufigen Namen mit dem aus ihr erzeugten Instrument teilt. v. 2: Der bestimmende Gegensatz der beiden existenziellen Extreme, Geburt und Tod, bezieht sich auf die Herstellung des Instruments aus Teilen der Körper der toten Tiere. πέφνον verschiebt also die Handlung irreführenderweise auf die Lyra als Rätselobjekt: Die Tiere sterben nicht wirklich bei der Herstellung des Instrumentes, sondern sind bereits vorher tot. Auf der Bildebene mag die Vorstellung, dass beide Elternteile bei der Geburt umkommen, besonders irritierend wirken. Denn während eine Mutter im Kindbett versterben kann, ist der Vater bei einer Geburt gewöhnlich nicht in direkter Gefahr. Intertextuelle Verweise: Vgl. das inhaltlich anders angelegte Rätsel von der Lyra, AP App. VII 57. Ferner Hom. h. 4,24–51 zur Erfindung der Lyra durch Hermes: v. 25 die Schildkröte als Sänger (ἀοιδός), v. 31 als Musikinstrument, das beim Symposion gebraucht wird (χοροιτύπος, δαιτὸς ἑταίρη); vv. 47–51 die Herstellung des Instruments aus einem mit Rindsleder überzogenen Schildkrötenpanzer (Korpus), einem Steg aus Schilf und Schafsdarmsaiten, die an den Hörnern des Rindes auf dem Steg befestigt werden. Dann auch Soph. TrGF IV, frg. 314,299–312 Radt (Ichneutai), wo Kyllene die nach ihrem Schützling Hermes suchenden Satyrn in einer Art Rätsel das Instrument erraten lässt, aus dem Hermes soeben die Lyra gefertigt hatte: ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ.

καὶ πῶς πίθωμαι τοῦ θανόντος φθέγμα τοιοῦτον βρέμειν; πιθοῦ· θανὼν γὰρ ἔσχε φωνήν, ζῶν δ’ ἄναυδος ἦν ὁ θήρ. ποῖός τις ἦν εἶδος; πρ[ο]μήκης, ἦ ‘πίκυρτος, ἢ βραχύς; βραχύς, χυτροίδης, πο[ι]κίλῃ δορᾷ κατερρικνωμένος. ὡς αἰέλουρος εἰκάσαι πέφυκεν ἢ τὼς πόρδαλις; πλείστον με[τ]αξύ· γογγύλον γάρ ἐστι καὶ βραχυσκελές. οὐδ’ ὡς ἰχνευτῇ προσφερὲς πέφυκεν οὐδ’ ὡς καρκίνῳ; οὐδ’ αὖ τοιοῦτ[ό]ν ἐστιν· ἀλλ’ ἄλλον τιν’ ἐξευροῦ τρόπον. ἀλλ᾽ ὡς κεράστ[η]ς κάνθαρος δῆτ᾽ ἐστὶν Αἰτναῖος φυήν; νῦν ἐγγὺς ἔγν[ως] ᾧ μάλιστα προσφερὲς τὸ κνώδαλον. τ[ί δ᾽ αὖ τὸ ] φων[οῦ]ν ἐστιν αὐτοῦ, τοὐντὸς ἢ τοὔξω, φράσον.

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[…] ΧΟ. ΚΥ. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. […] Ch. Ky.

[ποῖον δὲ τοὔνομ᾽ ἐν]νέ[πει]ς; πόρσυνον, εἴ τι πλέον ἔχεις. [τὸν θῆρα μὲν χέλυν, τὸ φωνο]ῦν δ᾽ αὖ λύραν ὁ παῖς καλεῖ. Und wie soll ich glauben, dass etwas Totes mit einer solchen Stimme brüllt? Glaube es nur: Tot nämlich besitzt es eine Stimme, lebend aber war das Tier ohne jeden Ton. Was hatte es für eine Gestalt? War es lang oder gewölbt oder kurz? Langsam, topfförmig, mit fleckiger Haut und voller Runzeln. Ist es einer Katze ähnlich oder eher einem Leopard? Am ehesten dazwischen; denn es ist rund und hat kurze Beine. Eher wie ein Ichneumon oder wie ein Krebs? Es ist keinem von beiden ähnlich. Such nach einer anderen Lösung! Ist es vielleicht wie einer der gehörnten Käfer vom Ätna? Nun bist du ganz nah dran an dem gesuchten Biest. Was aber ist das Klangvolle daran, das Innere oder das Äußere – sag! Bei welchem Namen nennst du es? Rück damit heraus, wenn du noch mehr Informationen hast. Das Tier nennt er „Schildkröte“, das Instrument nennt der Junge „Lyra“.

Eur. TrGF V.1, frg. 190 Kannicht scheint das Überbleibsel eines Gesprächs über die Lyra zu enthalten. Ob auch hier ein Rätsel über das Instrument vorausgegangen sein könnte, ist unklar. Die Dichotomie zwischen Leben und Tod, Tier und Instrument belegt überdies auch Nik. Alex. 559–562. Lateinische Versionen des Rätsels bieten Pacuv. frg. 3 Schierl (in engem Zusammenhang mit Soph. und Eur.) sowie Symphosius, nr. 20 Leary. Schließlich Hor. carm. 3,11,3–6 ebenfalls zur Tonlosigkeit des Tiers gegenüber der Musikalität des Instruments. Zu der Stummheit im Leben gegenüber dem Klang im Tode vgl. ferner das ähnliche Rätsel vom Muschelhorn AP App. VII 32, dessen beide Schlussverse Athen. X 457b in veränderter Form dem Theognis 1229 f. zuschreibt. Literatur: Schierl (2006) 108–110, bes. 109 zu dem im Rätsel häufigen Motiv des unbeseelt Beseelten bzw. stimmlos Klingendem; ferner zum Motiv des stummen Lebens gegenüber einem klagvollen Tod schon Borthwick (1970) 373 ff. 380; Nisbet/ Rudd (2004) 153 f. Jacobs (1803) 362 f. 3 Rätsel vom delischen Apoll AP App. VII 18, Cougny; zit. Athen. X 455de Ἐν Φανερᾷ γενόμην, πάτρην δ’ ἐμοῦ ἁλμυρὸν ὕδωρ ἀμφὶς ἔχει· μήτηρ δ’ ἔστ’ ἀριθμοῖο πάϊς.

A. I Sprachliche Rätsel

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Auf der Sichtbaren bin ich geboren, und meine Heimat hält Salzwasser rings umschlossen; meine Mutter aber ist die Tochter der Zahl.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Der auf der Insel Delos geborene Apoll beschreibt sich und seinen Geburtsort als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive. v. 1a: Delos ist nicht nur als Insel weithin sichtbar, sondern trägt die Sichtbarkeit geradezu in ihrem homonymen Namen: Neben dem Namen Δῆλος steht das Adjektiv δῆλος, welches wiederum synonym zu φανερός ist. Da δῆλος zweiendig und Δῆλος feminin ist, ergibt sich als exakte Übertragung φανερά bzw. Φανερά. vv. 1b–2a: Als Insel ist Delos qua definitionem rundherum von Meerwasser (ἁλμυρὸν ὕδωρ) eingeschlossen. v. 2b: Apolls Mutter ist Leto, die Tochter des Titanen Koios. Athenaios selbst führt als Erklärung an, dass κοῖος im Makedonischen für ἀριθμός gesagt wird. Stimmt dies, steht die Zahl hier gleichsam allegorisch personifiziert für den Titanen mit homonymem Namen. Literatur: Schweighäuser V (1804) 588. Jacobs (1803) 342 f.

4 Rätsel vom Wein AP XIV 52, Beckby; S 92 Ἦν ὅτε σὺν Λαπίθῃσι καὶ ἀλκίμῳ Ἡρακλῆι Κενταύρους διφυεῖς ὤλεσα μαρνάμενος· ἦν ὅτε μουνογένεια κόρη θάνεν ἐν τρισὶ πληγαῖς ἡμετέραις, Κρονίδην δ’ ἤκαχον εἰνάλιον· νῦν δέ με Μοῦσα τρίτη πυρίναις Νύμφαισι μιγέντα δέρκεται ὑελίνῳ κείμενον ἐν δαπέδῳ. Einst habe ich mit den Lapithen und mit dem kraftvollen Herakles die doppelgestaltigen Kentauren vernichtet im Kampf; einmal starb ein alleingeborenes Mädchen durch drei meiner Schläge und einen Kroniden im Meer betrübte dies; nun aber sieht mich die dritte Muse, mich, der ich mich mit feurigen Nymphen mische, während ich auf gläsernem Grund liege.

Form: 3 elegische Distichen

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A Metaphorisierende Rätsel

Erklärung: Die verwendete Ich-Perspektive personifiziert den Wein (οἶνος) als Rätselobjekt und führt so in die Irre. Die Einordnung des Rätsels unter jene, deren angegebene Elemente durch Homonymie verrätselt werden, beruht auf den zentralen vv. 3–4. Auch eine an den anderen beiden Verspaaren orientierte Zuordnung wäre daher prinzipiell möglich (vv. 1–2 personifizierend; vv. 5–6 verallgemeinernd). vv. 1–2: Hier erscheint das Rätselobjekt als ein Kämpfer, der im Krieg der Lapithen gegen die Kentauren auf Seiten der Lapithen zusammen mit Herakles gekämpft hat. Tatsächlich führt nur die Personifikation zu dieser Annahme. Gemeint ist eigentlich der Wein, dem die Kentauren auf der Hochzeit des Lapithenkönigs Perithoos allzu sehr zusprachen, sodass sie wild und ungehobelt wurden; vgl. Hom. Od. 21,295–304 von dem betrunkenen Kentaur Eurytion, der sich an der Braut vergreifen wollte und dem daraufhin zur Strafe Nase und Ohren abgeschnitten wurden, wodurch der Krieg entbrannte. Die Kentauren unterlagen schließlich, sodass hier ganz richtig der Wein – im übertragenen Sinne – als derjenige benannt werden kann, der das Schicksal der Mischwesen besiegelte. vv. 3–4: Hier spielt das Rätsel auf eine zweite mythologische Episode aus der Odyssee an. Die Formulierung beruht auf dem homonymen Charakter der κόρη, die sowohl das Mädchen als auch das Auge bzw. die Pupille bezeichnen kann. Dass eine Auge (μουνογένεια κόρη) des Polyphem blendete Odysseus mit der Hilfe seiner Gefährten, um dem Kyklopen entfliehen zu können, nachdem er ihn mit Wein berauscht und schläfrig gemacht hatte. Er schenkte dem gierigen Kyklopen dreimal (entspricht τρισὶ πληγαῖς) nach (Hom. Od. 9,361), bis dieser zusammenbrach; vgl. Hom. Od. 9,353–394. vv. 5–6: Das letzte Verspaar bezieht sich (verallgemeinernd) auf die Mischung des Weins mit warmem Wasser (metaphorisch personifiziert in den πύριναι Νύμφαι) in einem gläsernen Mischkrug (ὑελίνῳ κείμενον ἐν δαπέδῳ) beim Feste, eventuell sogar bezogen auf die konkrete Situation bei einem Symposion o. ä., zu der das Rätsel vorgetragen wird. Passend dazu wird die dritte der neun Musen, Thaleia, die personifizierte Festfreude eingeführt. δέρκεσθαι steht hier im übertragenen Sinne dafür, dass beides untrennbar verbunden ist, die Festfreude und der Wein. Das Rätsel könnte, mit seinem symposialen Inhalt, tatsächlich typischerweise bei den Rätselspielen der Gelage vorgebracht worden sein und so (auch) an die (bisweilen verheerende) Macht des alkoholischen Getränks gemahnt haben (daher vielleicht der Hinweis auf die Mischung am Schluss).

A. I Sprachliche Rätsel

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Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel von der zweiten Mutter des Dionysos (AP XIV 31), das ebenfalls vom Wein handelt, diesen aber mithilfe ganz anderer inhaltlicher Merkmale umschreibt. Literatur: Jacobs (1803) 353–356.

A. I. 1.4.4 Ergänzt durch Bestandteile und Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Rätsel von der Rosine AP XIV 103, Beckby; S 88 Εἴ με νέην ἔλαβες, τάχα μου πίες ἐκχυθὲν αἷμα· νῦν δ’ ὅτε γηραλέην μ’ ἐξετέλεσσε χρόνος, ἔσθιε τὴν ῥυσαινομένην, ὑγρὸν οὐδὲν ἔχουσαν, ὀστέα συνθραύων σαρκὶ σὺν ἡμετέρῃ. Wenn du mich als junges Mädchen nahmst, trankst du mein rasch fließendes Blut; nun aber, da die Zeit mich zu einer Greisin gemacht hat, iss mich verschrumpelte, denn Feuchtigkeit habe ich keine mehr, und brich meine Knochen zusammen mit meinem Fleisch entzwei.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Die Rosine (ἡ ἀσταφίς) beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive, und zwar im Hinblick auf ihre Entwicklung aus der Weintraube. Die vermenschlichende Personifikation, die das Rätsel bestimmt, lenkt von der Pflanzlichkeit des gesuchten Objekts ab. Dazu tragen sowohl die genannten Körperteile (αἷμα, ὀστέα, σάρξ) als auch die Altersbezeichnungen (νέα, γηραλέα) bei, die im weitesten Sinne die Kategorie des Rätselobjekts festlegen (etwas Junges, etwas Altes). Da jedoch nicht direkt ein konkreter Gegenstand, Sachverhalt oder ein bestimmtes Lebewesen mit dem Rätselobjekt identifiziert wird, für das hier ganz eigentlich nur das Personalpronomen eintritt, ließe sich ebenso auch von einem annullierten Rätselobjekt sprechen. Die Irritation eines Rezipienten, die von der scheinbar grausamen Beschreibung herrühren kann, wird durch die Gegensatzpaare „jung – alt“, „saftig – vertrocknet“ noch verstärkt. v. 1 bezieht sich auf die pralle, saftige Weintraube, aus der (als Blut) Wein gepresst wird. Die vv. 2–4 hingegen beschreiben die Rosine als eigentliches Rätselobjekt, die durch Trocknung und Entsaftung aus der Weintraube entsteht. Das Fleisch bezieht sich direkt auf das Fruchtfleisch, die Knochen als harte Teile im Fleisch

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A Metaphorisierende Rätsel

stehen möglicherweise für die mit den Trauben getrockneten und so porös gewordenen Kerne.

2 Rätsel von der Lyra AP App. VII 57, Cougny = Basil. Megalomit. 13, Anecd. Gr. III, p. 442 Boiss.; 97 Ἔχω τραχηλὸν, καὶ κεφαλὴν οὐκ ἔχω· τετρασκελής τίς εἰμι καὶ ποδῶν δίχα, ἔμπνους τε νεκρὸς, ἀλλὰ χωρὶς ὀστέων. Ich habe einen Nacken, aber keinen Kopf; Ich bin jemand mit vier Beinen und ohne Füße, ich bin zugleich lebend und tot, aber ohne Knochen.

Form: 3 iambische Trimeter Erklärung: Die Lyra beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf den Aufbau des Instruments (Korpus, Saiten). Jeder der drei Verse enthält ein Paradoxon. v. 1: Die Verbindung der Eigenschaften a: „hat einen Nacken“ und b: „hat keinen Kopf“ scheint für ein lebendiges Wesen unmöglich, denn was einen Nacken, aber keinen Kopf (mehr) hat, ist gewöhnlich tot (geköpft). Dass es sich um ein Lebewesen, vielleicht sogar um einen Menschen, handelt, suggeriert fälschlicherweise die Ich-Perspektive der Erzählung. Der Eindruck wird durch die Verwendung von τίς (v. 2) anstelle des inhaltlich korrekten sächlichen τί verstärkt. Tatsächlich ist der Nacken (τράχηλος) auf der Grundlage einer Analogie der länglichen, geraden Form als Metapher für den Steg der Lyra zu verstehen; vgl. den gängigen Gebrauch dieser Metapher zur Bezeichnung des Halses eines Gefäßes bei, hierzu Hero Mechanicus, Spiritalia 1,19; ferner Durrbach (1911) 286. Der Kopf dagegen ist nicht metaphorisch, sondern exakt und seine Verneinung deutet darauf hin, dass gerade nicht nach einem Lebewesen gesucht ist und dass der Nacken als Körperteil metaphorisch aufzufassen ist (ein Nacken, der keinen Kopf trägt, ist kein echter Nacken). v. 2: Die Verbindung der Eigenschaften a: „hat vier Beine“ und b: „hat keine Füße“ erzeugt das zweite Paradoxon. Es funktioniert exakt wie das NackenKopf-Paradoxon: Wie ein Nacken ohne Kopf kein echter (anatomisch-biologischer) Nacken ist, so stehen die Beine ohne Füße metaphorisch für die vier Saiten der Lyra, mit denen sie (ganz wie bei Nacken und Steg) die längliche Form vergleichbar macht. Das Bild ist geradezu spiegelbildlich. Von einer Kör-

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permitte aus gedacht, verläuft der Nacken gerade nach oben und trägt (normalerweise) den Kopf, die Beine verlaufen gerade nach unten und enden (normalerweise) in den Füßen. Das Fehlen der letzteren weist wie die Verneinung des Kopfes darauf hin, dass die Beine als Metapher zu verstehen sind; vgl. dieses Paradoxon von der ungleichen Bein- und Fußzahl auch im Rätsel von der Waage (AP App. VII 42). v. 3: Das dritte Paradoxon entsteht aus der Verbindung der scheinbar unvereinbaren Eigenschaften a: „lebend“ und b: „tot“. Die Formulierung spielt mit der Tatsache, dass das Instrument aus Naturmaterialien, nämlich dem Panzer einer Schildkröte als Korpus und Schafsdarmsträngen als Saiten bestand. Solange die Tiere leben, ist das Instrument nicht vorhanden, d. h. im übertragenen Sinne tot. Wenn die Tiere tot sind und in das Instrument eingehen, lebt das Instrument, insofern es existiert und insofern es tönt; die Doppeldeutigkeit von ἔμπνους käme insofern bei einem Blasinstrument noch stärker zum Tragen, vgl. das Rätsel vom Muschelhorn, das als Trompete im Tod der Schnecke lebendig wird, AP App. VII 32. Da der Schildkrötenpanzer als Korpus den größten Teil des Instruments bildet, ließe sich beinahe von einem Homonymie-Rätsel sprechen, denn der Begriff χέλυς, der zunächst das Tier bezeichnet, steht sekundär auch als Synonym für die λύρα zur Bezeichnung des Instruments selbst. Jener Gedanke, dass ein lebloser Teil des toten Tieres weiterbesteht, kommt auch im zweiten Teil des Schlussverses zum Ausdruck: Der Schildkrötenpanzer (und ebenso die Widderdarmseiten) sind knochenlos (χωρὶς ὀστέων), d. h. vom Rest des toten Tierkörpers getrennt und weiterverarbeitet. Intertextuelle Verweise: Vgl. das inhaltlich ganz anders angelegte Rätsel von Widder und Schildkröte (der Lyra), AP XIV 30. Ferner Hom. h. 4,24–51 zur Erfindung der Lyra durch Hermes: v. 25 die Schildkröte als Sänger (ἀοιδός), v. 31 als Musikinstrument, das beim Symposion gebraucht wird (χοροιτύπος, δαιτὸς ἑταίρη); vv. 47–51 die Herstellung des Instruments aus einem mit Rindsleder überzogenen Schildkrötenpanzer (Korpus), einem Steg aus Schilf und Schafsdarmsaiten, die an den Hörnern des Rindes auf dem Steg befestigt werden. Dann auch Soph. TrGF, frg. 314,299–312 Radt (Ichneutai), wo Kyllene die nach ihrem Schützling Hermes suchenden Satyrn in einer Art Rätsel das Instrument erraten lässt, aus dem Hermes soeben die Lyra gefertigt hatte: ΧΟ. ΚΥ.

καὶ πῶς πίθωμαι τοῦ θανόντος φθέγμα τοιοῦτον βρέμειν; πιθοῦ· θανὼν γὰρ ἔσχε φωνήν, ζῶν δ’ ἄναυδος ἦν ὁ θήρ.

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A Metaphorisierende Rätsel

ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. ΚΥ. ΧΟ. […] ΧΟ. ΚΥ.

ποῖός τις ἦν εἶδος; πρ[ο]μήκης, ἦ ‘πίκυρτος, ἢ βραχύς; βραχύς, χυτροίδης, πο[ι]κίλῃ δορᾷ κατερρικνωμένος. ὡς αἰέλουρος εἰκάσαι πέφυκεν ἢ τὼς πόρδαλις; πλείστον με[τ]αξύ· γογγύλον γάρ ἐστι καὶ βραχυσκελές. οὐδ’ ὡς ἰχνευτῇ προσφερὲς πέφυκεν οὐδ’ ὡς καρκίνῳ; οὐδ’ αὖ τοιοῦτ[ό]ν ἐστιν· ἀλλ’ ἄλλον τιν’ ἐξευροῦ τρόπον. ἀλλ᾽ ὡς κεράστ[η]ς κάνθαρος δῆτ᾽ ἐστὶν Αἰτναῖος φυήν; νῦν ἐγγὺς ἔγν[ως] ᾧ μάλιστα προσφερὲς τὸ κνώδαλον. τ[ί δ᾽ αὖ τὸ ] φων[οῦ]ν ἐστιν αὐτοῦ, τοὐντὸς ἢ τοὔξω, φράσον.

Ch. Ky.

Und wie soll ich glauben, dass etwas Totes mit einer solchen Stimme brüllt? Glaube es nur: Tot nämlich besitzt es eine Stimme, lebend aber war das Tier ohne jeden Ton. Was hatte es für eine Gestalt? War es lang oder gewölbt oder kurz? Langsam, topfförmig, mit fleckiger Haut und voller Runzeln. Ist es einer Katze ähnlich oder eher einem Leopard? Am ehesten dazwischen; denn es ist rund und hat kurze Beine. Eher wie ein Ichneumon oder wie ein Krebs? Es ist keinem von beiden ähnlich. Such nach einer anderen Lösung! Ist es vielleicht wie einer der gehörnten Käfer vom Ätna? Nun bist du ganz nah dran an dem gesuchten Biest. Was aber ist das Klangvolle daran, das Innere oder das Äußere – sag!

Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. Ky. Ch. […] Ch. Ky.

[ποῖον δὲ τοὔνομ᾽ ἐν]νέ[πει]ς; πόρσυνον, εἴ τι πλέον ἔχεις. [τὸν θῆρα μὲν χέλυν, τὸ φωνο]ῦν δ᾽ αὖ λύραν ὁ παῖς καλεῖ.

Bei welchem Namen nennst du es? Rück damit heraus, wenn du noch mehr Informationen hast. Das Tier nennt er „Schildkröte“, das Instrument nennt der Junge „Lyra“.

Eur. TrGF V.1, frg. 190 Kannicht scheint das Überbleibsel eines Gesprächs über die Lyra zu enthalten. Ob auch hier ein Rätsel über das Instrument vorausgegangen sein könnte, ist unklar. Die Dichotomie zwischen Leben und Tod, Tier und Instrument belegt überdies auch Nik. Alex. 559–562. Lateinische Versionen des Rätsels bieten Pacuv. frg. 3 Schierl = Cic. div. 2,64,133 (in engem Zusammenhang mit Soph. und Eur.) sowie Symphosius, nr. 20 Leary. Schließlich Hor. carm. 3,11,3–6 ebenfalls zur Tonlosigkeit des Tiers gegenüber der Musikalität des Instruments. Zu der Stummheit im Leben gegenüber dem Klang im Tode vgl. ferner das ähnliche Rätsel vom Muschelhorn AP App. VII 32, dessen beide Schlussverse Athen. X 457b in veränderter Form dem Theognis 1229 f. zuschreibt. Literatur: Schierl (2006) 108–110, bes. 109 zu dem im Rätsel häufigen Motiv des unbeseelt Beseelten bzw. stimmlos Klingendem; ferner zum Motiv des stummen Lebens

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gegenüber einem klagvollen Tod schon Borthwick (1970) 373 ff. 380; NisbetRudd (2004) 153 f.

A. I. 1.4.5 Ergänzt durch Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Rätsel von der Zeit Psellos 3, Anecd. Gr. III, p. 430 Boiss.; S 59 Εἶδον ἀῤῥήτοις ὄμμασι, δέσποτα στεφηφόρε, Νέον, πρεσβύτην ἐν ταυτῷ τέλειον λελειμμένον, Ὑψιπετῆ καὶ χθαμαλόν, κλονούμενον, ἑδραῖον, Φωτίζοντα, σκοτίζοντα, τέμνοντα, συμπυλοῦντα, Τοὺς μὲν ἐκ γῆς ἀνάγοντα, τοὺς δὲ πρὸς γῆν κρατοῦντα Καὶ σώζοντα, καὶ τῇ φθορᾷ τῆς ὕλης συμπηγνύντα. Ich sah mit weit blickenden Augen, oh kranztragender Herr, einen Jungen, einen Alten, zugleich Vollendeten und Zurückgelassenen, hoch Fliegenden und niedrig Kriechenden, Dahinfliehenden, Beständigen, Leuchtenden, Verdunkelnden, Zerschneidenden, Verbindenden, die einen von der Erde emporführend, die anderen zur Erde niederdrückend, einen, der sowohl rettet, als auch das Verderben der Materie bewerkstelligt.

Form: 6 byzantinische trochäische Sechzehnsilbler Erklärung: Die Zeit beschreibt sich in diesem Rätsel aus der Ich-Perspektive in ihrer ewigen Unvergänglichkeit, die gewissermaßen als Augenzeuge des Weltgeschehens alles sieht. v. 1: Der χρόνος beginnt mit der Umschreibung seiner alles umfassenden Eindrücke. Dass diese als optische Sinneseindrücke dargestellt sind, muss natürlich im metaphorisch erweiterten Sinne begriffen werden. Die Zeit besitzt als stoff- und gestaltloses Abstraktum keinen (festen) Körper und damit auch keine (menschlichen) ὄμμα. Sie sieht nur im weiteren Sinne einer Autopsie, insofern sie gewissermaßen omnipräsent, d. h. überall und immer anwesend ist; diese Allgegenwärtigkeit kommt als Eigenschaft der Zeit auch in einem weiteren Rätsel von der Zeit (Athen. X 453b) sowie in einer superlativischen Rätselfrage nach dem Ältesten (Plut. conv. sept. sap. 153a) zum Ausdruck. Die Charakterisierung ihrer Augen als ἀρρήτα lässt sich somit auf folgende Weise verstehen: 1. Unsäglich sind die Augen der Zeit in dem Sinne, dass sie Unsagbares, d. h. auch jeden erdenklichen Gegensatz (vv. 2–3 und 4–5) wahrnehmen (kausative Enallage).

158 2.

3.

A Metaphorisierende Rätsel

Unsäglich im Sinne einer unerbittlichen Grausamkeit sind die Augen der Zeit, insofern sie alles, was geschieht, d. h. auch Schlimmes, geschehen lässt und dabei zusieht. Ihr Auge ist gleichsam unbeeinflussbar. Unsäglich groß bzw. umfassend ist schließlich der Blickwinkel der Zeit, die schlichtweg alles sieht.

Schultz (1912) 12 attestiert der Zeit fälschlicherweise „verhüllte Augen“. Nicht nur, dass dies kaum mehr im Bedeutungsspektrum von ἄρρητος liegt, vielmehr bleibt auch vollkommen unverständlich, inwiefern die Zeit ausgerechnet als blind gelten könnte. v. 1b: Es handelt sich hierbei wohl um eine Widmung an den Empfänger der Rätselsammlung, den byzantinischen Mitkaiser Konstantin X. Dukas, für dessen Vater, Michael VII. Dukas, Psellos als Erzieher tätig war; vgl. Schultz (1909) 64; zur Verbindung zwischen Michael Psellos und der Dukas-Dynastie aus historischer Perspektive vgl. Ostrogorsky (1963) 282–286; Polemis (1968); Tiftixoglu (1993) 97–111. vv. 2–4: Das Gesehene, das im untrüglichen Blick der Zeit Wahrgenommene, ist in der Folge anhand von sechs Gegensatzpaaren dargestellt: a) jung – alt b) vollendet – (unvollendet) zurückgelassen c) hoch fliegend – niedrig kriechend d) zerschneidend – verbindend Alte und junge Menschen, solche, die ihre vorgesehene Lebenszeit vollenden, und solche, die vor ihrer Zeit sterben, solche, denen es gut geht, und solche, die buchstäblich „am Boden“ sind, Trennungen und Verbindendes – kurz: jede nur erdenkliche Ausformung des Schicksals, die sich ereignet, d. h. die im Laufe der Zeit geschieht, wird von der Zeit als Begleiterscheinung des Geschehens wahrgenommen. vv. 5–6: Es schließen sich zwei weitere Gegensatzpaare an, die das ambivalente Wirken der Zeit (zur Handlung personifiziert) veranschaulichen: a) in den Himmel führend – zur Erde niederdrückend b) rettend – verderbend. Am Schluss des Rätsels scheint die (neutrale) Zeit mit dem Schicksal zu verschwimmen. Gegensatzpaar e entspricht c, macht also das Rätselobjekt zu demjenigen, der aktiv darüber bestimmt, ob es den Menschen gut oder schlecht ergeht. Dies bringt auch der letzte Vers des Rätsels für sich genommen klar zum Ausdruck: Die schicksalhafte Zeit kann sowohl Rettung bringen, insofern die

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vergangene Zeit etwa das Ertragen eines schweren Schicksalsschlags erleichtert, als auch Verderben, und zwar insbesondere für den vergänglichen (Körper des) Menschen; vgl. zu ὕλη als körperliche Materie die Lösung νοῦς ἢ οὐρανός für AP App. VII 76 = Basil. Megalomit. 40 Boiss.; S 59a. Schultz (1912) 13, dessen Grundannahme dahingeht, dass jedes alte, echte Rätsel auf den Mond zu deuten sei, kritisiert χρόνος als Lösung und bevorzugt auch hier den Mond, indem er – nicht ganz zu Unrecht – anmerkt, dass „die rettende Zeit ein sonst nirgends ausgeprägter Begriff ist“. In der Tat gilt das den Körper zermürbende Alter gemeinhin eher als beschwerlich, doch kann die nicht auf das Lebensalter bezogene Zeit in ihrem Vergehen, wie gesagt, durchaus auch eine positive Wirkung aufweisen, weshalb ich Schultz’ Einwand letztlich – v. a. in Anbetracht seines Gegenentwurfs – als willkürlich empfinde. Literatur: Schultz (1912) 12 f. vergleicht das vorliegende Rätsel mit Psellos 2 Boiss. (S 73), dem Rätsel vom Mond, und glaubt, dass auch Psellos 3 Boiss. letztlich auf den Mond in seiner Funktion als Zeitmesser geht.

2 Rätsel vom Schreibwachs AP XIV 45, Beckby; S 76 Εἰμὶ μέλας, λευκός, ξανθὸς ξηρός τε καὶ ὑγρός· εὖτε δὲ δουρατέων πεδίων ὕπερ ἐντανύσῃς με, Ἄρεϊ καὶ παλάμῃ φθέγγομαι οὐ λαλέων. Ich bin schwarz, weiß, gelb, trocken und auch flüssig; wenn du mich aber über Holzplatten spannst, rede ich durch Ares und durch die Hand, obwohl ich nicht spreche.

Form: 2 Hexameter + 1 Pentameter Erklärung: Aus der Ich-Perspektive beschreibt sich das Schreibwachs als Rätselobjekt im Hinblick auf seine Verwendung. v. 1: Der Anfang des Rätsels betrifft Farbe und Konsistenz des Wachses. Die Zusammenstellung der gegensätzlichen Eigenschaften schwarz – weiß (und gelb) und trocken – flüssig wirkt paradox. Die Lösung dieser scheinbaren Unmöglichkeit liegt darin, dass die verschiedenen Eigenschaften dem gesuchten Objekt nicht – wie im Text suggeriert – gleichzeitig, sondern in verschiedenen Stadien seiner Existenz zukommen. So ist Wachs als solches fest bzw. trocken, lässt sich aber durch Hitze verflüssigen. Ebenso nimmt es unterschiedliche Farben im Laufe seiner Produktion (und Verarbeitung) an: Während natürlich pro-

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duziertes, von Honigbienen ausgeschwitztes Wachs zunächst von ganz heller, geradezu weißer (λευκός) Farbe ist, entsteht seine gelbe (ξανθός) Färbung bei der Weiterverarbeitung der Wachsplättchen im Bienenstock durch den Kontakt mit im Blütenpollen enthaltenen Pollenöl, das den gelben Naturfarbstoff Carotin beinhaltet. Durch das Bebrüten der aus Wachs gebauten Waben nehmen diese im Laufe der Zeit – in einem Abnutzungs- bzw. Verschmutzungsprozess – eine schwarz-braune (μέλας) Farbe an. Diese schmutzigen Waben lassen sich einschmelzen, sodass das Wachs von den Schmutzstoffen getrennt werden kann und erneut helles Wachs entsteht. Sollte Bienenwachs als Grundierung auf eine Schreibtafel aufgebracht werden, wovon im vorliegenden Rätsel ausgegangen zu sein scheint (v. 2), wurde es zudem in aller Regel durch die Mischung mit Ruß oder Birkenpech schwarz gefärbt, wodurch ein deutlicherer Farbkontrast für die mit dem Stilus (v. 3) eingeritzten Schriftzeichen entsteht. Jene Angaben zu Farbe und Textur des Schreibwachses sind nicht transformiert, sondern exakt. Die Schwierigkeit liegt in ihrer scheinbaren Gleichzeitigkeit. v. 2: Hier wird ein direkter Hinweis auf die Verwendung gegeben: Das Wachs wird in flüssigem Zustand auf eine hölzerne Unterlage, verallgemeinernd umschrieben als δουρατέων πεδίων, aufgetragen, wo es zu einer Schicht trocknet, in welche dann mit dem Griffel Schrift eingeritzt werden kann. v. 3: Das „Sprechen“ des gesuchten Objekts bezieht sich metaphorisch (verallgemeinernd) auf die Schrift, die in das Wachs geritzt wird. Es „spricht“, insofern es Worte, Sätze etc. darstellt, ohne diese jedoch sprachlich zu artikulieren. Das entsprechende Paradoxon aus der Zusammenstellung der widersprüchlichen Eigenschaften φθέγγομαι und οὐ λαλέων erschwert das Verständnis. Ares (Ἄρεϊ) steht als Metonymie (causa pro effectu) für das Eisen, aus dem der Griffel gemacht ist, den die Hand (παλάμῃ) beim Schreiben führt. Die durchaus gängige Verbindung von Ares zum Eisen evoziert eventuell gewöhnlich kriegerische Assoziationen, die hier fehl am Platze sind und dem Rezipienten die Lösung erschweren. Intertextuelle Verweise: Vgl. das thematisch verwandte Rätsel von der hölzernen Schreibtafel, AP XIV 60, in dem ebenfalls Ares für den Griffel steht.

3 Rätsel von dem Toten in einem lebenden Grab AP XIV 36, Beckby; S 83 Πικρή μοι ζωή, θάνατος γλυκύς, ὕδατα δ’ ἄμφω, θνῄσκω ἀναιμάκτοις ἔγχεσι νυσσόμενος·

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ἢν δέ τις ἐν ζώοντι νέκυν τύμβῳ με καλύψῃ, αἵματι συγγενέων πρῶτον ἀποβρέχομαι. Bitter ist mein Leben, mein Tod aber ist süß, Gewässer sind beide, ich sterbe von Pfeilen, die kein Blut vergießen, durchbohrt; wenn aber einer meinen Leichnam im lebenden Grabe bestattet, vom Blut meiner Verwandten werde ich dann erstmals umspült.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Als Rätselobjekt beschreibt sich nach Beckby z. St. mit Buttmann ein gekochter Speisefisch im Hinblick auf seine Verarbeitung aus der Ich-Perspektive. v. 1: Die chiastische Gegenüberstellung der Gegensätze „bitteres Leben“ – „süßer Tod“ erscheint paradox oder doch kontraintuitiv. Tatsächlich steht ζωή hier verallgemeinernd für das Wasser (ὕδωρ), in dem der Fisch lebt und stirbt. Als Meeresfisch lebt er im bitteren Salzwasser, wird aber bei der Speisezubereitung in Süßwasser gekocht. v. 2: Auch die Attribuierung todbringender Pfeile als ἀναίμακτος scheint, insbesondere unter Einbeziehung des Partizips νυσσόμενος, welches offene Wunden suggeriert, paradox. Dabei stehen die ἔγχεα sinnbildlich (FunktionsAnalogie) für die (unsichtbare) Hitze des kochenden Wassers, in dem der lebendig gekochte Fisch stirbt, ohne dass ihm sichtbare Wunden geschlagen würden, oder der tote Fisch weiter zerkocht wird. vv. 3–4: Der Schluss des Rätsels bezieht sich auf den Verzehr des Fisches, der im Magen des Menschen im übertragenen Sinne sein Grab findet, insofern er darin als Toter zu liegen kommt. Die Umschreibung des Magens als ζῶων τύμβος wirkt in der Verbindung dieser existenziellen Gegensätze paradox und erschwert das Verständnis der Formulierung. Das αἷμα συγγενέων deutet auf eine bestimmte Art der Sauce hin, die sich ebenfalls im Magen des Speisenden sammelt und so den toten Fisch umspielt, vgl. LSJ 38 s. v. αἱμάτιον, hierzu dann auch Athen. II 63c, wo verschiedene Fischsaucen thematisiert sind. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel von Polyphems Auge, das geblendet wurde und dann als Toter in einem lebendigen Grab (dem Körper Polyphems bzw. der Augenhöhle) lag, AP XIV 109. Ferner das Rätsel vom Fisch im Topf, AP XIV 23. Literatur: Jacobs (1803) 363 f.

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4 Rätsel vom Salz AP App. VII 81, Cougny; S 63 Ὕδατος ἐκγενόμην, τράφε δ’ ἥλιος αὖτις ἀθάνατος· θνήσκω δέ γε μητέρι μούνῃ. Aus dem Wasser werde ich geboren, mich nährt wiederum die unsterbliche Sonne; ich sterbe aber nur durch die Mutter.

Form: 2 Verse mit je 5 Daktylen Erklärung: Das aus der Ich-Perspektive formulierte Rätsel ist unter dem Lemma Εἰς ἅλας überliefert. Bestimmt wird das Rätsel durch die Gegensätze von Wasser (ὕδωρ) und Sonne (ἥλιος) bzw. Unsterblichkeit (ἀθάνατος) und Tod (indirekt in θνήσκειν). Paradox erscheint ferner die Mutter (μήτηρ), d. h. die Gebärerin, als Todesursache. v. 1: Der Gegensatz zwischen Wasser und Sonne wird verstärkt durch den chiastischen Aufbau des Verses. Dass die Gegensätze mit Geburt und Aufzucht verbunden werden, suggeriert einen Wesenswandel des Rätselobjekts im Verlauf seines „Lebens“. v. 2: Sehr wirkungsvoll nebeneinander gestellt sind die gegensätzlichen Begriffe ἀθάνατος und θνήσκω. Wenngleich sie nicht beide das Salz als Rätselobjekt betreffen (ἀθάνατος attribuiert die Sonne) und so kein strenges Paradoxon erzeugen, irritiert doch ein derartig elementarer Wesensunterschied zwischen Amme (ἥλιος) und Zögling (ἅλς). Der Tod durch die eigene Mutter ist ferner wörtlich nicht zu begreifen. Vielmehr ist der Tod gleichsam metaphorisch aufzufassen: Das Salz wird durch das Wasser, aus dem es entstand, nicht unwiederbringlich vernichtet, es wird nur unsichtbar, wenn sich die Ionen-Verbindungen im Wasser auflösen. Die TodesMetapher beruht somit auf einer Analogie der Wirkung: Etwas ist nicht länger optisch-haptisch wahrnehmbar und in diesem weiteren Sinne des Nicht-Vorhandenseins tot. Dadurch dass die Mutter hier beinahe am letzten Ende des zweiten Verses steht, bildet sie mit dem v. 1 einleitenden ὕδατος gewissermaßen einen Rahmen, denn, obwohl dies im Rätseltext nicht expliziert wird, sind ὕδωρ und die metaphorisch gesagte μήτηρ ja gerade miteinander identisch. In einem kunstvolleren Rätsel wären wohl die Genera der beiden Begriffe aufeinander abgestimmt, sodass die Identifikation sinnvoller erschiene. Da das Wasser jedoch als Neutrum gilt, ist die vollständige Identifikation mit einem Elternteil bei den gewählten Begriffen nicht zu leisten. Trefflich wäre wohl ἡ ἅλς als Bezeichnung für die Mutter-See gewesen – zumal ὁ ἅλς das Salz als Rätselobjekt bezeichnet,

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wodurch der genealogische Zusammenhang zwischen (Meer-)Wasser und Salz noch pointierter hervorgehoben wäre. Dem ganzen Rätsel liegt die Beobachtung der antiken Salzgewinnung aus Meerwasser zugrunde. Das Wasser wird in Salzgärten geleitet, wo es unter Sonneneinstrahlung verdunstet, sodass die im Wasser gelösten Salz-Ionen kristallisieren. Das Salz wird somit – metaphorisch gesprochen – aus dem Wasser geboren, insofern es aus ihm hervorgeht. Die Sonne „nährt“ (τρέφειν) das Salz, insofern sie für sein Wachstum als Feststoff sorgt (Kristallisation), d. h. ihn auch überhaupt erst als solchen sichtbar macht. Würde erneut Wasser über die Salzkristalle gespült werden, würden diese ihre feste Form verlieren und sich ins Wasser hinein auflösen, d. h. „sterben“; vgl. Blümner (1914) und ders. (1920) 2075–2099, zur Kristallisation allgemein 2076. 2085, zum Einfluss der Sonne 2077; vgl. ferner Plin. nat. 31,74; Aristot. mir. 844a. 5 Rätsel von der Argo AP XIV 59, Beckby; S 56 Υἷας πεντήκοντα μιῇ ἐνὶ γαστρὶ λαβοῦσα φηλητῶν πάντων ἔκτανον ἡγεμόνα. αὐτὰρ ὃ δὶς τέθνηκεν, ἐπεὶ δύο γαστέρες αὐτὸν τίκτον, χαλκείη καὶ πάρος ἀνδρομέη. Fünfzig Söhne empfing ich in einem Schoß, von all diesen Räubern tötete ich den Anführer. Aber dieser ist zweimal gestorben, denn auch zwei Schöße brachten ihn hervor, der eine aus Erz und zuvor ein menschlicher.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Aus der Ich-Perspektive beschreibt sich die Argo als Transportmittel der Argonauten, deren Anführer, Iason, eine Schiffsplanke erschlug. v. 1: Die Anzahl der Argonauten wird gemeinhin auf (etwa) fünfzig angegeben, vgl. die (selbstverständlich nicht immer einheitlichen) Teilnehmerlisten bei Pind. P. 4,117–187; Apoll. Rhod. 1,20 ff.; Val. Fl. 1,353 ff.; Apollod. 1,16,7–9; Hyg. fab. 14; Orph. Arg. 119 ff.; einführend zu den Argonauten auch Schauenburg (1965). Als Söhne sind sie hier im übertragenen Sinne (Verwandtschaftsrätsel) bezeichnet. Dies mag einerseits darauf abheben, dass sie durch die Reise mit dem Schiff auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies zu „den Argonauten“ wurden, andererseits handelt es sich u. U. um eine formale Analogie, in der der Bauch des Schiffes (γαστήρ), in welchem sich die Passagiere befinden, dem Bauch einer (schwangeren) Mutter ähnelt. Auf der Bildebene irritiert natürlich die große Zahl der Kinder.

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v. 2: Inhaltlich Paradox erscheint, dass die Mutter ihre eigenen Söhne als Diebe bezeichnet, und ihren Anführer (man denkt vielleicht an den Erstgeborenen) sogar tötet. Räuber sind die Argonauten jedoch tatsächlich, als sie das goldene Vlies des Widders Chrysomeles, welches König Aietes von Kolchis in einem heiligen Ares-Hain von einem niemals schlafenden Drachen bewachen ließ, mithilfe der Königstochter Medea stahlen und nach Iolkos brachten. Seinen Tod fand Iason, als er, unter dem Schiff liegend, von einer Planke erschlagen wurde (Eur. Med. 1368–1388). vv. 3–4: Die zweite Geburt bezieht sich ebenso wie der erste Tod auf die Verjüngung Iasons durch Medea, die einen entsprechenden Zauber beherrschte, bei dem der Betreffende zerstückelt und gekocht (d. h. getötet) wurde. Die γαστὴρ χαλκείη umschreibt entsprechend den Kessel, in dem Iason gekocht und aus dem er dann im übertragenen Sinne neu geboren wurde. Die Analogie beruht auf der Form-Ähnlichkeit zwischen dem gewölbten Kessel und dem Bauch einer Schwangeren. Intertextuelle Verweise: Vgl. die Metapher von der doppelten Geburt auch im Rätsel von der zweiten Mutter des Weins (Dionysos, geboren aus dem Schenkel des Zeus), AP XIV 31. Ferner Eur. Hyp. Med. und 1386–1388, wo die gekränkte Medea Iason seinen Tod durch eine Planke der Argo prophezeit. Literatur: Jacobs (1803) 352 f. 6 Rätsel von der kindgeborenen Mutter AP XIV 41, Beckby; S 6 Μητέρ’ ἐμὴν τίκτω καὶ τίκτομαι· εἰμὶ δὲ ταύτης ἄλλοτε μὲν μείζων, ἄλλοτε μειοτέρη. Meine Mutter gebäre ich und ich werde (von ihr) geboren; als sie bin ich einmal größer, ein anderes Mal kleiner.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um eine leicht abgewandelte Variante des Rätsels von Tag und Nacht (AP App. VII 14). Hier beschreibt sich eines der Rätselobjekte (ob Tag oder Nacht ist nicht zu entscheiden) aus der Ich-Perspektive. Es entfällt die ebd. und AP XIV 40 stark gemachte Vorstellung von den zwei Schwestern, das Rätsel ist auf die gegenseitige Mutterschaft verkürzt (v. 1a). Der Hinweis auf die wechselnden Größenverhältnisse (vv. 1b–2) lässt sich metaphorisch auf die chronolo-

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gische Abfolge, d. h. auf die Priorität der beiden Frauen deuten. Die größere ist die erste – und dieser Status wechselt natürlich mit jedem Tag und jeder Nacht. McCartney (1930) 281 deutet die zyklisch wechselnden Größenverhältnisse hingegen auf den (zunehmenden) Mond, dessen – einmal kleinere, einmal größere (ἄλλοτε μὲν μείζων, ἄλλοτε μειοτέρη) Form – schließlich den Vollmond hervorbringen und im darauffolgenden Zyklus, wieder aus jenem hervorgehen; weniger konkret, doch insgesamt ähnlich auch Schultz (1909) 23. Intertextuelle Verweise: Vgl. die thematisch verwandten Rätsel von Tag und Nacht (AP App. VII 14) und von den zwei Schwestern (AP XIV 40). 7 Rätsel vom Ölbaum AP XIV 37, Beckby; S 89 Παλλάδος εἰμὶ φίλη, τίκτω δ’ ἀπερείσια τέκνα, ἃ κατὰ πετράων ἄνδρες βάλον· ὀλλυμένων δὲ Πηλείδῃ φάος ἔσκε, βροτῶν ἄκος, ἕρκος ἀγώνων. Der Pallas bin ich lieb, ich gebäre aber unzählige Kinder, welche unter Steine die Menschen werfen; im Tode aber sind sie dem Peliden Licht, der Menschen Heilung und Abwehr der Wettkämpfer.

Form: 3 Hexameter Erklärung: Der Olivenbaum (ἡ ἐλάα) beschreibt sich als Rätselobjekt selbst, indem er auf die unterschiedlichen Formen seiner Verwendung hinweist. v. 1: Der Olivenbaum ist eines der am engsten mit Athene verknüpften Attribute, vgl. die Episode, in der sie mit Poseidon um die Schirmherrschaft Athens kämpft, die ihr zugesprochen wird, weil sie der Stadt mit dem Ölbaum ein nützlicheres Geschenk macht als Poseidon mit einer Salzwasserquelle (Hdt. 8,55; Apollod. 3,14,1–4; Ov. met. 6,75–82); hierzu auch Preller/Robert (31872) 166 f. Das feminine φίλη erklärt sich durch das verschlüsselte Bezugswort ἡ ἐλάα. Die zahlreichen Kinder (ἀπερείσια τέκνα) stehen wie in einem Verwandtschaftsrätsel metaphorisch für die Oliven als Früchte, die der Baum hervorbringt. Zwischen den beiden Vershälften besteht somit ein inhaltliches Paradoxon: Da Athene ebenfalls für ihre Jungfräulichkeit bekannt ist (vgl. ihren Beinamen Παρθένος), löst die hier behauptete Freundschaft zu einer Frau mit zahllosen Kindern, dem Gegenteil einer Jungfrau also, eine gewisse Irritation aus. Die Lösung bringt die Ausdeutung der Metapher. v. 2a: Die Rede ist von den Oliven, die in einer Presse (aus Stein) zu Öl verarbeitet werden. Auf der metaphorisch-menschlichen Ebene klingt die be-

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schriebene Handlung zunächst ungemein barbarisch, doch die Tatsache, dass die Menschen (ἄνδρες) als Handelnde explizit genannt werden, weist darauf hin, dass die Frau, die spricht, selbst nicht zur Gruppe der Menschen gehört und dass die benannten Verwandtschaftsverhältnisse deshalb im übertragenen Sinne zu verstehen sind. vv. 2b–3: Es ist die Rede von den unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der aus der Olive hergestellten Produkte: a) Als Personenname steht Πηλείδης gewöhnlich für Achill als Sohn des Πηλεύς. Hier allerdings wird mit dem Wort πηλός für Lehm gespielt; vgl. zur volksetymologischen Verbindung beider Begriffe LSJ 1400 s. v. Πηλεύς. Wie im ersten Teil des Rätsels wird auch hier ein metaphorisches Verwandtschaftsverhältnis installiert: Der Sohn des Lehms ist etwas, das aus Lehm gemacht wird, d. h. genealogisch daraus hervorgeht. Gemeint ist das irdene Gehäuse einer Lampe, für welches Öl als Brennstoff zur Erzeugung von Licht (φάος) genutzt wurde. b) Öl wurde für die Körper- und Krankenpflege verwendet. Es war die Grundlage zur Herstellung von Salben, Balsamen, Pasten und Salbölen und galt gleichermaßen als Gesundheitselexier (ἄκος). Plinius empfahl zwei Flüssigkeiten für den Menschen: innerlich den Wein und äußerlich das Olivenöl (duo sunt liquores humanis corporibus gratissimi, intus vini, foris olei, Plin. nat. 14,29). Demokrit soll auf die Frage, wie man gesund bleiben und alt werden könne, mit der diätetischen Regel geantwortet haben: „innerlich Honig und äußerlich Öl“ (ἐντὸς μέλιτι βρέχοι, τὰ δ᾽ ἐκτὸς ἐλαίῳ, zit. Athen. II 26). c) Hierbei handelt es sich um einer Erweiterung des zweiten Punktes: Die Wettkämpfer wurden mithilfe von Olivenöl auf ihre Kämpfe vorbereitet. Man bereitete ihnen Speisen mit Olivenöl zu und massierte auch ihre Körper damit. Das Öl bewahrte die Poren vor dem Eindringen von Schmutz und schützte die Haut außerdem vor Kälte und Sonnenbrand; vgl. Hom. 18,350. 24,587; Gal. 11,516. 868; 13,460; Plin. nat. 15,19. Vgl. zur medizinischen Anwendung von Olivenöl etwa Hug (1920) passim, bes. 1852. 1856; v. a. Pease (1937) 2461 f.; Hurschmann (1999) 627 f. Etwas zu einseitig ist dagegen die Lösung bei Beckby, die nur auf das äußerliche Einreiben mit dem Öl hinweist; vgl. auch Bensen (1842) 50.

Literatur: Jacobs (1803) 364.

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8 Rätsel von den zwei Brüdern (Würfeln) Alkibiades, Ep. Gr., varia *1120 Kaibel; Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 Walz)2 εἰσίν μοι δύο κασίγνητοι, οἱ δύο μοῦνοι, ὄφρα μὲν οὖν ζώωσι, τὸν ἥλιον οὐκ ἐσορῶσι, αὐτὰρ ἐπεί κε θάνωσι καὶ ἀνδρῶν χεῖρας ἵκωνται, ἠέλιόν τε ὁρῶσι καὶ ἀλλήλοισι μάχονται. Ich habe zwei leibliche Brüder, die beide nur einer sind; solange sie leben, blicken sie nicht in die Sonne, aber wenn sie Tod sind und die Hände der Menschen sie halten, dann sehen sie die Sonne und kämpfen gegeneinander.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Bei dem in der Ich-Perspektive verfassten Text handelt es sich um ein Verwandtschaftsrätsel. Das eigentlich gesuchte Rätselobjekt ist das Ich, das sich indirekt über die beiden Brüder (δύο κασίγνητοι) beschreibt, die es hat. Je nachdem, wie der Dativus possesivus (εἰσίν μοι) aufgefasst wird, ergeben sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten: Entweder gibt es insgesamt drei Brüder, von denen einer spricht. In diesem Falle wären insgesamt drei Würfel zu raten; so auch Ohlert (21912) 157. Oder das sprechende Ich bezeichnet den Besitzer eines Brüderpaares. Dann wäre – über die zwei Spielwürfel – auch der Würfelspieler als ihr Besitzer zu erraten; so Schultz (1912) nr. 29. Diese Zweideutigkeit erschwert das Verständnis des Rätsels zusätzlich. v. 1: Die Brüder sind – je nach überlieferter Textvariante – betonte Vollbrüder und identisch (κασίγνητοι ... δύο μοῦνοι) oder gleichnamig und identisch (ἀδελφοὶ ὁμώνυμοι ... δυ’ ὅμοιοι). Obwohl sich Brüder oft nahe stehen und wohl durchaus zum Teil auch sehr ähnlich sind bzw. sehen, sind sie doch niemals identisch. Das scheinbare Paradoxon, in dem zwei und eins dasselbe sind (δύο μοῦνοι/ὅμοιοι), wird in der zweiten Variante noch verstärkt durch die Vorstellung gleicher Namen für beide (gleichen) Brüder. Das Rätsel müsste sich dann (im wörtlichen Sinne) also auf gleichnamige, eineiige Zwillinge beziehen – eine Konstellation, die wohl mit Recht als unwahrscheinlich gelten kann. Für Würfel lässt sie sich im übertragenen Sinne insofern auflösen, als dass sie ihrem Ausse-

2 Das auf einem römischen Hermenschaft gefundene, dem Alkidamas zugeschriebene Rätsel besteht nur aus den ersten drei Versen (mit leichten sprachlichen Abweichungen). Tryphon überliefert die vollständige Variante aus vier Versen.

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hen nach tatsächlich kaum zu unterscheiden (und in diesem Sinne identisch) sind und denselben Namen, nämlich die Bezeichnung als Würfel, tragen. μοῦνοι dürfte also in diesem Zusammenhang nicht als konkrete Zahlangabe aufgefasst werden, sondern müsste eher als abstraktes Qualitätsmerkmal gelten, und der (Personen-)Name (ὄνομα) würde zur Bezeichnung verallgemeinert. Das scheinbare Paradoxon, das die Zahlen eins und zwei gleichsetzt, wird eventuell weiter plausibilisiert durch den Umstand, dass die Würfel für ein Spiel aus einem Knochen und vielleicht sogar von einem Hersteller geschnitzt werden und so aus identischem Material bestehen, also im weiteren Sinne identisch – d. h. zweimal einer – sind. Als Brüder können die Würfel somit in folgendem übertragenen Sinne gelten: 1. Sie gehören zu derselben Gattung. 2. Sie ähneln einander. 3. Sie haben dieselbe Abstammung. v. 2: Die Beschreibung der Brüder enthält ein weiteres Paradoxon, das auf der kontraintuitiven Verbindung von Gegensatzpaaren beruht. Das Leben der Brüder wird mit Dunkelheit (ἥλιον οὐκ ἐσορῶσι), ihr Tod mit Licht identifiziert (ἠέλιόν τε ὁρῶσι). Während der erste Zusammenhang zwar prinzipiell möglich, aber sehr ungewöhnlich (etwa bei Blinden) ist, scheint die zweite Verbindung völlig unmöglich. Es müsste denn eine ominöse Heilung im Tod etwa durch Heiligwerdung oder Ähnliches angenommen werden, die einen Blinden sehend macht. Leben und Tod sind hier in übertragener Bedeutung gebraucht, denn sie betreffen in Wirklichkeit das Tier, aus dessen Knochen (nach seinem Tod) die Würfel hergestellt werden. Beides wird auf den Knochen selbst als pars pro toto bzw. die daraus entstehenden Würfel übertragen, die so – zur Irreführung – personifiziert werden. Tatsächlich wird mit dem Tod des Tieres der Würfel ja erst geboren. Das aktiv gebrauchte Prädikat „sehen“, trägt zusätzlich zur Personifizierung bei. Dabei darf auch das Verb nicht wörtlich verstanden werden, denn weder Knochen noch Würfel haben eine aktive Sinneswahrnehmung. „In die Sonne sehen“ ist also eine Umschreibung für das passive „von der Sonne beschienen Werden“ und bezieht sich auf die Lage der Knochen im lebendigen, aber sonnenleeren Körper des Tieres und auf die Verwendung der Würfel im Spiel nach dessen Tod außerhalb des Tierkörpers – unter der Sonne. v. 4: Zusätzlich wird das Verständnis des Gesagten dadurch erschwert, dass das Ich des Rätsels von einem Kampf (μάχονται) der Brüder spricht. Der Rezipient stellt sich nicht nur die Frage, warum Brüder gegeneinander kämpfen sollten, sondern vor allem, wie Tote gegeneinander kämpfen können. μάχομαι ist dabei in übertragenem Sinne, nicht für eine kriegerische Auseinandersetzung, sondern in seiner weniger gebräuchlichen und daher schwieriger zu erschlie-

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ßenden Bedeutung für die Beschreibung eines spielerischen Wettkampfes gebraucht. Dabei können (a) zwei Würfel oder (b) die gegenüberliegenden Seiten eines Würfels, die darum ringen, welche oben liegen bleibt, als Kämpfer umschrieben sein. Die von Tryphon präsentierte Variante des Rätsels stellt ferner einen Zusammenhang der Brüder mit den Händen der Menschen (ἀνδρῶν χείρας) her.3 Hierbei handelt es sich eher um einen echten Hinweis als um eine weitere Verschlüsselung. Die Formulierung weist auf die Funktion bzw. die Verwendung der „Brüder“ als Würfel hin und führt unausgesprochen den Gegensatz zwischen den Menschen und den zu ratenden Tieren bzw. deren Knochen ein. Durch diese Gegenüberstellung werden die (fälschlicherweise) personifizierenden Elemente des Rätsels konterkariert. Damit ist ein echter Hinweis auf die Rätsellösung gegeben, die nur dadurch paradox erscheinen kann, dass sie – wegen jener Abhebung des Gesuchten von dem (personifizierten) Menschen – nicht zu der übrigen Beschreibung passt. 9 Rätsel von der Klistierspritze AP XIV 29, Beckby; S 61 Μούνῳ μοι φίλον ἐστὶ γυναιξί περ ἐν φιλότητι μίγνυσθαι αὐτῶν λισσομένων ποσίων. Allein mir ist es lieb, den Ehefrauen mich in Liebe zu verbinden auf ausdrückliche Bitten der Ehemänner.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Die Klistierspritze beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf ihre Anwendung. Durch die personalisierende Funktion der IchPerspektive wird suggeriert, dass eine Person geraten werden soll, wodurch sich das rätselbestimmende Paradoxon von der erlaubten oder gar gewünschten Untreue verschärft. Die Formulierung ἐν φιλότητι μίγνυσθαι klingt nach einer metaphorischen Umschreibung für den Beischlaf. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass als Personal Ehefrauen und -männer auftreten. Diese Festlegung ist irreführend und verleitet den Rezipienten dazu, ausschließlich in den Kategorien ehelich-sexueller (Un-)Treue zu denken. Die zu erratende Klistierspritze hingegen wird mit einem die Frau penetrierenden Mann verglichen im Hinblick

3 Die bei Alkibiades, Ep. Gr., varia * 1129 Kaibel überlieferte Variante des Rätsels spart diesen Aspekt (ἀνδρῶν χεῖρας ἵκωνται) aus.

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auf ihre Einführung in den After zur Spülung und Entleerung des Darms (etwa bei Verstopfung). Als medizinisches Instrument wird die Spritze aber ebenso bei Männern wie bei Frauen verwendet. Die Einschränkung auf (Ehe-)Frauen führt somit absichtlich in die Irre. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ausführlichere Rätsel zur Klistierspritze, AP XIV 55, dessen Anfang mit AP XIV 29 beinahe identisch ist. Vgl. die im Kontext der Einbalsamierung ägyptischer Leichen gebrauchte Klistierspritze nach Hdt. 2,87. Literatur: Jacobs (1803) 344–346.

A. I. 1.4.6 Ergänzt durch Bestandteile, Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Rätsel von der Klistierspritze AP XIV 55, Beckby; S 62 Μούνῳ μοι θέμις ἐστὶ γυναικῶν ἐν φιλότητι μίσγεσθαι φανερῶς λισσομένων ποσίων· μοῦνος δ’ ἠιθέοισι καὶ ἀνδράσιν ἠδὲ γέρουσιν παρθενικαῖς τ’ ἐπέβην ἀχνυμένων τοκέων. μαχλοσύνην ἤχθηρα· φιλεῖ δέ με παιονίη χεὶρ Ἀμφιτρυωνιάδην ἐκτελέοντα πόνον. ἀμφὶ δ’ ὀπυιομένοισι καὶ ἂν Πλουτῆι μαχοίμην αἰὲν ὑπὲρ ψυχῆς τῶν, ὁπόσοις ἐμίγην. εὔρινον δέ με παῖδα καὶ ἀργιόδοντα τίθησιν ἰδρείῃ μερόπων αἰγὶ μιγεὶς ἐλέφας. Allein ich habe das Recht, mich mit Ehefrauen in Liebe zu verbinden ganz öffentlich, auf Bitten der Ehemänner; ich allein habe Jünglinge, erwachsene Männer, auch Greise und Jungfrauen bestiegen, während die Eltern sich sorgten. Lüsternheit war mir dabei verhasst; mich aber liebt die ärztliche Hand, weil ich des Amphitryonaden Werk verrichte. Um die, mit denen ich Verkehr habe, kämpfe ich sogar mit Plutos, immer um die Seele derer, mit denen ich mich verbinde. Gutes Leder und weiß schimmernde Zähne zeugten mich als Kind durch die Kunst des Menschen, welcher der Ziege den Elefanten beimischte.

Form: 5 elegische Distichen

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Erklärung: Die Klistierspritze beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf ihre Anwendung und ihre Herstellung. vv. 1–2: Vgl. AP XIV 29. Die Formulierung ist beinahe identisch. Auf der Grundlage der Anwendung der Spritze (Einführung in den After) wird diese mit dem eine Frau penetrierenden Mann verglichen. Das Paradoxon besteht in der Formulierung λισσομένων ποσίων, die suggeriert, Ehemänner würden um die Verführung ihrer eigenen Frau bitten. Gemeint aber ist, dass sie eine entsprechende medizinische Behandlung billigen. vv. 3–4: Hier wird die anfängliche Einschränkung auf Frauen ausgeweitet. Das gesuchte Objekt bekennt in einer metaphorischen Konkretisierung, mit Menschen jeden Alters und beider Geschlechter Verkehr gehabt zu haben (ἐπέβην). Es entsteht der Eindruck einer obszönen, ruchlosen Person. Die Formulierung ἀχνυμένων τοκέων entspricht λισσομένων ποσίων, v. 2. Warum Beckby aber an der Stelle eine Forderung besorgter Eltern sehen will, ist mir nicht einsichtig. Vielmehr unterstreicht die Sorge der Eltern doch den ruchlosen Eindruck des Gesuchten. Tatsächlich sind die Eltern von Kindern, bei denen eine medizinische Behandlung (gegen Verstopfung o. ä.) nötig ist, natürlich um das gesundheitliche Wohl derselben besorgt. v. 5a: Die ausdrückliche Distanzierung von Erotik und sexuellen Konnotationen steht im scheinbaren Widerspruch zu der bisherigen Beschreibung des Objekts. Sie gibt aber einen echten Hinweis darauf, dass die bisherige Darstellung metaphorisch zu verstehen ist, dass die Tätigkeit des Objekts dem Beischlaf nur (in gewisser Hinsicht) ähnelt. v. 5b: Das Objekt wird nicht direkt als medizinisches Instrument bezeichnet, aber doch durch die Benutzung durch einen Arzt als solches umschrieben. Hierin liegt ein echter Hinweis auf die Klistierspritze. v. 6: Amphitryons Sohn ist Herakles, der als eine der zwölf Aufgaben des Königs Eurystheus die verdreckten Rinderställe des Augias ausmisten, d. h. von dem Kot der Rinder reinigen sollte. Diese Aufgabe bewältigte der Heros, indem er das Wasser zweier Flüsse durch den Stall leitete und ihn so ausspülte; vgl. zu dieser Episode Apollod. 2,5,5. Der schmutzige Stall dient nun als Metapher für den (verstopften) menschlichen Darm, der durch eine Spülung mit der Klistierspritze ebenfalls gereinigt wird. vv. 7–8: Der Kampf mit Plutos, dem Gott der Unterwelt, steht metonymisch für den Kampf mit dem Tod (causa pro effectu). Die Folgen einer Darmverstopfung, gegen welche die Klistierspritze eingesetzt wird, können lebensbedrohlich sein. vv. 9–10: Der Schluss des Rätsels betrifft die Herstellung des Instruments aus Ziegenleder und einer Elfenbeinröhre. Hier wird, wie auch sonst bisweilen,

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von dem Erzeugnis als Kind der es erzeugenden Materialien (in diesem Fall Ziegenleder und Elefantenzahn) gesprochen. Da zuvor so ausführlich im Rahmen sexueller Konnotationen gesprochen wurde, klingt jedoch auch die Formulierung des Schlussverses in gewisser Weise nach einer obszönen, vom Menschen durch eine Vorrichtung ermöglichten Verbindung von Ziege und Elefant; vgl. zur Kunst, die einen verrätselten Gegenstand (in der Tat sogar ebenfalls ein medizinischen Instrument) hervorbringt, AP XIV 54, das Rätsel vom Schröpfkopf. Intertextuelle Verweise: Vgl. das wesentlich kürzere Rätsel von der Klistierspritze, AP XIV 55, das beinahe identisch mit den vv. 1–2 von AP XIV 29 ist. Vgl. die im Kontext der Einbalsamierung ägyptischer Leichen gebrauchte Klistierspritze nach Hdt. 2,87.

2 Rätsel vom Schröpfkopf AP XIV 54, Beckby Κἀμὲ σοφὴ ποίησε τέχνη Παιήονος ἔμπνουν πῦρ ὑπὸ χαλκελάτοις χείλεσι κευθομένην· δειλῶν δ’ αἷμα κελαινὸν ἀπ’ ἀνθρώπων ἐρύουσα Ἥφαιστον κτείνω γαστρὶ περισχομένη. Auch mich schuf die weise Kunst des Paianiden lebendiges Feuer unter erzernen Lippen bewachend; trauriger Menschen dunkles Blut entziehe ich und ich töte Hephaistos, indem ich ihn mit meinem Bauch umspanne.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es beschreibt sich der Schröpfkopf (πυρίχαλκον) als Rätselobjekt aus der IchPerspektive in seiner Funktion als medizinisches Instrument. Die personalisierende Funktion der Ich-Erzählung wird durch die (metaphorische) Nennung menschlicher Gliedmaßen (χεῖλος, v. 2; γαστήρ, v. 4) unterstützt. v. 1a: Vgl. für die Herstellung eines verrätselten medizinischen Instrumentes durch die Kunstfertigkeit des Herstellers AP XIV 55 (von der Klistierspritze). Als Schöpfer des gesuchten Objekts ist hier Apoll durch seinen Beinamen Παιήων, also in seiner Funktion als Gott der Medizin und der Heilung genannt. Auch ohne dass es eine direkte Verbindung des Schröpfkopfs zu Apoll selbst zu geben braucht, ist so der medizinische Anwendungsbereich des gesuchten Objekts umschrieben. Der Schröpfkopf galt geradezu als Wahrzeichen bzw. Insignie des

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Arztes. Das glockenförmige Instrument ist entsprechend sowohl in der bildenden Kunst als auch auf Arztsigeln sichtbar; vgl. Abele (82007) 24 f. v. 1b–2: Die Formulierung suggeriert fälschlicherweise, dass πῦρ als (erotischleidenschaftliche?) Metapher aufzufassen sei. Dabei wird beim Ansetzen des Schröpfkopfes tatsächlich ein kleines Feuer zur Erzeugung eines Unterdrucks entfacht. Die χαλκελάτα χείλεα erzeugen eine gewisse Irritation, da Lippen als Teil von etwas genuin Lebendigem grundsätzlich aus Fleisch und Blut bestehen. Die metonymische Nennung des Materials (causa pro effectu) gibt andererseits einen echten Hinweis auf das gesuchte Instrument, welches ja selbst, aufgrund seines Materials und des zur Unterdruckerzeugung genutzten Feuers den Namen πυρίχαλκον trägt. Die χείλεα sind also als Metapher, die auf einer Analogie im Hinblick auf die Form zu einem Rund geformter Lippen beruht, aufzufassen, die für den Rand des Schröpfkopfs steht, der sich an der Haut des Behandelten – ganz wie ein Mund es etwa bei einem Kuss tun könnte – festsaugt. v. 3: Die Formulierung αἷμα ἐρύουσα lässt zunächst ein gewalttätiges Handeln vermuten (bes. in Verbindung mit κτείνω, v. 4), welches seine Opfer schmerzt bzw. betrübt (δειλῶν). Tatsächlich bezieht sie sich auf der Sachebene jedoch auf den Aderlass, für den der Schröpfkopf verwendet wurde. Mithilfe des im Instrument durch Erhitzung der Luft, indem kleine Mengen Baumwolle o. ä. verbrannt wurden, erzeugten Unterdrucks ließ sich Blut aus einer zuvor eingeritzten Hautstelle saugen. Dieses Verfahren diente zur Kontrolle des Gleichgewichtes der vier Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim), von denen nach Galen Blut der dominanteste war, der sich nach antiker Vorstellung aufstauen und verderben konnte, sodass der Mensch krank (δειλός) wurde; vgl. zu dem medizinischen Verfahren des Schröpfens allgemein Piotrowski-Manz (2004); Abele (82007); zur antiken Praxis im Besonderen Keil (22004) 337–341; Leven (2005) 780 f. v. 4: Hier steht Hephaistos metonymisch (causa pro effectu) für das v. 2 ausdrücklich erwähnte Feuer, welches den Unterdruck erzeugt und dann im Schröpfkopf selbst zum Erlöschen gebracht wird. κτείνω steht entsprechend metaphorisch-konkretisierend für das allgemeinere „löschen“, „zu einem Ende bringen“ (analog im Hinblick auf den Effekt der Existenzauslöschung), und der γαστήρ des Schröpfkopfes beschreibt ebenfalls als Metapher (aufgrund der analogen Wölbung des runden Schröpfgefäßes) die Form des Instruments. Intertextuelle Verweise: Vgl. ein prägnanteres, weiter verbreitetes Rätsel vom Schröpfkopf in IEG II, frg. 1, p. 50 f. West (Kleobuline).

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Literatur: Zur Funktionsweise der antiken Schröpfköpfe (auch zur Erzeugung des Unterdrucks), zum blutigen und unblutigen Schröpfen und zu den Anwendungsbereichen vgl. Leven (2005) 781 f.; Keil (22004) 337–341, bes. 337.

3 Rätsel vom Okeanos Basil. Megalomit. 29, Anecd. Gr. III, p. 446 Boiss.; S 98c Ὕδωρ τὴν ῥύσιν ἄνωθεν ἔχω καὶ τὴν ἀντίαν· Λευκαίνομαι τὴν κεφαλήν· τοὺς πόδας δὲ ψεκάζω· Χιόνος ὥσπερ ἐμπιπλῶ τὴν φάτνην· περιῤῥέω Τὴν δ’ ὑπόβαθραν τῶν ποδῶν ὕδατος γλυκυτάτου. Ich habe fließendes Wasser von oben und aus der entgegengesetzten Richtung; Ich färbe (mir?) den Kopf weiß; die Füße aber mache ich nass; Ich fülle die Krippe wie mit Schnee; ich umfließe das Fundament der Füße mit dem süßesten Wasser.

Form: 4 byzantinische trochäische Sechzehnsilbler Erklärung: Schultz (1912) 41 zu nr. 98c deutet das Rätsel nicht wenig glaubwürdig, allerdings kaum stichhaltig erklärt auf den Okeanos. v. 1: Der Weltenstrom hatte den Ruf, die Grenzen der Erdfläche zu bilden, d. h. im Kreis (vgl. Orph. h. 82; Plat. Phaid. 109a; Plat. Tim. 24c) und damit im übertragenen Sinne sowohl auf- als auch abwärts zu fließen; vgl. zur Bedeutung des Okeanos in der Entwicklung der Erdkugellehre einführend Schmitt (2000) 1153 f. Abhängig davon, ob ὕδωρ hier als alleinstehender Nominativ oder als mit ῥύσιν zusammengehöriger Akkusativ aufgefasst wird, liegt hier ein mehr oder weniger ausdrücklicher Hinweis auf die Lösung vor. Als Nominativ würde sich das Rätselobjekt als Ich mit dem Wasser gleichsetzen, sodass als semantische Lösungskategorie Ströme bzw. Gewässer festgelegt wären. Als Akkusativ hingegen lenkt die Formulierung vielmehr sogar von dem korrekten Lösungsraum ab, da zunächst nur schwer verständlich scheint, wie das Wasser selbst eine ῥύσις besitzen kann. v. 2a: Als κεφαλή setzt Schultz die weißen Felsen der ionischen Inseln Lefkada an, die bes. aus dem Freitod Sapphos bekannt sind. Inwiefern ausgerechnet diese Felsen (oder vielleicht die Insel selbst?) als besonders weit oben, d. h. als Kopf gelten können, geht aus der Erklärung bei Schultz nicht hervor; u. U. weckt die weiße Färbung der Felsen eine grundsätzliche Assoziation mit der – stets eher oben als unten gedachten – Helligkeit.

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v. 2b: Als πόδες bestimmt Schultz die am Bosporus gelegenen Symplegaden. Dass die beiden mythologischen Felseninseln als Paar auftreten – eine auf der asiatischen, die andere auf der europäischen Seite der Meerenge am Bosporus gelegen – qualifiziert sie zu Abbildern der πόδες. Aufgrund ihrer dunkelbläulichen Gesteinsfarbe sind die Inseln ferner auch als κύανοι bekannt. Sie bilden damit in der Tat einen treffenden Gegenpol zu den weißen Felsen von Lefkada, denen sie als Füße entgegengesetzt sind. v. 3a: Schultz schlägt vor, an die weiß schäumende Brandung des Stromes zu denken; er vergleicht Plin. nat. 3,94, wo ich jedoch keinen Bezug zu dem Rätsel sehen kann. vv. 3b–4: Der Okeanos galt als Süßwasserstrom, sodass seine Fluten, wenn auch der Superlativ nicht recht klar werden will, zu Recht als ὕδωρ γλυκότατος bezeichnet sein können. Schultz meint (ohne weitere Erklärung), bei den mit Wasser umspülten Füßen handle es sich um die „dunklen Symplegaden“. 4 Rätsel vom Gesäß Eubulos, PCG V, frg. 106,1–4, p. 251 f. K.-A.; AP App. VII 9; zit. Athen. X 449ef; S 32 ἔστι λαλῶν ἄγλωσσος, ὁμώνυμος ἄρρενι θῆλυς, οἰκείων ἀνέμων ταμίας, δασύς, ἄλλοτε λεῖος, ἀξύνετα ξυνετοῖσι λέγων, νόμον ἐκ νόμου ἕλκων· ἓν δ’ ἐστὶν καὶ πολλὰ, καὶ ἂν τρώσηι τις ἄτρωτος. Er hat keine Zunge und spricht doch, er hat als weiblicher den gleichen Namen wie beim Mann, er ist Hüter der inneren Winde, einmal haarig, dann wieder glatt, er sagt Dinge, die selbst den Verständigen unverständlich sind, und zieht Ton aus Ton; einer ist er und doch Mehrzahl, und wenn einer ihn durchbohrt, bleibt er unverletzt.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Aus der auktorialen Perspektive wird das Gesäß als Rätselobjekt im Hinblick auf sein Vorhandensein als Körperteil bei beiden Geschlechtern, seine Penetration bei homosexuellem Verkehr und die Artikulation von Blähungen umschrieben. vv. 1–3: Die Sprachmetaphorik umschreibt euphemistisch die Geräusche, welche durch das Gesäß entweichende Blähungen verursachen. Die Analogie beruht auf der Konstellation, bei der aus einer Öffnung Töne entweichen. v. 1a: Die Zusammenstellung der scheinbar unvereinbaren Eigenschaften a: „sprechend“ (λαλῶν) und b: „ohne Zunge“ (ἄγλωσσος) erzeugt ein Paradoxon, das sich durch die metaphorische Auslegung von λαλῶν auflösen lässt: „spre-

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chen“ ist hier nicht im wörtlich-konkreten Sinne einer sinnvollen sprachlich artikulierten Äußerung verwendet, sondern zu dem universelleren „Geräusche erzeugen“ verallgemeinert. λαλεῖν ist in diesem Kontext bewusst (z. B. in Abgrenzung zu λέγειν) gewählt, weil es im Allgemeinen einen weniger ernsten Habitus pflegt und auch für sinnloses Geplapper und Geräusche eingesetzt wird, vgl. so etwa das Zirpen von Heuschrecken (Theokr. 5,34), das Rauschen von Bäumen (Aristot. aud. 801a). Der Zusatz ἄγλωσσος, der das Verb λαλῶν in gewisser Weise einschränkt, ohne es ganz zu negieren, deutet an, dass λαλῶν metaphorisch zu begreifen ist, dass also eine Handlung, die dem Sprechen in gewisser Hinsicht ähnelt, jedoch nicht damit identisch ist, gesucht wird – das geräuschvolle Blähen. v. 1b: Ein zweites Paradoxon liegt in der Verbindung der Eigenschaften a: „weiblich“ und b: „männlicher Name“. Hier ist einerseits darauf angespielt, dass es sich bei dem Gesäß um ein geschlechtsunspezifisches Körperteil handelt, das sowohl Männer als auch Frauen besitzen. Die besondere Pointe allerdings hebt auf das maskuline Genus des πρωκτός ab, welches maskulin bleibt, auch wenn das Gesäß einer Frau bezeichnet wird. v. 2a: Ebenso paradox erscheint die Attribuierung der ἄνεμοι als οἰκεῖοι, da Wind gemeinhin eine Erscheinung der Außenwelt bzw. der Natur ist. In einer metaphorischen Konkretisierung steht die Verbindung jedoch für die Luft die sich im menschlichen Körper, konkret im Darm, befindet. Ein Hüter bzw. Zuteiler (τάμιας) dieser Winde ist der Anus als Körperöffnung, die (als Muskel) verschlossen gehalten werden kann. In erweitertem Sinne setzt der οἰκείων ἀνέμων τάμιας also sogar die Lösungskategorie für das Rätselobjekt fest (etwas, das Luftströme reguliert). v. 2b: Hier wird das Aussehen des Gesäßes – in verschiedenen individuellen Ausprägungen – beschrieben. Es scheint ein Rückgriff auf die Unterteilung in (eher haarige) männliche und weibliche Gesäße (mit glatterer Haut) vorzuliegen. v. 3: Rückgriff auf v. 1a. Erneut wird die Vorstellung von einer sprachlichen Artikulation – in diesem Fall durch die Negation der Verständlichkeit – konkretisierend eingeschränkt: Es folgt nur Ton auf Ton (ohne Sinn). Dem nicht eingeweihten Rezipienten könnte die Formulierung allerdings suggerieren, es handle sich um besonders schwierige und in diesem Sinne (sogar für ξυνετοί) schwer verständliche Äußerungen; vgl. hierzu aus dem Kontext des Sphinx-Rätsels vom Menschen Eur. Phoen. 1506 f.: δυσξύνετον ξυνετὸς μέλος ἔγνω/Σφιγγός. v. 4a: Ferner erscheint die Zusammenstellung der Eigenschaften a: „einer“ (ἕν) und b: „viele“ (πολλά) unmöglich. Eine mögliche Lösung des Paradoxons scheint in der Zweiteiligkeit des Afters (mit beiden Gesäßhälften) zu liegen.

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v. 4b: Hier wird auf homoerotische Penetration angespielt, bei der das männliche Glied das Gesäß zwar in der Mitte zu durchstoßen scheint, ohne jedoch eine Verletzung oder ein unnatürliches Loch zu verursachen. Auf die direkte Lösungsaufforderung des Rätselstellers (τί ἐστι τοῦτο; τί ἀπορεῖς;) weiß der Gesprächspartner nicht recht zu antworten PCG V, frg. 106,5– 9: (B.) Καλλίστρατος. (A.) πρωκτὸς μὲν οὖν οὗτός ‹γε·› σὺ δὲ ληρεῖς ἔχων. οὗτος γὰρ αὑτός ἐστιν ἄγλωττος λάλος, ἓν ὄνομα πολλοῖς, τρωτὸς ἄτρωτος, δασὺς λεῖος. τί βούλει; πνευμάτων πολλῶν φύλαξ B: Kallistratos. A: Der After ist es. Du redest ja immer noch Unsinn. Derselbe nämlich redet, obwohl er keine Zunge hat, einen Namen hat er bei allen, und lässt er sich auch durchstoßen, so ist er doch unverletzt, behaart und glatt. Was willst du mehr? Vieler Winde Wächter …

Aus welchem Grund der Gefragte den Namen Kallistratos als Lösungsversuch einwirft, und ob dieser Versuch ein ernstgemeinter ist, bleibt unklar. Er begreift zumindest offenbar nicht sogleich bei der Nennung des Lösungswortes (πρωκτός) den Sinn des Ganzen. Deshalb erklärt der Rätselsteller ausführlich, inwiefern das Gesäß jede einzelne der im Rätsel aufgestellten Forderungen (metaphorisch) erfüllt. Literatur: Schultz (1912) 39 f., nr. 32 deutet das Rätsel (mit einer zweiten Lösung) auf den Mond. Für das inhaltliche Verständnis des Rätsels sowie das Verständnis seiner Struktur vermögen seine weit hergeholt erscheinenden Argumente jedoch nichts beizutragen. Schweighäuser V (1804) 538–539. Jacobs (1803) 347 f.

5 Rätsel von der Waage AP App. VII 42, Cougny; Psellos 15, Anecd. Gr. III, p. 435 Boiss.; S 74; Basil. Megalomit. 26, Anecd. Gr. III, p. 445 Boiss. Δίκαιός εἰμι, καὶ δικαίων ἀκρότης· ἓξ τὰ σκέλη μου, κἄνπερ οἱ πόδες δύο. Gerecht bin ich und der Gerechten Gipfel; ich habe sechs Beine, obgleich nur zwei Füße.

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Form: 2 iambische Trimeter Erklärung: Aus der Ich Perspektive beschreibt sich die Waage als Rätselobjekt im Hinblick auf ihre Gerechtigkeit. v. 1: Diese ist dabei nicht im wörtlichen, moralischen Sinne gemeint, sondern bezieht sich darauf, dass die Waagschalen beim Wiegen (a) unbestechlich (und in diesem Sinne gerecht) anzeigen, welche Seite schwerer wiegt, und (b) zum genauen Abmessen in ein Gleichgewicht gebracht werden, also gleich und in diesem Sinne gerecht behandelt werden. Die zweite Vershälfte bringt ein besonders hohes Maß, man könnte meinen, einen Superlativ, zum Ausdruck. Einerseits lässt sich die Formulierung mit δικαίων als einem Genitivus subjectivus darauf deuten, dass die Waage sich selbst als Gerechtesten, d. h. Höchsten oder Erhabensten (ἀκρότης) unter den Gerechten inszeniert. Andererseits ergibt die Auffassung der δικαίων als Genitivus objectivus eine Beschreibung der Waage als von den Gerechten besonders geschätztes Instrument. In diesem Sinne steht die Waage sinnbildlich für die Gerechtigkeit, die für die Gerechten (δικαίων) das höchste Gut (ἀκρότης) ist. v. 2: Das Paradoxon von sechs Beinen, von denen nur zwei Füße haben, oder die jeweils zu dritt in einem Fuß enden, beruht auf dem metaphorischen Gebrauch der Begriffe σκέλη und ποῦς. Eine Waage hat zwei Waagschalen (Füße) an sechs (je drei) Seilen/Ketten (Beinen). Die Analogie beruht sowohl auf der Form – die längliche Kette entspricht dem Bein, die flache Schale dem Fuß – als auch auf der Funktion, denn Kette und Schale erzeugen, wie Bein und Fuß, gemeinsam eine Bewegung. Intertextuelle Verweise: AP App. VII 64 = Basil. Megalomit. 26 Boiss. enthält dasselbe Rätsel, bei dem nur die Formulierung des zweiten Verses in für den Inhalt unerheblicher Weise abweicht. Anstelle der πόδες stehen dort, etwas weniger bildhaft, die ταρσοί zur Bezeichnung der Waagschalen: Δίκαιός εἰμι καὶ δικαίων ἀκρότης· ἓξ τὰ σκέλη μου, κἂν οἱ ταρσοί μου δύο.

Vgl. das Paradoxon von der ungleichen Bein- und Fußzahl auch im Rätsel von der Lyra, AP App. VII 57. 6 Rätsel von der Artischocke AP XIV 58, Beckby = Psellos 5, Anecd. Gr. III, p. 431 Boiss.; S 86 Ἐγκέφαλον φορέω κεφαλῆς ἄτερ· εἰμὶ δὲ χλωρὴ αὐχένος ἐκ δολιχοῦ γῆθεν ἀειρομένη·

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σφαίρῃ δ’ ὡς ὑπὲρ αὐλὸν ἐείδομαι· ἢν δὲ ματεύσῃς ἔνδον ἐμῶν λαγόνων, μητρὸς ἔχω πατέρα. Ich trage ein Hirn ohne Kopf; ich aber bin grün und hebe mich aus einem länglichen Hals von der Erde her in die Luft empor; einer Kugel gleich erscheine ich über dem Rohr; wenn du aber suchst im Inneren meiner Weichen, den Vater der Mutter habe ich dort.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Die Artischocke beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf ihre „Anatomie“. Sowohl die genannten Körperteile als auch die Verwandtschaftsverhältnisse sind metaphorisch und müssen daher im übertragenen Sinne aufgefasst werden. v. 1a: Der Anfang des Rätsels ist bestimmt von dem scheinbaren Paradoxon, das durch die Verbindung der unvereinbaren Merkmale a: „mit Gehirn“ und b: „ohne Kopf“ entsteht, da das Gehirn, wie das Wort (ἐγκέφαλος) schon sagt, seinen Sitz im Kopf hat. Das Mark der Artischocke, das hier im übertragenen Sinne aufgrund einer Analogie der räumlichen Lage als ἐγκέφαλος bezeichnet wird, sitzt im Blütenboden der Pflanze. Jener wiederum macht den unteren Teil der Knospe aus, die aufgrund ihrer runden Form und ihrer Lage am oberen Ende der Pflanze mit dem Kopf eines Menschen verglichen wird. vv. 1b–3a: Hier wird die – offenbar als kurios empfundene – äußere Form der Pflanze mit langem Stängel (metaphorisch als αὐχήν, dann aber in einem echten Hinweis als αὐλός) und großer runder Knospe bzw. Frucht beschrieben. Sowohl die Angabe der grünen Farbe als auch die Nennung der Erde und die Wuchsrichtung in die Luft, d. h. nach oben, sind echte Hinweise, die einem Rezipienten helfen, zu erkennen, dass eine Pflanze zu erraten ist. vv. 3b–4: Nach Art der Verwandtschaftsrätsel ist hier von der Genealogie der Artischocke, nun wohl speziell der Frucht, die Rede, deren Mutter sich als Pflanze identifizieren lässt, welche die Artischockenfrucht (als Kind) hervorbringt. Der Vater jener Mutterpflanze wiederum, d. h. der Großvater der Frucht (vgl. das Rätsel vom πάππος, Eubulos, PCG V, frg. 106,16 f. K.-A), ist der Same, aus dem die Pflanze (und dann die Frucht) hervorwächst. Die etwa bohnengroßen Samen der Artischocke sitzen in den kleinen Hohlräumen zwischen den Schuppen der Frucht – und somit trägt die Frucht als Enkelkind im Sinne der zyklischen Pflanzenentwicklung wieder ihren eigenen Großvater in sich (v. 4 ἔνδον ἐμῶν λαγόνων), ja gebiert ihn geradezu, wenn sie die Samen aus der vertrockneten Frucht fallen lässt. Besonders problematisch ist diese Vorstellung natürlich nur auf der Bildebene der menschlichen Verwandtschaft, in der keine sinnvolle (höchstens eine

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obszöne) Erklärung dafür zu finden ist, inwiefern sich ein Großvater in den Weichen seiner Enkelin (weiblich wegen des femininen Genus von ἡ κινάρα) befindet. Obwohl das Verwandtschaftsverhältnis und die Personifikation metaphorisch aufzufassen sind, besitzt das Rätsel auch einen recht großen paraphrasierenden Anteil, der die Lösung insgesamt erleichtert.

7 Ungelöstes Rätsel vom Fisch, der mit Dionysos kämpft AP XIV 28, Beckby; S 98. O 183 f. Ἐξ ἁλὸς ἰχθυόεν γένος ἔλλαχον· εἷς δέ μ’ ἄεθλος εἰς Διονυσιακοὺς οἶδεν ἀγῶνας ἄγειν· καὶ δέμας ἐν σταδίοισιν ἀλειψάμενος λίπ’ ἐλαίῳ, υἱέα μὲν Δηοῦς ὤλεσα χερσὶν ἐμαῖς· δεύτερον αὖτε Γίγαντας ἀολλέας ἄλλοθεν ἄλλους ἐκπέμπω πολλαῖς χείρεσιν ἑλκομένους. Aus dem Meer habe ich des Fisches Gestalt; ein Streit aber wusste mich in den dionysischen Wettkampf zu führen; und meine Haut habe ich auf den Kampfplätzen mit schimmerndem Öl eingerieben, das Kind der Deo vernichtete ich mit meinen bloßen Händen; als zweites wiederum schicke ich eine große Anzahl an Giganten, die einen von hier, die anderen von dort hinaus, von vielen Händen gezogen.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Das Rätsel ist bisher nicht zufriedenstellend gelöst. Ganz grundlegend ist zu fragen, ob nach einem Objekt etwa in unterschiedlichen Zusammenhängen, Anwendungen o. Ä. gesucht ist, oder ob ein homonymer Begriff zu raten ist, der vier unterschiedliche Rätselobjekte bezeichnet. Gesucht ist in jedem Falle etwas, das die folgenden Eigenschaften erfüllt: a) Fischartig. Es mag um den Lebensraum Wasser gehen, oder die (längliche) Form eines Fisches betreffen, eventuell auch seine Schuppen. Es mag aber auch v. 1a schlichtweg bedeuten „Ich bin ein Fisch“. b) Dionysischer Kontext. Der Agon mag entweder die Theaterfestspiele oder auch das Symposion betreffen. So könnte bspw. der Fisch nach seinem Tod (ἄεθλος) als Speise im Symposion aufgetragen werden oder ein aus seinen Gräten gefertigter Gegenstand dort vorkommen. c) Geölt. Der Speisefisch mag mit Öl übergossen oder schlichtweg darin gebraten sein. Als στάδιον mag die Bratpfanne bezeichnet sein, in der der letzte Kampf des Fisches (um Leben und Tod, verspeist werden und nicht verspeist werden) ausgefochten wird.

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d) Das Kind der Deo bzw. Demeter ist einerseits im konkret-personifizierten Sinne Proserpina, andererseits im weiteren Sinne aber auch jedes landwirtschaftliche Erzeugnis, das als Beilage zu dem Fisch gereicht werden mag. Obwohl der Fisch selbst nicht aktiv den Tod der Getreidepflanzen o. ä. erwirkt (und schon gar keine Hände besitzt), mag der Gedanke doch dahin gehen, dass sie zum Mahle, d. h. letztlich um des Fisches willen, geschnitten und verarbeitet werden. e) Umgang mit Giganten. Jene mögen für die Zähne im Munde desjenigen stehen, der den Fisch verspeist. Der Fisch bringt sie gewissermaßen dazu, sich hin und her, auf und ab zu bewegen, um die Speise zu zermahlen. Der Fisch, auf den sich dieserart, wenn auch nicht immer unproblematisch, das gesamte Rätsel deuten lässt, scheint auch in (fast) allen bisherigen Deutungsansätzen eine Rolle zu spielen, s. u. Gegen die vollständige wörtliche Ausdeutung auf den ἰχθύς mag die zu deutliche Erwähnung zu Beginn des Rätsels sprechen, die eher an einen bestimmten Fisch denken lässt, dessen homonymer Name die übrigen Forderungen des Rätsels auf andere Weise erfüllt. Hierauf zielt Ohlert (21912) 183 f., der mit seiner Homonymie-Lösung ὄνος folgende Lösungsobjekte meint: 1. Ein bestimmter Meeresfisch, der ὄνος (oder ὀνίσκος) hieß; Athen. III 118c. VII 315e–316a. 2. Der Esel, mit dem in der Stadt Karthaia auf Keos bei den Chorübungen Wasser von der Quelle zum Übungsplatz transportiert wurde; vgl. Sim. ALG II, frg. 70 Diehl (= AP App. VII 13). Der dionysische Agon wäre in diesem Falle ein konkret musischer. 3. Die obere Hälfte des Mühlsteins, der das Getreide als metaphorisches Kind der Demeter zermalmt, und zwar mit seinen Furchen, die als Hände gelten; vgl. Ov. fast. 6,312. Der rundlaufende (στάδιον) Stein wurde offenbar von Zeit zu Zeit in Öl getränkt, um ein Heißlaufen des Gerätes zu vermeiden. 4. Eine massive Hebemaschine mit als γίγαντας bezeichneten Hebeln, die von mehreren Menschen gleichzeitig gezogen werden mussten, trägt schließlich ebenfalls den Namen ὄνος.

Literatur: Jacobs (1803) deutet das Rätsel vollständig auf eine bestimmte Schiffsart, die von den Ruderern als Giganten angetrieben wurden. Fröhner glaubt nach Beckby z. St. an den homonymen κάνθαρος als Lösung, der (1) einen Fisch, (2) das Trinkgefäß (beim Symposion), (3) einen Käfer, (4) die Piräusbucht bezeichnet.

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Ohlert (21912) 183 f. setzt, wie oben beschrieben, als Lösung den homonymen ὄνος an, der (1) den Esel, (2) einen Fisch, (3) einen Mühlstein und (4) eine Hebemaschine benennt. Schultz (1909) 52 f. schließlich meint, der homonyme Περσεύς löse das Rätsel als (1) Fischart, (2) Sohn von Zeus und Danae, (3) Sohn der Hekate, (4) Würfelspiel.

A. I. 1.5 Sonstige 1. Orakel an Sparta über Arkadien Hdt. 1,66, Wilson; AP XIV 76 Ἀρκαδίην μ’ αἰτεῖς; μέγα μ’ αἰτεῖς· οὔ τοι δώσω. πολλοὶ ἐν Ἀρκαδίῃ βαλανηφάγοι ἄνδρες ἔασιν, οἵ σ’ ἀποκωλύσουσιν· ἐγὼ δέ τοι οὔτι μεγαίρω. δώσω τοι Τεγέην ποσσίκροτον ὀρχήσασθαι καὶ καλὸν πεδίον σχοίνῳ διαμετρήσασθαι. Um Arkadien bittest du mich? Da verlangst du (zu) viel; ich werde es dir nicht geben. Viele eichelessende Männer leben in Arkadien, die dich abwehren werden. Ich aber will es dir nicht ganz vergönnen. Ich will gewähren, dass dein Fuß im Tanze Tegea berührt und die schöne Ebene mit der Messschnur vermisst.

Form: 5 Hexameter Kontext: Das nach der Gesetzgebung des Lykurg gedeihende und erstarkende Sparta fragt bei dem delphischen Orakel an, ob es ganz Arkadien erobern könne. Herodot betont bei der Erzählung den Hochmut, der die Stadt ergriff und sie zu diesem Wunsch verleitete (καταφρονήσαντες Ἀρκάδων κρέσσονες εἶναι, 1,66). Der sich zwischen den beiden Städten daraufhin ereignende arkadische Krieg fand Anfang des 6. Jhs. statt, obwohl er von Paus. 3,7,3 zur Zeit des Charilaus (884–824 v. Chr.) angesetzt wird, vgl. hierzu How/Wells (21928) z. St. Erklärung: Die Doppeldeutigkeit des scheinbar einfachen Spruchs beruht im Kern auf der jeweils unterschiedlichen, teils metaphorisch-ironischen Verwendung der (homonymen) Verben δώσω (v. 1, v. 4) und μεγαίρω (v. 3). Das Orakel scheint ein Versprechen der Gottheit gegenüber Sparta zu enthalten, welches der aufstrebenden Stadt den Sieg über Tegea – anstelle des zunächst geforderten ganzen Arkadiens – zusichert. Da die Forderung nach ganz Arkadien vv. 1–3 direkt und offen zurückgewiesen wird, lässt sich der Hörer leicht dazu verleiten, diese ausdrückliche Wörtlichkeit auch für die zweite

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Hälfte des Spruchs vorauszusetzen, zumal die Überleitung von v. 3b οὔτι μεγαίρω zu v. 4a δώσω ein deutliches Zugeständnis suggeriert. v. 1: οὐ δώσω ist wörtlich zu verstehen. Die Gottheit gewährt die Vorherrschaft Spartas nicht. Dabei scheint die Gottheit ihre Entscheidung mit rationalen Argumenten zu begründen: Die Bewohner von ganz Arkadien sind stark und bilden eine zu große Gegenwehr, als dass Sparta sie besiegen könnte. Die Erklärung suggeriert, das Anliegen Spartas sei in diesem faktisch-rationalen Sinne zu groß (μέγα μ’ αἰτεῖς), nicht etwa, weil Sparta hochmütig das ihr Zustehende überschreiten will. v. 3: Nach dieser Vorbereitung glaubt ein Rezipient ohne Zögern, οὔτι μεγαίρω sei wörtlich, d. h. als Einschränkung der anfänglichen Absage, gemeint und das Folgende stelle ein gewisses Zugeständnis dar. Dabei ist die Formulierung ironisch, denn Spartas Gier soll ja gerade bestraft, Tegea ihr gerade missgönnt werden. Nur die Sklaverei nach ihrer Niederlage sei ihnen (als Strafe, oder weil das Schicksal es so will) gegönnt. v. 4: Dass hier das v. 1 bereits mit positiver Konnotation gebrauchte δώσω, nun jedoch negativ konnotiert, wiederholt wird, macht es für die Spartaner noch schwerer, den wahren Sinn des Gesagten zu erfassen. Üblicherweise würde durch διδόναι, wie schon in v. 1, dort lediglich verneint, ein freimütiges Geben bezeichnet werden, welches Tegea gleichsam als Geschenk des Gottes an Sparta erscheinen lässt. Hier jedoch steht das Verb vielmehr in der Bedeutung „zur Strafe auferlegen“; vgl. das Verhängen von Übeln durch Götter als διδόναι bei Hom. Il. 1,96. 19,270; Hom. Od. 9,15. Die euphemistisch gebrauchten Begriffe ποσσίκροτον und ὀρχήσασθαι unterstützen das falsche Verständnis von einem positiven Ausgang für Sparta, der durch einen freudigen Siegestanz gefeiert wird. Mit einer Orchestra vergleicht der Gott Tegea wohl aufgrund seiner Topographie: Die Stadt ist von Bergen umgeben wie eine Orchestra von den um sie aufragenden Tribünen, vgl. How/ Wells (21928) z. St.; eine vergleichbare Bezeichnung für die böotische Ebene bei Plut. mor. 193e (regum et imperatorum apophthegmata). In diesem Sinne ist sie v. 5 auch als πεδίον bezeichnet. ποσσίκροτον deutet auf einer subtilen terminologischen Ebene (vgl. auch in ἐξανδραποδιούμενοι, 1,66) bereits auf die schicksalhafte Bedeutung der Fußfesseln (πέδαι) hin, mit denen die siegessicheren Spartaner nach Tegea ziehen, nur um schließlich selbst als Sklaven in ihnen zu liegen (1,66). Der Tanz der Spartaner wird somit kein Freudentanz sein, sondern das anstrengende Schuften bei der zur Strafe auferlegten Vermessung Tegeas. Ihr Marschieren mag in einer Analogie der gleichmäßig-rhythmischen (oder zur tänzerischen Schnelligkeit angetriebenen) Bewegungen als Tanz der Unterlegenen bezeichnet sein. v. 5: Die prophezeite Vermessung des Landes scheint auf eine siegreiche Landnahme hinzudeuten und schürt auf diese Weise falsche Hoffnungen bei

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dem ohnehin durch seinen Hochmut verblendeten Ratsuchenden, der nur allzu bereit ist, sich von dieser Hoffnung beflügeln zu lassen. Sparta als Rätsellöser: Herodot betont, dass Sparta aus einem hochmütigen Überlegenheitsgefühl heraus (Teile von) Arkadien zu erobern trachtet (οὐκέτι ἀπέχρα ἡσυχίην ἄγειν, ἀλλὰ καταφρονήσαντες Ἀρκάδων κρέσσονες εἶναι, 1,66). Dieser Hochmut macht Sparta, wie viele andere Rätsellöser auch (z. B. den Lyderkönig Kroisos im Umgang mit verschiedenen Orakeln und Rätseln, Hdt. 1,30–33. 46–49. 53 f. 55; den Perserkönig Dareios im Umgang mit verschiedenen Rätselgaben, Hdt. 4,131–135; Ps.-Kallisth. hist. fab. 1,36–39) blind für die Doppeldeutigkeit des rätselhaften Orakels (χρησμῷ κιβδήλῳ πίσυνοι, ὡς δὴ ἐξανδραποδιεύμενοι τοὺς Τεγεήτας) und wird der Stadt so zum Verhängnis: ταῦτα ὡς ἀπενειχθέντα ἤκουσαν οἱ Λακεδαιμόνιοι, Ἀρκάδων μὲν τῶν ἄλλων ἀπείχοντο, οἱ δὲ πέδας φερόμενοι ἐπὶ Τεγεήτας ἐστρατεύοντο, χρησμῷ κιβδήλῳ πίσυνοι, ὡς δὴ ἐξανδραποδιεύμενοι τοὺς Τεγεήτας. (1,66) Als den Lakedaimoniern dies zu Ohren kam, ließen sie von den anderen Arkaderstädten ab, nahmen aber Fußfesseln mit und zogen gegen Tegea in den Kampf, weil sie auf das trügerische Orakel vertrauten und meinten, sie würden die Tegeaten versklaven.

Obwohl das Orakel gewöhnlich bemüht scheint, dem Ratsuchenden die Verantwortung für seine Deutung des Spruchs zu überlassen, scheint hier doch eine gewisse Täuschungsabsicht (vgl. auch κίβδηλος anstelle des neutraleren ἀμφίβολος) vorzuliegen, um Sparta für seinen Hochmut zu strafen. Intertextuelle Verweise: Vgl. auch das von Sparta (außer dem alten Liches) ebenfalls unverstandene zweite Orakel (AP XIV 78 = Hdt. 1,67) über das Grab des Orestes, das die Spartaner einholen, um ihr Unglück im Kampf gegen Tegea abzuwenden.

A. I. 2 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle bzw. string riddle) 1 Rätsel von der Schröpfkopf-Anwendung Kleobuline, IEG II, frg. 1, p. 50 f. West; AP App. VII 6; zit. Athen. X 452b; S 13 ἄνδρ’ εἶδον πυρὶ χαλκὸν ἐπ’ ἀνέρι κολλήσαντα οὕτω συγκόλλως ὥστε σύναιμα ποιεῖν. Ich sah einen Mann, der einem anderen Mann mit Feuer Erz anschweißte, so eng, dass er sie zu Blutsbrüdern machte.

Form: Elegisches Distichon

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Erklärung: Das Rätsel um den Schröpfkopf ist aus der neutralen Erzählerperspektive mitgeteilt. Es umschreibt die Anwendung eines erhitzen Kupferbechers als Schröpfkopf, der dem Patienten direkt auf eine eingeritzte Hautpartie gesetzt wurde, um durch Unterdruck ein Hämatom oder sogar – wie hier – austretendes Blut für einen Aderlass zu erzeugen. Mit der Nennung des Kupfer-Gegenstands (χαλκὸν) ist die Kategorie des Rätselobjekts gleichsam durch ein ähnliches, jedoch stark verallgemeinertes Objekt (nämlich das Material) benannt. Darüber hinaus bezieht sich die Umschreibung der zu erratenden Situation bzw. Handlung ausschließlich auf die Relation des Schröpfkopfs zu anderen Elementen. Eigenschaften oder Bestandteile des Instruments sind hingegen nicht genannt. v. 1: Die beiden Männer, von denen die Rede ist, sind Arzt und Patient. Der allgemeine Begriff χαλκός ist als Material auf den eigentlich gemeinten, daraus geformten konkreten Gegenstand, den Schröpfkopf, der neben der σικυώνη bezeichnenderweise auch als πυρίχαλκον benannt wird, im Sinne einer Synekdoche (materia pro opere) übertragen. Andersherum muss das konkrete Verb κολλάω („kleben“ oder „anschweißen“) in einem weiteren Sinne als „aufsetzen“ oder „aufdrücken“ verstanden werden. In Verbindung mit dem Feuer, das durch Verbrennung von Verbandsmaterial in bzw. unter den Schröpfköpfen den Unterdruck erzeugte, klingen κολλάω und χάλκος zunächst eher brutal-kriegerisch (obwohl sie den Schröpfkopf als πυρίχαλκον geradezu umkreisen) und scheinen so gar nicht zu der Blutsbrüderschaft des Nachsatzes zu passen. Tatsächlich wurde jedoch der Unterdruck im Schröpfkopf für den blutigen Aderlass genutzt; vgl. hierzu Aristot. rhet. 1405b: ἀνώνυμον γὰρ τὸ πάθος, ἔστι δ᾽ ἄμφω πρόσθεσίς τις· κόλλησιν τοίνυν εἶπε τὴν τῆς σικύας προσβολήν. Weil es für das Aufsetzen eines Schröpfkopfes keinen eigenen Ausdruck gebe, sei die metaphorische Verwendung des Verbs κολλάω angemessen, da es zwischen „anschmieden“ bzw. „ankleben“ und „schröpfen“ eine gewisse Ähnlichkeit bezüglich des Verbindens (πρόσθεσις) zweier Dinge gebe. v. 2: οὕτω suggeriert erneut fälschlicherweise, dass es sich um einen (brutalen) Kraftakt handelt. Dabei geht diese Vorstellung von dem Effekt des Schröpfens beim blutigen Aderlass aus. Tatsächlich saugt der Unterdruck aus einer eingeritzten Hautstelle das Blut ganz leicht heraus. Inwiefern Arzt und Patient bei der Behandlung konkret σύναιμοι werden, ist dagegen unklar. Schließlich blutet der Arzt nicht und eine Vermischung der Körperflüssigkeiten wird man bei der Behandlung sicher bewusst vermieden haben. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ausführlichere Rätsel vom Schröpfkopf, AP XIV 54.

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Das Rätsel der Kleobuline gilt als Paradebeispiel der Gattung und wird in dieser Funktion häufig zitiert: Aristot. poet. 1458b. rhet. 1405b; Plut. conv. sept. sap. 145c; Demetr. eloc. 102; Athen. X 452bc. Literatur: Schweighäuser V (1804) 557 f. Jacobs (1803) 346.

2 Rätsel vom Schröpfen Kleobuline, IEG ΙΙ, frg. 2, p. 51 West; O 158 f. ἄνδρ’ εἶδον κλέπτοντα καὶ ἐξαπατῶντα βιαίως, καὶ τὸ βίαι ῥέξαι τοῦτο δικαιότατον. Ich sah einen Mann, der mit Gewalt stahl und täuschte und dieses mit Gewalt Handeln war ausgesprochen gerecht.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Auch dieses Rätsel lässt sich auf den Schröpfvorgang bzw. seine Benutzung deuten. Besonders zu beachten ist der mit IEG II, frg. 1 West = AP App. VII 6 identische Anfang und der mit dem bekannten Rätsel vom Schröpfkopf parallele Aufbau (v. 1 Beschreibung des Vorgangs, v. 2 allgemeine Ergänzung). βιαίως entspricht im übertragenem Sinne dem πυρί des Schröpfkopfrätsels, bezeichnet also eine Gewalt im übertragenen Sinne als „mit Kraft“ u. U. auch „mit feindlichen Mitteln“, nicht aber „in feindlicher Absicht“ durchgeführte Handlung. In diesem Verständnis hebt sich das scheinbare Paradoxon der gerechten Gewalt auf, die eben eine „Gewalt in bester Absicht“ ist. Das Stehlen steht metaphorisch-verallgemeinernd für ein „zur Ader Lassen“, in dem Sinne, dass dem Behandelten Blut genommen wird. Ähnlich bezeichnet das Täuschen ein „hinter jemandes Rücken etwas tun“, und zwar in dem ganz wörtlichen Sinne, dass der Schröpfkopf am Rücken angesetzt wird, sodass der Behandelte ihn nicht sieht. Vgl. dagegen die Deutung von Wilamowitz I (21895) 97, Anm. 179 und ders. (1899) 219 mit Anm. 2 auf den Ringkampf. Ohlert (21912) 159 bezeichnet das Zitat des Rätsels durch einen Sophisten (um 400 v. Chr.) zum „Recht des Truges“ als Variation im Sinne des dort verfolgten Gedankengangs. Literatur: Gale (1688) 720. Orelli II (1819–1821) 222.

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3 Rätsel vom Zug durch das Rote Meer AP App. VII 35, Cougny; Basil. Megalomit. 21, Anecd. Gr. III, p. 444 Boiss.; Psellos 8, Anecd. Gr. III, p. 431 Boiss.; S 99 Ξύλου μὲν ἡ κλεὶς, ἡ δὲ κιγκλὶς ὑδάτων. Διέδρα λαγὼς, καὶ κύων συνεσχέθη. Ein gewisser hölzerner Schlüssel, aber das Tor aus Wasser. Der Hase entfloh und der Hund blieb eingesperrt.

Form: 2 iambische Trimeter Kontext: Vgl. Exod 14,13–15 den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei unter ägyptischer Herrschaft nach Kanaan. Erklärung: Den Kern des Rätsels aus der Erzählperspektive bilden die beiden Schlüsselbzw. Tiermetaphern. v. 1: Schlüssel-Tor-Metaphorik. Der hölzerne Schlüssel steht für den Holzstab, den Moses hebt, um das Rote Meer zu teilen. Die Metapher beruht auf Analogien des Materials (Holz) und der Funktion – wie ein Schlüssel öffnet der Stab das Meer als Tor, sodass die Israeliten mitten hindurch ziehen können. Paradox erscheint auf der Bildebene der Metapher die Verbindung von Holz und Wasser, da Schlüssel und Schloss in der Regel auch insofern zueinander passen, als dass sie aus demselben Material bestehen. Zudem erscheint insbesondere das Tor aus Wasser unmöglich. Wo ein hölzerner Schlüssel zwar ungewöhnlich, aber doch prinzipiell möglich erscheint, ist kaum vorstellbar, wie Wasser in seiner unbeständigen Flüssigkeit die standhaften Eigenschaften eines begrenzenden Tores übernehmen soll. Da auf der Bedeutungsebene kein Tor mit einem Schlüsselloch im engeren Sinne vorhanden ist, in das ein Schlüssel streng physisch passen müsste, liegt darin jedoch keine echte logische Unmöglichkeit. Das Wasser ist ein Tor, insofern es als Meer den Weg für die Fußläufigen versperrt. v. 2: Tiermetaphorik. Hase und (Jagd-)Hund stehen für den typischen Verfolgten und seinen Verfolger, in diesem Fall also für die Israeliten, die vor den Ägyptern fliehen. Dabei werden die gewöhnlichen Kausalzusammenhänge verkehrt: Der Hase besiegt den Hund, der Hund aber wird, von einer dritten Instanz, nämlich dem Meer, eingesperrt. Als sich das Meer wieder schloss, ertranken die Ägypter auf ihrer Verfolgung entsprechend in den Fluten. Die Subjektsverschiebung im zweiten Vers erschwert das Verständnis: Die Israeliten fliehen als Hase vor den Ägyptern. Die Ägypter aber werden als Hund

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eingeschlossen durch das Meer. Die Handlung ist also nicht streng reziprok, wie die Formulierung eventuell vermuten lässt. 4 Rätsel von Jona im Walfisch Basil. Megalomit. 24, Anecd. Gr. III, p. 445 Boiss.; S 99a Ἰχθῦς ἡ χύτρα· τὸ δ’ ἑψόμενον ἔνδον Ἔμπνουν, λογικόν, αἰσθητόν, ζῶν τε κρέας. Ὅ δῆτ’ ἐξελθὸν θρηνεὶ περὶ λαχάνων. Ein Fisch ist der Topf; das Gekochte im Inneren atmet, spricht, nimmt wahr und ist lebendiges Fleisch. Als er aber herauskommt, jammert er über eine Bittergurke.

Form: 3 byzantinische Senare Kontext: Der Prophet Jona erhält von Gott den Auftrag, nach Ninive zu reisen und den Bewohnern der Stadt ob ihrer Schlechtigkeit ein Strafgericht Gottes anzudrohen. Jona weigert sich, diesen Auftrag auszuführen, und bricht von Israel aus in die entgegengesetzte Richtung nach Jaffa auf. Zur Strafe entfacht Gott einen Sturm, in dem die Besatzung des Schiffes unterzugehen droht. Als klar wird, dass der Sturm dient, um Jona zu strafen, wird er über Bord geworfen und von einem Walfisch verschluckt, der Jona, nachdem dieser sich reumütig gezeigt hat, unversehrt wieder ausspuckt. Erklärung: Das Rätsel ist beherrscht von einer Koch-Metapher, die wohl darauf anspielt, dass Jona im Wal buchstäblich vor sich hin schmort, bis Gott ihn erlöst. v. 1a: Als erstes Wort des gesamten Rätsels liefert ἰχθῦς bereits einen entscheidenden, direkten Hinweis auf die Lösung, insofern mit dem Fisch die Lösungskategorie für den Walfisch als bedeutendstes Element der zusammengesetzten Lösung ausdrücklich festgelegt ist. Das Rätsel hebt an mit einer paradoxen Verkehrung der gewöhnlichen Zusammenhänge. Normalerweise wird Fisch als Nahrung im Topf gekocht, der Fisch befindet sich als Gekochtes innen, der Topf als Gefäß außen. Hier aber sind Topf (χύτρα) und Fisch (ἰχθῦς) gleichgesetzt. Der Fisch gilt als Topf aufgrund seiner analogen Position im Raum: Der Wal, der Jona verschluckt, umhüllt ihn ja tatsächlich in der Art eines Gefäßes. vv. 1b-2: Zusätzlich paradox erscheint der Umstand, dass das Gekochte (τὸ ἑψόμενον) als lebendig attribuiert wird. Hierin liegt einerseits ein Hinweis darauf, dass nicht im engeren Sinne gekocht wird. Andererseits mag ein Rezipient auch an einen besonders grausamen Zubereitungsprozess denken, bei dem der

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Fisch lebendig gekocht bzw. gebraten wird. Das neutrale Genus von τὸ ἑψόμενον, das sich grammatikalisch nicht in Einklang mit dem maskulinen ὃ ἐξελυόν bringen lässt, erschwert das Raten. Es erzeugt in seiner Allgemeinheit einen weiteren Gegensatz zur individuellen Lebendigkeit (ζῶν). v. 3: Nachdem Jona von Gott begnadigt und von dem Wal ausgespuckt worden war, ging er, wie ihm geheißen worden war, nach Ninive, wo Gott auch die Bewohner verschonte, als sie bei Ankündigung des Strafgerichts Reue für ihr schlechtes Verhalten zeigten. Jona grollte über die Nachgiebigkeit Gottes im Vergleich zu seinem eigenen Schicksal und schmollte in der Sonne. Da ließ Gott eine Rizinuspalme wachsen, die ihm Schatten spendete. Anschließend ließ er die Pflanze wieder eingehen, worüber Jona sich dann sehr beklagte; vgl. Jona 4. Auf diese Weise wird der als τὸ ἑψόμενον Bezeichnete doch noch (in der Sonne) gekocht. Dass er als der Gekochte um ein Gemüse als Nahrungsmittel trauert, als die Palme eingeht, hat einen gewissen komischen Effekt. Die Rizinus-Palme wird auch als Weinstock, Efeu oder Kürbis gedeutet. Zur Familie der Kürbisgewächse gehört auch die Bittergurke (colocynthis bzw. λάχανον), die Jona gemäß des Rätseltextes betrauert. Das Vorkommnis mit der Pflanze soll Jona eine Lehre sein, es fungiert damit geradezu als Gleichnis (wie Jona um den Rizinus trauert, so hat Gott, nur in noch viel größerem Maße, Empathie für die Bewohner von Ninive), auf das hier gleichsam als Rätsel im Rätsel angespielt wird. Literatur: Heinrici (1911) 57, nr. 14.

5 Orakel an Sparta über den Tod des Leonidas Hdt. 7,220 (Kontext 7,219–221), Wilson; AP XIV 96 ὑμῖν δ’, ὦ Σπάρτης οἰκήτορες εὐρυχόροιο, ἢ μέγα ἄστυ ἐρικυδὲς ὑπ’ ἀνδράσι Περσεΐδῃσι πέρθεται, ἢ τὸ μὲν οὐχί, ἀφ’ Ἡρακλέους δὲ γενέθλης πενθήσει βασιλῆ φθίμενον, Λακεδαίμονος οὖρον. οὐ γὰρ τὸν ταύρων σχήσει μένος οὐδὲ λεόντων ἀντιβίην· Ζηνὸς γὰρ ἔχει μένος· οὐδέ ἕ φημι σχήσεσθαι, πρὶν τῶνδ’ ἕτερον διὰ πάντα δάσηται. Ihr aber, die ihr das geräumige Sparta bewohnt, entweder wird eure große, ruhmreiche Stadt durch die persischen Männer zerstört, oder nicht; des von Herakles abstammenden Königs Tod aber wird das Land der Lakedaimonier dann betrauern. Denn weder der Stiere noch der Löwen Kraft vermag ihm etwas entgegenzusetzen; denn er hat die Kraft des Zeus; und es heißt, ihm wird kein Ende sein, bevor er eines von beiden zur Gänze vertilgt hat.

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Form: 7 Hexameter Kontext: Den Spartanern war zu Beginn der Perserkriege ein Orakel über ihr Schicksal in den Kämpfen gegeben worden, welches sich konkret auf die Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.) bezieht. Im Zusammenhang mit der Schilderung dieses Kampfes überliefert Herodot das Orakel. Als am Vorabend der Schlacht die Situation für die Griechen ausweglos erschien, habe Leonidas einen großen Teil des Heeres abziehen und sich in Sicherheit bringen lassen. Er selbst sei mit wenigen Kämpfern vor Ort geblieben – laut Herodot auch, weil er an jenes Orakel dachte (ταῦτά τε δὴ ἐπιλεγόμενον Λεωνίδην καὶ βουλόμενον κλέος καταθέσθαι μούνων Σπαρτιητέων, ἀποπέμψαι τοὺς συμμάχους, 7,220). Erklärung: Das Orakel über den Ausgang der Schlacht bei den Thermopylen ist in seiner Grundaussage eindeutig: Sparta wird – auf die eine oder andere Weise – schwere Verluste erleiden, worunter entweder (1) die völlige Vernichtung der Stadt und ihrer Bevölkerung oder (2) der Tod des spartanischen Königs Leonidas sein könnte. Dass das Eintreten des einen Verlustes (2) das des anderen unmittelbar kausal verhindert, geht aus der Formulierung des Spruchs hingegen nicht eindeutig hervor, wird aber von Leonidas selbst richtigerweise in diesem Sinne gedeutet. v. 1: Anrede an die Spartaner als Adressaten des Spruchs. Die Betonung der Größe von Spartas Herrschaftsbereich unterstreicht andererseits die Macht des Feindes, der all dies erobern kann. vv. 2–3a: Entweder wird Sparta vollständig zerstört, oder nicht. Die für den Rezipienten u. U. irreführende, weil eine eindeutige Aussage vermeidende Korrelation ἤ …ἢ οὐ deutet an, dass das Schicksal der Spartaner nicht endgültig bestimmt ist. Abhängig von verschiedenen Bedingungen ergeben sich unterschiedliche Folgen. Die Bezeichnung der Perser als Περσηίδες spielt auf die mythologische Abstammung des Volkes von Perses an. vv. 3b–4: Hier wird die Bedingung dafür genannt, dass Sparta nicht endgültig vernichtet wird: Die Stadt betrauert ihren toten König, d. h. Leonidas stirbt. Gemeint ist damit jedoch nicht, wie ein Rezipient vielleicht vermuten könnte, weil die Rettung der Stadt gerade mit dem Tod des Königs als Anführer kausal nicht leicht vereinbar scheint, Leonidas könne sich ausliefern und Sparta damit retten. Der Spruch weist vielmehr darauf hin, dass in der entscheidenden Situation alles in der Hand des Leonidas liegen wird. Wenn er bei den Thermopylen bereit ist, selbst zu kämpfen und zu sterben (anstatt sich durch Flucht in Sicherheit zu bringen), kann er die Perser aufhalten und so durch seinen Tod das übrige Sparta retten.

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Das Verständnis der Verknüpfung von Bedingung und Folge ist erschwert durch die Verschachtelung beider Gedankengänge von v. 2 bis v. 4: Bestimmend sind die beiden Korrelationen ἢ ... ἢ (οὐ) und τὸ μὲν ...(τὸν) δὲ, die folgendermaßen miteinander verschränkt sind:

Nur für die zweite Möglichkeit (die Rettung der Stadt) ist eine Bedingung genannt, weil sie für die Spartaner die einzig erstrebenswerte ist. Ἡρακλέους: Die Könige von Sparta betrachten sich als die Nachfahren der Herakliden (Hdt. 9,26; Apollod. 2,13,5–7). οὖρος Λακεδαίμονος (χώρης): Als metaphorische Umschreibung für ganz Sparta. vv. 5–6a: Die dritte Person Singular der Prädikate (σχήσει, ἔχει) verleitet dazu, sie auf den eben erwähnten König oder (allgemeiner) auf οὖρος als Subjekt des Vorsatzes, also auf Sparta selbst zu beziehen. Bis v. 7, der auf vv. 3b–4 zurückgreift, klingt die Beschreibung nach einem großen Lob auf die Kraft des spartanischen Königs. Besonders auch die zeusähnliche Kraft stimmt scheinbar zu der eben erwähnten Abstammung von den Herakliden. Erst im Schlussvers ist mit Leonidas (bzw. Sparta) als Subjekt, besonders unter der Prämisse, dass er sterben soll, kein Sinn mehr herzustellen. Subjekt muss somit ein anderer, nämlich (verallgemeinernd) der Perser sein. v. 5: Die beiden Tiermetaphern (ταύρος, λέων) funktionieren auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Einerseits stehen Stier und Löwe in einem abstrakt allgemeinen Sinn für große körperliche Kraft und eine gewisse Wildheit. Ihre Hilflosigkeit unterstreicht die übermenschliche, unbesiegbare Kraft des Gegners: Wen Löwe und Stier nicht besiegen können, den besiegt niemand. Auf einer konkreteren bildlichen Ebene, steht der Löwe für Λεωνίδας, den Löwengleichen, während der Stier als Umschreibung für Agamemnon, den ursprünglichen König von Sparta, stehen kann, der selbst noch die verlustreiche Auseinandersetzung mit Troja zu einem siegreichen Ende bringen konnte – die Schlacht gegen die Perser hingegen könnten die Griechen selbst unter seinem Kommando nicht gewinnen; vgl. Agamemnon als ταύρος Aischyl. Ag. 1126. Andererseits bezeichnet der Stier auch eine gewisse (lykische) Schiffsart (vgl. Poll. 1,83) und könnte so auf die zeitgleich zu den Thermopylen am Kap Artemision (ergebnislos) ausgefochtene Seeschlacht hinweisen, in der die Griechen ebenfalls versäumen, die

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Oberhand über die Perser zu gewinnen (doch in Salamis bleiben sie ja schließlich mit der Flotte siegreich). Entscheidend ist hier τόν ohne Bezugswort: Den (verallgemeinernd) Perser, der schon ab v. 5 Subjekt ist, kann niemand bezwingen. v. 6b: Die übermenschliche Kraft des Gegners stammt von Zeus her. Perseus, von dem die Perser ihr Geschlecht ableiten (Περσείδῃσι, v. 2), ist ein Sohn des Zeus mit Danae. vv. 6c–7: τῶνδ’ ἑτέρων kann sich nur auf die Korrelation τὸ μὲν ... (τὸν) δέ (vv. 3b–4) beziehen, da nur hier zwei unterschiedliche Objekte vorliegen, auf die sich δάσηται beziehen kann. Das Verständnis ist durch den großen Abstand erschwert. Da das Prädikat eine feindliche Handlung gegenüber Sparta zum Ausdruck bringt, wird spätestens hier offenbar, dass sich vv. 5–7 nicht auf Leonidas beziehen. Der verallgemeinernde Singular erschwert die Identifikation zusätzlich, da die Perser noch v. 2 im Plural aufgetreten sind. Leonidas als Rätsellöser: Nach Herodot scheint Leonidas trotz der geringen Aussichten auf einen Erfolg der Griechen gegen die Perser in der Schlacht bei den Thermopylen den Kampf nicht gescheut zu haben, weil er an das Orakel dachte (ταῦτά τε δὴ ἐπιλεγόμενον Λεωνίδην, 7,220). Da sein Tod in dem Orakel als Alternative zum vollständigen Untergang Spartas genannt ist, opfert Leonidas sich mit diesem Verhalten offenbar bewusst selbst, um das Orakel zu erfüllen, welches auf folgende Weise mit dem Seherspruch des Megistias, der den Tod aller Griechen, die den Persern bei den Thermopylen entgegentreten würden (7,219), voraussagte, zusammenpasst: 1. Alle Griechen, die bei den Thermopylen kämpfen, werden sterben (7,219). 2. Sofern Leonidas unter den Toten ist, wird Sparta gerettet (7,220). Der Tod aller Griechen müsste ja eigentlich auch das Ende Spartas bedeuten – besonders, wenn auch Leonidas als ihr König fällt. Doch der tiefere Sinn des Orakels, dessen Grundaussage unverschleiert ist, scheint zu sein, dass, wenn Leonidas unter den Toten ist, er zuvor auch gekämpft, d. h. sich nicht gemeinsam mit den Bundesgenossen vor der bevorstehenden Schlacht zurückgezogen, und damit (1) den Persern so zugesetzt hat, dass Sparta schließlich trotz der Niederlage der Griechen in dieser Schlacht gerettet wird; vgl. die hohen Verluste von rund 20.000 Soldaten, welche die Perser laut Hdt. 8,24 zu beklagen hatten. Insbesondere aber durch das tagelange Abwehren der Perser und die vorübergehende Sicherung des engen Landpasses gewährleistete Leonidas ferner (2) den Rückzug des griechischen Hauptheeres, das bei einem vollständigen Rückzug der Spartaner von der persischen Reiterei überrannt worden wäre.

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Sich im Wissen um das Orakel noch vor der Schlacht dem Feind selbst auszuliefern, um den Kampf vollständig zu vermeiden, hätte hingegen nicht den Sinn des Orakels getroffen, denn damit wäre den Persern nicht geschadet, die dann unbehelligt weiter gegen Sparta (und die übrigen Griechen) hätten vorgehen können. Diese Zusammenhänge machen Leonidas gewissermaßen zu einem erfolgreichen Rätsellöser, der die Unabwendbarkeit des Schicksals erkennt und dann den für ihn persönlich unvorteilhafteren, zum Erreichen des Gesamtziels (Verteidigung gegen die Perser) notwendigen Weg wählt. Der Lohn für seine korrekte Rätsellösung läge dann offenbar in dem großen Nachruhm, der ihm nach seinem heldenhaften Tod zuteil wird.

6 Rätsel von fünf Männern auf zehn Schiffen AP App. VII 31, Cougny; zit. Athen. X 457b; S 10. O 156 Πέντ’ ἄνδρες δέκα νηυσὶ κατήλυθον εἰς ἕνα χῶρον, ἐν δὲ λίθοις ἐμάχοντο, λίθον δ’ οὐκ ἦν ἀνελέσθαι· δίψῃ δ’ ἐξώλλυντο, ὕδωρ δ’ ὑπερεῖχε γένειον. 1 ναυσὶ κατέδραμον Kaibel Laur. (ed. Piccolos)

3 γένειον Cod. Laur. (ed. Hercher)

γένεια Cougny nach Cod.

γενείου coni. Kaibel

Fünf Männer fuhren auf zehn Schiffen zu einem Ort, und kämpften mit Steinen und doch war es unmöglich, einen Stein anzuheben; vor Durst sind sie gestorben, obwohl ihnen doch das Wasser bis übers Kinn stand.

Form: 3 Hexameter Erklärung: Dem von Athenaios als περιφερόμενον gerühmten Rätsel hat man bis heute keine einhellig überzeugende Lösung beigegeben. Im Zentrum des Rätsels steht das paradox anmutende Zahlenverhältnis 5 – 10 – 1, bei dem die kleine Zahl die größere, in welchem konkreten Sinn auch immer, beherrschen soll. Zudem ist die Sinnrichtung der Präposition ἐν (v. 2) unklar, die die λίθοι (1) als Waffen, (2) als Umgebung bzw. Untergrund oder (3) als Rüstung (analog zu ἐν ὅπλοις μάχεσθαι) des Kampfes ausweisen kann. Grundsätzlich zu unterscheiden sind die Auslegungen, die ἄνδρες und νῆες als exakte Elemente auffassen, von solchen, die einen oder beide der Begriffe als transformierte Elemente ansehen. Hinzu kommen Interpretationen, die die Zahlen fünf und zehn nicht als exakte Elemente ansehen, sondern ihre Auslegung von einem Austausch zu zehn Männern auf fünf Schiffen abhängig machen.

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I. Die wörtliche Auffassung: 1. Dalechamp: Athenaei Naucratitis Deipnosophistarum libri quindecim, Leiden 1583, 341. Gemeint sei eine Seeschlacht zweier Flotten, die von fünf classis praefecti befehligt wurden. Die Steine, die die (zusätzlich zu denkende) Mannschaft schon auf den Schiffen mitführten, weil sich auf See keine Wurfgeschosse auffinden ließen, gebrauchten sie für Katapulte. Die Mannschaft, die in der Sonne schwitze, habe Durst gelitten, sei aber letztlich beim Untergang der Schiffe ertrunken; zitiert bei Schweighäuser (1804) 594. Gegen diese Auslegung sprechen einerseits κατήλυθον εἰς χῶρον, das einen Zielort auf dem Festland voraussetzt, andererseits die nicht hinreichend erklärten Zahlenverhältnisse. So wären fünf classis praefecti für eine gewöhnliche Flotte eigentlich zu viel, während die Truppenstärke mit zehn Schiffen zu klein scheint. 2. Gulick (1930) 574 f., Anm. a mit Bezug zu Diels, in: BBG 54 (1918) 28 Gulicks Übersetzung liegt die Vorstellung von dem Kampf zwischen fünf Männern bei einem auf ein Riff aufgelaufenen Schiffswrack zugrunde. Hier werden weder die paradoxen Zahlenverhältnisse sinnvoll erklärt noch gibt er eine echte inhaltliche Deutung der unbeweglichen Steine und ihrer Funktion bzw. Rolle in dem Kampf. 3. Probst, BBG 53 (1917) 294 f., nach Caponigro (1984) 286 Probst glaubt, das Rätsel beziehe sich auf die sprichwörtlich gewordenen Tantalosqualen, den drohenden Felsen und das Dürsten bei Wasserstand bis zum Halse; hierzu auch Caponigro (1984) 287. 295, der sogar v. 2 auf den Hunger bei ständig vorschwebendem Apfel zu deuten wagt. Hier werden jedoch die spitzfindigen Einzelheiten des Rätsels, die wohl kaum als beiläufig oder willkürlich abgetan werden dürfen, sondern vielmehr seinen Kern ausmachen, ohne echte Erklärung übergangen. II. ἄνδρες und νῆες als transformierte Elemente: 1. Scaliger nach Caponigro (1984) 288 f. Scaliger vermutet den Kampf von fünf Boxern mit ihren zehn Fäusten auf gepflastertem Grund. Für den Schweiß, der den Athleten vor Anstrengung, die sie schließlich verdursten lässt, über das Gesicht (bis übers Kinn) läuft, stünde demnach das Wasser. Einerseits scheinen die Fäuste als Analogie für die Schiffe kaum passend, insofern sie keine Fortbewegung bewirken. Andererseits fanden Faustkämpfe gewöhnlich in Paaren statt, sodass fünf als ungerade Zahl kaum zu erklären ist.

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3.

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Casaubonus (bei Schweighäuser (1804) 594) Analog zu Scaliger glaubt Casaubonus an fünf Läufer, deren zehn Schiffe in ihren Schuhen bestehen. Gegen eine solche Auslegung spricht, dass Wettkampfläufer ihre Strecke gewöhnlich ohne Schuhe absolvierten. Als Schiffe müssten dann ihre Füße selbst gelten, wobei dann die Analogie des Einsteigens verlorenginge. Ferner ist die Wettlaufstrecke in der Regel nicht gepflastert. Caponigro: Five Men and Ten Ships: A Riddle in Athenaeus, in: Roman and Byzantine Studies 25 (1984), 285–296, hier 290–296. Die Auslegung geht von fünf Mandeln oder Pistazien aus, deren 10 Schiffe ihre in Hälften gebrochenen Schalen darstellen. Die Nüsse werden von den Zähnen als Steinen zermahlen, erzeugen dem Essenden einen Durst und ertrinken, d. h. werden gänzlich weggespült durch das folgende Getränk. Gegen diese Interpretation spricht einerseits, dass die Nussschalen die Nüsse ja gerade nicht in den Mund bzw. Magen transportieren, wie man es von Schiffen glauben müsste – selbst wenn sie mit den Zähnen geknackt werden. Inwiefern die Zähne als Steine unbeweglich sein sollen, wo doch gerade die Bewegung der Kiefer zum Untergang der Nüsse führt, ist ebenfalls fragwürdig. Schließlich scheint auch der für den letzten Vers angesetzte Subjektswechsel zwischen dem Verzehrenden, der an seinem Durst ja gerade nicht stirbt, und den heruntergespülten Nüssen konstruiert, obwohl Caponigro sich gerade gegen derart künstliche Lösungen verwehrt.

III. Die Zahlen fünf und zehn als transformierte Elemente: Hagen (1869) 17, Ohlert (21912) 156 und Diels (1918) 29 postulieren, Teil der Lösung sei die notwendige Vertauschung der Zahlen zu zehn Männern auf fünf Schiffen. IV. Ohne Lösung: Sowohl Friedreich (1860) 185 f., nr. 72 als auch Schultz (1909) 28, nr. 10 führen das Rätsel ohne jeden inhaltlichen Lösungs- oder Erklärungsansatz. Dilthey (1891) 8 ff. mit alternativer Lösung. Intertextuelle Verweise: Plut. symp. 660d zitiert den zweiten Vers des Rätsels. Die Gäste des Mahls werden von Philon unterhalten, der, als er bemerkt, dass ein anwesender Vegetarier nur Brot zu essen hat, ausruft: „ὦ Ἡράκλεις,“ ἔφη, „τοὺτ’ ἄρ’ ἦν τὸ λεγόμενον ἐν δὲ λίθοις ἔμάχοντο, λίθον δ’ οὐκ ἦν ἀνελέσθαι.“ Oh Herakles, dies also bedeutete der Ausspruch „Sie kämpften mit Steinen, kein Stein aber ließ sich anheben.“

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Philon bezieht den Rätselvers auf solche Personen, die eine strikte Diät befolgen oder aus anderen Gründen ein karges Mahl reichen Speisen vorziehen. Dabei suggeriert die Formulierung, dass Philon erst in dem betreffenden Moment auf diese, keinesfalls traditionelle, Auslegung des Rätselverses verfällt; vgl. für ἄρα mit Vergangenheitstempus in diesem Sinne Denniston (21954) 36. Zu einer konsistenten Ausdeutung des gesamten Rätsels gibt Philons Deutung ohnehin keinen Anlass; vgl. Caponigro (1984) 294 f. mit Darlegungen zu den Kenntnissen Plutarchs über das vollständige Rätsel und seine Gründe für ein Teilzitat. Das Rätsel ist ferner überliefert in einem anonymen Scholion zu Hermogenes, de ideis (Rhet. Gr. VII.2, 949 f. Walz). Grundlegend sind die beiden Codices Paris.gr.suppl. 690, XI–XII und Laurent. Plut. 32.16 f. 389v, von welchen letzterer ediert ist von Piccolos (1953) 192. Literatur: Vgl. neben der oben zitierten Literatur auch Fabbro (2003) 399–410, wo das Rätsel auf fünf Mollusken (ἄνδρες) gedeutet wird, die man fängt, an Land bringt und – zum Kochen – auf brennende Kohlen (Steine, die man wegen ihrer hohen Temperatur nicht anheben kann, λίθον δ’ οὐκ ἦν ἀνελέσθαι) legt, sodass sie „verdursten“ (δίψῃ δ’ ἐξώλλυντο), indem ihre innere Feuchtigkeit, die dem Weichtier „bis übers Kinn“ steht (ὕδωρ δ’ ὑπερεῖχε γένεια), verdunstet. Schweighäuser V (1804) 594 f.

7 Rätsel von Bocksvater und Fisch (Blasebalg und Zange) Sim. ALG II, frg. 69 Diehl; AP App. VII 20; zit. Athen. X 456ce Μιξονόμου τε πατὴρ ἐρίφου καὶ σχέτλιος ἰχθὺς πλησίον ἠρείσαντο καρήατα, παῖδα δὲ νυκτός δεξάμενοι βλεφάροισι Διωνύσοιο ἄνακτος βουφόνον οὐκ ἐθέλουσι τιθηνεῖσθαι θεράποντα. Der Vater des alles verzehrenden Böckchens und ein unnachgiebiger Fisch lehnten die Köpfe dicht aneinander, und als sie den Sohn der Nacht mit ihren Augen wahrnahmen, da wollten sie nicht den rindermordenden Diener des Dionysos nähren.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Athen. X 456ce überliefert die folgenden drei Lösungsvarianten, von denen prinzipiell jede das Rätsel auf ihre Weise (mehr oder weniger) korrekt aufzulösen scheint. Welche der Varianten als ursprüngliche, echte, d. h. von dem Rätselsteller akzeptierte Lösung zu gelten hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen:

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φασὶ δ᾽ οἳ μὲν ἐπί τινος τῶν ἀρχαίων ἀναθημάτων ἐν Χαλκίδι τοῦτ᾽ ἐπιγεγράφθαι, πεποιῆσθαι δ᾽ ἐν αὐτῷ τράγον καὶ δελφῖνα, περὶ ὧν εἶναι τὸν λόγον τοῦτον. οἳ δὲ εἰς ἐπιτόνιον ψαλτήριον δελφῖνα καὶ τράγον εἰργασμένον εἰρῆσθαι, καὶ εἶναι τὸν βουφόνον καὶ τοῦ Διονύσου θεράποντα τὸν διθύραμβον. οἳ δέ φασιν ἐν Ἰουλίδι τὸν τῷ Διονύσῳ θυόμενον βοῦν ὑπό τινος τῶν νεανίσκων παίεσθαι πελέκει. πλησίον δὲ τῆς ἑορτῆς οὔσης εἰς χαλκεῖον δοθῆναι τὸν πέλεκυν· τὸν οὖν Σιμωνίδην ἔτι νέον ὄντα βαδίσαι πρὸς τὸν χαλκέα κομιούμενον αὐτόν. ἰδόντα δὲ καὶ τὸν τεχνίτην κοιμώμενον καὶ τὸν ἀσκὸν καὶ τὸν καρκίνον εἰκῇ κείμενον καὶ ἐπαλλήλως ἔχοντα τὰ ἔμπροσθεν, οὕτως ἐλθόντα εἰπεῖν πρὸς τοὺς συνήθεις τὸ προειρημένον πρόβλημα. τὸν μὲν γὰρ τοῦ ἐρίφου πατέρα τὸν ἀσκὸν εἶναι, σχέτλιον δὲ ἰχθὺν τὸν καρκίνον, νυκτὸς δὲ παῖδα τὸν ὕπνον, βουφόνον δὲ καὶ Διονύσου θεράποντα τὸν πέλεκυν. Die einen sagen, dies sei auf einem der alten Weihgeschenke in Chalkis als Inschrift aufgeschrieben, und dass auf ihm ein Bock und ein Delphin dargestellt waren, von denen dieser Spruch handle. Andere meinen, der abgebildete Delphin und der Bock hätten einen Instrumentenwirbel gebildet, und dass der rindermordende Dionysos-Diener der Dithyrambus sei. Wieder andere behaupten, dass in Iulis das dem Dionysos geopferte Rind von einem der Jünglinge mit einem Beil erschlagen wurde. Wenn das Fest kurz bevorstand, sei das Beil in die Schmiede gegeben worden; als Simonides noch jung war, sei er zur Schmiede gegangen, um es abzuholen. Weil er sah, dass der Handwerker schlief und sowohl der Blasebalg als auch die Zange unordentlich herumlagen und einander die Vorderteile zugewandt hatten, habe er, als er fortging, seinen Freunden eben das Rätsel vorgelegt. Denn der Vater des Böckchens sei der Blasebalg, der verderbliche Fisch aber die Zange, das Kind der Nacht sei der Schlaf und der rindermordene Dionysos-Diener sei das Beil.

(1) Das Rätsel bezieht sich auf ein Weihgeschenk, auf dem Bock (πατὴρ ἐρίφου = τράγος) und Delphin (σχέτλιος ἰχθύς = δελφίς) in entsprechender Pose abgebildet sind. Gegen die Annahme als ursprüngliche Rätsellösung spricht die Ungenauigkeit dieses Ansatzes, insofern es nur die erste Hälfte des Rätsels erklärt. Die offensichtlich metaphorischen Ausdrücke παῖδα νυκτός und Διωνύσοιο θεράπων hingegen werden nicht erklärt. Auch das Attribut σχέτλιος und das Verhältnis zwischen Vater-Bock und ἔριφος bleibt ungeklärt. (2) Bock und Fisch bilden zusammen (der Form nach?) einen Instrumentenwirbel (πατὴρ ἐρίφου = τράγος + δελφίς = ἐπιτόνιον). Der Dionysos-Diener steht metaphorisch für den Dithyrambus (Διωνύσοιο θεράπων = διθύραμβος). Zu einer vollständigen Erklärung lässt sich das Ganze folgendermaßen zusammenschließen: Der Instrumentenwirbel steht pars pro toto für das gesamte Instrument und in einer noch weiteren Verallgemeinerung für den Musiker selbst. Als das Instrument, d. h. also der Musiker, den Sohn der Nacht, sc. den Schlaf (παῖς νυκτός = ὕπνος), erblickt, d. h. als er einschläft, da endet die Musik. Somit endet auch der Dithyrambus, der zu Ehren des Dionysos bei den Dionysien aufgeführt wird, weil keine Musik, die metaphorisch als Nahrung (τιτηνεῖσθαι) im Sinne einer notwendigen Grundlage des Dithyrambus bezeichnet

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ist, mehr erklingt. Der βουφόνος spielt auf das während des Festes neben dem Dithyrambus zu Ehren des Gottes abgehaltene Rinderopfer an. (3) Das Rätsel bezieht sich auf eine private Episode aus dem Leben des Simonides, aus dessen Biographie des Chamaileon das Rätsel überliefert ist. In Iulis, der Geburtsstadt des Lyrikers, werden in kultischem Zusammenhang Rinder zu Ehren des Dionysos geopfert. Die Tiere werden von Jünglingen der Stadt mit einem Beil erschlagen, das zuvor jeweils zum Schärfen in eine Schmiede gegeben wird. Als Simonides in seiner Jugend die Aufgabe zufällt und er das Beil aus der Schmiede zurückholen will, findet er den Schmied schlafend vor. Seine Werkzeuge, darunter Blasebalg und Zange, liegen durcheinander, beide nah beieinander. Aus dieser Szenerie leitet der Dichter das vorliegende Rätsel ab. Dabei steht der Vater des Böckchens für den Blasebalg (πατὴρ ἐρίφου = ἀσκός), der alles verzehrende Bock selbst vertritt in diesem Bild metaphorisch wohl das von dem Blasebalg angefachte Feuer des Schmiedeofens. Die Zange des Schmiedes ist gemäß ihres homonymen Namens (καρκίνος) von einem unnachgiebigen, kriegerischen Fisch (σχέτλιος ἰχθύς) vertreten. Der ἰχθύς stellt dabei eine irreführende Konkretisierung dar, tatsächlich gemeint ist ein Meerestier, nämlich der Krebs (καρκίνος), von dessen kriegerischen Scheren die Zange ihren Namen trägt. Als diese beiden Hauptwerkzeuge des Schmiedes ungenutzt herumliegen, weil ihr Meister schläft, d. h. den Schlaf als metaphorischen Sohn der Nacht vor Augen hat (παῖς νυκτός = ὕπνος), da wird dem Beil (Διωνύσοιο θεράπων = πέλεκυς), mit dem die Dionysos-Rinder geschlachtet werden sollen, das also dem Dionysos dient (θεράπων), keine Beachtung zuteil, es wird im metaphorischen Sinne nicht fürsorglich behandelt, d. h. nicht geschärft (οὐκ ἐθέλουσι τιθηνεῖσθαι). Sowohl die zweite als auch die dritte Rätselerklärung ist in sich schlüssig. Beide Lösungen beruhen gleichermaßen auf einer Art exklusivem, situationsoder kontextgebundenem Wissen, können also nur von einer entsprechend eingeweihten Personengruppe potentiell gelöst werden, vgl. z. B. das berühmte Rätsel, das Samson auf seiner Hochzeit an die Philister stellt, die es nicht eigenständig lösen können, weil sie die konkrete Situation, aus der es abgeleitet wurde, nicht kennen (Ri 14,14). Das Rätsel gibt ein Beispiel dafür, dass es potentiell unterschiedliche stimmige Antworten auch auf eine komplexe Rätselfrage geben kann. Welche der beiden Lösungen als primär zu beurteilen ist, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Bemerkenswert scheint jedoch, dass das Rätsel in einem Werk über Simonides überliefert ist. Die mit seiner Biographie inhaltlich verbundene Lösung erscheint aus diesem Grunde besonders naheliegend. Literatur: Schweighäuser (1804) 592 f. z. St.

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8 Rätsel vom Zikadenwettkampf Athen. X 456e–457a, Kaibel; Sim. ALG II, frg. 70 Diehl; AP App. VII 13; S 18 πεποίηκε δὲ καὶ ἕτερον ἐπίγραμμα ὁ Σιμωνίδης, ὃ παρέχει τοῖς ἀπείροις τῆς ἱστορίας ἀπορίαν· φημὶ τὸν οὐκ ἐθέλοντα φέρειν τέττιγος ἄεθλον τῷ Πανοπηιάδῃ δώσειν μέγα δεῖπνον Ἐπειῷ. λέγεται δὲ ἐν τῇ Καρθαίᾳ διατρίβοντα αὐτὸν διδάσκειν τοὺς χορούς. εἶναι δὲ τὸ χορηγεῖον ἄνω πρὸς Ἀπόλλωνος ἱερῷ μακρὰν τῆς θαλάσσης. ὑδρεύεσθαι οὖν καὶ τοὺς ἄλλους καὶ τοὺς περὶ τὸν Σιμωνίδην κάτωθεν, ἔνθα ἦν ἡ κρήνη. ἀνακομίζοντος δ’ αὐτοῖς τὸ ὕδωρ ὄνου, ὃν ἐκάλουν Ἐπειὸν διὰ τὸ μυθολογεῖσθαι τοῦτο δρᾶν ἐκεῖνον καὶ ἀναγεγράφθαι ἐν τῷ τοῦ Ἀπόλλωνος ἱερῷ τὸν Τρωικὸν μῦθον, ἐν ᾧ ὁ Ἐπειὸς ὑδροφορεῖ τοῖς Ἀτρείδαις, ὡς καὶ Στησίχορός φησιν· ᾤκτειρε γὰρ αὐτὸν ὕδωρ ἀεὶ φορέοντα Διὸς κούρα βασιλεῦσιν. ὑπαρχόντων οὖν τούτων ταχθῆναί φασι τῷ μὴ παρα γινομένῳ τῶν χορευτῶν εἰς τὴν ὡρισμένην ὥραν παρέχειν τῷ ὄνῳ χοίνικα κριθῶν. τοῦτ’ οὖν κἀν τῷ ποιήματι λέγεσθαι, καὶ εἶναι τὸν μὲν οὐ φέροντα τὸ τοῦ τέττιγος ἄεθλον τὸν οὐκ ἐθέλοντα ᾄδειν, Πανοπηιάδην δὲ τὸν ὄνον, μέγα δὲ δεῖπνον τὴν χοίνικα τῶν κριθῶν. Simonides verfasste auch noch einen anderen Spruch, der diejenigen, welche die Geschichte nicht kennen, in Ungewissheit hält: Ich sage, dass der, der den Siegespreis der Zikade nicht davontragen will, dem Panopeiaden Epeios viel Futter geben wird. Es heißt, er habe sich in Karthaia aufgehalten und dort die Chöre unterrichtet. Die Chorschule sei oben beim Apollon-Tempel weit entfernt vom Meer. Es beschafften sich die anderen und die um Simonides herum unten Wasser, wo die Quelle war. Es brachte ein Esel ihnen das Wasser herauf, den sie Epeios nannten, weil es im Mythos heißt, jener habe das getan, und der trojanische Mythos war im Apollon-Tempel aufgezeichnet, in dem Epeios für die Atriden das Wasser schleppt, wie auch Stesichoros sagt: Es bedauerte ihn die Tochter des Zeus, weil er immer für die Könige das Wasser schleppte. Es heißt, dass unter diesen Umständen jeder der Chorsänger, der nicht zur verabredeten Zeit erschien, dem Esel eine Coinix Gerste zur Verfügung stellen musste. Dies nun wird auch in dem Spruch ausgesagt, es sei nämlich der, „der nicht den Preis der Zikade davontragen will“, einer, der nicht singen will, der Panopeiade ist der Esel und das viele Futter ist die Coinix Gerste.

Form: 2 Hexameter mit Prosaerklärung Erklärung: Der Spruch ist, als Rätsel gestellt, wie Athenaios richtig feststellt, nur für den zu lösen, der die Geschichte von Simonides als Chorführer in Karthaia kennt, er rekurriert also auf ein nicht allgemein zugängliches Wissen. Um seine Sänger zu disziplinieren, sprach Simonides eine entsprechende Androhung aus: Wer nicht willens ist, den Preis der Zikade davonzutragen, dem

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ist es nicht wichtig, im Wettkampf der Chöre den Siegespreis zu gewinnen. Die genannte Zikade gibt damit die Wettkampfsart bzw. die Disziplin an. Sie steht als Botschafterin der Musen und entkörperlichte Seele (vgl. Plat. Phaidr. 259bd) gleichsam metaphorisch für den Gesang als solchen. Ein τέττιγος ἄεθλον ist entsprechend ein Wettkampf, indem sich Sänger – als Zikaden – in ihrem Gesang miteinander messen. Wer den Sieg in diesem Kampf nicht erringen will, der ist bei den Proben säumig und kommt zu spät. Zur Strafe mussten die betreffenden Sänger dem Esel, der das Wasser zur Chorschule transportierte, Futter spenden. Er wird jedoch nicht direkt als dieser Esel, sondern nur durch seinen Namen Epeios und ein Patronym bezeichnet, das ihn in die Nähe des berühmten iliadischen Epeios, des Erbauers des Trojanischen Pferdes, rückt, der nach Stesichoros als Wasserträger für die Atriden dieselbe Funktion wie der Esel für die Sänger erfüllt (vgl. Stesich. frg. 100 Davies); hierzu auch Davies/Finglass (2014) 403 f. 414–419. Intertextuelle Verweise: Eine Auseinandersetzung der unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten bietet Chamaileon frg. 34 Wehrli. Mit einer weiteren, abwegigen Lösung vgl. ferner Reitzenstein (1893) 118. Schol. Hom. Il. 23,665a, Bd. 5, p. 469 Erbse belegt den Panopeiaden Epeios als Wasserträger der Achaier vor Troja ( Ἐπειόν, ὃς ὑδροφόρει τοῖς Ἀχαιοῖς). Literatur: Schweighäuser (1804) 593.

9 Orakel an die Griechen über den Kampf mit den Persern Hdt. 8,77, Wilson; AP XIV 98 (Bakis) Ἀλλ’ ὅταν Ἀρτέμιδος χρυσαόρου ἱερὸν ἀκτὴν νηυσὶ γεφυρώσωσι καὶ εἰναλίην Κυνόσουραν, ἐλπίδι μαινομένῃ λιπαρὰς πέρσαντες Ἀθήνας, δῖα Δίκη σβέσσει κρατερὸν Κόρον, Ὕβριος υἱόν, δεινὸν μαιμώοντα δοκεῦντ’ ἀνὰ πάντα πιθέσθαι. χαλκὸς γὰρ χαλκῷ συμμίξεται, αἵματι δ’ Ἄρης πόντον φοινίξει. τότ’ ἐλεύθερον Ἑλλάδος ἦμαρ εὐρύοπα Κρονίδης ἐπάγει καὶ πότνια Νίκη. Wenn sie aber den heiligen Strand der mit goldenem Schwert kämpfenden Artemis und die Landzunge im Meer mit ihren Schiffen voll machen und voll wütender Hoffnung das glänzende Athen zerstören, dann wird Dike den mächtigen Koros, den Sohn der Hybris, den eifrig Schrecklichen, der glaubt, ihm gehorche alles, vernichten.

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Erz wird sich mit Erz vermischen, mit Blut aber wird Ares das Meer rot färben; dann führen für Hellas den Tag der Freiheit der weittönende Zeus und die göttliche Nike herauf.

Form: 8 Hexameter Kontext: Im Kontext der Perserkriege ergeht an die Griechen ein Orakel über ihren schlussendlichen Sieg über die Perser (479 v. Chr. Plataiai und Mykale). Erklärung: Das Orakel lässt sich in zwei inhaltliche Teile gliedern. Die vv. 1–3 enthalten die temporale Bedingung, d. h. eine Umschreibung des Zeitpunkte für das Eintreten des in vv. 4–8 prophezeiten Sieges. vv. 1–2: Gemeint ist offenbar die Seeschlacht in der Meerenge bei Salamis, welche die Griechen für sich entscheiden konnten. Artemis hatte auf der Insel selbst und auch an der gegenüberliegenden Küste bei Munychia ein Heiligtum, die Insel ist für sie in diesem Sinne ἱερόν. Ein goldenes Schwert trägt gewöhnlich nicht sie, sondern ihr Bruder Apollon (vgl. Hom. Il. 5,509. 15,256), doch im Kampfe gegen die Perser in der Meerenge mag sie es sich geliehen haben. ἀκτή vermag ebenso wie Κυνόσουρα eine Landzunge zu bezeichnen. Allerdings steht es auch für das Korn der Demeter, vgl. bes. Hes. erg. 597. 805 mit der Formulierung ἱερὸν ἀκτὴν Δημήτερος, welche an die Formulierung des Rätsels anklingt. In einem metaphorischen Sinne könnte das kleinteilige (Getreide-)Korn in einer Analogie der äußeren Form so u. U. auch für den Sand an der Küste von Salamis stehen. Κυνόσουρα bezeichnet unterdessen die Landzunge an der östlichen Küste der Insel, welche die Meerenge beinahe ganz verschließt. Die Überbrückung durch die Schiffe, welche in γεφυροῦν zum Ausdruck kommt, mag auf das Anfüllen der Meerenge mit den schwer beweglichen, kaum wendigen persischen Schiffen anspielen, die sich in der Schmalen Bucht gleichsam verkeilten. Die geographische Identifizierung der umschriebenen Schauplätze ist nicht eindeutig. Vgl. How/Wells (21928) und Macan (1908) z. St. mit Zusammenstellungen der einzelnen Deutungsmöglichkeiten. v. 3: Nach der verlorenen Schlacht bei den Thermopylen wurde Athen evakuiert und die Perser besetzen die Stadt und zerstörten – als Rache für die Zerstörung ihrer eigenen Heiligtümer während des ionischen Aufstandes – die griechischen Heiligtümer auf der Akropolis. Die Verbform πέρσαντες als Part. Aor. von πέρθω ist hier sicher nicht zufällig zur Umschreibung der Zerstörung gewählt. Vielmehr liegt darin eine ganz bewusste lautliche Anspielung auf die ansonsten überhaupt nicht namentlich erwähnten Perser.

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vv. 4–5: Die in der Göttin Dike allegorisch personifizierte Gerechtigkeit wird siegen und der hybriden Unersättlichkeit (der Perser) Einhalt gebieten. Koros und Hybris sind ebenfalls allegorisch personifiziert und in einer mythologischen Genealogie zueinander in Beziehung gesetzt. Obwohl die Hybris eine Eigenschaft ist, mit welcher die Perser üblicherweise assoziiert werden, gibt es hier noch keine Eindeutige Sicherheit dafür, dass Dike im Sinne der Griechen handeln wird. Die endgültige Auflösung in dieser Hinsicht folgt erst v. 9. vv. 6–7a: Gängige Kriegsmetaphorik. χαλκός steht als Material für die daraus gefertigten Waffen (Synekdoche, materia pro opere), von denen sich die eigenen im Kampfe mit feindlichen mischen. Ares steht als Allegorie für den Krieg, das Blut als Symbol für die vielen Toten (Perser). Das blutig gefärbte Meer (πόταμος) ist wohl das der letzten Seeschlacht bei Mykale, in der die Griechen (nach dem Sieg in der Seeschlacht bei Salamis) endgültig siegreich bleiben. vv. 7b–8: Rettung der Griechen durch Zeus und die allegorisierte Nike. Die Griechen siegen zuletzt in den Schlachten bei Salamis, Plataiai und Mykale. Herodot beurteilt den Orakelspruch – wohl im Hinblick auf seine Gesamtaussage – als unzweideutig (Χρησμοῖσι δὲ οὐκ ἔχω ἀντιλέγειν ὡς οὐκ εἰσὶ ἀληθέες, οὐ βουλόμενος ἐναργέως λέγοντας πειρᾶσθαι καταβάλλειν […]) und nennt Bakis, den Verfasser der Orakelsammlung, die Herodot für den betreffenden Spruch konsultiert hat, ἐναργέως λέγων (8,77). Intertextuelle Verweise: Vgl. den formelhaften Beginn des Orakels (ἀλλ’ ὅταν ...), den Aristoph. Eq. 197 in seiner Parodie wieder aufnimmt. Vgl. ferner das klarere, ebenfalls auf diesen endgültigen Sieg bezogene Orakel Hdt. 9,43: τὴν δ᾽ ἐπὶ Θερμώδοντι καὶ Ἀσωπῷ λεχεποίῃ Ἑλλήνων σύνοδον καὶ βαρβαρόφωνον ἰυγήν, τῇ πολλοὶ πεσέονται ὑπὲρ λάχεσίν τε μόρον τε τοξοφόρων Μήδων, ὅταν αἴσιμον ἦμαρ ἐπέλθῃ.

10 Orakel an Milet über seine Eroberung Hdt. 6,19, Wilson; AP XIV 89 καὶ τότε δή, Μίλητε, κακῶν ἐπιμήχανε ἔργων, πολλοῖσιν δεῖπνόν τε καὶ ἀγλαὰ δῶρα γενήσῃ, σαὶ δ’ ἄλοχοι πολλοῖσι πόδας νίψουσι κομήταις, νηοῦ δ’ ἡμετέρου Διδύμοις ἄλλοισι μελήσει. Und dann einmal, Milet, Anstifterin schrecklicher Werke, wirst du für viele zum Festmahl und zur herrlichen Gabe werden; deine Frauen aber werden vielen Bärtigen die Füße waschen, und um mein Heiligtum zu Didymoi werden sich andere kümmern.

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Form: 4 Hexameter Kontext: Den Städten Argos und Milet war ein gemeinsames Orakel über ihr Schicksal in der Auseinandersetzung mit den heranrückenden Persern (494 v. Chr. zur Zerschlagung des ionischen Aufstandes) gegeben. Erklärung: Die Grundaussage des Orakelspruchs, der weniger einen konkreten Gegenstand oder Sachverhalt als eine ganze Situation verrätselt, dass nämlich Milet von den Persern unterworfen werden würde, ist ohne eigentliche Verschleierung ausgedrückt, wird hingegen auch nicht ganz explizit benannt. Im Zentrum des Orakels stehen Euphemismen, die einer konkretisierenden Ausdeutung bedürfen. v. 1: Milet wird hier in seiner führenden Rolle im seit 500/499 v. Chr. andauernden ionischen Aufstand als κακῶν ἐπιμήχανος ἔργων bezeichnet. In der Seeschlacht bei Lade 494 v. Chr. wurde der Aufstand schließlich von den Persern niedergeschlagen und Milet erobert und zerstört. Hierauf deutet der Orakelspruch hin. v. 2: Die Bezeichnung Milets als δεῖπνον und ἀγλαὰ δῶρα ist euphemistisch, beinahe sogar metaphorisch, doch dürfte die Deutung dieser Bildebene den Rezipienten keine Schwierigkeiten bereitet haben: Die Stadt wird (a) von ihren Feinden wie ein δαῖπνον verzehrt, d. h. vollständig zerstört werden, und (b) ihnen als Geschenk gegeben werden, also ganz ihnen gehören. v. 3: Die als Barbaren geltenden Perser sind im Hinblick auf ihr langes Haupt- bzw. Barthaar als charakteristisches äußeres Merkmal umschrieben. Dass die milesischen Frauen ihnen die Füße waschen, ist ein Zeichen für ihre Versklavung nach der Eroberung der Stadt. v. 4: In Didymoi gab es ein altes Apollonheiligtum, welches aufgrund seiner Nähe zu Milet von den Bewohnern der Stadt versehen wurde. Dass andere sich darum kümmern sollten, ist ein Zeichen des Besitzverlustes. μέλειν ist in diesem Zusammenhang ebenfalls euphemistisch gebraucht. Eine Betreuung des Heiligtums durch die Perser kann durchaus auch als Drohung auf die Schändung des Heiligtums o.ä. hindeuten. Intertextuelle Verweise: Vgl. den ersten, an Argos gerichteten Teil des Orakels, welcher die Beteiligung der Frauen von Argos im Kampf betrifft, AP XIV 90 = Hdt. 6,77.

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A. II Nicht-sprachliche Rätsel A. II. 1 Ersetzung durch ein ähnliches Element A. II. 1.1 Konkretisierung (species pro genere) 1 Rätselgaben von König Dareios an Alexander den Großen Ps.-Kallisth. hist. fab. 1,36–39, Müller Καταστήσας εἰς Τύρον σατράπην τῆς Φοινίκης καὶ ἀναζεύξας Ἀλέξανδρος παρὰ τὴν Συρίαν ὥδευσε, καὶ ὑπήντησαν αὐτῷ Δαρείου πρέσβεις γράμματα κομίζοντες αὐτῷ καὶ σκῦτον καὶ σφαῖραν καὶ κιβώτιον χρυσίου. Δεξάμενος δὲ Ἀλέξανδρος τὰ γράμματα Δαρείου τοῦ βασιλέως τῶν Περσῶν καὶ ἀναγνοὺς εὗρε περιέχοντα οὕτως· „Βασιλεὺς βασιλέων καὶ θεῶν συγγενὴς καὶ συνανατέλλων τῷ ἡλίῳ, ἐγὼ αὐτὸς θεὸς Δαρεῖος Ἀλεξάνδρῳ τῷ ἐμῷ θεράποντι τάδε προστάττω καὶ κελεύω σοι· ἐπαναστρέφειν σὲ πρὸς τοὺς γονεῖς σου τοὺς ἐμοὺς δούλους ὄντας καὶ κοιτάζειν εἰς τοὺς κόλπους τῆς μητρός σου Ὀλυμπιάδος· ἔτι γὰρ ἡ σὴ ἡλικία παιδεύεσθαι θέλει καὶ τιθηνεῖσθαι, διὸ ἔπεμψά σοι σκῦτος καὶ σφαῖραν καὶ κιβώτιον χρυσίου, ἵνα αἱρήσῃ ὁπρότερον βούλει, τὸν μὲν σκῦτος μηνύων σοι ὅτι ἔτι παιδεύεσθαι ὀφείλεις, τὴν δὲ σφαῖραν, ἵνα μετὰ τῶν συνηλικιωτῶν σου παίζῃς, καὶ μὴ ἀγέρωχος ἡλικίαν τοσούτων νέων ἐκπείθῃς, ὥσπερ ἀρχιλῃστὴς μετὰ σεαυτοῦ ἄγων, τὰς πόλεις ἀναταράσσων· […] Ἔπεμψά σοι καὶ κιβώτιον χρυσοῦ μεστόν, ἵνα ἐὰν μὴ ἔχῃς τροφὰς δοῦναι τοῖς συλλῃσταῖς σου, δώσεις αὐτοῖς τὴν χρείαν, ὅπως ἕκαστος αὐτῶν δυνηθῇ εἰς τὴν ἰδίαν πατρίδα ἐπανακάμψαι. Εἰ δὲ μὴ πεισθῇς τοῖς κελευομένοις ὑπ’ ἐμοῦ, ἐκπέμψω κατὰ σοῦ καταδιώκοντας, ὥστε συλληφθῆναι ὑπὸ τῶν ἐμῶν στρατιωτῶν· καὶ οὐχ ὡς Φιλίππου παῖς παιδευθήσῃ, ἀλλ’ ὡς ἀποστάτης ἀνασταυρωθήσῃ. Alexander setzte in Tyros einen Satrapen über Phönizien ein und brach dann entlang der syrischen Küste auf. Und es begegneten ihm Gesandte des Dareios, die ihm ein Schriftstück, eine Peitsche, einen Ball und eine Truhe voll Gold brachten. Alexander nahm den Brief des Perserkönigs Dareios und las das Folgende: „Als König der Könige und Verwandter der Götter, der gemeinsam mit der Sonne aufgeht, befehle ich, der Gott Dareios selbst, meinem Diener Alexander, dass du zu deinen Eltern heimkehrst und dich in den Schoß deiner Mutter Olympias verkriechst. Denn dein Alter will noch erzogen und gezüchtigt werden. Deshalb schicke ich dir eine Peitsche, einen Ball und eine Truhe voll Gold, damit du wählst, was du willst: die Peitsche als Zeichen dafür, dass du es noch nötig hast, erzogen zu werden, den Ball, damit du mit deinen Gleichaltrigen spielst und nicht die ungestüme Jugendlichkeit solcher Jünglinge verführst und wie ein Räuberhauptmann sie anführend die Städte in Unruhe versetzt. […] Ich habe dir aber auch eine Truhe voll Gold geschickt, damit du, wenn du keine Nahrung hast, um sie deinen Räubern zu geben, ihnen das Nötige geben kannst, damit jeder von ihnen in seine eigene Heimat zurückkehren kann. Wenn du aber meinen Befehlen nicht gehorchst, werde ich Soldaten nach dir ausschicken, damit du von ihnen gefangen genommen wirst. Und nicht wirst du dann als Sohn Philipps gezüchtigt sondern als Aufständischer gekreuzigt.“

Form: Prosa

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Erklärung: Dareios lässt Alexander die Rätselgaben Peitsche, Ball und Goldtruhe überbringen. Bemerkenswert ist, dass er es nicht dabei belässt, sondern einen Brief zur Erklärung der symbolischen Gaben mitschickt: Die Peitsche soll für die erziehende Züchtigung Alexanders stehen, der Ball ihm aufgrund seines jungen Alters als Spielzeug dienen und das Gold zur Auszahlung seiner Gehilfen verwendet werden. Dass Dareios damit selbst die Nicht-Sprachlichkeit der Gaben zunichtemacht, die normalerweise ja gerade ihren Reiz und ihre rätselhafte Schwierigkeit ausmachen würde, deutet darauf hin, dass seine Erklärung nicht die richtige ist. Dareios muss offenbar befürchten, dass die Gaben nicht in seinem Sinne verstanden werden, d. h. dieser Sinn ist ihnen künstlich von Dareios nach dessen Wunschdenken übergestülpt, ergibt sich jedoch nicht natürlich aus ihnen – und wird sich ja auch späterhin nicht bewahrheiten (s. u.). Ähnlich wie ein Witz, den man erklären muss, nicht als guter Witz gilt, lässt sich vor diesem Hintergrund auch die Qualität des von Dareios ersonnenen Rätsels in Zweifel stellen. Wozu sonst sollte Dareios für seine Botschaft die Gaben schicken, als um eine fatale Zweideutigkeit zu inszenieren? Schließlich soll Alexander den Ball ja nicht tatsächlich zum Spielen benutzen. Anders jedoch als die Skythen, die ihre Rätselgaben an Dareios (4,131–134) so gekonnt gewählt hatten, dass beide Auslegungen der ambivalenten Symbole ihnen zum Vorteil gereicht hätten (1. eigentlicher Sinn: Drohung; führt schließlich zur Verängstigung und zum Rückzug der Perser; 2. scheinbarer Sinn: Kapitulation; erzeugt Hochmut und Unvorsichtigkeit bei den Persern, die sie für die Skythen verwundbarer macht), geht Dareios bei seinem Versuch vergleichsweise plump vor. Er will ausschließlich die Drohung verstanden wissen, um Alexander ja nicht noch zu ermutigen, wodurch er als Gegner für ihn noch gefährlicher werden würde. Dareios setzt die Gaben also ganz falsch ein. Für die von ihm unzweideutig gemeinte Botschaft wären die missverständlichen Symbole gar nicht nötig, der Brief mit einer entsprechend verbalisierten Drohung würde genügen. Dareios als Rätselsteller: Selbst in der – eigentlich automatisch überlegenen – Rolle des Rätselstellers verhält Dareios sich wie der einfältige Rätsellöser, der sich nur an dem für ihn selbst Vorteilhaften orientiert, ohne unangenehmere Alternativen zu bedenken. Ihm fehlt die Weitsicht, beide Seiten der ambivalenten Symbole zu erkennen. D. h. er kennt die wahre Lösung des von ihm selbst gestellten Rätsels nicht, ist also auch kein (typischer) Rätselsteller im eigentlichen Sinne und so eben am Ende auch unterlegen, obwohl er als Initiator erscheint. Die Gaben, die ein Rätsel sein sollen, sind keins – auch weil Dareios die – falsche! – Antwort gleich

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mitliefert. Da das Rätsel aus Sicht des Perserkönigs in der Ausdeutung der Symbole nach Dareios’ Brief nicht mehr bestehen kann, muss eine andere Frage Alexander zum Antworten bewegen (Lösungszwang). Dareios fordert ihn also auf, zwischen kindgerechter Züchtigung (und Kapitulation) und der Niederlage (und dem Tod) im Kampf zu wählen. Alexander als Rätsellöser: Alexander kennt sich – anders als Dareios – offenbar gut mit Rätseln und Gleichnissen aus. So verwendet er für Dareios den Vergleich von einem zum Schein laut bellenden, aber nicht beißenden Hund. Alexander erkennt, dass Wort und Tat (Form und Inhalt) bei Dareios nicht übereinstimmen, worin auch die Schwäche seines Rätsels liegt (1,37). Alexander verweist zudem auf den anmaßenden Charakter des Perserkönigs (1,38), der Dareios tatsächlich sowohl beim Rätselraten als auch in seiner Politik im Wege steht. Alexander fasst die symbolischen Gaben zu seinen Gunsten auf und behält damit schließlich sogar Recht: Ἀλλὰ καὶ σκῦτος καὶ σφαῖραν καὶ κιβώτιον χρυσίου ἐξέπεμψάς μοι· καὶ σὺ μὲν ταῦτα ἔπεμψας ἐγγελῶν μοι κακότητα, ἐγὼ δὲ ταῦτα ἀγαθὰς ἀγγελίας ἐδεξάμην· τὸν μὲν γὰρ σκῦτον ἔλαβον, ἵνα ταῖς ἐμαῖς λόγχαις καὶ ὅπλοις δείρων τοὺς βαρβάρους ταῖς ἐμαῖς χερσὶν εἰς δουλείαν καθυποτάξω· τῇ δὲ σφαῖρᾷ ἐσήμανάς μοι ὡς τοῦ κόσμου ἐπικρατήσω· σφαιροειδὴς γὰρ καὶ στρογγύλος ὁ κόσμος τυγχάνει· τὸ δὲ κιβώτιον τοῦ χρυσίου μέγα σημεῖον ἔπεμψάς μοι· ὑποταγὴν γὰρ ἑαυτοῦ ἐμήνυσάς μοι· νικηθεὶς γὰρ ὑπ’ ἐμοῦ φόρους μοι τελέσεις. Aber du hast mir eine Peitsche und einen Ball und eine Truhe voll Gold geschickt. Du hast mir dies als etwas Schlechtes gesendet, aber ich fasse diese Dinge als gute Botschaft auf. Die Peitsche nahm ich, damit ich die Barbaren mit meinen Lanzen und Waffen unterdrücke und sie mit meinen Händen zu Sklaven mache. Mit dem Ball gibst du mir ein Zeichen, dass ich die ganze Welt beherrschen werde; ballförmig und gewölbt nämlich ist die Welt. Mit der Truhe voll Gold aber schicktest du mir ein großes Zeichen: Deine Unterwerfung zeigst du mir an. Denn als Besiegter wirst du mit Tributzahlungen leisten.

Die Peitsche als mit der Hand benutzte Waffe deutet Alexander als Zeichen für die Unterwerfung der Perser durch Waffengewalt, d. h. im Kampf. Den Ball deutet er aufgrund einer Analogie der äußeren Form auf den Erdball und damit als Zeichen für seine Weltherrschaft. Das Gold erkennt er als Vorschuss auf die Tributzahlungen, die Dareios als Unterworfener ihm in Zukunft zahlen wird. Wie im Falle der skythischen Rätselgaben, die Dareios missdeutet (4,131– 134), stehen sich hier also zwei vollkommen gegensätzliche Ausdeutungen derselben Symbole (bzw. Metaphern) gegenüber. Während jedoch gewöhnlich bei mehreren in sich logischen Lösungsvorschlägen derjenige als korrekt angenommen wird, den der Rätselsteller präferiert, wird sich in diesem Fall die Einschätzung des Rätsellösers Alexander als richtig erweisen. Dem gottesfürchtigen Ale-

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xander wird am Ende ein besseres Geschick zuteil als dem aufschneiderischen, unreflektierten Dareios. Passend wäre also eigentlich eine Situation, in der Alexander als überlegener Rätselsteller dem glücklosen Dareios als Rätsellöser gegenübertritt. Entsprechend kehrt Alexander das von Dareios installierte Verhältnis durch seine kraftvolle, selbstbewusste und überaus autoritäre Aussage geradezu um und macht sich selbst gewissermaßen zum (sekundären) Rätselsteller, dessen Worte und Absichten Dareios begreifen muss. Intertextuelle Verweise: Vgl. die Rätselgaben, die Dareios von den Skythen erhält und falsch deutet, Hdt. 4,131–134. Im Unterschied zu Dareios liefern die Skythen jedoch eine sprachliche Beschreibung der rätselhaften Gaben nicht mit – und sichern sich so ihre Autorität als Rätselsteller.

A. II. 1.2 Verallgemeinerung (genus pro specie bzw. causa pro effectu) 1 Rätselhafter Traum von dem in der Luft schwebenden, von Zeus gebadeten und von Helios gesalbten Polykrates Hdt. 3,124 f., Wilson ὁ δὲ πολλὰ μὲν τῶν μαντίων ἀπαγορευόντων πολλὰ δὲ τῶν φίλων ἐστέλλετο αὐτός ἀπιέναι, πρὸς δὲ καὶ ἰδούσης τῆς θυγατρὸς ὄψιν ἐνυπνίου τοιήνδε· ἐδόκεέ οἱ τὸν πατέρα ἐν τῷ ἠέρι μετέωρον ἐόντα λοῦσθαι μὲν ὑπὸ τοῦ Διός, χρίεσθαι δὲ ὑπὸ τοῦ Ἡλίου. […] Πολυκράτης δὲ ἀνακρεμάμενος ἐπετέλεε πᾶσαν τὴν ὄψιν τῆς θυγατρός· ἐλοῦτο μὲν γὰρ ὑπὸ τοῦ Διὸς, ὅκως ὕοι, ἐχρίετο δὲ ὑπὸ τοῦ ἡλίου, ἀνιεὶς αὐτὸς ἐκ τοῦ σώματος ἰκμάδα.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Kyros setzte Oroites als Stadthalter von Sardes ein. Dieser Oroites wurde durch Polykrates von Samos auf die eine oder andere Weise gekränkt. Deshalb trachtete Oroites ihm aus Rache nach dem Leben. Er gab vor, von Kambyses verfolgt zu sein und sich in den Schutz von Polykrates geben zu wollen. Zusätzlich bot er ihm (vorgetäuschte) Reichtümer zur Unterstützung des Expansionsvorhabens des Polykrates an (3,120–123). Von den Versprechungen des Oroites angelockt, reiste Polykrates selbst nach Sardes, obwohl er mehrfach davor gewarnt worden war. Besonders eindringlich bemühte sich seine Tochter, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, da sie einen Traum gehabt hatte, den sie als schlechtes Vorzeichen deutete (3,124). Tatsächlich ließ Oroites Polykrates schlussendlich kreuzigen.

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Erklärung: Die konkrete Form des Traums beschreibt Herodot nicht. Es ist jedoch nicht anders möglich, als dass Polykrates’ Tochter die Vorzeichen in ihrem Traum – untypischerweise – nicht sieht, sondern in sprachlicher Form von ihnen erfährt, da sie anderenfalls nicht nur eine diffuse Wahrnehmung der bevorstehenden Gefahr, sondern eine exakte Deutung des symbolisch-metaphorischen Traums haben müsste. (1) ἐν τῷ ἠέρι μετέωρος: Die Formulierung ist euphemistisch und wirkt dadurch im übertragenen Sinne. Polykrates schwebt nicht etwa in der Luft, sondern er hängt – gekreuzigt (ἀνακρεμάμενος) – an dem Holzkreuz. Dabei berühren seine Füße naturgemäß nicht den Boden, sodass er im weiteren Sinne als μετέωρος gelten kann. (2) λοῦσθαι μὲν ὑπὸ τοῦ Διός: Zeus, in dessen Machtbereich Blitz und Donner fallen, gilt auch im Allgemeinen als Wettergott. Hier steht er metonymisch für das Wetter, insbesondere den Regen (ὕειν) selbst, der den Toten am Kreuz überspült, d. h. ihn im weiteren Sinne wäscht (λούειν). (3) χρίεσθαι δὲ ὑπὸ τοῦ ἡλίου: Hier steht – in umgekehrtem Verhältnis – die Sonne (zusätzlich als Homonym) als Antonomasie für den Sonnengott Ἥλιος. χρίειν ist auch hier teils euphemistisch, teil metaphorisch aufzufassen. Das Verb, welches gewöhnlich vom Einreiben mit Salbölen nach dem Bade (vgl. (2)) gebraucht wird, steht hier für das Benetzen des gekreuzigten Körpers mit Schweiß (ἰκμάς) in der Sonne. Das Salböl steht hierbei offenbar auf der Grundlage einer analogen Konsistenz und „Verwendungsweise“ (Benetzung des Körpers) für die ausgedünstete Körperflüssigkeit. Dass dieser Traum der Tochter des Polykrates als schlechtes Vorzeichen erscheint, obwohl sie keine konkrete Deutung dafür besitzt, ergibt sich aus dem als generell bedrohlich empfundenen Zusammenhang der Reise des Polykrates. Schließlich könnte daraus prinzipiell auch ein glorreicher Ausgang der Verhandlungen abgeleitet werden, nach dem Zeus und Helios gleichsam als Diener des Polykrates erscheinen und ihn pflegen. Doch der ägyptische König Amasis, der vormals mit Polykrates verbündet gewesen war, hatte den reichen und allzu glücklichen König vor dem neidischen Zorn der Götter gewarnt, woraufhin Polykrates den berühmten Ring ins Meer warf, der später ungewollt zu ihm zurückkehrte, vgl. 3,40–43. Dass die Handlungen der Götter im Traum gegen Polykrates gerichtet sind, mag seine Tochter auch in der Kenntnis jener Warnung ableiten. Intertextuelle Verweise: Hdt. 3,40 mit einer Voraussage bzw. Warnung vor dem Schicksal des Polykrates durch Amasis:

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Ἄμασις Πολυκράτεϊ ὧδε λέγει. ἡδὺ μὲν πυνθάνεσθαι ἄνδρα φίλον καὶ ξεῖνον εὖ πρήσσοντα, ἐμοὶ δὲ αἱ σαὶ μεγάλαι εὐτυχίαι οὐκ ἀρέσκουσι, ἐπισταμένῳ τὸ θεῖον ὡς ἔστι φθονερόν. καί κως βούλομαι καὶ αὐτὸς καὶ τῶν ἂν κήδωμαι τὸ μέν τι εὐτυχέειν τῶν πρηγμάτων, τὸ δὲ προσπταίειν, καὶ οὕτω διαφέρειν τὸν αἰῶνα ἐναλλὰξ πρήσσων ἢ εὐτυχέειν τὰ πάντα. οὐδένα γάρ κω λόγῳ οἶδα ἀκούσας ὅστις ἐς τέλος οὐ κακῶς ἐτελεύτησε πρόρριζος, εὐτυχέων τὰ πάντα.

Darauf der Rat, das Liebste fortzuwerfen, bis das Glück in Unglück umschlage.

A. II. 1.3 Analogie in Form und bzw. oder Farbe 1 Rätsel von der schlichten und der verworrenen Ausdrucksweise S. Emp. adv. math. 2,22 (Kontext 2,20–23), Bury ὅθεν καὶ ὁ ἀντιχειροτονηθεὶς Ἀθηναίοις ὑπ’ αὐτῶν πρὸς Τισσαφέρνην πρεσβευτής, τῶν Ἀθηναίων μακρὰς καὶ ποικίλας ῥήσεις διεξιόντων, δύο τῇ βακτηρίᾳ γραμμὰς κατὰ τοῦ ἐδάφους χαράξας, τὴν μὲν εὐθεῖαν καὶ μικρὰν τὴν δὲ ἐπιμήκη καὶ σκολιάν, „τούτων“ εἶπεν, „ὦ βασιλεῦ, ὁποτέραν θέλεις ἑλοῦ,“ αἰνιττόμενος διὰ μὲν τῆς ἐπιμήκους καὶ τῆς σκολιᾶς γραμμῆς τὴν τερθρείαν τὴν ῥητορικήν, διὰ δὲ τῆς βραχείας ἅμα καὶ εὐθείας τὴν ἀφελῆ καὶ σύντομον εὐθυρρημοσύνην […]. Woher auch der Mann, den sie [sc. die Spartaner] ausgewählt hatten, um ihn zu Tissaphernes zu schicken als Gegenspieler der Athener, während die Athener lange und umständliche Reden vorbrachten, mit einem Stock zwei Linien in den Boden zog, die eine gerade und kurz, die andere lang und krumm, und sagte: „Von diesen, oh König, wähle, welche dir beliebt“, wobei die lange krumme Linie als Rätsel für die Täuschungsabsicht der Rhetorik stand, die kurze und gerade dagegen für die klare und wahrhaftige Ausdrucksweise […].

Form: Prosa Kontext: Rede für bzw. gegen die Rhetorik. Andere nützliche Künste werden nicht etabliert, bei der Rhetorik hingegen habe sich dies geradezu zur Mode entwickelt. Als besonderes Beispiel gilt Sparta, das – inspiriert von Kreta – die Rhetorik aufgrund ihrer Täuschungsabsicht (τερθρεία) vollständig verboten und sogar Strafen für das Studium der Rhetorik verhängt hatte. Spartaner sprächen deshalb allesamt kurz und einfach (2,20–21). Erklärung: Sparta und Athen schicken während des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr., wohl um 412 v. Chr. nach der Niederlage des Satrapen gegen Athen bei Milet) Botschafter zu Tissaphernes nach Sardes, wohl um ein Bündnis mit dem

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persischen Satrapen zu bewirken. Dabei drückt sich der athenische Botschafter lang und umständlich aus, während der Spartaner das Bilderrätsel von der kurzen geraden und der langen gebogenen Linie vorlegt und Tissaphernes bittet, zu wählen, was ihm besser gefällt. Ein eigenes (inhaltliches) Anliegen bringt er – nach dem Bericht des S. Emp. – also eigentlich gar nicht vor. Er wirbt für Sparta (allgemein), indem er für ihre (sprachlichen) Gewohnheiten wirbt. Es stehen somit die beiden Striche für die Städte, der kurze gerade für Sparta, der lange gebogene für Athen. Der Bote fordert Tissaphernes also auf, diejenige Stadt für ein Bündnis zu wählen, deren Verhalten ihm besser gefällt. Obwohl der Inhalt der athenischen Äußerung nicht berichtet wird, ist es wahrscheinlich, dass die Spartaner ihnen gar nicht direkt begegnen, d. h. ihre Argumente o. Ä. entkräften, sondern die Athener rundweg als unwürdige Verhandlungspartner darstellen. Von dem Entschluss des Satrapen wird ebenfalls nichts berichtet, doch eine Erklärung des – aufgrund seiner Nicht-Sprachlichkeit – auslegungsbedürftigen, d. h. rätselhaften (αἰνιττόμενος) Bildes fügt Sextus Empiricus an. Erstaunlich ist dabei, dass das Rätsel, das doch intellektuell viel anspruchsvoller, wenn auch komprimierter als die entsprechende normsprachliche Äußerung ist, als die einfache und deutliche Ausdrucksform gilt. Die Spartaner als Rätselsteller: Von dem Verständnis bzw. der Lösung durch den Satrapen, die wir wohl voraussetzen dürfen, ist hier nichts gesagt. Der Fokus der Erzählung ist damit nicht auf den Beweis der Würdigkeit des Rätsellösers gelegt, sondern vielmehr umgekehrt als Beleg für die Autorität der Spartaner als Rätselsteller entsprechend verschoben. Intertextuelle Verweise: Vgl. als weiteres Beispiel der „spartanischen Kürze“ das rätselähnliche Bild von dem Sack, der um Brot bittet (Hdt. 3,46). Die Samier, die nach ihrer Vertreibung durch Polykrates in Sparta um Hilfe baten, brachten, nachdem ihr erstes, nach Herodot sehr weitschweifiges Hilfsgesuch abgelehnt worden war, um größere Prägnanz zu erzeugen, einen leeren Brotsack, den sie – stellvertretend für die Samier selbst – um Brot, d. h. um Hilfe, bitten ließen.

2 Rätsel von der trockenen Tierhaut Plut. Alexander 65, Ziegler τοῦτον δὲ λέγεται καὶ τὸ παράδειγμα τῆς ἀρχῆς τῷ Ἀλεξάνδρῳ προθέσθαι· καταβαλὼν γὰρ ἐν μέσῳ βύρσαν τινὰ ξηρὰν καὶ κατεσκληκυῖαν, ἐπάτησε τὸ ἄκρον· ἡ δ’ εἰς ἓν πιεσθεῖσα, τοῖς ἄλλοις ἐπήρθη μέρεσι. καὶ τοῦτο περιϊὼν ἐν κύκλῳ καὶ πιέζων καθ’ ἕκαστον ἐδείκνυε

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γιγνόμενον, ἄχρι οὗ τὸ μέσον ἐπιστὰς κατέσχε, καὶ πάνθ’ οὕτως ἠρέμησεν. ἐβούλετο δ’ ἡ εἰκὼν ἔνδειξις εἶναι τοῦ τὰ μέσα δεῖν μάλιστα τῆς ἀρχῆς πιέζειν καὶ μὴ [δὲ] μακρὰν ἀποπλανᾶσθαι τὸν Ἀλέξανδρον. Es heißt aber, dass er Alexander ein Sinnbild der Herrschaft gegeben habe; er legte nämlich eine trockene, ausgedörrte Tierhaut in die Mitte und trat auf den äußeren Rand; die aber erhob sich, sobald sie an einer Stelle mit dem Fuß niedergedrückt wurde, an den anderen Teilen. Und so ging er einmal im Kreis herum und trat auf jede einzelne Stelle und zeigte so, dass immer dasselbe geschah, bis er in die Mitte trat und das Ganze so festhielt und zur Ruhe brachte. Es sollte nämlich dies ein symbolisches Zeichen dafür sein, dass Alexander unbedingt die Mitte seines Reiches fest im Griff halten müsse und dass er sich nicht zu weit davon entfernen dürfe.

Form: Prosa Kontext: Alexander ließ durch seinen Boten Onestrichos verschiedene weise Männer zu sich bitten. Es kam einzig der indische Gymnosophist Kalanos, der den makedonischen König 326 v. Chr. auf dessen Rückkehr von einem Eroberungszug am Indus. Plutarch berichtet nicht explizit von einer Befragung des Weisen durch den König, doch ist es in hohem Maße wahrscheinlich, dass das von Kalanos vorgeführte παράδειγμα die rätselhafte Antwort auf eine solche Befragung darstellte. Erklärung: Das Sinnbild wird von Plutarch mit den dem Rätsel nahestehenden Begriffen παράδειγμα bzw. εἰκών und ἔνδειξις bezeichnet. Es ist – ohne zusätzliche sprachliche Erklärungen – gerade durch seine Nicht-Sprachlichkeit ein Rätsel. Aus der Schilderung Plutarchs geht nicht zweifelsfrei hervor, ob es unter den gegebenen Umständen als ein solches intendiert war, oder ob doch noch eine Erklärung des Gymnosophisten folgte, für die das bildhafte Handeln nur illustrativ wirkte. Zu dem im Vorfeld beschriebenen hochmütigen Charakter des Weisen (ὑβριστικῶς πάνυ καί τραχέως κελεύειν ἀποδύντα τὸν χιτῶνα γυμνὸν ἀκροᾶσθαι τῶν λόγων· ἄλλως δ’ οὐ διαλέξεσθαι πρὸς αὐτὸν, οὐδ᾽ εἰ παρὰ τοῦ Διὸς ἀφῖκται, cap. 65), würde aber jedenfalls ein Rätsel einerseits als Prüfung des Königs, andererseits zur Betonung der eigenen Weisheit und Autorität gut gepasst haben. Die starre Tierhaut (βύρσα) steht dabei (a) geographisch für das Herrschaftsgebiet Alexanders und (b) in einem abstrakteren Sinne auch für die Herrschaft selbst. Die Attribuierung als dörr und trocken (ξηρὰ καὶ κατεσκληκυῖα) bedeutet nicht, dass die Herrschaft Alexanders „stirbt“, sondern vielmehr, dass Herrschaften im Allgemeinen so geartet sind, dass sie sich erheben, wo man keinen Druck, um nicht zu sagen: keine Unterdrückung, ausübt.

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Die (räumliche) Erhebung der Tierhaut steht damit symbolisch für die revolutionäre Erhebung einzelner Landes- bzw. Bevölkerungsteile gegen die wortwörtliche Unterdrückung durch den Herrscher. πατεῖν bzw. ἐφιστάναι bedeuten damit (a) konkret eine räumliche Niederlassung und (b) abstrakter eine durch Unterdrückung gesicherte Kontrolle. Die Mitte (τὸ μέσον) der Tierhaut bzw. des Herrschaftsgebietes ist damit geographisch bestimmt. Der Rat des Gymnosophisten zielt also darauf, dass ein Reich, und insbesondere eines von der Größe des Alexanderreiches, einer zentral gelegenen Hauptstadt bedarf, von der aus der Herrscher den eigenen Machtbereich nach allen Seiten gleichmäßig überblicken und sichern kann. Plutarchs Darstellung enthält keine Angaben über die Reaktion Alexanders auf diesen rätselhaften Rat des Weisen. Der Umstand, dass das Alexanderreich jedoch nicht über eine entsprechend zentrale Hauptstadt verfügte und zu Plutarchs Zeit bereits untergegangen war, legt nahe, dass der Geschichtsschreiber suggerieren wollte, wie der Makedonenkönig – vergeblich – vor dem (wenn auch erst postumen) Ende seines Reiches gewarnt wurde. Ob Alexander allerdings nach Ansicht Plutarchs den Sinn des παράδειγμα nicht verstand, oder ihn bewusst ignorierte, lässt sich nicht beurteilen. 3 Rätsel von der dreifarbigen Kuh Apollod. 3,3,1–5, Wagner Γλαῦκος δὲ ἔτι νήπιος ὑπάρχων, μῦν διώκων εἰς μέλιτος πίθον πεσὼν ἀπέθανεν. ἀφανοῦς δὲ ὄντος αὐτοῦ Μίνως πολλὴν ζήτησιν ποιούμενος περὶ τῆς εὑρέσεως ἐμαντεύετο. Κούρητες δὲ εἶπον αὐτῷ τριχρώματον ἐν ταῖς ἀγέλαις ἔχειν βοῦν, τὸν δὲ τὴν ταύτης χρόαν ἄριστα εἰκάσαι δυνηθέντα καὶ ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν. συγκληθέντων δὲ τῶν μάντεων Πολύιδος ὁ Κοιρανοῦ τὴν χρόαν τῆς βοὸς εἴκασε βάτου καρπῷ, καὶ ζητεῖν τὸν παῖδα ἀναγκασθεὶς διά τινος μαντείας ἀνεῦρε. λέγοντος δὲ Μίνωος ὅτι δεῖ καὶ ζῶντα ἀπολαβεῖν αὐτόν, ἀπεκλείσθη σὺν τῷ νεκρῷ. ἐν ἀμηχανίᾳ δὲ πολλῇ τυγχάνων εἶδε δράκοντα ἐπὶ τὸν νεκρὸν ἰόντα· τοῦτον βαλὼν λίθῳ ἀπέκτεινε, δείσας μὴ ἂν αὐτὸς τελευτήσῃ, εἰ τούτῳ συμπάθῃ. ἔρχεται δὲ ἕτερος δράκων, καὶ θεασάμενος νεκρὸν τὸν πρότερον ἄπεισιν, εἶτα ὑποστρέφει πόαν κομίζων, καὶ ταύτην ἐπιτίθησιν ἐπὶ πᾶν τὸ τοῦ ἑτέρου σῶμα· ἐπιτεθείσης δὲ τῆς πόας ἀνέστη. θεασάμενος δὲ Πολύιδος καὶ θαυμάσας, τὴν αὐτὴν πόαν προσενεγκὼν τῷ τοῦ Γλαύκου σώματι ἀνέστησεν. ἀπολαβὼν δὲ Μίνως τὸν παῖδα οὐδ’ οὕτως εἰς Ἄργος ἀπιέναι τὸν Πολύιδον εἴα, πρὶν ἢ τὴν μαντείαν διδάξαι τὸν Γλαῦκον· ἀναγκασθεὶς δὲ Πολύιδος διδάσκει. καὶ ἐπειδὴ ἀπέπλει, κελεύει τὸν Γλαῦκον εἰς τὸ στόμα ἐμπτύσαι· καὶ τοῦτο ποιήσας Γλαῦκος τῆς μαντείας ἐπελάθετο. Glaukos war noch ein Kleinkind, als er in ein Honigfass fiel und erstickte, weil er eine Maus verfolgte. Als er unauffindbar blieb, veranstaltete sein Vater Minos eine große Suche und holte einen Seherspruch ein. Die Kureten sagten ihm, er habe eine dreifarbige Kuh in seinen Herden und wer für ihre Farbe den besten Vergleich wisse, der sei auch in der Lage, seinen Sohn lebend zurückzubringen. Als die Seher zusammengerufen waren verglich Polyidos, der Sohn des Koiranos, die Farbe der Kuh mit einer Brombeere; und ge-

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zwungen, den Jungen zu suchen, fand er ihn schließlich durch seine Seherkunst. Da sagte Minos, er müsse den Jungen lebend zurückerhalten, und Polyidos wurde mit dem Leichnam zusammen eingesperrt. Er befand sich in großer Ratlosigkeit und sah, wie sich eine Schlange dem Toten näherte; er tötete sie mit einem Steinwurf, denn er fürchtete, er würde selber den Tod finden, wenn er Mitleid mit ihr hätte. Es kam dann eine zweite Schlange, und als sie die erste tot sah, kroch sie weg und kam mit einem Kraut zurück und dieses legte sie auf den ganzen Körper der anderen. Als das Gras auf ihr verteilt war, wurde sie wieder lebendig. Polyidos sah dies und wunderte sich und er nahm das Kraut und legte es auf den Körper des Glaukos und bewirkte, dass der aufstand. Obwohl Minos das Kind zurückbekam, ließ er doch Polyidos nicht nach Argos zurückkehren, bevor er Glaukos die Seherkunst gelehrt hatte. Weil er dazu gezwungen war, lehrte Polyidos ihn die Kunst. Und als er dann abreiste, befahl er Glaukos, ihm in den Mund zu spucken. Und als Glaukos dies tat, vergaß er die Seherkunst wieder.

Form: Prosa Kontext: Beim Spielen (nach Hyg. fab. 136 beim Ballspiel, nach Apollod. 3,3,1 bei der Jagd einer Maus) fällt der kretische Königssohn Glaukos in ein Fass voller Honig und ertrinkt. Als er verschwunden bleibt, lassen seine Eltern, König Minos und Pasiphae, ihn suchen (nach Hyg. fab. 136 befragt Minos das delphische Orakel, nach Apollod. 3,3,2 wendet er sich an die Kureten; vgl. Diod. 5,65,1–4, der die Kureten als besonders weise Männer kennt, die im kretischen Dikti-Gebirge beheimatet und für kluge Entdeckungen, wie z. B. die Herstellung von Honig (!) berühmt sind). Polyidos wird unter den versammelten Sehern für diese Aufgabe ausgewählt. Erklärung: Es handelt sich um eine dreiteilige Rätselaufgabe, an deren Ende das Wiederfinden des lebendigen Glaukos steht. In allen drei Teilen orientiert sich die Verschlüsselung an einer formal-äußerlichen Ähnlichkeit (a. Dreifarbigkeit; b. räumliche Relation, Flüssiges im Trockenen; c. räumliche Relation, Kontakt mit dem Kraut). (1) Auf die Frage „Wo ist Glaukos?“ erhält Minos keine Antwort, vielmehr nur ein Rätsel, dessen Lösung dazu qualifizieren soll, jene Frage zu beantworten, d. h. den verschwundenen Jungen zu finden. Dieses Rätsel lautet „Womit lässt sich eine dreifarbige Kuh vergleichen?“ (bei Hyg. fab. 136 ist ganz abstrakt nur von einem monstrum die Rede, das zusätzlich erst noch als dreifarbige Kuh identifiziert werden muss). Es muss also die Frage beantwortet werden: „Was hat (zugleich) drei verschiedene Farben, nämlich weiß, rot und schwarz, bzw. was wechselt seine Farbe von weiß über rot zu schwarz im Laufe eines Tages?“ (Hyg. fab. 136 pointiert die rätselhafte Dreifarbigkeit besonders, indem er von einem täglichen Wechsel (morgens weiß, mittags rot, abends schwarz) berich-

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tet, vgl. hierzu jüngere Varianten des Sphinx-Rätsels, in denen die Entwicklung der Beinanzahl ebenfalls auf den Ablauf eines Tages gemünzt ist, bei Ohlert (21912) 27; der Tagelablauf steht dabei metaphorisch für die Entwicklung von der weißen Blüte zur reifen, schwarzen Frucht). Durch seine Deutung auf die Brombeere (bzw. nach Hyg. fab. 136 auf die Maulbeere), die eine weiße Blüte, eine rote Frucht und eine schwarze, reife Frucht hat, entscheidet sich der Seherwettstreit zugunsten des Polyidos, der sich dann mit dem zweiten Rätsel konfrontiert sieht. (2) Apollodor erwähnt nur, dass Polyidos den Jungen mithilfe seiner Sehergabe findet, doch Hyg. fab. 136 (Polyidos habe ein Nachtkäuzchen über der Weinkammer, in der sich das Honigfass befand, sitzen und Bienen (als Honiganzeiger) verscheuchen gesehen) und Eur. TrGF V.2, frg. 636 Kannicht berichten genauer: Nach der Überlieferung des Letzteren beobachtet Polyidos einen Seeadler, der im Meer taucht und dann zum Strand hin fliegt. Er deutet diese Handlung als Symbol dafür, dass der Gesuchte ertrunken, d. h. in einer Flüssigkeit untergetaucht sei, sich aber an Land befinde. Dieses scheinbare Paradoxon löst sich dadurch auf, dass Glaukos in dem Honigfass, das sich an Land befindet, ja tatsächlich in einer Flüssigkeit ertrunken ist. Weil Polyidos diese Zusammenhänge begreift, gelingt es ihm, den Toten zu finden. Anstelle einer Belohnung für das gelöste Rätsel und den gefundenen Sohn, wird Polyidos jedoch bestraft, indem man ihn mit dem Leichnam zusammen in eine Höhle sperrt. Dies lässt sich im Rahmen der Rätselstruktur dadurch begründen, dass seine Aufgabe noch nicht abgeschlossen ist. Schließlich war prophezeit worden (nach Apollod.), Polyidos würde den Jungen lebend zurückbringen. (3) Es schließt sich demnach der dritte Teil der Rätselaufgabe an, in der Polyidos erneut eine rätselhafte Handlung zu deuten hat. Durch die Nachahmung der heilenden Handlung der Schlange bewirkt er schließlich tatsächlich die Wiederbelebung des Jungen und erfüllt die ihm gestellte Gesamtaufgabe. Auch hierfür erhält er (nach Apollod.) von Minos jedoch noch nicht die zu erwartende Belohnung, sondern wird gezwungen, Glaukos in der Seherkunst zu unterweisen. Dass er letztlich Minos doch überlegen ist, erweist sich, als er Glaukos das Beigebrachte durch einen Kunstgriff wieder vergessen lässt; vgl. zum rituellen Spucken mit darauffolgendem Verlust bestimmter Fähigkeiten Westermarck I (1926) 93. Hyginus dagegen überliefert die für den Ausgang eines erfolgreich gelösten Rätsels typische Belohnung mit zahlreichen Geschenken (multis muneribus). Polyidos als Rätsellöser: Durch den Vergleich der dreifarbigen Kuh mit den Entwicklungsstadien der Brombeere bzw. der Maulbeere erweist sich Polyidos als kompetenter Rätsellöser und erwirbt auf diese Weise überhaupt erst das Recht, sich vor all den ande-

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ren Sehern, die Minos als Ratgeber hatte versammeln lassen, mit den beiden folgenden Rätseln auseinanderzusetzen. Seine besondere Disposition als Rätsellöser unter seinen Berufsgenossen, von denen insgesamt aufgrund ihrer göttlichen Inspiration ein gewisses, überdurchschnittliches Geschick im Umgang mit Rätselhaftem zu erwarten ist, lässt sich dabei unter Einbeziehung seiner Genealogie verständlich machen. So leitet sich sein Geschlecht, das berühmte Sehergeschlecht der Klytiaden, von dem großen Seher Melampus her, dessen besonderes Geschick Polyidos gleichsam als Vermächtnis seiner Familie „geerbt“ zu haben scheint (Pherekyd. FGrH 3 F 115 Jacoby; Paus. 1,42,5). Es verschafft ihm diese besondere Prädisposition offenbar gegenüber Sehern von weniger prominenter Abstammung bei den Rätsellösungen offenbar einen gewissen Vorzug. Intertextuelle Verweise: Hyg. fab. 136, der die Geschichte mit einigen Abweichungen ebenfalls wiedergibt. Soph. TrGF IV, frg. *395 Radt, wo die Lösung des Polyidos überliefert ist: πρῶτον μὲν ὄψῃ λευκὸν ἀνθοῦντα στάχυν, ἔπειτα φοινίξαντα γογγύλον μόρον, †ἔπειτα† [τέλος δὲ Nauck] γῆρας λαμβάνει σφ’ Αἰγύπτιον Zuerst sähe er die Knospe in weißer Blüte, dann rot gefärbt als runde Frucht, doch schließlich hält das Alter sie in ägyptischem Schwarz umklammert.

Schol. Lykophr. 811, p. 255 f. Scheer überliefert die Geschichte ganz wie Apollod. Vgl. dass nach Aeschron (SH 5) ein Fischer namens Glaukos durch die nachahmende Verwendung von Wunderkräutern ausgerechnet in einen Meeresgott verwandelt wurde. Der Stoff ist außerdem bearbeitet von den Tragikern: Aischyl. TrGF III, frg. 116–120 Radt; Soph. TrGF IV, frg. 389a-400 Radt; Eur. TrGF V.2, frg. 634–646 Kannicht. Literatur: Zu Rätseln mit Farbveränderung des Rätselobjekts vgl. Schultz (1912) 4–6, bes. 5. Vgl. zu Polyidos als Seher und Rätsellöser Kerényi (1952) 26 f.

4 Rätsel von der Sonne und ihren Strahlen vit. Aesop. 115, Perry (vita W) τῇ δὲ ἐχομένῃ ἡμέρᾳ στολὴν λευκὴν καὶ καθαρὰν ἐνδυσάμενος τοῖς δὲ φίλοις κόκκινα περιθεὶς ἐλθόντος τοῦ Αισώπου ὡσαύτως ἐπύθετο· „τίνι ἴκελον νομίζεις με εἶναι;“ Αἴσωπος ἔφη „σὲ μὲν τῷ ἡλίῳ, τοὺς δὲ περὶ σὲ ταῖς ἀκτῖσιν· ὥσπερ γὰρ ὁ ἥλιος λαμπρὸς

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καὶ διαυγὴς ὕπάρχει, οὕτως καὶ σὺ λαμπρὸς καὶ καθαρὸς εἶ ὡς ὁ ἡλιακὸς κύκλος, οὗτοι δὲ διάπυροι ὡς αἱ τοῦ ἡλίου ἀκτῖνες.“ Bei Anbruch des nächsten Tages kleidete sich der König in ein reinweißes Gewand und seine Gefolgsleute trugen rote Gewänder, und als Aesop kam, befragte er ihn folgendermaßen: „Womit, glaubst du, habe ich Ähnlichkeit?“ Aesop antwortete: „Dich [vergleiche ich] mit der Sonne und die um dich herum mit den Sonnenstrahlen; wie die Sonne nämlich hell und klar aufgeht am Morgen, so beginnst auch du hell und rein wie der Sonnenumlauf, und die Roten um dich herum wie die Strahlen der Sonne.“

Form: Prosa Kontext: Die befreundeten Könige Lykurg von Babylon und Nektenabo von Ägypten senden sich gegenseitig postalisch Rätselaufgaben zu. Aesop, der in dieser Angelegenheit als Berater des babylonischen Königs fungiert, ist nach Ägypten gereist, um dort die Lösung einer (anderen) Aufgabe vorzuführen, und wird nun am Hofe des Königs mit weiteren Rätseln befragt. Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel, das nicht primär auf sprachlichen Besonderheiten, sondern auf visueller Wahrnehmung beruht. Mit σeinem Auftreten impliziert der ägyptische König die Rätselfrage: „Was ist im Zentrum weiß und außen rot?“ Aesops Vergleich mit der Sonne und ihren Strahlen berücksichtigt dabei nicht nur die richtige Farbgebung, sondern auch den Rang bzw. die Bedeutung der einzelnen Elemente bzw. Personen und ihre Funktion. Er schmeichelt damit in gewissem Sinne dem ägyptischen König, den er als Zentrum der Sonne darstellt, und umgeht damit die Gefahr, die in einer unvorteilhafteren Assoziation des Bildes, die den König womöglich gekränkt hätte, gelegen haben könnte. Die Auslegung des Bildes beruht demnach einerseits und besonders augenfällig (a) auf einer Analogie der Farbe. Wie das Licht der Sonne im Zentrum gleißend weiß und für das menschliche Auge kaum direkt wahrnehmbar ist, während ihre Strahlen, mit verminderter Intensität, gelblich oder vielleicht auch, wie hier, rötlich (κόκκινος) aussehen, so scheint der weißgekleidete König zwischen den ihn umgebenden Rotgewandeten hervor. Andererseits (b) liegt eine Analogie der räumlichen Relation vor: Es gibt ein Zentrum und unendlich viele Strahlen, die sich außen um das Zentrum herum anlagern. Schließlich (c) ist mit letzterem auch eine Analogie der Funktion verbunden. Wie die Sonne so ist der König das Wirkzentrum des ägyptischen Königreichs, von dem alle Macht ausgeht. Ausgeübt wird seine Macht jedoch auch mithilfe seiner Gefolgsleute, die ihm, wie die Strahlen der Sonne, dienen und seine Macht (wie das Licht und die Wäre der Sonne) verbreiten.

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Intertextuelle Verweise: Am Tag zuvor hatte der ägyptische König Nektenabo Aesop bereits mit einem ganz ähnlichen Rätsel konfrontiert, indem er selbst vice versa rotgewandet erschien, während seine Gefolgsleute weiß gekleidet waren (vit. Aesop. 112–114). Vgl. ferner die ähnliche Rätselaufgabe von dem Vergleich einer dreifarbigen Kuh mit der Entwicklung einer Brombeere bzw. Maulbeere an den Seher Polyidos (Apollod. 3,17–20).

5 Rätsel von dem Mond und den Sternen vit. Aesop. 112–114, Perry (vita W) τῇ δὲ ἐπαύριον ἐκέλευσε πάντας αὐτοῦ τοὺς ἄρχοντας λευκὰς στολὰς περιβαλέσθαι, αὐτὸς δὲ περιεβάλετο στολὴν ἱερὰν καὶ κίδαριν καὶ διάδημα κατὰ τῆς κεφαλῆς ἔχον κέρατα διάλιθα. προκαθίσας δὲ ἐπὶ θρόνου ὑψηλοῦ ἐκέλευσε τὸν Αἴσωπον εἰσελθεῖν. [113] εἰσελθὼν δὲ καὶ τὴν παρασκευὴν θεασάμενος προσκυνήσας ἔστη. ὁ δὲ Νεκτεναβὼ πρὸς αὐτὸν ἔφη „τίνι ἴκελον βλέπεις με καὶ τοὺς περὶ ἐμέ;“ Αἴσωπος ἔφη „σὲ μὲν τὴν σεληνιακὴν διχομηνίαν ἔχοντα, τοὺς δὲ περὶ σὲ τοῖς ἄστροις· ὥσπερ γὰρ ἡ σελήνη διαφέρει τῶν λοιπῶν ἄστρων οὕτω καὶ σὺ τῇ κερατοειδεῖ μορφῇ σελήνης τρόπον ἔχεις, οἱ δὲ ἄρχοντές σου τοῖς περὶ ἐκείνην ἄστροις.“ ταῦτα ἀκαύσας Νεκτεναβὼ καὶ θαυμάσας ἔδωκεν αὐτῷ δῶρα. Am nächsten Morgen befahl der König allen seinen Ratsherren, weiße Gewänder anzulegen, er selbst kleidete sich rötlich und trug einen Turban und eine mit Hörnern und Steinen besetzte Krone auf seinem Kopf; dann nahm er auf einem hohen Thron Platz und befahl, Aesop solle eintreten. [113] Er trat also ein und sah den Aufputz und stellte sich hin und grüßte den König. Da sagte Nektenabo zu ihm: „Mit wem vergleichst du mich und die um mich herum?“ [114] Er aber antwortete: „Dich sehe ich als einen, der eine mondartige Fülle hat, die um dich herum [vergleiche ich] mit den Sternen; wie nämlich der Mond sich von den übrigen Sternen unterscheidet, so hast auch du mit deiner sichelhörnigen Gestalt die Art des Mondes, deine Anführer aber [gleichen] den Sternen um den Mond herum.“ Als Nektenabo dies hörte und darüber staunte, gab er ihm Geschenke.

Form: Prosa Kontext: Die befreundeten Könige Lykurg von Babylon und Nektenabo von Ägypten senden sich gegenseitig postalisch Rätselaufgaben zu. Aesop, der in dieser Angelegenheit als Berater des babylonischen Königs fungiert, ist nach Ägypten gereist, um dort die Lösung einer (anderen) Aufgabe vorzuführen, und wird nun am Hofe des Königs mit weiteren Rätseln befragt. Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel, das nicht primär auf sprachlichen Besonderheiten, sondern auf visueller Wahrnehmung beruht.

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A Metaphorisierende Rätsel

Mit seinem Auftreten in einem rötlichen Priestergewand und einer entsprechenden Krone impliziert der ägyptische König die Rätselfrage: „Was ist rötlich und sichel- oder hornförmig gewölbt und hat etwas Weißes um sich herum?“ Aesops Vergleich mit dem rot glühenden und je nach Mondphase ein- oder beidseitig sichelförmigen Mond und den hell-weiß leuchtenden Sternen um den Mond herum berücksichtigt dabei nicht nur die richtige Farbgebung, sondern auch den Rang bzw. die Bedeutung der einzelnen Elemente bzw. Personen und ihre Funktion. Die Auslegung des Bildes beruht demnach einerseits und besonders augenfällig (a) auf einer Analogie der Farbe. Die rote Farbe des Königsgewandes rückt den, auf seinem Thron vermutlich zentral sitzenden, Herrscher in eine farbliche Nähe zu dem Mond am Firmament. Gleiches gilt für die hellgewandeten Gefolgsleute im Vergleich mit den Sternen. Andererseits (b) besteht auch eine gewisse Analogie für die Relation der einzelnen Rätselelemente. Wie der Mond aufgrund seiner Größe – bes. als Vollmond, worauf vielleicht die κερατοειδεῖ μορφῇ anspielt – gewissermaßen im Zentrum der Sterne steht, so nimmt der ägyptische König, der u. U. nicht nur mit seiner edelsteinbesetzten Krone (διάδημα διάλιθα) funkelt wie der Mond, sondern ihm in einer gewissen aristokratischen Üppigkeit womöglich auch der Form nach ähnelt, welche ferner die offenbar zusätzlich an der Krone befestigten (gewölbten) Hörner abbilden, sowohl in dem ägyptischen Königreich als auch in der konkreten Szenerie, mit der sich Aesop konfrontiert sieht, die zentrale Position ein. Dass die Hornelemente seiner Krone zudem von weißer Farbe gewesen sein müssen, trägt dabei nicht nur dem Licht des (nicht dauerhaft roten) Mondes, sondern auch seiner Verwandtschaft mit und seiner Verbindung zu den ihn umgebenden Sternen bzw. Gefolgsleuten Rechnung. Gemäß einer alternativen Textvariante (vgl. Eidener (2011)) vergleicht Aesop den König hier mit der roten Frühlingssonne und seine Gefolgsleute mit den von der Sonne beschienenen, weißgelben Getreideähren. Auch in dieser Erklärung sind sowohl Farbe als auch Rang bzw. Relation berücksichtigt. Wie die Ähren stets in Abhängigkeit von dem Licht der Sonne sind und nur durch ihre „Fürsorge“ wachsen und gedeihen, so sind auch die Gefolgsleute von dem wohlwollenden Verhalten ihres Königs abhängig, der als Herrscher die zentralste Figur des Königreichs ist. Intertextuelle Verweise: Der ägyptische König variiert die vorliegende Rätselaufgabe am kommenden Tag, indem er vice versa seine Gefolgsleute in roten Kleidern antreten lässt, während er selbst ein weißes Gewand trägt, und richtet dieselbe Frage an Aesop (vit. Aesop. 115). Vgl. ferner die ähnliche Rätselaufgabe von dem Vergleich einer dreifarbigen Kuh mit der Entwicklung einer Brombeere bzw. Maulbeere an den Seher Polyidos (Apollod. 3,17–20).

A. II Nicht-sprachliche Rätsel

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A. II. 1.4 Analogie in der Funktion 1 Rätsel von der kinderreichen Ehe Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 735 Walz) καὶ ἐν τῷ βίῳ δέ τινα αἰνιγματωδῶς γίνονται κατὰ τὸν ὅμοιον τρόπον· οἷον ἐπὶ τῶν γαμούντων ὅτι σήσαμον ἢ κριθὰς κόπτουσιν οἰωνιζόμενοι, ἐπεὶ πολύγονά ἐστι· […]. Und auch im (echten) Leben geschehen Dinge, die rätselhaft sind im Bezug auf ihre Ähnlichkeit, wie bei Heiratenden, die, weil sie Korn oder Gerste schneiden, deuten, dass die Ehe viele Kinder hervorbringen wird.

Form: Prosaparaphrase Erklärung: Zeichendeutung nennt Tryphon hier exemplarisch als Lebensweltbezug des Rätsels. Wenn bei eine Hochzeit Korn geschnitten wird, sei dies ein Symbol für großen Kindersegen in der Ehe. Dabei stehen offenbar die vielen Samen des Korns in einer funktionalen, vielleicht zusätzlich auch äußerlich-formalen Analogie für die große Fruchtbarkeit der Eheleute. Wie aus dem Korn viele Samen hervorgehen, aus denen wiederum neue Ähren erwachsen können, so wird den Eheleuten – wohl aufgrund der hohen Potenz insbesondere des (samenreichen) Mannes – zahlreiche Nachkommenschaft versprochen.

2 Das Sperlingsorakel von der Dauer des Trojanischen Krieges Hom. Il. 2,308–330, West ἔνθ’ ἐφάνη μέγα σῆμα· δράκων ἐπὶ νῶτα δαφοινός, σμερδαλέος, τόν ῥ’ αὐτὸς Ὀλύμπιος ἧκε φόωσδε, βωμοῦ ὑπαΐξας πρός ῥα πλατάνιστον ὄρουσεν. ἔνθα δ’ ἔσαν στρουθοῖο νεοσσοί, νήπια τέκνα, ὄζωι ἐπ’ ἀκροτάτωι, πετάλοις ὑποπεπτηῶτες, ὀκτώ, ἀτὰρ μήτηρ ἐνάτη ἦν, ἣ τέκε τέκνα. ἔνθ’ ὅ γε τοὺς ἐλεεινὰ κατήσθιε τετριγῶτας, μήτηρ δ’ ἀμφεποτᾶτο ὀδυρομένη φίλα τέκνα· τὴν δ’ ἐλελιξάμενος πτερύγος λάβεν ἀμφιαχυῖαν. αὐτὰρ ἐπεὶ κατὰ τέκν’ ἔφαγε στρουθοῖο καὶ αὐτήν, τὸν μὲν ἀΐζηλον θῆκεν θεὸς ὅς περ ἔφηνε· λᾶαν γάρ μιν ἔθηκε Κρόνου πάϊς ἀγκυλομήτεω· ἡμεῖς δ’ ἑσταότες θαυμάζομεν οἷον ἐτύχθη, ὡς οὖν δεινὰ πέλωρα θεῶν εἰσῆλθ’ ἑκατόμβας. Κάλχας δ’ αὐτίκ’ ἔπειτα θεοπροπέων ἀγόρευεν· „τίπτ’ ἄνεῳ ἐγένεσθε, κάρη κομόωντες Ἀχαιοί;

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A Metaphorisierende Rätsel

ἡμῖν μὲν τόδ’ ἔφηνε τέρας μέγα μητίετα Ζεὺς, ὄψιμον ὀψιτέλεστον, ὅο κλέος οὔ ποτ’ ὀλεῖται. ὡς οὗτος κατὰ τέκν’ ἔφαγε στρουθοῖο καὶ αὐτήν, ὀκτώ, ἀτὰρ μήτηρ ἐνάτη ἦν, ἣ τέκε τέκνα, ὣς ἡμεῖς τοσσαῦτ’ ἔτεα πτολεμίξομεν αὖθι, τωι δεκάτωι δὲ πόλιν αἱρήσομεν εὐρυάγυιαν.“ κεῖνος τὼς ἀγόρευε· τὰ δὴ νῦν πάντα τελεῖται. Unter der schönen Platane, wo klares Wasser hervorrann, ergab sich uns ein bedeutendes Zeichen, da schoss eine furchtbare Schlange, rot am Rücken, die der Olympier selbst ans Licht sandte, unter dem Altar empor und kroch hinauf in die Platane. Dort aber war ein Nest von Sperlingen, noch kleine Küken, auf dem obersten Ast, sie duckten sich unter die Blätter, acht an der Zahl, doch die neunte dort war die Mutter, die sie ausgebrütet hatte. Die Schlange aber vertilgte die kläglich schreienden Küken, und die Mutter umflatterte klagend ihre Brut, die lieben. Die Schlange aber ringelte sich an ihrem Flügel hoch und packte die Klagende. Als sie die Küken und die Mutter gefressen hatte, da machte der Gott, der sie erscheinen ließ, deutlich sichtbar, denn es ließ sie der Sohn des krummgesinnten Kronos zu Stein erstarren. Wir aber standen und staunten, was geschehen war, wie da das furchtbare Ungetüm gekommen war in der Götter Hundertopfer. Kalchas aber verkündete sogleich einen Seherspruch, indem er sagte: „Warum seid ihr verstummt, ihr am Haupte langhaarigen Archaier? Der ratsinnende Zeus hat uns dies als großes Zeichen gesandt, ein spätes und spät sich erfüllendes, dessen Ruhm doch niemals vergehen wird. So wie die Schlange die Sperlingsküken und die Mutter selbst gefressen hat, acht, und die Mutter, die sie geboren hatte, war die neunte, ebenso viele Jahre werden wir dort Krieg führen, im zehnten Jahr aber werden wir die breitstraßige Stadt erobern.“ So sprach jener und nun wird dies alles vollendet werden.

Form: 23 Hexameter Erklärung: Anders als in einem Orakel werden hier nicht doppeldeutige sprachliche Formulierungen, sondern gewisse symbolische Handlungen auf einen tiefer liegenden Sinn hin gedeutet. Es handelt sich um ein Rätsel, das nur mithilfe göttlicher Inspiration gelöst werden kann, vgl. hierzu auch die Rätsel, mit denen sich die Seher Kalchas und Mopsos bei einem Aufeinandertreffen gegenseitig auf die Probe stellen (Hes. frg. 278 MW = Strab. 14,1,27); ferner das Rätsel von Schildkröte und Lamm, mit dem Kroisos das delphische Orakel auf die Probe stellt (Hdt. 1,46–49). Der berühmte Seher Kalchas übernimmt die Ausdeutung und erklärt, die neun gefressenen Sperlinge stünden für neun Jahre Krieg (äußerlich-formale

A. II Nicht-sprachliche Rätsel

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Analogie), in denen die Griechen vor Troja große Verluste zu erdulden hätten. Im zehnten Jahr jedoch werde der Angreifer der Griechen, symbolisiert durch die Schlange (funktionale Analogie), durch göttliches Dazutun vernichtet. Cicero kritisiert nicht ganz zu Unrecht, dass diese Ausdeutung nicht in allen Belangen ganz stimmig ist (div. 2,63–65). So ließe sich beispielsweise hinterfragen, inwiefern die kleinen Sperlinge der großen Zeiteinheit eines Jahres entsprechen und nicht etwa der von Monaten oder Tagen. Ferner bleibt eine allegorische Ausdeutung der Schlange aus, wodurch die Frage, wen die Schlange und wen die Vögel symbolisieren, nicht vollständig geklärt wird. Dass die Schlange für die Griechen steht, die im zehnten Jahr, also vor dem zehnten Vogel, den Gegner besiegt, geht nicht mit der abschließend versteinerten Schlange zusammen. Steht die Schlange aber für die Trojaner, die den Gegnern zunächst zusetzt, dann aber durch göttlichen Willen außer Gefecht gesetzt wird, so symbolisieren die Sperlinge die angegriffenen Griechen. Dass aber alle neun Vögel gefressen werden, bevor jemand der Schlange Einhalt gebietet, harmoniert wiederum nicht recht mit dem Sieg der Griechen. Man müsste schon annehmen, dass der (während des Angriffs abwesende) Vatervogel als zehnter übrig bleibt. Das würde auch die ansonsten überflüssige Unterscheidung zwischen dem Muttervogel und den Kindern begründen: Die Mutter verweist auf den Vater, der die Familie vollständig macht. Man fragt sich dennoch, warum die Trojaner von der physisch überlegenen Schlange verkörpert werden sollten. Möglicherweise hat dies einen moralischen Hintergrund und verweist auf die Aggressivität des Volkes, das den Krieg begonnen hat. So wie Zeus die Schlange – also Paris nach Troja – schickt und auf diese Weise den Krieg veranlasst, so beendet Zeus durch die Versteinerung der Schlange den Kampf und lässt die Griechen siegen. Intertextuelle Verweise: Cic. div. 2,63–65 mit Kritik an der Auslegung des Orakels durch Kalchas. Weitere Vogel-Schlage-Szenen im Kontext des Trojanischen Krieges: Traum des Kalchas von Taube und Habicht (Q. Smyrn. 12,8–20), Adler und Schlange (Hom. Il. 12,200–209). Kalchas und Agamemnon (der die Auslegung des Geschehens nach Ciceros Bericht kritisiert) haben schon – kritisch – miteinander zu tun, (a) als Kalchas zur Opferung der Iphigenie in Aulis rät, (b) im Streit um Chryseis. 3 Das Rätsel von den Ähren (Thrasybulos und Periander) Hdt. 5,92ζη, Wilson Ὁ τοίνυν Περίανδρος κατ’ ἀρχὰς μὲν ἦν ἠπιώτερος τοῦ πατρός, ἐπείτε δὲ ὡμίλησε δι’ ἀγγέλων Θρασυβούλῳ τῷ Μιλήτου τυράννῳ, πολλῷ ἔτι ἐγένετο Κυψέλου μιαιφονώτερος.

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A Metaphorisierende Rätsel

πέμψας γὰρ παρὰ Θρασύβουλον κήρυκα ἐπυνθάνετο ὅντινα ἂν τρόπον ἀσφαλέστατον καταστησάμενος τῶν ρηγμάτων κάλλιστα τὴν πόλιν ἐπιτροπεύοι. Θρασύβουλος δὲ τὸν ἐλθόντα παρὰ τοῦ Περιάνδρου ἐξήγαγε ἔξω τοῦ ἄστεος, ἐσβὰς δὲ ἐς ἄρουραν ἐσπαρμένην ἅμα τε διεξήιε τὸ λήιον ἐπειρωτῶν τε καὶ ἀναποδίζων τὸν κήρυκα κατὰ τὴν ἀπὸ Κορίνθου ἄπιξιν, καὶ ἐκόλουε αἰεὶ ὅκως τινὰ ἴδοι τῶν ἀσταχύων ὑπερέχοντα, κολούων δὲ ἔρριπτε, ἐς ὃ τοῦ ληίου τὸ κάλλιστόν τε καὶ βαθύτατον διέφθειρε τρόπῳ τοιούτῳ. διεξελθὼν δὲ τὸ χωρίον καὶ ὑποθέμενος ἔπος οὐδὲν ἀποπέμπει τὸν κήρυκα. νοστήσαντος δὲ τοῦ κήρυκος ἐς τὴν Κόρινθον ἦν πρόθυμος πυνθάνεσθαι τὴν ὑποθήκην ὁ Περίανδρος. ὁ δὲ οὐδέν οἱ ἔφη Θρασύβουλον ὑποθέσθαι, θωμάζειν τε αὐτοῦ παρ’ οἷόν μιν ἄνδρα ἀποπέμψειε, ὡς παραπλῆγά τε καὶ τῶν ἑωυτοῦ σινάμωρον, ἀπηγεόμενος τά περ πρὸς Θρασυβούλου ὀπώπεε. Περίανδρος δὲ συνεὶς τὸ ποιηθὲν καὶ νόῳ σχὼν ὥς οἱ ὑπετίθετο Θρασύβουλος τοὺς ὑπερόχους τῶν ἀστῶν φονεύειν, ἐνθαῦτα δὴ πᾶσαν κακότητα ἐξέφαινε ἐς τοὺς πολιήτας. Periander war am Anfang milder als sein Vater, aber nachdem er durch Boten Kontakt zu Thrasybulos, dem Tyrannen von Milet, aufgenommen hatte, wurde er noch viel gewalttätiger als Kypselos. Er schickte nämlich einen Herold zu Thrasybulos und ließ fragen, wie er am besten die Verwaltung seiner Stadt bewerkstelligen sollte. Thrasybulos führte den, der von Periander gekommen war, aus der Stadt hinaus und ging in ein Kornfeld hinein, und während er hindurchschritt, fragte er immer wieder und wieder, warum der Bote aus Korinth zu ihm gekommen sei, und riss alle Ähren aus, von denen er sehen konnte, dass sie hoch hinausstanden, und warf sie fort, bis er auf diese Weise den schönsten und dichtesten Teil des Feldes verwüstet hatte. Nachdem er das Land durchschritten und kein Wort gesagt hatte, schickte er den Boten fort. Als der Bote auf seinem Heimweg wieder nach Korinth zurückgekehrt war, brannte Periander darauf, die Antwort [des Thrasybulos] zu erfahren. Der Bote aber sagte, Thrasybulos habe gar nichts geantwortet, und er wundere sich, dass sein Herr ihn zu solch einem Mann schickte, der sein eigenes Land verwüste, und dann berichtete er, was er bei Thrasybulos gesehen hatte. Periander aber verstand die Handlung und erfasste, dass Thrasybulos ihm riet, die hervorragenden Bürger zu töten, und von da an ging er ganz besonders schrecklich gegen die Bürger vor.

Form: Prosa Kontext: Als Periander 628 v. Chr. die Herrschaft über Korinth von seinem Vater Kypselos übernimmt, sendet er einen Boten nach Milet zu dem ihm befreundeten Tyrannen Thrasybulos, um fragen zu lassen, wie man eine Stadt als Tyrann am besten verwaltet, d. h. wie man seine Herrschaft sichert. Erklärung: Der Kern des Rätsels liegt in der getäuschten Erwartung des Boten als erstem Rezipienten und in seiner auslegungsbedürftigen Nicht-Sprachlichkeit. Denn der Konsultierte antwortet nicht, wie vielleicht erwartet, in einer ausführlichen Rede. Vielmehr spricht er überhaupt nicht (ὑποθέμενος ἔπος οὐδὲν) mit dem Boten. Stattdessen schreitet er durch ein Kornfeld und reißt diejenigen Ähren aus, die über das Mittelmaß hinausragen (ὑπερέχοντες).

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Diese Rätsel-Handlung erfordert eine Lösung im Sinne einer Ausdeutung des zunächst unlogisch erscheinenden Verhaltens (παραπλῆγά τε καὶ τῶν ἑωυτοῦ σινάμωρον). Sie stößt auf diese Weise – nonverbal – den für das Rätsel obligatorischen Kommunikationsprozess an. Das rätseltypisch Undurchsichtige an Thrasybulos’ Handlung, das der Deutung bedarf, ist dabei gerade ihre NichtSprachlichkeit; vgl. zur nonverbalen Kommunikation in dieser Episode Lateiner (1987) 99. Der Tyrann sagt sein Rätsel nicht, er macht es. Ganz treffend formuliert Herodot in diesem Sinne auch den Unterschied zwischen dem verständnislosen Boten, der sich über die fehlenden Worte (ὑποθέμενος ἔπος οὐδὲν) des Befragten wundert, und dem wissenden Periander, den Herodot die Handlung seines Freundes verstehen lässt (συνεὶς τὸ ποιηθὲν). In der Rätselhandlung stehen die Ähren symbolisch für die Bürger Korinths, von denen diejenigen, die (in welcher Weise auch immer) überdurchschnittlich sind, also über die Masse hinausragen (ὑπερέχων), durch symbolisches Ausoder Abreißen ermordet werden sollen (etwa durch Enthauptung?). Die daraus resultierende Verwüstung des schönsten und dichtesten Feldteils entspricht auf diese Weise in einer äußerlich-formalen Analogie einer Unschädlichmachung der gesamten oberen Klasse durch Ermordung der führenden Köpfe (als potentielle Konkurrenten). Übrig bleibt ein zerrüttetes und (durch Abschreckung?) ungefährliches Flickenfeld (analoge Intention). Thrasybulos rät seinem Kollegen somit, gezielt gegen Aufstrebende, die zur Gefahr für den Tyrannenthron werden könnten, vorzugehen. Zur Wirkung des Ratschlags: Kypselos, dem Vater des Periander war durch ein Orakel vorausgesagt (Hdt. 5,92 = AP XIV 88), dass sein Sohn die Herrschaft über Korinth noch weiterführen würde, nicht aber die Generation seiner Enkel. Es mag sein, dass die Anekdote über den ratsuchenden Periander auch aus diesem Bewusstsein heraus entstand. Trotz seines Bemühens, den Rat des Thrasybulos umzusetzen, gelangte tatsächlich keiner seiner beiden Söhne an die Macht, vgl. Hdt. 3,50–53. Der ältere Sohn war aufgrund seiner natürlichen Disposition nicht für die Herrschaft qualifiziert und der jüngere Bruder verweigerte das Erbe des Vaters, als er erfuhr dass seine Mutter Melissa (versehentlich) durch einen Fußtritt Perianders getötet wurde. Als er den Thron doch annehmen wollte, wurde er in seinem Exil auf Kerkyra getötet. Zur Verteilung der Rätselrollen: Periander lässt durch seinen Boten eine Frage stellen, doch das Rätsel liegt – wie bei einer Befragung des Orakels, vgl. Hornblower (2013) 2634 – in der Ant-

4 „Tyrants are as much of a riddle as are oracles.“

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A Metaphorisierende Rätsel

wort des Thrasybulos, der somit in der Rolle des Rätselstellers auftritt. Eigentlicher Adressat des Rätsels und somit Rätsellöser ist Periander, der den Sinn der Handlung ja auch durchschaut. Der Bote steht lediglich als Mittlerfigur dazwischen und soll nach der Intention der beiden Tyrannen vermutlich überhaupt nicht als (erfolgreicher) Rätsellöser in Aktion treten. 1. Thrasybulos: Der Tyrann von Korinth ist als Rätselsteller geeignet, denn er ist offenbar älter und als Tyrann bereits erfahrener als Periander und damit in gewissem Sinne für die überlegene Rolle des Rätselstellers qualifiziert. Anders als üblicherweise nutzt Thrasybulos seine Überlegenheit jedoch nicht gegen Periander als echten Rätsellöser aus, der sich überdies durch sein Verständnis der Rätsel-Handlung als annähernd ebenbürtig erweist, sondern nutzt das Rätsel in einer pädagogisch-didaktischen Funktion, die das Autoritätsgefälle zwischen Rätselsteller und Rätsellöser nivelliert. Klassischerweise überlegen ist er gegenüber dem uneingeweihten Boten, der nicht nur das Rätsel nicht versteht, sondern überhaupt nicht erkennt, dass es sich um ein Rätsel handelt. Vgl. zur Klugheit des Thrasybulos ferner Gray (1996) 378. 2. Periander: Der Tyrann von Korinth ist ein außergewöhnlicher Rätsellöser, insofern er mit seiner Lösung erfolgreich ist. Die Sicherung seiner Herrschaft darf als Lohn für das korrekt gelöste Rätsel gelten. Obwohl Periander in der ersten vollständigen Liste der Sieben Weisen (Plat. Prot. 343a) nicht genannt wird, ist er Teil des späteren, seit Demetrios von Phaleron (Diog. Laert. 1,13; Stob. 3,1,72) feststehenden Kreises und damit zum Rätselerfolg geradezu prädestiniert; vgl. zu den unterschiedlichen Katalogen der Weisen auch Barkowski (1923) 2243–2247. Hieraus lässt sich ableiten, dass seine Grausamkeit nicht schlichter Brutalität, sondern vielmehr klugem Kalkül entspringt. In seiner Rolle als Rätsellöser ist Periander klassischerweise der die Rolle des Unterlegenen bestimmt (deshalb wendet er sich schließlich auch ratsuchend an Thrasybulos), doch die erfolgreiche Rätsellösung erweist ihn als ebenbürtig. 3. Der Bote: Der Bote nimmt gar nicht wahr, dass das Tun des Tyrannen als Antwort auf seine Frage bezogen ist, obwohl Thrasybulos ihn vor jedem Ausreißen seine Frage wiederholen lässt (ἐπειτωτῶν καὶ ἀναποδίζων) und so einen Hinweis auf den Zusammenhang gibt. Damit, dass der Tyrann sein eigenes Land verwüste, wie der Bote meint, hat er sogar Recht, doch er erkennt nicht, welchem höheren Zweck dieses Handeln dient. Dies vermag nur ein (anderer) Tyrann. Der Bote aber hält den Thrasybulos für einfältig und berichtet Periander deshalb, er habe gar keine (nicht etwa eine schwierige) Antwort erhalten; vgl. hierzu die offenbar typische Kritik am Rätsel allgemein, es sei nichtig, bzw. sage nichts aus, die stets mit Formulierungen wie οὐδὲν λέγειν arbeitet, die dem hier

A. II Nicht-sprachliche Rätsel

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gebrauchten οὐδὲν ὑποθέσθαι sehr ähnlich sind; so etwa im Kontext des Rätsels vom Picknick (Antiphan. PCG II, frg. 122 K.-A.); im Kontext des Rätsels vom Geben und Nicht-Geben, Wissen und Nicht-Wissen (Antiphan. PCG II, frg. 192 K.-A.). Die Handlung wirkt somit gleichsam als Geheimsprache, die nur für Eingeweihte – in diesem Falle die Gruppe der Tyrannen, die über ein spezielles Herrschaftswissen als Rezeptionshintergrund verfügt – verständlich ist. Auf diese Weise kann Thrasybulos als Rat nonverbal zum Ausdruck bringen, was in der offenen, für alle verständlichen sprachlichen Artikulation tabuisiert wäre: den Mord an herausragenden Persönlichkeiten. Und tatsächlich begreift Periander ja nicht nur, dass Thrasybulos’ Handlung eine (rätselhafte) Antwort auf seine Frage darstellt, sondern vermag auch ihren Sinn zu deuten. Das rätseltypische Autoritätsgefälle wird somit in der vorliegenden Konstellation nicht zwischen Rätselsteller und Rätsellöser, sondern zwischen Rätselsteller und Rätsellöser gegenüber dem uneingeweihten Boten etabliert. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Orakel der toten Melissa an Periander, ebenfalls Hdt. 5,92η. Aristot. pol. 1284a. 1311a überliefert die Anekdote umgekehrt, sodass der weise Periander zum Rätselsteller gegenüber Thrasybulos wird. Da bei der Kombination der pädagogisch-didaktischen Funktion mit der Funktion als Geheimsprache das Autoritätsgefälle zwischen Rätselsteller und Rätsellöser ohnehin nivelliert wird, spielt für unser Verständnis des Rätsels selbst keine Rolle, welcher der beiden Tyrannen welche Rätselrolle ausgefüllt haben könnte: „ὅθεν καὶ τὸ Περιάνδρου πρὸς Θρασύβουλον συμβούλευμά ἐστιν, ἡ τῶν ὑπερεχόντων σταχύων κόλουσις, ὡς δέον αἰεὶ τοὺς ὑπερέχοντας τῶν πολιτῶν ἀναιρεῖν“ (Aristot. pol. 1311a). Liv. 1,54,6–8 hingegen überträgt die Anekdote auf Tarquinius Superbus und dessen Sohn Sextus: rex velut deliberabundus in hortum aedium transit sequente nuntio filii; ibi inambulans tacitus summa papauerum capita dicitur baculo decussisse. […] Sexto ubi quid vellet parens quidve praeciperet tacitis ambagibus patuit, primores ciuitatis criminando alios apud populum, alios sua ipsos invidia opportunos interemit. Literatur: Die Episode ist behandelt (allerdings ohne nähere Beschäftigung mit dem Rätselmotiv) bei Hornblower (2013) 262 f. Vgl. ferner Gray (1996) 377–380. 4 Rätselhafter Traum von Kleon als Seemonster Aristoph. Vesp. 28–53, Wilson Σω.

ἀλλ’ ἐστὶν μέγα. περὶ τῆς πόλεως γάρ ἐστι, τοῦ σκάφους ὅλου.

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A Metaphorisierende Rätsel

Ξα. Σω.

Ξα. Σω. Ξα. Σω. Ξα. Σω.

Ξα. Σω. Ξα. Σω. Ξα.

Σω.

S: X: S:

X: S: X: S: X: S:

λέγε νυν ἁνύσας τι τὴν τρόπιν τοῦ πράγματος. ἔδοξέ μοι περὶ πρῶτον ὕπνον ἐν τῇ Πυκνὶ ἐκκλησιάζειν πρόβατα συγκαθήμενα, βακτηρίας ἔχοντα καὶ τριβώνια· κἄπειτα τούτοις τοῖσι προβάτοις μοὐδόκει δημηγορεῖν φάλλαινα πανδοκεύτρια, ἔχουσα φωνὴν ἐμπεπρημένης ὑός. αἰβοῖ. τί ἐστι; παῦε παῦε, μὴ λέγε· ὄζει κάκιστον τοὐνύπνιον βύρσης σαπρᾶς. εἶθ’ ἡ μιαρὰ φάλλαιν’ ἔχουσα τρυτάνην ἵστη βόειον δημόν. οἴμοι δείλαιος· τὸν δῆμον ἡμῶν βούλεται διιστάναι. ἐδόκει δέ μοι Θέωρος αὐτῆς πλησίον χαμαὶ καθῆσθαι τὴν κεφαλὴν κόρακος ἔχων. εἶτ’ Ἀλκιβιάδης εἶπε πρός με τραυλίσας, “ὁλᾷς; Θέωλος τὴν κεφαλὴν κόλακος ἔχει.” ὀρθῶς γε τοῦτ’ Ἀλκιβιάδης ἐτραύλισεν. οὔκουν ἐκεῖν’ ἀλλόκοτον, ὁ Θέωρος κόραξ γενόμενος; ἥκιστ’, ἀλλ’ ἄριστον. πῶς; ὅπως; ἄνθρωπος ὢν εἶτ’ ἐγένετ’ ἐξαίφνης κόραξ· οὔκουν ἐναργὲς τοῦτο συμβαλεῖν, ὅτι ἀρθεὶς ἀφ’ ἡμῶν ἐς κόρακας οἰχήσεται; εἶτ’ οὐκ ἐγὼ δοὺς δύ’ ὀβολὼ μισθώσομαι οὕτως ὑποκρινόμενον σοφῶς ὀνείρατα; Aber mein Traum ist bedeutungsvoll. Denn er handelt von der ganzen Stadt als Schiff. Sprich nun und erkläre die Schiffsart der Sache. Es schienen mir zu Beginn meines Schlafs sich Schafe in der Pnyx zusammenzufinden, um eine Versammlung abzuhalten, die Spazierstöcke und Mäntel hatten. Dann schien mir ein Monster, das im Stande war, sie alle zu fressen, diese anzureden, und es hatte die Stimme eines Schweins, das gebraten wird. Pfui! Was denn? Halt ein, halt ein, sprich nicht weiter! Es stinkt der Traum aufs Schlimmste nach faulem Leder. Dann schickte sich das schreckliche Ungeheuer, das eine Waage hatte, an, Oxenfett zu wiegen. Oh weh, wir Armen! Unser Volk will er aufschlitzen! Und Theoros schien mir in der Nähe des Monsters auf dem Boden zu sitzen und den Kopf eines Raben zu haben. Da sagte Alkibiades lispelnd zu mir: „Siehst du? Tholos hat den Kopf eines Laben.“

A. II Nicht-sprachliche Rätsel

X: S: X: S: X: S:

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Das hat Alkibiades ganz richtig gelispelt. Ist das nicht merkwürdig, dass Theoros zu einem Raben wurde? Ganz und gar nicht, sondern es passt ganz wunderbar. Inwiefern? Wie? Der ein Mensch war, wurde dann ganz plötzlich zum Raben. Zeigt das nicht an, dass er von hier fliehen und zu den Raben gelangen wird? Soll ich nicht den bezahlen, der so weise die Träume deutet, indem ich zwei Obolen gebe?

Form: 26 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um einen Traum mit einer metaphorischen Darstellung des in der gesamten Komödie kritisierten Kleon, der als Ungeheuer die Stadt Athen zerfetzt. Vgl. Landfester (1977) 35. 244 f. 276 f. mit Lenz (2014) 71 für die aristophanische Vorliebe, am Beginn der Komödien eine gewisse Rätselspannung aufzubauen, um die Aufnahmebereitschaft des Zuschauers zu sichern. Ferner Reckford (1977) 290 und (1987) 219 ff. zu dem Traum, Witz und Rätsel gemeinsamen Mechanismus, tiefere Bedeutungen unter einer (scheinbar) absurden Oberfläche zu verbergen. vv. 28–30: Unklar bleibt bei der Ausdeutung des Traums durch die beiden Sklaven, inwiefern die Stadt, wie eingangs erwähnt, als Schiff dargestellt wird (v. 29 σκάφος); hierzu macht auch Lenz (2014) keinerlei Angaben. Einziger Hinweis scheint zu sein, dass φάλλαινα nicht selten Meeresungeheuer bezeichnet. Dabei könnte die Zusammensetzung aus verschiedenen Bürgerschichten, die für die einzelnen Schiffsteile (etwa Ruder, Segel, Steuermann etc.) stehen, durchaus für eine Analogie genutzt werden, doch eine solche Beschreibung fehlt vollständig. vv. 31–41: Die Schafe mit Stöcken und Mänteln in der Versammlung stehen metaphorisch für die Bürger Athens; Stock und Mantel als Kleidung des attischen Kleinbürgers für offizielle Treffen nach Lenz (2014) 73 z. St. Sie sind – wie Schafe (vgl. für die antike Vorstellung von dem dummen Schaf Kratinos, PCG IV, frg. 45 K.-A.) – einerseits gutgläubig, träge und leicht zu beeinflussen, andererseits sogar Opfertiere, die sich nicht wehren können. Analog lässt sich das Monster mit der schrillen Stimme als Metapher für Kleon betrachten, der u. a. für seine Ausfälligkeiten auf der Rednertribüne und seine Lautstärke bekannt war (und aus diesem Grund mit der unschönen Stimme attribuiert ist), vgl. Aristot. Ath. pol. 28,3, wo Kleon anhand seiner beiden Haupteigenschaften als a. gefährlich für das Volk und rücksichtsloser Kriegsbeführworter und b. als rücksichtsloser Redner beschrieben wird; vgl. ferner Aristophan. Equ. 137 den Spottnamen „Schreier“ (κεκράκτης).

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A Metaphorisierende Rätsel

Die Handlung des Traum-Ungeheuers, das Abwiegen von Fett und Haut, lässt sich in diesem Zusammenhang auf den rücksichtslosen Umgang Kleons mit den Athenern im Krieg deuten: Er bemisst den Wert der Bürger pragmatisch nach ihrem Nutzen für sein Vorhaben. Hierin liegt freilich auch ein Seitenhieb auf Kleon, der seine Stellung als führender Mann Athens nicht zuletzt seiner Arbeit als Gerber und Lederhändler verdankte (Lenz (2014) 73). Ferner enthält v. 41 ein rätseltypisches, doppeltes Wortspiel mit den Begriffen δῆμος (Volk) bzw. δημός (Fett) und ἱστάναι (wiegen) bzw. διιστάναι (spalten), dessen zwei Bedeutungsebenen sich im Deutschen nicht gleichzeitig widergeben lassen: Dadurch, dass Kleon – als Gerber – den Wert der Athener im Krieg bemisst, indem er „ihr Fett wiegt“, d. h. indem er pragmatisch-rücksichtslos mit ihnen umgeht, spaltet bzw. zerrüttet er das Volk. vv. 42–51: Bei dem v. 42 erwähnten Theoros handelt es sich um einen von Aristophanes mehrfach (v. 418 f. 599 f. 1220. 1236–1242) verspotteten Diener Kleons (Lenz (2014) 73). Seine Identifikation als Rabe impliziert Folgendes: Einerseits ist hierin im Vergleich mit dem durchdringenden Krähen des Vogels erneut auf Kleons berüchtigte Lautstärke hingewiesen. Andererseits gilt der Rabe auch im antiken Griechenland als der Galgenvogel, d. h. als Aasfresser, der sich an dem Leid anderer bereichert (Lenz (2014) 75). In diesem Sinne wird hier dem mit Kleon eng verbundenen Theoros derselbe Vorwurf wie Kleon selbst gemacht. Das Wortspiel zwischen κόραξ und dem gelispelten κόλαξ pointiert diese Darstellung zusätzlich. Theodoros (und mit ihm Kleon) ist nicht nur – als Rabe – Nutznießer von fremdem Leid, er ist auch ein Schmeichler (κόλαξ). vv. 52 f.: Am Schluss der Episode lobt Sosias Xanthias für die gelungene Auslegung seines Traums, d. h. die Lösung des darin enthaltenen, auf einfachen Symbolen und Metaphern beruhenden Rätsels, welches er eingangs als besonders gewichtig (ἔστιν μέγα, v. 28) bezeichnet und damit u. U. seine schwierige Verständlichkeit gemeint hatte. Das Lob (und die scherzhaft angedeutete Bezahlung) belohnen somit Xanthias als erfolgreichen Rätsellöser. Mit der angedeuteten Bezahlung ist auf das unter den Bedrohungen des laufenden Peloponnesischen Krieges florierende Berufsfeld der Orakeldeuter, Wahrsager und Traumdeuter angespielt. A. II. 1.5 Übergang zu einer anderen Bedeutung desselben Wortes (Homonymie) 1 Rätsel vom Spinnengewebe und weitere Vorzeichen an die Thebaner Diod. 17,10, Fischer οἱ δὲ Θηβαῖοι ταῖς μὲν εὐτολμίαις προθύμως ἀνεδέχοντο τοὺς κινδύνους, φήμαις δέ τισι μάντεων καὶ θεῶν σημείοις ἠποροῦντο. πρῶτον μὲν γὰρ ἐν τῷ τῆς Δήμητρος ἱερῷ λεπτὸν

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ἀράχνης ὕφασμά τι διαπεπετασμένον ὤφθη, τὸ μὲν μέγεθος ἔχον ἱματίου, κύκλῳ δὲ περιφαῖνον ἶριν τῇ κατ’ οὐρανὸν ἐοικυῖαν. περὶ οὗ τὸ μὲν ἐν Δελφοῖς χρηστήριον ἔδωκεν αὐτοῖς τόνδε τὸν χρησμόν· σημεῖον τόδε πᾶσι θεοὶ φαίνουσι βροτοῖσι, Βοιωτοῖς δὲ μάλιστα καὶ οἳ περιναιετάουσι. τὸ δὲ πάτριον τῶν Θηβαίων μαντεῖον τοῦτον ἐξήνεγκε τὸν χρησμόν· ἱστὸς ὑφαινόμενος ἄλλῳ κακόν, ἄλλῳ ἄμεινον. τοῦτο μὲν οὖν τὸ σημεῖον ἐγένετο τρισὶ μησὶν ἀνωτέρω τῆς Ἀλεξάνδρου παρουσίας ἐπὶ τὰς Θήβας, ὑπ’ αὐτὴν δὲ τὴν ἔφοδον τοῦ βασιλέως οἱ κατὰ τὴν ἀγορὰν ἀνδριάντες ἐφάνησαν ἱδρῶτας ἀφιέντες καὶ μεστοὶ σταλαγμῶν μεγάλων. χωρὶς δὲ τούτων ἧκόν τινες τοῖς ἄρχουσιν ἀπαγγέλλοντες τὴν ἐν Ὀγχηστῷ λίμνην μυκήματι παραπλήσιον φωνὴν ἀφιέναι, τῇ δὲ Δίρκῃ κατὰ τὴν ἐπιφάνειαν τοῦ ὕδατος αἱματοειδῆ φρίκην ἐπιτρέχειν. ἕτεροι δὲ ἧκον ἐκ Δελφῶν μηνύοντες ὅτι ὁ ἀπὸ Φωκέων ναός, ὃν ἱδρύσαντο Θηβαῖοι, ᾑματωμένην ἔχων τὴν ὀροφὴν ὁρᾶται. οἱ δὲ περὶ τὴν τῶν σημείων διάκρισιν ἀσχολούμενοι σημαίνειν ἔφασαν τὸ μὲν ὕφασμα θεῶν ἀπὸ τῆς πόλεως χωρισμόν, τὸ δὲ τῆς ἴριδος χρῶμα πραγμάτων ποικίλων χειμῶνα, τὸν δὲ τῶν ἀνδριάντων ἱδρῶτα ὑπερβάλλουσαν κακοπάθειαν, τὸ δ’ ἐν πλείοσι τόποις φαινόμενον αἷμα φόνον πολὺν κατὰ τὴν πόλιν ἐσόμενον. συνεβούλευον οὖν τῶν θεῶν φανερῶς σημαινόντων τὴν ἐσομένην τῇ πόλει συμφορὰν μὴ συγκαταβαίνειν εἰς τὸ διὰ μάχης κρίνειν τὸν πόλεμον, ἑτέραν δὲ διάλυσιν ζητεῖν διὰ λόγων ἀσφαλεστέραν. οὐ μὴν οἱ Θηβαῖοί γε ταῖς ψυχαῖς ἐμαλακύνοντο, τοὐναντίον δὲ τοῖς θυμοῖς προαχθέντες ἀνεμίμνησκον ἀλλήλους τὴν ἐν Λεύκτροις εὐημερίαν καὶ τῶν ἄλλων παρατάξεων ἐν αἷς θαυμαστῶς ταῖς ἰδίαις ἀνδραγαθίαις ἀνελπίστους νίκας περιεποιήσαντο. οἱ μὲν οὖν Θηβαῖοι τοῖς παραστήμασιν ἀνδρειότερον μᾶλλον ἢ φρονιμώτερον χρησάμενοι προέπεσον εἰς πάνδημον τῆς πατρίδος ὄλεθρον· […]. Die Thebaner aber nahmen in ihrer Verwegenheit die Gefahren frohgemut auf sich, wurden aber durch Sehersprüche und Götterzeichen verunsichert. Erstens nämlich zeigte sich im Demetertempel ein zartes Spinnengewebe, das die Größe eines Himations annahm, und es schien ringsum wie ein Regenbogen am Himmel. Darüber gab ihnen das Orakel in Delphi folgenden Spruch: Dieses Zeichen geben die Götter den Menschen, am meisten den Böotiern und denen, die ringsum wohnen. Das heimische Orakel der Thebaner aber erteilte folgendes Orakel: Ein Netz ist für den einen ein Übel, für den anderen besser. Dieses Zeichen also ereignete sich, drei Monate vor der Ankunft Alexanders in Theben, als der König aber dort ankam, war zu sehen, dass aus den Standbildern auf dem Marktplatz Schweiß austrat und sie ganz von großen Tropfen bedeckt waren. Zusätzlich dazu meldeten einigen den Oberen, der Sumpf bei Onchestos brülle beinahe wie mit einer echten Stimme, im Fluss Dirke aber laufe ein blutiges Kräuseln über das Wasser. Andere aber kamen aus Delphi und berichteten, der Tempel, den die Thebaner aus der phokischen Beute errichtet hatten, scheine Blutspritzer auf seinem Dach zu haben. Die aber, die sich um die Auslegung der Orakel kümmerten, sagten, das Netz sei ein Zeichen dafür, dass die Götter die Stadt verließen, die Regenbogenfarben stünden für verschiedene schreckliche Dinge, der Schweiß der Statuen symbolisiere eine schlimme Katastrophe und das an verschiedenen Orten auftretende Blut stehe für das Morden, das über die ganze Stadt

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A Metaphorisierende Rätsel

kommen werde. Sie rieten also, weil die Götter den Untergang der Stadt so deutlich anzeigten, nicht danach zu trachten, den Krieg durch einen Kampf zu entscheiden, sondern eine weniger gefährliche, vernünftige Lösung zu suchen. Die Thebaner aber gaben in ihrem Sinn nicht nach, sondern waren von ihrem Mut mitgerissen und erinnerten einander an den Sieg bei Leuktra und an andere Schlachten, in denen sie erstaunlicherweise durch gewisse Heldentaten unerwartete Siege erringen konnten. So gaben also die Thebaner sich eher tapfer als klug ihrem Antrieb hin und stürzten kopfüber in den Untergang ihrer Heimat.

Form: 3 Hexameter (mit Prosadeutung und Paraphrase weiterer Vorzeichen) Kontext: Theben erhält verschiedene schlechte Vorzeichen vor dem Anrücken Alexanders des Großen (335 v. Chr.). Erklärung: Das große regenbogenfarbene Spinnennetz im Demeterheiligtum der Stadt bildet gewissermaßen eine Einheit mit den beiden es betreffenden Orakeln, von denen jenes aus Delphi das Netz als σημεῖον deklariert und es auf diese Weise als Rätsel bzw. Symbol zu erkennen gibt, um so auf den notwendigen Deutungsschluss von der Bildebene auf eine verborgene Bedeutungsebene hinzuweisen. Das zweite Orakel (aus Theben) gibt einen Hinweis auf die Ungewissheit des Ausgangs einer Auseinandersetzung; vgl. das Orakel von der Zerstörung eines großen Reiches an Kroisos (Hdt. 1,53), welches dem hier vorliegenden in seiner Grundaussage ähnelt. Dieses zweite Orakel weist nun auch direkt auf die symbolischen Implikationen des Netzes hin, denn ein Netz bedeutet (a) einen Nachteil bzw. Leid für den darin Gefangenen und (b) einen Vorteil für den Fangenden. In dem Netz und dem zugehörigen Spruch liegt somit die Warnung an die Thebaner, dass ungewiss ist, welche der beiden Rollen sie in einem Kampf einnehmen würden. Das Netzt ähnelt also mit seinen zwei Facetten dem, was im sprachlichen Bereich ein Homonym wäre: Beide Deutungen liegen gleichermaßen in ihm, welche sich bewahrheitet, wird erst der Verlauf der Dinge zeigen. Die Orakeldeuter hingegen sehen das Spinnennetz laut Diodor konkreter als Zeichen dafür, dass die Götter die Stadt verlassen, d. h. im Stich lassen, und seine bunter Färbung als Symbol für einen Sturm bunter, d. h. verschiedenartiger Leiden. Als der Kampf mit den Truppen Alexanders näher rückt, erhalten die Thebaner zudem weitere Vorzeichen, die je für sich und besonders zusammengenommen einen unmissverständlichen Hinweis auf das bevorstehende Unglück geben (ähnliche Elemente, Konkretisierung: spezifische Beispiele für das bevorstehende (allgemeine) Leid): 1. Die schwitzenden Statuen auf dem Marktplatz als allgemeines Zeichen für eine Katastrophe

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2. Ein (offenbar vor Schmerz o. ä.) brüllender Sumpf bei Onchestos 3. Blut im Fluss Dirke 4. Blut auf dem Dach des thebanischen Tempels in Delphi. Neben den schwitzenden Statuen als allgemein bekanntem Topos für bevorstehendes Unheil bringt so auch die Natur selbst auf unterschiedliche Weise Zeichen für das kommende Blutbad hervor. Die Thebaner als Rätsellöser: Die Orakel- und Zeichendeuter unter den Thebanern (οἱ δὲ περὶ τὴν τῶν σημείων διάκρασιν ἀσχολούμενοι) erkennen, dass die Götter Theben von einer Schlacht gegen Alexander abraten bzw. den Untergang Thebens im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung vorhersehen. Die Thebaner jedoch lassen sich weder von diesem Rat noch von den sich häufenden Vorzeichen, deren grundlegende Botschaft kaum misszuverstehen ist, selbst wenn die einzelnen Zeichen nicht voll dechiffriert werden, überzeugen und ziehen trotz allem in die Schlacht; vgl. bes. die schwitzenden Statuen, die geradezu als standardisierter Hinweis auf bevorstehendes Unheil hinweisen (so etwa auch bei Verg. georg. 1,480; Verg. Aen. 2,173 f.; Lucan. 1,556 f.). Alexander bleibt siegreich und Theben wird – gleichsam als Strafe für die unverstandenen Rätselzeichen – zerstört. Der Charakter der Thebaner, den Diodor als verwegen und hochmütig beschreibt (εὐτολμίας προθύμως ἀνεδέχοντο τοὺς κινδύνους (17,10,2) … τοῖς θυμοῖς προαχθέντες (17,10,6) ... ἀνδρειότερον μᾶλλον ἢ φρονιμώτερον (17.10.6)), gibt ein Zeichen für ihr unkritisches, hybrisanfälliges Handeln und beeinflusst ihre Fähigkeit als Rätsellöser entsprechend nachteilig. Die Konstellation verdeutlich, dass ein Rätsel nur von demjenigen wirkungsvoll gelöst werden kann, dem es gestellt wird, und dass zwischen sozialen Rollen und den Rollen von Rätselsteller und Rätsellöser nicht selten eine gewisse Verschränkung eintritt, vgl. die Rätselgaben der Skythen (Hdt. 4,131–135), deren Lösung nur Dareios als König vorbringen kann, weil nur er die Wirkmacht besitzt, entsprechend der Rätsellösung zu handeln. Die richtige Lösung durch seinen Berater Gobryas bleibt dabei unbeachtet. So hat es auch hier keine Bedeutung, dass die Berater die Wahrheit erkennen, weil die Machthaber nicht gemäß dieser Erkenntnis handeln.

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A Metaphorisierende Rätsel

A. II. 2 Ersetzung durch ein willkürliches Element 1 Rätselgaben der Skythen an Dareios Hdt. 4,131 f. (Kontext 4,131–135), Wilson πολλάκις δὲ τοιούτου γενομένου τέλος Δαρεῖός τε ἐν ἀπορίῃσι εἴχετο καὶ οἱ Σκυθέων βασιλέες μαθόντες τοῦτο ἀπορίῃσι εἴχετο ἔπεμπον κήρυκα δῶρα Δαρείῳ φέροντα ὄρνιθά τε καὶ μῦν καὶ βάτραχον καὶ ὀϊστοὺς πέντε. Πέρσαι δὲ τὸν φέροντα τὰ δῶρα ἐπειρώτεον τὸν νόον τῶν διδομένων· ὁ δὲ οὐδὲν ἔφη οἱ ἐπεστάλθαι ἄλλο ἢ δόντα τὴν ταχίστην ἀπαλλάσσεσθαι· αὐτοὺς δὲ τοὺς Πέρσας ἐκέλευε, εἰ σοφοί εἰσι, γνῶναι τὸ θέλει τὰ δῶρα λέγειν. ταῦτα ἀκούσαντες οἱ Πέρσαι ἐβουλεύοντο. Δαρείου μέν νυν ἡ γνώμη ἦν Σκύθας ἑωυτῷ διδόναι σφέας τε αὐτοὺς καὶ γῆν τε καὶ ὕδωρ, εἰκάζων τῇδε, ὡς μῦς μὲν ἐν γῇ γίνεται καρπὸν τὸν αὐτὸν ἀνθρώπῳ σιτεόμενος, βάτραχος δὲ ἐν ὕδατι, ὄρνις δὲ μάλιστα οἶκε ἵππῳ, τοὺς δὲ ὀϊστοὺς ὡς τὴν ἑωυτῶν ἀλκὴν παραδιδοῦσι. αὕτη μὲν Δαρείῳ ἀπεδέδεκτο ἡ γνώμη, συνεστήκεε δὲ ταύτῃ τῇ γνώμῃ ἡ Γωβρύεω, τῶν ἀνδρῶν τῶν ἑπτὰ ἑνὸς τῶν τὸν μάγον κατελόντων, εἰκάζοντος τὰ δῶρα λέγειν· Ἢν μὴ ὄρνιθες γενόμενοι ἀναπτῆσθε ἐς τὸν οὐρανόν, ὦ Πέρσαι, ἢ μύες γενόμενοι κατὰ τῆς γῆς καταδύητε, ἢ βάτραχοι γενόμενοι ἐς τὰς λίμνας ἐσπηδήσητε, οὐκ ἀπονοστήσετε ὀπίσω ὑπὸ τῶνδε τῶν τοξευμάτων βαλλόμενοι. Πέρσαι μὲν δὴ τὰ δῶρα εἴκαζον […]. Nachdem dies oft geschehen war, geriet schließlich Dareios in Not und die Könige der Skythen, die von seiner Notlage wussten, schickten einen Herold, der Dareios Gaben überbrachte, und zwar einen Vogel, eine Maus, einen Frosch und fünf Pfeile. Die Perser aber fragten den Überbringer nach dem Sinn der Gaben. Der aber antwortete, er habe keine andere Aufgabe, als die Gaben zu überbringen und schnellstmöglich zurückzukehren. Er befahl den Persern, wenn sie weise (genug) seien, denn Sinn der Gaben selbst zu ergründen. Als sie das gehört hatten, berieten sich die Perser. Dareios war nun der Ansicht, die Skythen ergäben sich ihm und überbrächten ihm als Zeichen dafür Erde und Wasser, denn die Maus lebe in der Erde und esse das Getreide wie der Mensch, der Frosch lebe aber im Wasser, der Vogel sei dem Pferd ganz ähnlich und mit den Pfeilen übergäben sie ihm ihre Kampfesmacht. Diese Ansicht hatte Dareios, doch Gobryas, einer der Sieben, die den Mager gestürzt hatten, widersprach dieser Meinung und erklärt die Gaben, indem er sagte: „Wenn ihr nicht zu Vögeln werdet und in den Himmel fliegt, Perser, oder, zu Mäusen geworden, euch in die Erde verkriecht, oder als Frösche in die Sümpfe springt, so werdet ihr von diese Pfeilen getroffen und seht die Heimat nicht wieder.“ Die Perser also versuchten die Gaben zu entschlüsseln […].

Form: Prosa Kontext: Die Skythen wenden im Kampf gegen die Perser eine ihrer Nomaden-Natur entsprechende Taktik an. Sie ziehen von Ort zu Ort, ohne dezidiert vor den Feinden zu fliehen, welche ihrer jedoch auf diese Weise nicht habhaft zu werden vermögen. Durch diese Verzögerung einer Gegenüberstellung gerät das Perserheer unter Dareios in (Versorgungs-)Not. Als sie an ihre Grenzen gebracht und dadurch geschwächt sind, lässt der Skythenkönig Idanthuras seinen Gegnern durch einen Boten jene δῶρα zukommen.

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Erklärung: Dass die Rätselhaftigkeit der überbrachten δῶρα gerade in ihrer Nicht-Sprachlichkeit liegt, ist von Herodot ausdrücklich gesagt. Die Perser wissen den Sinn der Gaben nicht zu deuten und fragen deshalb den Überbringer (ἐπειρώτεον τὸν νόον). Dieser jedoch hält sich an seinen Auftrag, die Gaben ohne Erklärung zu überbringen, und appelliert – wie in einem Rätsel üblich – an den Verstand der Perser zur Deutung derselben. Und auch dass eine solche Deutung nötig ist, dass die Gaben also symbolisch sind, verrät seine Antwort: „οὐδὲν ἔφη οἱ ἐπεστάλθαι ἄλλο ἢ δόντα τὴν ταχίστην ἀπαλλάσσεσθαι· αὐτοὺς δὲ τοὺς Πέρσας ἐκέλευε, εἰ σοφοί εἰσι, γνῶναι τὸ θέλει τὰ δῶρα λέγειν“ (4,131). Als Lösungsversuche stehen einander zwei Konzepte gegenüber: 1. Dareios hält die δῶρα für Geschenke, für freundliche Gaben im engeren Sinne des Wortes. Er glaubt daran, dass die Skythen sich ihm (wie 4,126 f. gefordert) ergeben und ihm als Zeichen ihrer vollständigen Unterwerfung ein Sinnbild für Erde und Wasser (γῆς καὶ ὕδωρ) überbringen. Die Maus (μῦς) stehe dabei pars pro toto für die Erde, in der sie lebe, so wie der Frosch (βάτραχος) für das Wasser. Den Vogel (ὄρνις) deutet Dareios, vielleicht auf der Grundlage der Schnelligkeit beider Tiere, als Stellvertreter für das Pferd, das wiederum für die berittenen Skythen steht. Die übergebenen Pfeile (οἰστοί) vervollständigen in dieser Interpretation das Bild und bedeuten, dass die Skythen den Persern auch ihre Waffen übergeben, bzw. diese in ihren Dienst stellen. Obwohl die Erklärung des Rätsels in sich stimmig erscheint, gibt es kleinere Kritikpunkte. So scheint einerseits die Richtigkeit der Grundannahme, dass Erde und Wasser, ihrerseits ja bereits Symbole für die Gesamtheit eines Herrschaftsbereiches, zusätzlich, gleichsam auf einer zweiten Symbolebene, verschlüsselt sein sollen, fragwürdig. Andererseits lässt sich diese Kritik auch im Detail anbringen: Insbesondere die (unerklärte) Identifikation von Vogel und Pferd erscheint fragwürdig, zumal das Pferd selbst noch als Symbol für die (berittenen) Skythen zu stehen hätte, womit, was in Wahrheit nicht zu erwarten ist, ein uneinheitliches Abbildungsprinzip vorläge (vgl. Asheri/Lloyd/Corcella (2007) 665 z. St). Neben der für die übrigen Gaben geltenden einfachen Symbolrelation stünde hier eine doppelte oder gestaffelte Symbolkette (Vogel – Pferd – Skythen). 2. Der Berater Gobryas hingegen erkennt den ironisch-euphemistischen Ton der δῶρα und dadurch ihren metaphorischen bzw. symbolischen Gebrauch (Asheri/Lloyd/Corcella (2007) 665; vgl. zur Figur des Gobryas einführend auch Wiesehöfer (1998). Die gewöhnlich positiv konnotierten δῶρα stehen hier im weiteren Sinne des Wortes als neutrale bzw. sogar negativ gefärbte Ableitung von δίδωμι. Der Bote übergibt etwas, das Unheil verheißt. Die

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zweite Deutung ist der ersten damit vollkommen entgegengesetzt. Gobryas fasst die Gaben als Drohung auf. Vogel, Maus und Frosch seien die Einzigen, die sich in ihre entlegenen Verstecke zurückziehen und vor den Pfeilen der Skythen schützen könnten. Sofern es den Persern nicht gelänge, es diesen Tieren gleichzutun und Zuflucht in der Luft, in der tiefen Erde oder unter Wasser zu suchen, d. h. unter keinen Umständen, entgehen sie dem Angriff der Perser. In dieser pseudo-konditionalen Vertauschung der Lebensräume liegt eine bildhafte Beschreibung der vollkommenen Unmöglichkeit eines Sieges der Perser; zum tatsächlichen Ausgang der Auseinandersetzung s. u. Vgl. für eine ganz ähnliche Beschreibung der Unmöglichkeit durch den Korinther Soklees, der sich gegen die Einführung der Tyrannis außerhalb von Sparta ausspricht (Hdt. 5,92): Ἦ δὴ ὅ τε οὐρανὸς ἔνερθε ἔσται τῆς γῆς καὶ ἡ γῆ μετέωρος ὑπὲρ τοῦ οὐρανοῦ, καὶ ἄνθρωποι νομὸν ἐν θαλάσσῃ ἕξουσι καὶ ἰχθύες τὸν πρότερον ἄνθρωποι, ὅτε γε ὑμεῖς, ὦ Λακεδαιμόνιοι, ἰσοκρατίας καταλύοντες τυραννίδας ἐς τὰς πόλις κατάγειν παρασκευάζεσθε.

Die Skythen als Rätselsteller: Da die Skythen aus griechischer Sicht zu den Barbaren zählen, die – insbesondere aufgrund ihrer mangelnden Kompetenz in der griechischen Sprache – kaum mit zivilisierten Eigenschaften wie Bildung, Einsicht oder Klugheit verbunden werden, wirkt die vorliegende Konstellation, in der sie, oder doch ihr König, als Rätselsteller auftreten, ungewöhnlich; vgl. zu der antiken Wahrnehmung der Skythen allgemein auch Rolle/von Bredow (2001). Als Nomadenvolk verfügen sie jedoch über eine Lebensform, die in mancherlei Hinsicht als überlegen anerkannt war. Die besondere Art ihrer Lebensführung, die ohne feste Häuser, ohne Mauern und anderen institutionalisierten Schutz auskommt, deren Grundlage nicht auf der ortsgebundenen Landwirtschaft, sondern auf mobiler Viehzucht beruht, macht die Skythen äußerst anpassungsfähig. Aus diesen Eigenschaften leitet sich Herodots Urteil über sie ab, die Skythen könnten sich selbst jedem Feind entziehen, während sie niemanden entkommen ließen, den sie einmal verfolgten (Hdt. 4,46). In dieser Unbesiegbarkeit lässt sich eine gewisse Fertigkeit erkennen, die sich, wofern der Weisheitsbegriff auf derlei pragmatische Fähigkeiten ausgedehnt werden soll, auch als spezifische Weisheit bezeichnen ließe, vgl. Asheri/Llloyd/Corcella (2007) 663, wo das Nomadentum der Skythen bezogen auf die Auseinandersetzung mit Dareios als „intelligent strategic move“ ausgewiesen wird; ferner Schubert (2010) 43. 45. 94. 107. 116. 146. 180. Die Skythen verfügen über das im Kontext der (Rätsel-)Auseinandersetzung mit den Persern nützliche Wissen. Sie sind mit dem Land vertraut, nicht an einen bestimmten Ort gebunden, müssen

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keine Städte und andere Habseligkeiten verteidigen. Mit der Übergabe der δῶρα, welche den überheblichen Perserkönig in Sicherheit wiegen und ihn deshalb trotz der Unterversorgung seines Heeres nicht zur Eile treiben, trachten sie danach, den Persern einen schnellen Rückzug über den Ister unmöglich und so ihre eigenen Stärken nutzbar zu machen; vgl. zur Brücke über den Ister, die von Ioniern bewacht und nach 60 Tagen abgebrochen werden soll, Hdt. 4,97 f. 136–142. Die Skythen treten somit in diesem ganz speziellen Zusammenhang nachvollziehbarerweise als vermögende Rätselsteller auf, denn von Wert ist in ihrer Auseinandersetzung mit Dareios insbesondere ihre Lebenskunst, deren Potential sie durch das Rätsel zur Entfaltung zu bringen suchen. Dass sie im Allgemeinen gute Rätselsteller oder gar erfolgreiche Rätsellöser abgäben, ist damit nicht gesagt. Vielmehr zeigt sich, dass sie beispielsweise die Täuschung der Perser bei deren Rückzug nicht durchschauen (4,135); vgl. jedoch den als prototypisch geltenden Skythen Anacharsis, der zu dem berüchtigten Kreis der Sieben Weisen zählte und auch sonst für seine Weisheit bekannt war, Hdt. 4,76; ferner Schubert (2010) 40 f., auch der Vergleich mit dem ägyptischen Weisen Amasis (44), ferner im Wettkampf der Sieben Weisen (80), dann auch ibid. 140–145. 183; die Skythen als weisestes Volk nach den Ägyptern bei Hdt. 2,160. Die nonverbale Kommunikationsform haben die Skythen für ihr Rätsel jedoch nicht allein deshalb gewählt, weil dies ihrer barbarischen Nomadennatur besonders entspräche; so West (1988) 207–211; Merkelbach (1975) 203–207; Lateiner (1987) 83–107; Asheri/Lloyd/Corcella (2007) 665. Vielmehr liegt in ihr die direkte Täuschungsabsicht: Eine offen formulierte Drohung verfolgt in der Regel den Zweck, einen Gegner einzuschüchtern. Die Nicht-Sprachlichkeit der Rätselgaben dagegen zwingt die Perser zum Nachdenken und lässt einen gewissen Interpretationsspielraum offen, wodurch erst die Fehlinterpretation des Dareios ermöglicht wird. Damit haben die Skythen sich erstens eine moralisch annehmbare Position angeeignet – eine Warnung haben sie immerhin ausgesprochen – und zweitens ihren Gegner in Sicherheit gewiegt und dessen Überheblichkeit ausgenutzt. Diese Taktik, die eine Verzögerung der weiteren Ereignisse bewirkt, ist für die Skythen von essentieller Bedeutung: Sofern die Perser nicht binnen einer Frist von 60 Tagen an die von den Ioniern bewachte Brücke über den Ister, die einen reibungslosen Rückzug ermöglichen soll, zurückkehren, verlassen die Wachen gemäß ihrer Absprache mit Dareios ihre Posten. Das gäbe den Skythen die Möglichkeit, ihre besondere Fertigkeit in der Verfolgung von Feinden zum Einsatz zu bringen. Das Rätsel soll seinen erfolglosen Löser somit gleichsam in eine doppelte Falle locken: Erstens würde es die Überlegenheit der Rätselsteller ganz faktisch ausbauen, indem es den Skythen erlaubte, auf ihre bisher unbesiegte Kriegstaktik zurückzugreifen. Zweitens steht der psychologische Aspekt

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bei der späten Aufdeckung der korrekten Rätsellösung zu bedenken: Nicht nur wäre Dareios mit seinen Persern in eine ausweglose Situation geraten, sondern er stünde zusätzlich in dem Bewusstsein, dies durch seine Fehlinterpretation der Rätselgaben selbst verschuldet zu haben. Dareios als Rätsellöser: Die Übergabe der δῶρα wird bereits im Vorfeld der hier zitierten Kernpassage angekündigt. Nachdem Dareios voller Ungeduld aufgrund der ergebnislosen Verfolgung der Skythen deren vollkommene Unterwerfung in Form einer Übertragung ihres Herrschaftsgebietes zu Lande und zu Wasser forderte (4,126), deutet der Skythenkönig Idanthyrsos in seiner Antwort die Übersendung anderer Geschenke (als Erde und Wasser) an, welche Dareios seiner Ansicht nach eher gebühren (τοιαῦτα οἷα σοὶ πρέπει ἐλθεῖν, 4,127); vgl. hierzu auch die „pointierte“ Ermordung persischer Gesandter in Athen und Sparta, die die Forderung nach „Erde und Wasser“ verkünden sollen, durch Herabstürzen von einem Felsen (Erde) und Hinabwerfen in einen Brunnen (Wasser), von wo den Herolden die Beschaffung der geforderten Gaben (ironisch) gestattet wurde (ἐκέλευον γῆν τε καὶ ὕδωρ ἐκ τούτων φέρειν παρὰ βασιλέα, Hdt. 7,133). Dass die Ankündigung des Skythenkönigs keine ehrfurchtsvolle Schmeichelei sein kann, lässt der drohende Nachsatz erahnen, welcher den Persern ein übles Geschick verheißt (ὅτι δεσπότης ἔφησας εἶναι ἐμός, κλαίειν λέγω, 4,127). Diesen Hinweis scheint jedoch Dareios in seiner Hybris nicht zu erkennen oder jedenfalls, als die Gaben schließlich überreicht werden, nicht mit diesen in Verbindung zu bringen. Er ist der getäuschte Rätsellöser, der sich bei seiner Suche nach der Lösung an bestimmten fälschlicherweise selbst konstruierten Voraussetzungen orientiert, sodass er die überreichten Gaben in einem ganz verkehrten semantischen Raum – dem der von ihm geforderten Unterwerfung – zu erklären sucht. Der hochmütige Charakter des Rätsellösers („unfounded confidence“, Asheri/Lloyd/Corcella (2007) 665) verhindert dabei die Erkenntnis der Ironie, des Spottes und der Drohung, die in der Antwort des Skythenkönigs liegen; obwohl Dareios grundsätzlich (bes. auch im Vergleich mit Xerxes) als besonnener Herrscher gilt, vgl. z. B. die durchgehend positive Darstellung in den Persern des Aischylos; die geschickte Verwaltung des Perserreiches betont auch Herodot. Das Verschlüsselungsprinzip des Bilderrätsels beruht somit gewissermaßen auf dem Prinzip der enttäuschten Erwartung, es nutzt die persönliche Veranlagung des Rätsellösers aus und verstärkt dessen genuine Tendenz zur Selbstüberschätzung. Selbst die von Gobryas explizit genannte richtige Lösung des Rätsels, die zu der drohenden Ankündigung (4,127) passt, vermag nicht, Dareios die Augen zu öffnen. Erst als Dareios einen Hasen in den Reihen der Skythen herumlaufen und deren ausgelassene Reaktion darauf sieht, in der, wie auch in den Rätselgaben

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selbst, Spott und Verachtung gegenüber den Persern liegt, kommt er wieder zu sich, erkennt seine Missdeutung und den wahren Sinn der Auslegung der Rätselgaben durch Gobryas. Der Spott scheint darin zu liegen, dass die Skythen all ihre Aufmerksamkeit auf die Jagd des (unbedeutenden) Hasen richten, anstatt sich furchtsam auf eine Unterwerfung vorzubereiten oder sich gegen die Perser zu wappnen. Sie nehmen ihren Feind nicht ernst, weil sie sich – in dem Wissen, dass die mit den Ionern ausgehandelte Brücken-Frist ablaufen wird, bevor die Perser sich zurückziehen können, und sich so ihre eigene Unbesiegbarkeit in der Verfolgung entfalten kann – ihrer Überlegenheit gewiss sind. Gobryas als Berater: Gobryas, der sich bereits in anderen Zusammenhängen als treuer Gefolgsmann des Dareios und als kluger Pragmatiker erwiesen hat (vgl. Hdt. 3,70–73. 78), ist von der gefährlichen Selbstüberschätzung des Dareios nicht betroffen. Er deutet von Anfang an die Zeichen richtig. Da jedoch nur der König als Rätsellöser auftreten kann, d. h. nur seine Antwort den Sinn des Rätsels löst oder verfehlt, weil nur seine Position als König über die Wirkmacht verfügt, eine entsprechende Handlung der Perser einzuleiten, bleibt die (theoretisch) korrekte Lösung des Rätsels (zunächst) ungehört, d. h. ohne Folge. So existiert zwar das zur korrekten Lösung notwendige Wissen in der von dem Rätsel betroffenen Gruppe der Perser, doch die offiziell abgegebene Lösung des Dareios ist falsch. Da ihm, noch bevor tatsächliche Schäden aus seinem Fehler entstehen, die wahre Erkenntnis zuteil wird und er seinen Fehler bekennt, ist das Rätsel gleichsam in zweiter Instanz gelöst (vgl. Aheri/Lloyd/Corcella (2007) 666). Eine tatsächliche Überlegenheit erwächst hieraus jedoch gegenüber den Rätselstellern nicht, die Perser sind vielmehr in die Defensive gedrängt und zur Flucht gezwungen, das Ergebnis des gesamten Feldzuges bleibt erfolglos. Intertextuelle Verweise: Clem. Al. strom. 5,8,44,2–4 mit einer Zusammenfassung der Episode, wobei die Auslegungen von den Gefolgsleuten Orontopates (vgl. Wiesehöfer (2000)) und Xiphodres stammen; so auch bei Pherekyd. FGrH 3 F 174 Jacoby, der die Anzahl der Pfeile auf einen reduziert und den Geschenken einen Pflug hinzufügt; vgl. zum Verhältnis der unterschiedlichen Versionen Momigliano (1932) 346–351; West (1988) 210 f. Nach Ktesias, FGrH 688 F 13,21 Jacoby tauschen Dareios und Idanthyrsos ihre Bogen aus, wobei der des Skythenkönigs sich als der größere erweist. Nach Phylarchos, FGrH 81 F 1 Jacoby, der explizit auf die hier besprochene Herodot-Stelle Bezug nimmt (dabei jedoch die Maus unter den δῶρα unterschlägt), fand ein vergleichbarer Austausch von Rätselgaben während des Chre-

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A Metaphorisierende Rätsel

monidischen Krieges (267–261) zwischen den Königen Ptolemaios II. Philadelphus (bzw. dessen General Patroklos) und Antigonos Gonatas statt: οἶδα δὲ καὶ Φύλαρχον εἰρηκότα που περὶ μεγάλων ἰχθύων καὶ τῶν συμπεμφθέντων αὐτοῖς σύκων χλωρῶν, ὅτι αἰνιττόμενος Πάτροκλος ὁ Πτολαμαίου στρατηγὸς Ἀντιγόνωι τῶι βασιλεῖ ἔπεμπεν, ὡς Δαρείωι Σκύθαι ἐπερχομένωι αὐτῶν τῆι χώραι Ich weiß aber, dass Phylarchos irgendwo von großen Fischen handelt und von den zusammen damit geschickten grünen Feigen, denn er sagt, dass Ptolemaios’ General Patroklos diese als Rätsel (αἰνιττόμενος) an den König Antigonos schickte, ebenso wie die Skythen Dareios etwas schickten, als er in ihr Land eindrang.

Literatur: Vgl. zu den realhistorischen Hintergründen von Dareios’ Skythen-Feldzug Gardiner-Garden (1987) 326–350.

A. III Metasprachliche Rätsel 1 Rätsel von Aias Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 734 Walz); S 47. O 195 Γῆς ἔθανε καταδέσμου ὅτ’ ἀγγείων ἀφάμαρτεν· ἀντὶ τοῦ, Αἴας ὁ Τελαμῶνος ἐτελεύτησεν, ὅτε τῶν ὅπλων ἀπέτυχε. γῆς γὰρ Αἴας γίνεται, δεσμοῦ Τελαμῶνος, ἀγγείων δὲ τῶν ὅπλων· […]. Der Erde des Knotens starb, weil er die Waffen verlor. Anstelle von: Aias der Telamonier kam zu Tode, weil er die Waffen verlor. Γῆς steht nämlich für Αἴας, δεσμοῦ für Τελαμῶνος, ἀγγείων für ὅπλων.

Form: Prosa Erklärung: Im Kern des von Tryphon hier u. U. nur paraphrasiert wiedergegebenen Rätsels steht ein Spiel mit Synonymen und die Vertauschung von Eigennamen mit gleichlautenden bedeutungstragenden Begriffen, das zu einer scheinbar sowohl inhaltlich als auch grammatikalisch vollkommen sinnlosen Aussage führt. 1. Die Formen γῆς (von γῆ), γαῖας (von γαῖα) und αἴας (ep. für γαῖας) sind gleichbedeutend. Letztere wiederum ist homonym mit dem Personennamen Αἴας. Auf diese Weise wandelt sich der scheinbar problematische Genitiv (γῆς) in den Nominativ dieses Namens. Auflösung: γῆς → γαῖας → αἴας → Αἰας. 2. Auch die Genitive καταδέσμου (Fessel) und τελαμῶνος (Gürtel, Lederriemen) sind annähernd gleichbedeutend. Letzterer ist gleichbedeutend mit dem Genitiv der Stadt Τελαμών. Auflösung: καταδέσμου → τελαμῶνος → Τελαμῶνος.

A. III Metasprachliche Rätsel

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3. Nach der Erklärung bei Tryphon stehen die Gefäße (ἀγγεία) für die Waffen (ὅπλα) des toten Achill, die Aias im Wettkampf mit Odysseus verliert. Worauf diese Zuordnung beruht, bleibt dabei offen. ἔτυχε erschwert das Verständnis eventuell zusätzlich durch, dass nicht spezifiziert ist, welche Waffen verloren werden. Mit dem Tod als Folge ließe sich prinzipiell auch an den Verlust der eigenen Waffen im Kampf denken, welcher zum Tode führt. Tatsächlich bezieht sich ἔθανε jedoch auf den Freitod des Aias, nachdem er im Kampf um die Waffen Achills unterlegen war. Intertextuelle Verweise: Vgl. AP XIV das Rätsel vom ἀνὴρ Διομήδης, wo andersherum der Name Αἴας für den homonymen Genitiv von γῆ (γῆς) steht.

2 Rätsel von dem Kentaur Cheiron Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 733 f. Walz); S 46. O 194 Ἥσσων ἀλγήσας παῖδα τὸν ἐκ Θέτιδος ἀνέθρεψε· ἥσσων γὰρ ὁ χείρων, ἀλγήσας πονήσας· ἐστὶ δὲ ὅτι Χείρων ὁ Κένταυρος ἐξέθρεψε τὸν Ἀχιλλέα· […]. Der Kleinere zog unter Schmerzen den Sohn der Thetis auf; ἥσσων steht nämlich für χείρων, ἀλγήσας für πονήσας.

Form: Prosa (Paraphrase) Erklärung: Im Kern des von Tryphon hier u. U. nur paraphrasiert wiedergegebenen Rätsels steht ein Spiel mit Synonymen und die Vertauschung von Eigennamen mit gleichlautenden bedeutungstragenden Begriffen, das zu einer inhaltlich scheinbar vollkommen sinnlosen Aussage führt. 1. ἥσσων und χείρων sind (wenigstens teilweise) synonym. Das Adjektiv χείρων und der Personenname Χείρων wiederum sind die beiden Seiten eines Homonyms. Die Auflösung verläuft hier also über zwei Instanzen: ἥσσων → χείρων → Χείρων. 2. ἀλγήσας und πονήσας sind synonym. Das Simplex πονεῖν und das Kompositum ἐκπονεῖν wiederum überschneiden sich in ihren Bedeutungen zumindest soweit, dass sie sich miteinander identifizieren lassen, sodass sich ihre Bedeutungen gewissermaßen addieren. Auch hier verläuft die Auflösung über zwei Instanzen: ἀλγήσας → πονήσας → ἐκπονήσας = erziehend. ἀλγλησας bildet auf diese Weise mit dem folgenden ἀνέτρεψε geradezu ein Hendiadyoin. 3. Achill selbst ist als ὁ ἐκ Θέτιδος im Hinblick auf seine Abstammung umschrieben.

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A Metaphorisierende Rätsel

Lösung: Der Kentaur Cheiron zog Achill, den Sohn der Thetis auf, und unterrichtete ihn.

3 Rätsel vom Furz Kallias nach Athen. X 454a5 κύω γάρ, ὦ γυναῖκες. ἀλλ’ αἰδοῖ, φίλαι, ἐν γράμμασι σφῷν τοὔνομ’ ἐξερῶ βρέφους. ὀρθὴ μακρὰ γραμμή ’στιν· ἐκ δὲ αὐτῆς μέσης μικρὰ παρεστῶσ’ ἑκατέρωθεν ὑπτία. ἔπειτα κύκλος πόδας ἔχων βραχεῖς δύο. Ich gehe nämlich schwanger, ihr Frauen, doch aus Scham, meine Freundinnen, werde ich den Namen meiner Brut nur in Buchstaben umschreiben. Ein gerader, großer Strich ist es; aus dessen Mitte aber steht nach jeder Seite ein kleiner gebogener Strich heraus. Dann kommt ein Kreis, der zwei kurze Füße besitzt.

Form: Prosa Erklärung: Das Rätsel verbindet eine metaphorisch-inhaltliche Beschreibung mit metasprachlich-formalen Lösungshinweisen. So kann das Verb κύειν (eigentlich „schwanger sein“) im metaphorisch-verallgemeinerten Sinne in der Bedeutung „etwas im Bauch (bzw. richtiger: im Darm) haben“ stehen. Ganz in diesem Sinne steht auch βρέφος (eigentlich der Foetus bzw. das Neugeborene) als verallgemeinernde Metapher für „etwas, das aus dem Bauch einer Frau hervorgebracht wird“. Es handelt sich in diesem Sinne um ein Verwandtschaftsrätsel. Dass mit ὄνομα von einem (Personen-)Namen gesprochen wird, unterstützt die Verschleierung durch eine irreführende Personifikation bzw. Vermenschlichung des Rätselobjekts. Die Scham (αἰδώς) der Sprecherin hingegen gibt einen echten Hinweis auf die Anstößigkeit des gesuchten Objekts: Die angekündigte Umschreibung der Buchstabenform unterstreicht diese Vermutung. Die umschriebenen Majuskeln ΨΩ bilden den Anfang des Wortes ψώ-α (entweichende Darmblähung), dessen Ergänzung der Rezipient eigenständig erschließen muss.

5 Weil Athenaios an der betreffenden Stelle Kallias nicht direkt als Autor erwähnt, ist die Zuschreibung ungewiss, es ist denn auch das Rätsel nicht als Fragment von Kassel-Austin aufgenommen. Athenaios scheint sich jedoch auf X 453c rückzubeziehen, wo Kallias direkt als Autor (der Buchstabentragödie) genannt ist.

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Literatur: Nach Gulick (1930) 559, Anm. b z. St. ist das umschriebene ΨΩ zu ΨΩΑ (Furz) zu ergänzen; so auch Olson (2009) 174, Anm. 255; anders Pöhlmann (1971) 237 f., der zu ψωξ ergänzt. Schweighäuser V (1804) 574.

4 Rätsel von Pan und der Syrinx S. Emp. adv. math. 1,314, Bury; S 48 ἐβαρβάριζε τὸ ὅλον, ἕλκη ἔχον ἐν τῇ χερί. Das Ganze sprach eine fremde Sprache und hatte eine Wunde an der Hand.

Form: Prosa Kontext: Es wird konstatiert, dass Wissenschaftler die Objekte hinter den Begriffen, die sie bezeichnen, nicht verstehen. Die Worte selbst aber verstünden sie auch nicht, da (a) sie dazu nicht die Kenntnisse besäßen und (b) Worte von jedem unterschiedlich verwendet werden. Das vorliegende Rätsel ist ein Beispiel für Äußerungen, welche die Wissenschaftler nach dem pyrrhonischen Skeptiker Sextus Empiricus nicht verstehen. Erklärung: Das Rätsel beruht auf der mehrfachen Ausnutzung doppeldeutiger Homonymien. Der Satz als solcher erscheint zunächst vollkommen unverständlich: Inwiefern ein unbestimmtes Abstraktum sprechen kann, und noch dazu verschiedene Sprachen, wie es (ohne Körper?) eine Wunde haben kann und wie Sprache und Wunde zusammenhängen, ist unklar. Es muss, ohne dass es einen konkreten Anhaltspunkt für dieses Vorgehen gäbe, auf Homonymien geachtet werden, die dann gewissermaßen übersetzt werden. 1. ἐβαρβάριζε: Im Sinne einer Synekdoche wird der Σύρος als Art für die Gattung βάρβαρος eingesetzt: ἐ − βαρβάρ – ιζε → ἐ – σύρ – ιζε. 2. ὄλος ist ein Synonym für πᾶς, damit auch ὅλον für πάν und damit für Πάν. Die Personifizierung des „Ganzen“ gibt am ehesten einen Hinweis darauf, dass hier der Name des Gottes verschlüsselt ist. 3. Als Synonym für den Abszess bzw. die Entzündung (ἕλκος) kann die σῦριγξ stehen, vgl. in dieser Bedeutung Hippokr. Coac. 501; Gal. 6,244; Artem. 1,47.

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A Metaphorisierende Rätsel

Es ergibt sich somit der Satz ἐσύριζε τὸ Πάν σύρριγα ἔχον χερί. Es spielte also Pan die Hirtenflöte, während er sie in der Hand hielt. Die besondere Schwierigkeit des Rätsels besteht offenbar darin, den korrekten semantischen Raum für die Transformationsmöglichkeiten der Rätselbestandteile zu erkennen. Die Lösung setzt außergewöhnliches Sprachgeschick voraus und stellt einen gewissen allgemeinen Intellekt bzw. eine Geschicklichkeit unter Beweis, wie sie in Rätselfragen geprüft wird, die um ihrer selbst willen gestellt werden, nicht aufgrund eines inneren Zusammenhangs mit der jeweiligen Situation, ohne also einen Erkenntnisgewinn im engeren Sinne zu bewirken.

5 Rätsel von Hephaistos als Pyrros AP XIV 21, Beckby Ἐς μέσον Ἡφαίστοιο βαλὼν ἑκατοντάδα μούνην παρθένου εὑρήσεις υἱέα καὶ φονέα. Wenn du in die Mitte des Hephaistos einmal hundert wirfst, wirst du der Jungfrau Sohn und Mörder zugleich finden.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein Buchstabenrätsel, dessen Lösung Pyrros, der Sohn Achills mit Deidameia, ist. v. 1 enthält eine, anders als für Buchstabenrätsel üblich, aber ebenso wie in AP XIV 20, verschleierte Angabe zur Bezeichnung des gesuchten Objekts: Wie in AP XIV 20 muss die ἑκατοντάς (erschwert eventuell durch das zusätzliche μούνη) als Symbol für den Buchstaben Rho erkannt und die Mitte (μέσον) als metasprachliche, auf die Bezeichnung des gesuchten Objekts bezogene Angabe erfasst werden. Die Vermischung dieser beiden unterschiedlichen semantischen Räume (inhaltlich und metasprachlich) erschwert das Verständnis des Ganzen. Hier steht, im Unterschied zu AP XIV 20, nicht direkt der Genitiv πυρός, der zu Πυρρός erweitert werden soll, sondern der stellvertretende Genitiv Ἡφαιστοιο, der als Metonymie (causa pro effectu) erkannt und dann durch πυρός ersetzt werden muss. Dass das stofflose Feuer hier durch eine Person ersetzt ist, unterstützt die Irreführung eines Rezipienten durch seine Ablenkung auf die semiotische (Sach-)Ebene mithilfe der Formulierung ἐς μέσον βάλλειν, die suggeriert, der Person würde etwas entgegengeschleudert und träfe die Magengegend (als Mitte des Körpers). v. 2 ist identisch mit AP XIV 20.

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Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche, paraphrasierende Rätsel von πυρ(ρ)ός, AP XIV 20.

6 Rätsel von der zweiten Mutter des Weins AP XIV 31, Beckby; S 309 Οἴνου τὴν ἑτέρην γράφε μητέρα καὶ θὲς ἐπ’ ἄρθρῳ ἄρθρον, καὶ πάτρην πατρὸς ἄκοιτιν ὁρᾷς. Des Weins zweite Mutter schreibe und füg’ zu dem Glied ein Glied und du wirst als Heimat des Vaters Gemahlin sehen.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das Rätsel verschlüsselt Homer und seine Heimat Smyrna. Das Rätsel richtet sich als direkte Handlungsaufforderung an den Rezipienten. Der Imperativ γράφε deutet an, dass es sich in bestimmter Weise um ein metasprachliches (Buchstaben-)Rätsel handelt. v. 1a: Der Wein (οἴνος) steht als Metonymie (effectum pro causa) für den Wein-Gott Dionysos, dessen zweite Mutter nach dem Tod der von Zeus schwangeren Semele – metaphorisch gesprochen – der Oberschenkel des Göttervaters wurde, in welchem dieser seinen Sohn zu Ende austrug; vgl. zu Zeus und Semele, zu Heras Anstiftung der Semele und deren versehentlichem Tod durch Zeus in Gestalt des Blitzes Apollod. 3,4,2–3. Das gesuchte Wort ist also der – aufgrund seines maskulinen Genus nur schwer als μήτερ auszumachende – μηρός des Zeus. v. 1b–2a: Hier liegt ein Spiel mit dem Homonym ἄθρον vor, das erstens (1) synonym für μηρός steht und zweites (2) metasprachlich den Artikel ὁ bezeichnet. Fügt man den Buchstaben vorne an den bereits erratenen μηρός, ergibt sich mit Verschiebung des Akzentes der Name Ὅμηρος. v. 2b: Auf dem ersten Rätselobjekt aufbauend wird nun ein zweites eingeführt: die (umstrittene) Heimat des großen Nationaldichters, Smyrna. Beide Rätselobjekte hängen inhaltlich zusammen und verweisen unter diesen Umständen natürlich aufeinander, d. h. sie bestimmen sich jeweils gegenseitig näher. Die Formulierung πάτρην πατρός ist für einen Rezipienten u. U. irreführend, zumal es entscheidend ist, nicht den Genitiv als Objekt von πάτρην, sondern von der folgenden ἄκοιτιν abhängig zu machen. Regulär ist die ἄκοιτις bloß eine Ehefrau oder Bettgefährtin, hier allerdings ist von einer besonderen, nämlich inzestuösen Braut die Rede: Myrrha, die auch als Smyrna, und damit als Namensvetter der homerischen Heimat, bekannt ist (vgl. Apollod. 3,14,4), verliebte sich,

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A Metaphorisierende Rätsel

als Racheakt der Aphrodite für ihre oder der Mutter Anmaßung, in ihren Vater Kinyras, den König von Assyrien, und vereinigte sich mit ihm, vgl. unterschiedliche Varianten der Episode bei Hyg. fab. 58; Apollod. 3,14,4; Ov. met. 10,306– 519. Literatur: Jacobs (1803) 363.

B Paraphrasierende Rätsel B. I Unvollständige Beschreibung B. I. 1 Einfache Rätsel (simple riddle) B. I. 1.1 Kategorie des Rätselobjekts (identisch) angegeben B. I. 1.1.1 Ergänzt nur durch Bestandteile des Rätselobjekts 1 Rätsel vom Krebs Plut. mor. 54b (Quomodo adulator ab amico internoscatur); S 34 γαστὴρ ὅλον τὸ σῶμα, πανταχῆ βλέπων ὀφθαλμός, ἕρπον τοῖς ὀδοῦσι θηρίον· Bauch ist der ganze Körper, überallhin blickt das Auge, ein Biest, das auf seinen Zähnen läuft.

Form: 2 iambische Trimeter Kontext: Im Kontext der Überlegungen zu wahren und falschen Freunden wird der Schmeichler (ὁ κόλαξ) beschrieben. Plutarch berichtet von jemandem, der die zitierten Verse (PLG III4, p. 669 Bergk), die eigentlich eine Umschreibung des Krebses (ὁ κάρκινος, vgl. die lautliche Ähnlichkeit) enthalten, fälschlicherweise auf den Schmeichler bezogen habe. Obwohl Plutarch jene Missverständlichkeit bestreitet (οὕτως ἄπειρος ἦν κόλακος ὁ νομίζων τὰ ἰαμβεῖα ταυτὶ τῷ κόλακι μᾶλλον ἢ τῷ καρκίνῳ προσήκειν, 54b) und, soweit sich das ohne den ursprünglichen Kontext der Verse sagen lässt, diese wohl nicht als Rätsel vom Krebs intendiert waren, ließen sie sich doch – in einem entsprechenden Kontext gestellt – als solches auffassen. Erklärung: Die Umschreibung des Tiers als Rätselobjekt kommt ohne Formen uneigentlichen Sprechens aus, indem sie auf das Rätselpotential des offenbar als Kuriosum empfundenen, sonderbaren Körperbaus des Krebses vertraut und diesen paraphrasierend beschreibt. v. 1a: Die Identifikation von γαστήρ und σῶμα erscheint insofern paradox, als dass der Bauch gewöhnlich ein Teil des Körpers ist, der wenigstens durch Kopf, Brust und meist zusätzlich durch Arme und Beine ergänzt wird. Der Versuch, den Ausdruck metaphorisch zu deuten, könnte zu dem falschen Schluss https://doi.org/10.1515/9783110674743-010

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B Paraphrasierende Rätsel

führen, der γαστήρ des gesuchten Objekts sei überbetont, weil er eine besonders wichtige Funktion einnehme, und gesucht sei damit ein πολυφάγος. Tatsächlich trifft die Umschreibung auf den Krebs aber insofern zu, als ihm sichtbare Extremitäten – abgesehen von den Beinen, σῶμα steht hier im engeren Sinne für den Torso – und sich voneinander abgrenzende Körperteile fehlen. Sein Panzer ist einteilig und im Sinne einer Körpermitte (zwischen den Beinpaaren) als γαστήρ bezeichnet. vv. 1b–2a: Bezogen ist die Beschreibung auf die Stielaugen des Krebses, die ein großes – πανταχῆ ist aber natürlich eine Übertreibung – Blickfeld haben. Irreführend mag hier neben dem verallgemeinernden Singular ὀφθαλμός insbesondere die gedankliche Verbindung der beiden Versteile wirken: Was nur einen γαστήρ, nicht aber eine κεφαλή besitzt, ist mit einem (!) Auge nur schwer vorstellbar. Fälschlicherweise suggeriert die Verbindung beider Informationen, das Auge (bzw. die Augen) lägen in dem Bauch. Am ehesten ließe sich dabei vielleicht noch an den Bauch eines missgestalteten Kyklopen denken. πανταχῆ βλέπων könnte überdies als Metapher für übertriebene Neugier missdeutet werden. v. 2b: θηρίον gibt einerseits die Objektkategorie an, in welcher die Lösung zu suchen ist. Andererseits mag es durch eine Gegenüberstellung mit dem allgemeineren ζῷον (mehr oder weniger irreführend) die aggressive Natur des Tiers betonen. Dass ein Lebewesen seine Zähne als Fortbewegungsmittel benutzt, scheint schließlich die größte Unmöglichkeit der kurzen Beschreibung zu sein – zumal für ein Lebewesen, das bisher auf einen γαστήρ beschränkt wurde, dem also sowohl Kopf als auch Mund zu fehlen scheinen. Als ὀδόντες werden aber wohl im Falle des Krebses seine Scheren bezeichnet, mit denen er seine Beute im übertragenen Sinne „zerkaut“ (Funktionsanalogie). Und obwohl das Tier nicht wirklich auch die Scheren bei der Fortbewegung einsetzt, so sind sie doch – ebenso wie die vier Beinpaare – seitlich am Körper, und v. a. außerhalb des Mundes, angebracht. Intertextuelle Verweise: Aulikalamos 5, Anecd. Gr. III, p. 454 Boiss. = S 98d; Rätsel vom Nussknacker. Pigres, hom. Batrach. 294–299. Plin. nat. 9,31,97. Plat. symp. 189d von den ursprünglichen drei Geschlechtern. Vgl. für ein der Struktur nach ähnliches Rätsel auch das von der Schnecke, AP App. VII 17. Literatur: Vgl. Schultz (1909) 40 f., nr. 34, der glaubt ursprünglich sei das Rätsel auf den lydischen χειρογάστωρ gegangen.

B. I Unvollständige Beschreibung

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2 Rätsel vom Engel Psellos 1, Anecd. Gr. III, p. 429 Boiss.; S 98a Ἔστι τι ζῶον λογικόν, δέσποτα στεφηφόρε, Ὁρῶν, οὐκ ἔχον ὀφθαλμοὺς, ἐκτὸς ποδῶν βαδίζον, Ἔστερημένον κεφαλῆς, ἀκέραιον τὰς φρένας, Πνεύμονος ἄτερ καὶ λοβῶν, καρδίας καὶ κοιλίας, Ἐστερημένον τοῦ παντός, τίνος οὐ λελειμμένον. Τί τοῦτο; φράσον, ἔξειπε, λέξον, δήλωσον, γράψον, Ὡς συνετός, ὡς νουνεχής, ὡς ὑπερφέρων πάντων. Es gibt ein vernünftiges Wesen, oh kranztragender Herr, das sieht, obwohl es keine Augen hat, und ohne Füße geht, es hat keinen Kopf, und doch sind seine Sinne unversehrt, es hat weder Atem noch Leben oder Herz und Bauch, es entbehrt all das, wovon es doch nicht verlassen ist. Was ist das? Sag es, sprich es aus, sag, mach deutlich, schreib, wie vernunftbegabt, wie pfiffig und allen anderen überlegen du bist.

Form: 7 iambische Fünfzehnsilbler Erklärung: Das Rätsel ist unter dem Lemma νοῦς ἢ ἄγγελος überliefert. Es muss in der Tat auf ein körperloses Wesen oder Abstraktum gehen (bes. vv. 2–5). Schultz (1909) 53, nr. 98a und (1912) 33 hält das Lemma jedoch für falsch und glaubt „ältere mythologische Züge“ in dem Rätseltext erkennen zu können, ohne diese jedoch im Einzelnen aufzuzeigen. v. 1: Als Kategorie für das Rätselobjekt werden die ζῷα λογικά angegeben. Das Attribut λογικός unterscheidet dabei nicht nur von den ἄλογοι, sondern indirekt auch von den σωματικοί, deren Körper dem stofflosen λόγος entgegengesetzt sind. Gesucht ist also einer der sogenannten ἀσώματοι, die gleichsam ganz aus λόγος bestehen. v. 1b: Es handelt sich hierbei wohl um eine Widmung an den Empfänger der Rätselsammlung, den byzantinischen Mitkaiser Konstantin X. Dukas, für dessen Vater, Michael VII. Dukas, Psellos als Erzieher tätig war; vgl. Schultz (1909) 64; zur Verbindung zwischen Michael Pellos und der Dukas-Dynastie aus historischer Perspektive vgl. Ostrogorsky (1963) 282–286; Polemis (1968); Tiftixoglu (1993) 97–111. vv. 2–3: Die erste Hälfte des Rätselhauptteils (vv. 2–5) wird von drei unmöglich erscheinenden Gegensatzpaaren bestimmt, die ersten beiden davon in chiastischem Verhältnis zueinander: sehen – ohne Augen ohne Füße – gehen ohne Kopf – unversehrter Kopfinhalt.

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B Paraphrasierende Rätsel

Der paradoxe Eindruck entsteht dabei daraus, dass Folgeerscheinungen (sehen, gehen, unversehrte Sinne haben) bejaht, ihre prinzipiell notwendigen Voraussetzungen (Augen, Füße, einen Kopf haben) jedoch verneint werden. Die Negation jener körperlichen Voraussetzungen betrifft die grundsätzliche Körper- und Stofflosigkeit des gesuchten Rätselobjekts und deutet auf die beiden folgenden Verse voraus. ἀκέραιον mag zusätzlich nicht nur auf den „unbeschädigten“ Zustand der Sinne als Inhalt des Kopfes hindeuten, sondern auch die (moralische) Reinheit derselben betreffen. Hierin läge ein direkter Hinweis auf den (halb-)göttlichen ἄγγελος als konkreten Vertreter des gesuchten körperlosen Wesens. vv. 4–5: Die zweite Hälfte des Rätselhauptteils enthält ein weiteres Paradoxon: Die Verbindung der direkt entgegengesetzten Eigenschaften a: ἐστερημένον (entbehrend) und nicht-a: οὐ λελειμμένον (nicht verlassen von) erscheint schlichtweg unmöglich. Besonders schwerwiegend scheint diese Unmöglichkeit auch durch den Absolutheitsanspruch dieser Aussage (τοῦ παντός). Alles wird von dem gesuchten Objekt zugleich besessen und entbehrt. Beispiele sind πνεύμων, λοβός, καρδία und κοιλία – Attribute, die ein als ζῷον Bezeichnetes notwendigerweise besitzen muss. Durch die Negation dieser Attribute entsteht somit ein weiteres internes Paradoxon in Bezug auf v. 1. Auch hier liegt die Lösung der Schwierigkeit in der Körperlosigkeit des Rätselobjekts. Als solches besitzt es keine (ἐστερημένον) feste Form, keinen fleischlichen Körper und damit keine Organe und Gliedmaßen. Es braucht jedoch auch nichts davon, um als ζῷον gelten zu können, denn seine Existenz ist eine höhere, nicht von einem physischen Körper abhängige. Es mag dennoch als stofflose Figur, gleich eines Geistes, nach dem äußeren Abbild eines menschlichen Körpers mit all seinen Bestandteilen imaginiert werden, die es in diesem weiteren Sinne des Wortes besitzt, ohne von ihnen abhängig zu sein (οὐ λελειμμένον). vv. 6–7: Die Schlussverse enthalten die direkte und nachdrückliche Lösungsaufforderung an den Rezipienten des Rätsels. v. 7 verweist darauf, dass die korrekte Lösung nur dem Klugen gelingt, der wiederum durch die Lösung als solcher ausgezeichnet wird. B. I. 1.1.2 Ergänzt nur durch Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Rätsel von der geräuschvollen Insel AP XIV 39, Beckby; S 21, 1152. S. 21. O 222 Νῆσόν τις καλέων μ’ οὐ ψεύσεται· ὡς ἐτεὸν γὰρ πολλοὺς ἐς κελάδους οὔνομ’ ἔθηκεν ἐμόν. Wer mich eine Insel nennt, der sagt die Wahrheit; ganz richtig nämlich hat er in großes Getöse meinen Namen gesetzt.

B. I Unvollständige Beschreibung

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Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das aus der Ich-Perspektive sprechende Rätselobjekt nennt als erstes Wort des kurzen Rätseltextes die Insel (νῆσος) als semantische Lösungskategorie. Der Rest des Rätsels beschreibt den Namen der gesuchten Insel genauer, indem angegeben wird, er habe mit lauten Geräuschen (κέλαδος) zu tun. Da der κέλαδος primär das laute Rauschen des Meeres bezeichnet, von dem jede Insel per se umgeben ist, scheint dieser Hinweis bei einem Lösungsversuch zunächst nur wenig hilfreich. Ein Vergleich mit AP XIV 16 zeigt hingegen, was gemeint sein könnte: Die Insel Ῥόδος trägt in ihrem Namen das lautmalerische Blöken eines Rindes (ῥό) sowie den typischen Ruf eines Geldverleihers, der seinen Besitz zurückfordert (δός). Beide Rufe dürfen wohl als besonders laut (πολλοὶ κέλαδοι) artikuliert gedacht werden. Intertextuelle Verweise: Vgl. das inhaltlich nah verwandte lautmalerische Rätsel von Rhodos, AP XIV 16.

2 Orakel an Kroisos über seinen stummen Sohn Hdt. 1,85, Wilson; AP XIV 79 Λυδὲ γένος, πολλῶν βασιλεῦ, μέγα νήπιε Κροῖσε, μὴ βούλευ πολύευκτον ἰὴν ἀνὰ δώματ᾽ ἀκούειν παιδὸς φθεγγομένου. τὸ δέ σοι πολὺ λώιον ἀμφὶς ἔμμεναι· αὐδήσει γὰρ ἐν ἤματι πρῶτον ἀνόλβῳ. Lyder, König von vielen, großer Tor, Kroisos, nicht wünsche, die viel ersehnte Stimme des Sohnes im Hause zu hören, wenn er spricht. Für dich aber wird es viel besser sein, den Wunsch fahren zu lassen; sprechen wird er nämlich zuerst am Unglückstage.

Form: 4 Hexameter Kontext: Der Lyderkönig Kroisos hatte einen stummen Sohn. Er ließ das delphische Orakel befragen, wie der Junge seine Stimme gewinnen könnte. Daraufhin erhielt er das obenstehende Orakel. Die Befragung liegt zeitlich vor dem Sieg der Meder über die Lyder, doch Herodot berichtet das Orakel erst, als die Lyder bereits geschlagen sind (1,85), weil die Warnung des Orakels sich auf den nur knapp abgewendeten Tod des Kroisos bei der Unterwerfung bezieht. Erklärung: Das Orakel und die darin enthaltene Vorhersage des (missglückten) Anschlags auf Kroisos richten sich nur indirekt an der gestellten Frage nach der Sprachfä-

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higkeit des Sohnes aus. Dass es hier vielmehr um das Schicksal des Kroisos selbst geht, ist hingegen nicht direkt gekennzeichnet, wodurch das Verständnis des Spruchs erschwert wird. v. 1: Die Anrede des Kroisos als νήπιος entspricht nicht nur dem ungeschickten bisherigen Umgang des Königs mit Orakeln bzw. Rätseln (s. u.), sondern deutet auch auf die Zukunft des Lyderherrschers und seines Reiches hin. vv. 2–4a: Unmissverständlich gibt das Orakel preis, dass die Sprachfähigkeit des Sohnes – nicht unbedingt kausal, aber doch chronologisch unmittelbar – mit Unheil verbunden sein wird. Dass dieses Unheil aber nicht den Sohn, sondern Kroisos selbst betreffen wird, ist nur unauffällig angedeutet, vgl. v. 3 σοι. Schließlich könnte die Warnung auch dahin zielen, dass es viel besser für Kroisos wäre, wenn er seinem Sohn keine Sprache wünschte, weil anderenfalls dem Sohn ein noch größeres Unheil zustoßen würde als seine Stummheit, worin (indirekt) auch für Kroisos ein Übel läge. v. 4b: Der ἦμαρ ἄνολβος könnte im Sinne der vorausgegangenen Beschreibung (irgend-)einen unglücklichen Tag bezeichnen, der unglücklich wäre eben im Hinblick auf das sich ereignende Unheil. Andererseits scheint in der Formulierung auch eine konkretere Umschreibung des Todestages zu liegen. Dass damit der Tod des Kroisos vorausgesagt ist, der von einem Perser beinahe erschlagen werden würde, gibt der Spruch jedoch mit keinem Hinweis zu erkennen. Vielmehr musste Kroisos denken, sein Sohn würde, kurz nachdem er zum ersten Mal gesprochen haben würde, sterben. Tatsächlich jedoch rief der Sohn, dem sich vor Furcht die Zunge plötzlich löste (ὑπὸ δέους τε καὶ κακοῦ ἔρρηξε φωνήν, 1,85), um seinem Vater in der misslichen Situation zu Hilfe zu kommen: Ὦνθρώπε, μὴ κτεῖνε Κροῖσον. Während der Sinn des Orakels sich also in der Retrospektive, welche Herodot für seinen Bericht wählt, zweifelsfrei erschließt, ist es vor seiner Auflösung durch die entsprechenden Ereignisse, obwohl ihm jede Form des uneigentlichen Sprechens fehlt, einzig aufgrund des unklaren Bezugsrahmens bzw. semantischen Lösungsraums der Äußerung für Kroisos, der mit einer Antwort rechnet, die (vorrangig) das Schicksal seines Sohnes betrifft, durchaus missverständlich. Intertextuelle Verweise: Dass Kroisos von dem Orakel als νήπιος bezeichnet wird, stimmt gut zu seinem sonstigen Umgang mit dem Rätsel, vgl. die Prüfung der Orakel durch Kroisos, 1,46–49; das Orakel über den Sturz eines großen Reiches, Hdt. 1,53–54; ferner das Orakel von einem Maultier als König der Meder 1,55 f., das Kroisos ebenfalls missversteht. Schon 1,30–33 hatte der Lyderkönig in seinem Disput mit Solon um den glücklichsten Menschen kein besonderes Geschick im Umgang mit Rätseln gezeigt. So auch 1,34–43 bei der misslungenen Traumdeutung, die zum

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Tode seines Sohnes Atys führte. Schließlich 1,87–91 seine unkritische Beschwerde bei dem Orakel in Delphi.

B. I. 1.1.3 Ergänzt nur durch Relationen des Rätselobjekts zu anderen Objekten 1 Rätsel vom Floß des Odysseus Philetas frg. 8 Lightfoot (frg. 10 Powell); Stob. 2,4,5 οὐ μέ τις ἐξ ὀρέων ἀποφώλιος ἀγροιώτης αἱρήσει κλήθρην, αἰρόμενος μακέλην· ἀλλ’ ἐπέων εἰδὼς κόσμον καὶ πολλὰ μογήσας, μύθων παντοίων οἶμον ἐπιστάμενος. Nicht soll mich irgendein schwerfälliger Bauer aus den Bergen fortnehmen, die Erle, indem er ein Beil schwingt; sondern einer, der kundig ist im Anordnen von Worten und ein Vieles Erduldender, aller Formen von Erzählungen Wege kennend.

Form: 2 elegische Distichen Kontext: Nachdem die Zauberin Kalypso den auf ihrer Insel Ogygia gestrandeten Odysseus, zu dem sie in Liebe entbrannte, für sieben Jahre bei sich festgehalten hatte, erweicht Athene als Fürsprecherin des Königs von Ithaka den Göttervater Zeus, der daraufhin Hermes mit dem Befehl zu der Zauberin sendet, Odysseus ziehen zu lassen und ihm das benötigte Geleit zu gewähren. Unwillig fügt sich Kalypso dem Befehl. Doch weil es auf ihrer Insel weder Schiffe noch Besatzung gibt, muss Odysseus zunächst Bäume fällen und sich ein Floß bauen, mit dem er über das Meer schließlich ins Land der Phaiaken gelangen wird (zusammenhängende Darstellung im 5. Gesang der Odyssee). Erklärung: Aus der Ich-Perspektive ist hier einer der zwanzig Bäume (Hom. Od. 5,244) auf der Insel Ogygia der Kalypso verrätselt, die Odysseus fällte, um sich ein Floß zu bauen und die Insel der Zauberin zu verlassen (das Floß ist als aus den Bäumen der Insel gebaut erwähnt bes. Hom. Od. 5,162–164). vv. 1–2: Die Kategorie des verschlüsselten Objekts ist in κλήθρη direkt genannt, gesucht ist ein (Erlen-)Baum. Nun bezieht sich das Rätsel jedoch nicht auf irgendeinen, sondern auf einen mythologisch bedeutsamen Baum. Jene Sonderstellung drückt sich, merkwürdig genug, indirekt in der Beschreibung seines Fällers aus – der Baum selbst ist weder durch die Nennung von spezifischen Eigenschaften oder Bestandteilen näher charakterisiert. Eigenschaften,

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die einem Holzhacker oder Baumfäller gemäß einer gängigen Vorstellung zukommen (Grobschlächtigkeit, Schlichtheit, Ungebildetheit), werden hier in diesem Sinne zunächst ausdrücklich verneint. Den besonderen Baum fällte ein besonderer Mann. Obwohl die positive Entsprechung zu den eingangs verneinten Holzfäller-Eigenschaften erst im zweiten Distichon folgt, bietet sich dem versierten Rezipienten schon hier ein nahezu eindeutiger Hinweis auf die Identität des gesuchten Baumes. Während der Begriff κλήθρη nämlich in der Prosa durchaus gebräuchlich ist, tritt er in der Dichtung, abgesehen von dem vorliegenden Rätseltext, an nur zwei Stellen auf, die sich – wohl kaum zufällig – beide im fünften Buch der Odyssee finden (Hom. Od. 5, 64. 239) und die Bäume auf der Kalypso-Insel Ogygia bezeichnen. Die Benennung des Rätselobjekts übernimmt hier also gewissermaßen zugleich die Rolle seines Namens. Dies – durch literarische Bildung – zu erkennen, ist die Herausforderung an den Rätsellöser. vv. 3–4: Die zweite Hälfte des Rätsels enthält eine konkrete Beschreibung der Qualifikation des Holzfällers: Mit Wortfügung und Erzählung kennt er sich aus und im Erdulden von Leiden ist er erprobt. Was losgelöst von dem betreffenden Kontext kaum als einschlägige Kompetenz für einen handwerklich arbeitenden Mann angesehen werden mag, steht in diesem Fall genau am richtigen Platz. Odysseus, zu dessen hervorstechendsten Eigenschaften seine nahezu sprichwörtliche Duldsamkeit (vgl. πολύτλας als Epitheton des Odysseus, z. B. in Hom. Od. 6,1. 7,329. 344. 8,97) zählt, die ihn hier ebenfalls deutlich identifiziert (πολλὰ μογήσας), ist gar nicht als besonders guter oder kunstfertiger Holzhacker beschrieben, dem aufgrund seiner Kompetenz die Ehre zuteilwürde, die Bäume auf Ogygia zu fällen. Vielmehr ist jene Handlung aus der Not heraus entstanden, dass keine einsatzbereiten Fahrwerke auf der Insel bereitstehen, die Odysseus für seine Reise nutzen könnte. Dass Odysseus’ Kernkompetenzen, die zu jenen des prototypischen Holzfällers nicht direkt im Widerspruch stehen, aber für den Berufsstand wohl durchaus als ungewöhnlich gelten können, wie das Distichon sagt, im Umgang mit Sprache und Erzählung liegt, erklärt sich für den mit den kanonischen Epeninhalten vertrauten Rezipienten leicht: Nicht nur, dass Odysseus seine Sprachgewandtheit etwa beim Zusammentreffen mit dem wenig gastfreundlichen Kyklopen Polyphem (Hom. Od. 9,364–370) unter Beweis stellt, indem er sich als Οὔτις ausgibt. Auch in anderen Episoden der Epenhandlung tritt der König von Ithaka als ausgesprochen erfolgreicher Geschichtenerzähler auf, wenn er etwa den Phaiaken von seinem Schicksal berichtet oder – nach Ithaka zurückgekehrt – dem Hirten Eumaios, seinem Sohn Telemachos, den sein Haus belagernden Freiern und seiner Frau Penelope (Lügen-)Geschichten über seine zunächst nur vorgetäuschte Identität auftischt. So verwundert es wenig, dass der Phaiakenkönig Alkinoos Odysseus auch ausdrücklich für seine Wortgewandtheit lobt (σοὶ δ’ ἔπι μὲν μορφὴ ἐπέων, ἔνι δὲ

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φρένες ἐσθλαί./ μῦθον δ’ ὡς ὅτ’ ἀοιδὸς ἐπισταμένως κατέλεξας, Hom. Od. 11,367 f.). Aufgrund eben dieser kultivierten sprachlichen Fähigkeiten erfüllt Odysseus durchaus zur Gänze die in v. 1 aufgestellte Bedingung eines Holzfällers, der οὐκ ἀποφώλιος, nicht grobschlächtig oder dumm, ist. Kalypso selbst spricht im fünften Buch der Odyssee in ganz ähnlichen Worten von Odysseus (οὐκ ἀποφώλια εἰδώς,/ οἷον δὴ τὸν μῦθον ἐπεφράσθης ἀγορεῦσαι, Hom. Od. 5,182 f.), worauf Philetas sich im Sinne einer gelehrten intertextuellen Anspielung bezogen haben mag; vgl. hierzu Kwapisz (2013a) 156. Insgesamt muss somit, obwohl das „Ich“ als Rätselobjekt ganz konkret nur den im Floß verarbeiteten Baum bezeichnet, nicht allein jener Baum oder das Floß, sondern auch seine Beziehung zu Odysseus und damit der mythologische Zusammenhang als solcher geraten werden. Kwapisz (2013a) 156 weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass darüber hinaus mit v. 4 auf einer abstrakteren Interpretationsebene auch auf Homer, der jenes Prosa-Wort κλήθρη erfolgreich im epischen Kontext verwendete, und auf Philetas als Verfasser des Rätseltextes mit jenen subtilen intertextuellen Verweisen angespielt sein mag. Literatur: Vgl. Sbardella (2000) 127–131 mit einer Zusammenstellung der unterschiedlichen im bisherigen Forschungsdiskurs vorgebrachten Lösungsvorschläge zu dem lange Zeit umstrittenen Rätsel; Cerri (2005); Lightfoot (2009) z. St., p. 43; Kwapisz (2013a) 155–157.

B. I. 1.1.4 Ergänzt durch Bestandteile und Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Rätsel von der Schnecke AP App. VII 32, Cougny Σκέπτεο μῦθον ἐμεῖο, ὃν ἐξ ἀφανοῦς ἀγορεύω, καὶ ποθέουσιν δεῖξον ἐμὴν ἀψευδέα μορφήν, εἰ σοφίη σε φιλεῖ καί σοι λόγος ἔπλετο μούσης. Ξείνης εἰμὶ φύσεως ζῷον, πνείω δίχα πνοιῆς· δοιά μοι ὄμματ’ ὄπισθε παρ’ ἐγκεφάλῳ ἐπέασσιν, οἷσιν ὑφ’ ἡγεμόνεσσιν ὁδοιπορέω τὰ πρόσθεν. Κυανέην ἐπὶ γαστέρα βαίνω, ἧς ὕπο γαστὴρ λευκόχροος κατακεύθεται οἰκτή τε κλειστή τε. Ὄμματα δ’ οὐ πάρος ὄψεαι οἰγόμεν’, οὐδὲ πορείης ἡμμένον, εἵως λευκὴ κοιλίη ἔνδον ἔπεστιν. Αὐτὰρ ἐπὴν αὕτη γε κορεσσαμένη φαίνηται ὀφθαλμοῖσιν ἀριπρεπὲς εἶδος ἔχουσα, τότ’ ἤδη δέρκεται ὄμματ’, ἐπειγομένως δὲ μνώομ’ ὁδοῖο· ἄφθογγον δέ τ’ ἐόν γε, πολύφθογγον ἐξεφαάνθην.

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Betrachte meine Geschichte, die ich aus dem Verborgenen erzähle, und zeige den Begehrenden meine nicht-lügnerische Gestalt, wenn die Weisheit dich liebt und du die Vernunft einer Muse hast. Ich bin ein Tier von ungewöhnlicher Natur, ich atme ohne Lufthauch; ich habe zwei Augen hinten beim Inneren des Kopfes drin, unter deren Führung ich mich vorwärts bewege. Ich gehe oberhalb von einem schwarzen Magen, unter dem sich ein weißer Magen verbirgt, zugleich entblößt und verschlossen. Aber du wirst nicht sehen, dass sich die Augen zeigen, und nicht, dass ich den Weg berühre, bevor der weiße Magen innen ist, aber wo derselbe freilich den Augen gesättigt und von schöner Erscheinung zu sein scheint, dann schon sehen die Augen und eilends denke ich wieder an den Weg: Und wenn ich ganz ohne Ton bin, erscheine ich vieltönend.

Form: 14 Hexameter Erklärung: Es handelt sich um eine komplexe biologische Beschreibung der Schnecke, die sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive charakterisiert. Dabei wird der Rezipient mehrfach direkt angesprochen (vv. 1–3, v. 9). vv. 1–3: Die Anfangsverse enthalten einen direkten Appell an den Rezipienten und die Aufforderung zur Lösung (δεῖξον). ἐξ ἀφανοῦς weist einerseits darauf hin, dass die Schnecke sich in ihr Haus zurückziehen kann und spielt andererseits auf das rätseltypische Verbergen der Wahrheit (Schnecke) unter der Oberfläche (im Schneckenhaus, aber auch in dem vorliegenden Rätseltext) an. Als ποθέουσιν wären dann diejenigen zu verstehen, die das Rätsel stellen, und die ἀψευδής μορφή wäre die Lösung, die unzweideutige Erklärung der beschriebenen Gestalt. vv. 4–6: Hier wird die Kategorie „Tier“ als Pool der möglichen Antworten genannt und zugleich eingeschränkt (ξείνης) – es handelt sich um ein kurioses Tier. Beispiele für seine Sonderbarkeit sind seine Atmung (vgl. das Paradoxon πνείω δίχα πνοιῆς, v. 4) und seine Augen, die sich als Fühler in den Kopf hinein zurückziehen können (ὄμματ’ ὄπισθε παρ’ ἐγκεφάλῳ ἐπέασσιν, v. 5). vv. 7–10: Hier werden zwei verschiedene Mägen, ein weißer und ein schwarzer (offen und geschlossen) beschrieben, die in einer nicht näher konkretisierten Art und Weise das Ausfahren der Fühler und die Fortbewegung bestimmen. Es scheint eine gewisse anatomische Besonderheit der Schnecke zugrunde zu liegen; vgl. Aristot. hist. an. 529a, wo von weißen und schwarzen Teilen im Magen-Darm-Trakt der Schnecke die Rede ist. vv. 11–13: Unter einer bestimmten Bedingung, die in einem inneren Zusammenhang mit einem der Mägen (und seiner Sättigung?) steht, wagt sich das Tier aus seinem Haus und bewegt sich fort. Welche Vorstellung bzw. welches

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anatomische Detail der Beschreibung im Einzelnen zugrunde liegt, vermag ich nicht zu sagen. ἐπειγομένως (v. 13) ist sicher ironisch gemeint, da die Langsamkeit der Schnecke doch eins ihrer geradezu sprichwörtlichen Merkmale ist. v. 14: Die Verbindung der direkten Gegensätze ἄφθογγον und πολύφθογγον erzeugt ein Paradoxon. Dabei ist ἄφθογγον metaphorisch aufzufassen für den Zustand nach dem Tod des (Weich-)Tiers, während πολύφθογγον sich auf das dann verbleibende Schneckenhaus bezieht, welches als Trompete zum Instrument gemacht wurde; vgl. die Rätsel vom Muschelhorn (Theogn. 1229 f., IEG I, p. 233 West). Die besondere Schwierigkeit liegt hier darin, dass das erzählende Ich separat die einzelnen Teile des Tieres repräsentiert, ohne dies anzuzeigen. So steht es in ἐόν für das Weichtier, in ἐξεφαάνθην dagegen für das Schneckenhaus, während ein Rezipient wohl am ehesten geneigt wäre, das Tier (und damit das sich verrätselnde Ich) als eine Einheit aufzufassen. Intertextuelle Verweise: Vgl. zur Anatomie der Schnecke Aristot. hist. an. 4,529a. Vgl. das viel kürzere und weniger komplexe Rätsel AP App. VII 17 (Teukros, FGrH 274 F 3 Jacoby), das ebenfalls von der Schnecke handelt.

2 Rätsel von der Sphinx AP XIV 63, Beckby Ἕρπουσα, βεβῶσα, ποτωμένα κούρα, νόθον ἴχνος ἀραμένα δρομαία λέαινα, πτερόεσσα μὲν ἦν τὰ πρόσω γυνά, τὰ δὲ μέσσα βρέμουσα λέαινα θήρ, τὰ δ’ ὄπισθεν ἑλισσόμενος δράκων. οὔθ’ ὁλκὸς ἀπέτρεχεν, οὐ γυνά, οὔτ’ ὄρνις ὅλον δέμας οὔτε θήρ· κόρη γὰρ ἐφαίνετ’ ἄνευ ποδῶν, κεφαλὰν δ’ οὐκ ἔσχε βρέμουσα θήρ. φύσιν εἶχεν ἄτακτα κεκραμέναν· ἀτέλεστα τέλεια μεμιγμένα. Ein schleichendes, fliegendes und gehendes Mädchen, eine auf fremdem Fuße wandelnde, brüllende Löwin, gefiedert zwar vorne als Frau, in der Mitte aber eine brüllende wilde Löwin, hinten schließlich eine sich ringelnde Schlange. Nicht als Schlange bewegte sie ihren Körper, nicht als Frau, nicht ganz als Vogel und nicht als Löwe; als Mädchen nämlich erschien sie ohne die Füße, einen Kopf aber hatte sie nicht als brüllendes Tier.

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Eine unordentlich gemischte Gestalt besaß sie und Unvollkommenes mischte sie mit Vollkommenem.

Form: 11 anapästische Dimeter Erklärung: Aus der auktorialen Erzählerperspektive ist die Sphinx als drei- bzw. viergestaltiges Mischwesen in einer Ausführlichkeit umschrieben, welche die Lösung der Beschreibung kaum mehr den Schwierigkeitsgrad einer rätselhaften Herausforderung erreichen lässt. Die einzelnen Beschreibungselemente wiederholen und doppeln sich sogar in der Art, dass der Inhalt der vv. 1–5 in vv. 8–9 noch einmal explizit wiederaufgegriffen wird und vv. 6–7 sich mit vv. 10–11 doppeln. vv. 1–5: Beschrieben ist das kuriose Zusammenspiel unterschiedlicher Gestalten – geflügelte Frau, Löwe, Schlange – in einer Figur. Besonders betont werden die unterschiedlichen den einzelnen Wesen entsprechenden Arten der Fortbewegung, die dem Mischwesen zur Verfügung stehen: Kriechen (ἕρπουσα), fliegen (βεβῶσα) und gehen (ποτωμένα). v. 2 thematisiert die Zusammensetzung aus Löwe und einem der anderen Wesen, dessen Füße (νόθον ἴχνος) als fremde an dem Körper des Löwen sitzen, der den Mittelteil des Mischwesens stellt. Ob hiermit die Füße der Frau, die Vogelflügel oder der Schlangenschwanz gemeint sind – oder alle drei zugleich – lässt sich kaum entscheiden, da diese Darstellung, insbesondere die Einbeziehung der Schlange von den klassischen Darstellungen der Sphinx als Mischwesen aus geflügelter Frau mit Löwenleib abweicht. v. 3 betrifft die Verbindung von Frau und Vogel zur geflügelten Frau. v. 4 betrifft die Körpermitte des Wesens, die eine Löwengestalt besitzt, vgl. v. 2. v. 5 bezieht sich offenbar auf den Schwanz des Löwen, der die Form einer Schlange hat. Hierin weicht das Rätsel von den klassischen Darstellungen der Sphinx, die etwa die Tragödie kennt, ab. vv. 6–7: Zusammenfassung der vv. 1–5 mit einer Fokussierung auf die Fortbewegung (ἀποτρέχειν). Dass die Fortbewegungsarten der einzelnen Wesensanteile für das Mischwesen negiert werden, mag zunächst verwirren, doch die Negationen sind keine echten, strengen. Vielmehr handelt es sich um die Verneinung einer Einschränkung auf eine dieser Fortbewegungsarten. Das gesuchte Wesen bewegt sich nicht nur wie eine Frau, nicht nur wie ein Löwe, wie ein Vogel oder eine Schlange, sondern vereint all diese Fortbewegungsarten. vv. 8–9: Hier werden Frau und Löwe einander, offenbar als dominanteste Bestandteile des Mischwesens gegenübergestellt: Die Frau ist ohne (eigenen) Füße, der Löwe ohne (eigenen) Kopf. Die „fehlenden Teile“ werden durch das jeweils andere Wesen ergänzt, d. h. das Wesen hat einen Frauenköpf und einen Löwenleib mit entsprechenden Füßen.

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vv. 10–11: Erneut zusammenfassender Rückgriff auf den Mischwesencharakter (wie vv. 6–7).

3 Rätsel vom Zelt Basil. Megalomit. 7, Anecd. Gr. III, p. 440 Boiss. Ἄπετρός εἰμι καὶ κινούμενος δόμος· Πρίων δὲ καὶ σκέπαρνος οὔκουν με τέμνει, Εἰ μὴ κορυφὴν καὶ τὰ βάθρα μου μόνα. Εἰ γοῦν καταῤῥάξεις με, σῶος εἰμί γε. Ich bin ein Haus ohne Stein und beweglich; weder Axt noch Säge schneiden mich (zu), außer meinen Giebel und meine Fundamente. Und wenn du mich zusammenstürzt, bleibe ich doch unversehrt.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um eine verkürzte Form des Rätsels AP App. VII 38. v. 1 ist identisch mit v. 1 dort, vv. 2 f. mit vv. 4 f. dort, v. 4 fasst vv. 10b–12 dort zusammen. Intertextuelle Verweise: Vgl. neben der ausführlicheren Version des Rätsels (AP App. VII 38) auch AP App. VII 46 das Rätsel vom Regenbogen (als Brücke ohne Holz und Stein); ferner AP App. VII 75 = Basil. Megalomit. 41 das Rätsel vom Himmel (als Gewölbe ohne die gängigen Baumaterialien).

4 Rätsel von der Schnecke Teukros, FGrH 274 F 3 Jacoby; AP App. VII 17; zit. Athen. X 455e Ζῶιον ἄπουν ἀνάκανθον ἀνόστεον ὀστρακόνωτον ὄμματά τ’ ἐκκύπτοντα προμήκεα κεἰσκύπτοντα. Ein Tier: Fußlos, rückgratlos, knochenlos, mit getäfeltem Rücken; die überlangen Augen strecken sich heraus und ziehen sich wieder hinein.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Das Rätsel nutzt die auktoriale Perspektive und gibt keine vollständige, aber eine ausführliche Beschreibung der Schnecke (κοχλίον) im Hinblick auf ihre

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auffälligsten äußerlichen Merkmale, die das Erraten des Rätselobjekts vergleichsweise leicht machen. v. 1a: Zuerst ist mit ζῷον die Kategorie „Tier“ als Pool möglicher Lösungen genannt, der durch die Aufreihung der folgenden Eigenschaften stückweise weiter eingeschränkt wird. v. 1b: Die Schnecke wird als kriechendes Weichtier beschrieben, das dennoch einen harten Rücken hat. Hier stehen insbesondere die Attribute ἀνάκανθον (mit ἀνόστεον) und ὀστρακόνωτον in einem scheinbaren Widerspruch zueinander. Verständlich wird die Reihung, die aufgrund der vielen Verneinungen u. U. bereits paradox anmutet, wenn der Rezipient erkennt, dass sich die ersten drei Eigenschaften auf das Tiers selbst, sie letztgenannte aber auf das Schneckenhaus beziehen. v. 2 umschreibt die offenbar als Kuriosum empfundenen Fühler-Augen der Schnecke. Intertextuelle Verweise: Vgl. die parodistische rätselhafte Beschreibung einer Schnecke bei Cic. div. 2,64,133. Schäublin (1991) 390 z. St. glaubt, es könne sich um eine Übersetzung Ciceros aus Athen. II 63b handeln. Vgl. ferner das längere und viel komplexere Rätsel AP App. VII 32, das ebenfalls von der Schnecke handelt. B. I. 1.1.5 Ergänzt durch Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Ungelöstes Rätsel vom Fischmann AP App. VII 28, Cougny Ἐγκύρσας νεπόδεσσιν ἀνὴρ δείλαιος ἀέλπτως, καὐτὸς ἐν οὐ πολλαῖς ὥραις νέπος ἐξεφαάνθη. καὶ φωνῆς μὲν ὅδ’ ἦν ἐπιδευὴς ἔλλοπι ἶσα· Αὐγασάμην δ’ ἕτερον νέποδα βροτῷ εἴκελον αὐδήν, καὶ θαῦμ’ ἦεν ἀκούειν ἀφραδέεσσιν ἄπιστον. Als ein erbärmlicher Mann unerwartet unter Fische geriet, erschien er auch selbst nach kurzer Zeit als Fisch. Und er war ohne Stimme, ebenso wie ein stummer Fisch; ich aber sah einen anderen Fisch, an Stimme einem Menschen ähnlich, und dies zu hören, war ein unglaubliches Wunder für die Unwissenden.

Form: 5 Hexameter Erklärung: Der Begriff νέπος bzw. νέπους oder (als Pluraletantum) νεπόδες, dessen Bedeutung (für uns) nicht eindeutig zu bestimmen ist, erschwert eine Lösung des bis-

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lang unverstandenen Rätsels – für den heutigen Leser. Es scheint der Begriff ursprünglich als Pluraletantum die Kinder bezeichnet zu haben. In späterer Prosa wird der νέπος dann als νη-πούς (Fußloser) auch zur Bezeichnung von Fischen gebraucht, vgl. Nik. Alex. 468. 485; AP VI 11. XI 60. Hierin wird aber wohl kaum die Schwierigkeit für den zeitgenössischen Rezipienten bestanden haben, für den der Begriff wohl weniger fraglich gewesen sein muss. Vielmehr bestand die Herausforderung für ihn darin, den beschriebenen Wesenswandel des Mannes (vv. 1–3) und die Sprachbegabung des besonderen Fisches (vv. 4–5) zu erklären. v. 1: Die Frage ist, unter welchen Umständen ein Mann „unter Fische geraten“ (ἔγκυρσας νεπόδεσσιν) kann, und inwiefern ihn das zu einem δείλαιος macht. Es scheint dabei nahezuliegen, an einen Ertrinkenden zu denken. Als solcher kommt er unter Wasser in die „Gesellschaft“ der Fische – und findet ein trauriges Ende, welches seine Bezeichnung als δείδαλος durchaus zu rechtfertigen vermag. vv. 2–3: Der Ertrinkende als Rätselobjekt durchläuft nun einen Wesenswandel, im Laufe dessen er sich den Fischen, von denen er umgeben ist, gewissermaßen annähert. Gemeint ist dabei jedoch gerade nicht, dass er unter Wasser schwimmen und atmen kann, sondern vielmehr, dass er stumm wie der sprichwörtliche Fisch wird (v. 3; vgl. LSJ 537 s. v. ἔλλοψ, das nicht nur im Sinne eines Epithetons häufig von stummen Fischen gesagt wird, sondern als Substantiv auch selbst einen (bestimmten) Fisch bezeichnen kann), insofern unter Wasser selbst noch eventuelle Hilferufe unhörbar wären. vv. 4–5: Um die Paradoxie des sich gleichsam, wenn auch nur dem oberflächlichen Anschein nach, in einen stummen Fisch verwandelnden Menschen zuzuspitzen, schließt das Rätsel mit der umgekehrten Beschreibung eines mit Stimme begabten Fisches. Man mag hier an die Sirenen denken, die ahnungslose Seefahrer mit ihrem schönen Gesang anlockten und zum Ertrinken in gefährlichen Untiefen brachten. Während die Fabelwesen in der älteren Überlieferung als Mischwesen aus Frau und Vogel galten (Hofstetter (1997) 1093–114), waren sie später, sicher ab dem Mittelalter, als Fischfrauen bekannt (Liber Monstrorum 1,6; Boccaccio, Genealogia deorum gentilium 7,20). Als Töchter einer der neun Musen waren die zwei bzw. drei Ungeheuer mit unsagbar schönen, wundervollen Stimmen begabt. Hierauf mag der Schlussvers, der von der Fischstimme als θαῦμα ἄπιστον spricht, zielen. Dass sie ausgerechnet den ἀρραδέεσσιν als solche erscheint, mag wiederum als Anspielung auf die schwerwiegenden Folgen des trügerischen Gesangs hindeuten, vor denen unbedarfte Seefahrer nicht gewarnt waren. Sind hier wirklich die Sirenen gemeint, ergibt sich ein schöner inhaltlicher Konnex zwischen den beiden Rätselhälften: Der ertrinkende und dann stumme Mann ertrinkt durch den schönen Gesang der Sirenen als Fischfrauen.

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2 Rätsel vom Hahn AP App. VII 66, Cougny; Basil. Megalomit. 28, Anecd. Gr. III, p. 446 Boiss.; S 85a Δοῦλος κελεύω σὺν τάχει τῷ δεσπότῃ, σαφῶς τὰ μέτρα δηλοποιῶν εὐφρόνης· „Ἀναστὰς ὕπνων, ἔργον εἰς χεῖρας φέρε.“ Als Sklave befehle ich eifrig dem Herren, deutlich das Ende der Nacht verkündend: „Geh, aus dem Schlaf gerissen, sogleich mit den Händen an die Arbeit!“

Form: 3 iambische Trimeter Erklärung: Der Hahn beschreibt sich als Rätselobjekt selbst anhand seiner Aufgabe als Wecker. v. 1: Der Beginn des Rätsels ist bestimmt durch die paradoxe Verkehrung der Hierarchien zwischen Sklave und Herr. δοῦλος steht dabei im übertragenen Sinne, da der Hahn von seinem Besitzer ja nicht zur Arbeit gezwungen wird, aber doch, immerhin, für ihn arbeitet. κελεύω ist in diesem Zusammenhang, um das Paradoxon zu verschärfen, konkreter ausgedrückt, als die Handlung es eigentlich verdient. Der Hahn befiehlt schließlich mit seinem Schrei nicht direkt, sondern gibt nur ein Zeichen. v. 2: Der laute Hahnenschrei im Morgengrauen markiert das Ende der Nacht (und den Beginn des Arbeitstages, v. 3). v. 3: Der Aufruf zur Arbeit ist dem Hahn, gleichsam als Übersetzung seines Geschreis, in den Mund gelegt; vgl. den Aufruf „Mane, piger, stertis! surge“ in Pers. 5,132 f. Intertextuelle Verweise: Vgl. AP App. VII 30 mit einem ähnlichen Buchstabenrätsel vom Hahn. Vergleichbare Beschreibungen auch bei Theogn. 1,861–864. 1197–1202; Prud. Cath. 1,1,38. 3 Orakel an Homer Ps.-Plut. vit. Hom. I 4, p. 241, 51–242, 60 Allen; AP XIV 66 ὄλβιε καὶ δύσδαιμον· ἔφυς γὰρ ἐπ’ ἀμφοτέροισι· πατρίδα δίζηαι, μητρὸς δέ τοι οὐ πατρός ἐστι μητρόπολις ἐν νήσῳ ἀπὸ Κρήτης εὐρείης, Μίνωος γαίης οὔτε σχεδὸν οὔτ’ ἀποτηλοῦ. ἐν τῇ σὴ μοῖρ’ ἐστὶ τελευτῆσαι βιότοιο εὖτ’ ἂν ἀπὸ γλώσσης παίδων μὴ γνῷς ἐσακούσας δυσξύνετον σκολιοῖσι λόγοις εἰρημένον ὕμνον.

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δοιὰς γὰρ ζωῆς μοίρας λάχες, ἣν μὲν ἀμαυρὰν ἠελίων δισσῶν, ἣν δ’ ἀθανάτοις ἰσόμοιρον ζῶντί τε καὶ φθιμένῳ· φθίμενος δ’ ἔτι πολλὸν ἀγήρως. Glücklicher und Unglücklicher, beides nämlich wird dir zuteil, du suchst dein Vaterland? Ein Mutterland hast du, kein Vaterland, das findest du auf einer Insel, die von Kreta aus, dem Lande des Minos, weder nah noch sehr fern ist; auf dieser dein Leben zu beschließen, ist dein Los, wenn du, obwohl du ihn hörst, nicht verstehst den von der Zunge der Kinder in dunkeln Worten schief geäußerten Spruch; denn doppelte Lose des Lebens hast du: das eine beinhaltet die Dunkelheit der beiden Sonnen, das andere aber ist ebenbürtig den Unsterblichen, dem Lebenden und auch dem Toten; im Tode aber bleibt dir ferner große Unbeschwertheit.

Form: 10 Hexameter Kontext: Das Orakel warnt Homer vor dem Rätsel der Fischerjungen (Herakl. frg. 56 DK) und verkündet zugleich schon den auf seine misslungene Rätsellösung folgenden Tod auf Ios, wobei dieser kausale Zusammenhang nicht direkt hergestellt ist (indirekt aber in μοῖρ’ ἐστίν). Es scheint, als habe Homer das Orakel über seine eigene, bereits in der Antike unbekannte, Heimat (πατρίς), d. h. seinen Geburtsort, befragt und eine Auskunft über den Ort seines Todes, Ios, die Heimat seiner Mutter, bekommen. Erklärung: Das paraphrasierende Orakel lässt sich in drei inhaltliche Abschnitte unterteilen. v. 1 und vv. 8–10 bilden eine gewisse Klammer. Sie beschreiben das Schicksal des großen Dichters in der paradoxen Verbindung von Glück (ὄλβος) und Unglück (δύσδαιμον). Dass die δοιαὶ μοίραι offen genannt werden, gibt hingegen einen Hinweis darauf, dass sich Glück und Unglück jeweils auf unterschiedliche Aspekte im Leben des Dichters beziehen, dass er also in einer Hinsicht glücklich, in einen anderen unglücklich genannt werden kann. v. 9 enthält nähere Erläuterungen: δυσδαίμων ist Homer im Hinblick auf seine (stilisierte) Blindheit – die ἥλιοι δισσοί stehen als Metapher auf der Grundlage einer Funktions-Analogie bzw. Funktionsverschiebung für die Augen des Dichters –, als ὄλβιος gilt er hingegen im Hinblick auf seine Verbindung zu den Göttern (ἀθανάτοις ἰσόμοιρον), d. h. wohl im Hinblick auf seine besondere (göttliche) Begabung als Dichter. v. 10 gibt einen Ausblick auf die mühelose Existenz nach dem Tod, die kein Alter oder Leid (z. B. Blindheit?) mehr kennt (ἀγήρως). vv. 2–4: Das Orakel beschreibt Ios als Heimat von Homers Mutter im Hinblick auf ihre geographische Lage, nämlich in Relation zu Kreta (οὔτε σχεδὸν

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B Paraphrasierende Rätsel

οὔτ’ ἀποτηλοῦ). Diese Angabe könnte allerdings (wenigstens) auf alle Kykladen-Inseln zutreffen und gibt somit keine genaue Auskunft. Interessant ist hingegen besonders, inwiefern das Orakel die von Homer gestellte, hier nur indirekt überlieferte Frage nach seiner Heimat, nach seiner πατρίς, d. h. im wörtlichen Sinne auch nach der Heimat seines in der Antike bereits unbekannten Vaters beantwortet. Die offenbar rhetorisch-sarkastische Rückfrage πατρίδα δίζηαι des Orakels weist auf jenes eigentliche Anliegen des Dichters hin – und darauf, für wie verfehlt das Orakel dasselbe hält. Es folgt ein Spiel mit den Begriffen μήτηρ und πατήρ und den Entsprechungen μητρόπολις und πατρίς. Homer fragt nach seiner Heimat ganz konventionell als nach seiner πατρίς. Das Orakel hingegen antwortet mit einer Beschreibung seiner μητρόπολις. Die Pointe dieser Verschiebung erklärt der Orakelspruch selbst: Homers Heimat, d. h. seine Geburtsstätte, ist nicht sein Vaterland (οὐ πατρός ἐστιν ...), sondern sein Mutterland (… μητρὸς δέ τοι ... μητρό[ολις), d. h. er ist in der Heimat seiner Mutter geboren – weshalb das Orakel seine Heimat terminologisch ganz korrekt als μητρόπολις bezeichnet. Diese wird nun in geographischer Relation zu Kreta umschrieben. vv. 5–7: Hier wird die Heimat der Mutter, die sich nun auch als Heimat Homers selbst erwiesen hat, ganz offen als Todesort des Dichters bezeichnet (v. 5). Das Orakel deutet außerdem auf die näheren Umstände des Todes hin. Die vv. 6 f. umschreiben das Aufeinandertreffen Homers mit den Fischerjungen am Strand von Ios, wo ihm diese ein Rätsel (δυσξύνετον σκολιοῖσι λόγοις εἰρημένον ὕμνον) stellen, welches er nicht lösen kann (μὴ γνῷς ἐσακούσας); vgl. Herakl. frg. 56 DK. Die Homer-Biographien berichten, in Übereinstimmung mit diesem Orakel, Homer sei vor Kummer über seine Niederlage auf der Insel gestorben, vgl. Certamen 5, p. 228, 59 f. Allen (mit einem kürzeren Orakel, das den Tod auf Ios ausdrücklich voraussagt); Certamen 18, p. 238, 332 Allen; Ps.Hdt. vit. Hom. 36, p. 216, 507 f. Allen; Ps.-Plut. vit. Hom. I 4, p. 242, 70 f. Allen; Prokl. vit. Hom. 5, p. 26,33–27,6 Wil.; anonym. vit. Hom. IV 3, p. 246, 17–19 Allen; anonym. vit. Hom. V 5, p. 250, 46 f. Allen; anonym. vit. Hom. Romana 6, p. 253, 57–59 Allen; Tzetz. Chil. XIII, 626 ff. Kiessling (p. 255, 663–665 Allen); ferner auch Val. Max. 9,12,3. Das paraphrasierende Orakel ist also in folgender Hinsicht auslegungsbedürftig: 1. Die Heimat von Homers Mutter wird der Todesort des Dichters. Die betreffende Insel ist jedoch, sofern Homer den Geburtsort seiner Mutter nicht kennt, nur ungefähr bestimmt (eine Insel in der Nähe von Kreta). 2. Auf das Rätsel der Fischerjungen ist in der Formulierung δυσξύνετον σκολιοῖσι λόγοις εἰρημένον ὕμνον nur indirekt hingewiesen.

B. I Unvollständige Beschreibung

3.

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Die Tatsache, dass das Orakel scheinbar (!) nicht die gestellte Frage beantwortet, muss dem Rezipienten zunächst irritierend erscheinen. Er muss zunächst erkennen, dass πατρίς und μητρόπολις hier gleichsam synonym für die Heimat des Dichters verwendet sind, jedoch jeweils die Heimat von Vater und Mutter terminologisch noch mit einbeziehen.

Intertextuelle Verweise: Vgl. das viel kürzere, deutlichere Orakel AP XIV 65, Beckby, welches dieselbe Kernaussage enthält: Ἔστιν Ἴος νῆσος μητρὸς πατρίς, ἥ σε θανόντα δέξεται· ἀλλὰ νέων παίδων αἴνιγμα φύλαξαι. Es ist die Insel Ios das Vaterland deiner Mutter, die dich als Toten Aufnimmt; aber vor der jungen Kinder Rätsel hüte dich.

Zur Abstammung von Homers Mutter von Ios vgl. ferner Paus. 10,24,2, ebenfalls mit einem Zitat des Orakels.

4 Rätsel von der Jungfrau als Löwin (Thetis) AP XIV 27, Beckby; S 52 Παρθένον ἐν πελάγει ζητῶν τὴν πρόσθε λέοντα τηθὴν εὑρήσεις παιδοφόνου Ἑκάβης. Die Jungfrau im Meer suchend, die zuvor eine Löwin war, die Großmutter wirst du finden der kindsmordenden Hekabe.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Ein auktorialer Erzähler beschreibt Thetis als Rätselobjekt im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Gestaltwandlerin (vgl. Apollod. 3,13,4; Ov. met. 11,240 ff.) und ihre Verwandtschaft mit Medea. Beide Verse beschreiben Thetis, legen den Fokus jedoch auf einen anderen Aspekt der vielschichtigen Figur, was ihrem gestaltwandlerischen Wesen zusätzlich Rechnung trägt. v. 1: Als παρθένος kann Thetis im Hinblick auf ihren vehementen Versuch, sich der Verbindung mit Peleus zu entziehen, der sie in einer Grotte bedrängte, bezeichnet werden, insofern es ihre Intention war, Jungfrau zu bleiben (Paus. 5,18,5; Pind. N. 4,62; Apollod. 3,13,5). Die Bezeichnung steht aber natürlich im direkten Widerspruch zu τήθη, v. 2. Thetis hatte von ihrem Vater Proteus die Fähigkeit, ihre Gestalt zu wandeln, geerbt und versuchte auf diese Weise, sich

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B Paraphrasierende Rätsel

dem Proteus zu entziehen. Unter anderem verwandelte sie sich dabei in eine Löwin (λέοντα, v. 1). v. 2: Aus ihrer Verbindung mit Proteus ging Achill hervor, welcher sich auf der Insel der Seligen (postum) mit Medea vermählte (Lykophr. 174 f.), mit der Thetis auf diese Weise verschwägert wurde. Beckby übersetzt in diesem Sinne die τήθη als „Schwiegermutter“, was an dieser Stelle wohl auch gemeint sein muss, obwohl sie nach LSJ 1786 s. v. τήθη eigentlich die Großmutter oder Amme bezeichnet. Da Medea aus Kolchis (an der Ostküste des Schwarzen Meeres) stammte, wurde sie dort nach Jacobs (1803) 361 Hekabe, die von fern Kommende, genannt. Da auch die trojanische Königin und Priamos-Gattin, als Mutter von Hektor, der durch Achill ums Leben kommt, Hekabe genannt wird, erzeugt diese Benennung eine nicht eben geringe Verwirrung. Hier werden nun Inhalte verschiedener Überlieferungsschichten des komplexen Medea-Mythos miteinander verbunden: Die von Iason in Korinth verstoßene Medea, die aus Rache ihre eigenen Kinder tötet (παιδοφόνος), ist nicht dieselbe Medea, die mit dem heldenhaft vor Troja gefallenen Achill nach dessen Tod im Reich der Seligen weiterlebt, vgl. hierzu Moreau (1994) 60, nach dessen Hypothese letzteres aus einer frühen Überlieferungsschicht des Mythos stammt, in der Medeas Leumund noch einwandfrei war. Vgl. Schultz (1912) 71, der eine ganz andere Lösung von Thetis als dreiteiligem Mischwesen mit einem Löwenkopf/-Oberkörper, der Mitte einer Frau und dem Unterkörper einer dreibeinigen Hündin vorschlägt. Literatur: Jacobs (1803) 361 f.

5 Rätsel vom Familienmord AP XIV 38, Beckby; S 51a Κτεῖνα κάσιν, κτάνε δ’ αὖ με κάσις, θάνομεν δ’ ὑπὸ πατρός· μητέρα δ’ ἀμφότεροι τεθναότες κτάνομεν. Ich tötete meinen Bruder, es tötete aber wiederum mein Bruder mich, wir starben aber durch den Vater; unsere Mutter aber töteten wir beide im Tod.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Eteokles und Polyneikes, die Söhne der Iokaste von ihrem Sohn Ödipus, beschreiben sich hier aus der Ich-Perspektive als Rätselobjekt. Im Mittelpunkt des Rätsels steht der Fluch der Labdakiden.

B. I Unvollständige Beschreibung

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v. 1: Einerseits wird der gegenseitige Brudermord beschrieben, andererseits besteht ein Paradoxon zwischen der Annahme, die Brüder hätten sich gegenseitig getötet (κτεῖνα und κτάνε), seien aber zugleich beide durch ihren Vater umgekommen (θάνομεν). Letzteres ist im übertragenen Sinne zu verstehen, insofern die Brüder den Fluch der Labdakiden, den Laios mit seinem päderastischen Verhältnis zu dem Sohn des Pelops auf sein Geschlecht lud, von ihrem Vater Ödipus ererbt haben. Dass Ödipus König in Theben und damit Mann der verwitweten Iokaste und Vater von Eteokles und Polyneikes (neben Antigone und Ismene) wurde, gilt überdies als Schlüssel zur Erfüllung des unglücklichen Schicksals der Familie. Im Zweikampf um die Herrschaft in Theben nach dem Fortgang ihres Vaters töten die Brüder sich schließlich gegenseitig. v. 2: Es scheint unmöglich, dass die toten Brüder nach ihrem Tode die gemeinsame Mutter Iokaste töten. Tatsächlich muss auch κτάνομεν hier im übertragenen Sinne verstanden werden, insofern Iokaste sich aus Kummer über das Schicksal ihrer Kinder das Leben nahm, sich also selbst aufgrund ihrer toten Söhne tötete; vgl. eine ganz ähnliche Verwendung des Wortes in den Rätseln von Herakles und Nessos, in denen der tote Kentaur den Heros ebenso im übertragenen Sinne, nämlich durch eine vor seinem Tode angelegte List, tötet (AP XIV 32. 33). Ursache und Wirkung sind in den Umschreibungen beider Verse nicht deutlich voneinander getrennt. Intertextuelle Verweise: Vgl. mit einer ähnlichen Struktur das Rätsel von den Familienverhältnissen der Andromache, AP XIV 9.

6 Orakel für Alexanders Mutter AP XIV 114, Beckby Πέρσαι λάτριν ἐμὸν σημάντορα χειρὶ βιαίῃ ἔκτανον, οἰκεία δὲ κόνις νέκυν ἀμφικαλύπτει· τοῦ δ’ ἤν τις Φαέθοντι θοῶς λεύκ’ ὀστέα δείξῃ, οὗτός τοι Περσῶν τὸ μέγα κράτος ἔνδοθι θραύσει· κεῖται δ’ Ἀσίδος ἐντὸς ὁριζομένῃ ἐνὶ νήσῳ δάφνῃ καὶ ῥείθροισι παραὶ Πελίοιο γέροντος· φράζεο δ’ ἀνέρα μάντιν ὑφηγητῆρα κελεύθου Φωκέα, ὃς ψαμάθοισιν Ἀπαρνίδος οἰκία ναίει. Perser ermordeten mit gewaltsamer Hand meinen Diener, den Führer, der heimische Staub aber verhüllt seinen Leichnam; wenn aber einer Phaeton schnell die weißen Knochen zeigt, der wird der Perser große Macht im Inneren zerschlagen;

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B Paraphrasierende Rätsel

er liegt aber in Asien auf einer umgrenzten Insel mit Lorbeer und Fluten an der Seite des greisen Pelios; suche aber den Weissager, den Weiser des Weges, den Phoker, der in der Wüste von Aparnis zuhause ist.

Form: 8 Hexameter Erklärung: Das rätselhafte Orakel ist bislang weitestgehend ungeklärt. Ein Scholion verrät, dass es sich um ein von Olympias, der Mutter Alexanders des Großen, in Kyzikos eingeholtes Orakel nach der besten Möglichkeit für ihren Sohn, die Perser zu besiegen, handelt: χρησμὸς δοθεὶς τῇ μητρὶ Ἀλεξάνδρου τοῦ Μακεδόνος Ὀλυμπιάδι ἐν Κυζίκῳ ἐρωτησάσῃ, πῶς ἂν τῆς χώρας Περσῶν κρατήσειεν ὁ ταύτης υἱός. Verschlüsselt ist eine Person, offenbar ein Grieche (obwohl er in Asien begraben liegt, v. 5), der von den Persern getötet wurde. Die geographische Lage seines Grabmals muss ebenfalls dekodiert werden. Die grundsätzliche Handlungsanweisung des Orakels ist hingegen deutlich: Die Aushebung des Grabes wird, zusammen mit der Konsultierung eines bestimmten phokischen Sehers in Lampsakos, den Sieg Alexanders über die Perser verbürgen. v. 1: Der Beginn des Rätsels ist von dem Gegensatz λάτρις – σημάντωρ geprägt. Der gesuchte Leichnam wird offenbar als (treuer) Diener des Orakelgottes in seiner Funktion als Anführer der Griechen bezeichnet. vv. 2–4: Das Orakel nennt die Aufdeckung der Gebeine – bildlich umschrieben als zur Schau Stellung für Phaeton, d. h. für die Sonne – als Maßnahme zur Vernichtung der Perser, mithin als Handlungsanweisung für Olympias und ihren Sohn. Von den Gebeinen geht offenbar eine besondere magische Macht aus, welche die Griechen unterstützt, sofern sie nicht unter der (fremden?) Erde begraben liegen. Widersprüchlich scheint hier, dass der Leichnam einerseits in der heimischen (οἰκεία, v. 2) Erde begraben liegt, sein Grab aber andererseits in Asien lokalisiert ist (v. 5). Hier ist u. U. an die Umsiedlung des Leichnams gedacht. vv. 5–6: Der Ort des Grabmals wird geographisch umschrieben: Eine Insel in Asien, nahe dem Pelios (παραὶ Πελίοιο). Das griechische Pelion-Gebirge in Griechenland war bekannt für seine Vegetation, bes. für Heilkräuter wie Lorbeer, die eine positive Assoziation für den dort begrabenen Griechen-Retter bedingen könnten. Während der Perserkriege ging die Halbinsel, auf der das Gebirge liegt, jedoch eine Allianz mit den Persern ein. vv. 7–8: Direkter Aufruf, einen bestimmten Seher bei Lampsakos aufzusuchen. Das rätselhafte Orakel scheint in der Verschlüsselung des gesuchten Platzes insgesamt mit zwei verschiedenen – vielleicht homonymen – Orten zu spielen,

B. I Unvollständige Beschreibung

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von denen der eine in (Klein?)Asien, der andere in Griechenland liegt. Mir ist jedoch kein Heros oder ein anderer Schützling des Dionysos bekannt, dessen Grab an einem solchen Ort läge. 7 Rätsel von der Heiligen AP App. VII 73, Cougny; Basil. Megalomit. 37, Anecd. Gr. III, p. 449 f. Boiss.; S 339 Καὶ τῶν Χερουβίμ εἰμι τιμιωτέρα, καὶ τῶν Σεραφὶμ ὑπερολβιωτέρα, καὶ στιλπνοτήτων ἡλίου πλέον φέρω. Μὴ Παρθένον τις ἐλπίσῃ με τυγχάνειν, γυναῖκά τινα τῶν ἐναρέτων μίαν. Ἔχω δὲ καὶ γράμματα πέντε καὶ μόνον. Ich bin ehrenhafter als die Cherubinen und gesegneter selbst als die Seraphinen und ich trage größeren Glanz als die Sonne. Damit nicht jemand vermutet, dass ich die Jungfrau bin: Ich bin (irgend-)eine tugendhafte Frau. Ich habe aber fünf und einen Buchstaben.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Umschrieben ist der Name einer Heiligen (γυναῖκα ἐνάρετος). vv. 1–3: Sowohl Cherubinen als auch Seraphinen sind hochrangige biblische Engel. Der Vergleich mit diesen weiblichen Engelsfiguren deutet bereits darauf hin, dass eine weibliche Person gesucht ist. Das Übertreffen dieser Engel und der Sonne (!) drückt den Superlativ der Superlative aus, der eigentlich höchstens auf die Jungfrau Maria selbst zutreffen kann, vgl. aber v. 4. v. 4–5: Der durch den Eingang des Rätsels erzeugte Eindruck, der auf die Jungfrau Maria hindeutet, wird hier negiert bzw. relativiert. Der gewöhnliche Kausalzusammenhang der beschriebenen Eigenschaften mit der Identifizierung als Jungfrau Maria wird auf diese Weise durchbrochen. Gesucht ist irgendeine andere Heilige, nicht die Heilige par excellence. v. 6: Als Anhaltspunkt zu Auffindung des gesuchten Namens erfolgt am Schluss des Rätsels die Nennung der Buchstabenzahl des Lösungswortes (sechs). Auch Cougny (1890) 585 z. St. macht keinen konkreten Lösungsvorschlag, weist aber auf die Marginalglosse ἀγάπη hin.

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B Paraphrasierende Rätsel

8 Rätsel von dem Toten, der sein eigenes Grabmal ist AP VII 311, Cougny Ὁ τύμβος οὗτος ἔνδον οὐκ ἔχει νεκρόν· ὁ νεκρὸς οὗτος ἔκτος οὐκ ἔχει τάφον, ἀλλ’ αὐτὸς αὑτοῦ νεκρός ἐστι τάφος. Dieses Grab hier hat im Innern keinen Leichnam; dieser Leichnam hier hat außen kein Grab, sondern der Leichnam selbst ist sich das eigene Grab.

Form: 3 iambische Trimeter Erklärung: Ein außenstehender Betrachter beschreibt als auktorialer Erzähler ein kurioses, widersprüchlich anmutendes Verhältnis zwischen Grab (τύμβος bzw. τάφος) und Leichnam (νεκρός). Auffällig ist dabei die gekonnte formale Gestaltung der Rätselfrage, deren drei Verse beinahe gänzlich aus einer wechselnden Folge der Hauptbegriffe τύμβος bzw. τάφος und νεκρός bestehen. Die beiden ersten Verse sind zudem vollkommen parallel aufgebaut, wobei sich die Hauptbegriffe jeweils am Anfang und Ende der Verse in paradoxer Zuordnung chiastisch gegenübergestellt sind. Der dritte Vers hebt, als Schlussfolgerung aus den beiden vorangegangenen, sodann mit einer dreiteiligen Alliteration auf Alpha an, um schließlich νεκρός und τάφος unmittelbar nebeneinander zu stellen und miteinander zu identifizieren. v. 1: Beschrieben ist ein Grabmal, das keinen Toten verbirgt, das mithin kein Grabmal im eigentlichen Sinne des Wortes sein kann. Denkbar wäre einerseits die Assoziation mit einem beispielsweise zu früh errichteten und dann unerwartet doch nicht gebrauchten Grabmal, das nun seine Funktion nicht erfüllen kann. Andererseits, und der folgende Vers legt nahe, dass dies der Fall ist, ist der Bezug auf ein in welcher Weise auch immer unkonventionelles, untypisches Grabmal denkbar, welches den Leichnam des bestatteten Toten nicht (direkt) enthält. v. 2: War der erste Vers für sich genommen noch hypothetisch zu erklären, entbehrt die Zusammenstellung mit dem zweiten, analog gebauten Vers scheinbar jeder Logik. Es gibt sowohl ein Grabmal (v. 1) als auch einen Leichnam (v. 2), doch beide stehen nicht in den gewöhnlichen räumlichen Verhältnissen von innen (Leichnam) und außen (Grabmal) zueinander. Die Darstellung muss somit die paradoxe Vorstellung erzeugen, dass ein Toter, obwohl es für ihn ein Grabmal gibt, unbestattet neben eben diesem liegt. v. 3: Der Schlussvers bietet, obwohl nicht unmittelbar einsichtig, den für die Auflösung notwendigen Hinweis: Leichnam und Grabmal sind eins (νεκρός ἐστι τάφος). Dies ist freilich gewöhnlich schon aufgrund der Vergänglichkeit

B. I Unvollständige Beschreibung

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des menschlichen (insbesondere des toten) Körpers nicht der Fall. Durchaus trifft eine solche Beschreibung hingegen auf einige mythologische und biblische Figuren zu, deren Körper in einer Verwandlung unmittelbar zu ihrem Denk- und Grabmal erstarrt sind. Das Rätsel ist unter dem Lemma εἰς τὴν γυναῖκα Λώτ· οἱ δ[ε ἕλληνες εἰς Νιόβην αὐτὸ ἀναφέρουσιν überliefert und bietet damit zwei gleichwertige Lösungsansätze: (1) Der biblische Lot, der Neffe Abrahams, gilt als Protagonist in der Erzählung vom Gottesgericht über die heute sprichwörtliche Stadt Sodom (Gen 19,1–29). Als zwei Engel dem rechtschaffenen Sodomiten und seiner Familie zur Flucht aus der ansonsten ganz und gar verdorbenen Stadt verhelfen, gebieten sie ihnen, sich auf der Flucht nicht umzudrehen. Als Lots Frau, auf die das Rätsel nach dem Lemma zu deuten ist, dies doch tut, erstarrt sie zu einer Salzsäule. Diese Säule ist damit zugleich Lots Frau und deren Grabmal, insofern ihr eigener Körper die Konturen der Säule bestimmt und weiterhin ihre „Hülle“ darstellt; vgl. zu einer lokalen Legende, die eine bestimmte Felsformation aufgrund ihrer auffälligen Konturen mit dieser Episode in Verbindung bringt, Engelken (2008) 669. (2) Analog erklärt sich die Deutung des Rätsels auf die mythologische Tantalostochter Niobe, die sich nach dem Tod ihrer sieben Söhne und sieben Töchter durch Apoll und Artemis vor Kummer in einen Stein verwandelte, aus dem – den Tränen der bestürzten Mutter gleich – ein niemals versiegender Strom entsprang (Ov. met. 6,146–312). Auch hier sind (erstarrter) Körper und Grabmal eins. Eine solche Ausdeutung lässt sich nun prinzipiell für zahlreiche mythische „Verwandlungsopfer“ wie etwa die in den Lorbeerbaum verwandelte Bergnymphe Daphne, die zu Schilf gewordene Hamadryade Syrinx oder den im Tod zur Narzisse erblühten Narcissus anwenden. Besonders trefflich erscheinen hierunter jedoch sowohl Lots Frau als auch Niobe, insofern ihre Körper sich nicht in pflanzliches, vergängliches, sondern in festes, steinernes Material verwandeln, aus dem auch konventionelle Grabmäler gefertigt werden. 9 Rätsel vom Mörders-Mörder AP XIV 32, Beckby; S 53 Κτανθεὶς τὸν κτείναντα κατέκτανον· ἀλλ’ ὁ μὲν οὐδ’ ὣς ἤλυθεν εἰς Ἀίδην· αὐτὰρ ἔγωγ’ ἔθανον. Ermordet mordete ich den Mörder; aber jener gelangte nie in den Hades; ich aber bin gestorben.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Aus der Ich-Perspektive umschreibt sich der Kentaur Nessos im Hinblick auf sein Verhältnis zu Herakles. Geprägt ist das Rätsel von der zeitlich versetzten

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B Paraphrasierende Rätsel

und trotzdem wechselseitigen Ermordung der beiden Charaktere. Zudem erzeugt die Formulierung des Rätsels – bes. im ersten Vers geprägt von einer Häufung an κ-Lauten – einen rätselhaften Klang, welcher zu dem verworrenen Inhalt der Aussage trefflich passt. v. 1a: Die gewöhnliche Ordnung scheint auf paradoxe Weise verkehrt, wenn der Tote seinen Mörder tötet. Die Lösung des Widerspruchs basiert einerseits auf einem verallgemeinernden Verständnis des Verbs κατέκτανον und andererseits auf der nicht ausgedrückten chronologischen Differenz zwischen den beiden Morden. Herakles tötete den Kentaur mit einem seiner Giftpfeile, als dieser seine Frau Deidameia rauben wollte (Ov. met. 9,101 f. 126–128). Der sterbende Kentaur redete Deidameia ein, sie sollte etwas von seinem Blut – nun vergiftet durch das Gift der Hydra, das an Herakles’ Pfeil haftete – auffangen und die Kleidung ihres Mannes darin tränken, wenn sie seine Untreue fürchtete (Ov. met. 9,131–133). Als Deidameia Jahre später eifersüchtig auf eine Beutefrau des Herakles wurde, befolgte sie den tückischen Rat. Das Gift in seinem Hemd, das sich untrennbar mit seiner Haut verband, bereitete dem Heros darauf derartige Schmerzen, dass er sich, um von den Qualen erlöst zu werden, von Philoktet auf einem Scheiterhaufen verbrennen ließ. So tötete indirekt, d. h. ohne selbst Hand an ihn legen zu können, Nessos im Tode durch seinen Plan den Heros. vv. 1b–2: Während Nessos dem Gift der Hydra erlag und starb, wurde Herakles aus den Flammen heraus auf den Olymp entrückt, wo ihm die Götter Unsterblichkeit verliehen (Soph. Trach. passim). Die Formulierung οὐδ’ ἤλυθεν εἰς Ἀίδην ist hier somit wörtlicher zu verstehen als gewöhnlich: Herakles ist gestorben und doch nicht (endgültig) gestorben, was daran deutlich wird, dass er nicht in die Unterwelt, sondern im Gegenteil, in den Olymp (!) gelangte. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ganz ähnliche Rätsel von Nessos und Herakles, AP XIV 33. Ferner Soph. Trach. 1159–1163, wo Herakles mit seinem Sohn Hyllos spricht, der ihm entdeckt, dass die eifersüchtige Deidameia sein Hemd in das giftige Blut des von Herakles getöteten Kentaurs Nessos getränkt hatte. Herakles erkennt daraufhin die Ursache seines Leidens: ἐμοὶ γὰρ ἦν πρόφαντον ἐκ πατρὸς πάλαι, πρὸς τῶν πνεόντων μηδενὸς θανεῖν ποτε, ἀλλ᾽ ὅστις Ἅιδου φθίμενος οἰκήτωρ πέλοι. ὅδ᾽ οὖν ὁ θὴρ Κένταυρος, ὡς τὸ θεῖον ἦν πρόφαντον, οὕτω ζῶντά μ᾽ ἔκτεινεν θανών.

Mir nämlich war vor langem von meinem Vater prophezeit, nicht durch einen der Lebenden den Tod zu finden, sondern zu sterben durch einen Bewohner des Hades. Der Kentaur also, wie es göttliche Vorsehung war, hat mich Lebenden, selbst ein Toter, getötet.

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Hier wird die Wechselseitigkeit – Toter und Mörder töten sich gegenseitig – nicht explizit ausgedrückt. Im Rätsel liegt der Fokus auch darum stärker darauf, weil es aus der Perspektive des Nessos, des (zuerst) Getöteten, formuliert ist, der größeres Interesse daran hat, Herakles als den schuldigen Mörder zu nennen. 10 Orakel an Euboia Hdt. 8,20, Wilson; AP XIV 97 (Bakis) φράζεο, βαρβαρόφωνος ὅταν ζυγὸν εἰς ἅλα βάλλῃ βύβλινον, Εὐβοίης ἀπέχειν πολυμηκάδας αἶγας. Achte darauf, wenn der Mann, der in fremder Sprache spricht, das Joch aus Papyrus ins Meer wirft, von Euboia fort die vielmeckernden Ziegen zu treiben.

Form: 2 Hexameter Kontext: Die 480 v. Chr. zeitgleich zur Schlacht bei den Thermopylen stattfindene Seeschlacht bei Kap Artemision betraf Euboia unmittelbar und hatte verheerende Folgen für die Insel. Das Orakel ermahnt die Bewohner der Insel dazu, sich rechtzeitig auf den Krieg gegen die Perser vorzubereiten. Erklärung: Das Orakel gibt einen Zeitpunkt dafür an, den eigenen Lebensunterhalt – exemplarisch sind die offenbar besonders reichlich auf der Insel vorhandenen Ziegen genannt – in Sicherheit zu bringen, damit er nicht von den auf Euboia lagernden griechischen Truppen aufgezehrt würde. Im Zentrum des Spruchs steht die Umschreibung der Schiffe, die (a) Teil der zum Übersetzen des gewaltigen persischen Heeres über den Hellespont gebauten Schwimmbrücken waren und mit denen (b) die Seeschlacht bei Euboia am Kap Artemision ausgetragen wurde. vv. 1–2a: Der für die Evakuierung angegebene Zeitpunkt lässt sich folgendermaßen deuten: (1) Die Perser, als der griechischen Sprache nicht mächtige Barbaren (βαρβαρόφωνος, verallgemeinernder Singular), rüsten sich zur Seeschlacht am Kap und werfen dabei (z. B. Anker-)Taue in die Fluten, als sie Aufbrechen. Einerseits scheint dies jedoch eine vergleichsweise kurzfristige Evakuierung zu sein, andererseits kann das ζυγὸν βύβλινον zwar durchaus für ein Papyrusseil stehen, doch inwiefern ein Ankerseil o.ä. tatsächlich noch mit der Grundbedeutung des ζυγόν als Joch zu tun hätte, und inwiefern dieser Seile ins Meer geworfen würden, scheint kaum ersichtlich. (2) Für seinen Feldzug gegen die Griechen (um 480 v. Chr.) ließ Xerxes unter anderem zwei Schwimmbrücken bauen, die das Übersetzen seines großen Heeres über den Hellespont ermöglichen sollten. Diese Brücken wurden mit Sei-

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B Paraphrasierende Rätsel

len – aus Papyrus, Hanf oder Flachs – zwischen ankernden Schiffen gespannt. Über die Seile legte man Holzplanken, deren Zwischenräume mit Erde u.ä. aufgefüllt wurden, sodass sich eine Straße ergab. Die Trägerseile waren dabei in der Art eines Jochs, das die Schiffe zusammenhält, zwischen den Schiffen gespannt. Inwiefern sie ins Wasser geworfen wurden, ist unklar, da die Brücke wohl über die querstehenden Schiffe auf der Höhe ihrer Reling verlief. Denkbar wäre eine Anspielung darauf, dass die ersten beiden Brücken, die Xerxes bauen ließ, unmittelbar nach ihrer Fertigstellung von einem Sturm zerstört wurden – wobei ihr Material sicher in den Hellespont stürzte, vgl. Hdt. 7,34. Der Perserkönig ließ daraufhin den Hellespont auspeitschen und zwei neue Brücken bauen. Diese sehr frühzeitige Evakuierung des eigenen Lebensunterhaltes hätte eine vergleichsweise hohe Sicherheit für die Bewohner von Euboia bedeutet. Herodot berichtet, die Bewohner von Euboia hätten dem Orakel keine Bedeutung beigemessen und deshalb keine Vorkehrungen vor dem Krieg getroffen, sodass neben der Unruhe der Kämpfe auch großer Mangel über sie kam, als die Truppen ihren ganzen Lebensunterhalt aufbrauchten (τούτοισι οὐδὲν τοῖσι ἔπεσι χρησαμένοισι ἐν τοῖσι τότε παρεοῦσί τε καὶ προσδοκίμοισι κακοῖσι παρῆν σφι συμφορῇ χρᾶσθαι ἐς τὰ μέγιστα, 8,20). Intertextuelle Verweise: Vgl. Hdt. 8,19, wo Themistokles den Griechen rät, möglichst viele der Ziegen auf Euboia zu schlachten, damit die eigenen Leute gut gestärkt wären, die Perser aber keine Möglichkeit hätten, sich an dem Fleisch der Ziegen sattzuessen. Auf diese Weise wurde der Lebensunterhalt der Bewohner von Euboia, weil sie keine Vorräte angelegt und nichts in Sicherheit gebracht hatten, zunichte.

11 Rätselparodie vom Fleischtopf Antiphan. PCG II, frg. 55,1–6, p. 339 K.-A.; zit. Athen. X 449b Α. πότερ’, ὅταν μέλλω λέγειν σοι τὴν χύτραν, ‹χύτραν› λέγω, ἢ τροχοῦ ῥύμαισι τευκτὸν κοιλοσώματον κύτος, πλαστὸν ἐκ γαίης, ἐν ἄλληι μητρὸς ὀπτηθὲν στέγηι, νεογενοῦς ποίμνης δ’ ἐν αὑτῆι πνικτὰ γαλατοθρέμμονα, τακεροχρῶτ’ εἴδη κύουσαν; Β. Ἡράκλεις, ἀποκτενεῖς ἆρά μ’, εἰ μὴ γνωρίμως μοι πάνυ φράσεις κρεῶν χύτραν. A:

Wenn ich dir einen Topf nennen will, dann sage ich doch „Topf“, oder etwa „ein durch die Drehungen des Rades erzeugtes Hohlgefäß, das aus Lehm geformt ist, gebrannt in der Mutter anderem Haus, welches der jungen Herde Milchgenährtes in sich drinnen birgt, das als zartes Fleisch gekocht wird“?

B. I Unvollständige Beschreibung

B:

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Beim Herakles, du bringst mich um, wenn du es mir nicht ganz klar als Fleischtopf bezeichnest.

Form: 6 trochäische Tetrameter Erklärung: Athenaios zitiert die Komödien-Passage unterschiedslos in seiner Reihe von Rätsel-Beispielen. Dabei liegt in diesem Falle vielmehr eine Rätsel-Parodie vor – die allerdings durchaus auf einem entsprechenden Rätsel oder einer rätselhaften Metapher beruht. Ob die Parodie sich auf umständlich metaphorisch-gekünstelte Ausdrucksweise oder auf eigenständige Rätsel im sozialen Kontext bezieht (vielleicht besonders auf zu einfache Rätsel), lässt sich aus dem Kontext nicht erschließen. Ohne Zweifel könnte jedoch die hier abgelehnte Formulierung in einer entsprechenden Situation als Rätsel gestellt werden. Die Umschreibung paraphrasiert die Eigenschaften des Topfes (χύτρα) als Rätselobjekt weitestgehend vollständig im Hinblick auf a) die Form des gesuchten Objekts (κοιλοσώματον κύτος) b) Herstellung und Material (τροχοῦ ῥύμαισι und ὀπτηθὲν; πλαστὸν ἐκ γαίας) und c) Funktion (πνικτὰ γαλατοθρέμμονα τακεροχρῶτ’ εἴδη κύουσαν) als getöpfertes Koch-Gefäß, welches im Ofen (allein hier, wo μήτηρ für die Mutter Erde und ihre ἄλλη στέγη für den irdenen Ofen stehen, ließe sich u. U. von einer Metapher sprechen) zur Haltbarmachung gebrannt wurde. Nicht zuletzt die Ausführlichkeit dieser Angaben verweist auf den parodistischen Zug der Formulierung. Sie lässt kaum Raum für (falsche) Antworten, da sie den in Frage stehenden Gegenstand geradezu lückenlos umschreibt und derartige Formulierungen auf diese Weise gegenstandslos erscheinen lässt. Bewertung des Rätsels: Die beiden Gesprächspartner kritisieren die unnötige Umständlichkeit der Ausdrucksweise, die den direkten Gegensatz zu dem von ihnen implizit postulierten klaren Pragmatismus der Sprache (πάνυ γνωρίμως) bildet. Damit wird einerseits die blumig-metaphorische Ausdrucksweise im normalen Sprachgebrauch als (a) unnötig und (b) irreführend und damit dem Grundzweck sprachlicher Äußerungen zuwiderlaufend zurückgewiesen und andererseits auch das eigenständige Rätsel – besonders in seinen einfachen Varianten – verspottet. Diese kritische Wahrnehmung einer übertriebenen Rätselaffinität der Bevölkerung wird auch an anderer Stelle artikuliert, bes. in der rhetorischen Betrachtung des Rätsels, die, wie etwa bei Aristot. poet. 1458a; rhet. 1405ab. 1412a, das Rätsel als übertriebene Entartung gebräuchlicher Ausdrucksformen wie der Metapher beschreibt; vgl. hierzu Fuhrmann (1966) passim; ferner Struck (1995)

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B Paraphrasierende Rätsel

passim. Vgl. ferner Stellen wie Antiphan. PCG II, frg. 122 K.-A.; Hdt. 5,92 (den verständnislosen Boten zwischen Periander und Thrasybulos). Intertextuelle Verweise: Vgl. Athen. X 455f, der ein Anaxandrides-Fragment (PCG II, frg. 6 K.-A.) zitiert, welches eine ähnlich rätselhafte Umschreibung des Kochtopfes enthält. Ferner die vier bei Athen. X 449bd folgenden Komödienfragmente, die ähnliche Rätselparodien über den Kuchenfladen (πλακοῦς), den Wein (οἶνος), das Wasser (ὕδωρ) und die Myrrhe (σμύρνα) enthalten. Literatur: Schweighäuser V (1804) 532–534. Jacobs (1803) 360 f. 12 Rätsel vom Wasser Antiphan. PCG II, frg. 55,13, p. 340 K.-A.; zit. Athen. X 449c Α. λιβάδα νυμφαίαν δροσώδη; Β. παραλιπὼν ὕδωρ φάθι. A: Einen Strom von Nymphen-Tau? B: Lass dies weg und sag einfach „Wasser“!

Form: 2 trochäische Tetrameter Erklärung: Auch hier handelt es sich, wie schon Athen. X 449b, um eine Parodie auf solche Rätsel, die einfache Gegenstände unverhältnismäßig kompliziert beschreiben, bzw. auf vergleichbare Ausdrucksformen. Die übertrieben ausschweifenden Formulierungen, die auch in den übrigen Parodien zentral sind, erreichen hier ihren Höhepunkt: 1. Die Nymphen selbst stehen als Wassergeister gleichsam in einer umgekehrten Antonomasie für das Wasser als Element und verweisen bereits recht deutlich auf selbiges. 2. λιβάς bezeichnet alles, was tropfen kann, also insbesondere wässrige Flüssigkeiten wie Quellen, Ströme u.Ä., vgl. beispielsweise Soph. Phil. 1215; Eur. Andr. 116. 534; Aischyl. Pers. 613 (von tropfenden Tränen). Die Verbindung λιβάς νυμφαία wäre also bereits vollkommen ausreichend, um eine verständliche Umschreibung des Wasser zu erzeugen. 3. Das Adjektiv δροσώδης schließlich, das eine grundsätzliche (frische) Feuchtigkeit bezeichnet, ist als Attribut zu λιβάς vollkommen redundant. Alle drei Begriffe weisen somit vergleichsweise explizit auf das gesuchte Objekt hin. Irreführende Elemente gibt es hingegen nicht. Die Parodie könnte somit

B. I Unvollständige Beschreibung

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sogar einen Zweifel daran enthalten, ob es sich in diesem Fall überhaupt noch um ein Rätsel handelt. Bewertung des Rätsels: Ganz ähnlich wie in den bei Athenaios unmittelbar vorangegangenen Zitaten aus dem Aphrodision (Athen. X 449c = Antiphan. PCG II, frg. 55,1–6. 7–11. 12 K.A.) mahnt auch hier der Gesprächspartner zur Kürze im Ausdruck (παραλιπών). Kritisiert ist damit insbesondere die Länge der als unnötig kompliziert empfundenen Formulierung (vgl. bes. die abundante Zusammenstellung von λιβάδα mit dem beinahe synonymen δροσώδη). Dies belegt, dass Rätsel nicht nur – wie sonst typischerweise – durch Verkürzung bzw. Unvollständigkeit einer Beschreibung erzeugt werden, sondern auch durch das Gegenteil. Intertextuelle Verweise: Vgl. die vier weiteren Komödienfragmente bei Athen. X 449bc, die ähnliche Rätselparodien über Topf (χύτρα), Kuchenfladen (πλακοῦς), Wein (οἶνος) und Myrrhe (σμύρνα) enthalten. Literatur: Schweighäuser V (1804) 534 f. 13 Ras Rätsel von der Auster P. Louvre inv. 7733v, Lasserre ΟΣΤΡΕΙΟΝ Μέμνονος Αἰθιοπῆος ὅπου χυτὸν ἠρίον ἐστὶν οὐ ποταμοῦ ῥειτόν μ’ ἔτρεφε λεπτότατον, γρηῦς σανίτρης δ’ ἀκαμαντί μ’ ἐπὶ σπιλάδεσσ’ ἐτιθήνει ἀγροτέρης ἐραταῖς λαμπάσι τερπόμενον· θρύψις δ’ εἰμὶ βροτοῖσιν ἀφέψαλος, ἡνίκα Δωσοῦς εὖ μ’ ἄνις ἀνδιχάσῃ ῥινοτόροις βέλεσιν. Die Auster Wo das aufgeschüttete Grabmal des Aithiopers Memnon ist, nährte mich, als ich noch ganz jung war, nicht die Strömung des Flusses, das Altern der Amme aber machte mich auf den meerumspülten Felsen immer fetter und die lieblichen Fackeln der Jägerin ließen mich frohlocken. Ohne einen einzigen Funken bin ich für die Menschen eine Delikatesse, wenn der Spenderin Geliebter mich geschickt zerteilt mit seinem Schildspalter.

Form: 3 elegische Distichen Kontext: Der Rätseltext ist zusammen mit einem 53 Zeilen langen Scholion in drei Kolumnen eines Papyrus überliefert. Obwohl das Scholion in unmittelbarer Nähe zu

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B Paraphrasierende Rätsel

dem kommentierten Text (d. h. im selben Buch) gestanden zu haben scheint, wiederholt das Scholion sowohl den Titel des Rätsels als auch den jeweils kommentierten Vers, wovon die Rekonstruktion der im Rätseltext entstandenen Lücken profitiert. Über das Wesen des Buches, von dem das Rätsel ein Teil gewesen ist, lässt sich nichts Genaues sagen. Das Rätsel mag Teil einer Sammlung entweder der Rätseltexte eines Autors oder einer Kompilation von Rätseln unterschiedlicher Autoren gewesen sein. Der Papyrus enthält für das überlieferte Rätsel keinen Autornamen, der jedoch in einer der vier oder fünf verlorenen Zeilen am Beginn der ersten Kolumne gestanden haben könnte. Erklärung: Aus der Ich-Perspektive verrätselt sich die – in der Überschrift ausdrücklich als Lösung genannte – Auster (ὄστρειον) im Hinblick auf ihr natürliches Vorkommen (vv. 1–3), ihr Wachstum (vv. 3–4) und ihre Verwendung als (exquisites) Nahrungsmittel (vv. 5–6). Es durchdringen sich dabei die verschiedensten Verrätselungsmechanismen, denn obwohl die Rätselfrage im Grundsatz paraphrasierend verläuft (insbesondere durch die direkte Angabe der Objektkategorie in v. 5), kommen auch in nicht geringer Zahl Formen des uneigentlichen Sprechens zur Anwendung, und obwohl die Schwierigkeit der Lösung im alleinigen Hinblick auf die Auster primär durch die Unvollständigkeit der Beschreibung bestimmt wird, findet sich in dem ersten Verspaar der Rätselfrage auch eine Homonymie. Die hier vorgenommene Einordnung des Rätsels versteht sich somit nicht als absolut. v. 1: Als erster Anhaltspunkt für die Enthüllung des Haupt-Rätselobjekts (der Auster) dient eine räumliche Verortung desselben, die jedoch zunächst ihrerseits einer Entschlüsselung bedarf: Der aithiopische Memnon (Μέμνονος Αἰθιοπῆος) lässt nämlich – als Homonym – zwei ganz verschiedene Deutungen zu. Einerseits, und dabei handelt es sich, wenn man dem Scholiasten z. St. vertraut (P. Louvre 7733v, col. i, 9–18), um die sich dem Rezipienten eher aufdrängende, jedoch falsche Identifikation, lässt der lautlich ähnliche Thronname Mn-mᵓᶜ.t-Rᶜ (Mn-maat-re) des ägyptischen Pharaos Sethos I, der in Aithiopien im berühmten Tal der Könige begraben ist, den griechischen Rezipienten an einen ägyptisch-aithiopischen Memnon denken. Andererseits spielt die zweideutige Formulierung auf den mythologischen Aithioperkönig Memnon an, der im Trojanischen Krieg von Achill getötet und – nach der bekanntesten griechischen Tradition – am kleinasiatischen Ufer des Hellespont bestattet wird.6 Die Entschei-

6 In Susa bestattet nach Ail. nat. 1,5,1; bei der ägyptischen Stadt Ptolemais nach Ios. bell. Iud. 1,2; bei dem Fluss Bada in Syrien nach Strab. 1,15.

B. I Unvollständige Beschreibung

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dung zwischen jenem ägyptisch-aithiopischen Memnon, dessen Grabmal sich in Aithiopien befindet, und diesem „kleinasiatisch-aithiopischen“ Memnon, der über Aithiopien herrschte, jedoch andernorts ein Grabmal erhielt, wird für den Rezipienten zusätzlich durch eine zweite Ebene der Homonymie erschwert. Denn beide Gräber liegen bei einer Stadt mit Namen Abydos – die eine in der ägyptischen Thebais, die andere am kleinasiatischen Ufer des Hellespont. Da es jedoch nur am Hellespont-Ufer ein Austernvorkommen gibt, führt die Assoziation mit der aufgrund ihrer besonderen Popularität u. U. naheliegenderen Grabstätte in Ägypten, wo es keine Austern gibt, den Rezipienten in einen Widerspruch mit den Überlegungen, die sich aus den beiden folgenden Verspaaren ergeben werden. Um zu einer für den gesamten Rätseltext stimmigen und sinnvoll erklärbaren Lösung zu gelangen, müsste ein Rätsellöser dann seine anfängliche Assoziation revidieren und auf den richtigen, kleinasiatischen Ort für das Vorkommen der Auster schließen. v. 2: Die nach v. 1 notwendige Entscheidungsfindung wird durch die Angaben des zweiten Verses (im Ausschlussverfahren) unterstützt. Nicht gemeint ist diejenige der beiden Grabstätten, die an einem Fluss liegt. Besonders trickreich ist hier, dass sowohl das kleinasiatische Grabmal – am Aisepos – als auch das ägyptische Grabmal – am Nil – an einem Fluss liegt. In Verbindung mit den in v. 3 genannten Meeresfelsen (σπιλάδες) wird dann jedoch deutlich, dass derjenige Ort nicht gemeint ist, der ausschließlich an einem Fluss und nicht zusätzlich auch am Meer (dem Hellespont) liegt. Besonders irreführend ist der Hinweis auf den Fluss jedoch auch deshalb, weil das Grabmal des Aithioperkönigs, also das richtige von beiden, in unterschiedlichen Überlieferungstraditionen ebenfalls in besonderem Zusammenhang mit unterschiedlichen Flüssen steht; vgl. den Paphlagonios, der am Todestag des Königs jährlich Blut anstelle von Wasser geführt haben soll (Q. Smyrn. 1,2,555); den mit v. 6 (βέλεσιν) lautlich erstaunlich ähnlichen Fluss Belos in Galiläa (Ios. bell. Iud. 1,2). vv. 3–4: Bereits in v. 2 findet sich die erste direkte Erwähnung des Rätselobjekts, das dort als noch besonders jung, klein oder zart (λεπτότατον) benannt ist. v. 3 hebt mit einem Kontrast zu jenem Schlusswort des vorangegangenen Verses an: γρηῦς bezeichnet eine (weibliche) Person in fortgeschrittenem Alter. Obwohl hier also zunächst zwei unterschiedliche Entwicklungsstufen desselben Objekts gegenübergestellt zu sein scheinen, wie es für andere Rätsel der AP nicht untypisch ist (z. B. im Rätsel von der Weinrebe (Chairemon, TrGF I, 71 F 41 Snell); von der Distelwolle (AP App. VII 10)), bezieht sich jene zweite Altersangabe tatsächlich nicht auf das Rätselobjekt selbst, sondern auf die hier neu eingeführte Nährerin oder Amme (σανίτρη) desselben. Wie auch das Scholion z. St. erklärt (P. Louvre 7733v, col. ii, 24–29), handelt es sich bei der hier umschriebenen, metaphorisch zu verstehenden Amme um den Mond, der die Gezeiten be-

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B Paraphrasierende Rätsel

einflusst. Sie ist insofern für die Fütterung (ἐτιθήνει) der unbeweglichen, nicht selten sogar auf einem Stein (σπίλας) angewachsenen Auster zuständig, indem sie durch ihren unaufhörlichen (ἀκαμαντί), d. h. zyklischen Alterungs- bzw. Entwicklungsprozess (γρηῦς) zwischen Neu- und Vollmond das Meereswasser des Hellespont zwischen Ebbe und Flut in immerwährende (ἀκαμαντί) Bewegung versetzt. Auf diese Weise werden immer neue Nahrungspartikel, die die Auster aus dem Meereswasser herausfiltert, an dem einen, festen Aufenthaltsort der Muschel vorbeigespült. Die metaphorische Umschreibung des leuchtenden Ammen-Mondes als fackeltragende Jägerin in v. 4 bezieht sich schließlich auf die Verbindung zwischen der Jagd- und Mondgöttin Artemis und dem die Gezeiten bestimmenden Gestirn, die sogar – anders als eine gewöhnliche Metonymie oder Allegorie – über zwei Ebenen verläuft: Jägerin – {Artemis} – Mond. Das Leuchten des Mondes ist der Auster eben deshalb so lieb (ἐραταῖς) und stimmt sie froh (τερπόμενον), weil es – als augenscheinlichstes Merkmal des Mondes zumindest im übertragenen Sinne (denn tatsächlich sind die Gezeiten freilich weniger durch das Licht als durch die Anziehungskraft des Erdtrabanten beeinflusst) – für die lebensnotwendige Meeresbewegung verantwortlich ist. Dass die Muschel durch die Strömung des Nils (ποταμοῦ ῥειτόν), von der in v. 2 gegenüberstellend die Rede gewesen war und die in Punkto „Nahrungstransport durch Wasserbewegung“ prinzipiell vielleicht ähnliches vermöchte wie die Meeresbewegung, nicht genährt wird (οὐ ἔτρεφε), ist hingegen nicht zu wörtlich zu begreifen: Es gibt im Nil schlichtweg keine Austernpopulation, die durch die Strömung des Flusses genährt werden könnte. vv. 5–6: Die Schlussverse des Rätsels beziehen sich auf die Verwendung der Auster als Delikatess-Speise – in θρύψις, von Parsons und Page m. E. nicht weniger stimmig zu θοίνη verbessert, ist dabei sogar die Kategorie des Rätselobjekts direkt benannt. Als besonderes Merkmal des Lebensmittels ist dabei zunächst sein roher, nicht auf Feuer gekochter (ἀφέψαλος) Verzehr angeführt, der u. U. einer Einordnung als besonders hochwertige Speise tendenziell zuwider laufen mag (P. Louvre 7733v, col. ii, 30–33). Schließlich ist das diffizile Öffnen (ἀνδιχάσῃ) der Muschelschale, das dem Verzehr des Weichtiers vorangehen muss, mithilfe zweier Umschreibungen und einer Metapher verrätselt. Zunächst ist, das eröffnet das Scholion z. St. (P. Louvre 7733v, col. iii), Aphrodite hier mit einem ansonsten weitestgehend unbekannten Beinamen als Geberin (Δωσώ) bezeichnet, der ihre Identifikation entsprechend erschweren dürfte; vgl. hierzu einzig Hesych. s. v. Εὐδωσώ· ἡ Ἀφροδίτη ἐν Συρακούσαις. Auch die inhaltliche Nähe zu der in v. 3 für Artemis stehenden σανίτρη (Amme) erschwert einem Rezipienten das Verständnis. Der Geliebte der Aphrodite – von Lasserre etwas waghalsig als ἄνις konjiziert, während Parsons und Page νυμφίος bzw. μοιχός

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zur Diskussion stellen –, der mit Waffen aus Eisen (βέλεσιν) zu Werke rückt, um die in einer Kriegsmetaphorik als Schild angesprochene Muschelschale der Auster aufzubrechen (ῥινοτόροις), ist freilich Ares, der auch sonst in verschiedenen Rätseln in einer Metonymie durch seinen Handwerksbereich vertreten wird (etwa AP XIV 45. 60). Die Waffe steht dabei ebenfalls in einer metaphorischen (starken) Verallgemeinerung für das Messer des Speisenden, mit dem die Austernschale aufgebrochen wird. Literatur: Parsons (1977) 1–12 gibt eine Edition des Rätseltextes sowie des Scholions, die mit besonders ausführlichen Anmerkungen zur Rekonstruktion der Textgestalt und möglichen Konjekturen (mit denen der Autor insgesamt eher zurückhaltend ist) versehen ist. Vgl. auch Page (1981) 469–473 mit einer vergleichbaren Edition. Lasserre (1975) 145–176 und (1989) 95–122 bietet eine grundlegende Beschreibung der Beschaffenheit des Papyrus, eine Edition des Rätseltextes sowie des auf demselben Papyrus überlieferten Scholions, den obenstehenden Lesetext des Rätsels und einen ausführlichen Kommentar zu Rätsel und Scholion. B. I. 1.1.6 Ergänzt durch Bestandteile, Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Rätsel vom Mond Psellos 2, Anecd. Gr. III, p. 429 f. Boiss.; S 73 Σφαῖρά τις ὕπερθεν τῆς γῆς, πετάλοις σκεπομένη, Ὕπτιος ἐπανάκειται, ὕδατος πεπλησμένη, Καιρῷ προσφόρῳ λάμπουσα, πάλιν μαραινομένη, [Ὅλῳ τῷ χρόνῳ λάμπουσα, φθίσιν οὐ δεχομένη,] Ἀλέαν ἀποτίκτουσα, σβεννύουσα τὴν ζέσιν, Τοῖς εὐπαθοῦσι πρόσφορος, τοῖς δυσπαθοῦσι πλέον, Νοσήματος γεννητική, λυτήριον τῆς νόσου; Τίς αὕτη, πορφυρόβλαστε; τῆς λύσεως τίς λόγος; Ein gewisser Ball über der Erde, mit Blättern bedeckt, er liegt auf dem Rücken, ist voll von Wasser, zur passenden Zeit leuchtet er, dann vergeht er wieder, [die ganze Zeit leuchtet er und vergeht nicht,] er bringt Wärme hervor und doch beendet er das Kochen, er ist nützlich für jene, denen es gut geht, für die Unglücklichen noch mehr, Erzeuger der Krankheit und doch auch Heilung der Krankheit; Was also ist er, der aus dem Dunkel hervorwächst? Welches ist das Lösungswort?

Form: 8 iambische Fünfzehnsilbler

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B Paraphrasierende Rätsel

Erklärung: Das kosmologische Rätsel vom Mond ist aus der Erzählerperspektive formuliert. Der Mond wird dabei als Rätselobjekt v. a. im Hinblick auf seine äußerliche Erscheinung und seine Wirkungsweisen vergleichsweise umfassend beschrieben. Der größte Teil des Rätsels (ab v. 3) ist von paradox scheinenden Gegensatzpaaren bestimmt. v. 1: Der Anfang des Rätsels liefert zwei echte Hinweise (Verallgemeinerung zu σφαῖρα anhand der Form und lokale Verortung am Himmel) und einen verschlüsselten. Als πετάλοις σκεπομένη gilt der Mond offenbar aufgrund seiner formalen Ähnlichkeit mit dem (Spiel-)Ball, dessen Äußeres gewöhnlich aus Lederstücken bzw. -blättern besteht; vgl. hierzu das Rätsel vom Ball (τὰ φύλλα δέ μου κατακρύπτει/ τὰς τρίχας, AP XIV 62). Vgl. ferner Hüsing (1909) 5, darüber, dass der Mond „überaus häufig als Ball, aber auch als von Blättern bedeckte, sich erschließende Blüte“ imaginiert wird (Schultz (1912) 12). v. 2a: Hier scheint es um die Mondsichel zu gehen, deren Position am Himmel je nach relativer Position zur Sonne durchaus als ὕπτιος ἐπανακείμενος gelten kann. Vgl. die Darstellung der Göttin Semele mit auf dem Rücken liegender Mondsichel zwischen Morgen- und Abendstern auf einem römischen Marmoraltar (abgebildet in de Clarac II (1828) 170). v. 2b: Der Mond selbst besteht zwar nicht aus Wasser, beeinflusst jedoch die Gezeiten; vgl. hierzu das Rätsel von der Auster (P. Louvre 7733v). v. 3: Hier wird auf den Mondzyklus und das Zu- und Abnehmen zwischen Vollmond und Neumond angespielt. In diesem ersten (schwachen) Gegensatzpaar (λάμπουσα, πάλιν μαραινιμένη) liegt der deutlichste Hinweis auf den Mond als Rätselobjekt, dessen Hauptcharakteristikum ja das zyklische λάμπειν ist. v. 4: Einen zweiten Gegensatz hierzu bildet der in der Fabriciana nicht enthaltene v. 4 (vgl. Anecd. Gr. III. p. 430 Boiss.), der offenbar auf den voll ausgeleuchteten Vollmond im Gegensatz zu den gewissermaßen unvoll(ständig)en anderen Mondphasen geht. Dem καιρός steht dort der ὅλος χρόνος gegenüber, dem μαραίνειν die verneinte φθίσις. Während v. 3 den zyklischen Wechsel der unterschiedlichen Mondphasen betont, scheint hier der Fokus auf dem unaufhörlich iterativen Charakter des leuchtenden Mondes zu liegen, der tatsächlich niemals – vollends bzw. endgültig – vergeht. v. 5 (4): Das zweite scheinbar paradoxe Gegensatzpaar betrifft die Wärme (ἀλέα, ζέσις), die durch das Rätselobjekt einerseits erzeugt (ἀποτίκτουσα), andererseits vermieden oder eingedämmt (σβεννύουσα) wird. Inwiefern das im Vergleich zum Sonnenlicht doch genuin eher kalte Licht des Mondes in einer antiken Vorstellung mit dem Changieren von Wärme verknüpft gewesen sein kann, vermag ich nicht zu sagen. Der Erdtrabant könnte in medizinischem Kontext, etwa als Bestandteil eines mit dem (mondbeschienenen?) Heilschlaf operieren-

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den Asklepioskultes, als Fieber-Linderer gegolten haben; vgl. zur medizinischen Dimension weiter vv. 5–6. v. 6 (5): Nicht streng paradox, aber doch gegensätzlich formuliert ist die Hilfe sowohl für die Glücklichen als auch für die Unglücklichen. Auch eine solche Assoziation des Mondes ist mir aus anderer Quelle nicht bekannt. Es mag der Mond als allgemein wohltuend oder glücksbringend gegolten haben: Er wäre dann allen Menschen willkommen und nützlich, für die Unglücklichen aber in besonderem Maße notwendig und heilbringend. v. 7 (6): Das letzte paradoxe Gegensatzpaar betrifft die Krankheit (νόσος), die paradoxerweise durch das Rätselobjekt sowohl erzeugt (γεννητική) als auch geheilt (λυτήριον) werden soll. Der Mond könnte, eventuell in Zusammenhang mit einem Asklepios-Kult o.Ä., sowohl als Verursacher bestimmter Krankheiten wie auch als Heilung für andere Krankheiten gegolten haben; vgl. bspw. dass der heilende Tempelschlaf bei Nacht, d. h. während des Mondscheins, vollzogen wurde. Auf welche Krankheiten hier im Einzelnen angespielt sein könnte, lässt sich jedoch nicht konkret bestimmen. vv. 7–8 (6–7): Das Rätsel schließt mit den beiden direkten Fragen an den Rezipienten, die einer expliziten Lösungsaufforderung entsprechen. v. 7 betrifft erneut die medizinische Relevanz des Gestirns. Literatur: Das Rätsel ist bei Fabricius unter dem abweichenden Lemma οὐρανός überliefert, das nicht zum Inhalt des Rätsels zu passen scheint; vgl. hierzu Schultz (1912) 12–15 und Boiss. Anm. 5 z. St. Schultz (1912) 12–15 vergleicht ferner, nicht ohne Grund, die z. T. aus ähnlichen Strukturelementen bestehenden Rätsel AP XIV 110 (R. vom Traum), AP App. VII 60 (R. vom Geist bzw. Himmel), AP App. VII 46 (R. vom Himmel bzw. Regenbogen), Athen. X 448f (R. vom Picknick), AP App. VII 11 (R. vom Schlaf), AP XIV 59 (R. von der Argo), AP XIV 62 (R. vom Ball) und rekonstruiert eine von ihm für ursprünglich gehaltene Textversion, die von acht Gegensatzpaaren (wohl je einer für jeden Vers) geprägt ist: 1. Eine Kugel über der Erde ‹ und berührt doch auch die Erde › 2. von Blättern bedeckt ‹ und dann wieder von ihnen entblößt › 3. ‹ schließt sie sich vorn › und geht rücklings wieder auf 4. ganz voll Wasser ‹ und dann wieder von ihm entleert › 5. zu angemessener Zeit leuchtend – dann wieder verdunkelt, 6. Wärme gebend – das Sieden dämpfend, 7. den Gesunden zuträglich – noch mehr den Kranken, 8. Erzeugerin der Krankheit – Befreierin von der Krankheit.

Es mag zwar durchaus sein, dass das Rätsel einmal diese Form gehabt hat – allein, zwingend ist es wohl kaum. Schließlich zeigen auch andere Rätsel einen

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B Paraphrasierende Rätsel

geteilten Aufbau, der nur abschnittsweise von Gegensatzpaaren geprägt ist, vgl. etwa bes. AP XIV 5, das Rätsel vom Rauch, das die Gegenüberstellung von „weißem Vater“ und „schwarzem Sohn“ enthält, darüber hinaus aber das Rätselobjekt in seiner Flugfähigkeit, seiner Tränen erzeugenden Wirkung und seiner Vergänglichkeit beschreibt; ferner auch AP XIV 103 (Rosine), Tryphon, de tropis 4 = Rhet. Gr. III, p. 737 Walz (zwei Brüder/Würfel). Es besteht kein ernsthafter Grund, zu glauben, es sei ursprünglicher, die Rätsel nach einem einheitlichen Muster zu gestalten, da gerade der Wechsel zwischen den verschiedenen Methoden, der von einem Rezipienten als solcher erkannt werden muss, den Schwierigkeitsgrad eines Rätsels erhöht. Ferner bringt die ergänzende Rekonstruktion bei Schultz keinen inhaltlichen Gewinn, der die schwierigen Stellen des Rätsels verständlicher werden ließe. Vielmehr bleiben diese Punkte in der Schultz’schen Darstellung vollkommen unberührt.

2 Rätsel vom Zelt AP App. VII 38, Cougny; Psellos 11, Anecd. Gr. III, p. 432 f. Boiss.; S 71 Ἄπετρός εἰμι καὶ κινούμενος δόμος, ἐν γῇ βεβηκὼς, γῇ δὲ μὴ συνημμένος· οὐ πηλὸς, οὐκ ἄσβεστος ἐξήγειρέ με. Πρίων δὲ καὶ σκέπαρνον οὐ τέτμηκέ με, εἰ μὴ κορυφὴν καὶ τὰ βάθρα μου λέγεις. Φῶς ἔνδον ἕλκω, καίπερ ὢν πεφραγμένος. Λοξοὺς συνιστῶντάς με κίονας φέρω. Τῶν κιόνων μου πάντοθεν κλονουμένων, τὸ σχῆμα σώζων, ἀβλαβὴς, ἑστὼς μένω. Τὸ καινὸν· εἴ με καὶ καταστρέφεις βίᾳ, οὐκ ἂν καταρράξῃς με· σῶός εἰμί σοι· ἀνίσταμαι γὰρ, καὶ πάλιν μένω δόμος. Ohne Stein bin ich und als Haus beweglich, auf die Erde gebaut, aber doch mit der Erde nicht verwachsen. Weder Lehm noch Kalkstein erbauten mich. Und weder Säge noch Axt schnitten mich zurecht, außer wenn du von meiner Spitze und meinen Fundamenten sprichst. Licht trage ich in mir drinnen, obwohl ich verschlossen bin. Ich trage verborgene Säulen, die mich stabil machen. Wenn sich meine Säulen von überall her in Bewegung setzen, bewahre ich meine Form und bleibe unversehrt stehen. Dies Neues: Wenn du mich auch mit Gewalt umstürzt, brichst du mich doch nicht entzwei; Ich bin dir Heil: ich richte mich nämlich wieder auf und bleibe wiederum ein Haus.

Form: 12 iambische Trimeter

B. I Unvollständige Beschreibung

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Erklärung: Das Zelt (τέντα) beschreibt sich aus der Ich-Perspektive als Rätselobjekt im Hinblick auf seinen Aufbau und seine Funktion. Dabei wird besonders mit der offenbar als kurios empfundenen Möglichkeit des Ab- und (Wieder-)Aufbauens gespielt. Der Kontrast mit dem (feststehenden) Haus spielt eine entscheidende Rolle. vv. 1–3: δόμος steht hier als eine verallgemeinernde Metapher (Synekdoche) für das Zelt als eine Art Haus; vgl. das Rätsel von Eunuch und Fledermaus (AP App. VII 15. 16, Plat. rep. 479bc), in dem auf ganz ähnliche Weise (nur ausdrücklicher) jeweils eine Kategorie bejaht und zugleich verneint wird, um eine Ähnlichkeit im Hinblick auf eine bestimmte Eigenschaft zu umschreiben. Das Zelt ist in diesem Sinne ein Haus und doch kein Haus, weil es einerseits von Menschen bewohnt werden kann, ihnen Schutz bzw. Geborgenheit gibt etc., andererseits aber die meisten der wesentlichsten Eigenschaften eines Hauses (v. a. im Hinblick auf die Materialien) nicht besitzt. Eine paradoxe Wirkung wird hier durch die Verneinung der geläufigsten Baumaterialien und durch das Attribut κινούμενος erzeugt. Ein Haus, das ohne Stein (ἄπετρος, v. 1), Lehm (οὐ πηλός, v. 3), Kalkstein (οὐκ ἄσβεστος, v. 3) und Holz (indirekt in vv. 4–5) gebaut und noch dazu nicht an einem Ort fixiert, sondern beweglich ist (κινούμενος, v. 1, mit v. 2), ist für einen Rezipienten schwer vorstellbar, da die aufgezählten Eigenschaften kaum mehr mit dem Begriff δόμος in Übereinstimmung zu bringen sind. v. 2 enthält zudem in sich ein Paradoxon, insofern die Verbindung von (ἐν γῇ) βεβηκώς und (γῇ) μὴ συνημμένος unmöglich erscheint. Keines echten Hauses Fundament lässt sich, einmal gegossen oder verlegt, noch von der Erde trennen. vv. 4–5: Hier wird indirekt, durch die Nennung der typischen Werkzeuge zur Bearbeitung, auch Holz als Baumaterial negiert bzw. auf ganz bestimmte Teile, nämlich Spitze und Fundament, beschränkt. Einem Rezipienten mag es besonders unverständlich erscheinen, ausgerechnet die obersten und untersten Teile eines Hauses aus Holz zu bauen. Man wird bei einem Zelt wohl an dessen Gerüst zu denken haben – obwohl die Zeltstangen in vv. 7–9 auch eigens umschrieben sind. v. 6: Gemeint ist wohl das künstliche Licht einer Lampe im geschlossenen Raum, d. h. im Zelt ohne Fenster. Dass in einem geschlossenen Raum von alleine Licht ist, ist unmöglich, weshalb die Formulierung eventuell zu einer Irritation des Rezipienten führt, der auf das künstlich erzeugte Licht schließen muss. Der Unterschied zu einem echten Haus mag in dem Vorhandensein bzw. Fehlen der Fenster, d. h. der Möglichkeiten für Tageslicht, von außen einzudringen, liegen.

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vv. 7–9: Die Säule (κίων) kann hier aufgrund einer formalen (länglich) und funktionalen (Stütze) Analogie für die Stange des Zeltes stehen. Dadurch, dass die Säule weniger beweglich und viel massiver ist als die (Holz-)Stange eines Zeltes, bleibt die Erzählung in dem Kontrast mit dem unbeweglichen, massiven Haus. Da zuvor bereits die typischen Materialien, aus denen einen Säule gewöhnlich besteht, v. a. Stein, verneint wurden, fällt es einem Rezipienten u. U. sehr schwer, diese Information zu verwerten. Verborgen (λοξός, v. 7) sind die Säulen des Zeltes, im Unterschied zu denen eines Hauses, die gewöhnlich sichtbar an der Front o.ä. angebracht sind, insofern sie in seinem Inneren, eingehüllt in den Stoff des Zeltes, liegen. Die Bewegung der Säulen und das gleichzeitige Bestehenbleiben der Form erscheinen paradox. Selbst ein Zelt verliert ja (temporär) seine Form, wenn es abgebaut wird. Im Horizont des Hauses gemahnen die sich bewegenden Säulen noch stärker an Einsturz oder Abriss (vgl. vv. 10 f.), wodurch das Paradoxon verschärft wird. Gedacht ist offenbar daran, dass ein Zelt leicht ab- und wieder aufgebaut werden kann (vv. 10 f. ἀνίσταμαι ... πάλιν, v. 12), wohingegen ein eingestürztes Haus nur unter Mühen wiedererrichtet werden kann, zumal ohne seine Form zu verändern (τὸ σχῆμα σώζων, v. 9). vv. 10–11a: Hier wird der Inhalt von vv. 7–9 erneut aufgegriffen. Paradox erscheint die Zusammenstellung von Gewalteinwirkung und negierter Zerstörung, zumal alle widerstandsfähigen Materialien eingangs negiert wurden. Ein Haus, das einstürzt oder gar absichtlich zerstört wird, ist völlig dahin. Dabei ist βία kaum im engeren Sinne des Wortes aufzufassen, denn anderenfalls könnte natürlich auch der Stoff eines Zeltes zerschnitten und seine Stangen zerbrochen werden. In einer irreführenden Konkretisierung steht der Gewalteinfluss hier offenbar für das (neutrale) Abbauen des Zeltes. Damit wird v. 1 κινούμενος wieder aufgegriffen und (ohne dass dies explizit gesagt wäre) inhaltlich erklärt. v. 11b: Hier wird in σῶος ein echter Hinweis auf die schützende, beherbergende Funktion des Zeltes gegeben, welche es mit dem Haus teilt. v. 12: Fazit aus vv- 8–11. Intertextuelle Verweise: Vgl. Basil. Megalomit. 7 Boiss. das Rätsel vom Zelt aus vier iambischen Trimetern. Es handelt sich offenbar um eine verkürzte Form des hier vorliegenden Rätsels, v. 1 ist identisch, vv. 4 f. identisch mit v. 2 f. dort, vv. 10b–12 zusammengefasst zu v. 4. Ähnlich ferner AP App. VII 46 das Rätsel vom Regenbogen (Brücke ohne Holz und Stein); AP App. VII 75 = Basil. Megalomit. 41 Boiss. das Rätsel vom Himmel (Gewölbe ohne die gängigen Baumaterialien).

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B. I. 1.1.7 Ohne weitere Angaben 1 Orakel von der Heilung des Telephos Apollod. epit. 3,20, Wagner Τήλεφος δὲ ἐκ τῆς Μυσίας, ἀνίατον τὸ τραῦμα ἔχων, εἰπόντος αὐτῷ τοῦ Ἀπόλλωνος τότε τεύξεσθαι θεραπείας, ὅταν ὁ τρώσας ἰατρὸς γένηται, τρύχεσιν ἠμφιεσμένος εἰς Ἄργος ἀφίκετο, καὶ δεηθεὶς Ἀχιλλέως καὶ ὑπεσχημένος τὸν εἰς Τροίαν πλοῦν δεῖξαι θεραπεύεται ἀποξύσαντος Ἀχιλλέως τῆς Πηλιάδος μελίας τὸν ἰόν. θεραπευθεὶς οὖν ἔδειξε τὸν πλοῦν, τὸ τῆς δείξεως ἀσφαλὲς πιστουμένου τοῦ Κάλχαντος διὰ τῆς ἑαυτοῦ μαντικῆς. Telephos, gekleidet in Lumpen, kam von Mysien nach Argos, weil er eine Wunde hatte, die nicht verheilen wollte, und ihm Apoll gesagt hatte, er würde geheilt werden, wenn der, der ihn verwundet hatte, sein Arzt würde; und er flehte Achill an und versprach, er würde ihnen den Seeweg nach Troja weisen. Und so wurde er geheilt, indem Achill Rost von dem peliadischen Speerschaft schabte. So wurde er geheilt und zeigte ihnen den Seeweg und die Richtigkeit seiner Informationen wurde durch die prophetische Gabe des Kalchas unter Beweis gestellt.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Als die Griechen auf ihrem Zug gegen Troja versehentlich ins kleinasiatische Mysien gelangen und dort, in der fälschlichen Annahme, das Ziel ihrer Reise erreicht zu haben, einen Angriff unternehmen, werden sie im Kampf zurückgeschlagen. Dabei verletzt jedoch Achill den Telephos mit seinem (wohl aus Holz vom Peliongebirge geschlagenen) Speer. Weil jene Wunde des Telephos nicht wieder verheilen will, sucht dieser das Orakel von Delphi auf und erhält obenstehenden Orakelspruch. Erklärung: Der Orakelspruch, den Telephos erhält, scheint eindeutig zu sein: Unterziehe dich der paradoxen Prozedur, dass derjenige, der dir die Wunde zugefügt hat, sie auch wieder heilt. Und doch gelingt die korrekte Auslegung des Orakels für Telephos nur durch Zufall bzw. weil Achill den tieferen Sinn des Spruchs durchschaut; vgl. Hyp. Cypr. 7 West (2007). Telephos glaubt allem Anschein nach, der durch seine Ausbildung bei dem Kentauren Cheiron medizinisch geschulte Achill müsse ihn heilen (δεηθεὶς Ἀχιλλέως), weil dieser den Speer geführt hatte, der Telephos die hartnäckige Wunde beibrachte. Diese Auslegung entspricht der Suggestion des Orakels, der gesuchte Heiler (ἰατρός) sei eine Person. Genau genommen, d. h. im ganz wörtlichen Sinne, hat jedoch jener Speer, nicht Achill selbst, etwa mit bloßer Hand, die Wunde erzeugt. Im Sinne des Orakels kann deshalb auch nur die Waffe für eine Heilung der Wunde sorgen. Achill, der diesen Hintersinn offenbar durch-

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schaut, schabt Rost von der Speerspitze (ἀποξύσαντος τῆς Πηλιάδος μελίας τὸν ἰόν), der dann – wohl in eine entsprechende Tinktur gemischt – auf die Wunde aufgebracht wurde und tatsächlich zu ihrer Heilung führte (θεραπευθείς). Da Achill die heilende Prozedur durchführt, fällt das Missverständnis des Orakelspruchs durch Telephos letztlich nicht ins Gewicht. Als Entlohnung für die geglückte Rätsellösung und die damit verbundene Heilung des Telephos erhalten die Griechen den Mysier als Wegweiser für ihre Fahrt nach Troja. Intertextuelle Verweise: Zur Heilung des Telephos durch den Rost des Speers vgl. ferner Eur. TrGF V.2, frg. 724 Kannnicht; Hyg. fab. 101,4; Prop. 2,1,63 ff.; Ov. Pont. 2,2,6; Plin. nat. 25,42. 34,152. Zu dem Speer, den mit Ausnahme von Achill keiner der Griechen werfen konnte, vgl. Hom. Il. 16,140–144. 16,387–391. 22,133 ff. Literatur: Vgl. zum euripideischen Telephos, der ebenfalls die Heilung der Wunde thematisiert haben muss, Olson (2002) liv–lxi mit Verweis auf die einschlägigen Ausgaben. Zum Telephos des Euripides ferner auch Preise (2000) und (2001). 2 Buchstabenrätsel von (Ant)onios Polemon AP XI 181, Beckby Ἤιδειμεν, Πολέμων, Ἀντώνιον ὂντα σε πάντες. ἐξαπίνης τρία σοι γράμματα πῶς ἔλιπεν; Wir alle wissen, Polemon, dass du Antonios heißt. Wo sind dir denn plötzlich die drei Buchstaben geblieben?

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein rätselhaftes Spottepigramm, dessen Adressat offenbar der unter seinen Zeitgenossen sehr geschätzte sophistische Rhetor Polemon von Laodikeia (2. Jh. n. Chr.) ist. v. 1 nimmt Bezug auf Ἀντώνιος als korrekten Namen des Angesprochenen, unter dem ihn alle kennen (ἤιδειμεν σε πάντες). v. 2: Trennt man die ersten drei Buchstaben des Namens Ἀντ – ονιος ab, wie es hier indirekt suggeriert wird (dass es sich um die ersten drei Buchstaben handelt, ist freilich nicht ausdrücklich gesagt und muss, um den beleidigenden Sinn des Gesagten erkennen zu können, zunächst erkannt werden), bleibt als

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Name die Bezeichnung des Esels ὄνιος bzw. ὄνειος übrig. Der Sprecher des Epigramms suggeriert somit, dass der Angesprochene sich von Antonios in einen Esel verwandelt hat, d. h. dass er faul, feige, dumm oder käuflich geworden sei.

3 Buchstabenrätsel von der Kreuzigung AP XI 230, Beckby Μασταύρων ἀφελὼν δύο γράμματα, Μάρκε, τὰ πρῶτα ἄξιος εἶ πολλῶν τῶν ὑπολειπομένων. Wenn du von μασταύρων die beiden ersten Buchstaben wegnimmst, Marcus, bist du viele der verbleibenden wert.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein beleidigendes Spottepigramm mit einem rätselhaften Element. Angefeindet wird ein gewisser Marcus. Wenn, wie in v. 1 gefordert, die beiden ersten Buchstaben des Wortes μα – σταύρων abgetrennt werden, bleiben σταυρῶν, also Pfähle oder Pflocke bzw. die daraus angefertigten Kreuze für Kreuzigungen zurück, vgl. Diod. 2,18; Mt 27,40; hierzu auch LSJ 1635 s. v. σταύρος. Was in v. 2 zunächst schmeichelhaft klingen mag, nämlich dass der Angesprochene vieles wert (ἄξιος πολλῶν) ist, verkehrt sich so ins Gegenteil: Er gehört nach Ansicht des Sprechers gleich mehrfach gekreuzigt. Die Rätselform foppt den Adressaten somit auf zweifache Weise: Erkennt er den Sinn des Gesagten nicht, wird seine kognitive Schwäche zur Schau gestellt und es gelingt eine offen feindselige Äußerung unter dem sicheren Deckmantel des verhüllenden Rätsels zu äußern. Erschließt der angesprochene Marcus den Sinn aber doch, so sieht er sich aufs Äußerste Beleidigt, ja vielleicht sogar bedroht. Intertextuelle Verweise: Vgl. auch das Buchstabenrätsel AP XI 231, das sich offenbar mit einer vergleichbaren Intention an denselben Marcus als Adressaten richtet.

B. I. 1.1.8 Sonstige 1 Rätselhafter Traum vom Tod des Atys Hdt. 1,34. 39 f. (Kontext 1, 34–43), Wilson αὐτίκα δέ οἱ εὕδοντι ἐπέστη ὄνειρος, ὅς οἱ τὴν ἀληθείην ἔφαινε τῶν μελλόντων γενέσθαι κακῶν κατὰ τὸν παῖδα. […] τοῦτον δὴ ὦν τὸν Ἄτυν σημαίνει τῷ Κροίσῳ ὁ ὄνειρος, ὡς ἀπολέει μιν αἰχμῇ σιδηρέῃ βληθέντα. ὃ δε ἐπείτε ἐξηγέρθη καὶ ἑωυτῷ λόγον ἔδωκε, κα-

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ταρρωδήσας τὸν ὄνειρον ἄγεται μὲν τῷ παιδὶ γυναῖκα, ἐωθότα δὲ στρατηγέειν μιν τῶν Λυδῶν οὐδαμῇ ἔτι ἐπὶ τοιοῦτο πρῆγμα ἐξέπεμπε, ἀκόντια δὲ καὶ δοράτια καὶ τά τοιαῦτα πάντα τοῖσι χρέωνται ἐς πόλεμον ἄνθρωποι, ἐκ τῶν ἀνδρεώνων ἐκκομίσας ἐς τοὺς θαλάμους συνένησε, μή τί οἱ κρεμάμενον τῷ παιδὶ ἐμπέσῃ. […] [39] ἀμείβεται ὁ νεηνίης τοῖσιδε· Συγγνώμη μὲν ὦ πάτερ τοι, ἰδόντι γε ὄψιν τοιαύτην, περὶ ἐμὲ φυλακὴν ἔχειν· τὸ δὲ οὐ μανθάνεις, ἀλλὰ λέληθέ σε {τὸ ὄνειρον}, ἐμέ τοι δίκαιόν ἐστι φράζειν. φής τοι τὸ ὄνειρον ὑπὸ αἰχμῆς σιδηρέης φάναι ἐμὲ τελευτήσειν· ὑὸς δὲ κοῖαι μὲν εἰσὶ χεῖρες, κοίη δὲ αἰχμὴ σιδηρέη τὴν σὺ φοβέαι· εἰ μὲν γὰρ ὑπὸ ὀδόντος τοι εἶπε τελευτήσειν με ἢ ἄλλου τευ ὅ τι τούτῳ οἶκε, χρῆν δή σε ποιέειν τὰ ποιέεις· νῦν δὲ ὑπὸ αἰχμῆς. ἐπείτε ὦν οὐ πρὸς ἄνδρας ἡμῖν γίνεται ἡ μάχη, μέθες με. ἀμείβεται Κροῖσος· Ὦ παῖ, ἔστι τῇ με νικᾷς γνώμην ἀποφαίνων περὶ τοῦ ἐνυπνίου· ὡς ὦν νενικημένος ὑπὸ σέο μεταγινώσκω, μετίημί τέ σε ἰέναι ἐπὶ τὴν ἄγρην. Bald hatte er einen Traum, der ihm die Wahrheit darüber, was seinem Sohn Schlimmes geschehen würde, deutlich anzeigte. […] Der Traum deutete Kroisos an, wie dieser Atys von einer eisernen Lanze tödlich getroffen wurde. Und als er erwachte und ihm der Sinn klar wurde, fürchtete er den Traum und gab seinem Sohn eine Frau; während er gewohnt war, mit den Lydern ins Feld zu ziehen, schickte er ihn jetzt nicht länger aus; er ließ Speere und Lanzen und alle anderen Kriegswaffen aus dem Männersaal fortbringen und in die Kammern bringen, damit ihm nicht eine herabfallende Waffe den Sohn erschlüge […]. Es antwortete aber der Jüngling: „Ich verstehe, Vater, dass du, wenn du einen solchen Traum hattest, Acht auf mich gibst; aber du verstehst es nicht richtig, sondern der Traum führt dich in die Irre und es ist an mir, es dir richtig zu erklären. Du sagst, der Traum berichte, ich würde durch eine eiserne Lanze sterben. Der Eber aber hat doch keine Hände und auch keine eiserne Lanze, die du so fürchtest. Wenn er sagte, ich würde durch einen Zahn sterben oder durch etwas anderes Ähnliches, dann müsstest du tun, was du tust. Er sagt aber „durch eine Lanze“. Da wir doch nicht gegen Menschen zu Felde ziehen, lass mich gehen.“ Es antwortete Kroisos: „Deine Gedanken über das Traumbild haben auch mich überzeugt, Sohn. Auf diese Weise besiegt gebe ich dir nach und lasse dich mitziehen auf die Jagd.“

Form: Prosa Kontext: Kroisos träumt von dem Tod seines Sohnes Atys durch eine eiserne Lanze und bemüht sich daraufhin, ihn von Waffen und kriegerischen Aktivitäten fernzuhalten. Als ein wilder Eber das Land verwüstet und Atys darum bittet, mit anderen Jünglingen auf die Jagd gehen zu dürfen, will der Lyderkönig es zunächst nicht gestatten, lässt sich dann aber – fälschlicherweise – doch davon überzeugen, dass seinem Sohn auf der Jagd keine Gefahr drohe. Erklärung: Das Traumbild des Kroisos kommt vollkommen ohne Symbole aus. Atys wird durch eine Eisenlanze (αἰχμὴ σιδερή) sterben. Ungenau und daher potentiell missverständlich ist der Traum nur im Hinblick auf die näheren Umstände des

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Todes (Ort, Zeit, Mörder), insofern das Traumbild den Kontext des Todes verschweigt. Zunächst handelt Kroisos in der Hoffnung, das Schicksal seines Sohnes abwenden oder doch aufschieben zu können (φυλακὴν ἔχων, εἴ κως δυναίμην ἐπὶ τῆς ἐμῆς σε ζόης διακλέψαι, 1,38), richtig, indem er ihn von Waffen jeder Art und von kriegerischen Auseinandersetzungen fernhält. Konsequenterweise will er ihn deshalb auch nicht mit auf die Jagd nach dem Eber schicken, der die Ländereien in Mysien verwüstet. Dabei scheint der König jedoch ohne die nötige Weitsicht ausschließlich an die von dem Eber als Feind ausgehende Gefahr zu denken. Der vorausgedeutete Tod durch die Lanze schien ihm offenbar einen vorsätzlichen Mord zu suggerieren; vgl. hingegen, dass er auch alle Waffen aus dem Männersaal entfernen ließ, damit sein Sohn nicht zufällig von einer herabfallenden Lanze erschlagen würde (ἐκ τῶν ἀνδρεώνων ἐκκομίσας ἐς τοὺς θαλάμους συνένησε, μή τί οἱ κρεμάμενον τῷ παιδὶ ἐμπέσῃ, 1,34). Von dieser Interpretation des Traums jedenfalls konnte Atys ihn überzeugen: Da (1) kein menschlicher Feind gegen ihn kämpfte, sondern nur wohlgesinnte Mitstreiter auf die Jagd gingen, von denen keine (absichtliche) Bedrohung zu erwarten war, und (2) die Hauer des Ebers, die prinzipiell sehr rätseltypisch als αἰχμή metaphorisch umschrieben sein könnten, nicht aus Eisen (σιδερή) bestehen, durch welches Atys zu Tode kommen soll, scheint die Jagd sowohl Atys als auch Kroisos ungefährlich. Die versehentliche Tötung durch eine ungenau geworfene Lanze der anderen Jäger zieht hingegen keiner der beiden in Betracht, sodass Atys schließlich seinem Schicksal gemäß den Tod auf der Jagd findet. Kroisos und Atys als Rätsellöser: Obwohl Kroisos sich zunächst dem Orakel entsprechend verhält, führt doch schließlich sein unkritischer Charakter, der ihm später noch mehrfach im Umgang mit Rätseln Schwierigkeiten bereiten wird (s. u.), dazu, dass er den Traum falsch deutet. Selbst der Umstand, dass der König glaubt, das ihm im Traum prophezeite Unglück aus eigener Macht abwenden zu können, veranschaulicht sein Unverständnis für das (Orakel-)Rätsel. Atys ist in dieser Hinsicht das Abbild seines Vaters. Er selbst ist es, der – aus dem Drang, sich zu beweisen, und aus Selbstüberschätzung – Kroisos von seiner vorsichtigen Haltung abbringt und den rätselhaften Traum ganz nach seinen Wünschen deutet. Der tödliche Ausgang der Jagd bestraft somit beide gleichermaßen als unfähige Rätsellöser; vgl. 1,34: ἔλαβε ἐκ θεοῦ νέμεσις μεγάλη Κροῖσον, ὡς εἰκάσαι, ὅτι ἐνόμισε ἑωυτὸν εἶναι ἀνθρώπων ἁπάντων ὀλβιώτατον, wo Herodot explizit mitteilt, der rätselhafte Traum (und seine Folgen) seien eine Rache oder Strafe der Götter (θεοῦ νέμεσις). Dabei spielt sicher auf einer inhaltlichen Ebene das

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anmaßende Verhalten des Lyderkönigs in der Diskussion um den glücklichsten Menschen (I 30–33) eine Rolle, doch wird darüber hinaus wohl auch die für das Rätselraten übliche Struktur abgebildet, nach der ein erfolgloser Rätsellöser bestraft wird. Intertextuelle Verweise: Auch späterhin wird sich Kroisos (bis zu seiner Läuterung auf dem Scheiterhaufen) im Umgang mit Rätseln noch als äußerst ungeschickt erweisen, vgl. die Prüfung der Orakel durch Kroisos, 1,46–49, das Orakel vom Sturz eines großen Reichs, 1,53–54, ferner das Orakel von einem Maultier als König der Meder, 1,55 f., das Kroisos ebenfalls missversteht; ebenso das Orakel über das Schicksal seines stummen Sohnes, 1,85. Schon 1,30–33 hatte der Lyderkönig in seinem Disput mit Solon um den glücklichsten Menschen kein besonderes Geschick im Umgang mit Rätseln gezeigt. Schließlich 1,87–91 seine unkritische Beschwerde bei dem Orakel in Delphi.

B. I. 1.2 Kategorie des Rätselobjekts annulliert B. I. 1.2.1 Ergänzt nur durch Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Rätsel von der Distelwolle Eubulos, PCG V, frg. 106,16 f., p. 253 K.-A.; AP App. VII 10; zit. Athen. X 450ab; S 2 mit B 22 Anm. 1 οἶδ’ ἐγὼ ὃς νέος ὢν ἐστιν βαρύς, ἂν δὲ γέρων ἦι, ἄπτερος ὢν κούφως πέταται καὶ γῆν ἀφανίζει Ich kenne einen, der schwer ist, solange er jung ist; ist er aber alt fliegt er – obwohl ungeflügelt – leicht und zieht über die Welt.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Das Rätsel von der Distelwolle (πάππος) ist aus der auktorialen Perspektive erzählt. Dies wird besonders deutlich durch die Eingangsformulierung οἶδ’ ἐγὼ, die auf die überlegene Position des wissenden Rätselstellers hinweist. Das Rätsel wird bestimmt durch die Gegensatzpaare „schwer – leicht“, „jung – alt“, zwischen denen eine kontraintuitive, wenn nicht gleich paradoxe Zuordnung erfolgt. In der natürlichen Entwicklung eines Menschen, und es wird suggeriert, dass es sich um eine solche handelt, indem als typisch menschliche Attribute das Gewicht und das Alter verwendet werden, geht das Wachs-

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tum normalerweise, anders als für das Rätselobjekt suggeriert, von klein nach groß, auch wenn es zum Schluss noch einmal rückläufig werden mag. Als jung und schwer ist wohl die Verbindung aus Distelsamen und Schirm zu identifizieren. Zu Beginn sind beide noch fest verbunden, der schwere, feuchte Samen hält den Schirm aus Distelwolle fest an der Blüte. Im weiteren Fortgang der Entwicklung (durch Austrocknung des Samens) löst sich der – nun ältere und durch die Trocknung des Samens, von dem er an der einen oder anderen Stelle seines Fluges zudem getrennt wird, viel leichtere – Schirm und wird von dem Wind davongeweht. Hierzu enthält v. 2 ein Paradoxon, welches in der Verbindung der Eigenschaften a: „flügellos“ und b: „fliegend“ besteht. Hierin liegt die exakte Erkenntnis verborgen, dass der Schirm aus Distelwolle seinen Weg nicht selbst bestimmen kann und in diesem Sinne nicht eigenständig fliegt, sondern fremdbestimmt durch die Luft geweht wird. Seine Bewegung ähnelt dem Fliegen nur im Hinblick auf das Medium, in der sie stattfindet. Lösung nach Eubulos, PCG V, frg. 106,18–20, p. 253 K.-A.: πάππος απ’ ἀκάνθης· οὗτος γὰρ νέος μὲν ὢν ἕστηκεν ἐν τῶι σπέρματι, ὅταν δ’ ἀποβάληι τοῦτο, πέτεται κοῦφος ὢν, δήπουθεν ὑπὸ τῶν παιδίων φυσώμενος Die Wolle von der Distel: Wenn diese nämlich jung ist, steht sie im Samen, wenn sie diesen aber abwirft, fliegt sie, weil sie leicht ist, gepustet vielleicht von den Kindern.

Intertextuelle Verweise: Vgl. Chairemon, TrGF I, 71 F 41 Snell, wo möglicherweise ebenfalls von der Distel (oder der Weinrebe) die Rede ist. Vgl. für eine ähnliche Gegenüberstellung unterschiedlicher Entwicklungsstadien einer Pflanze in einer Altersmetapher das Rätsel von der Rosine, AP XIV 103. Vgl. zum Wegpusten der herumfliegenden Distelwolle Soph. TrGF IV, frg. 868 Radt γραίας ἀκάνθης πάππος ὣς φυσώμενος. Eine ausführliche Erklärung zur Distelwolle als Altersstadium der Pflanze mit Betonung der Analogie zum Menschenalter (πάππος als der Großvater) bietet auch Eust. Il. 24,149, Bd. 4, p. 881 van der Valk: γέρων οὐ μόνον ἡλικίας ὄνομα τὴς κατ’ ἄνθρωπον, ἀλλὰ καὶ ἀκάνθης ἐπάνθημα κατὰ τὸν δειπνοσοφιστήν. ἐφ’ ὧι καὶ αἴνιγμα ἦν τὸ κἂν γέρων ἦι – πέτεται. Διὸ καὶ χαίρουσιν αὐτῶι

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παῖδες, φυσῶντες ὡς πέτεσθαι. ὁ δὲ τοιοῦτος γέρων ἀστείως καὶ πάππος ἐκλήθη, λευκῆς γήρειον ἀκάνθης ὢν κατὰ τὸν Ἄρατον. Der Alte ist nicht nur der Name des Alters bei den Menschen, sondern auch das Abblühen der Distel gemäß der Deipnosophistai [sc. des Athenaios]. Bei ihm stand nämlich auch das Rätsel „…“ [anzitiert]. Deshalb freuen sich bei ihm auch die Kinder, denn sie pusten, damit [der πάππος] fliegt. Der Alte aber wird ganz trefflich auch als πάππος bezeichnet, denn er ist das weiße Alter der Distel gemäß Arat.

Dann auch Arat, Phain. 921–921: ἤδη καὶ πάπποι, λευκῆς γήρειον ἀκάνθης, σῆμ’ ἐγένοντ’ ἀνέμου, κωφῆς ἁλὸς ὁππότε πολλοὶ ἄκρον ἐπιπλώωσι, τὰ μὲν πάρος, ἄλλα δ’ ὀπίσσω. Dann auch wurde die Distelwolle, das weiße Alter der Distel, ein Zeichen des Windes, wenn viele dahinsegeln auf der Oberfläche des stillen Meeres, einige voraus, andere hinterdrein.

Literatur: Schweighäuser V (1804) 543 f. Jacobs (1803) 348 f.

2 Rätsel vom Geist bzw. vom Feuer AP App. VII 76, Cougny; Basil. Megalomit. 40, Anecd. Gr. III, p. 451 Boiss.; S 59a. O 104 f. Βαίνω κατὰ γῆς, καὶ πρὸς ὕψος αὖ τρέχω· χαίρω πρὸς ὕλην, οὐ φιλῶ δὲ τὴν ὕλην· εἰ γὰρ ἐφίλουν καὶ προσεῖχον ὡς φίλῳ, ὅμως δι’ αὐτῆς καὶ κορύσσομαι πλεόν· καὶ γῆθεν ὑψοῦ τὴν κεφαλὴν ἀνάγω. Ich schreite dahin über die Erde und laufe andererseits in Richtung Himmel; ich erfreue mich an der Materie, aber ich liebe die Materie nicht. Wenn ich sie nämlich liebte und mich ihr wie einem Freund verbündete, wäre ich zugleich mit ihr auch beschwert; und ich bewege mich von der Erde zum Haupt des Himmels hinauf.

Form: 5 byzantinische Senare Erklärung: Die Lösung des Rätsels aus der Ich-Perspektive ist nicht zweifelsfrei geklärt. Überliefert ist der Text unter dem Lemma νοῦς ἢ ψυχή. Für eine sinnvolle Erklärung dieser Lösung ist ὕλη (v. 2) im weiteren Sinne als Materie zu verstehen.

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v. 1: Die Beziehung zu Erde und Himmel deutet bei diesem Verständnis die Unsterblichkeit des Geistes an, die – inkorporiert – zwar vorübergehend auf der Erde weilt (βαίνω κατὰ γῆς), ihr ewiges Dasein jedoch in den Himmelsgründen verbringt (πρὸς ὕψος αὖ τρέχω). v. 2: ὕλη ist in diesem Fall auf den menschlichen Körper zu deuten. Die körper- und stofflose Seele verbindet sich temporär auf freundschaftliche Weise mit ihm (χαίρω), jedoch nicht vollständig im Sinne eines Liebesaktes (φιλῶ), denn sie verlässt den Körper nach dessen Tod, um in die himmlischen Gefilde zurückzukehren. vv. 3–4: Bei einer unauflöslichen Verbindung nämlich, wenn sich die Seele dem Körperlichen ganz hingäbe, würde sie durch die Vergänglichkeit des Körpers beschwert (κορύσσομαι) und müsste schließlich mit ihm zugrunde gehen. v. 5: Rückgriff auf v. 1. Ohlert (21912) 104 f. hingegen erklärt das Lemma für unrichtig und deutet das Rätsel auf das Feuer (πῦρ). Offenbar versteht er ὕλη (v. 2) hierbei im konkreten Sinn als Wald bzw. Holz. Er vergleicht hierzu Eustathios Makrembolites 3,2. v. 1: Hier ist offenbar an die nach oben hin züngelnde Bewegung des sich auf dem Grund (γῆ) ausbreitenden Feuers gedacht. v. 2: Das Feuer vernichtet Holz, ist also gleichsam sein Feind. Andererseits braucht das Feuer das Holz als Nahrung und freut sich (χαίρω) in diesem Sinne darüber, nimmt aber keinerlei Rücksicht auf Bäume und Wälder, sondern vernichtet sie mitleidslos (οὐ φιλῶ). vv. 3–4: Wenn das Feuer sich zu eng mit dem Holz verbindet, d. h. alles aufgezehrt hat, muss es schließlich selbst verlöschen. v. 5: Rückgriff auf v. 1. Intertextuelle Verweise: Vgl. das thematisch verwandte Rätsel vom Geist bzw. Himmel, AP App. VII 60.

3 Rätsel vom Traum AP XIV 110, Beckby; S 4 Οὐδεὶς βλέπων βλέπει με, μὴ βλέπων δ’ ὁρᾷ· ὁ μὴ λαλῶν λαλεῖ, ὁ μὴ τρέχων τρέχει· ψευδὴς δ’ ὑπάρχω, πάντα δ’ ἀληθῆ λέγω. Niemand, der sieht, sieht mich, wer aber nicht sieht, der sieht mich; wer nicht spricht, der spricht, wer nicht läuft, der läuft; ich bediene mich der Lüge, doch in allem sage ich die Wahrheit.

Form: 3 iambische Trimeter

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Erklärung: In dem aus der Ich-Perspektive formulierten Rätsel umschreibt sich der Traum als Rätselobjekt. Im Kern des Rätsels steht der Umstand, dass der Traum eine von der Realität unterschiedene Pseudo-Realität erschafft, in der die Gesetze der Realität nicht gelten und somit Unmögliches möglich wird. Das Rätsel besteht aus fünf vollkommen paradox erscheinenden Gegensatzpaaren. Es werden miteinander identifiziert: a) Sehen und nicht sehen b) Nicht sehen und sehen c) Nicht sprechen und sprechen d) Nicht laufen und laufen e) Lügen und die Wahrheit sagen. v. 1: Die ersten beiden Gegensatzpaare betreffen das Sehen. Paradoxerweise wird die Sehfähigkeit zugleich jeweils bejaht und verneint – und zwar auf doppelte Weise, indem zuerst sehen als Bedingung und nicht sehen als Folge erscheint (v. 1a) und dann umgekehrt nicht sehen als Bedingung und sehen als Folge (v. 1b) benannt wird. Dem Gedanken scheint eine Identifikation von „sehen, die geöffnete Augen haben“ mit „wach sein“ und von „nicht sehen, d. h. geschlossene Augen haben“ – nicht etwa „blind sein“, mit „schlafen“ zugrunde zu liegen. Die Bedingung betrifft somit jeweils den Wach- bzw. Schlafzustand eines Menschen: Wer wach ist, sieht den Traum als Rätselobjekt nicht (vor seinem inneren Auge), d. h. der träumt nicht; ihn sieht nur, wer schläft. βλέπειν ist hier also offensichtlich in zwei unterschiedlichen Bedeutungsnuancen verwendet: Einerseits bezeichnet es das Sehen als Sinneswahrnehmung des wachen Auges, andererseits das Erkennen von Traumbildern im Schlaf, welches nicht eigentlich als optische Sinneswahrnehmung, sondern vielmehr vor einem inneren Auge erfolgt. v. 2: Die Betrachtung sowohl des Schlafenden als auch des Wachenden, die zu dem doppelten Paradoxon in v. 1 geführt hatte, wird im zweiten Vers durchbrochen. Die Gegensatzpaare beziehen sich nun nur noch auf den Schlafenden bzw. Träumenden. Wer schläft, der spricht und läuft in der Realität nicht, denn er liegt still in seinem Bett. Zugleich kann eine Person jedoch von sich selbst träumen und in dem Traum sowohl sprechen als auch laufen (und alle anderen denkbaren Handlungen ausführen). So kann jemand zugleich (im Traum) sprechen und (in der Realität) nicht sprechen, (im Traum) laufen und zugleich (in der Realität) nicht laufen. v. 3: Der Gegensatz von Wahrheit und Lüge scheint zusammenfassend den Charakter des Traums als Pseudo-Parallel-Realität zu konstatieren. In der Realität hat das Geträumte keine direkte Bedeutung oder Auswirkung, man könnte

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sagen keinen Wahrheitsgehalt, denn es ist nicht „echt“ und in diesem weiteren Sinne eine Lüge bzw. Täuschung (ψεῦδος). Traumimmanent hingegen erscheint das Geträumte als Realität und somit als wahr (ἀληθής). Intertextuelle Verweise: Vgl. die anderen Rätsel vom Schlaf AP App. VII 11. AP XIV 44. Ferner das ähnliche Rätsel bei Symphosius nr. 99 Leary (= Anth. Lat. 1,1,207 Riese): Sponte mea veniens varias ostendo figuras. Fingo metus vanos nullo descrimine vero. Sed me nemo videt, nisi qui sua lumina claudit.

Literatur: Heinrici (1911) 11. Schultz (1912) 13 f. vergleicht das Rätsel aufgrund seiner Gegensatzpaare mit dem Rätsel vom Mond, Psellos 2 Boiss.; ferner mit AP App. VII 60, dem Rätsel vom Geist bzw. Himmel.

4 Rätsel von der Liebe Plut. frg. 136 Sandbach; O 155 οὕτω δὴ καὶ ὁ ἔρως ἔχει τι χάριεν καὶ οὐκ ἄμουσον ἀλλ’ αἱμύλον καὶ ἐπιτερπές· ἁρπάζει δὲ καὶ βίους καὶ οἴκους καὶ γάμους καὶ ἡγεμονίας, οὐκ αἰνίγματα προβάλλων ἀλλ’ αὐτὸς αἴνιγμα δυσεύρετον ὢν καὶ δύσλυτον, εἰ βούλοιτό τις προτείνειν τί μισεῖ καὶ φιλεῖ, τί φεύγει καὶ διώκει, τί ἀπειλεῖ καὶ ἱκετεύει, τί ὀργίζεται καὶ ἐλεεῖ, τί βούλεται παύσασθαι καὶ οὐ βούλεται, τί χαίρει τῷ αὐτῷ μάλιστα καὶ ἀνιᾶται, τί τὸ αὐτὸ λυπεῖ καὶ θεραπεύει. […] τὰ δὲ τῶν ἐρώντων πάθη ἀληθῆ· στέργουσιν, ἐχθραίνουσι· τὸν αὐτὸν ποθοῦσιν ἀπόντα, τρέμουσι παρόντος· κολακεύουσι, λοιδοροῦσι, προαποθνῄσκουσι, φονεύουσιν, εὔχονται μὴ φιλεῖν καὶ παύσασθαι φιλοῦντες οὐ θέλουσι· σωφρονίζουσι καὶ πειρῶσι, παιδεύουσι καὶ διαφθείρουσιν, ἄρχειν θέλουσι καὶ δουλεύειν ὑπομένουσι. So hat auch der Eros etwas Angenehmes und nicht Unmusisches, sondern Schönes und Anziehendes; er besiegt nämlich Leben und Häuser, Hochzeiten und Herrschaften, nicht indem er Rätsel stellte, sondern indem er selbst ein schwer verständliches und schwer lösbares Rätsel darstellt. Wenn einer festsetzen wollte, was hasst und liebt, was flieht und verfolgt, was droht und fleht, was zürnt und Mitleid hat, was aufhören will und nicht aufhören will, was sich über dasselbe am meisten freut und ärgert, was demselben Kummer bereitet und ihm dient. […]. Die wahren Emotionen der Liebenden sind: Sie lieben, sie sind verfeindet, sie sehnen sich nach dem Abwesenden und fürchten den Anwesenden, sie schmeicheln und schmähen, sie sterben für ihn und töten ihn, die geloben, nicht zu lieben, und wollen nicht aufhören, zu lieben, sie betonen die Vernunft und führen in Versuchung, sie erziehen und verderben, sie wollen herrschen und ertragen es, zu dienen.

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B Paraphrasierende Rätsel

Form: Prosa (Paraphrase) Erklärung: Thematisiert ist der irrationale, wankelmütig-unbeständige und daher bisweilen logisch schwer nachvollziehbare und potentiell missverständliche Charakter der Liebe (ἔρως), der sich nach Plutarch als Inhalt eines Rätsels eignet (αὐτὸς αἴνιγμα δυσεύρετον ὢν καὶ δύσλυτον). Die Identifikation als αἴνιγμα gilt jedoch eigentlich dem Phänomen „Liebe“ in einem weiteren Sinne des Wortes als etwas, das nicht verstanden wird. Daher die Betonung des Umstands, dass die Liebe keine Rätsel stellt (οὐκ αἰνίγματα προβάλλων), sondern selbst eines ist. Es liegt also bei Plutarch zunächst kein Rätseltext, sondern vielmehr ein potentielles Rätselobjekt vor. Als hypothetisches Beispiel für ein Rätsel, dessen Lösung die Liebe wäre, führt Plutarch sodann die Zusammenstellung von sechs Gegensatzpaaren an, in denen jeweils sich logisch ausschließende Eigenschaften bzw. Handlungen miteinander verbunden sind: 1. hassen (μισεῖν) und lieben (φιλεῖν) 2. fliehen (γεύγειν) und verfolgen (διώκειν) 3. drohen (ἀπειλεῖν) und flehen (ἱκετεύειν) 4. zürnen (ὀργίζεσθαι) und Mitleid haben (ἐλεεῖν) 5. aufhören wollen (βούλεσθαι παύσασθαι) und nicht aufhören wollen (οὐ βούλεσθαι παύσασθαι) 6. sich freuen (χαίρειν) und sich ärgern (ἀνιᾶν). Dass sich diese von demselben Subjekt ausgeführten Handlungen zur selben Zeit auf ein und dasselbe Objekt beziehen, erscheint nicht nur paradox, sondern geradezu ausgeschlossen. Die Lösung für diesen scheinbaren Widerspruch bei der Vereinigung der Gegensätze liegt darin, dass die jeweils entgegengesetzten Eigenschaften eben nicht gleichzeitig, sondern sukzessive auf einen Liebenden zutreffen, der seinem Geliebten einmal droht, ihn ein anderes Mal anfleht, ihm einmal zürnt, dann wieder Mitleid mit ihm hat usw.; vgl. bspw. das berühmte Rätsel der Sphinx, in dem ebenfalls irreführenderweise suggeriert wird, das gesuchte Rätselobjekt besitze zugleich zwei drei und vier Beine (AP XIV 64; Asklepiades, FGrH 12 F 7 Jacoby). Ein solches Rätsel von der Liebe machte sich gleichsam das Kuriosum zunutze, dass (a) all diese widerstreitenden Emotionen in dem Verhältnis zweier Liebenden vorkommen können und dass (b) trotz der z. T. gegensätzlichen Ausrichtung dieser Emotionen landläufig alles unter dem einen übergreifenden Begriff der Liebe (ἔρως) gefasst wird.

B. I Unvollständige Beschreibung

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Eher als die Liebe selbst, wie Plutarch meint, wäre in einem solchen Rätsel jedoch der Liebende als Handelnder bzw. Fühlender zu raten. So auch (unbewusst?) Plutarch selbst, wenn er zur Erklärung des obenstehenden Ansatzes anfügt τὰ δὲ τῶν ἐρώντων πάθη ἀληθῆ […]. Es folgt eine Aufzählung inhaltlich vergleichbarer, nicht immer identischer Gegensatzpaare, die zur Illustration der zuerst angeführten dienen: 1. lieben (στέργειν) und verfeindet sein (ἐχθραίνειν) 2. sich sehnen (ποθεῖν) und sich fürchten (τρέμειν) 3. schmeicheln (κολακεύειν) und schmähen (λοιδορεῖν) 4. sterben (προαποθνήσκειν) und töten (φονεύειν) 5. nicht lieben wollen (εὔχεσθαι μὴ φιλεῖν) und nicht aufhören, zu lieben (οὐ θέλειν παύσασθαι φιλεῖν) 6. vernünftig sein (σωφρονίζειν) und in Versuchung bringen (πειρᾶν) 7. erziehen (παιδεύειν) und verderben (διαφθείρειν) 8. herrschen (ἄρχειν) und dienen (δουλεύειν). B. I. 1.2.2 Ergänzt nur durch Relationen des Rätselobjekts zu anderen Objekten 1 Rätsel vom Verwandtenmord um Andromache AP XIV 9, Beckby; S 50 Ἄνδρ’ ἐμὸν εἷλ’ ἑκυρός, ἑκυρὸν δ’ ἐμὸς ἔκτανεν ἀνὴρ καὶ δαὴρ ἑκυρὸν καὶ ἑκυρὸς γενέτην. Meinen Mann erschlug mein Schwiegervater, den Schwiegervater aber tötete mir mein Mann und mein Schwager erschlug den Schwiegervater und der Schwiegervater tötete meinen Vater.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das Rätselobjekt, das sich aus der Ich-Perspektive beschreibt, ist Andromache, die Tochter des Eetion, die zuerst mit dem Priamossohn Hektor, später mit dem Achillessohn Neoptolemos verheiratet war. Geraten werden muss nicht nur Andromache selbst, sondern mit ihr auch ihre äußerst vielschichtigen Verwandtschaftsverhältnisse und die einzelnen darin jeweils verwickelten Personen. v. 1: Der erste Vers des Rätsels ist nicht in sich paradox, doch suggeriert er fälschlicherweise, dass Ehemann und Schwiegervater der gesuchten Frau, also Vater und Sohn, einander gegenseitig erschlagen hätten. Um zur Lösung zu gelangen, ist es notwendig, dass der Rezipient den doppelten Bezug sowohl für ἀνήρ als auch für ἑκυρός erkennt.

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B Paraphrasierende Rätsel

v. 2: Inhaltlich fragwürdig erscheint hier zunächst nur, wie ein Schwiegervater, wenn er bereits von dem Ehemann, also dem eigenen Sohn erschlagen wurde, zusätzlich noch von dem Schwager der Frau getötet werden kann. Auch hier muss die Erkenntnis über die zwei Ehen gegeben sein, um die Formulierung begreifbar zu machen. Die Lösung (Hektor wurde von Achill erschlagen, Priamos wurde von Neoptolemos getötet. Paris tötete Achill und Achill erschlug Eetion) enthält Schol. Gregorius Corinthus 407 Schäfer: „ἀνδρ’ ἐμόν· Ἕκτορα, ἑκυρός· Ἀχιλλεύς, ἑκυρὸν ἀνήρ· Πρίαμον Πύρρος, δαὴρ ἑκυρόν· Πάρις Ἂχιλλέα, ἑκυρὸς γενέτην“. Die Formulierungen enthalten ein Spiel mit der lautlichen Ähnlichkeit zwischen ἀνήρ und δαήρ sowie dem ähnlichen Anlaut von ἔκτανεν und ἑκυρός (vgl. den chiastischen Aufbau in v. 1, der zwischen ἄνδρα am Beginn des Verses und ἀνήρ an dessen Ende eine ununterbrochene Alliteration auf Epsilon führt), wodurch das (Hör-)Verständnis zusätzlich erschwert wird. ἑκυρός klingt zudem an den zuerst gesuchten Ἕκτωρ an. Intertextuelle Verweise: Vgl. die anderen Rätsel um mythologische Morde: Herakles und Nessos (AP App. VII 32. 33), Eteokles und Polyneikes (AP XIV 38). Literatur: Jacobs (1803) 357 f.

B. I. 1.2.3 Ergänzt durch Bestandteile und Eigenschaften des Rätselobjekts 1 Rätsel vom Buch AP App. VII 58, Cougny; Basil. Megalomit. 15, Anecd. Gr. III, p. 442 Boiss.; S 77 Λευκὸν πεφυκός, ᾠὸν οὐδαμῶς πέλω· φύλλα φέρον δέ, ῥαφανὶς οὐ τυγχάνω. Θείους δ’ ἐν αὑτῷ καὶ σοφοὺς λόγους φέρον, καὶ τραπέζῃ δὲ κείμενον καὶ πολλάκις, πρὸς βρῶσιν οὐκ ἔτ’ εἰμὶ τισὶν δεικτέον. Ich bin weiß geboren, und doch mit nichten ein Ei; Ich trage Blätter, doch bin keine Rübe. Ich trage in mir heilige und weise Worte, ich liege oft auf dem Tisch, und bin doch für niemanden ein Zeichen von Nahrung.

Form: 5 iambische Trimeter

B. I Unvollständige Beschreibung

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Erklärung: Das Buch beschreibt sich als Rätselobjekt im Hinblick auf seine äußere Form (vv. 1–2) und seine Funktion (vv. 3–5) aus der Ich-Perspektive. vv. 1–2: Beide Verse spielen mit der kontraintuitiven Zuordnung einer Folge zu einer bestimmten Eigenschaft. Wenn normalerweise die Eigenschaft a die Folge b nach sich zieht, dann sind die Verse nach dem Schema „auf a folgt nicht-b“ aufgebaut. Verneint ist jeweils eine als naheliegend gedachte Folge, die anderenfalls einen Hinweis auf ein (falsches) Rätselobjekt geben würde. Die Blätter des Buches – korrekterweise als χάρται zu bezeichnen – sind aus Papier/ Pergament/Papyrus, nicht der Bestandteil einer Pflanze, den das Wort φύλλον im Unterschied zu der χάρτη oder χάρτης gemeinhin bezeichnet (assoziiert würde ohne die Verneinung vielleicht eine weiße Rübe mit Blattgrün). Anders als das deutsche Homonym „Blatt“ führen die in v. 2 genannten φύλλα also zunächst in die Irre (und veranschaulichen andererseits zugleich den dem Homonym zugrunde liegenden Gedanken von der Ähnlichkeit zwischen Blatt „a“ und Blatt „b“). Ferner sind sie weiß. Aus allen Gegenständen, die die Eigenschaft „weiß“ haben und damit potentiell als Lösung in Frage kommen, wird das Ei (ᾠόν) ausgeschlossen – vgl. dafür, dass das Ei (im Rätselkontext) offenbar besonders vorrangig mit Weißheit assoziiert wird Grzybek (1987a) 28. Das Verb φύω ist hier nicht im engen Sinne in der Bedeutung „natürlich entstehen“, sondern allgemeiner im Sinne von „seinen Anfang nehmen“, vielleicht auch „hergestellt werden“ gebraucht. v. 3: Hierin liegt ein echter Hinweis auf den Schriftcharakter des Buches. Inhaltlich unterschieden sind religiöse (θείους) und philosophische oder wissenschaftliche (σοφούς) Texte. vv. 4–5: Hier wird das Muster aus vv. 1–2 noch einmal aufgenommen: Auf die Eigenschaft „liegt auf dem Tisch“ folgt häufig, d. h. der Erfahrung nach, in dem Maße, dass es automatisch eine entsprechende Assoziation auslöst, die Eigenschaft „ist essbar“. Hier wird dieser Zusammenhang jedoch verneint. Gemeint ist nicht der Esstisch, sondern der Schreibtisch, auf dem ein Buch zum Studium liegt.

2 Rätsel vom Nussknacker Aulikalamos 5, Anecd. Gr. III, p. 454 Boiss.; S 98d Ψάχης φέρει μοι τοὺς ὀδόντας τὸ στόμα· Ὡς καρκῖνος τρέχω δὲ καὶ βρύχω μέγα. Σφοδρῶς μασῶμαι, καὶ μασηθὲν ἐκπλύω, Κἂν χεὶρ ἐφέλκῃ, καὶ μεθέλκει με ξύλω.

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B Paraphrasierende Rätsel

Mein Mund hat viele Zähne; ich esse wie ein Krebs und knirsche dabei laut mit den Zähnen. Ich kaue mit viel Kraft und spucke [das Zerkaute] aus dem Mund aus, und wenn eine Hand [an mir] zieht, bewegt sie mich auch im Hinblick auf die breiten Hölzer.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Der Nussknacker beschreibt sich als Rätselobjekt selbst unvollständig anhand seiner Funktion als Hauptmerkmal. Die Ich-Perspektive führt zusammen mit sehr menschlichen Attributen – essen, laufen, Vorhandensein eines Mundes – fälschlicherweise zu einer Personifikation, die die Lösung des Rätsels erschwert. v. 1: In Analogie zu dem menschlichen Mund, der mit seinen Zähnen Nahrung zerbeißt, steht hier das στόμα für die Öffnung, in welche die zu knackende Nuss eingelegt wird, die Zähne für die darin befestigten Spitzen oder Riffel, welche die Schale der Nuss durch den ausgeübten Druck knacken. v. 2: Der Vergleich mit dem Krebs spielt auf die scherenartige Bewegung beim Zerdrücken der Nussschalen an, die der Krebs mit seinen Scheren bei der Zerkleinerung seiner Nahrung vollführt. τρύχειν ist dabei im weiteren Sinne gebrauch, insofern „etwas in den Mund legen und zerkauen“ bereits als „essen“ gilt. Genau genommen öffnet der Nussknacker die Nüsse aber natürlich nur, die dann von einem Menschen tatsächlich gegessen werden. Das laute Geräusch (βρύχω μέγα), das hier beschrieben ist, trifft in der Tat auf die zerbrechenden Nussschalen zu. Hier ist es nach der Art einer kausativen Enallage auf den Nussknacker selbst übertragen. v. 3: Das kraftvolle Kauen impliziert einerseits den aufzuwendenden Druck und andererseits den Effekt – etwas Hartes zerbrechen. Dass das unter großer Mühe Zerkaute im Anschluss ausgespuckt wird (ἐκπλύειν), erscheint zunächst paradox. Doch tatsächlich fallen beim Nüsseknacken ja zunächst die zerbrochenen Schalen herunter und wird schließlich auch die Nuss selbst wieder aus dem „Mund“ herausgenommen. v. 4: Der Schlussvers richtet sich offenbar auf den Funktionsmechanismus der Vorrichtung. Der Mensch zieht mit der Hand – und zwar beispielsweise an einem Hebel. Zwei Hölzer am Nussknacker, also etwa der Mund mit Ober- und Unterkiefer bewegen sich und üben Druck auf die zu knackende Nuss aus. 3 Rätsel vom Kuchenfladen Antiphan. PCG II, frg. 55,7–11, p. 339 f. K.-A.; zit. Athen. X 449bc (Α.) εὖ λέγεις. ξουθῆς μελίσσης νάμασιν δὲ συμμιγῆ μηκάδων αἰγῶν ἀπόρρουν θρόμβον, ἐγκαθήμενον

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εἰς πλατὺ στέγαστρον ἁγνῆς παρθένου Δηοῦς κόρης, λεπτοσυνθέτοις τρυφῶντα μυρίοις καλύμμασιν, ἢ σαφῶς πλακοῦντα φράζω σοι; (Β.) πλακοῦντα βούλομαι. A:

B:

Du sagst es ganz richtig. „Der flinken Biene Flüssigkeit aber gemischt mit dem geronnenen Ausfluss der meckernden Ziege, ausgelegt auf flacher Form und reichlich bedeckt von der rein-jungfräulichen Tochter der Deo mit fein gemahlenen Gewürzen“, soll ich sagen, oder ganz eindeutig einfach „Kuchenfladen“? Kuchenfladen, bitte!

Form: 5 trochäische Tetrameter Erklärung: Auch hier handelt es sich, wie schon Athen. X 449b, um eine Parodie auf solche Rätsel, die einfache Gegenstände unverhältnismäßig kompliziert beschreiben, bzw. auf vergleichbare Ausdrucksformen. Die Umschreibung des Kuchenfladens (πλακοῦς) als Rätselobjekt orientiert sich an dessen einzelnen Bestandteilen, d. h. Zutaten. So umschreibt die von Bienen gesammelte Masse den Honig (μελίσσης νάμασιν = μέλι), die geronnene Flüssigkeit der Ziege den Quark (αἰγῶν ἀπόρρουν θρόμβον = τροφαλίς; vgl. Athen. X 455f = Antiphan. PCG II, frg. 51 K.-A.) – gemeint ist wohl eine Art Käsekuchen, vgl. Cato agr. 84 – und die flache Form nennt explizit das Aussehen des Endproduktes. Deo steht hier als Namensform für Demeter, vgl. zuerst im Hom. h. 2,47 (πότνια Δηὼ). Als ihre Tochter ist hier gerade nicht Persephone, die häufig auch als personifizierte Tochter Κόρη genannt wird, gemeint, sondern der Weizen, der im übertragenen Sinne als Kind der Getreide-Göttin gelten kann und neben Honig (als Süßungsmittel) und Quark den Hauptbestandteil des Fladens ausgemacht haben dürfte. Intertextuelle Verweise: Vgl. die vier weiteren Komödienfragmente bei Athen. X 449bd, die ähnliche Rätselparodien über Topf (χύτρα), Wein (οἶνος), Wasser (ὕδωρ) und Myrrhe (σμύρνα) enthalten. Vgl. Cato agr. 84, der das Rezept zu einer Art Käsekuchen liefert, welches den Angaben in unserem Rätsel entspricht: Savillum hoc modo facito: farinae selibram, casei P. II S una conmisceto quasi libum, mellis P. [drei übereinanderliegende, horizontale Linien, von denen die mittlere nach rechts eingerückt ist; antikes römisches Zeichen für ¼] et ovum unum. Catinum fictile oleo unguito. Ubi omnia bene conmiscueris, in catinum indito, catinum testo operito. Videto ut bene percocas medium, ubi altissimum est. Ubi coctum erit, catinum eximito, melle unguito, papaver infriato, sub testum subde paulisper, postea eximito. Ita pone cum catillo et lingula.

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B Paraphrasierende Rätsel

Literatur: Vgl. Wurmbach (1960) 20–40 zur Etymologie, die πλακοῦς einen gemeinsamen Wortstamm mit πλατύς (inhaltlich beruhend auf der flachen Form des Fladens) attestiert. Unabhängig von der sprachgeschichtlichen Richtigkeit dieser Etymologie bezeugt die Vorstellung von einem solchen inneren Zusammenhang der Begriffe, dass ἐγκαθειμένον εἰς πλατύ nicht nur einen deutlichen Hinweis auf das Aussehen des gesuchten Gegenstands gibt, sondern auch auf metasprachlicher Ebene auf den gesuchten Begriff anspielt. Schweighäuser V (1804) 534.

B. I. 1.2.4 Ergänzt durch Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Rätsel vom Flachs AP XIV 26, Beckby; S 63 Ξανθὴ μέν τις ἐγὼν ἤμην πάρος, ἀλλὰ κοπεῖσα γίνομαι ἀργεννῆς λευκοτέρη χιόνος· χαίρω δὲ γλυκερῷ τε καὶ ἰχθυόεντι λοετρῷ πρώτη δαιτυμόνων ἐς χορὸν ἐρχομένη. Gelb zwar war ich früher einmal, aber geschlagen wurde ich weißer als hellschimmernder Schnee. Ich freue mich aber über ein süßes und fischreiches Bad und als erste komme ich im Chor der schmausenden Gäste.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Das Rätselobjekt – die Flachsfaser (τὸ λίνον) – beschreibt sich selbst aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf ihre Herstellung und ihren Gebrauch durch den Menschen. vv. 1–2 sind bestimmt von dem farblichen Gegensatz zwischen gelb und weiß. Dass die Farbveränderung mit einem Geschlagen-Werden verknüpft ist, weckt Assoziationen an das Opfer einer Gewalttat, das grüne und blaue – aber natürlich keine weißen – Flecken davon trägt. Flachs ist, wenn er als Pflanze geerntet wird, gelb wie Stroh. Bevor er als Textilmaterial (weiß gebleichtes Leinen) verarbeitet werden kann, muss das Flachsstroh entsprechend aufbereitet werden. Zu diesem Zweck werden die getrockneten Flachsbündel mit Hämmern so lange geschlagen, bis sich von den Fasern die Holzteile lösen (Olck (1909) 2471 f.). Intertextuelle Verweise: Zu Anbau und Verarbeitung von Flachs vgl. Plin. nat. 19,2–25.

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Literatur: Barber (1992) passim. Forbes (1964) 27–43. 2 Rätsel vom Spiegel AP XIV 108, Beckby; S 66 Οὐδὲν ἔσωθεν ἔχω, καὶ πάντα μοι ἔνδοθέν ἐστι, προῖκα δ’ ἐμῆς ἀρετῆς πᾶσι δίδωμι χάριν. Nichts habe ich im Inneren, und doch ist alles in mir drin, als Geschenk aber gewähre ich allen die Freude meines Handwerks.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Der Spiegel (κάτοπτρον) beschreibt sich als Rätsel aus der Ich-Perspektive. Die Erzählung ist bestimmt von der charakteristischen Spiegelwirkung als optischer Täuschung. v. 1: Hier wirkt das Paradoxon aus der Verbindung der Gegensätze alles – nichts widersprüchlich. Es scheint unmöglich, dass ein Objekt zugleich die Eigenschaft a: „nichts befindet sich im Inneren“ und die Eigenschaft nicht-a: „alles befindet sich im Inneren“ besitzt. Die Lösung dieser Irritation liegt darin, dass ἔχω und μοι ἔστι hier nicht dieselbe Art von Besitz ausdrücken. Während der erste Teil des Verses darauf abzielt, dass der Spiegel kein Inneres besitzt, insofern er kein Lebewesen ist, bezieht sich die zweite Hälfte auf die Spiegelung, die den optischen Eindruck erzeugt, das Gespiegelte befinde sich in dem Spiegel. Alles, was vor den Spiegel tritt oder vor ihn gestellt wird, scheint sich auf diese Weise in dem Spiegel zu befinden, sodass dieser im übertragenen Sinne potentiell alles in sich trägt. v. 2: Die Vorstellung von einem unentgeltlichen Arbeiter, der seinen Dienst verrichtet, ist nicht direkt widersprüchlich, aber doch ungewöhnlich. Gemeint ist, dass ein Spiegel jeden, der vor ihn tritt spiegelt – ohne dass es dafür Bedingungen gäbe oder dass etwa dafür bezahlt werden müsste. v. 2 nimmt so v. 1b wieder auf und führt den Inhalt weiter aus. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Rätsel vom Spiegelbild (AP XIV 56). 3 Rätsel vom Schreibrohr AP App. VII 37, Cougny; Psellos 10, Anecd. Gr. III, p. 432 Boiss.; S 75 Οὐδεὶς σπορεύς μου, καὶ φύω σπορᾶς δίχα· τρέφει με πέτρα, καὶ καλοῦμαι πρὸς τόδε.

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B Paraphrasierende Rätsel

Τέμνει σίδηρος· εἰς δέον τε λεπτύνας, ἀνὴρ χαραγμὸν εὐφυῶς ποιεῖ μέσον. Ὑγρὸν ζοφῶδες ἐκρέει μου συχνάκις· τὸ δ’ ἐκτελεσθὲν τίμιον βροτοῖς πέλει. Ich habe keinen Erzeuger und ich bin ohne Samen entstanden, mich nährt ein Stein und nach ihm bin ich benannt. Es schneidet das Eisen: Im nötigen Maß beschnitten, der Mann macht sorgfältig einen mittleren Einschnitt. Eine dunkle Flüssigkeit entfließt mir oft: und daher wird den Menschen das, was im Preis ist, vollendet.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel vom Schreibrohr ist aus der Ich-Perspektive erzählt. Hinweise geben die Machart und die Verwendung des Griffels als Schreibgerät. vv. 1–2: Das erste Verspaar bezieht sich auf die Entstehung bzw. die Machart des Schreibwerkzeugs. Dass es gleichsam parthenogenetisch, oder sogar gänzlich ohne Eltern entsteht, weist vielleicht auf seinen nicht-lebendigen Charakter als Gegenstand hin. Der Stein (πέτρα), von dem hier die Rede ist, ist der Schleifstein, an dem die Feder des Griffels geschärft wird; vgl. die Epigramme AP VI 62–68, die ebenfalls den Schreibprozess und das Schärfen der Feder (am Bimsstein (τρηματόεις λίθος) AP VI 62) beschreiben. Inwiefern das Schreibrohr jedoch nach jenem Schleifstein benannt ist (καλοῦμαι, v. 1), d. h. inwiefern eine etymologische Beziehung zwischen πέτρα und der Bezeichnung des Schreibgeräts vorliegen könnte, ist unklar; vgl. hierzu Cougny III (1890) 570 mit der Konjektur καλλύνω, die dagegen auf die formgebende Funktion des Schleifsteins zu zielen scheint. vv. 3–4: Auch hier geht es um die Ausgestaltung der Feder. Durch den Mittelschnitt fließt die Tinte auf das Pergament / den Papyrus; vgl. hierzu ausführlich AP XIV 64. Zum Zuschnitt der Rohrfeder mit einem Federmesser (AP VI 62. 67. 295) und zu dem Spalt in der Mitte der Feder (AP VI 68), auf den hier angespielt ist, vgl. ferner Wünsch (1909) 2099. vv. 5–6: Thematisiert ist das Anfertigen von Schriftstücken mit Tinte (ὑγρὸν ζοφῶδες), das von professionellen Schreibern für Geld ausgeführt wurde (τίμιον). Intertextuelle Verweise: Vgl. die thematisch verwandten Rätsel vom Schreibwachs (AP XIV 45) und von der Schreibtafel (AP XIV 60). Vgl. ferner die Epigramme AP VI 62–68, die verschiedene alt gewordene Schreiber und die Weihung ihrer Werkzeuge behandeln. Hier ist verschiedent-

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lich die Rede von dem Schärfen der Feder, dem mittleren Einschnitt, der dunklen Tinte und den Musen als Bezugsgröße (vgl. AP XIV 45). Ähnlich auch das Rätsel von der harundo, Symphosius nr. 2 Leary. 4 Rätsel von Eva AP App. VII 44, Cougny; Psellos 17, Anecd. Gr. III, p. 435 Boiss.; S 100 Ἀνήρ με γεννᾷ καὶ πατὴρ ὑπὲρ φύσιν· ζωὴν καλεῖ με, καὶ θάνατον προσφέρω. Mein Mann hat mich erschaffen und ist auf diese Weise wider die Natur auch mein Vater; er nennt mich „Leben“ und ich bringe den Tod.

Form: 2 iambische Trimeter Erklärung: Die biblische Eva beschreibt sich aus der Ich-Perspektive als Rätselobjekt im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Adam und die Bedeutung ihres Namens. v. 1: Als Gott die Erde, den Menschen und die Tiere erschuf, fehlte Adam als einzigem Menschen zunächst ein weiblicher Partner. Gott ließ ihn in einen tiefen Schlaf fallen, entnahm ihm eine Rippe und formte aus dieser Rippe Eva, die er Adam zur Frau gab, vgl. Gen 2,18–22. Auf diese Weise wurde Eva Adam zur Frau gegeben, weshalb Adam als ihr Gatte (ἀνήρ) zu gelten hat. Da Eva aus Adams Rippe, also gleichsam aus Adam selbst entstand, bezeichnet ihn das Rätsel im übertragenen Sinne zugleich als ihren πατήρ. Diese Darstellung beruht auf der analogen Struktur „jemand geht (wie bei der geschlechtlichen Zeugung bzw. Geburt) aus einem anderen hervor“. Dass ἀνήρ (als Ehegatte) und πατήρ direkt miteinander identifiziert werden, muss natürlich – wörtlich verstanden – inzestuös und damit geradezu paradox erscheinen. So bezeichnet auch das Rätsel selbst das doppelschichtige Beziehungsgeflecht als ὑπὲρ φύσιν. Erst die Erkenntnis des übertragenen Sprachgebrauchs macht ein sinnvolles Verständnis des Gesagten möglich. Erschwert wird diese Erkenntnis dadurch, dass Adam als ἀνήρ hier als aktives Subjekt der Schöpfungshandlung auftritt. Tatsächlich hatte ja Gott Eva aus Adams Rippe sogar ohne Adams Wissen erschaffen. Die Vaterschaft, wenn auch nicht die genetische, könnte in diesem Sinne mit gutem Recht auch Gott selbst zugesprochen werden. Die generalisierende Subjektsverschiebung (im Sinne einer kausativen Enallage) auf Adam erschwert somit die Differenzierung der Bedeutungsnuancen von πατήρ zwischen (a) Schöpfer (Gott) und (b) biologischgenetischem Vorbild (Adam), vgl. Gen 2,23: Τοῦτο νῦν ὀστοῦν ἐκ τῶν ὀστέων μου καὶ σὰρξ ἐκ τῆς σαρκός μου· αὕτη κληθήσεται γυνή, ὅτι ἐκ τοῦ ἀνδρὸς αὐτῆς ἐλήφθη αὕτη – Diese ist endlich Gebein von meinen Gebeinen und

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B Paraphrasierende Rätsel

Fleisch von meinem Fleische; darum soll sie Frau [wörtl. „Männin“; hebräisches Wortspiel mit Isch = Mann, Ischah = Frau] heißen, weil sie vom Mann genommen wurde. v. 2: Nach der allgemeinen Bezeichnung als γυνή folgt Gen 3,20 die Benennung der Frau als durch Adam: καὶ ἐκάλεσεν Ἀδὰμ τὸ ὄνομα τῆς γυναικὸς αὐτοῦ Ζωή, ὅτι αὕτη μήτηρ πάντων τῶν ζώντων. Den sprechenden Namen „das Leben“ erhält sie also als die, die Leben schenken wird, nämlich als Mutter des Menschengeschlechts. Dass im Rätsel wie in der Septuaginta irreführenderweise dieser bedeutungsvolle Name anstelle des als Personenname gebräuchlicheren Εὖα, der Umschrift des Hebräischen ‫( חוּה‬Chawwah), Verwendung findet, ist dem auf diese Weise erzeugten paradoxen Gegensatz geschuldet, der zwischen ζωή und θάνατος entsteht. Wie das personifizierte Leben als Wirkung den Tod haben kann, erklärt sich nur auf Umwegen. Eva (oder die Frau als solche) bringt weder Adam noch dem übrigen Menschengeschlecht auf der Stelle den Tod. Vielmehr verschuldet sie, indem sie sich von der Schlange dazu verleiten lässt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und dann auch Adam dazu verführt, die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies – und besiegelt damit seine Sterblichkeit; vgl. dass Gott bereits in seinem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, den Tod bzw. die Sterblichkeit als Strafe androht: ἀπὸ δὲ τοῦ ξύλου τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν, οὐ φάγεσθε ἀπ᾽ αὐτοῦ· ᾗ δ᾽ ἂν ἡμέρᾳ φάγητε ἀπ᾽ αὐτοῦ, θανάτῳ ἀποθανεῖσθε (Gen 2,17). Dies wiederholt Eva noch einmal im Gespräch mit der Schlange: ἀπὸ δὲ καρποῦ τοῦ ξύλου, ὅ ἐστιν ἐν μέσῳ τοῦ παραδείσου, εἶπεν ὁ θεός Οὐ φάγεσθε ἀπ᾽ αὐτοῦ οὐδὲ μὴ ἅψησθε αὐτοῦ, ἵνα μὴ ἀποθάνητε (Gen 3,3). Schließlich bei der Vertreibung aus dem Paradies: […] ἕως τοῦ ἀποστρέψαι σε εἰς τὴν γῆν, ἐξ ἧς ἐλήφθης· ὅτι γῆ εἶ καὶ εἰς γῆν ἀπελεύσῃ (Gen 3,19). Intertextuelle Verweise: Vgl. für die paradoxe Zusammenstellung zwischen Leben als Name und Tod als Wirkung das herakliteische ΒΙΟΣ-Rätsel, Herakl. FVS I8, 22 B 48 DK = frg. 39 M. Für metaphorisch-inzestuöse Verwandtschaftsverhältnisse vgl. die Rätsel von den Schwestern, die sich gegenseitig jeweils auch Mütter sind (Tag und Nacht), AP App. VII 14. AP XIV 40. 41.

5 Rätsel vom Geist bzw. Himmel AP App. VII 60, Cougny; Basil. Megalomit. 16, Anecd. Gr. III, p. 442 f. Boiss.; S 8 Τοῦ παντὸς ἐκτὸς καὶ κινοῦμαι καὶ τρέχω· πάλιν, τὸν αὐτὸν οὐκ ἀφεὶς τόπον, τρέχω. Ὁρίζομαι δὲ καὶ τόπῳ μικρῷ τρέχων. Πῶς γοῦν κινοῦμαι, μὴ κινούμενος; λέγε.

B. I Unvollständige Beschreibung

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Außerhalb von allem werde ich bewegt und ziehe ich meine Bahn; Wiederum, den gleichen Raum, obwohl ich ihn nicht verlasse, durchlaufe ich. Und ich werde – laufend – von einem kleinen Raum begrenzt. Auf welche Weise also werde ich bewegt, obwohl unbewegt? Sag!

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel wird von dem Lösungsobjekt als auktorialem Erzähler vorgetragen. Seine Schwierigkeit beruht auf kosmologischen Zusammenhängen, für deren Verständnis ein gewisses Spezialwissen notwendig ist. Schultz (1909) 23 f., nr. 8 hält den vierten Vers für unecht und rekonstruiert folgende alte Version des Rätsels: τοῦ παντὸς ἐκτὸς ἀλλάσσων τόπον τρέχω πάλιν, τὸν αὐτὸν οὐκ ἀφεὶς τόπον τρέχω ὀρίζομαι δὲ καὶ μικρῷ τόπῳ τρέχων.

In der Tat ist das identische Ende der einzelnen Verse, das sich durch wenige Eingriffe herstellen lässt, verlockend. Es mag sogar die in vielen anderen Fällen von Schultz unsanft und unnötig erzwungene Ausdeutung aller alten Rätsel auf den Mond in diesem Falle zutreffend sein. v. 1 ginge in diesem Fall auf den Phasenwechsel (τόπον ἀλλάσσειν), zwischen den vier Lichtgestalten des Mondes, die er während seines Umlaufs um die Erde aufgrund seiner jeweiligen Stellung zur Sonne einnimmt. v. 2 bezöge sich auf den zyklischen, d. h. sich regelmäßig wiederholenden Phasenwechsel während des Mondlaufs, bei dem der Mond eine Phase verlässt, ohne sie endgültig hinter sich zu lassen, insofern er sie im nächsten Zyklus erneut durchläuft. v. 3 ginge auf die am Mond orientierte Zeitmessung nach dem Wechsel seiner Phasen (μικρὸν τόπον). v. 4: Der womöglich unechte Schlussvers bedingt das Lemma νοῦς ἢ Οὐρανός, unter dem das Rätsel überliefert ist. Direkt gefragt wird hier nach der Art und Weise bzw. nach einem Urheber der Bewegung des Mondes als Rätselobjekt. Das Lemma scheint anzudeuten, dass einerseits eine göttliche Kraft (νοῦς), andererseits die kosmische Himmelsbewegung (οὐρανός) für dieselbe verantwortlich gemacht werden kann. Das Paradoxon, das aus der Verbindung der gegensätzlichen Eigenschaften a: „bewegt“ und b: „unbewegt“ entsteht, müsste dann in irgendeiner Form auf die Bewegung des Mondes zu deuten sein, der zwar um die Erde und mit ihr um die Sonne kreist, jedoch ohne sich um sich selbst zu drehen.

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B Paraphrasierende Rätsel

Intertextuelle Verweise: Vgl. das thematisch verwandte Rätsel vom Geist bzw. von der Seele, AP App. VII 76.

6 Rätsel vom Schlaf AP XIV 44, Beckby; S 58 Νυκτὶ μιῇ καὶ Τρωσὶν ἐπήλυθα, καὶ τὰ Πελασγῶν φῦλα διατμήξας εἷλον ἄνευ δόρατος· οὐ μὲν ὁ Τυδείδης οὐδ’ ὁ πτολίπορθος Ὀδυσσεὺς τὸν θρασὺν ἐκ νηῶν ἔσθενον ἐξελάσαι· ἀλλὰ μένος καὶ θάρσος ἐνὶ στήθεσσιν ἀέξων Ἀργείων στρατιὴν ὤλεσα καὶ Φρυγίων. In einer einzelnen Nacht überrannte ich sogar die Troer und der Pelasger Sippe schnitt ich entzwei und warf sie nieder ohne Geschosse; Weder der Sohn des Tydeus noch der Städtezerstörer Odysseus hatten die Kraft, mich Tapferen von ihren Schiffen zu verjagen; Obwohl ich Mut und Tapferkeit in den Herzen errege, vernichtete ich der Argeier Heer und das der Phryger.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Das aus der Ich-Perspektive formulierte Rätsel vom Schlaf suggeriert durch die Personifikation des Rätselobjekts (z. B. durch die persönlich gebrauchten Verben) fälschlicherweise, dass eine Person gesucht ist. vv. 1–2: Das erste Verspaar enthält auf gedrängtem Raum gleich drei Paradoxa: a) Betont wird die kurze Dauer des „Überfalls“ (indirekt in ἐπήλυθα) von einer einzelnen Nacht. Einen Sieg wie den beschriebenen in derart kurzer Zeit zu erringen, scheint geradezu unmöglich. b) Sowohl die Trojaner als auch die Griechen werden durch das Rätselobjekt unterworfen. Es muss sich somit um eine dritte Instanz handeln – von der jedoch aus der epischen Überlieferung nichts bekannt ist. c) Der Überfall verläuft ἄνευ δόρατος. Dieser Zusatz verstärkt das erste Paradoxon, da unter diesen Voraussetzungen (ohne Waffen) noch unmöglicher erscheint, dass ein Individuum einen Sieg gegen die beiden großen Kriegsmächte erkämpfen kann. Zur Auflösung führt eine übertragene bzw. weitere Auffassung der Verben ἐπέρχεσθαι, διατμήγειν und αἱρεῖν. Der Schlaf kommt bei Nacht über die Kämpfer beider Heere, einem Überfall gleich (ἐπέρχεσθαι) und rafft sie mit Müdigkeit,

B. I Unvollständige Beschreibung

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d. h. ganz ohne Waffen im engeren Sinne dahin (αἱρεῖν). Zerteilt (διατμήγειν) werden insbesondere die Griechen, insofern sie sich zum Schlafen in unterschiedliche Quartiere betten. vv. 3–4: Diomedes als Sohn des Tydeus und der berühmte Odysseus werden hier als Paradebeispiel für Besiegte des Schlafs als Rätselobjekt herangezogen. Wenn selbst diese Vorkämpfer sich nicht gegen den „Übergriff“ verteidigen können, dann kann es niemand. Das ungestrafte Eindringen des Rätselobjekts auf die Schiffe der Griechen (ἐκ νηῶν …) verstärkt den Gedanken an einen nächtlichen Überfall der auf ihren Schiffen schlafenden (!) Griechen. Tatsächlich ist es der Schlaf selbst, der die Griechen auf ihren Schiffen überwältigt. vv. 5–6: Paradox erscheint die Zusammenstellung der gegensätzlichen Eigenschaften a: „Mut, d. h. auch Kampfeskraft erzeugen“ und b: „denjenigen, bei dem Mut erzeugt wird, zu Fall bringen“. Tatsächlich aber bezieht sich der Gedanke einer Stärkung der Kampfgeister durch die Erholung, die jemand im Schlaf erfährt und durch die er wieder zu Kräften kommt, auf den Schlaf ganz im Allgemeinen, der Sieg aber auf die Trojaner und Griechen, wenn sie von ihrer Müdigkeit übermannt werden. Auch dieser Sieg des Schlafs bringt den Schlafenden schließlich eine Erfrischung des Mutes und ihrer Stärke. v. 6 bildet mit v. 1 einen inhaltlichen Rahmen für das Rätsel. Wie zu Beginn wird auch am Ende der Sieg über beide Völker proklamiert. In beiden Versen sind jedoch die Völker jeweils unterschiedlich bezeichnet (die Trojaner als Τρῶες und als Φρύγιοι, die Griechen als Πελασγοί und als Ἀργεῖοι), sodass zunächst der Eindruck entstehen könnte, es sei von vier Opfern des Rätselobjekts die Rede. Intertextuelle Verweise: Vgl. die anderen Rätsel vom Schlaf bzw. Traum, AP App. VII 11. AP XIV 110. Literatur: Schultz (1912) 136 (Register) deutet das Rätsel konkreter auf den Traum des Agamemnon, den ihm Zeus mit der Prophezeiung eines Sieges für die Griechen schickt, und verweist auf Hom. Il. 7,261, wo jedoch gar nicht direkt von dem Traum, der Agamemnon bereits im zweiten Gesang erreicht, die Rede ist. Was Schultz zu dieser konkreten Ausdeutung bewegt, ist kaum nachvollziehbar – auch weil Erläuterungen zu dem Rätsel in seiner Darstellung fehlen. Wenn Agamemnons Traum gemeint wäre, müsste man bspw. fragen, inwiefern dieser sowohl Griechen als auch Trojaner dahinrafft, oder warum ausgerechnet Diomedes und Odysseus, nicht aber Agamemnon in vv. 3–4 genannt sind. Vielmehr liegt hier ein Rätsel über den Schlaf als allgemeinmenschliches Abstraktum vor, wie es auch anderenorts vorliegt (s. o.) und wie auch der Traum, das Spiegelbild (AP App. VII 29), die Zeit (Psellos 3 Boiss.; Athen. X 453b) u. Ä. als solche verrät-

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B Paraphrasierende Rätsel

selt zu werden pflegen. Sowohl Griechen als auch Trojaner sind – gleichsam willkürlich – als (konkretisierende) Beispiele für das Wirken des Schlafs gewählt. Sie stehen damit exemplarisch für den Menschen im Allgemeinen, zu dessen natürlichen Grundbedürfnissen der Schlaf zählt.

7 Rätsel vom Schlaf Alexis, PCG II, frg. 242,1–5, p. 157 K.-A.; AP App. VII 11; zit. Athen. X 449de οὐ θνητὸς οὐδ’ ἀθάνατος, ἀλλ’ ἔχων τινὰ σύγκρασιν, ὥστε μήτ’ ἐν ἀνθρώπου μέρει μήτ’ ἐν θεοῦ ζῆν, ἀλλὰ φύεσθαί τ’ ἀεὶ καινῶς φθίνειν τε τὴν παρουσίαν πάλιν, ἀόρατος ὄψιν, γνώριμος δ’ ἅπασιν ὤν. Weder sterblich noch unsterblich, sondern irgendwie dazwischen gemischt, sodass er weder unter den Menschen noch bei den Göttern lebt; aber einerseits immer neu entsteht, andererseits wiederum in der Gegenwart vergeht, für den Blick unsichtbar und doch jedem bekannt.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: Aus einer auktorialen Perspektive wird der Schlaf als regenmäßig (täglich) wiederkehrendes Abstraktum beschrieben. vv. 1–2a: Paradox erscheint die Zusammenstellung der Eigenschaften a: „nicht sterblich“ und b: „nicht unsterblich“. So verhält es sich auch mit vv. 2b– 3a, wo die scheinbar unvereinbaren Eigenschaften a: „kein Mensch“ und b: „kein Gott“ verbunden sind. Die beiden Hauptgruppen der Existenz (sterbliche Menschen, unsterbliche Götter) sind damit negiert. Ein Wesen, das in keine der beiden Gruppen A oder B gehört, ist hingegen nur schwer zu finden – mathematisch dargestellt ist die Gruppe ¬A ∧ ¬B (nicht-a und nicht-b) leer. Alternative Gruppen, wie beispielsweise die der Tiere (weder Mensch noch Gott, aber sterblich), führen den Rezipienten gedanklich in falsche semantische Zusammenhänge. Gesucht ist nach einem Abstraktum, dessen körperliche Existenzlosigkeit nicht ausschließt, dass es, etwa als Geschehen, Handlung o. Ä., existiert. Schlüssel zu dieser Erkenntnis ist das (doppelt) verneinte ζῆν, welches darauf hinweist, dass kein Lebewesen (welcher Art auch immer) gesucht ist; vgl. zu diesem Topos von der körperlichen Existenzlosigkeit die übrigen Rätsel um Abstrakta, wie beispielsweise das von der Seele (AP App. VII 78); ähnlich im Rätsel vom Geist (AP App. VII 71); in der superlativischen Frage nach dem Größten im Kleinsten (Stob. 3,3,45); im Rätsel von der Zeit (Athen. X 453b).

B. I Unvollständige Beschreibung

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vv. 3b-4: Rückbezug auf v. 1a. Das abwechselnde Vergehen und neu Entstehen lässt im Kontext von (Un-)Sterblichkeit an (göttliche) Wiederauferstehung denken. Tatsächlich ist viel allgemeiner die (tägliche) rhythmische Abfolge von Anfang und Ende des gesuchten Phänomens, das Einschlafen und Aufwachen bezeichnet. Der gesuchte Schlaf erstreckt sich zwischen diesen beiden Eckpunkten; vgl. zum rätselhaften Wechsel zwischen Bestehen und Vergehen auch das Rätsel vom Licht (AP App. VII 48) und das Rätsel vom Jahr (AP XIV 101). v. 5: Die Zusammenstellung der gegensätzlichen, wenn auch nicht direkt widersprüchlichen, Eigenschaften a: „ungesehen“ und b: „allen bekannt“ erzeugt einen paradoxen Eindruck. Der sonst eigentlich überflüssige Zusatz ἀόρατος ὄψιν ist hier entscheidend. Denn für die offenen Augen, d. h. den wachen Blick, ist der Schlaf nicht sichtbar, denn er hat keine körperliche Gestalt und ist deshalb nicht primär-physisch wahrnehmbar. Er existiert überhaupt erst dann, wenn der Mensch schläft – und dabei die Augen geschlossen hat. γνώριμος ist er jedoch insofern, als dass jeder Mensch unweigerlich mit ihm zu tun hat; vgl. zu diesem Topos der Unsichtbarkeit von Abstrakta auch das Rätsel vom Traum (AP XIV 110) sowie das Rätsel vom Licht (AP App. VII 48). Athen. X 449de überliefert aus der Komödie des Alexis nicht nur die Rätselfrage selbst, sondern im Anschluss daran folgenden kurzen Dialog zwischen der Alten (γύνη), die das Rätsel offenbar stellt, und dem Mädchen (κόρη), welches es nicht zu lösen vermag, um die Erklärung des Rätsels (PCG II, frg. 242,6–9 K.-A.): (Β.) αἰεὶ σὺ χαίρεις ὦ γύναι μ’ αἰνίγμασι – (A.) καὶ μὴν ἁπλᾶ γε καὶ σαφὴ λέγω μαθεῖν. (Β.) τίς οὖν τοιαύτην παῖς ἔχων ἔσται φύσιν; (A.) ὕπνος, βροτείων, ὦ κόρη, παυστὴρ πόνων B. A. B. A.

Immer freust du dich daran, Frau, mich mit Rätseln … Und doch sage ich es einfach und deutlich zu verstehen. Welches Kind also gibt es, das solch ein Wesen hat? Der Schlaf, mein Mädchen, der Erlöser der Menschen von den Lasten.

Der Schlagabtausch bringt zwei unterschiedliche Einstellung gegenüber dem Rätsel zum Ausdruck. Das befragte Mädchen fühlt sich durch das Rätsel gefoppt (v. 1) und erkennt keinen Sinn in dem Gesagten (vgl. ihre kritische Nachfrage, v. 3). Sie steht dem Rätsel als solchem (weshalb sonst sollte sie zur Verallgemeinerung der Aussage αἰεί und den Plural αἰνίγματα wählen?) offenbar kritisch gegenüber – wohl weil sie regelmäßig an den Lösungsversuchen scheitert. Die alte Rätselstellerin dagegen, die die Lösung des Rätsels kennt und seinen Sinn durchschaut, nennt ihre Rede geradezu ἁπλός und σαφῆς – Ausdrücke, die das Gegenteil des gemeinhin als undurchsichtig und verwickelt empfundenen Rätsels bezeichnen. Sie will damit wohl nicht leugnen, dass sie

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B Paraphrasierende Rätsel

überhaupt ein Rätsel gestellt hat. Vielmehr betont sie die Erkenntnis und die tiefe Einsicht in die wahren Zusammenhänge der Dinge, die in einem (verstandenen) Rätsel liegen, und damit Nutzen und Mehrwert des Rätselratens. Zur Verteilung der Rätselrollen: Dass die Alte die Rolle der überlegenen Rätselstellerin übernimmt, überrascht kaum. Ihr höheres Alter und ihre umfangreichere Lebenserfahrung lassen einen insgesamt höheren Bildungsgrad und vielleicht sogar eine Form von Weisheit vermuten, wodurch sie entsprechend für die Rolle qualifiziert ist. Dem (offenbar noch jungen) Mädchen hingegen fehlen entsprechende Kompetenzen, sodass sie sich trefflich in die Rolle des unterlegenen, erfolglosen Rätsellösers fügt. Das Verhältnis zwischen beiden Figuren ist ganz klassisch, das Rätsel dient hier zur Belehrung bzw. zur Wissensvermittlung von Generation zu Generation. Dass dieses klassische Verhältnis nicht zwingend bestehen muss, zeigt beispielsweise das Rätsel von der Lausjagd (Herakl. frg. 56 DK), in welchem gerade die Fischerjungen den Weisen Homer übertrumpfen. Bemerkenswert ist ferner, dass es sich bei dem Rätselpersonal ausdrücklich um weibliche Figuren handelt. Es liegt hier somit ein weiteres Zeugnis für den Umstand vor, dass Frauen (a) als besonders rätselaffin (und tückisch) galten und (b) sich tatsächlich untereinander gewohnheitsmäßig Rätsel stellten; vgl. hierzu beispielsweise auch die samischen Mädchen mit ihrem Rätsel vom Stärksten (Diphilos, PCG V, frg. 49 K.-A. = Athen. X 451bc) und die Rätselspiele zwischen Frauen bei den Agrionia (Plut. symp. 717a). Intertextuelle Verweise: Vgl. die anderen Rätsel vom Schlaf bzw. Traum, AP XIV 44. 110. Literatur: Schweighäuser V (1804) 536–538. Jacobs (1803) 347.

8 Rätsel vom ungeborenen Kinderlosen AP XIV 111, Beckby; S 51. O 156 f. Ἄγονος ἐξ ἀγόνων, βελεηφόρος, ἔμβρεφος, ἄρσης. Ungeborener von ungeborenen Eltern, Geschosse tragend, knabenhaft, eine Erhebung.

Form: Hexameter Erklärung: Das Rätsel gilt nach Beckby als ungelöst, Schultz deutet es mit Jacobs trefflich auf den Eros. Das Rätsel reiht nun vier der charakteristischsten Eigenschaften

B. I Unvollständige Beschreibung

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des Gottes aneinander und ergibt dadurch eine vergleichsweise umfassende, wenn auch nicht vollständige Beschreibung desselben. 1. Die Genealogie des Eros gilt gemeinhin als kurz. Der Liebesgott wird in der Regel als ältester Gott oder doch als direkt aus dem Chaos hervorgegangen (s. u.) angesehen, als schöpferische Urmacht. ἄγονος ist er, insofern er (in der frühen Überlieferung) nicht wie ein Mensch von Eltern geboren, sondern bei der Entstehung der Welt aus dem Nichts geschaffen wurde. Der erste Aspekt des Rätsels enthält ein zweifaches, in sich selbst verwobenes Paradoxon, insofern a) die bloße Existenz eines Ungeborenen unmöglich erscheint, b) jemand, der von jemand anderem abstammt (angedeutet in ἐξ), nicht als ungeboren oder elternlos gilt, c) das Attribut ἄγονος schon gar nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden kann, weil die bloße Existenz von mindestens zwei Generationen das Attribut widerlegt. Es scheint hier die alte Tradition, nach der Eros als aus dem Nichts geschaffener, alter Gott ohne Eltern (ἄγονος) bekannt ist (Hes. theog. 120), mit einer jüngeren überlagert zu sein, nach der nicht Eros selbst der Ungeborene ist, sondern von Eltern abstammt, die als unmittelbar aus dem Chaos entstanden, also selbst als ἄγονοι gelten (z. B. Eros aus einem Ei der Nyx geboren bei Aristoph. Av. 690– 703). Erst seit Apollonios von Rhodos ist seine Abstammung von Aphrodite und Ares, die in Uranos bzw. Hera und Zeus auch selbst leibliche Eltern haben, etabliert. 2. Es mag zwar sein, dass, wie Schultz bemerkt, der Ausdruck βελεηφόρος ungewöhnlich oder sogar ein Hapax legomenon ist, doch ist die Ausrichtung auf die berühmten Pfeile des Liebesgottes unleugbar. Ihre Bezeichnung als βέλος verweist auf das servitium amoris, den kriegerischen Charakter der Liebe, die von Amor mit den Pfeilen verbreitet wird. 3. Auch bei ἔμβρεφος handelt es sich um ein Hapax legomenon. Doch auch die Attribuierung als jugendlicher Knabe, der die Jugend liebt, ist – als Kontrapunkt zu der Vorstellung des immer schon existenten, ursprungslosen Gottes – für Eros durchaus geläufig, vgl. Plut. symp. 195ac. Innerhalb des Rätsels wird durch diese Gegenüberstellung zwischen dem ersten und dem dritten Glied eine gewisse Spannung erzeugt. 4. Schwierig zu deuten ist der letzte Aspekt des Rätsels. Jacobs glaubt, hier sei die Flugfähigkeit der geflügelten Putte gemeint, als die Eros (seit dem Hellenismus) häufig dargestellt ist. Die Erhebung (ἄρσις) sei also eine, die der Gott selbst vollführe. Denkbar scheint auch eine Anspielung auf die zerstörerische Kraft der (unerwiderten) Liebe; vgl. ἄρσις als Zerstörung und Vernichtung in OGIS 315.59 (Pessinus).

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B Paraphrasierende Rätsel

Intertextuelle Verweise: Plat. symp. 178ac mit der Rede des Phaidros über Eros als ungeborenen, sehr alten Gott (γονῆς γὰρ Ἔρωτος οὔτ’ εἰσὶν […] οὕτω πολλαχόθεν ὁμολογεῖται ὁ Ἔρως ἐν τοῖς πρεσβύτατος εἶναι); 195ac mit der Gegenrede des Agathon über Eros als jüngsten aller Götter (πρῶτον μὲν νεώτατος θεῶν, 195a), die nicht explizit ausschließt, dass der Liebesgott ohne Eltern entstanden ist, aber doch darauf hinzudeuten scheint; ferner Hes. theog. 120 ff. über Eros als sehr ursprünglichen Gott (nach dem Chaos und der Gaia). Literatur: Zu Eros als ungeborenem Gott in der antiken Tradition vgl. Foerster (1911) 4 ff. Schultz (1909) 50. 53, nr. 51 hält das Rätsel für alt und für „vom ersten bis zum letzten Worte doppelsinnig“. Ich meine, zusammengestellt sind hier vielmehr beschreibende Attribute des Liebesgottes, die ihn unmittelbar charakterisieren. Schultz’ Einschätzung, es seien „zwei gegensätzliche Übersetzungen“ nötig, kann ich daher nicht teilen, zumal ich die alternative Übertragung „Unfruchtbarer von Unfruchtbaren, Geschosse Entfernender, Schwangerer, Fügung“ für mehr als unpassend halte.

9 Rätsel vom Gittertor AP IX 781, Beckby Ἤν κλείσῃς μ’, ἀνέῳγα· καὶ ἤν οἴξῃς, ἐμὲ κλείσεις· τοῖος ἐὼν τηρεῖν σὸν δόμον οὐ δύναμαι. Wenn du mich schließt, bin ich offen; und wenn du mich öffnest, wirst du mich schließen; weil ich so bin, kann ich dein Haus nicht bewachen.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das Rätsel ist überliefert unter dem Lemma εἰς κάγκελον οἰκίας, ist also auf das (Gitter)Haustor zu deuten, das sich in einem Spannungsfeld aus seiner Funktion (etwas verschließen) und seiner Bauform (mit den offenen Zwischenräumen zwischen den einzelnen Gitterstäben) aus der Ich-Perspektive selbst umschreibt. v. 1: Den Kern des Rätsels bildet der beidseitige Widerspruch, der, angeordnet in einem Parallelismus, den ersten Vers bestimmt. Aus einer auf das Rätselobjekt bezogenen Handlung (schließen, öffnen) folgt demnach jeweils ein der logischen Konsequenz entgegengesetzter Zustand des Objekts (offenstehen, verschlossen sein). Die Kausalverbindung zwischen Ursache und Wirkung ist damit, gemessen an gängigen Konventionen, ins Gegenteil verkehrt. Wo gewöhn-

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lich aus a die Folge A hervorgeht, gilt hier a → B und b → A, wobei sich a und b sowie A und B jeweils gegenseitig ausschließen. Die Lösung des Rätsels ergibt sich mit Blick auf die doppelte Bedeutung des Verschließens, die sich mit Beziehung auf ein Tor ergeben. So bezieht sich v. 1a in konventionellem Sinne auf das Verschließen des Tors, das sodann eine durchgängige Linie mit einer Mauer oder einem Zaun bildet, in der bzw. dem er den auf diese Weise verschlossenen Durchlass darstellt. Wenn wir annehmen, dass von einem Gittertor die Rede ist, gibt dasselbe in jener geschlossenen Position durch die Zwischenräume zwischen den einzelnen Gitterstäben jedoch offenen, freien Blick auf alles, was hinter dem Tor liegt, und steht insofern offen (ἀνέῳγα). Andersherum bezeichnet v. 1b den Zustand, in den das Tor nach konventionellem Verständnis (ganz) geöffnet ist, in dem der Zugang zu dem Bereich hinter dem Tor also nicht verstellt ist. Nimmt man an, dass das Tor an seiner Angel bis zum äußersten Punkt umgeschlagen, d. h. unmittelbar gegen die Wand oder den Zaun gelehnt wird, von der bzw. dem es ein Teil ist, dann sind die Zwischenräume zwischen den Gittern als „Sichtfenster“ in dieser Position durch die dahinterliegende Mauer bzw. den Zaun verschlossen (κλείσεις). Ganz akkurat ist diese Gegenüberstellung freilich nicht, insofern bei geöffnetem Tor zwar der Blick durch die Gitter des Tors selbst verstellt ist, der Blick durch die offene Torstelle jedoch vollkommen frei wird. v. 2: In zweiter Instanz ist auf die aus v. 1 resultierende mindere Qualität des Gittertors als „Wachposten“ (τηρεῖν) für ein Haus angespielt. Dabei ist wohl daran zu denken, dass selbst das geschlossene Gittertor die Blicke Fremder nicht abzuhalten vermag und so etwa die Privatsphäre des dahinterliegenden Hauses und seiner Bewohner nur unzureichend schützt. 10 Rätsel vom Mörders-Mörder AP XIV 33, Beckby; S 54 Τόν με κατακτείναντα κατέκτανον, οὐ δέ μοι ἦδος· θῆκε γὰρ ἀθάνατον τὸν κτάμενον θάνατος. Den, der mich ermordete, tötete ich, doch war es mir keine Freude; es machte nämlich unsterblich den Ermordeten der Tod.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es liegen dieselben Zusammenhänge zugrunde wie in AP XIV 32. Herakles tötete Nessos mit einem vergifteten Pfeil und wurde später selbst durch ein mit dem vergifteten Kentaurenblut getränktes Hemd vergiftet. Anders als in AP XIV 32 fehlt hier die Betonung der Tatsache, dass Nessos Herakles das Leben raubt, als

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B Paraphrasierende Rätsel

er selbst schon tot ist (v. 1a). κατακείναντα und κατέκτανον stehen einander direkt gegenüber und suggerieren den gegenseitigen Mord in einem Kampf. Im zweiten Teil des Rätsels liegt der Fokus ganz auf der Entrückung des Herakles in den Olymp, wo er unsterblich gemacht wurde. Der Tod des Nessos, der in AP XIV 32 ausdrücklich erwähnt war, verblasst hier dagegen. Bestimmend ist das Paradoxon, welches aus der Attribuierung des κτάμενος als ἀθάνατος entsteht und durch den Tod selbst in der Rolle des Subjekts zusätzlich verstärkt wird (v. 2). Intertextuelle Verweise: Vgl. das ganz ähnliche Rätsel von Nessos und Herakles, AP XIV 32. Ferner Soph. Trach. 1159–1173. Literatur: Jacobs (1803) 363.

11 Rätsel vom Spiegel(bild) AP App. VII 29, Cougny Ἢν ἐθέλῃς, λαλέω φωνῆς δίχα· σοὶ γὰρ ὑπάρχει φωνή, ἐμοὶ δὲ μάτην χείλε’ ἀνοιγόμενα. Wenn du willst, spreche ich ohne Stimme; dir nämlich gehört die Stimme, mir aber öffnen sich die Lippen umsonst.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um eine verkürzte Form des Rätsels AP XIV 56 vom Spiegelbild, das zwei zusätzliche Verse enthält; vgl. ferner ein anderes Rätsel vom Spiegel, AP XIV 108.

B. I. 1.2.5 Ergänzt durch Bestandteile, Eigenschaften und Relationen des Rätselobjekts 1 Rätsel vom Ball AP XIV 62, Beckby; S 73a Λίην ἔντριχός εἰμι· τὰ φύλλα δέ μου κατακρύπτει τὰς τρίχας, εἰ τρύπη φαίνεται οὐδαμόθεν· πολλοῖς παιδαρίοις ἐμπαίζομαι· εἰ δέ τίς ἐστιν εἰς τὸ βαλεῖν ἀφυής, ἵσταται ὥσπερ ὄνος.

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Stark behaart bin ich; die Blätter aber verbergen mir die Haare, wenn nirgendwo ein Loch entsteht. Mit vielen kleinen Kindern spiele ich; wenn aber eines beim Werfen untalentiert ist, steht es wie ein Esel da.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Ein Spielball beschreibt sich aus der Ich-Perspektive als Rätselobjekt im Hinblick auf seine Materialien und seine Verwendung. vv. 1–2: Als Füllung eines Spielballs wurden neben Wolle oder Körnern auch Haare verwendet (ἔντριχός). Die φύλλα können aufgrund ihres flickenförmigen Aussehens in einer Analogie der Form metaphorisch für die Lederstücke stehen, die wohl geläufigerweise das Außenmaterial eines Balls bildeten. Nur angedeutet ist das Paradoxon der unsichtbaren, weil ins Innere des runden Balls (analog zur Kopfform) gerichteten Haare durch κατακρύπτει und die Möglichkeit einer τρύπη. vv. 3–4: Hier geht es um die Verwendung des Balls als Kinderspielzeug. Angedeutet wird eine spezielle Spielvariante, nach der der unterlegene Spieler als Esel (ὄνος) und der Gewinner als König (βασιλεύς) bezeichnet wurde; vgl. Poll. 9,7,106, wo im Zusammenhang mit anderen Gesellschaftsspielen auch vier Ballspielarten (σφαῖρα ἐπίσκυρος, φαινίνδα, ἀπόρραξις, οὐρανία) beschrieben sind. Sieg und Niederlage bei der letzten Variante werden entsprechend gekürt: καὶ ὁ μὲν ἡττώμενος, ὄνος ἐκαλεῖτο, καὶ πᾶν ἐποίει τὸ προσταχθέν· ὁ δὲ νικῶν βασιλεύς τε ἦν, καὶ ἐπέττατεν. Das vergleichende ὥσπερ ist damit auf dieser Grundlage überflüssig und es wäre gerade für ein Rätsel auch sehr gut denkbar, dass kein Vergleich, sondern eine direkte Metapher verwendet würde. Intertextuelle Verweise: Vgl. die Ähnlichkeiten im Rätsel vom Ball bei Symphosius nr. 59 Leary, welches allerdings das Paradoxe Verhältnis von den Haaren im Inneren des Runden stärker betont: Non sum compta comis, non sum nudata capillis, intus enim crines mihi sunt, quos non videt ullus, meque manus mittunt, manibusque remittor in auras.

Literatur: Vgl. Schultz (1912) B 12, der das Rätsel in Verbindung mit dem Rätsel vom Mond (Psellos 2 Boiss.) bringt und das verwandte deutsche Rätsel (Simrock VII 275, nr. 9) zitiert:

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B Paraphrasierende Rätsel

Von außen glatt, doch innen rau; gedrang erfüllt ist mir der Bauch mit Spänen oder grobem Haar, und platz’ ich nicht, ist’s wunderbar.

Jacobs (1803) 357.

2 Rätsel vom Spiegelbild AP XIV 56, Beckby; S 65 Ἄν μ’ ἐσίδῃς, καὶ ἐγὼ σέ. σὺ μὲν βλεφάροισι δέδορκας, ἀλλ’ ἐγὼ οὐ βλεφάροις· οὐ γὰρ ἔχω βλέφαρα. ἂν δ’ ἐθέλῃς, λαλέω φωνῆς δίχα· σοὶ γὰρ ὑπάρχει φωνή, ἐμοὶ δὲ μάτην χείλε’ ἀνοιγόμενα. Wenn du mich siehst, sehe ich auch dich. Du zwar siehst mit Augen, aber ich sehe nicht mit Augen; denn ich habe keine. Wenn du willst, spreche ich ohne Stimme; denn du hast die Stimme, mir aber öffnen sich die Lippen umsonst.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: In dem Rätsel aus der Ich-Perspektive beschreibt sich das Spiegelbild im Hinblick auf seine unselbständige, passive Abhängigkeit von der Person, die sich im Spiegel betrachtet. Die beiden Verspaare enthalten je ein Paradoxon, das sich aus der Gegenüberstellung der Handlungen (ὁρᾶν, λαλεῖν) der Person und ihres Spiegelbilds ergibt. vv. 1–2: Spiegelbild und Person blicken sich gegenseitig an, insofern der Spiegel den Blick der Person zurückwirft. Entscheidend ist dabei, dass die Handlung der Person die Bedingung für die Pseudo-Handlung des Spiegelbilds stellt (ἄν…). Zwei Personen könnten einander ja durchaus auch unabhängig voneinander ansehen. Unterschieden wird nun das echte Sehen als aktive Sinneswahrnehmung der Person von dem unechten Sehen des Spiegelbilds. Unecht ist es insofern, als dass „sehen“ eine Handlung ist, die nur von Lebewesen (mit Augen) ausgeführt werden kann. Das Spiegelbild als leb- und körperloses Abstraktum hingegen besitzt keine Augen im engeren Sinne (es spiegelt nur die der Person) und sieht deshalb auch nicht wirklich. Hierin liegt die Lösung für das Paradoxon, das aus der Verbindung der widersprüchlichen Eigenschaften a: „sehen“ und b: „keine Augen haben“ resultiert. vv. 3–4: Das zweite Verspaar bildet die Struktur des ersten ab und bezieht sie auf die Sprache. Wenn die Person, die vor dem Spiegel steht, etwas sagt,

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und nur dann (Bedingung!), bewegt naturgemäß auch das Spiegelbild die Lippen, d. h. es spiegelt die Bewegung der Lippen der Person. Selbständig artikuliert wird dabei aber natürlich nichts. Das Spiegelbild spricht also in dem weiteren Sinne, dass es seine Lippen (wie zum Sprechen) bewegt, ohne dabei jedoch einen Laut von sich zu geben, d. h. ohne wirklich zu sprechen. Intertextuelle Verweise: Vgl. die anderen Rätsel vom Spiegel(-bild), AP XIV 108. AP App. VII 29, welches nur das zweite Verspaar – im Wortlaut identisch – enthält; ähnlich auch die Struktur im Rätsel vom Schlaf bzw. Traum. AP XIV 110. Jacobs (1803) 356.

B. I. 1.2.6 Sonstige 1 Rätsel vom Nackten und Bekleideten Basil. Megalomit. 22, Anecd. Gr. III, p. 444 Boiss.; S 98b Ἱδρῶν ὁ γυμνός· ὁ δ’ αὖ ἐνδεδυμένος Ἔτρεμεν δεινῶς· ὁ τρέχων δ’ αὖθις ἔστη. Der Nackte schwitzt; der Bekleidete dagegen zittert fürchterlich; der Laufende wiederum steht still.

Form: 2 byzantinische Senare Erklärung: Das Rätsel wird bestimmt von einem (1) paradoxen Gegensatzpaar und einem (2) einfachen Oxymoron. 1. Wenn für gewöhnlich auf die Voraussetzung a: „nackt sein“ die Folge A: „zittern“, auf die Voraussetzung b: „bekleidet sein“ aber die Folge B: „schwitzen“ folgt, dann verkehrt das Rätsel diese Zusammenhänge in der folgenden Weise: a → B b → A. Dabei ist die Formulierung zusätzlich durch einen Chiasmus im Hinblick auf Voraussetzung und Folge geprägt (B … a; b … A). 2. Das Oxymoron verbindet die unvereinbaren Gegensätze τρέχειν und ἱστάναι. Schultz (1909) 53, nr. 98b führt das Rätsel als „bisher ungelöst“. Ein Vergleich mit dem Rätsel vom Traum (AP XIV 110) legt jedoch dieselbe Lösung auch für dieses Rätsel nahe. Dort werden die Gegensätze sprechen und nicht sprechen, laufen und nicht laufen, Wahrheit und Lüge in ganz ähnlicher Weise miteinan-

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der verbunden. Die Lösung scheint in der auch in der Moderne noch durchaus geläufigen Einschätzung zu liegen, dass im Traum alles, also auch das prinzipiell Unmögliche, möglich wird. Der Traum erschafft eine parallele PseudoRealität, in der Dinge (scheinbar) geschehen können, ohne dass sie in der Realität erfolgen. So kann jemand der nicht sieht, weil er mit geschlossenen Augen schläft, während seines Traums als Figur desselben sehr wohl sehen. Jemand der nicht läuft, weil er schlafend in seinem Bett liegt, kann im Traum gehen, laufen, ja sogar auf einer Verfolgungsjagd um sein Leben rennen. So kann auch jemand, der bekleidet ist, träumen, dass er friert, und vice versa. Der Traum als abstraktes Rätselobjekt wird hier also gar nicht direkt durch Eigenschaften, Bestandteile oder Relationen beschrieben. Vielmehr sind Szenarien aus Beispiel-Träumen zur Umschreibung angeführt.

B. I. 2 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle) 1 Orakel über die Frauen von Argos Hdt. 6,77, Wilson; AP XIV 90 ἀλλ’ ὅταν ἡ θήλεια τὸν ἄρσενα νικήσασα ἐξελάσῃ καὶ κῦδος ἐν Ἀργείοισιν ἄρηται, πολλὰς Ἀργείων ἀμφιδρυφέας τότε θήσει. ὥς ποτέ τις ἐρέει καὶ ἐπεσσομένων ἀνθρώπων· δεινὸς ὄφις ἀέλικτος ἀπώλετο δουρὶ δαμασθείς. Aber wenn die Frau den Mann besiegt und ihn vertreibt und Ruhm gewinnt unter den Argeiern, dann werden viele Argeierinnen sich vor Gram die Wangen langziehen. So wird einst noch mancher auch der späteren Menschen sagen: „Die schreckliche dreifach gewundene Schlange starb speerdurchstoßen.“

Form: 5 Hexameter Kontext: Die Bewohner von Argos hatten einen Orakelspruch erhalten, der ihnen, verschlüsselt, ihre Niederlage gegen Sparta voraussagte. Tatsächlich hatte Kleomenes von Sparta ein entsprechendes Orakel erhalten, das besagte, er würde Argos erobern (ἐχρήσθη Ἄργος αἱρήσειν, 6,76). So zog er 510 v. Chr. nach Attika, um die Peisistratiden zu vertreiben. Erklärung: Das Orakel bezieht sich auf die Beteiligung der Argeierinnen unter Telesilla am Kampf gegen die Spartaner, nachdem die Mehrzahl der Männer von Argos getö-

B. I Unvollständige Beschreibung

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tet worden war. Das Orakel enthält keine sprachlichen Täuschungen bzw. Formen uneigentlichen Sprechens. Undeutlich erscheint es – aus seinem Kontext gelöst – nur im Hinblick auf die Unwahrscheinlichkeit seines Inhalts. Herodot erklärt entsprechend, die Argeier hätten mit einer listigen Überrumpelung durch die Spartaner gerechnet (ἐνθαῦτα δὴ οἱ Ἂργεῖοι τὴν μὲν ἐκ τοῦ φανεροῦ μάχην οὐκ ἐφοβέοντο, ἀλλὰ μὴ δόλῳ αἱρεθέωσι. καὶ γὰρ δή σφι ἐς τοῦτο τὸ πρῆγμα εἶχε τὸ χρηστήριον, […], 6,77). v. 1: Der Sieg einer Frau über einen Mann erscheint aufgrund des üblichen Geschlechterverhältnisses unwahrscheinlich oder sogar paradox. Hier wird darauf angespielt, dass die Frauen von Argos nach der Ermordung der meisten Männer tatsächlich unter der Führung der einflussreichen Dichterin Telesilla die Verteidigung der Stadt gegen die Spartaner übernahmen, vgl. Plut. mor. 245cf (mulierum virtutes); Paus. 2,20,8–10. Sie übertrumpfen damit gewissermaßen ihre eigenen Männer in einem übertragenen Sinne. Telesilla steht als Anführerin und Symbolfigur für die Frauen, die Kleomenes als Anführer der Männer besiegt und in die Flucht schlägt. Offenbar haben sich die Spartaner zwar nicht zurückgezogen, weil sie den Frauen nicht standhalten konnten, sondern weil Kleomenes das in dem ihm gegebenen Orakel versprochene Ἄργος nur auf den Hain, nicht auf die Stadt selbst deutete (6,80. 82), oder weil es sich nicht schickte, gegen Frauen zu kämpfen, aber die Folge ist doch dieselbe: Die Spartaner lassen von Argos-Stadt ab. Wenn es hingegen überhaupt keinen Widerstand mehr gegeben hätte, wäre Kleomenes u. U. nicht zum Nachdenken und Einhalten angeregt worden. Der Singular steht ferner verallgemeinernd für alle Argeierinnen, die als Kämpferinnen auftreten. v. 2: Die Frauen von Argos sorgen (wenigstens teilweise) für den Abzug der Spartaner vor der Einnahme der Stadt und gewinnen dadurch Ruhm. Eine entsprechende literarische Tradition, die von dem ruhmreichen Kampfeinsatz der Frauen berichtet, scheint es hingegen nicht zu geben. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Herodot überliefert das Orakel nur noch Paus. 2,20,10. v. 3: Scheinbarer Widerspruch zu dem ruhmvollen Sieg aus v. 2. Warum sollte die ruhmvolle Tat ihnen Kummer bereiten? Hier hat eine gewisse logische Verschiebung stattgefunden: Nicht die Tat selbst bereitet ihnen Kummer (außer vielleicht im Sinne von physischem Schmerz im Kampf), sondern die Notwenigkeit, die zu der Tat zwingt. Dass die Männer von Argos tot sind, betrübt die Frauen natürlich. Vor Trauer schlagen sie sich die Brust und kratzen ihre Haut auf. v. 4: Hier wird der Gedanke des Nachruhms aus v. 2 erneut aufgegriffen. v. 5: Die Lernäische Schlange steht als Schildtier von Argos für ihre Stadt – und deren Bewohner. Denn es stirbt bzw. fällt ja gerade nicht die Stadt, sondern ihre (männlichen) Bewohner.

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Die in dem Orakel prophezeite Beteiligung der Frauen am Kampf findet jedoch erst zum Schluss der gesamten Auseinandersetzung statt. Zuvor bedient sich Kleomenes bereits mehrerer Listen zur Erfüllung des ihm gegebenen Orakels von der Eroberung Argos’ (6,76). (1) Als Kleomenes gewahr wird, dass der Herold der Argeier stets die Anweisungen des spartanischen Herolds an sein Volk weitergibt, lässt er im Geheimen befehlen, bei dem nächsten Aufruf zum Frühstück stattdessen anzugreifen. So trifft er die Argeier völlig unvorbereitet (6,78). Diese Täuschung weist große strukturelle Ähnlichkeit mit einem klassischen Rätsel auf, bei dem Bildebene (Frühstück) und Bedeutungsebene (Angriff) nicht deckungsgleich sind. Allerdings gibt es für die Argeier weder Anhaltspunkte zur Lösung noch wird eine Rätselsituation inszeniert. Die Argeier wissen gar nicht, dass die Spartaner ihnen die Anweisung des Herolds absichtlich weitersagen lassen, sind sich also nicht bewusst, dass ihnen damit eine Art Rätsel gestellt wird. Die Täuschung ist von Kleomenes (gleichsam als Rätselsteller) unzweifelhaft intendiert (2) Die Argeier, die sich retten konnten, schließen sich in einem (wohl umzäunten) heiligen Hain ein. Kleomenes täuscht vor, für die Verschanzten sei Lösegeld gezahlt worden, und ruft sie einzeln heraus, außerhalb der Sichtweite der übrigen Verschanzten. Dann lässt er sie jeweils einzeln töten, bis ein Späher der Argeier die Täuschung durchschaut (6,79). Auch bei dieser Täuschung liegt eine rätselähnliche Struktur vor. Eine gewisse Dunkelheit bzw. Undeutlichkeit (die Dichte des Waldes bzw. der Zaun) versperrt die Sicht hinter die Bildebene (Lösegeldbefreiung) auf die Bedeutungsebene (Tötung). Doch auch hier wird keine offizielle Rätselsituation installiert, die Argeier sind sich ihrer Situation nicht voll bewusst. (3) Schließlich lässt Kleomenes den Hain in Brand stecken, fragt aber zugleich, wem er geweiht sei. Als er die Antwort erhält, der Hain gehöre dem Heros Argos, erkennt er, dass das Orakel ihm mit dem homonymen Ἄργος nicht Argos-Stadt, sondern den vorgelagerten Hain versprochen hatte. Diese Erkenntnis ist sehr besonnen und weitsichtig, denn die Stadt als versprochenes Ziel anzunehmen wäre doch für ihn viel vorteilhafter. Er opfert daraufhin, um sicherzugehen, im Heratempel und befragt die Gottheit, ob er auch Agos-Stadt noch erobern soll. Damit handelt er richtig. Er erkennt den ersten Orakelspruch als zweideutig an und fragt, anstatt eigenmächtig zu entscheiden, zur Absicherung nach; vgl. z. B. 1,91 den Vorwurf, den das delphische Orakel dem unkritischen Kroisos macht. Als Antwort stößt aus der Brust des Götterbildes eine Flamme hervor. Auch dieses Rätselbild deutet Kleonymos richtig: Die Brust der Statue steht für den Hain (nicht das Kernstück), den er mit Feuer erobert hat. Für die Stadt mit Burg stünde der Kopf des Götterbildes (Struktur-Analogie der

B. I Unvollständige Beschreibung

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äußeren Form). Da dieser unberührt bleibt, müsse auch die Stadt verschon bleiben bzw. könne nicht eingenommen werden (6,82). Diese Erklärung überzeugt auch die übrigen Spartiaten, die sich zunächst kritisch über den Abbruch der Mission geäußert hatten. Kleomenes als Rätsellöser: Kleomenes erweist sich einerseits als gerissener Täuscher (im Umgang mit den Bewohnern von Argos), andererseits als erfolgreicher Rätsellöser, der nicht durch persönlichen Ehrgeiz in seiner Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt ist. Insbesondere, dass er das Orakel sicherheitshalber ein zweites Mal befragt, als ihm der homonyme Charakter des Namens Ἄργος aufgeht, zeugt von einem kritischen, zur erfolgreichen Rätsellösung damit prädestinierten Geist. Vgl. hingegen, dass Kleomenes eigentlich als verwirrt galt und späterhin mit Wahnsinn geschlagen wurde (6,75). Hdt. 6,84 überliefert folgende unterschiedliche Begründungen für den Wahnsinn des Königs: 1. Die Bewohner von Argos sagen, sein Zug gegen die Stadt sei Grund für seinen Wahnsinn gewesen. Dies scheint als Begründung wenig plausibel und mit der übrigen Geschichte nur schwer in Einklang zu bringen, weil Kleomenes sich ja gerade besonders gottesfürchtig verhält und den Rat des Orakels achtet. Außerdem liegt diese Episode als untadeliger, selbstkritischer Orakelbefrager dem Wahnsinn weit voraus. In der Zwischenzeit ereignet sich erst noch die Rivalität mit Demaratos, in deren Zusammenhang Kleomenes sich dazu verleiten lässt, das Orakel zu bestechen. Hieran erst schließt sich der Wahnsinn folgerichtig direkt an (von Hdt. nur früher erzählt (6,64–70), weil die ArgosEpisode assoziativ als Rückblende an den Wahnsinnsbericht anschließt. 2. Die Spartaner selbst nennen den (maßlosen) Genuss ungemischten Weins, den Kleomenes von den Skythen lernte, als Ursache für die Vernebelung seines Geistes. 3. Kleomenes wird überdies mit einer Bestechung des delphischen Orakels (kein Zeichen eines klugen Rätsellösers) zur Verunglimpfung seines Mitregenten Demaratos in Verbindung gebracht. Dies hält Herodot selbst für den Grund seines Wahnsinns, vgl. Hdt. 6,66. 75. 4. Die Athener halten den Wahnsinn hingegen für die Strafe der Plünderung des Tempels in Eleusis, vgl. Hdt. 5,74. 6,75. Die Argeier als Rätsellöser: Über das schlussendliche Verständnis der Argeier von ihrem Orakelspruch berichtet Herodot nichts. Doch die Bemerkung, sie hätten aufgrund des Orakels einen gewissen Hinterhalt erwartet (6,77), deutet an, dass sie den Spruch nicht

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wirklich durchschaut haben. Vielleicht hielten sie die siegreiche Frau eher für eine aus den Reihen der Spartaner o. ä. Es mag jedoch sein, dass die Frauen von Argos sich an das Orakel erinnert sahen, als ihre Männer gefallen und die Spartaner im Begriff waren, Argos-Stadt anzugreifen, und zur Erfüllung desselben zu den Waffen griffen. Intertextuelle Verweise: Vgl. ein zweites Orakel an Argos mit dem Rat zur Neutralität im Krieg gegen die Perser, Hdt. 7,148 = AP XIV 94. Vgl. Hdt. 6,19 = AP XIV 89 mit dem Orakel an Milet, welches die Gefangenschaft der Frauen der Stadt voraussagt. Herodot berichtet, dies sei ein zweiter Teil des an Argos gerichteten Orakels gewesen: χρεωμένοισι γὰρ Ἀργείοισι ἐν Δελφοῖσι περὶ σωτηρίης τῆς πόλιος τῆς σφετέρης ἐχρήσθη ἐπίκοινον χρηστήριον, τὸ μὲν ἐς αὐτοὺς τοὺς Ἀργείους φέρον, τὴν δὲ παρενθήκην ἔχρησε ἐς Μιλησίους. […]: καὶ τότε δή, Μίλητε, κακῶν ἐπιμήχανε ἔργων, πολλοῖσιν δεῖπνόν τε καὶ ἀγλαὰ δῶρα γενήσῃ, σαὶ δ᾽ ἄλοχοι πολλοῖσι πόδας νίψουσι κομήταις, νηοῦ δ᾽ ἡμετέρου Διδύμοις ἄλλοισι μελήσει.

Nach Paus. 2,18,4. 2,30,10 führt nicht Telesilla die Frauen in den Kampf, sondern Dionysos versetzt sie in wilde Raserei, die später von Melampus geheilt wird.

2 Rätsel von Eunuch und Fledermaus Schol. Plat. Rep. 479c, p. 235 Greene; AP App. VII 15. 16; zit. Athen. X 452cd; S 3. O 52 f. αἶνός τίς ἐστιν ὡς ἀνήρ τε κ’ οὐκ ἀνὴρ ὄρνιθά τε κ’ οὐκ ὄρνιθα ἰδών τε κ’ οὐκ ἰδὼν ἐπὶ ξύλου τὲ κ’ οὐ ξύλου καθημένην τε κ’ οὐ καθημένην λίθῳ τὲ κ’ οὐ λίθῳ βάλοι τὲ κ’ οὐ βάλοι. Es geht die Rede, dass ein Mann und doch kein Mann einen Vogel und doch keinen Vogel sah und doch nicht sah, wie er auf Holz und doch nicht auf Holz saß, und ihn mit einem Stein und doch keinem Stein bewarf und doch nicht bewarf.

Form: 4 iambische Senare/ daktylische byzantinische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um das in der Antike häufig (auch als Paradebeispiel für das Rätsel) zitierte Rätsel von Eunuch und Fledermaus. Die Lösung überliefert u. a.

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das Schol. Plat. rep. 479c, p. 235 Greene (νυκτερίδα ὁ εὐνοῦχος νάρθηκος κισήρει). Der erste Vers des Rätsels enthält in αἶνος τίς ἐστιν entweder das Überbleibsel eines den eigentlichen Rätseltext einleitenden Rahmens (z. B. innerhalb einer Definition des αἶνος) oder suggeriert als genuiner Teil des Rätsels eine fiktive Erzählsituation: Eine als volkstümlich hingestellte Geschichte wird hier als Rätsel weitergegeben. Das Rätsel ist von mehreren paradoxen Verbindungen von Bejahung und Verneinung derselben Eigenschaft bestimmt. Daraus, dass es keinen Gegenstand oder ein Lebewesen gibt, das im strengen Sinne sowohl die Eigenschaft a als auch die Eigenschaft nicht-a besitzt, erwächst eine Erklärungsnot, die den Rezipienten zu einem Lösungsversuch drängt. Die Verneinung ist also jeweils keine echte, harte Verneinung, sondern vielmehr eine Einschränkung des ersten positiven Begriffs. Die Negatoren schließen Lösungsmöglichkeiten aus, die die Beschreibung anderenfalls nahegelegt hätte, vgl. hierzu Levin (1987) 83. Dieser positive Begriff ist also nicht streng wörtlich gemeint, sondern steht als Ganzes jeweils für eine einzelne Eigenschaft, in der sich a und nicht-a überschneiden. Die gesamte Beschreibung beruht somit auf dem Vergleich anhand von Ähnlichkeiten. v. 1: Ein Mann, der doch kein echter Mann ist, ist ein Mann ohne männliches Glied, d. h. ohne das charakteristischste äußere Merkmal eines Mannes, also ein Eunuch. Dieser ähnelt dem Mann, insofern er einmal einer war und insofern er keine Frau ist. v. 2a: Ein Vogel, der doch kein Vogel ist, ist etwas, das fliegt, aber keine Federn oder einen Schnabel hat, keine Nester baut und keine Eier legt, dem also die wesentlichsten Merkmale des Vogels fehlen, also eine Fledermaus. Diese ähnelt dem Vogel im Hinblick auf ihre Flugfähigkeit. v. 2b: Sehen, ohne zu sehen, kann nur auf den engen Zusammenhang von sehen und erkennen bezogen sein. Wer sieht, ohne zu sehen, der blickt etwas zwar an, erkennt es aber nicht. Beide Handlungen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Genauigkeit. v. 3: Holz, das doch kein Holz ist, ist Holz, das nicht verbrennt, das so eine der spezifischsten Eigenschaften des Holzes vermissen lässt, also der NarthexFenchel. Es handelt sich um eine große, holzige Staudenpflanze, von der nur das innere Mark brennbar ist, die Pflanze als solche aber nicht, vgl. hierzu wie Prometheus den Menschen das Feuer aus dem Himmel stahl und es heimlich in dem Riesenfenchel auf die Erde hinab transportierte (Apollod. 1,7,1–2. 2,5,4–5. 3,13,6). v. 4a: Ein Stein, der doch kein Stein ist, ist ein Stein ohne das große Gewicht, das Steine gemeinhin auszeichnet, also ein (vulkanischer) Bimsstein, der aufgrund seiner vielen Poren (und seiner im Vergleich zu dem Wasser gerin-

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geren Dichte) sogar „leichter“ ist als Wasser und aus diesem Grunde oben schwimmt. v. 4b: βάλειν impliziert ähnlich wie εἶδον im Aorist sowohl die ausgeführte Handlung, als auch deren Effekt. Wer also wirft, ohne zu werfen, der trifft das mit dem Wurf angestrebte Ziel nicht. Intertextuelle Verweise: Plat. rep. 479bc bezeichnet das Rätsel als typisches Kinderrätsel; vgl. auch das Schol. z. St., p. 235 Greene. Suda s. v. αἶνος führt das Rätsel als Paradebeispiel für den αἶνος als unterhaltendes, aber auch belehrendes Erwachsenenrätsel mit einer leicht veränderten Version, in der der Eunuch wirft (einfach, positiv) und die Federmaus durch einen Treffer tötet. Phot. s. v. νυκτερίδος αἶνος zum großen Bekanntheitsgrad des Rätsels in der Antike. Schol. Plat. rep. 479c, p. 235 Greene und AP App. VII 16 bieten eine dreiteilige Formulierung mit doppeltem Widerspruch (außer im Falle des Steins und des Holzes, die wie in AP App. VII 15 beschrieben sind). Der positive Begriff wird nach seiner Einschränkung durch Wiederaufnahme generell bekräftigt (z. B. die Fledermaus als ein Flugtier, das kein Vogel ist und trotzdem fliegt). Der paradoxe Eindruck wird durch diese doppelte Widersprüchlichkeit jedoch zunächst verstärkt. Die Handlungen (sitzen und werfen) sind gegenüber AP App. VII 15 auf eine einfache positive Nennung beschränkt, der Tod der Fledermaus wie in Suda s. v. αἶνος genannt: ἄνθρωπος οὐκ ἄνθρωπος, ἄνθρωπος δ’ ὅμως, ὄρνιθα κ’ οὐκ ὄρνιθα, ὄρνιθα δ’ ὅμως, ἐπὶ ξύλου τὲ κ’ οὐ ξύλου καθημένην λίθῳ βαλών με κ’ οὐ λίθῳ διώλεσεν.

Vgl. eine ähnliche Struktur der Einschränkung bei Theogn. 1,949–954 vom Löwen, der das Kitz reißt, aber nicht frisst. Literatur: Schweighäuser V (1804) 558–560. Jacobs (1803) 365.

B. II HOMONYMIE

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B. II HOMONYMIE B. II. 1 In der Frage B. II. 1.1 Name – Name B. II. 1.1.1 Ortsnamen 1 Orakel an Hannibal über seinen Tod in Λίβυσ(ση) Paus. 8,11,11, Rocha-Pereira Ἀννίβαι γὰρ χρησμὸς ἀφίκετο παρὰ Ἄμμωνος ὡς ἀποθανὼν γῆι καλυφθήσεται τῆι Λιβύσσηι. ὁ μὲν δὴ ἤλπιζεν ἀρχήν τε τὴν Ῥωμαίων καθαιρήσειν καὶ οἴκαδε ἐς τὴν Λιβύην ἐπανελθὼν τελευτήσειν γήραι τὸν βίον. Φλαμινίου δὲ τοῦ Ῥωμαίου ποιουμένου σπουδὴν ἑλεῖν ζῶντα αὐτόν, ἀφικόμενος παρὰ Προυσίαν ἱκέτης καὶ ἀπωσθεὶς ὑπ’ αὐτοῦ ἀνεπήδα τε ἐπὶ τὸν ἵππον καὶ γυμνωθέντος τοῦ ξίφους τιτρώσκεται τὸν δάκτυλον. προελθόντι δέ οἱ στάδια οὐ πολλὰ πυρετός τε ἀπὸ τοῦ τραύματος καὶ ἡ τελευτὴ τριταίωι συνέβη· τὸ δὲ χωρίον ἔνθα ἀπέθανε καλοῦσιν οἱ Νικομηδεῖς Λίβυσσαν. Hannibal erreichte nämlich ein Orakel von Ammon, dass er, wenn er gestorben wäre, in libyscher Erde bestattet würde. Also hoffte er, die römische Herrschaft an sich zu bringen, dann in seine Heimat Libyen zurückzukehren und dort als alter Mann sein Leben zu beschließen. Weil aber Flaminius der Römer großen Aufwand betrieb, um ihn lebend zu fangen, kam er als Schutzflehender zu Prusias und verletzte sich, als er, von jenem zurückgewiesen, auf sein Pferd sprang, an seinem gezückten Schwert den Finger. Er war noch nicht viele Stadien vorangekommen, da befiel ihn ein Fieber von der Wunde und er starb am dritten Tag. Das Land, in dem er starb, wird von den Nikomedern Libyssa genannt.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Nach der Niederlage gegen Rom unter Scipio dem Älteren bei Zama 202 v. Chr. machte sich Hannibal durch verschiedene politische Reformen innenpolitische Feinde, die ihn schließlich ins Exil trieben. Zuletzt fand er Zuflucht bei Prusias I. von Bithynien, der jedoch schlussendlich von Titus Quinctius Flamininus unter Druck gesetzt und zur Auslieferung gezwungen wurde. Auf einer erneuten Flucht starb Hannibal 183 v. Chr. in der Festung von Libyssa. Im Unterschied zu der von Paus. geschilderten Todesursache scheint der Selbstmord Hannibals zur Vermeidung einer Gefangennahme durch die Römer in Libyssa am Marmarameer historisch zu sein; vgl. Nep. Hann. 12; Liv. 39,51; App. Syr. 11; Plut. Flamininus 20.

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Erklärung: Die Zweideutigkeit des Orakelspruchs liegt in der Homonymie von Λίβυς bzw. Λιβύσσα begründet, die einerseits landläufig Libyen als afrikanische Heimat Hannibals, andererseits die kleinasiatische Festung Libyssa am Marmarameer bezeichnet. Da das afrikanische Libyen erstens im Allgemeinen einen höheren Bekanntheitsgrad besitzt als der kleinasiatische Namensvetter und zweitens Hannibal einen konkreten persönlichen Bezug zu diesem Libyen hatte, sah er sich verleitet, das sein Lebensende betreffende Orakel fälschlicherweise auf die ihm bekannte Heimat zu beziehen. Aus dieser Vorstellung leitete er zudem – vor dem Ausgang des zweiten Punischen Krieges – einen Sieg der Katharger ab, da eine Rückkehr in seine Heimat offenbar gedanklich nur auf eben diesen folgen kann. Intertextuelle Verweise: Vgl. die übrigen geographischen Verwechslungen bei Todesorten: Paus. 8,11,10–12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Hdt. 4,163 (Warnung an Arkesilaos IV. vor dem ἀμφίρρυτον); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)); ähnlich auch die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen), Paus. 8,11,12.

2 Orakel an die Athener mit der Anweisung, Sizilien zu erobern Paus. 8,11,12, Rocha-Pereira Ἀθηναίοις δὲ μάντευμα ἐκ Δωδώνης Σικελίαν ἦλθεν οἰκίζειν, ἡ δὲ οὐ πόρρω τῆς πόλεως ἡ Σικελία λόφος ἐστὶν οὐ μέγας· οἱ δὲ οὐ συμφρονήσαντες τὸ εἰρημένον ἔς τε ὑπερορίους στρατείας προήχθησαν καὶ ἐς τὸν Συρακοσίων πόλεμον. Zu den Athenern aber kam ein Orakel aus Dodona, Sizilien zu erobern, Sizilien ist aber ein nicht weit von der Stadt entfernt liegender kleiner Hügel; sie aber verstanden den Spruch nicht und wurden zu ausländischen Kriegszügen veranlasst, speziell zum Krieg mit Syrakus.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Das Orakel bezieht sich auf die 415–413 v. Chr. von Athen als Ausweitung des Peloponnesischen Krieges unternommene Sizilienexpedition, die mit einer verheerenden Niederlage für die Athener endete. Befürworter der Expedition ließen Seher und Chresmologen derartige Orakel absichtlich in Umlauf bringen, um

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die Bevölkerung von ihrem Anliegen zu überzeugen; vgl. Beschwerden über die Täuschung der Bevölkerung bei Thuk. 8,1. Erklärung: Die Zweideutigkeit des Orakels beruht auf dem homonymen Namen Σικελία, der einerseits im landläufigen Sinne die große italienische Mittelmeerinsel, andererseits einen Hügel außerhalb der antiken Stadt Athen bezeichnet. Die Athener sahen bei einem oberflächlichen, naheliegenden Verständnis des Spruchs durch ein solches, durch Bestechung u. U. absichtlich in Umlauf gebrachtes, Orakel die umstrittene Sizilienexpedition durch den Gott befürwortet. Als sich nach der verheerenden Niederlage 413 v. Chr. Beschwerden gegen das Orakel und die Befürworter der Expedition richteten, konnte man die Verantwortung durch Aufzeigen der alternativen, nun als richtig proklamierten Lösung von sich weisen. Das Orakel habe lediglich zur Besiedlung jenes Hügels, d. h. zur minimalen Ausdehnung der Stadtgrenze geraten. Auch ohne die absichtlich tendenziöse Beeinflussung des Orakels wäre ein solches Orakel jedoch ohne Zweifel denkbar. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ebenfalls auf geographischen Missverständnissen beruhenden fehlerhaften Deutungen von Orakelsprüchen, die Todesorte betreffen: Paus. 8,11,10– 12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Hdt. 4,163 (Warnung an Arkesilaos IV. vor dem ἀμφίρρυτον); Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)). Vgl. das inhaltlich entgegengesetzte metaphorische Orakel im Kontext der Sizilienexpedition, welches den Athenern zur Ἡσυχία rät, Plut. de Pyth. or. 403b. Vgl. zur Kritik an der rätselhaften Undeutlichkeit der Orakel, eben weil sie derartige nachträgliche Umdeutungen zulässt, Plut. conv. sept. sap. 407b. Literatur: Vgl. Nilsson (21955) 793, der das Orakel als prominentes Beispiel für die politische Nutzbarmachung des Orakelwesens heranzieht.

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3 Orakel an Epameinondas (Warnung vor dem πέλαγος) Paus. 8,11,10, Rocha-Pereira Ἐγεγόνει δὲ τῶι Ἐπαμινώνδαι μαντεία πρότερον ἔτι ἐκ Δελφῶν πέλαγος αὐτὸν φυλάσσεσθαι· καὶ ὁ μὲν τριήρους τε μὴ ἐπιβῆναι μηδὲ ἐπὶ νεὼς φορτίδος πλεῦσαι δεῖμα εἶχε, τῶι δὲ ἄρα Πέλαγος δρυμὸν καὶ οὐ θάλασσαν προέλεγεν ὁ δαίμων. Es war dem Epameinondas schon vorher ein Orakelspruch aus Delphi ergangen, er solle sich vor dem πέλαγος hüten; und so betrat er weder Dreirudrer noch Handelsschiffe, denn er hatte eine Furcht vor dem Schifffahren, ihm aber hatte der Gott den Wald Pelagos als Todesort vorausgesagt, nicht das Meer.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Epameinondas kämpfte als thebanischer Feldherr gegen die Großmacht Sparta und etablierte für einen gewissen Zeitraum eine thebanische Vormacht in Griechenland. Nach dem Abfall der Arkader von Theben kam es zu einem vierten Krieg mit Sparta, den Theben zwar bei Mantineia gewann (362 v. Chr.), in dem Epameinondas jedoch den Tod fand. Erklärung: Die Zweideutigkeit des Orakels beruht auf dem homonymen πέλαγος, der einerseits als allgemeiner Begriff das Meer, andererseits als Eigenname einen Eichenwald bei Mantineia bezeichnet. Epameinondas versteht den Spruch zunächst im landläufig-wörtlichen Sinne falsch und bemüht sich deshalb, einen Tod auf See als sein vermeintliches Schicksal zu vermeiden. Besonders in seiner Position als Heerführer liegt diese Deutung des Spruchs nahe, da er sich unter normalen Umständen wohl häufig auf dem Meer aufgehalten haben würde. Die Vermeidungsstrategie führt jedoch, wie auch in anderen bekannten Fällen wie etwa dem des Ödipus, nicht zum Erfolg. Besonders pointiert ist die Gleichsetzung von Meer und Eichenwald in dem Begriff πέλαγος, insofern dieser metaphorisch von jeder großen Menge gesagt werden kann. So, wie das Meer aus vielen Wellen besteht, so besteht der Wald aus vielen Eichen (vgl. χωρίον […] δρυῶν πλῆρες, Paus. 8,11,1), die wohl auch wogen wie die Wellen im Wind. Vgl. hingegen die jener Auffassung von einer dichten, homogenen, d. h. meerartigen Baummasse entgegengesetzte Überlieferung, auf Nachfrage habe man dem Epameinondas erklärt, der Wald trage seinen Namen, weil die Baumgruppen Inseln glichen, Fürst von Pückler-Muskau (1840/1) 185. Der homonyme Begriff πέλαγος verbindet hier zwei augenscheinlich ganz verschiedene Dinge, die dann im Kern doch wieder identisch sind, nämlich eine große wogende Masse von etwas; dieses Prinzip ebenfalls grundlegend im he-

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rakliteischen Rätsel von der Lausjagd (Herakl. frg. 56 DK); vgl. ferner, dass in der Nähe des Waldes ein Heiligtum ausgerechnet des Poseidon liegt (Paus. 8,11,1). Epameinondas als Rätsellöser: Als Epameinondas den Namen des Waldes bei Mantineia hört, erkennt er, wenn auch zu spät, dass sich das Orakel auf diesen Ort bezog und dass ihm vom Schicksal bestimmt ist, dort zu sterben, und er ergibt sich in eben jenes Schicksal, vgl. 8,11,1; ganz ähnlich Kleomenes, der jedoch noch zur rechten Zeit erkennt, dass die ihm vorausgesagte Einnahme von Argos sich nicht auf ArgosStadt, sondern auf den gleichnamigen heiligen Hain bezog (Hdt. 6,77). Im Allgemeinen war Epameinondas’ Beredsamkeit und Klugheit bekannt, vgl. Nep. 5; Plut. mor. 808e–809a (praecepta gerendae reipublicae). Ferner besaß er eine gewisse Affinität zum Vortäuschen von Wunderzeichen, die ihn mit rätselhaften Strukturen in Verbindung bringt, vgl. Xen. 6,4,7; Diod. 15,52,3 ff. 53,4 f. 54,2; Paus. 9,13,4; Plut. mor. 773c (amatoriae narrationes); Polyain. 2,3,8; Kallisth. FGrH 124 F 22 Jacoby. Intertextuelle Verweise: Vgl. die übrigen geographischen Verwechslungen bei Todesorten: Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Hdt. 4163 (Warnung an Arkesilaos IV. vor dem ἀμφίρρυτον); Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)); ähnlich auch die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen), Paus. 8,11,12. 4 Rätselhafter Traum vom (falschen) Smerdis und Orakel vom Tod des Kambyses in Agbatana Hdt. 3,64 f., Wilson ὃς ἐδόκεε ἐν τῷ ὕπνῳ ἀπαγγεῖλαί τινά οἱ ὡς Σμέρδις ἱζόμενος ἐς τὸν βασιλήιον θρόνον ψαύσειε τῇ κεφαλῇ τοῦ οὐρανοῦ. μαθὼν δὲ ὡς μάτην ἀπολωλεκὼς εἴη τὸν ἀδελφεόν, ἀπέκλαιε Σμέρδιν, ἀποκλαύσας δὲ καὶ περιημεκτήσας τῇ ἁπάσῃ συμφορῇ ἀναθρῴσκει ἐπὶ τὸν ἵππον, ἐν νόῳ ἔχων τὴν ταχίστην ἐς Σοῦσα στρατεύεσθαι ἐπὶ τὸν μάγον. καί οἱ ἀναθρῴσκοντι ἐπὶ τὸν ἵππον τοῦ κολεοῦ τοῦ ξίφεος ὁ μύκης ἀποπίπτει, γυμνωθὲν δὲ τὸ ξίφος παίει τὸν μηρόν· τρωματισθεὶς δὲ κατὰ τωὐτὸ τῇ αὐτὸς πρότερον τὸν τῶν Αἰγυπτίων θεὸν Ἆπιν ἔπληξε, ὥς οἱ καιρίῃ ἔδοξε τετύφθαι, εἴρετο ὁ Καμβύσης ὅ τι τῇ πόλι οὔνομα εἴη. οἱ δὲ εἶπαν ὅτι Ἀγβάτανα. τῷ δὲ ἔτι πρότερον ἐκέχρηστο ἐκ Βουτοῦς πόλιος ἐν Ἀγβατάνοισι τελευτήσειν τὸν βίον. ὁ μὲν δὴ ἐν τοῖσι Μηδικοῖσι Ἀγβατάνοισι ἐδόκεε τελευτήσειν γηραιός, ἐν τοῖσί οἱ ἦν τὰ πάντα πρήγματα, τὸ δὲ χρηστήριον ‹ἐν› τοῖσι ἐν Συρίῃ Ἀγβατάνοισι ἔλεγε ἄρα.

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B Paraphrasierende Rätsel

Ihm schien im Traum jemand zu verkünden, Smerdis sitze auf dem Königsthron und berühre mit seinem Haupt den Himmel. Und weil er erkannte, dass er seinen Bruder umsonst hatte umbringen lassen, beweinte er Smerdis; und als er geweint und alles Unglück beklagt hatte, sprang er auf sein Pferd, denn er hatte im Sinn, so schnell wie möglich nach Susa zu reiten und gegen den Mager zu ziehen. Aber beim Aufsteigen auf das Pferd viel der Knauf von der Kappe des Schwertes ab und das nackte Schwert durchstach seinen Schenkel. Die Verletzung war an derselben Stelle, an der er vormals den ägyptischen Gott Apis verletzt hatte, und weil er glaubte, tödlich getroffen zu sein, fragte Kambyses, was der Name der Stadt sei. Man sagte ihm, sie heiße Agbatana. Ihm aber war schon früher in Buto geweissagt worden, er würde sein Leben in der Stadt Agbatana beschließen. Er hatte geglaubt, er würde in hohem Alter im medischen Agbatana sterben, im Mittelpunkt seines Reiches. Das Orakel aber sprach von dem Agbatana in Syrien.

Form: Prosa (Paraphrase) Erklärung: Kambyses träumte (schon Hdt. 3,30), ihm würde berichtet, ein Smerdis sitze auf dem ägyptischen Königsthron und berühre mit dem Kopf den Himmel. Weil Kambyses fürchtete, dieser Traum sage voraus, dass sein Bruder Smerdis sich der Herrschaft bemächtigen und Kambyses stürzen würde, ließ er ihn durch seinen Diener Prexaspes töten. Der Traum verbindet bildliche und sprachliche Rätselelemente: (1) Der Thron selbst steht als geläufiges Symbol gleichsam pars pro toto für die Herrschaft selbst, welche demjenigen, der den Thron besetzt, obliegt. Dass Kambyses träumt, der Thron sei von einem anderen als ihm selbst in Beschlag genommen, deutet auf die Annexion der Herrschaft hin. Die Berührung des Kopfes mit dem Himmel weist dabei wohl auf die Größe der annektierten Macht hin (beinahe Vergöttlichung). (2) Die eigentliche Missverständlichkeit des Traums liegt in der Identifikation von Smerdis. Kambyses sieht seinen Rivalen im Traum nicht, er bekommt nur die Meldung von der Annexion, d. h. er hört nur den Namen Smerdis. Dabei denkt er sogleich an seinen Bruder – nicht weil dieser der einzige Smerdis wäre, sondern weil er, wie so oft in (falsch gelösten) Rätseln, die naheliegendste Lösung darstellt. Denn einerseits ist dieser Smerdis Kambyses persönlich bekannt und spielt eine Rolle in seinem näheren Umfeld und andererseits hätte Smerdis als zweiter Sohn des Kyros neben Kambyses wohl am ehesten ein Anrecht auf den Thron und könnte ihn seinem Bruder streitig machen; vgl. jedoch, dass Smerdis nach der Inschrift von Behistun eigentlich Bardija hieß, wodurch Kambyses Zweifel an seiner Traumdeutung hätten kommen sollen. Eine besondere Pointe liegt darin, dass dieser altpersische Name, der so viel bedeutet wie „der Hohe“, „der Erhabene“ und u. U. als Referenz auf die außergewöhnliche Körpergröße des Kambyses-Bruders zu werten ist. Hierin liegt nun freilich eine besondere Nähe zu dem im Rätseltraum bis an den Himmel aufragenden Haupt

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des Usurpators (ἱζόμενος ἐς τὸν βασιλήιον θρόνον ψαύσειε τῇ κεφαλῇ τοῦ οὐρανοῦ, 3,64). Kambyses lässt daraufhin seinen Bruder heimlich ermorden, um seine Herrschaft zu sichern. Tatsächlich jedoch ist der Name Smerdis (natürlich) ein Homonym, d. h. er wird von unterschiedlichen Menschen getragen. So kam es, dass der Bruder von Kambyses’ Verwalter, ein Mager, ebenfalls Smerdis hieß und sich für diesen ausgab, um auf diese Weise die Herrschaft an sich zu bringen. Herodot lässt Kambyses selbst erklären, er habe sich nach dem Mord an seinem Bruder in Sicherheit gewähnt und mit einem zweiten Smerdis nicht gerechnet (ἐξεργασθέντος δὲ κακοῦ τοσούτου ἀδεῶς διαιτώμην, οὐδαμὰ ἐπιλεξάμενος μή κοτέ τίς μοι Σμέρδιος ὑπαραιρημένου ἄλλος ἐπανασταίη ἀνθρώπων, 3,65). Die Funktionsweise des rätselhaften Traums ist damit unüblicherweise ganz wesentlich sprachlich bestimmt, denn wo der Traum normalerweise im Bild zeigen würde, welcher Smerdis gemeint ist, liegt in diesem Fall die Unklarheit darin, dass nur sein Name genannt wird. Bemerkenswert ist jedoch Herodots Bericht darüber, dass der falsche Smerdis dem Bruder des Königs auch optisch sehr ähnlich war, sodass seine Identität bei der Usurpation zunächst nicht angezweifelt wurde, 3,61 und bereits 3,30 wo die Ähnlichkeit sogar als durch Zauberei verstärkt gilt. So wäre es u. U. sogar bei einem bildhaften Traum schwierig gewesen, die Doppeldeutigkeit aufzudecken. Als Kambyses seinen Fehler erkennt, will er sich zu Pferde auf den Weg nach Susa machen, um gegen die beiden verräterischen Mager vorzugehen. Beim Aufsitzen fährt ihm sein Schwert ins Bein und verursacht eine nach einigen Tagen tödliche Wunde. Durch diesen Tod bestätigt sich ein Orakel, das Kambyses bereits zuvor erhalten hatte: τῷ δὲ ἔτι πρότερον ἐκέχρηστο ἐκ Βουτοῦς πόλιος ἐν Ἀγβατάνοισι τελευτήσειν τὸν βίον. ὁ μὲν δὴ ἐν τοῖσι Μηδικοῖσι Ἀγβατάνοισι ἐδόκεε τελευτήσειν γηραιός, ἐν τοῖσί οἱ ἦν τὰ πάντα πρήγματα, τὸ δὲ χρηστήριον ‹ἐν› τοῖσι ἐν Συρίῃ Ἀγβατάνοισι ἔλεγε ἄρα. (3,64) Er hatte schon früher aus Buto ein Orakel erhalten, welches besagte, er würde in Agbatana sein Leben beschließen. Er glaubte, er würde in Agbatana in Medien in hohem Alter sterben, wo sich alle seine Angelegenheiten abspielten. Das Orakel aber bezog sich auf Agbatana in Syrien.

Das als Todesort prophezeite Agbatana ist – ebenso wie der Name Smerdis – ein Homonym, das Kambyses erneut nicht als solches erkennt. Wie im Falle des Smerdis deutet Kambyses Agbatana auf die ihm gut bekannte Hauptstadt seines Reiches und erkennt damit nur die oberflächlich-naheliegende Facette des doppeldeutigen Begriffs. Er nimmt die Vorhersage sicher ebenfalls mit Wohlwollen – und dadurch unkritisch – an, weil ihm der Tod im Mittelpunkt seines

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B Paraphrasierende Rätsel

Reiches, anders etwa als der u. U. verfrühte Tod im Rahmen eines Kampfes, mit einem guten Ende in hohem Alter verknüpft zu sein scheint. Tatsächlich jedoch war eine homonyme Stadt in Syrien gemeint, wo sich Kambyses aufhielt, als die Kunde vom falschen Smerdis zu ihm drang. Auch in dieser Episode erkennt Kambyses im Nachhinein, d. h. als man ihm den Namen der Stadt auf Nachfrage nach seiner Verletzung nennt, den wahren Sinn des Orakels. Wie für das Rätsel üblich hat er jedoch keine zweite Chance, das Orakelrätsel wirksam zu lösen und damit für sich selbst ein positives Ende zu erwirken. Intertextuelle Verweise: Vgl. die übrigen geographischen Verwechslungen bei Todesorten: Paus. 8,11,10–12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 4,163 (Warnung an Arkesilaos IV. vor dem ἀμφίρρυτον); Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)); ähnlich auch die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen), Paus. 8,11,12. 5 Orakel an die Phokaier von der Koloniegründung in Kyrnos Hdt. 1,165–167, Wilson […], πρὸς ταῦτα οἱ Φωκαιέες ἐστέλλοντο ἐς Κύρνον. ἐν γὰρ τῇ Κύρνῳ εἴκοσι ἔτεσι πρότερον τούτων ἐκ θεοπροπίου ἀνεστήσαντο πόλιν, τῇ οὔνομα ἦν Ἀλαλίη. […] [167] οἱ δὲ αὐτῶν ἐς τὸ Ῥήγιον καταφυγόντες ἐνθεῦτεν ὁρμώμενοι ἔκτισαν πόλιν γῆς τῆς Οἰνωτρίης ταύτην ἥτις νῦν Ὑελῆ καλέεται. ἔκτισαν δὲ ταύτην πρὸς ἀνδρὸς Ποσειδωνιήτεω μαθόντες ὡς τὸν Κύρνον σφι ἡ Πυθίη ἔχρησε κτίσαι ἥρων ἐόντα, ἀλλ᾽ οὐ τὴν νῆσον. Daraufhin machten sich die Phokaier bereit, nach Kyrnos [sc. Korsika] zu ziehen; auf Kyrnos nämlich hatten sie zwanzig Jahre zuvor aufgrund eines Orakels eine Stadt gegründet, die den Namen Alalia trug. […] Sie flüchteten sich nach Rhegion und setzten sich von dort in Bewegung, um eine Stadt im Lande Oinotrien zu erobern, die heute Hyele genannt wird; die Stadt besiedelten sie aufgrund eines Mannes aus Poseidonia, der erkannte, dass die Pythia ihnen vorgegeben habe, den Heros Kyrnos in Besitz zu nehmen, nicht aber die (gleichnamige) Insel.

Form: Prosa (Paraphrase) Kontext: Als das kleinasiatische Phokaia von den Persern erobert und seine Bevölkerung vertrieben wird, mühen sich die Phokaier, an unterschiedlichen Orten Fuß zu

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fassen. Auf der Grundlage eines alten Orakels ziehen sie nach Korsika, von wo sie jedoch nach einer verheerenden Seeschlacht gegen die Tyrener und Karchedonier erneut vor ihrem Unglück fliehen. Erklärung: Herodot gibt weder die Anfrage der Phokaier noch die Antwort des Orakels direkt wieder. Doch seine Paraphrase der Geschehnisse lässt vermuten, dass die Phokaier aufgrund anhaltenden Unglücks in Delphi anfragten, wo sie eine Stadt gründen müssten, um ein glücklicheres Schicksal zu erhalten, woraufhin das Orakel sie anwies, Κύρνον κτίσαι. Da die Mittelmeerinsel Korsika in der Antike den Namen Κύρνος trug (vgl. auch Hdt. 7,165), glaubten die Phokaier, das Orakel weise ihnen den Weg dorthin und gründeten auf der Insel die Stadt Alalia. Weil sie durch den Seeraub, den sie betrieben (Hdt. 1,166) mit ihren Nachbarn in Streit und schließlich in eine Seeschlacht gerieten, fühlten die Phokaier, die doch bereits aus Phokaia vertrieben um ein besseres Los ersucht hatten, sich durch den Orakelspruch betrogen und zogen ab. Herodot berichtet, ein Mann aus Poseidonia in Kampanien habe ihnen den Sinn des Orakels erläutert: Mit Κύρνος habe das Orakel nicht auf die Insel Korsika verwiesen, sondern auf einen Lokalheros desselben Namens, welcher in Rhegion, an der Südspitze Italiens verehrt wurde; vgl. Kyrnos als Sohn des Herakles bei Serv. ecl. 9,30. In der angrenzenden Landschaft Oinotrien (etwa am Golf von Tarent) gründeten die Phokaier daraufhin die Stadt Hyele, in der ihnen nach dem Willen des Orakels größeres Glück beschieden war; vgl. Strab. 5,1 zu Oinotrien im Süden Italiens. Das Missverständnis des Orakelspruchs beruht damit auf der einseitigen, an der oberflächlich-offensichtlichen Bedeutung ausgerichteten Auslegung des homonymen Namens Κύρνος. Intertextuelle Verweise: Vgl. andere Orakel, in denen der homonyme Name eines Ortes zu Missverständnissen führt: Die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen); ferner die Fehlinterpretation von in Orakeln prophezeiten Todesorten: Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); Paus. 8,11,10–12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Hdt. 4,163 (Warnung an Arkesilaos IV. vor dem ἀμφίρρυτον); Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) (Warnung an Alexander den Molosser vor dem ΚΗΡΟΕΝΤΑ (a. italienischer Fluss, b. Wachstäfelchen)). Zur Migration der Phokaier auch Strab. 4,1,4. 6,1,1.

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Literatur: Vgl. zu Kyrnos als in Rhegion verehrter Lokalheros Malkin (1987) 72 f. Zur Umsiedlung der Phokaier im Zusammenhang mit dem Orakel, von Bredow (2006) 312–314. B. II. 1.1.2 Personennamen 1 Rätsel vom Mann Diomedes AP XIV, Beckby 18; S 49 Ἕκτορα τὸν Πριάμου Διομήδης ἔκτανεν ἀνὴρ Αἴας πρὸ Τρώων ἔγχεϊ μαρνάμενον. Hektor, den Sohn des Priamos, tötete der Mann Diomedes’, den, der für das Land der Troer mit seinem Speer kämpfte.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel um die Verwandtschaftsverhältnisse der großen Trojahelden Hektor und Achill, dessen Verschlüsselung auf einer doppelten Homonymie beruht. (1) Διομήδης ἀνήρ: a) Der Mann Diomedes b) Der Mann der Diomede, d. h. Achill Abhängig davon, ob ἀνήρ als Apposition zu Διομήδης, oder Διομήδης als feminines Genitivobjekt abhängig von ἀνήρ aufgefasst wird – die Form Διομήδης ist in beiden Fällen identisch –, ergeben sich die beiden ganz unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten. Neben der Satzstellung begünstigt das falsche Verständnis a), nach dem Diomedes Hektor getötet haben müsste, vor allem der höhere Bekanntheitsgrad des Königs von Argos, der eine entsprechende Assoziation provoziert. Da dies jedoch gerade nicht der mythologischen Überlieferung entspricht, muss ein gebildeter Rezipient, der mit dem Mythos vertraut ist, an dieser Stelle aufmerksam werden und nach einer alternativen Verständnismöglichkeit suchen. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis jedoch dadurch, dass Diomede erst die Frau des Achilles wurde, nachdem dieser Briseis an Agamemnon abtreten musste; vgl. Hom. Il. 9,663–665, wo sie Διομήδεια genannt wird. (2) πρὸ Αἴας a) für/um Aias b) für/um das Land bzw. die Erde (αἴα = γαῖα)

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Die Tatsache, dass v. 1 von Personennamen bestimmt wird, verleitet zu der Annahme, Αἴας müsse in derselben Weise aufgefasst werden (in dieser Darstellung zusätzlich nahegelegt durch die Majuskel). Diese Annahme lenkt einen Rezipienten jedoch in ein falsches semantisches Feld (das der Personennamen) und führt so zu einer unverständlichen Gesamtaussage. Stattdessen ist αἴας als alternative Form zu γαῖας aufzufassen, die dann das Land der Troer bezeichnet, den Ort, um den Hektor kämpfte und an dem er fiel. Das Rätsel vereint somit zwei unterschiedliche Homonymie-Muster (a. Personenname – Personenname; b. Personenname – Objekt). Gemeint ist also, dass Achill, der Mann der Diomede, Hektor, den Sohn des Priamos, der mit seinem Speer um das Land der Troer kämpfte, tötete. Intertextuelle Verweise: Vgl. für diese zweideutige Formulierung (beinahe im identischen Wortlaut) auch AP XVI 29,4 f. (ὅν ποτε μαρνάμενον Διομήδης ἔκτανεν ἀνήρ,/ αἴας πρὸ Τρώων Δαναοῖσι μάχην προφέροντα) und Eust. Il. 5,705–707, Bd. 2, p. 175 f. van der Valk (ὅν οὐκ ἀνεῖλεν ὁ Διομήδης, τὸν κτάνε Διομήδης ἀνήρ). Zu dem Rätsel außerdem Schol. Aristeid. 148,3, p. 508 f. Dindorf und das beinahe gleich lautende Schol. Lukian. vit. auct. 14, p. 126 Rabe. Ähnlich sind die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse um Andromache verrätselt in AP XIV 9. S 50.

B. II. 1.2 Name – Objekt 1 Orakel an Alexander den Molosser vom Gewachsten Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII, p. 737 f. Walz) κατὰ δὲ ὁμωνυμίαν, ὡς ἔχει ὁ δεδομένος χρησμὸς Ἀλεξάνδρῳ τῷ Μολοσσῷ, φυλάξασθαι τὸν ΚΗΡΟΕΝΤΑ. ὁ μὲν γὰρ ᾤετο τὸν ἐν Ἰταλίᾳ ποταμόν· ἦν δὲ ἕτερον· προσδοθέντος γὰρ αὐτῷ πινακιδίου κεκηρωμένου, τοῦτο ἀναγινώσκων ἐδολοφονήθη· […]. Homonymie-Rätsel sind solche wie das Orakel, welches Alexander dem Molosser gegeben war, das ihm rät, sich vor dem Gewachsten (ΚΗΡΟΕΝΤΑ) in Acht zu nehmen. Alexander dachte, [es sei gemeint] der Fluss in Italien, aber es war etwas anderes: Ihm war ein wächsernes (κεκηρομένου) Schreibtäfelchen gegeben und als man dies erkannte, wurde er hinterrücks umgebracht.

Form: Prosaparaphrase Erklärung: Alexander erhält von dem Orakel einen warnenden Hinweis auf seine Todesumstände und bezieht ihn fälschlicherweise geographisch auf einen italienischen Fluss, von dem er sich daraufhin fernhält.

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B Paraphrasierende Rätsel

Gemeint war jedoch kein Ort, ΚΗΡΟΕΝΤΑ war also nicht als Eigenname verwendet (falscher semantischer Raum), sondern warnte vor der mit Wachs überzogenen Schreibtafel, aufgrund von deren Inhalt Alexander ermordet wurde. Alexander erkennt nicht, dass es sich bei dem Begriff um ein Homonym handelt und begreift nur die eine (in seinem Fall nicht relevante) Facette des doppeldeutigen Wortes. Intertextuelle Verweise: Vgl. Hom. Il. 6,167–170 zum Rätselbrief mit dem Todesurteil des Bellerophon, welcher diesem Wachstäfelchen zu gleichen scheint. Für andere Herrscherfiguren, die die Orakelwarnung vor ihrem Todesort lokal missdeuten vgl. Paus. 8,11,10–12 (Warnung an Epameinondas vor dem πέλαγος (a. Meer/Schiff, b. Eichenwald bei Mantineia)); Hdt. 3,64 (Warnung an Kambyses vor Agbatana (a. in Medien, b. in Syrien)); Paus. 8,11,11 (Voraussagung des Todesortes für Hannibal in Libyen (a. Libyen, b. Libyssa bei den Nikomedern)); ähnlich auch die Anweisung zur Kolonisierung von Sizilien an Athen (a. Sizilien, b. kleiner Hügel bei Athen), Paus. 8,11,12.

B. II. 1.3 Objekt – Objekt 1 Rätsel vom Hexameter AP App. VII 23, Cougny „Κούρη Ἰκαρίοιο περίφρων Πηνελόπεια,“ ἓξ ποσὶν ἐμβεβαυῖα, τριδάκτυλος ἐξεφαάνθη. „Die Tochter des Ikarius, die verständige Penelope“, ging einher auf sechs Füßen und erschien doch nur mit drei Zehen.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Die Schwierigkeit des rätselhaften Spruchs beruht auf der fälschlichen Suggestion, Subjekt des zweiten Verses sei das des ersten, nämlich Penelope, auf die sich die Partizipien ἐμβεβαυῖα und ἐξεφαάνθη grammatikalisch beziehen lassen. Aus dieser Annahme aber entsteht das doppelte Paradoxon (a) von einer Frau mit sechs Füßen und zugleich (b) von diesen sechs Füßen mit nur drei Zehen. Tatsächlich jedoch, sind die beiden Verse nicht subjektsgleich, stehen nicht einmal in einem direkten inhaltlichen Zusammenhang. Vielmehr beschreibt v. 2 den ersten Vers als Hexameter, der aus sechs Metren bzw. Versfüßen (πόδες) besteht, von denen drei Daktylen (τρι-δάκτυλος) sind, und zwar der zweite, drit-

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te und fünfte. Der Inhalt des Verses spielt für diese Charakterisierung somit keine primäre Rolle. Sekundär lässt sich auch ein gewisser inhaltlicher Zusammenhang der Töchter des Ikarius mit dem verrätselten Versmaß ausmachen: a) Die besonnene (περίφρων) Penelope als Tochter von Ikarius und Periboia passt als bekannte Figur des (hexametrischen) Epos trefflich zu dem hier verrätselten Versmaß der Gattung. b) Penelopes Halbschwester Erigone hingegen, die Tochter von Ikarius und Phanothea, gilt als Begründerin des Weinbaus und verfügt deshalb über eine enge Verbindung zu Dionysos als Gott des Weinbaus, des Rauschs sowie des festlichen Tanzes und Gesangs. Sie würde deshalb wohl besser zu Dithyramben o. Ä. gepasst haben, doch laut Clem. Al. strom. 1,16,318 gilt sie als Erfinderin des Hexameters. Es mag also durchaus sein, dass von der im Text offen genannten Ikarius-Tochter Penelope auf die zweite, Erigone, geschlossen werden soll, wodurch das Rätsel eine besondere Pointe erhielte: Als Erfinderin des Versmaßes wäre Erigone in v. 1 gleichsam als Personifikation desselben genannt, während v. 2 ein Anwendungsbeispiel für dasselbe Versmaß enthielte. Intertextuelle Verweise: Vgl. für ein ähnliches Paradoxon zwischen der Anzahl von Beinen und Füßen das Rätsel von der Waage, AP App. VII 42. 64, und das Rätsel von der Lyra, AP App. VII 57. Für ein Rätsel, das ebenfalls auf dem homonymen (Vers-)Fuß ποῦς beruht, vgl. AP App. VII 27 das Rätsel vom Versfuß.

2 Das Rätsel von Leben und Tod (ΒΙΟΣ) Herakl. FVS I8, 22 B 48 DK = frg. 39 M Τῶι οὖν τόξωι ὄνομα βιός, ἔργον δὲ θάνατος. Der Bogen hat nämlich den Namen ΒΙΟΣ; sein Werk aber ist der Tod.

Form: Prosa Erklärung: Name (ὄνομα) und Funktion bzw. Wirkung/Wirklichkeit (ἔργον) des Bogens sind zugleich entgegengesetzt und dann doch wieder eins: Einerseits ist βίος ein Synonym zu τόξον und darf somit mit Recht als dessen Name bezeichnet werden. Weil es sich nur durch seine Betonung von dem ‚Leben‘ (βιός) unterscheidet, die in der Majuskelschreibung ΒΙΟΣ gar nicht diakritisch zum Aus-

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druck gebracht wird, kann man sagen, eine alternative Bezeichnung für den Bogen sei das ‚Leben‘. Die Funktion eines Bogens als Waffe aber – sei es zur Verteidigung oder auf der Jagd – ist das Töten, für das er geradezu symbolisch steht. Der Bogen vereint somit auf der begrifflichen Ebene in dem Wort ΒΙΟΣ diese beiden Gegensätze. Durch das Töten (von Feinden oder Tieren die als lebenswichtige Nahrungsquelle dienen) erhält er das Leben seines Besitzers, Leben und Tod sind im Bogen untrennbar miteinander verwoben und diesen Zusammenhang spiegelt das homonyme ΒΙΟΣ. Wem die Aussage als Rätsel vorgetragen wird, der muss die zwei Bedeutungen von ΒΙΟΣ erkennen, und wie sie den Charakter des Bogens im Spiel zwischen den Gegensätzen Leben und Tod bestimmen. Intertextuelle Verweise: Vgl. Et. Mag. s. v. Βιός mit einer Erklärung für die Homonymie, die ebenfalls darauf eingeht, dass der Bogen als Waffe sowohl mit Kampf und Tod als auch mit Lebenserhalt und Nahrung eng verbunden ist. Zusätzlich tritt hier eine etymologische Erklärung für die Benennung des Bogens auf, die mit der für seinen Gebrauch notwendigen Kraft (βία) zusammenhängt: Βιός· Ἤτοι παρὰ τὴν βίαν τῆς τάσεως τὸ ὅπλον οὕτω κεκλῆσθαι, ἐπειδὴ μετὰ βίας τείνεται· ἢ ὅτι δι’ αὐτοῦ τὰ πρὸς τὸν βίον οἱ ἀρχαῖοι εἶχον, ἐν ταῖς θήραις αὐτῷ χρώμενοι· τὰ πρὸς τὸν βίον ἐπορίζοντο, τοξεύοντες τὰ πτηνὰ καὶ τὰ τετράποδα

Der Bogen: Gemäß der Kraft (βία) wird die Waffe der Dehnung so genannt [sc. nämlich βιός], denn mit Kraft wird sie gespannt; andererseits, weil durch ihn [sc. den Bogen] die Alten das zum Leben Notwendige hatten, indem sie ihn gegen die Tiere [sc. als Jagdinstrument] gebrauchten; den Lebensunterhalt erwirtschafteten sie, indem sie mit Pfeil und Bogen auf Vögel und Vierbeiner schossen. Ähnlich Eust. Il. 1,49, Bd. 1, p. 66 van der Valk. Dass die Homonymie-Beziehung zwischen Bogen und Leben allgemein bekannt war, vgl. bei Aristoph. Plut. 33 f. mit Sommerstein (2001) z. St.; Aristoph. Eccl. 563; Soph. Phil. 931. 933; hierzu auch Robinson (1969) 43 f.

3 Rätsel vom Zufall AP App. VII 24, Cougny Ὡς ἐθέλει τὸ φέρον σε φέρειν, φέρου· ἢν δ’ ἀπιθήσῃς καὶ σαυτὸν βλάψῃς, καὶ τὸ φέρον σε φέρει. Wie das Schicksal dich behandeln will, das ertrage; wenn du dich aber widersetzt und dir selbst schadest, auch dann verfügt der Zufall über dich.

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Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich dem Inhalte nach eher um eine rätselhafte Gnome als um ein direktes Rätsel (vgl. den Imperativ als direkte Handlungsanweisung), wobei die Formulierung je nach Kontext sehr wohl auch zu einer Rätselfrage taugen würde. Die Formen des Verbs φέρειν unterliegen hier einem dreifachen und in dieser Hinsicht mehrdeutigen Gebrauch: a) τὸ φέρον: das Schicksal (das, was ertragen werden muss); anstelle der eindeutigen τύχη b) φέρειν (v.1), φέρει (v. 2): jmd. behandeln c) φέρου (v. 1): (er-)tragen, aushalten Ein zusätzliches (kausales) Paradoxon liegt darin, dass zwei entgegengesetzte Handlungen dieselbe Folge haben: A: duldsam sein → Das Schicksal behandelt einen, wie es will. Nicht-A: sich gegen das Schicksal wehren → Das Schicksal behandelt einen, wie es will. Die Erklärung für diesen Widerspruch liefert die Allmacht des Schicksals/ Zufalls. Intertextuelle Verweise: Soph. Oid. K. 1694: τὸ θεοῦ καλῶς φέρειν (Lloyd-Jones; Wilson), nach Bergk u. Wilamowitz: τὸ φέρον ἐκ θεοῦ φέρειν χρή.

4 Rätsel von der Lampe AP XIV 47, Beckby; S 67 Εἵνεκα φωτὸς ἐγὼ φῶς ὤλεσα· φὼς δὲ παραστὰς φῶς μοι ὄπασσε φίλον ποσσὶ χαριζόμενος. Wegen des Lichts vernichte ich das Licht; der Mann aber, der bereitsteht, gibt mir das liebliche Licht, welches er großzügig meinen Füßen schenkt.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Das Rätsel von der Lampe (πηλός), das aus der Ich-Perspektive erzählt wird, dreht sich um ein Spiel mit dem homonymen φῶς. v. 1a: Die Formulierung erscheint in der Verbindung der Eigenschaften a: „φῶς“ und nicht-a: „φῶς ὤλεσσα“ paradox. Das Licht Licht, d. h. sich selbst

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vernichtet, scheint unerklärlich. Die Irritation löst sich jedoch bei einer Unterscheidung zwischen (1) natürlichem Tageslicht und (2) künstlichem Licht. Letzteres ist nur bei Dunkelheit nötig und wird, wenn es taghell ist, gelöscht. Besonders fein komponiert ist überdies die Formulierung ἐγὼ φῶς ὤλεσα. Einerseits (1) tritt hier das Rätsel-Ich als die gesuchte Lampe auf, auf welche die Handlung des Menschen, der die Lampe löscht, übertragen wird, sodass sie selbst als handelndes Subjekt auftritt, wodurch die Lösung für den Ratenden erschwert wird. Andererseits (2) enthält die Formulierung bei der inhaltlichen Nähe von Lampe und Licht (im Effekt fällt ja beides fast in eins) eine weitere Möglichkeit, die darin besteht, dass φῶς sich ebenfalls als nominativisches Prädikatsnomen zu ἐγώ und damit als Lösungswort lesen lässt. ὄλλυμι braucht nicht medial verwendet zu sein, um diese Interpretation zuzulassen, vgl. aktive Verbindungen in der Bedeutung „sterben“, „das Leben verlieren“ bei Hom. Il. 5,250. 8,358. 13,763. Die Formulierung φὼς δὲ παραστὰς φῶς μοι ὄπασσε (vv. 1b-2a) lässt allerdings vermuten, dass φῶς gerade nicht mit dem Ich-Rätselobjekt identifiziert werden kann, weil μοι Objekt der Handlung des φῶς ist. Keine der beiden Verständnismöglichkeiten bietet dem Rezipienten eine direkte umfassende Aufklärung, sodass kaum rational wählbar ist, welcher der beiden Vorstellungen gedanklich weiter zu folgen ist. vv. 1b–2a: Hier wird zusätzlich Gebrauch gemacht von der zweiten Bedeutung des homonymen φῶς, welches neben dem Licht auch den Mann bezeichnen kann. Die Vorstellung, dass Licht Licht gewährt, ist vielleicht nicht direkt widersprüchlich, doch immerhin ungewöhnlich kompliziert und dadurch für den Rezipienten mit Irritationen verbunden. Darauf, dass φῶς in v. 1b als Mann einen ganz anderen Inhalt hat als in v. 2a als Licht, gibt es keinen Hinweis. Ein Rezipient muss selbständig die Doppeldeutigkeit des Wortes als potentiellen Lösungsansatz in seine Überlegungen mit einbeziehen. Ein zusätzliches Paradoxon besteht zwischen v. 1a und vv. 1b–2a: φῶς (Tageslicht) vernichtet φῶς (künstliches Licht), aber φῶς (Mann) erzeugt/schenkt φῶς (künstliches Licht). Da der (inhaltliche) Subjektswechsel äußerlich nicht zu erkennen ist, scheinen sowohl ὤλεσα als auch ὄπασσε, die einenander inhaltlich direkt entgegenstehen, Handlungen eines Subjekts zu sein. v. 2b: Das Öl, mit dem in einem Lampengefäß Licht erzeugt wird, wird in den Lampenfuß gefüllt. Der verwendete Plural sowie die ungewöhnliche Paarung von Licht (steht für oben) und Fuß (steht für unten) erschweren das Verständnis. Intertextuelle Verweise: Vgl. das metaphorische Rätsel von dem Licht in der Lampe (AP XIV 53).

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5 Orakel an die Messenier vom Bock am Wasser der Neda Paus. 4,20,1–4, Rocha-Pereira εὖτε τράγος πίνηισι Νέδης ἑλικόρροον ὕδωρ, οὐκέτι Μεσσήνην ῥύομαι· σχεδόθεν γὰρ ὄλεθρος. Wenn ein Bock aus dem gewundenen Wasser der Neda trinkt, schütze ich Messenien nicht länger; denn nah ist das Verderben.

Form: 2 Hexameter Kontext: Nachdem die Messenier bereits im ersten Messenischen Krieg gegen Sparta (ca. 735–715 v. Chr.) unterlegen waren, befragen sie bei einer erneut bevorstehenden Niederlage im zweiten Messenischen Krieg (ca. 648–631 v. Chr.) nach elfjähriger Belagerung das delphische Orakel nach ihrer Rettung. Erklärung: Das Orakel prophezeit den Untergang (ὄλεθρος) Messeniens, der jedoch – scheinbar – noch nicht zwingend feststeht, sondern an eine Bedingung (εὖτε …) geknüpft ist. Wenn ein τράγος aus dem gewundenen (ἐλικόρροον) Fluss Neda trinkt, dann ist die Niederlage gegenüber Sparta gewiss. Es bemühen sich also die Messenier, das Eintreten jener Bedingung zu vermeiden, indem sie darauf achten, dass kein Ziegenbock aus der Neda trinkt. Den wahren Sinn des Orakels hingegen erkennt der Seher Theoklos, dem das Orakel gegeben wurde, erst später. v. 1: Im Zentrum des Orakels steht der homonyme τράγος, der einerseits landläufig den Ziegenbock, andererseits selten, aber nach LSJ 1809 s. v. insbesondere im messenischen Dialekt auch den wilden Feigenbaum (ὀλύνθη) bezeichnet. Eigentlich müssten gerade die Messenier den doppelten Sinn des Spruchs somit sofort erkennen, da die Formulierung sprachlich genau auf sie zugeschnitten ist. Trotzdem ergibt sich der Sinn selbst für den Seher Theoklos erst, als er den eigentlich gemeinten Feigenbaum am Ufer der Neda erblickt. Bei der Lösung des Rätsels wirken somit bildliche Elemente mit den sprachlichen zusammen (θεασάμενος δὲ ὁ μάντις Θέοκλος συνεβάλετο, 4,20,3). Selbst wenn Theoklos erkannt hätte, dass er nach einem Feigenbaum Ausschau halten musste, hätte das Verb πίνειν, welches das Subjekt fälschlicherweise personifiziert und so einen Menschen oder ein Tier als Rätselobjekt suggeriert, darauf hingedeutet, dass mit „trinken“ das Aufnehmen von Wasser durch die Wurzeln gemeint war. Da das aber alle Pflanzen gleichermaßen tun, ohne dass rein optisch zu unterscheiden wäre, woher sie das Wasser beziehen, wäre damit noch kein wirklicher Hinweis auf den gebogenen Feigenbaum gewonnen, der mit seinen Ästen die Wasseroberfläche des Flusses berührt und in diesem

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stark erweiterten Sinne daraus „trinkt“. Der τράγος als verbogener Feigenbaum ist damit ein absolutes Kuriosum, das sich aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit als Rätselobjekt ausgezeichnet eignet. εὖτε schließlich, das poet. für ὅτε steht, lässt sich einerseits temporal und andererseits kausal auffassen – und beide Verständnisvarianten sind irreführend. Ein kausales Verständnis suggeriert einen inneren Zusammenhang zwischen dem Untergang der Messenier und dem Trinken aus der Neda, der vermuten lässt, dass das eine das andere direkt herbeiführt. Tatsächlich ist der gebogene Baum jedoch nicht einmal im engeren Sinne ein Symbol für die Niederlage der Messenier, sondern steht geradezu als beliebiges, rein temporales Anzeichen. Die temporale Auffassung hingegen suggeriert, dass das Eintreten der Bedingung noch in der Zukunft liegt, sodass es prinzipiell noch abgewendet werden kann, und verbreitet auf diese Weise einen falschen Optimismus. Der Feigenbaum berührt nämlich zur Zeit des Orakels den Fluss bereits, sodass sich die Aussage der Spruchs konkretisierend umdeuten lässt zu „Messenien wird in jedem Fall in naher Zukunft untergehen.“ Obwohl die Messenier, wenn auch nicht ad hoc, so doch ziemlich zeitnah, den Orakelspruch korrekt deuten, können sie ihr Schicksal nicht abwenden und Messenien retten. Als Lohn für ihre erfolgreiche Rätsellösung ließe sich dagegen u. U. die gewonnene Reaktionszeit werten (ὡς τῆς σωτηρίας ἐξήκοι σφίσιν ὁ χρόνος. […] ἀναβολὴν οὐκέτι εἶναί σφισι, 4,20,3), die es dem messenischen Heros Aristomenes ermöglicht, einen geheimen, magischen Gegenstand des Volkes – nach Paus. 4,27,5. 4,33.5 eine eherne Hydria, die eine Zinnplatte enthielt, auf der die Weihe der Großen Götter aufgezeichnet war – an den die einstige Rückkehr des Volkes in ihr Land geknüpft war, am Berg Ithome zu vergraben: καὶ – ἦν γάρ τι ἐν ἀπορρήτωι τοῖς Μεσσηνίοις, ἔμελλε δὲ ἀφανισθὲν ὑποβρύχιον τὴν Μεσσήνην κρύψειν τὸν πάντα αἰῶνα, φυλαχθὲν δὲ οἱ Λύκου τοῦ Πανδίονος χρησμοὶ Μεσσηνίους ἔλεγον χρόνωι ποτὲ ἀνασώσεσθαι τὴν χώραν – τοῦτο δὴ ὁ Ἀριστομένης ἅτε ἐπιστάμενος τοὺς χρησμούς, ἐπεὶ νὺξ ἐγίνετο, ἐκόμιζε. παραγενόμενος δὲ ἔνθα τῆς Ἰθώμης ἦν τὸ ἐρημότατον, κατώρυξεν ἐς Ἰθώμην τὸ ὄρος, […]. (4,20,4) Es gab nämlich einen geheimen Gegenstand bei den Messeniern, wenn er aber vernichtet wurde, so verbarg er Messenien für immer unter der Oberfläche, wenn er aber bewahrt wurde, würden die Messenier nach den Sprüchen des Lykos, des Sohnes des Pandion, einst ihr Land zurückerhalten. Weil er die Prophezeiungen kannte, holte Aristodemos ihn, als es Nacht wurde; er ging an die einsamste Stelle des Ithome und verbarg den Gegenstand am Berg Ithome […].

Literatur: Speyer (1970) 66 f. mit Anm. 6.

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6 Orakel von der Zerstörung eines großen Reiches (an Kroisos) Hdt. 1,53–54, Wilson ὡς δὲ ἀπικόμενοι ἐς τὰ ἀπεπέμφθησαν οἱ Λυδοὶ ἀνέθεσαν τὰ ἀναθήματα, ἐχρέωντο τοῖσι χρηστηρίοισι λέγοντες· Κροῖσος ὁ Λυδῶν τε καὶ ἄλλων ἐθνέων βασιλεύς, νομίσας τάδε μαντήια εἶναι μοῦνα ἐν ἀνθρώποισι, ὑμῖν τε ἄξια δῶρα ἔδωκε τῶν ἐξευρημάτων, καὶ νῦν ὑμέας ἐπειρωτᾷ εἰ στρατεύηται ἐπὶ Πέρσας καὶ τίνα ‹ἂν› στρατὸν ἀνδρῶν προσθέοιτο σύμμαχον. οἱ μὲν ταῦτα ἐπειρώτων, τῶν δὲ μαντηίων ἀμφοτέρων ἐς τὠυτὸ αἱ γνῶμαι συνέδραμον, προλέγουσαι Κροίσῳ, ἢν στρατεύηται ἐπὶ Πέρσας, μεγάλην ἀρχήν μιν καταλύσειν· τοὺς δὲ Ἑλλήνων δυνατωτάτους συνεβούλευόν οἱ ἐξευρόντα φίλους προσθέσθαι. ἐπείτε δὲ ἀνενειχθέντα τὰ θεοπρόπια ἐπύθετο ὁ Κροῖσος, ὑπερήσθη τε τοῖσι χρηστηρίοισι, πάγχυ τε ἐλπίσας καταλύσειν τὴν Κύρου βασιληίην […]. Als aber die Boten zu den Tempeln [sc. in Delphi und Sardes] gelangten, brachten sie die Weihegeschenke dar und fragten mit folgenden Worten nach einem Orakelspruch: „Kroisos, der König der Lyder und anderer Völker, hat in der Ansicht, dass allein diese Orakel [wahr] seien auf der Welt, Geschenke zu euch geschickt, die eurer Imaginationskraft würdig sind, und fragt euch nun, ob er gegen die Perser in den Kampf ziehen soll und ob er sich für den Feldzug einen Verbündeten suchen soll.“ Dies fragten sie und beide Orakel gaben eine Weissagung auf dasselbe und verkündeten dem Kroisos, wenn er einen Krieg gegen die Perser beginne, dann werde er ein großes Reich zerstören; ferner solle er herausfinden, welche der Griechen die Mächtigsten seien, und sie, wenn er sie gefunden hätte, zu Freunden machen. Als Kroisos diese Orakelsprüche gebracht wurden und er sie hörte, freute er sich über die Maßen über die Weissagungen und war ganz sicher der Meinung, er würde die Herrschaft des Kyros zerstören und er schickte noch einmal nach der Pytho und beschenkte die Bewohner von Delphi, deren Zahl er in Erfahrung gebracht hatte, jeweils mit zwei Stateren Gold. Die Delpher gewährten Kroisos und den Lydern im Gegenzug dafür das Vorrecht bei der Orakelbefragung, Zahlungsfreiheit und den Vorsitz und es sollte dem, der wollte, möglich sein, Bürger von Delphi zu werden für alle Zeit.

Form: Prosa Kontext: Nach seiner Prüfung der Orakel schickt Kroisos Boten mit Weihgeschenken und seinem eigentlichen Anliegen nach Delphi und Amphiaraos. Die Gesandten haben den Auftrag, zu erfragen, ob Kroisos in den Krieg gegen die Perser ziehen und ob er sich Bundesgenossen suchen sollte. Erklärung: Herodot gibt die rätselhafte Antwort des Orakels nicht wörtlich, sondern als Paraphrase wieder. Wörtlich lautet sie: Κροῖσος Ἅλυν διαβὰς μεγάλην ἀρχὴν καταλύσει (Aristot. rhet. 1407a) Wenn Kroisos den Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören.

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Dabei steht das Überschreiten des Halys, des Grenzflusses zum Perserreich, als paraphrasierende Umschreibung für den Angriff der Lyder auf die Perser und markiert die Bedingung für das Eintreten der dann genannten Folge. Die Zerstörung eines großen Reiches (μεγάλης ἀρχῆς κατάλυσις) ist, obwohl als reine Paraphrase ohne jeden übertragenen Sinn gebraucht, so doppeldeutig wie die komplexeste Metapher, insofern sie nicht verrät, welches der beiden großen Reiche zerstört wird, das der Lyder oder das der Perser; vgl. Aristot. rhet. 3,5,4 und Cic. div. 2,115, die das Orakel als Paradebeispiel für zweideutige Äußerungen anführen. Kroisos deutet diese gefährliche Doppeldeutigkeit nicht nur falsch, er bemerkt sie offenbar erst gar nicht, ist er doch sofort voller Freude (ὑπερήσθη) und vollkommen siegesgewiss (πάγχυ ἐλπίσας, vgl. dass auch die enttäuschten Erwartungen im Disput mit Solon 1,30–33 mit den Formulierungen ἐλπίζων und δοκέων πάγχυ bezeichnet sind); vgl. 1,91 die Erklärung des Orakels auf den empörten Vorwurf des Kroisos, der König hätte ein zweites Orakel darüber einholen müssen, welches Reich gemeint war. Kroisos aber ist derartig überzeugt von seinem Verständnis des Spruchs, dass er sich nicht beirren lässt, selbst als der weise Berater Sandanis ihn explizit auf das Risiko hinweist (vgl. auch Gobryas und den beratungsresistenten Dareios im Zusammenhang der skythischen Rätselgaben, Hdt. 1,71): Ὦ βασιλεῦ, ἐπ᾽ ἄνδρας τοιούτους στρατεύεσθαι παρασκευάζεαι, οἳ σκυτίνας μὲν ἀναξυρίδας, σκυτίνην δὲ τὴν ἄλλην ἐσθῆτα φορέουσι, σιτέονται δὲ οὐκ ὅσα ἐθέλουσι, ἀλλ᾽ ὅσα ἔχουσι, χώρην ἔχοντες τρηχέαν. πρὸς δὲ οὐκ οἴνῳ διαχρέωνται, ἀλλὰ ὑδροποτέουσι, {οὐ} σῦκα δὲ ἔχουσι τρώγειν, οὐκ ἄλλο ἀγαθὸν οὐδέν. τοῦτο μὲν δή, εἰ νικήσεις, τί σφεας ἀπαιρήσεαι, τοῖσί γε μὴ ἔστι μηδέν; τοῦτο δέ, ἢν νικηθῇς, μάθε ὅσα ἀγαθὰ ἀποβαλέεις. γευσάμενοι γὰρ τῶν ἡμετέρων ἀγαθῶν περιέξονται οὐδὲ ἀπωστοὶ ἔσονται.

Die Gründe für das falsche Verständnis des Orakels durch Kroisos sind zweifacher Natur: 1. Die verschleiernde Ausdrucksform des Orakels: Die unbestimmte Aussage ((irgend-)ein Reich) birgt das Missverständnis. Das oft kriegerisch gebrauchte καταλύειν suggeriert ferner eine gegen den Feind gerichtete Aktion. 2. Der Charakter des Lyderkönigs: Dass Kroisos sogleich eine zweiteilige Frage Stellen lässt und neben der grundsätzlichen Möglichkeit eines erfolgreichen Krieges auch direkt nach günstigen Bundesgenossen fragen lässt, zeigt, dass er mit einer Zusage rechnet, weshalb er nur diesen Teil der ambivalenten Aussage versteht. Dabei müsste die Tatsache, dass das Orakel dazu rät, sich Verbündete zu suchen, noch dazu die stärksten, Kroisos einen Hinweis auf die Ambivalenz

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des Spruchs geben. Allein kann Kroisos die Perser offenbar in keinem Fall besiegen, d. h. es besteht grundsätzlich die Chance, dass er unterliegt. Dass er sogar die stärksten Alliierten braucht, scheint einen Hinweis darauf zu geben, dass er in einem Kampf mit den Persern maßlos unterlegen sein würde. Ebenso belegt die unmittelbare überschwängliche Freude des Königs über die Antwort des Orakels, dass er mit dem Spruch vollkommen unkritisch umgeht. Sein tendenziell überheblicher Charakter (vgl. die Auseinandersetzung mit Solon, 1,30–33) begünstigt in diesem Sinne das Missverständnis. Es scheint durchaus denkbar, dass Kroisos nicht das exakte Gegenteil der von vornherein normativ bestimmten richtigen Lösung, nämlich, dass in jedem Fall das Lyderreich zerstört wird, versteht. In dem Orakel liegt u. U. gar nicht die exakte Gewissheit darüber, welches der Reiche zugrunde gehen wird, sondern nur die Warnung vor dem Risiko, das für die Lyder besteht, selbst die Unterlegenen zu sein. Schließlich antwortet das Orakel absichtlich nicht ausdrücklich auf die gestellte Entscheidungsfrage, sondern macht eine vage Aussage über die Folgen bei hypothetischer Voraussetzung. Die Verantwortung für die Auslegung des Gesagten liegt, wie bei allen Orakeln, bei dem Klienten als Rätsellöser. Das Orakel verrät nicht einfach, was zu tun ist, sondern gibt einen brauchbaren Hinweis, um dem Bittsteller die Möglichkeit zu geben, den richtigen Weg einzuschlagen. Daran, dass das Orakel seinen Rat böswillig ambivalent formuliert, um Kroisos für seine anmaßende Prüfung der Orakel zu bestrafen, ist allerdings nicht zu denken. Schließlich beschenkt der König Delphi auch nach diesem zweiten Orakel so reichlich, dass er von der Stadt ein Vorrecht auf das Orakel erhält (1,54). Intertextuelle Verweise: Vgl. die vorausgegangene Prüfung der Orakel durch Kroisos, 1,46–49, ferner das Orakel von einem Maultier als König der Meder, 1,55 f., das Kroisos ebenfalls missversteht. Schon 1,30–33 hatte der Lyderkönig in seinem Disput mit Solon um den glücklichsten Menschen kein besonderes Geschick im Umgang mit Rätseln gezeigt. So auch 1,34–43 bei der misslungenen Traumdeutung, die zum Tode seines Sohnes Atys führte. Vgl. 1,69, wo Kroisos die Spartaner als Bundesgenossen gewinnt, die ebenfalls einen guten Ausgang der bevorstehenden Schlacht ableiten: Ὦ Λακεδαιμόνιοι, χρήσαντος τοῦ θεοῦ τὸν Ἕλληνα φίλον προσθέσθαι, ὑμέας γὰρ πυνθάνομαι προεστάναι τῆς Ἑλλάδος, ὑμέας ὦν κατὰ τὸ χρηστήριον προσκαλέομαι φίλος τε θέλων γενέσθαι καὶ σύμμαχος ἄνευ τε δόλου καὶ ἀπάτης.

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1,73 über die Motive des Kroisos für den Kriegszug, darunter die Vergrößerung des eigenen Reiches und die Rache an Kyros für den Sturz des Astyages, besonders aber das Vertrauen auf das Orakel. 1,75 zur unkritischen Auslegung des Orakels durch Kroisos zu seinen eigenen Gunsten: […] καὶ δὴ καὶ ἀπικομένου χρησμοῦ κιβδήλου, ἐλπίσας πρὸς ἑωυτοῦ τὸν χρησμὸν εἶναι, ἐστρατεύετο ἐς τὴν Περσέων μοῖραν. 1,86 zur Auflösung des zweideutigen Orakels. Kroisos hat sein Reich zerstört: […] κατὰ τὸ χρηστήριόν τε καταπαύσαντα τὴν ἑωυτοῦ μεγάλην ἀρχήν. Vgl. 1,90 die symbolische Auslieferung der Ketten, mit denen Kroisos gefangen wurde, an die Pythia. Kroisos bedient sich damit der „Sprache“ der Pythia. Die Pythia erklärt, dass das Schicksal des Kroisos (a) durch seine Vorfahren vorbestimmt (vgl. 1,7. 13) und (b) durch unkritische Auffassung der Orakelsprüche selbst verschuldet ist.

B. II. 2 In der Lösung B. II. 2.1 Zusammengesetzte Rätsel (compound riddle) 1 Das Läuserätsel der Fischerjungen an Homer Herakl. FVS I8, 22 B 56 DK = frg. 21 M; Hippolyt. 9,9,6 p. 345, 25–29 Marcovich; AP IX 448 ἐξηπάτηνται, φησίν, οἱ ἄνθρωποι πρὸς τὴν γνῶσιν τῶν φανερῶν παραπλησίως Ὁμήρωι, ὃς ἐγένετο τῶν Ἑλλήνων σοφώτερος πάντων. ἐκεῖνόν τε γὰρ παῖδες φθεῖρας κατακτείνοντες ἐξηπάτησαν εἰπόντες· ὅσα εἴδομεν καὶ ἐλάβομεν, ταῦτα ἀπολείπομεν, ὅσα δὲ οὔτε εἴδομεν οὔτ’ ἐλάβομεν, ταῦτα φέρομεν. Es täuschen sich, sagt er [sc. Heraklit] die Menschen in der Kenntnis des Offensichtlichen in derselben Weise wie Homer, der weiser als alle Griechen war; jenen nämlich täuschten die Jungen auf der Lausjagd, indem sie sagten: „Was wir sahen und zu fassen bekamen, das sind wir los, was wir aber weder sahen noch zu fassen bekamen, das tragen wir mit uns.“

Form: Prosa Kontext: Das Fragment steht bei Hippolytus im Kontext einer Kritik an zeitgenössischen Häresien – verschiedene philosophische Strömungen werden als Grundlage christlicher Irrlehren diffamiert –, namentlich einer auf Noetus zurückgehenden Schule, deren Lehren denen Heraklits nachgebildet gewesen sein sollen. Herakliteische Lehrmeinungen werden zum Vergleich angeführt und gipfeln in der

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Annahme, Heraklit ziehe das Offenbare dem Verborgenen vor. Das betreffende Fragment wird hierfür als Beleg angefügt. Ursprünglich handelt es sich bei dem Rätseltext wohl um ein altes Volksrätsel, dessen populäre Verbindung zur Biografie Homers erst sekundär, zuerst womöglich von Heraklit selbst an der zitierten Stelle, konstruiert wurde. Vgl. Heldmann (1982) 70, Anm. 306, Ohlert (21912) 30 f. u. a. Vgl. auch die Homerviten, in deren Kontext das Rätsel als Todesursache Homers – und nur als solche, d. h. nicht eigentlich mit selbständiger Bedeutung, sondern lediglich als Anhängsel der populären Rahmenerzählung – Erwähnung findet. Das Rätsel ist überdies – unabhängig von Homer und seinem Schicksal – auch in vielen anderen Sprachen überliefert, vgl. hierzu Ohlert (21912) 31 f. Zur Glaubhaftigkeit der Überlieferung bei Hippolytus vgl. Kirk (1950) 149–167, hier 160; Marcovich (1967) 82. Vgl. für eine Übersicht der Überlieferung auch Schultz (1909) 66 f. (Nr. 102); Ohlert (21912) 30–32; Schultz (1914) 95 (Nr. 26). Erklärung: Der Rätseltext weist eine deutlich erkennbare, von Parallelismus und zugleich Antithetik bzw. (kausaler) Paradoxie geprägte Struktur auf: Beide Gedankengänge – (1) sehen, fangen, lossein; (2) nicht sehen, nicht fangen, mit sich tragen – sind identisch aufgebaut, entsprechen einander zusätzlich vollständig im Wortlaut und sind dabei inhaltlich exakt entgegengesetzt. Ferner erscheint jeder der Gedankengänge in sich paradox, weil der gewohnte Zusammenhang der Ereignisse – (1) sehen, fangen, mit sich tragen; (2) nicht sehen, nicht fangen, lossein – verkehrt worden ist. Diese Struktur ist äußerst rätseltypisch. Insbesondere die auftretenden Negatoren sind (fakultative, aber) häufige und wichtige formale Rätselelemente, deren Aufgabe die Negation bestimmter Merkmale des Rätselobjekts ist, zu deren Bestätigung die Beschreibung, d. h. der Rätseltext, sonst führen würde. Im Beispiel des Rätsels von der Lausjagd bewirken die eingeführten Negatoren (οὔτε εἴδομεν οὔτ’ ἐλάβομεν und indirekt in ἀπολείπομεν gegenüber φέρομεν) eben jene, den gewöhnlichen Zusammenhängen zuwiderlaufende, als paradox empfundene Struktur. Es darf somit die Rede von einer „zweistöckigen Antithese“ sein, die einerseits zwischen beiden Gedankengängen, andererseits jeweils innerhalb eines Gedankengangs besteht. Form und Funktion des Rätsels entsprechen also dem folgenden Typus: Die Bedingung α (etwas ist gesehen und gefangen) zieht die Folge A (man wird etwas los) nach sich, aus der Bedingung β (etwas ist nicht gesehen und nicht gefangen) geht die Folge B (etwas wird mitgetragen) hervor. Gewöhnlich gilt jedoch, dass α B zur Folge hat, während β A bedingt. α und β sowie A und B stehen überdies in antonymischem Verhältnis zueinander. Der scheinbare Widerspruch zwischen den einzelnen Eigenschaften des verrätselten Objekts ist somit vornehmlich durch eine lexikalische Antithese ausgedrückt, während die syntaktische Form der Äußerung in asyndetischer

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Verbindung neutral gehalten ist. Diese Form des Rätsels scheint also auf einer Verrätselungsmethode zu beruhen, die sich auf einen Überraschungseffekt bzw. einen Effekt der enttäuschten Erwartung stützt. Eine nähere Analyse des Verrätselungsmechanismus ergibt nun jedoch ein noch etwas komplizierteres Bild: Das gesuchte Lösungswort φθείρ bedeutet nämlich nicht nur ‚Laus‘, sondern bezeichnet – gleichsam als ‚Teekesselchen‘ – auch eine bestimmte Fischart. Es handelt sich um den Naucrates ductor (Pilotfisch), der tatsächlich für seine parasitäre Lebensform bekannt ist und in der Antike offenbar als besonders dem Delphin in Symbiose verbunden beobachtet wurde, vgl. Aristot. hist. an. 5,31 p. 557a: ἐν δὲ τῇ θαλάττῃ τῇ ἀπὸ Κυρήνης πρὸς Αἴγυπτον ἔστι περὶ τὸν δελφῖνα ἰχθὺς ὅν καλοῦσι φθεῖρα, ὃς γίγνεται πάντων πιότατος διὰ τὸ ἀπολαύειν τροφῆς ἀφθόνου θηρεύοντος τοῦ δελφῖνος; ebenso Ail. nat. 9,7: Παράσιτοι δὲ ἄρα καὶ ἐν ἰχθύων γένει ἦσαν. ὁ γοῦν φθείρ οὕτω λεγόμενος παρατρώγει τῶν τοῦ δελφῖνος θηραμάτων· ὁ δὲ ἥδεται αὐτῷ καὶ ἑκὼν μεταδίδωσιν. ἒνθεν τοι καὶ πιότατός ἐστιν, ὤσπερ οὖν ἐκ πλουσίας καὶ ἀμφιλαφοῦς ἑστιάσεως ἐμπιπλάμενος.

Die Annahme, der Rätselkontext mit den Fischerjungen führe von der korrekten Lösung fort und den Rätsellöser in die Irre, ist somit zunächst einmal nicht ganz richtig. Vielmehr kann die Kontextualisierung mit der Fischerei geradezu als Hilfsmechanismus bei dem Versuch der Rätsellösung wirken, zumal der Rätsellöser sich beim Aussprechen des Lösungswortes gedanklich nicht einmal für eine der beiden Bedeutungen zu entscheiden bräuchte. Den Lösungsprozess könnte man sich somit folgendermaßen vorstellen: Fischer fangen Meerestiere, insbesondere Fische. Gesucht ist nun nach solchen, die nach ihrem Fang im Meer zurückgelassen, d. h. entsorgt werden. Das Nachdenken über die unterschiedlichen Fischarten könnte zu dem Pilotfisch führen, dessen homonymer Name (φθείρ) auf die Läuse als eigentliche Rätsellösung verweisen würde. Die Verrätselungsmethode beruht also nicht eigentlich auf einer Irreführung durch die Ablenkung in einen falschen semantischen Raum, sondern vielmehr auf dem sprachlichen Prinzip des Teekesselchens, welches durchaus den Gedanken an beide Bedeutungen des homonymen Lösungswortes zulässt: Die Fischerjungen sprechen in ihrem Rätsel von Läusen – und doch auch von Fischen. Die naheliegendste Erklärung des Rätsels hat man damit bislang übersehen: Dass nämlich die Fischer tatsächlich von dem sprechen könnten, was sie angeht: von Fischen. Der nichtsdestoweniger sich einstellende Überraschungseffekt bei der Rätsellösung liegt also im Wesentlichen darin, dass zwei – oberflächlich betrachtet – ganz unterschiedliche Tierarten aufgrund der Ähnlichkeit ihrer (parasitären) Lebensweise durch denselben Namen bezeichnet sind und so plötzlich wie ein und dasselbe Wesen mit unterschiedlichen sichtbaren Formen erscheinen.

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Die Fischerjungen als Rätselsteller und Homer als Rätsellöser: Die scheinbar paradoxe Gegenüberstellung der Fischerjungen als Rätselsteller mit dem übertölpelten Weisen Homer fügt sich im Sinne der gängigen Weisheitskritik reibungslos in das Konzept der herakliteischen Philosophie und bietet ein unterhaltsames Paradebeispiel derselben: Die Fischer, die sich – trotz der scheinbaren Schlichtheit ihrer Tätigkeit – mit Täuschung und List berufsgemäß bestens auskennen und durch das Netz (γρίφος) als markantestes Werkzeug sogar auf lexikalischer Ebene mit dem Rätsel in Verbindung stehen, (vgl. z. B. Ohlert (21912) 3, zum Fischer und seinen Werkzeugen, insbesondere dem Netz, auch Opp. hal. 8,80–84) sind nach den Maximen Heraklits dem prominenten Homer als dem τῶν Ἑλλήνων σοφώτερος πάντων, der sich durch Vielwisserei, nicht jedoch durch wahres Verständnis im herakliteischen Sinne auszeichnet, überlegen (vgl. zur Kritik Heraklits an der πολυμαθίη frg. 40 DK; zur Kritik an der Verehrung der sogenannten Weisen oder Gelehrten im Allgemeinen auch frg. 42. 57. 106. 108 DK. Ein Lob des Kindes, das auch für die Fischerjungen gelten mag, findet sich dagegen in frg. 117. 121 DK. Vgl. ferner frg. 57. 58 DK und frg. 52 Robinson mit Kommentar von Robinson (1987) 116 f.) Spätere Varianten des Rätsels in verschiedenen Textfassungen: Ps.-Hdt. vit. Hom. 35, p. 215, 499 Allen; Certamen 18, p. 238, 328 Allen; Ps.-Plut. vit. Hom. I 4, p. 242, 67 Allen; Prokl. vit. Hom. 5, p. 26,30–32 Wil.; anonym. vit. Hom. IV, p. 246, 22 Allen; anonym. vit. Hom. V, p. 249, 43 Allen; anonym. vit. Hom. Romana, p. 253, 61 Allen; Tzetz. Chil. XIII, 626 ff. Kiessling (p. 255, 661 f. Allen); Hesych. vit. Hom. (Suda s. v. Ὅμηρος), p. 266, 206 Allen; ΒΙΟΣ ΟΜΗΡΟΥ ex cod. Mureti (ed. Piccolomini (1890) 451–456); P. Michigan 2754 v. 1–3, 6–7 (ed. Kirk (1950) 149–167, hier 151). Das Rätsel als pompejianische Inschrift: Dilthey (1876) 12; Ep. Gr. 1105 Kaibel. Intertextuelle Verweise: Ps.-Plut. vit. Hom. I 4, p. 242, 61–71 Allen zu der Legende vom Tode Homers aus Gram über das ungelöste Rätsel der Fischerjungen: μετ’ οὐ πολὺν δὲ χρόνον πλέων εἰς Θήβας ἐπὶ τὰ Κρόνια· ἀγὼν δὲ οὗτος ἄγεται παρ’ αὐτοῖς μουσικός· ἦλθεν εἰς Ἴον· ἔνθα ἐπὶ πέτρας καθεζόμενος ἐθεάσατο ἁλιεῖς προσπλέοντας, ὧν ἐπύθετο εἴ τι ἔχοιεν. οἱ δὲ ἐπὶ τῷ θηρᾶσαι μὲν μηδέν φθειρίσασθαι δὲ διὰ τὴν ἀπορίαν τῆς θήρας οὕτως ἀπεκρίνατο· ὅσσ’ ἕλομεν, λιπόμεσθ’, ὅσσ’ οὐχ ἕλομεν, φερόμεσθα, αἰνισσόμενοι ὡς ἄρα οὓς μὲν ἔλαβον τῶν φθειρῶν ἀποκτείναντες κατέλιπον· οὓς δὲ οὐκ ἔλαβον ἐν τῇ ἐσθῆτι φέροιεν. ὅπερ οὐ δυνηθεὶς συμβαλεῖν Ὅμηρος διὰ τὴν ἀθυμίαν ἐτελεύτησε. Nach kurzer Zeit, als er [sc. Homer] wegen der Kronia (das ist ein musischer Agon, der bei ihnen ausgetragen wird) Nach Theben segelte, kam er nach Ios. Dort saß er auf den

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B Paraphrasierende Rätsel

Felsen und erblickte herannahende Fischer, die er fragte, was sie gefangen hätten. Die aber, weil sie überhaupt nichts gefangen hatten, hatten einander wegen der ausbleibenden Beute gegenseitig entlaust und antworteten folgendermaßen: „Die wir fingen, ließen wir zurück; die wir nicht fingen, bringen wir mit.“ Sie verrätselten, dass sie diejenigen Läuse, die sie zu fassen bekamen, töteten und auf dem Meer zurückließen, die aber, die sie nicht fingen, noch in ihrer Kleidung trugen. Weil Homer nicht in der Lage war, dies zu erschließen, starb er vor Gram.

Sein Tod ist (in ähnlicher Form) ferner auch in den anderen Homer-Biographien überliefert: Certamen 18, p. 238, 332–335 Allen; Ps.-Hdt. vit. Hom. 36, p. 216, 507 f. Allen; Prokl. vit. Hom. 5, p. 26,33–27,6 Wil.; anonym. vit. Hom. IV 3, p. 246, 17–19 Allen; anonym. vit. Hom. V 5, p. 250, 46 f. Allen; anonym. vit. Hom. Romana 6, p. 253, 57–59 Allen. Es thematisieren den Tod in kausalem Zusammenhang mit dem Rätsel auch AP VII 1. 213; vgl. ferner die beiden Orakel AP XIV 65. 66, in welchen Homer sein Tod auf Ios nach der gescheiterten Rätsellösung vorausgesagt wird. Literatur (zusätzlich zu der in der Beispielinterpretation in Kapitel VI der Abhandlung verwendeten): Koniaris, G. L.: On Homer and the Riddle of the Lice, Wiener Studien. Zeitschrift für klassische Philologie und Patristik 85 (1971), 29–38.

B. II. 2.2 Einfache Rätsel (simple riddle) 1 Rätsel von der Phoinix AP XIV 57, Beckby; S 91 Οὔνομα μητρὸς ἔχω, γλυκερώτερός εἰμι τεκούσης· ἀλλ’ ἡ μὲν δολιχή, τυτθὸς ἐγὼ δὲ πέλω· ἄβρωτος κείνη πλὴν κράατος· εἰμὶ δ’ ἔγωγε τρωκτὸς ἅπας, μοῦνον δ’ ἔντερ’ ἄβρωτα φέρω. Den Namen meiner Mutter habe ich, doch süßer bin ich als meine Erzeugerin; aber sie einerseits ist groß, klein andererseits bin ich; ungenießbar ist jene mit Ausnahme des Kopfes; ich aber bin essbar ganz und gar, nur ungenießbare Innereien führe ich mit.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Das Verwandtschaftsrätsel aus der Ich-Perspektive dreht sich um den homonymen Lösungsbegriff φοῖνιξ (sowohl maskulin als auch feminin), welcher sowohl die Dattelpalme (Hom. Od. 6,163; Pind. frg. 75 Maehler; Eur. Hec. 458; Hdt. 7,69)

B. II HOMONYMIE

353

als auch die Dattel als Frucht bezeichnet, und um das Verhältnis von Palme und Frucht zueinander. v. 1a: Hier wird der homonyme Charakter der φοῖνιξ thematisiert. vv. 1–2: Es erscheint kausal-paradox, dass Mutter und Tochter denselben Namen tragen, was suggeriert, dass sie sich sehr ähnlich sind, und dass dann zwei grundlegende Gegensätze zwischen beiden genannt werden. Die Gegensatzpaare betreffen den Geschmack sowie den Wuchs von Palme und Frucht: a) bittere Mutter – süße Tochter b) große Mutter – kleine Tochter Die vv. 3–4 führen diese Unterschiede mit besonderer Betonung des ersten Gegensatzpaares weiter aus: Während die Palme als solche nicht essbar ist (mit Ausnahme der noch jungen Palmenblätter, die als Palmkohl wie Gemüse gegessen werden können), ist die Frucht (mit Ausnahme ihres Kerns) zum Verzehr gedacht. Die Beschreibungen beider Teile entsprechen einander genau umgekehrt: Während an der Palme nur ein essbarer Teil ist, ist an der Dattel nur ein Teil ungenießbar. Die Beschreibung verursacht bei einem Rezipienten aus zweierlei Gründen Irritationen: a) Unter Mitgliedern einer Familie werden die wesentlichsten Eigenschaften – zu denen die genannten wohl zu zählen sind, da sie anderenfalls nicht für eine Charakterisierung ausgewählt worden wären – in der Regel vererbt. Hier verkehren sie sich aber sogar ins Gegenteil. b) Bevor der Rezipient erkannt hat, dass die Verwandtschaftsbeziehungen sowie damit einhergehend die Vermenschlichung/Personifikation des Rätselobjekts metaphorisch aufzufassen sind, mutet die Beschreibung recht barbarisch an; vgl. insbesondere v. 3, wo der Palmkohl (aufgrund der Analogie seiner Position am oberen Ende der Palme) als essbarer Kopf metaphorisch umschrieben wird.

Intertextuelle Verweise: Vgl. Soph. TrGF IV, frg. 181 Radt, zitiert bei Athen. III 76cd: πέπων ἐρινὸς ... ἀχρεῖος ὢν ἐς βρῶσιν ἄλλους ἐξερινάζεις λόγῳ Eine reife wilde Feige … nutzlos als Mahl, machst du andere durch dein Wort fruchtbar.

Athenaios ΙΙΙ 76cd glaubt, hier handle es sich um ein Rätsel (τροπικῶς τῷ τοῦ δένδρου ὀνόματι τὸν καρπὸν ἐκάλεσεν), in dem die beinahe Homonymie von

354

B Paraphrasierende Rätsel

wildem Feigenbaum (ὁ ἐρινός) und Frucht der wilden Feige (τὸ ἐρινόν) zugrunde liegt: πέπων δ᾽ ἐρινὸς εἴρηκεν ἀντὶ τοῦ πέπον ἐρινόν. Tatsächlich liegt hier jedoch kein rätselhaftes Gegensatzpaar zwischen ungenießbarer Mutterpflanze und essbarer Frucht vor wie im Falle der Phoinix. Vielmehr scheint es in dem fragmentarisch überlieferten Spruch um die Veredlung der echten Feige durch die wilde Feige zu gehen; vgl. LSJ 688 s. v. ἐρινάζω. 2 Orakel an die Paionier vom Ruf ihres Namens Hdt. 5,1, Wilson οἱ γὰρ ὦν ἀπὸ Στρυμόνος Παίονες χρήσαντος τοῦ θεοῦ στρατεύεσθαι ἐπὶ Περινθίους, καὶ ἢν μὲν ἀντικατιζόμενοι ἐπικαλέσωνταί σφεας οἱ Περίνθιοι ὀνομαστὶ βώσαντες, τοὺς δὲ ἐπιχειρέειν, ἢν δὲ μὴ ἐπιβώσωνται, μὴ ἐπιχειρέειν, ἐποίεον οἱ Παίονες ταῦτα. ἀντικατιζομένων δὲ τῶν Περινθίων ἐν τῷ προαστείῳ, ἐνθαῦτα μουνομαχίη τριφασίη ἐκ προκλήσιός σφι ἐγένετο· καὶ γὰρ ἄνδρα ἀνδρὶ καὶ ἵππον ἵππῳ συνέβαλον καὶ κύνα κυνί. νικώντων δὲ τὰ δύο τῶν Περινθίων, ὡς ἐπαιώνιζον κεχαρηκότες, συνεβάλοντο οἱ Παίονες τὸ χρηστήριον αὐτὸ τοῦτο εἶναι καὶ εἶπάν κου παρὰ σφίσι αὐτοῖσι· Νῦν ἂν εἴη ὁ χρησμὸς ἐπιτελεόμενος ἡμῖν, νῦν ἡμέτερον τὸ ἔργον. οὕτω τοῖσι Περινθίοισι παιωνίσασι ἐπιχειρέουσι οἱ Παίονες καὶ πολλόν τε ἐκράτησαν καὶ ἔλιπόν σφεων ὀλίγους. Die am Strymon lebenden Paionier nämlich hatten einen Orakelspruch des Gottes erhalten, gegen Perinthos in die Schlacht zu ziehen, und wenn die gegenüber gelagerten Perinthier nach ihnen riefen, indem sie ihren Namen brüllten, dann sollten sie angreifen, wenn sie aber nicht riefen, dann sollten sie nicht angreifen und so machten es die Paionier. Es lagerten sich die Perinthier ihnen gegenüber vor der Stadt und dort ereignete sich auf ihre Herausforderung hin ein dreifacher Zweikampf: Mann kämpfte gegen Mann, Pferd gegen Pferd und Hund gegen Hund. Es siegten aber die Perinthier in zwei der drei Kämpfe, sodass sie vor Freude einen Paian sangen, und die Paionier erkannten, dass es dies sei, worauf das Orakel hindeutete, und sie sprachen zueinander: „Nun soll sich uns der Spruch erfüllen, nun ist es an uns.“ So griffen die Peioner die Perinthier, die noch ihren Paian sangen, an und besiegten sie ganz und ließen nur wenige am Leben.

Form: Prosa (Paraphrase) Erklärung: Das Orakel gibt eine zwingende Bedingung für den Angriff der Paionier gegen die Perinthier an: Nur wenn die Feinde sie mit Namen rufen, sollen sie einen Angriff wagen. Diese Voraussetzung mag paradox erscheinen, da ein Umstand, unter dem sich Feinde gegenseitig beim Namen rufen, also die Anwesenheit des jeweils anderen explizit wünschen, naturgemäß widersprüchlich ist. Der Spruch des Orakels scheint somit zunächst von einem Angriff auf die Perinthier grundsätzlich abzuraten. Erfüllt wird die unwahrscheinliche Bedingung dann jedoch auf eine unerwartete Weise: Die Perinthier, die in den angesetzten Zweikämpfen siegreich sind – denn zwei von drei Siegen müssen wohl den Gesamtsieg bedeuten –,

B. II HOMONYMIE

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stimmen als typisches Siegeslied einen Paian an. Der im Refrain des Chorliedes wiederholte Ausruf (ἰὲ ὢ) ἰὲ Παιάν gemahnt lautlich durch große Ähnlichkeit an den Anruf der Paionier als Παίονες. Obwohl die Perinthier weder der Intention noch dem ganz exakten Wortlaut nach die Paionier herbeirufen, d. h. obwohl sie ihren Namen nicht bewusst aussprechen, wie die Pythia suggeriert hatte (ἐπικαλέσωνται σφέας οἱ Περίνθιοι ὀνομαστὶ βώσαντες, 5,1), erkennen die Paionier, dass es sich um den richtigen Moment für den Angriff handelt und überrumpeln die – anderenfalls, wie durch den Zweikampf zu Schau gestellt, wohl überlegenen – Perinthier in ihrem Siegestaumel. Das Wort ὄνομα ist von dem Orakel somit im weiteren Sinne gebraucht und bezeichnet eine Lautfolge, welche der des Namens der Paionier sehr stark ähnelt. βοᾶν, das zwar durchaus auch vom Ansprechen einer Person gebraucht sein kann (Pind. P. 6,36; Eur. Med. 205; Hdt. 8,92), häufig aber von bloßen Lautäußerungen wie dem Blöken und Brüllen von Tieren verwendet wird, gibt einen kleinen Hinweis auf den Charakter des Ausrufs ἰὲ Παιάν. Der Umstand, dass der Paian Apoll als Orakelgott selbst geweiht ist, verleiht dem Orakel eine besondere Pointe. Der Gott weiß, dass die Perinthier den Paioniern eigentlich überlegen sind und dass sie deshalb einen Paian anstimmen werden. Die einzige realistische Chance der Unterlegenen besteht in einem Überraschungsschlag, wenn sich die Gegner (bereits) in Sicherheit und als Sieger wähnen. In seinem Orakelspruch regt der Gott die Paionier somit an, die einzige Schwäche der Perinthier – ihren Überlegenheitsglauben – auszunutzen. Der Gleichklang mit dem Namen der Bittsteller eröffnet ein vortreffliches Instrument, den Spruch so zu formulieren, dass die richtige Ausführung dennoch in der Verantwortung der Paionier liegt. Die Paionier als Rätsellöser: Der Sinn des Orakels erschließt sich nur situativ gebunden in dem konkreten Zusammenhang mit dem Gesang der Perinthier. Ein vorweggenommenes hypothetisches Verständnis ist unmöglich, da das Bezugssystem „Gesang“ im Orakel selbst nicht angedeutet wird. In der betreffenden Situation erweisen sich die Paionier als exzellente Rätsellöser. Zunächst befolgen sie die Anweisungen des Orakels tatsächlich akribisch, das verboten hatte, einen Angriff zu beginnen, bevor die Paionier „gerufen“ würden (ἢν δὲ μὴ ἐπιβώσωνται, μὴ ἐπιχειρέειν, 5,1). Dieses Vertrauen in das Orakel ist im Angesichte des drohenden Sieges der Feinde im Zweikampf, der unbesonnenere Kämpfer auch zu einem Präventivschlag veranlasst haben könnte, sicher nicht ohne Verdienst. Schließlich erkennen sie in dem Gesang ihrer Feinde, der ihnen eigentlich schon die Hoffnung auf eine Erfüllung des Orakelspruchs genommen haben müsste, das angedeutete Zeichen und gelangen so – als verdienter Lohn für ihren Umgang mit dem rätselhaften Orakel – zum Sieg.

356

B Paraphrasierende Rätsel

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG B. III. 1 Buchstabenrätsel B. III. 1.1 Explizit metasprachlich B. III. 1.1.1 Rein metasprachlich 1 Rätsel vom (σ)ῦς AP App. VII 68, Cougny; Basil. Megalomit. 31, Anecd. Gr. III, p. 447 Boiss.; S 319 Ἔχω τρία γράμματα, καί τι τυγχάνω. Ἑνὸς στεροῦμαι· ταὐτὸ τυγχάνω πάλιν. Οὐκ ἔστι καινόν; Ἄλλο τι κρεῖττον μάθε· τὴν ἐσχατιὰν τῶν τριῶν μου γραμμάτων ἔχω κατ’ ἀρχὰς, τὴν μέσην ἔχω μέσην, καὶ τὴν κατ’ ἀρχὴν ἀντὶ τοῦ τέλους φέρω. Ich habe drei Buchstaben und bin etwas. Büße ich den ersten ein, das Gleiche bin ich wiederum. Ist das nicht außergewöhnlich? Aber lerne etwas noch Beeindruckenderes: Von den drei Buchstaben, die ich habe, habe ich einen außen am Anfang, in der Mitte habe ich die Mitte und am Ende habe ich wieder den vom Anfang.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein Buchstabenrätsel vom Schwein, dessen besondere Pointe darin besteht, dass die beiden einander ähnlichen, paraphonen Begriffe σῦς und ὗς beide als Synonyme das Schwein bezeichnen. v. 1 beschreibt einerseits die Länge des gesuchten Begriffs und weist andererseits darauf hin, dass es sich bei dem gesuchten Objekt um ein Lebewesen handelt (τι τυγχάνω). vv. 2–3 umschreiben den kuriosen Umstand, dass der Begriff, der das gesuchte Objekt bezeichnet, es auch noch bezeichnet, wenn es seinen Anfangsbuchstaben verliert, dass es also zwei nur durch den Anfangsbuchstaben unterschiedene Synonyme gibt. In den vv. 4–6 wird dann zusätzlich die Kuriosität beschrieben, dass bei dem ohnehin schon kurzen (Ausgangs-)Wort Anfangs- und Endbuchstabe identisch sind. Das Rätsel funktioniert also nach der Form: xyz = yz; mit x = z → xyz = xyx = yx.

ergibt sich

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

357

Die Beschreibung aus der Ich-Perspektive enthält ausschließlich metasprachliche Hinweise, keine inhaltlichen. Dass es sich bei dem gesuchten Objekt beispielsweise um ein Tier handelt, wird nicht verraten. Der Rezipient muss eine Lösung finden, die auf der begrifflichen Ebene die Vorgaben erfüllt. Die Tatsache, dass das Schwein in einer ganzen Reihe von (Buchstaben)Rätseln vorkommt, erleichtert dem geübten Rätsellöser die Antwort womöglich. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ähnlichen Buchstabenrätsel zum Schwein AP App. VII 55. 56. 59. 70; AP XIV 105. 106.

2 Rätsel vom nicht Sprechen AP XIV 22, Beckby; S 311 Μὴ λέγε, καὶ λέξεις ἐμὸν οὔνομα. δεῖ δέ σε λέξαι; ὧδε πάλιν (μέγα θαῦμα) λέγων ἐμὸν οὔνομα λέξεις. Sprich nicht und du sprichst meinen Namen. Ist es aber nötig, dass du sprichst, so sprichst du wieder (welch ein Wunder) auch beim Sprechen meinen Namen.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Das Rätsel beruht auf einem Spiel mit den Verben μὴ λέγειν und λέγειν, welches die paradoxe Vorstellung erzeugt, dass jemand zugleich sprechen und nicht sprechen kann; vgl. den Einschub μέγα ταῦμα (v. 2), der das Kuriositätsempfinden in dieser Sache bezeugt. Das Rätselobjekt beschreibt sich selbst aus der IchPerspektive. Die wesentliche Schwierigkeit besteht darin, dass μή einerseits als Negation, andererseits als „Eigenname“ verwendet wird, ohne dass aber natürlich angezeigt würde, welche der beiden Bedeutungen gerade jeweils gewählt ist, oder ob gar beide Bedeutungen sich gleichzeitig überlagern. v. 1a: Das erste Wort des Rätsels, μή, nennt sogleich die Lösung (nicht). a) Spricht jemand das Wort μή aus, dann nennt er die Lösung des Rätsels. Der unbedarfte Hörer wird aber sehr wahrscheinlich zunächst dieses μή als Negation des folgenden Imperativs λέγε auffassen, der dann in Widerspruch zu dem wiederum folgenden affirmativen λέξεις gerät. b) Wenn andererseits jemand tatsächlich nicht spricht, liegt in seinem Schweigen auch ein gewisses „nicht“, insofern Schweigen das Fehlen von Reden ist. v. 1b–2: Der zweite Teil des Rätsels greift den Imperativ vom Anfang wieder auf. Die Formulierung δεῖ δέ ... suggeriert fälschlicherweise, dass μή im ersten Teil tatsächlich die Rolle einer auf λέγε bezogenen Negation übernommen hat,

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B Paraphrasierende Rätsel

wozu λέξαι nun das positive Pendant darstellt. Tatsächlich muss jedoch auch hier μή als Objekt mitgedacht werden, sodass wiederum das Aussprechen des Wortes μή gemeint ist (a). Die konkrete Lösung des Rätsels anzugeben, ist nicht ganz leicht, da sowohl das Wort μή als auch das Schweigen (σιγή) als Abstraktum eine Rolle in der Umschreibung spielen. Verfehlt sind dagegen unzweifelhaft die Versuche, das Rätsel auf οὐδέ (Prévost nach Beckby) bzw. οὐδέν (Welcker) zu deuten, da diese Negationen mit dem Imperativ λέγε keine (unauffällige und erst dadurch zweideutige) Verbindung eingehen könnten. Literatur: Vgl. Rossignol (1834) 563 f. Jacobs (1803) 360. 3 Rätsel vom Namen ΘΗ ΣΕΥΣ Eur. TrGF V.1, frg. 382 Kannicht; zit. Athen. X 454bc; S 245.246 ἐγὼ πέφυκα γραμμάτων μὲν οὐκ ἴδρις, μορφὰς δὲ λέξω καὶ σαφῆ τεκμήρια. κύκλος τις ὡς τόρνοισιν ἐκμετρούμενος, οὗτος δ’ ἔχει σημεῖον ἐν μέσῳ σαφές· τὸ δεύτερον δὲ πρῶτα μὲν γραμμαὶ δύο, ταύτας διείργει δ’ ἐν μέσαις ἄλλη μία· τρίτον δὲ βόστρυχός τις ὣς εἱλιγμένος· τὸ δ’ αὖ τέταρτον ἣ μὲν εἰς ὀρθὸν μία, λοξαὶ δ’ ἐπ’ αὐτῆς τρεῖς κατεστηριγμέναι εἰσίν· τὸ πέμπτον δ’ οὐκ ἐν εὐμαρεῖ φράσαι· γραμμαὶ γάρ εἰσιν ἐκ διεστώτων δύο, αὗται δὲ συντρέχουσιν εἰς μίαν βάσιν· τὸ λοίσθιον δὲ τῷ τρίτῳ προσεμφερές Ich bin der Buchstaben nicht kundig, aber ich werde die Formen beschreiben und deutliche Anhaltpunkte. Ein Kreis, wie mit dem Zirkel bemessen, der hat in der Mitte einen deutlichen Mittelpunkt. Der zweite sind zunächst zwei Striche, die hält ein anderer in der Mitte voneinander getrennt. Als drittes ist da eine hin und her gewundene Locke; Der vierte wiederum ist ein gerader Strich, und drei Querbalken sind daran angebracht. Der fünfte ist nicht leicht zu beschreiben, denn es sind zwei Striche von auseinanderliegenden Punkten, die in einen Fuß zusammenlaufen. Der letzte ist dem dritten gleich.

Form: 13 iambische Trimeter

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

359

Kontext: Euripides lässt einen Hirten auftreten, der nicht lesen kann. Seine Beschreibung der Inschrift ΘΗΣΕΥΣ ähnelt einem Rätsel (und wird von Athen. X 454bc für ein solches gehalten). Erklärung: Weil der Sprecher vv. 1–2 direkt sagt, dass er Buchstaben anhand ihrer Form beschreiben will, liegt die intellektuelle Herausforderung nur darin, die Buchstaben in den Beschreibungen zu erkennen. Es ließe sich hieraus, wenn man den Kontext mit dem Analphabeten als Sprechen verschweigt, leicht ein weit schwereres Rätsel machen, in dem zunächst geraten werden muss, dass es sich um die Beschreibung von Buchstaben handelt (vgl. die metasprachlichen Rätsel, in denen der Rezipient zunächst erkennen muss, dass nach einer sprachlich-formalen Antwort gesucht ist). Erschwert wird das Verständnis der paraphrasierenden Beschreibung nur vv. 3–4 durch die Nennung des Mittelpunktes, der den Zuhörer vielleicht eher in den semantischen Raum geometrischer Figuren verweist, v. 7 wo die Locke durchaus auch gut als Zeta oder Xi (als Minuskel) missverstanden werden kann, und v. 11, wo die γραμμαί nicht wie v. 1 für Buchstaben, sondern für die einzelnen Hasten stehen, sodass die Buchstabenanzahl zunächst unklar bleibt. Der Analphabet als Rätselsteller: Im Kontext der Euripideischen Tragödie tritt mit dem Analphabeten ein ganz untypischer Rätselsteller auf, da der Hirte, der nicht lesen kann, die Antwort zu der Frage, die er mit seiner Beschreibung impliziert, selbst nicht kennt. Seine Intention ist demnach nicht, seine Zuhörer zu prüfen, denn er kann ihre Antwort gar nicht bewerten. Es liegt also keine echte Rätselsituation vor, obwohl sich die Beschreibung ohne Frage als Rätsel eignet. Intertextuelle Verweise: Athen. X 454df ist ein ganz ähnliches Rätsel (8 Verse) von dem Namen ΘΗΣΕΥΣ dem Theodektes zugeschrieben, ebenso Athen. X 454d das entsprechende, aber knapper formulierte und eher an gegenständlichen Ähnlichkeiten orientierte Rätsel (6 Verse), das Agathon zugeschrieben wird. Literatur: Zu den Formen der Buchstaben vgl. Immerwahr (1990) xxii–xxiii. Zum inhaltlichen Kontext, in dem die Beschreibung des Bauern gestanden haben könnte vgl. Hartung (1843) 1,548; Webster (1967) 106 f. Schweighäuser V (1804) 575 f.

360

B Paraphrasierende Rätsel

4 Rätsel vom Namen ΘΗ ΣΕΥΣ Theodektes, TrGF I, 72 F 6 Snell; zit. Athen. X 454df; S 246 γραφῆς ὁ πρῶτος ἦν †μαλακόφθαλμος κύκλος· ἔπειτα δισσοὶ κανόνες ἰσόμετροι πάνυ, τούτους δὲ πλάγιος διαμέτρου συνδεῖ κανών, τρίτον δ’ ἑλικτῷ βοστρύχῳ προσεμφερές. ἔπειτα τριόδους πλάγιος ὣς ἐφαίνετο, πέμπται δ’ ἄνωθεν ἰσόμετροι ῥάβδοι δύο, αὗται δὲ συντείνουσιν εἰς βάσιν μίαν· ἕκτον δ’ ὅπερ καὶ πρόσθεν εἶφ’, ὁ βόστρυχος Der Schrift erster Teil war ein Kreis mit einem sanften Auge; Dann zwei gerade Striche von gleicher Länge, diese aber verbindet eine quer gesetzte Line, der dritte aber ähnelt einer gewundenen Locke. Das nächste sieht aus wie eine dreifache Weggabelung, als fünftes aber zwei gleichlange Striche von oben, die zusammenlaufen in ein Podest; der sechste aber ist wie der zuvor genannte, die Locke.

Form: 8 iambische Trimeter Erklärung: In welchem Kontext die Umschreibung der Buchstaben durch einen Bauern bei Theodektes konkret gestanden haben mag, ist unklar. Athen. X 454de scheint anzudeuten, dass die Umstände, also der Analphabetismus des Mannes dem Publikum jedoch bekannt ist; vgl. ebenso in den Varianten des Rätsels bei Euripides (TrGF V.1, frg. 381 Kannicht) und Agathon (Telephos, TrGF I, 39 F 4 Snell; Athen. X 454d), in denen der Zusammenhang ähnlich offen dargelegt ist. Intertextuelle Verweise: Athen. X 454bc ist ein ganz ähnliches Rätsel (13 Verse) von dem Namen ΘΗΣΕΥΣ dem Euripides (Eur. TrGF V.1, frg. 382 Kannicht) zugeschrieben, ebenso Athen. X 454d das entsprechende, aber knapper formulierte und eher an gegenständlichen Ähnlichkeiten orientierte Rätsel (6 Verse), das Agathon zugeschrieben wird. Es ließe sich hieraus, wenn man den Kontext mit dem Analphabeten als Sprechen verschweigt, leicht ein weit schwereres Rätsel machen, in dem zunächst geraten werden muss, dass es sich um die Beschreibung von Buchstaben handelt (vgl. die metasprachlichen Rätsel, in denen der Rezipient zunächst erkennen muss, dass nach einer sprachlich-formalen Antwort gesucht ist). Erschwert wird das Verständnis der paraphrasierenden Beschreibung nur v. 1 durch die Verschiebung des Subjekts vom Kreis auf den Mittelpunkt (umschrieben als μαλακόφθαλμος) sowie v. 4 und v. 8, wo die Locke durchaus auch als Zeta oder Xi (in Minuskelschrift) missverstanden werden kann.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

361

Literatur: Zu den Formen der Buchstaben vgl. Immerwahr (1990) xxii–xxiii. Schweighäuser V (1804) 576.

5 Rätsel vom Namen ΘΗ ΣΕΥΣ Agathon, TrGF I, 39 F 4 Snell; zit. Athen. X 454d; S 245 γραφῆς ὁ πρῶτος ἦν μεσόμφαλος κύκλος· ὀρθοί τε κανόνες ἐζυγωμένοι δύο, Σκυθικῷ τε τόξῳ ‹τὸ› τρίτον ἦν προσεμφερές· ἔπειτα τριόδους πλάγιος ἦν προσκείμενος· ἐφ’ ἑνός τε κανόνος ἦσαν {ἐζυγωμένοι} ‹–×–› δύο· ὅπερ δὲ τὸ τρίτον, ἦν {καὶ} τελευταῖον πάλιν. Der Schrift erster Teil war ein Kreis mit einem Nabel in der Mitte; gerade Striche dann zwei, die verbunden sind, dem Skythenbogen war der dritte Teil ganz ähnlich; dann lag ein seitwärts gekippter Dreizack dabei; auf einem Strich waren zwei verbundene [Striche]; was aber das dritte war, war wiederum auch das letzte.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Dass es sich um die Beschreibung von Buchstaben (einer Inschrift) handelt, expliziert der unmittelbare Anfang: Die ungelenke Beschreibung γραφῆς ὁ πρῶτος für den ersten Buchstaben unterstreicht den ungebildeten Charakter der beschreibenden Person, die nicht einmal die Einheiten der Schrift als Buchstaben kennt. Es ließe sich hieraus, wenn man den Kontext mit dem Analphabeten als Sprecher verschweigt, leicht ein weit schwereres Rätsel machen, in dem zunächst geraten werden muss, dass es sich um die Beschreibung von Buchstaben handelt (vgl. die metasprachlichen Rätsel, in denen der Rezipient zunächst erkennen muss, dass nach einer sprachlich-formalen Antwort gesucht ist). Die Beschreibung der Buchstaben ähnelt sehr derjenigen in dem entsprechenden Rätsel des Theodektes (TrGF I, 72 F 6 Snell), ist aber knapper und, insbesondere im Vergleich mit der Variante bei Euripides (TrGF V.2, frg. 382 Kannicht), stärker an gegenständlichen Ähnlichkeiten orientiert. Auch dies unterstreicht, dass der Schreibprozess dem Analphabeten unbekannt ist. Snells Urteil, die Formulierung des jüngeren Dramatikers sei „primitiver“, greift bei Berücksichtigung dieser vollkommenen Authentizität der dem „illiteraten Tölpel“ in den Mund gelegten Worte also zu kurz.

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B Paraphrasierende Rätsel

Intertextuelle Verweise: Athen. X 454df ist ein ganz ähnliches Rätsel (8 Verse) von dem Namen ΘΗΣΕΥΣ dem Theodektes (TrGF I, 72 F 6 Snell) zugeschrieben, ebenso Athen. X 454bc das entsprechende, aber viel ausführlicher formulierte Rätsel (13 Verse), das Euripides (TrGF V.1, frg. 382 Kannicht) zugeschrieben wird. Literatur: Vgl. Snell (1971) 155 f., Anm. 4 für Agathon als Imitator des entsprechenden Rätsels bei Euripides (TrGF V.1, frg. 382 Kannicht). Schweighäuser V (1804) 576. 6 Rätselepigramm vom Namen ΘΡΑΣΥΜΑΧΟΣ Neoptolemos von Parion, FGrH 702 F 1 Jacoby; zit. Athen. X 454f Νεοπτόλεμος δὲ ὁ Παριανὸς ἐν τῶι Περὶ ἐπιγραμμάτων ἐν Χαλκηδόνι φησὶν ἐπὶ τοῦ Θρασυμάχου τοῦ σοφιστοῦ μνήματος ἐπιγεγράφθαι τόδε τὸ ἐπίγραμμα· Τοὔνομα θῆτα ῥῶ ἄλφα σὰν ὖ μῦ ἄλφα χεῖ οὖ σάν· πατρὶς Χαλκηδών· ἡ δὲ τέχνη σοφίη. Neoptolemos aus Parion berichtet in seinem Werk über Inschriften, dass auf dem Grabstein des Sophisten Thrasymachos in Chalkedon folgendes Epigramm geschrieben steht: Mein Name: Theta, Rho, Alpha, San, Ypsilon, My, Alpha, Chi, Omikron, San, mein Heimatland war Chalkedon; mein Beruf die Weisheit.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Athenaios führt die Inschrift als Beispiel für einen γρίφος ἐν μέτρῳ (bei ihm nicht explizit so bezeichnet) an. Die Buchstaben des zu (re-)konstruierenden Namens sind nicht wie in den Rätseln vom Namen ΘΗΣΕΥΣ (Eur. TrGF V.1, frg. 382 Kannicht; Theodektes, TrGF I, 72 F 6 Snell; Agathon, TrGF I, 39 F 4 Snell) umschrieben, sondern explizit mit ihrem jeweiligen Namen benannt. Daraus ergibt sich ohne große Mühe, aber doch mit mehr Aufwand, als wenn der Name direkt dastünde, der Name selbst. In Verbindung mit der genannten Heimat und dem Berufsfeld lässt sich (mehr oder weniger zielsicher) auf den Thrasymachos schließen, der an Ort und Stelle begraben ist. Literatur: Schweighäuser V (1804) 577 f.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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B. III. 1.1.2 Metasprachlich mit psephischen Angaben 1 Buchstabenrätsel vom ΘΕΟΣ ΣΩΤΗΡ AP App. VII 25, Cougny Ἐννέα γράμματ’ ἔχω· τετρασύλλαβός εἰμι· νόει με. Αἱ τρεῖς αἱ πρῶται δύο γράμματ’ ἔχουσιν ἑκάστη, ἡ λοιπὴ δὲ τὰ λοιπὰ, καὶ εἰσὶν ἄφωνα δὲ πέντε. Τοῦ παντὸς δ’ ἀριθμοῦ ἑκατοντάδες εἰσὶ δὶς ὀκτὼ, καὶ τρεῖς τρὶς δεκάδες, σύν γ’ ἑπτά. Γνοὺς δὲ τίς εἰμι, οὐκ ἀμύητος ἔσῃ τῆς παρ’ ἐμοὶ σοφίης. Neun Buchstaben enthalte ich; ich bestehe aus vier Silben; Erkenne mich. Die drei ersten haben jeweils zwei Buchstaben Und die übrige die übrigen, und es gibt fünf Konsonanten. Der ganzen Zahl aber Hunderter sind zweimal acht, und dreimal drei Zehner mit sieben. Wenn du weißt, wer ich bin, wirst du kein nicht Eingeweihter im Bezug auf die Weisheit sein, die bei mir ist.

Form: 5 Hexameter + 1 Pentameter Erklärung: Inhaltliche Hinweise zur Lösung enthält das Buchstabenrätsel, das psephische Anteile hat und als sibyllinisches Orakel überliefert ist, kaum. Vielmehr werden die Worte ΘΕΟΣ ΣΩΤΗΡ aus der Ich-Perspektive fast ausschließlich metasprachlich – durch ihre Buchstaben – umschrieben, und zwar auf eine Art, die das Erraten der korrekten Lösung beinahe unmöglich macht. v. 1 verkündet die Anzahl der Buchstaben und Silben und ruft den Rezipienten zusätzlich direkt zu einem Lösungsversuch auf (νόει με). vv. 2–3a klären die Aufteilung der neun Buchstaben auf die vier Silben (2 + 2 + 2 + 3, also ΘΕ – ΟΣ – ΣΩ – ΤΗΡ) und v. 3b gibt die Anzahl der Konsonanten auf 5 an. Diese Hinweise helfen kaum bei der aktiven Rätsellösung. Sie können eher, ist einmal eine als passend erscheinende Antwort gefunden, zur Überprüfung ihrer Richtigkeit dienen. vv. 4– 5a benennen den psephischen Wert der Worte auf 1697 (2 × 8 × 10 + 3 × 3 × 10 + 7 = 1697). Auch diese Beschreibung hilft nicht, eine mögliche Lösung aktiv zu konstruieren, da nicht die psephischen Werte der einzelnen Buchstaben nacheinander aufgezählt sind, sondern der Gesamtwert der Worte nach Hundertern, Zehnern und Einern beschrieben wird. Addiert man zur Überprüfung der von Canter (1571) vorgeschlagenen Lösung ΘΕΟΣ ΣΩΤΗΡ die Werte der einzelnen Buchstaben auf, ergibt sich folgendes Bild:

364 Θ Ε Ο Σ Σ Ω Τ Η Ρ

B Paraphrasierende Rätsel

+ + + + + + + + =

9 5 70 200 200 800 300 8 100 1692

Die Beschreibung des Zahlwertes und der tatsächliche Zahlwert des Wortes stimmen also nicht überein. Die kleine Abweichung um fünf, lässt sich korrigieren, wenn man v. 5 anstelle von σὺν γ’ ἑπτά σὺν δίσσοις oder σὺν τοῖς δυσί liest; vgl. hierzu Alexandre (21869) 344. Die vv. 5b–6 enthalten den Hinweis darauf, dass derjenige, der das Rätsel zu lösen vermag, sehr weise, ja geradezu ein Eingeweihter sein muss, und betonen so einerseits die Schwierigkeit des Rätsels und weisen andererseits indirekt auf den göttlichen Kontext des Rätselobjekts hin. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche psephische Buchstabenrätsel von Ἰησοῦς, AP App. VII 26. B. III. 1.1.3 Metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung B. III. 1.1.3.1 Ein Rätselobjekt 1 Buchstabenrätsel von der καρίς Aulikalamos 3, Anecd. Gr. III, p. 453 f. Boiss. Ἐνάλιον πέφυκα μικρόν τι ζῷον Ἂν γοῦν ἐξέλῃς τῶν γραμμάτων τὸ πρῶτον, Εὔχρηστον εὑρήσεις με ταῖς ξυλουργίαις· Εἰ δ’ αὖ καὶ τὸ δεύτερον προσαφαιρήσεις, Εὔχρηστον εὑρήσεις με τῶν βροτῶν μέλος. Εἰ δὲ καὶ τρίτον τὴν ἐμὴν κάραν τέμῃς, Εὕρῃς χρησιμεύοντα πᾶσιν ἀνθρώποις. Ich bin ein kleines Meerestier, wenn du den ersten meiner Buchstaben ausstößt, wirst du mich als nützliches Werkzeug für die Zimmermannskünste finden; wenn du auch den zweiten noch tilgst, wirst du mich als nützlichen Körperteil der Menschen finden. Wenn du auch mein drittes Haupt fortnimmst, magst du mich wohl als etwas finden, was allen Menschen nützlich ist.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Form: 7 byzantinische Senare Erklärung: Es handelt sich um ein typisches vierstufiges Buchstabenrätsel aus der IchPerspektive, in dem die Begriffe der einzelnen Rätselobjekte jeweils durch Reduktion um den Anfangsbuchstaben des vorigen Begriffs entstehen. Zusätzlich enthält das Rätsel einzelne inhaltliche Beschreibungselemente. So ist etwa in ἐνάλιον ζῷον bereits im Eingangsvers die Lösungskategorie für die erste Antwort direkt angegeben. v. 1: Die καρίς umschreibt sich selbst anhand dreier echter Hinweise durch eine unvollständige Paraphrase: 1. Meeres- (ἐνάλιον) 2. klein (μικρόν) 3. Lebewesen (ζῷον). Damit ist der semantische Raum, aus dem die Lösung stammt hinreichend begrenzt. Neben der Krabbe ließen sich allerdings auch andere Tiere wir das Seepferdchen, kleine Fische, Muscheln o.Ä. als Lösung vermuten. Entscheidend ist, dass das weitere Rätsel nur mit καρίς als erstem Begriff lösbar wird. Es folgen drei Verspaare, in denen der erste Vers jeweils die Reduktion um den Anfangsbuchstaben ansagt und der zweite eine unvollständige inhaltliche Umschreibung des neuen Objekts enthält. vv. 2–3: Als semantischer Lösungsraum sind die Werkzeuge eines Zimmermanns (εὔχρηστον [ἐν] ταῖς ξυλουργίαις) angegeben. Tatsächlich bezeichnet die ἄρις einen gewissen Bogenbohrer, der zum Bohren nicht nur von Holz, sondern sogar von Metall eingesetzt werden konnte. vv. 4–5: Als semantischer Lösungsraum sind die (nützlichen) Körperteile des Menschen angegeben, d. h. wohl insbesondere solche, die eine unmittelbar erkennbare Funktion haben. Obwohl sich hierbei der Gedanke an die Hände bzw. Arme und Beine im Allgemeinen aufdrängt, erfüllt auch die ῥίς die gestellten Forderungen. vv. 6–7: Schließlich wird nur die allgemeine Nützlichkeit (χρησιμεύοντα) als Hinweis auf das letzte Lösungsobjekt, die Kraft ἴς als positives Abstraktum, gegeben. Die Formulierung, die hier die Tilgung des letzten Anfangsbuchstabens ankündigt ([…] κάραν τέμῃς), wäre ohne die ausdrückliche Nennung der γράματα als κάραι in v. 2 durchaus missverständlich. Irreführend wirkt u. U. die Konstanz der für die Rätselobjekte zwei, drei und vier postulierten Nützlichkeit, die von bestimmten Werkzeugen bzw. Funktionen zur größtmöglichen Allgemeinheit hin ausgedehnt wird (εὔχρησθον, v. 3. 5; χρησιμεύοντα, v. 7).

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B Paraphrasierende Rätsel

Intertextuelle Verweise: Vgl. AP App. VII 54 = Basil. Megalomit. 11 mit einem Rätsel, das dieselben vier Lösungsobjekte hat, diese jedoch durch inhaltlich abweichende Beschreibungen andeutet.

2 Buchstabenrätsel um den Namen Sarapis AP App. VII 21, Cougny Ἑπτά με φωνήεντα θεὸν μέγαν ἄφθιτον αἰνεῖ γράμματα, τὸν πάντων ἀκάματον πατέρα· εἰμὶ δ’ ἐγὼ πάντων χέλυς ἄφθιτος, ἢ τὰ λυρώδη ἡρμοσάμην δίνης οὐρανίοιο μέλη. Mich preisen sieben klingende Buchstaben einen großen, unvergänglichen Gott, den nimmer müden Vater aller; Ich aber bin die unvergängliche Lyra aller, die ich die lyrischen Glieder der Himmelsbewegungen zusammenfüge.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel, in dem die formalen Strukturen eines Buchstabenrätsels mit inhaltlichen Beschreibungen verknüpft sind. Die einzige metasprachliche Angabe findet sich in v. 1, wo die Zahl sieben als Anzahl der Buchstaben des zu erratenden Begriffes genannt wird. vv. 1–2 enthalten die typische (und wenig spezifische) Umschreibung eines Hauptgottes durch die Attribute μέγας, ἄφθιτος und ἀκάματος. In den vv. 3–4 wird dann der Zusammenhang Musik – Komposition – Kosmologie eingeführt, der Gott als kosmischer Lyraspieler bezeichnet, was offenbar der ägyptischen Göttervorstellung entspricht. Dabei steht die Schildkröte mit ihrem Panzer metaphorisch für die Lyra als Instrument, welches daraus hergestellt wird; vgl. hierzu z. B. AP XIV 30 das Rätsel von Widder und Schildkröte und Hom. h. 4 für die Geschichte ihrer Erfindung durch Hermes. Die Siebenzahl der zu erratenden Buchstaben korreliert überdies in auffälliger Weise mit den sieben Saiten der Lyra, was allein schon Anlass zu einer entsprechenden Verrätselung gewesen sein könnte. Auf diese Analogie ist, soweit ich sehe, bislang jedoch nicht hingewiesen worden. Intertextuelle Verweise: Hesych. s. v. Ἑπτὰ γράμματον· τὸ ὀργίλον καὶ σκληρὸν καὶ Σάραπιν. Demetr. eloc. 2,71: Ἐν Αἰγύπτῳ δὲ καὶ τοὺς θεοὺς ὑμνοῦσι διὰ τῶν ἐπτὰ φωνηέντων οἱ ἱερεῖς, ἐφεξῆς ἠχοῦντες αὐτά, […] – In Ägypten besingen die

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Priester die Götter in Hymnen durch die sieben Vokale, indem sie sie der Reihenfolge nach aussprechen. Literatur: Jablonski (1750–1753) 56. 3 Buchstabenrätsel vom Bären AP XI 231, Beckby Θηρίον εἶ παρὰ γράμμα καὶ ἄνθρωπος διὰ γράμμα· ἄξιος εἶ πολλῶν, ὧν παρὰ γράμμα γράφῃ. Ein wildes Tier bist du ohne Buchstaben und Mensch nur durch den Buchstaben; würdig bist du vieler solcher, die ohne den Buchstaben geschrieben sind.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein beleidigendes Spottepigramm, dessen Adressat nicht namentlich genannt ist. Nach Beckby handelt es sich um denselben Marcus, der auch in dem vergleichbaren Buchstabenrätsel AP IX 230 angesprochen ist. v. 1: Von dem Namen Μάρκος ausgehend, ergibt sich durch Tilgung des ersten Buchstabens ἄρκος als Nebenform von ἄρκτος. Der auf diese Weise entstandene Bär lässt sich rechtmäßig als θηρίον bezeichnen. Die spöttische Formulierung scheint nun absichtlich darauf hinzuweisen, dass zwischen der Person Μάρκος und dem Bären nur ein winziger Unterschied, nämlich ein einzelner Buchstabe, liegt. Μάρκος selbst wird damit in das Licht eines grausamen, skrupellosen, vielleicht auch stumpfsinnigen und uneinsichtigen (wilden) Tiers gerückt. v. 2: Was zunächst schmeichelhaft klingen mag, nämlich dass der Angesprochene vieles wert (ἄξιος πολλῶν) ist, verkehrt sich hier ins Gegenteil: Dass er nämlich viele Bären wert ist, muss nach Beckby ein subtiler Hinweis darauf sein, dass Μάρκος vielen Bären vorgeworfen, d. h. von ihnen zerfleischt werden soll. Intertextuelle Verweise: Vgl. auch das Buchstabenrätsel AP XI 230, das sich offenbar mit einer vergleichbaren Intention an denselben Marcus als Adressaten richtet. B. III. 1.1.3.2 Zwei Rätselobjekte 1 Rätsel von (ὄ)νυξ AP XIV 35, Beckby; Psellos 6, Anecd. Gr. III, p. 431 Boiss.; S 328 Ἀνθρώπου μέλος εἰμί, ὃ καὶ τέμνει με σίδηρος· γράμματος αἰρομένου δύεται ἠέλιος.

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B Paraphrasierende Rätsel

Ich bin ein Körperteil des Menschen, und es schneidet mich das Eisen; Wenn du mir einen Buchstaben nimmst, geht die Sonne unter.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Die inhaltlichen Hinweise auf die beiden Rätselobjekte sind denen in AP App. VII 53 identisch: Wo dort μέρος σώματος steht, heißt es hier ἀνθρώπου μέλος (durch μέλος vielleicht noch irreführender, da es noch dezidierter die großen Körperteile bzw. Extremitäten bezeichnet); die Beschneidung durch das Eisen ist ebenfalls erwähnt (minimal abgeschwächt durch das Fehlen von λίαν); ebenso die Tilgung des Wortanfangs (wobei hier exakter als in AP App. VII 35 direkt auf den einzelnen Buchstaben verwiesen wird); weniger irreführend als in AP App. VII 35 ist hier schließlich die Sonne das handelnde Subjekt, das aktiv untergeht, die Ich-Perspektive des Rätselobjekts wird aufgelöst, sodass die Nacht beginnen kann. Die beiden Rätselvarianten sind sich sehr ähnlich. AP XIV 35 scheint geradezu eine Paraphrase des ausführlicheren AP App. VII 53 zu sein. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ausführlichere Rätsel AP App. VII 53, das inhaltlich identisch ebenfalls von ὄνυξ und νύξ handelt.

2 Rätsel von σ(κ)άνδαλον AP XIV 46, Beckby Γράμματος ἀρνυμένου πληγὴν ποδὸς οὔνομα τεύχει ἡμέτερον· πταίειν δὲ βροτῶν πόδας οὔποτ’ ἐάσει. Gewinne ich einen Buchstaben hinzu, wird mein Name ein Anstoß für den Fuß; sonst aber lasse ich niemals die Füße der Menschen Anstoß nehmen.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Dass es sich um ein Buchstabenrätsel handelt, geht für den Rezipienten eindeutig aus der Nennung des γράμματος hervor. Aus der Ich-Perspektive beschreibt sich das Rätselobjekt, die Sandale (σάνδαλον), selbst anhand ihrer Funktion (Schutz für die Füße, v. 2). Der Hinweis, der hier zuerst gegeben wird, betrifft allerdings nicht die Eigenschaften des Rätselobjekts als Objekt, sondern seine Bezeichnung σάνδαλον. Wird hier ein Buchstabe hinzugefügt – dass es sich um ein Kappa handelt, muss der Rezipient selbst herausfinden – verändert sich das Wort zu σκάνδαλον, was im engeren Wortsinne tatsächlich eine Schlinge oder

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Falle, also etwas, worüber man stolpert, bezeichnet. Mit diesem Gegensatz zwischen „Anstoß geben“ und „Anstoß vermeiden“, der geradezu als Paradoxon erscheint, spielt das Rätsel. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis dadurch, dass der zusätzliche Buchstabe nicht am Wortanfang, sondern an einer beliebigen Stelle im Wort einzufügen ist.

3 Rätsel von (μ)ῆλον AP App. VII 62, Cougny; Basil. Megalomit. 19, Anecd. Gr. III, p. 443 f. Boiss.; S 322 Καρπῶν ἁπάντων ἡδύτατόν τι πέλω, ἕνα τόνον φέρον τε συλλαβὰς δύο· ἐρωτικῶς δ’ ἔχουσι φιλοῦμαι πλέον. Ἀλλὰ τὸ πρῶτον ἀφελὼν τῶν γραμμάτων, εὕρῃς με δυσφόρητον σιδήρου γένος, πεπηγμένον τάχιστα καὶ πλῆττον ἄκρως. Aller Früchte süßeste bin ich, ich trage einen Akzent und zwei Silben; Von denen, die von Liebe erfasst sind, werde ich besonders geschätzt. Lässt man aber meinen ersten Buchstaben weg, wirst du mich finden als eine Art des Eisens, schwierig in der Erduldung, die schnell irgendwo angeheftet wird und vorzüglich etwas anderes durchstößt.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Der Apfel (μῆλον) beschreibt sich als Rätselobjekt selbst aus der Ich-Perspektive in den vv. 1–3. Er gilt bei den Griechen, die nach Olck (1958) 2704 nur wenige Apfelsorten, darunter aber besonders die sog. Süßäpfel γλυκύμαλα (Sapph. frg. 105a Lobel/Page; Kall. h. 6,28) und μελίμηλα kannten, offenbar als besonders süße Frucht, und ist (in Verbindung mit der Quitte) als Liebesfrucht bekannt (Olck (1958) 2704); vgl. ferner Anecd. Gr. III, p. 443,7 Boiss. Seine Bezeichnung ferner ist eine zweisilbige (μῆ – λον). Dass es sich um ein Buchstabenrätsel handelt, wird in v. 4 deutlich, als von der Streichung des ersten Buchstabens die Rede ist. vv. 5–6 beschreiben sodann den Nagel (ἧλος) durch sein Material (Eisen) und seine Funktion (Anheften durch Durchstoßen). Ein gewisser inhaltlicher Gegensatz zwischen süßer Liebesfrucht und hartem, unbeugsamem Eisen mag das Verständnis zusätzlich erschweren. Insbesondere aber ist die Komposition des Rätsels nicht ganz exakt, das von dem neutralen μῆλον auf den maskulinen ἧλος wechselt. Nicht nur muss

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B Paraphrasierende Rätsel

hier zusätzlich die Behauchung des Eta mitgedacht, sondern auch noch die Endung von -ον auf -ος geändert werden. Amüsanterweise bezeichnet das alternative ἦλον ausgerechnet die Pflaume bzw. Aprikose, also neben μῆλον ein zweites Obst. 4 Rätsel von (α)ἴξ AP App. VII 52, Cougny; Basil. Megalomit. 9, Anecd. Gr. III, p. 440 Boiss.; S 316 Ζῶον μέν εἰμι τετράπουν κερῶν δίχα· ἐν εἰρίοις πέφυκα πεπυκασμένον. Πρώτου δέ μου γράμματος ἐκλελοιπότος, μιᾷ συλλαβῇ καὶ τόνοις ἐν τοῖς ἴσοις κλῆσιν ἀπεχθοῦς εἰσφέρω ζωϋφίου. Ich bin ein Tier mit vier Füßen und zwei Hörnern: Ich bin von Natur aus gehüllt in Wolle. Wenn man meinen Anfangsbuchstaben weglässt, bringe ich in einer Silbe mit demselben Akzent den Namen eines verhassten kleinen Tierchens.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel, in dem inhaltlich beschreibende Elemente mit der formalen Struktur eines Buchstabenrätsels verbunden sind. Die Ziege (αἴξ) als erstes Rätselobjekt ist vergleichsweise ausführlich – wenn auch natürlich nicht erschöpfend – beschrieben. v. 1a nennt zunächst die Kategorie „Tier“ als semantischen Raum, in dem die Lösung zu finden ist, bevor vv. 1b–2 das Aussehen der Ziege anhand der auffälligsten Merkmale (Vierfüßler, gehörnt, mit Wolle) zusammenfassen. v. 3 leitet mit der Anweisung, den ersten Buchstaben der Bezeichnung des ersten Rätselobjekts zu tilgen, zur ἴξ, einem wurmartigen Ungeziefer, das Weinpflanzen zerfrisst, über. Die Beschreibung in v. 4 unterstützt den Rateprozess insofern, als dass sie verdeutlicht, dass die Bezeichnung beider Rätselobjekte ein kurzes (ein-, höchstens zweisilbiges) Wort ist. In Erstaunen wird ein Rezipient möglicherweise darüber geraten, dass er zwei (grundsätzlich verschiedene) Tiere finden soll, die beinahe denselben Namen tragen; vgl. hierzu auch das Rätsel von der Lausjagd (Herakl. frg. 56 DK). Der Deminutiv ζῳύφιον in v. 6 deutet an, dass es sich bei dem zweiten Rätselobjekt um ein kleines Tier handelt. In Verbindung mit ἀπεχθοῦς lässt sich eventuell die Kategorie „Ungeziefer“ erschließen.

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5 Rätsel von (μ)ῦς AP App. VII 70, Cougny; Basil. Megalomit. 32, Anecd. Gr. III, p. 447 Boiss.; S 320 Ζῶόν τι μικρόν εἰμι τῶν οὐ βρωσίμων· τρία μόνον γράμματα τῇ κλήσει φέρω· ἂν γοῦν τὸ πρῶτον ἐξέλῃς τῶν γραμμάτων, ζῶον μέγα γνοίης με τῶν ἐδωδίμων. Ich bin ein kleines Tier unter denen, die nicht essbar sind; Drei Buchstaben trage ich im Namen: Wenn du den ersten der Buchstaben weglässt, erkennst du mich als ein großes essbares Tier.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein zweistufiges Buchstabenrätsel, in welches inhaltliche Beschreibungselemente integriert sind. Der Aufbau des Rätsels ist chiastisch: Die vv. 2–3 enthalten die formalen Angaben zu der Anzahl und Auslassung der Buchstaben, die vv. 1 und 4 enthalten inhaltliche Hinweise, welche die Lösung unterstützen. Dabei stehen die Inhalte der Verse in scheinbar direktem Gegensatz zueinander: Während es sich bei der Maus (μῦς) als dem ersten Rätselobjekt um ein kleines Tier handelt, das gewöhnlich nicht verzehrt wird, ist das Schwein (ὗς) als zweites Rätselobjekt ein großes (essbares) Nutztier. Vgl. für diese Pointe, dass zwei sehr unterschiedliche Tiere beinahe denselben Namen tragen auch AP App. VII 52 das Rätsel von Ziege und Wurm ((α)ἴξ) und das Rätsel von der Lausjagd (Herakl. frg. 56 DK). Intertextuelle Verweise: Vgl. ähnliche Buchstabenrätsel zum Schwein AP App. VII 55. 56. 59. 78; AP XIV 105. 106. 6 Rätsel von (κ)άστρον AP App. VII 63, Cougny; Basil. Megalomit. 20, Anecd. Gr. III, p. 444 Boiss.; S 334 Ἐμοῦ στίφη μένοντα τῶν βροτῶν ἔσω φρουρῷ μαχησμῶν, φυλάσσω καὶ κινδύνων, ἐν γῇ πεπηγὸς καὶ στερρῶς ἡδρασμένον. Ἀλλὰ παθὸν στέρησιν γράμματος μίαν ἐν τῷ πόλῳ δείκνυμι λαμπρὰν ἰδέαν, καὶ καταφωτίζω δὲ νυκτὸς τὸ σκότος, καλλωπίζον μάλιστα τοῦ πόλου πλάτος. Diejenigen Massen der Menschen, die in mir bleiben, beschütze ich vor Kämpfen und rette sie vor Gefahren, fest mit der Erde verknüpft und von standhaftem Fundament.

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B Paraphrasierende Rätsel

Habe ich aber die Entfernung eines Buchstaben ertragen, zeige ich am Himmel ein glänzendes Bild und erhelle das Dunkel der Nacht, am meisten schmücke ich die Himmelsfläche.

Form: 7 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätselobjekt beschreibt sich selbst aus der Ich-Perspektive. Dass es sich um ein Buchstabenrätsel handelt, wird erst in v. 4 offenbart, wo von der Abtrennung des ersten Buchstabens die Rede ist. So zerfällt das Rätsel in zwei Teile: vv. 1–3 beschreiben Charakter (fest, stark, standhaft) und Funktion (Schutz für Menschen) einer Festung (κάστρον). Mit v. 4 wird das Rätselobjekt von κάστρον auf ἄστρον, den Stern, verschoben, dessen Charakter in den vv. 5–7 umschrieben ist (leuchtet im Dunkeln, erhellt schmückend die Nacht). Eine inhaltliche Beziehung zwischen den beiden Abschnitten gibt es nicht. Ein leichter Gegensatz könnte höchstens aus der Abgeschlossenheit einer Festung im Vergleich zur Offenheit des Himmels entstehen. 7 Rätsel von θηλή AP App. VII 33 bzw. 80, Cougny; Aulikalamos 2, Anecd. Gr. III, p. 453 Boiss.; S 335 Σὺ, τετράγραμμον, συλλαβὰς δύο φέρον δηλοῖς καθαρῶς τὴν γυναικείαν φύσιν· ἂν ἄκρα δύο τῶν γραμμάτων ἐξέλῃς, ἐν σοὶ καλεῖται τοῦ Θεοῦ κλῆσις μία. 1 φέρεις δύο AP App. VII 80

3 συνεξέλῃς AP App. VII 80

Du, aus vier Buchstaben bestehend und vier Silben bildend, du zeigst deutlich die weibliche Natur an: Wenn man die äußersten zwei Buchstaben abtrennt, wird in dir eine Benennung des Gottes genannt.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel verbindet die formalen Beschreibungen eines Buchstabenrätsels mit inhaltlichen Hinweisen. Es besteht aus zwei Teilen, d. h. zwei Rätselobjekte, deren Bezeichnungen sich auseinander ergeben, müssen geraten werden. v. 1 umschreibt die äußere Form der Bezeichnung des ursprünglichen Rätselobjekts, benennt die Anzahl seiner Buchstaben (4) und Silben (2). Diese Information dient dem Rezipienten dazu, den Pool der sich aus der inhaltlichen Beschreibung in v. 2 ergebenden Lösungsmöglichkeiten einzugrenzen. Gesucht ist ein Kennzeichen der Weiblichkeit. Im Ausschlussverfahren (durch Ausscheidung

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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aller denkbaren Merkmale, die keine zweisilbige Bezeichnung mit vier Buchstaben haben) kann der Rezipient so auf die weibliche Brust (θηλή) schließen. Diese Vermutung lässt sich anhand des zweiten Verspaars überprüfen. v. 3 fordert die Tilgung des Anfangs- und Endbuchstabens (das ist mit ἄκρα δύο nicht ganz ausdrücklich gesagt; der Rezipient muss erkennen, dass nicht die ersten beiden Buchstaben gemeint sind), v. 4 erklärt, dass die auf diese Weise entstehende Bezeichnung der Name eines Gottes ist. Für Ἧλ bzw. Ἦλ als hebräischen Gottesnamen vgl. Miller (1848) 49 mit Anm. 5 bzw. Anecd. Gr. III, p. 453 Boiss. Vgl. außerdem die alternativen Lösungsvorschläge γονή und θῆλυ bei Boissonade. Dabei erscheint γονή, das bei Auslassung der Anfangs- und Endbuchstaben zu ὄν, dem Seienden, würde, weniger geeignet, da sie eher (1) den Vorgang der Geburt als die gebärende Person (Mutter) oder (2) das Resultat (Kind) bezeichnet, vgl. Soph. Oid. K. 1294, Eur. Phoen. 355, Theoc. 17,44, als Bezeichnung der Nachkommenschaft bei Hom. Il. 24,539. Od. 4,755, Eur. Med. 1136, allerdings durchaus auch zur Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsorgans bzw. der Gebärmutter bei Eur. Phoen. 1597. Die Mutterbrust (oder Brustwarze) θηλή scheint weiterhin als Substantiv passender als (τὸ) θῆλυ, das bestenfalls „Weiblichkeit“ oder „Frau“ bedeuten kann, also weniger ein Zeichen der Weiblichkeit, sondern vielmehr synonym zu γυναικείαν φύσιν ist.

B. III. 1.1.3.3 Objektkette 1 Buchstabenrätsel vom Fuß AP XIV 105, Beckby; S 368 Εἰμὶ χαμαίζηλον ζῴων μέλος· ἢν δ’ ἀφέλῃς μου γράμμα μόνον, κεφαλῆς γίνομαι ἄλλο μέρος· ἢν δ’ ἕτερον, ζῷον πάλιν ἔσσομαι· ἢν δὲ καὶ ἄλλο, οὐ μόνον εὑρήσεις, ἀλλὰ διηκόσια. Ich bin ein erdsuchendes Glied der Tiere; wenn du mir aber einen Buchstaben nimmst, werde ich ein anderer Teil vom Kopf; noch einen weiteren aber und ich werde wieder ein Tier sein; und wenn du noch einen nimmst, wirst du nicht mehr nur einen finden, sondern zweihundert.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Das gängige dreistufige Buchstabenrätsel um die Objekte ποῦς, οὖς und ὗς ist hier um ein viertes Element, die Zahl 200, für die das Sigma steht, erweitert, ähnelt ansonsten aber den anderen Buchstabenrätseln dieser Art stark.

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B Paraphrasierende Rätsel

vv. 1–2 umschreiben die Rätselobjekte Fuß und Ohr, beziehen sich dabei jedoch anders als die übrigen Rätsel dieser Art nicht ausdrücklich auf den Menschen, sondern allgemeiner auf die ζῷα, die sogar im Gegensatz zum Menschen als Tiere verstanden werden können. Der von vergleichbaren Rätseln her bereits bekannte Gegensatz zwischen unten und oben ist auch hier aufgegriffen, jedoch konkret-exemplarischer (χαμαίζηλον, κεφαλῆς) benannt. v. 3a umschreibt das Schwein als gängiges drittes Rätselobjekt, betont hier allerding den Gegensatz zwischen dem ganzen Tier und seinen zuvor umschriebenen Gliedern stärker. vv. 3b–4 umschreibt die Zahl 200 (διηκόσια) als viertes Rätselobjekt und bedient sich dabei des Gegensatzes zwischen der Einheit der zuvor beschriebenen Objekte und der Vielzahl. Dieses letzte Objekt zu erschließen, ist für einen Rezipienten mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden. Einerseits suggeriert die Formulierung, μόνον und διηκόσια könnten sich auf dasselbe Objekt, also das zuvor umschriebene Schwein, beziehen. Obwohl mit διηκόσια das letzte Objekt also wörtlich genannt ist, fällt es einem Rezipienten womöglich schwer zu erkennen, dass hier andererseits kein Gegenstand oder Lebewesen zu raten ist, sondern dass die Zahl als metasprachliches Abstraktum verschleiert wird. Zusätzlich muss darauf geschlossen werden, dass im letzten Schritt des Rätsels der Buchstabe (also letztlich das Wort) nicht länger als sprachliches Zeichen, sondern als Zahl aufzufassen ist. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlichen Buchstabenrätsel AP App. VII 53. 55. 56. 59. 68. 70; AP XIV 106.

2 Buchstabenrätsel von der Krabbe AP App. VII 54, Cougny; Basil. Megalomit. 11, Anecd. Gr. III, p. 441 Boiss.; S 321 Θάλασσαν οἰκῶ, καὶ βροτοῖς βρῶσις πέλω. Ἂν δ’ ἀφέλῃς μου τὸ κατ’ ἀρχὰς στοιχεῖον, δόκιμον εὑρήσεις με ταῖς τεχνουργίαις. Εἰ γοῦν ἀφαιρησείας καὶ μετὰ τόδε τὸ δεύτερον, νόει με βρότειον μέλος Εἰ δ’ αὖ τὸ τρίτον ἐξέλῃς τῶν γραμμάτων, ἴδῃς φέρον με ῥώσεως σημασίαν. Ich bewohne das Meer und bin den Menschen Nahrung. Wenn du mir das Element, das ich am Anfang habe, wegnimmst, findest du mich als in den Künsten erprobt. Wenn du danach auch noch ein zweites entfernst, erkenne mich als menschliches Glied.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Wenn du wiederum auch den dritten meiner Buchstaben aussonderst, wirst du mich sehen, wie ich das Zeichen der Stärke trage.

Form: 7 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein vierstufiges Buchstabenrätsel, das von der Krabbe (καρίς) über ein architektonisches Werkzeug (ἀρίς) und die Nase (ῥίς) bis hin zur Kraft (ἴς) führt. v. 1 beschreibt die Krabbe im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur Kategorie „essbares Meerestier“. Eher als an einen Krebs dürfte ein Rezipient daher wohl zunächst an einen Fisch denken. Die weiteren Beschreibungen führen jedoch nur zu einer sinnvollen Lösung, wenn hier von dem Begriff καρίς ausgegangen wird. v. 2 fordert die Tilgung des Anfangsbuchstabens, nennt diesen etwas allgemeiner στοιχεῖον, so noch einmal v. 4, v. 6 allerdings nennt ausdrücklich die Buchstaben als Bezugsgröße und verschafft so Eindeutigkeit. v. 3 beschreibt das zweite Rätselobjekt anhand seiner Funktion bzw. Anwendung. Die ἀρίς ist laut Hesych. s. v. ἀρίδες ein architektonisches Werkzeug, dem rechtmäßig das Attribut δόκιμον ταῖς τεχνουργίαις zugeschrieben wird. Diese Attribuierung konstruiert einen starken Kontrast zu den zuvor genannten stummen Meerestieren, der für einen Rezipienten zur Irritation führen kann. vv. 4–5 enthalten die Umschreibung der Nase als drittem Rätselobjekt. Die Nennung eines menschlichen Körperteils steht in einem scheinbaren Widerspruch dazu, dass das erste Rätselobjekt noch als βροτοῖς βρῶσις beschrieben war. vv. 6–7 beschreiben die Kurzform ἴς für ῥῶσις deutlich (sogar mit expliziter Nennung der ῥῶσις). Intertextuelle Verweise: Vgl. Aulikalamos 3, Anecd. Gr. III, p. 453 f. Boiss. mit einem Rätsel, das dieselben vier Lösungsobjekte hat, diese jedoch durch inhaltlich abweichende Beschreibungen andeutet.

3 Buchstabenrätsel vom Fuß AP App. VII 55, Cougny; Basil. Megalomit. 12, Anecd. Gr. III, p. 441 f. Boiss.; S 333 Κατώτερον μέν εἰμι τῶν ὅλων μέρος· ἀνώτερον δὲ γίνομαι πάλιν ὅλων, πρώτου γράμματος ἀφαιρεθέντος μόνου. Τοῦ δευτέρου δὲ πάλιν ἐκβεβλημένου, κλῆσιν παρευθὺς λαμβάνω τετραπόδου. Ich bin ein Glied, tiefer als alle anderen Glieder; höher als alle anderen dagegen wiederum sitze ich,

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B Paraphrasierende Rätsel

wenn nur mein erster Buchstabe entfernt wird. Wenn man auch den zweiten abtrennt, nehme ich plötzlich den Namen eines Vierfüßlers an.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, bei dem allerdings keine Angaben über die Gesamtanzahl der Buchstaben oder Silben gemacht wird. v. 1 umschreibt inhaltlich das erste Rätselobjekt. Es handelt sich um ein μέρος, wobei nicht explizit gesagt ist, dass es sich um ein menschliches Körperglied handelt. Durch den Superlativ κατώτερον wird zusätzlich ein Hinweis auf die Position des Gliedes am Körper gegeben: Der Fuß (ποῦς) sitzt ganz unten. vv. 2–3 bauen einen direkten Gegensatz zu dieser Beschreibung auf: Bei minimaler Veränderung der Bezeichnung des ersten Objekts, d. h. durch Tilgung des Anfangsbuchstabens, geschieht etwas rätseltypisch Kurioses: Einerseits wird weiterhin ein Körperteil bezeichnet, andererseits sitzt das zweite Glied nun ganz oben am Körper. Dieses Kriterium erfüllt das Ohr (οὖς) hinreichend, wenngleich man über das Gewicht des Superlativs in diesem Fall streiten kann (schließlich ist der Kopf selbst eigentlich noch weiter oben). vv. 4–5 spielen mit dem bisher Gesagten durch die Erwähnung des τετραπόδης. Dieser gibt einerseits die Kategorie für das letzte Rätselobjekt, das Schwein (ὗς), an. Andererseits ist der Begriff, für den leicht auch ein ζῷον o.ä. hätte stehen können und der so pointiert auf den anfangs umschriebenen Fuß anspielt, zweifellos absichtlich gewählt, um von dem Fuß hinauf zum Ohr und wieder hinab zum Ausgang zu führen. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlichen Buchstabenrätsel AP App. VII 56. 59. 68. 70; AP XIV 105. 106.

4 Buchstabenrätsel vom Fuß AP XIV 106, Beckby; S 331 Τέσσαρα γράμματ’ ἔχων ἀνύω τρίβον· ἢν δὲ τὸ πρῶτον γράμμ’ ἀφέλῃς, ἀίω· καὶ τὸ μετ’ αὐτὸ πάλιν, βορβόρῳ εὑρήσεις ἐμὲ φίλτατον· ἢν δὲ τὸ λοῖσθον αἴρῃς, εὑρήσεις εἰσέτι ῥῆμα τόπου. Wenn ich drei Buchstaben habe, dann gehe ich; wenn du aber den ersten Buchstaben abtrennst, höre ich; und wenn auch noch den nächsten, wirst du mich als schmutzliebendes Tier finden; wenn aber den letzten du mir nimmst, wirst du mich weiterhin finden als Bezeichnung des Ortes.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Das gängige dreistufige Buchstabenrätsel um die Objekte ποῦς, οὖς und ὗς ist hier um ein viertes Element, das Pronomen ποῦ, erweitert. vv. 1–2a umschreiben Fuß (ποῦς) und Ohr (οὖς), ohne dabei jedoch wie in vergleichbaren Rätseln üblich die (menschlichen) Körperteile als Lösungskategorie zu benennen. Vielmehr werden die beiden Glieder anhand ihrer Funktion (ἀνύω τρίβον, ἀίω) inhaltlich umschrieben. vv. 2b–3a umschreibt das Schwein (ὗς), ohne jedoch das Tier als Lösungskategorie zu nennen, indem eine seiner Eigenschaften/Verhaltensweisen, seine Vorliebe für Schlamm bzw. die Suhle, genannt wird. vv. 3b–4 geht erneut von der vollständigen Bezeichnung des ersten Rätselobjekts aus, ohne jedoch die Vollständigkeit ausdrücklich vorauszusetzen (ein Rezipient könnte also auch fälschlicherweise von ὗς auf ὗ schließen). Mit ῥήμα τόπου ist das Pronomen ποῦ umschrieben, welches sowohl die Frage nach dem Ort (wo?) als auch die unbestimmte Ortsangabe (irgendwo) auszudrücken vermag. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlichen Buchstabenrätsel AP App. VII 53. 55. 56. 59. 68. 70; AP XIV 105.

5 Buchstabenrätsel vom Eros Basil. Megalomit. 25, Anecd. Gr. III, p. 445 Boiss. Οὐκ ἔστιν οὐδὲν τῶν ἐν τῷ κόσμῳ ζώων, Ὅ μὴ συνέσχον καὶ κατέσχον καιρίως, Καίων, τιτρώσκων, δίχα πυρὸς καὶ τόξου. Πλὴν ἀλλὰ παθὼν γράμματος ἄρσιν μίαν, Ἔνθος δυσμικὸν γίνομαι δοῦλον πάλιν· Αὖθις ἄλλου δὲ γράμματος αἱρουμένου, Βροτῶν μέλος γίνομαι. Πῶς; τοῦτο λέγε. Es gibt kein Lebewesen im Universum, das nicht zur rechten Zeit mitmachte und teilnähme, brennend, verletzend – zweifach, durch Feuer und Bogen. Außer mir geschieht eine Buchstabenabtrennung, dann bin ich wiederum ein westliches Sklavenvolk; und wenn ich noch eines zweiten Buchstabens beraubt werde, bin ich ein Körperteil der Menschen. Wie? Das sag’ du.

Form: 7 iambische Trimeter

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B Paraphrasierende Rätsel

Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, in dem sich die drei Rätselobjekte als auktoriale Erzähler selbst inhaltlich (unvollständig) umschreiben. vv. 1–3: Ἔρως beschreibt sich selbst gleichsam als mächtigsten Gott – an ihm haben alle (irgendwann) als Liebende oder Geliebte Anteil (σύνεσχον bzw. κάτεσχον), niemand kann sich der Macht der Liebe entziehen. v. 3 verweist auf den ambivalenten Charakter der Liebe, die durchaus, als unglückliche Liebe, auch große Schmerzen verursachen kann; vgl. das geflügelte Wort des servitium amoris. Die Partizipien sind auf Eros bezogen und weisen einerseits auf das sprichwörtliche Feuer der Liebe hin (καίων … πῦρ), andererseits auf den Bogen des Eros, der als sein charakteristischstes Attribut zu gelten hat (τιτρώσκων ... τόξον). vv. 4–5: Bei Abtrennung des Anfangsbuchstabens ergibt sich aus Ἔρως ῥώς. Angegeben ist als grundlegende Lösungskategorie der δοῦλος, also ein individueller Sklave oder ein Angehöriger eines sklavischen Volksstammes. Ergänzt ist die Angabe durch die geographische Einordnung in den Westen (δυσμικός). Anecd. Gr. III, p. 432 Boiss. zu dem ganz ähnlichen Rätsel Psellos 9 Boiss. meint, obwohl es das Wort ῥώς im klassischen Griechisch nicht zu geben scheint (vgl. nur LSJ Suppl. 271 s. v., wo dem Wort die – hier ganz unpassende Bedeutung – „Stärke“ (ῥῶσις) beigelegt ist) und obwohl Russland nicht im Westen (δυσμικός), sondern, von Griechenland aus betrachtet, im Nord-Osten liegt, damit sei der Russe gemeint. vv.6–7a: Als semantische Lösungskategorie für das dritte Rätselobjekt sind die menschlichen Körperteile (βροτῶν μέλος) festgesetzt, zu denen in der Tat auch das Ohr (οὖς) gehört. Die ungewöhnliche Schreibweise ὦς für οὖς, die sich zunächst direkt aus ῥώς ergibt, erschwert den Lösungsprozess. v. 7b: Mit πῶς; τοῦτο λέγε steht am Schluss des Rätsels die direkte Lösungsaufforderung an den Rezipienten, die dazu anhält, die Zusammenhänge der einzelnen Rätselobjekte zu erklären (πῶς). Intertextuelle Verweise: Vgl. das ebenfalls dreistufige Buchstabenrätsel von Ἔρως, ῥώς und ὦς bzw. οὖς in AP App. VII 36 = Psellos 9 Boiss., dessen inhaltliche Umschreibungselemente von dem hier vorliegenden Rätsel z. T. abweichen, insgesamt jedoch große Ähnlichkeiten aufweisen. 6 Buchstabenrätsel vom Propheten Amos AP App. VII 39, Cougny; Psellos 12, Anecd. Gr. III, p. 433 Boiss.; S 338 Εἷς τοῦ χοροῦ πέφυκα τῶν θεοπρόπων. Δισυλλαβῶν δὲ γραμμάτων τετρακτύϊ

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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τὴν πῆξιν ἔσχον· ἂν δὲ τὴν κάραν τέμῃς, νηφάλιον θήσεις με τοῖς βροτοῖς πόμα, καὶ σωματικῶν ῥυπτικὸν μολυσμάτων. Διχῆ δὲ διελών με καὶ τεμὼν μέσον, μέρος μὲν τοῦ σώματος αὐτίκα νόει. Ἀντιστρόφως δὲ τὴν ἀνάγνωσιν δράσας, ἐναντίον θήσεις με τοῖς ἀσωμάτοις. Ich bin einer aus dem Chor der Propheten Gottes. Ich bestehe aus zwei Silben und habe einen Aufbau aus vier Buchstaben: Wenn du aber das Haupt abtrennst, formst du mich zu einem nüchternen Trank für die Menschen, der geeignet ist, körperliche Unreinheiten abzuwaschen. Wenn du mich in der Mitte in zwei Teile teilst, entdecke dort sogleich einen Teil des Körpers. Wenn du mich von hinten liest, machst du mich zum Gegensatz der Körperlosen.

Form: 9 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel verbindet die formalen Strukturen eines Buchstabenrätsels mit inhaltlichen Hinweisen zur Auffindung des Rätselobjekts, welches sich aus der Ich-Perspektive selbst beschreibt. v. 1 legt die Kategorie des gesuchten Objekts (vergleichsweise genau) fest: Das gesuchte Rätselobjekt ist einer der zwölf göttlichen Propheten. Damit ist die Lösung auf die 12 Namen Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi eingegrenzt. v. 2 beschreibt die äußere Form des Namens und grenzt die Lösungsmöglichkeit so weiter ein, nur die zweisilbigen Namen mit vier Buchstaben bleiben noch übrig, also Joel, Amos, Jona und Micha. vv. 3–5 beschreiben nun ein modifiziertes zweites Rätselobjekt und bringen dadurch bereits die endgültige Auflösung: Bei Tilgung des ersten Buchstabens ergibt nur Ἀμώς, der dann zu μῶς wird, welches wiederum für ὕδωρ steht, vgl. Philo. Iudaeus, de vita Mosis p. 605b τὸ γὰρ ὕδωρ μῶς ὀνομάζουσιν Αἰγύπτιοι, mit dem Wasser etwas, das der Mensch trinken kann (v. 4) und was Schmutz abwäscht (v. 5). Die beiden folgenden Beschreibungselemente sind zur Lösung also streng genommen nicht nötig, doch sie lassen sich ebenfalls nach der begonnenen Struktur erklären: vv. 6–7 beschreiben ein drittes Rätselobjekt, das ein menschlicher Körperteil sein soll. Teilt man, wie vorgegeben (v. 6) das Wort Ἀμώς in der Mitte, so erhält man in der zweiten Hälfte ὦς, dessen gebräuchlichere Schreibung οὖς es als das Ohr ausweist. Ungewöhnlich ist die Beschreibung von der Zweiteilung in der Mitte. In der Regel wird nach dem ersten Buchstaben auch der zweite Buchstabe von vorne beginnend einzeln abgetrennt. Die Teilung in der „Mitte“ lässt zunächst eine ungerade Buchstabenzahl erwarten, sodass in der

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B Paraphrasierende Rätsel

„Mitte“ einer zurückbleibt, der für das gesuchte Objekt steht. Es ist jedenfalls nicht eindeutig, dass die zweite Hälfte nach der Teilung für sich betrachtet werden soll (schließlich wäre die erste Hälfte ebenso möglich). Zudem ist zunächst nicht ohne Zweifel, ob das ursprüngliche Wort, also Ἀμώς, geteilt werden soll, oder ob sich diese Anweisung auf den neu entstandenen zweiten Begriff μῶς bezieht. Da das Rätsel bis zu diesem Teil der Beschreibung aber ohnehin bereits eindeutig gelöst ist, dürften diese Einzelheiten einem Rezipienten keine größeren Schwierigkeiten mehr bereiten. vv. 8–9 beziehen sich erneut auf das ursprüngliche Wort Ἀμώς und verlangen, dass es rückwärts gelesen wird, sodass sich – mit verändertem Akzent – σῶμα, der Körper, ergibt. Der Körper aber ist natürlich der Gegensatz des Körperlosen und auch der Körperlosen, einer Umschreibung für die Engel, die keinen (menschlichen) Körper besitzen.

7 Buchstabenrätsel vom Namen Ἰωάννης AP App. VII 74, Cougny; Basil. Megalomit. 38, Anecd. Gr. III, p. 450 Boiss.; S 336 Ἐξ ἑπτὰ συνέστηκα γραμμάτων (σκόπει) λύχνος φεραυγὴς τοῦ τρισηλίου φάους. Ἂν οὖν ἐν ἀρχῇ καὶ τέλει τῶν γραμμάτων διττὴν δυάδα προσφυῶς ἀποξέσῃς, αὖθις τὸν αὐτὸν ἐννόει με τὴν φύσιν. Καὶ θαῦμα πῶς, μου τῶν ἄκρων τετμημένων, σώζω τὸ σύμπαν ἀβλαβὲς τῆς οὐσίας. Ich bestehe aus sieben Buchstaben (denk nach!), eine Fackel, die Licht spendet aus der dreifachen Sonne des Lichts. Wenn du also am Anfang und am Ende eine doppelte Zweiheit korrekt entfernst, halte mich der Natur nach wieder für den Gleichen. Und welch ein Wunder, wenn du mir die Häupter entfernst, lebe ich und bin in meinem Wesen ganz und gar unversehrt.

Form: 7 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein dreiteiliges Buchstabenrätsel, dessen einzelne Rätselobjekte jeweils eng aufeinander bezogen sind. v. 1 benennt die Anzahl der Buchstaben des Lösungswortes auf sieben und fordert den Rezipienten direkt zu einem Lösungsversuch auf. v. 2 enthält eine metaphorische Umschreibung des Evangelisten: Als Evangelist trägt er das Licht der dreifaltigen Gottes-Sonne wie eine daran entzündete Fackel in die Welt. Durch die Abtrennung der zwei ersten und letzten Buchstaben des Namens (vv. 3–5) bleibt, ähnlich wie in AP App. VII 43 ἄνν- zurück, das wohl verkürzt für den weiblichen Namen Ἄννα stehen soll. v. 5 postuliert

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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nun, dass dieses zweite Rätselobjekt mit dem ersten identisch oder doch eng vergleichbar ist. Dieses scheinbare Paradoxon lösen die Hinweise in vv. 6–7: Der Retter aller Unschuld ist die χάρις, die auch in AP App. VII 43 eine ähnliche Rolle spielte. Nicht nur Ἰωάννης, sondern auch Ἄννα stehen im Hebräischen für diesen Begriff, der die beiden so unterschiedlichen Namen auf diese Weise zu einer Einheit verbindet; vgl. hierzu Anecd. Gr. III, p. 12 Boiss. mit Verweisen zu den hier zugrunde liegenden religiösen Zusammenhängen. Im Bezug auf dieses Synonym bleibt der zu Ἄννα verwandelte Ἰωάννης also ganz unverändert (vv. 6 f.). Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche Buchstabenrätsel von Ἰωάννης, AP App. VII 43. 8 Buchstabenrätsel von der Missgunst AP App. VII 47, Cougny; Basil. Megalomit. 1, Anecd. Gr. III, p. 437 Boiss.; S 313 Φυτοσπόρος τις τῶν κακῶν τῶν ἐν βίῳ ἐγὼ τὰ πάντα συλλαβὼν περιφέρω. Ζητεῖς δὲ μαθεῖν καὶ τίνα κλῆσιν φέρω; Μήτηρ ἐμὴ μὲν συλλαβῶν δυὰς μία· διπλῆ δὲ φωτίζει με τριὰς γραμμάτων. Καὶ πρῶτον ἕν μου, δεύτερον, γράμμα ξέσας, πανευφυῶς εὕρῃς με χεῖρα θανάτου· καὶ δεύτερον δὲ καὶ τὸ πρῶτόν μου πάλιν, ζῶον βροτοῖς χρήσιμον εὕρῃς τετράπουν. Als Urheber der Übel, die es im Leben gibt, trage ich diese alle zusammen herum. Du aber suchst auch zu erfahren, welchen Namen ich trage? Meine Mutter hat eine (meiner) zwei Silben; Die doppelte Dreiheit der Buchstaben aber zeigt mich deutlich. Und wenn du als ersten meinen zweiten Buchstaben wegstreichst, findest du mich gemäß meiner Natur als Hand des Todes; und wenn du wiederum als zweiten auch den ersten von mir nimmst, findest du ein vierfüßiges Tier, das den Menschen nützt.

Form: 9 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, dessen Objekte sich aus der Ich-Perspektive beschreiben. vv. 1–2: Das erste Rätselobjekt, der Neid (φθόνος), umschreibt sich inhaltlich als Urheber aller Übel. Da Neid zu Zwist, Rache usw. führt, bezieht sich die Beschreibung durchaus auf eine der Haupteigenschaften des gesuchten Objekts, wenngleich die Angabe zunächst wenig konkret erscheint. Denkbar wären auch andere negative Gemütszustände wie Hass, Angst o. ä.

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B Paraphrasierende Rätsel

vv. 3–5: In ausgesprochen komplizierter, und für ein Buchstabenrätsel durchaus ungewöhnlicher Form, wird hier die Bezeichnung (κλῆσις, v. 3) des gesuchten Objekts umschrieben. v. 5 benennt die Anzahl der Buchstaben auf sechs (2 × 3). v. 4 hingegen enthält einen verschlüsselten inhaltlichen Hinweis. Zu raten ist nun zusätzlich die Mutter (μήτερ, v. 4) des gesuchten Objekts. Diese familiäre Beziehung ist natürlich im übertragenen Sinne aufzufassen (Verwandtschaftsrätsel), da es sich um Abstrakta als Lösungsobjekte handelt. Doch selbst unter dieser Voraussetzung ist es nicht leicht, den Ursprung von etwas zu finden, das selbst als etwas Ursprüngliches (φυτοσπόρος, v. 1), nämlich als Anfang aller Übel, gilt. Als Hilfsmechanismus wird die Bezeichnung jener Mutter in Relation zu der Bezeichnung des ersten Rätselobjekts (φθόνος) beschrieben: Beide Worte stimmen in einer Silbe überein. Cougny (1890) 583 z. St. schlägt die λύπη als die Mutter des φθόνος vor, was sich zwar inhaltlich vertreten lässt, jedoch keine Erklärung für v. 4 liefert. vv. 6–7: Das zweite Rätselobjekt entsteht, wenn man – anstelle wie sonst in vergleichbaren Rätseln üblich – nicht den Anfangsbuchstaben, sondern den zweiten Buchstaben der Bezeichnung φθόνος streicht. Die χείρ θανάτου steht metaphorisch für den Mord, φόνος, der ja seinerseits zum Tode (θάνατος) führt. Hier mag auch mitschwingen, dass ein Mord im übertragenen Sinne immer „mit der Hand“, d. h. willentlich, ausgeführt wird. vv. 8–9: Die Bezeichnung des dritten Rätselobjekts ergibt sich, wenn nach dem zweiten nun auch der erste Buchstabe der ursprünglichen Bezeichnung getilgt wird. Aus φόνος wird somit ὄνος. Die Umschreibung des Esels als vierfüßiges Nutztier ist einerseits ungenau und trifft z. B. auch auf das häufig in Buchstabenrätseln auftretende Schwein zu. Zudem besteht ein gewisser inhaltlicher Gegensatz zwischen der Nützlichkeit des Tieres und all dem Schädlichen, was zuvor umschrieben wurde, der einem Rezipienten Schwierigkeiten dabei, alle Komponenten zusammenzubringen, bereiten kann.

9 Buchstabenrätsel vom einsilbigen Vogel AP App. VII 59, Cougny; Basil. Megalomit. 14, Anecd. Gr. III, p. 442 Boiss.; S 315 Ἔστι τι πτηνὸν μονοσύλλαβον πέλον· κλώνοις κάθηται μονοσυλλάβου δένδρου, καὶ κατεσθίει μονοσύλλαβον θῆρα. Es gibt einen gewissen Vogel, der nur aus einer Silbe besteht. Er sitzt in den Ästen eines Baumes, dessen Name ebenfalls nur aus einer Silbe besteht, und er frisst ein Tier, das ebenfalls nur aus einer Silbe besteht.

Form: 3 byzantinische Senare

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Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, dessen Beschreibung keine inhaltlichen Hinweise auf die drei Rätselobjekte enthält. Anders als in den meisten mehrstufigen Buchstabenrätseln, in denen zwischen den einzelnen Objekten keine inhaltliche Verbindung besteht, müssen dafür in diesem Fall drei direkt aufeinander bezogene Objekte geraten werden. Die besondere Herausforderung dabei liegt darin, dass alle drei Objekte – der (Raub-)Vogel, der Baum (wohl als typischer Nistplatz des betreffenden Vogels) und das Beutetier – jeweils durch einen einsilbigen Begriff bezeichnet werden sollen. So ist die Lösung nicht zwingend eindeutig festgelegt, vgl. die Anmerkungen bei Boiss. z. St., die als Lösung für den einsilbigen Vogel einerseits den Geier (γύψ), andererseits den Greif (γρύψ) führen; auch Thompson (1936) liefert keine Informationen über die beiden Vögel, die eine eindeutige Entscheidung ermöglichen würden. Richtig merkt Boissonade an, dass das Schwein als einsilbiges Beutetier (ὗς) gar nicht von dem Geier gefressen wird. Dass der Geier (ebenso wie der mythologische Greif?) gewöhnlich nicht in der Eiche nistest, braucht hingegen nicht zu stören, bezeichnet δρύς doch auch den Baum ganz im allgemeinen, vgl. Schol. Hom. Il. 11,86, Bd. 3, p. 140 Erbse: δρῦν ἐκάλουν οἱ παλαιοὶ […] πᾶν δένδρον. Als passenderes Beutetier ließe sich die Maus (μῦς), die ebenfalls einsilbig ist, anführen. Der mythologische Greif hingegen scheint nicht in besonderer Verbindung zu dem Schwein zu stehen, könnte aber – seiner körperlichen Beschaffenheit nach – durchaus sein Jäger sein. Literatur: Douglas (1972) 64 f. mit Bezug auf eben dieses Rätsel, der allerdings auf die Problematik mit dem unpassenden Beutetier nicht eingeht. B. III. 1.1.4 Metasprachlich mit psephischen Angaben und unvollständiger Beschreibung 1 Buchstabenrätsel vom Namen ΣΑΡΑΠΙΣ an Alexander den Großen Ps.-Kallisth. 1,33, Müller; O 219 f. Πείραζε δ’, [Ἀλέξανδρε,] τίς πέφυκα συντόμως· Δὶς ἑκατὸν καὶ μίαν ψῆφον συνθὲς, εἶτα [ἑκατὸν καὶ μίαν] καὶ τετράκις εἴκοσι καὶ δέκα, τὸ πρῶτον δὲ λαβὼν γράμμα ποίησεις εἰς ἔσχατον, καὶ τότε νοήσεις τίς ἔφυν θεός. Prüfe aber sogleich, [Alexander,] wer ich bin. Zweimal hundert und eins setze zusammen und ein weiteres Mal hundert und eins und viermal zwanzig und zehn, nimm aber den ersten Buchstaben und setze ihn an den Schluss, dann auch wirst du erkennen, welcher Gott ich bin.

Form: Prosa

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B Paraphrasierende Rätsel

Kontext: Alexander hatte das Orakel des Ammon über den passenden Ort für eine Stadtgründung befragt, und einen hexametrischen Spruch mit geographischen Angaben zur Gründung von Alexandria erhalten: Ὦ βασιλεῦ [Ἀλέξανδρε], σοὶ Φοῖβος ὁ μηλόκερως ἀγορεύει· εἴ γε θέλεις αἰῶσιν ἀκηράτοισι νεάζειν κτίζε πόλιν περίφημον ὑπὲρ Πρωτηίδα νῆσον, ἧς προκάθητ’ Αἰὼν Πλουτώνιος αὐτὸς ἀνάσσων πενταλόφοις κορυφαῖσιν ἀτέρμονα κόσμον ἑλίσσων. (Ps.-Kallisth. 1,31) Oh König, Alexander, dir trägt der widderhörnige Phoibos auf: Wenn du für immer ohne Schaden jung sein willst, gründe eine ruhmreiche Stadt gegenüber der Proteusinsel, deren Herr der thronende Aion Plutonios selbst ist, der dem Berg mit fünf Gipfeln unendlichen Schmuck schenkt.

Auf die Gottheit Sarapis, deren Namen Alexander später erraten muss, ist auch hier offenbar in der Gestalt der als Insel-Herrscher genannten Gottheit Aion Plutonios bereits angespielt; vgl. zu Aion Plutonios als Sarapis Zuntz (1988) 294 f. Als Wohnort des Meeresgottes Proteus galt die kleine Insel Pharos gegenüber von dem ägyptischen Festland. Diese Insel gibt gemäß des Orakelspruchs den ungefähren geographischen Rahmen für die Stadtgründung vor. Alexander findet die Insel offenbar durch Zufall (32). Bevor Alexander seine Stadt gegenüber dieser Insel, d. h. auf dem ägyptischen Festland, gründet, sucht er noch herauszufinden, um welchen Gott es sich bei dem νήσου ἀνάσσων handelt und wo dessen Heiligtum liegt. Er wird durch göttliche Fügung zu einem alten Heiligtum geführt, dessen Zugehörigkeit er jedoch zunächst trotz einer Weihinschrift für Sarapis und einer Statue, die geradezu als ikonographisches Bilderrätsel gelten kann, nicht erkennt. Dass die Zugehörigkeit auch den Anwohnern unbekannt ist, weist darauf hin, dass das Heiligtum nicht leicht zu finden und zu identifizieren ist, dass also gewissermaßen schon darin eine rätselhafte Herausforderung liegt, die Alexander auf die Probe stellt – denn allein durch Nachfragen ist der gesuchte Ort offenbar nicht zu finden. Schließlich erscheint Sarapis Alexander im Traum, verheißt ihm ein glorreiches Schicksal für seine Stadt und offenbart seine Identität in dem vorliegenden psephischen Buchstabenrätsel. Zur Identifikation von Sarapis mit dem im Rätsel genannten Aion Plutonios vgl. Zuntz (1988) 295. Die fünf Gipfel, auf die das Orakel hindeutete, entdeckt Alexander, als er den Bau seiner Stadt gegenüber der Proteus-Insel beginnt; vgl. Zuntz (1988) 294, Anm. 13 zu der Unmöglichkeit einer Lokalisierung der Hügel/Gipfel.

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Erklärung: Dass die genannten Zahlwerte in Buchstaben umzurechnen sind, geht aus dem Traumbild deutlich hervor, welches das γράμμα als Bezugsgröße gegen Ende des Traums explizit nennt. Es ergibt sich somit folgende Rechnung: 2 ⋅ 100 = 200 1 100 1 4 ⋅ 20 = 80 10 2 ⋅ 100 = 200

Σ Α Ρ Α Π Ι Σ

Irreführend ist dabei die Formulierung συνθείς, da offen gelassen wird, ob allein die Multiplikation, oder nicht vielmehr 2 ⋅ 100 + 1 = 201 gemeint ist. Diese Zahl in einen Buchstaben zu übersetzen wäre hingegen unmöglich. Eine zusätzliche Herausforderung für den Rezipienten des Alexanderromans mag in der Schreibung der Zahlwerte als Buchstaben liegen; vgl. etwa in der Edition Müller (1877): 2 ⋅ ρ + α + ρ + 4 ⋅ κ + ι + 2 ⋅ ρ = ρραρκκκκιρρ. Ohne eine Übersetzung der Buchstaben in ihre jeweiligen Zahlwerte, d. h. bei wörtlicher Auffassung des Gesagten, ergibt sich nur die sinnlose Aneinanderreihung der Buchstaben. Alexander hingegen wird der Name im Traum geradezu vorgezählt, d. h. vorbuchstabiert, denn dort gibt es die Dimension der irreführenden Schreibweise ja nicht, sodass eine Fehlinterpretation so gut wie ausgeschlossen ist. Alexander der Große als Rätsellöser: In den Erzählungen der Alexandersage des 1. Jhs. n. Chr. war Alexander der Großen von einem heldenhaften König zu einem babylonischen Zauberer geworden. So ist er in der Darstellung des Ps.-Kallisthenes auch nicht der leibliche Sohn Philipps, sondern der Königin Olympias und des von Ägypten nach Makedonien geflohenen Zauberers Nektenabo. Als auf solche Weise mit Magie Begabter ist Alexander natürlich für die Einsicht in die komplexen Zusammenhänge eines Rätsels in besonderem Maße prädestiniert – ähnlich vielleicht den Sehern, die durch ihre göttliche Inspiration eine ganz besondere Art von Rätseln zu stellen und zu lösen wissen. Dass ein einfaches Buchstabenrätsel wie das hier vorliegende von Alexander korrekt gelöst wird, überrascht deshalb keinesfalls, obwohl er zum Gelingen des Unternehmens weniger durch den aktiven Einsatz seines Intellekts als vielmehr

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B Paraphrasierende Rätsel

durch die göttliche Unterstützung, die er – wiederum aufgrund seiner persönlichen Veranlagung – genießt, beiträgt. Intertextuelle Verweise: Vgl. die Inschrift CIG III 504, nr. 5113 mit dem isopsephischen Rätsel von Sarapis und Isis. Literatur: Ohlert (21912) 220 fasst falsch zusammen, das Buchstabenrätsel sei auf einem der Obelisken eingraviert, die Alexander in dem alten Tempel findet. Vielmehr tragen die Obelisken eine Weihinschrift des ägyptischen Königs Sesonchios an den Weltgott Sarapis. Sarapis erscheint daraufhin Alexander im Traum (!), verheißt Alexandria ein ruhmvolles Schicksal und verschleiert die eigene Identität in dem vorliegenden psephischen Buchstabenrätsel. Vgl. dagegen Malkin (1987) 106–108 zur Sanktion der Gründung Alexandrias durch das Ammon-Orakel, wo richtigerweise betont ist, dass die Anweisungen an Alexander dem König im Traum übermittelt werden. Ausführlich zu Pharos und dem dort erbauten Leuchtturm vgl. Thiersch (1909). Vgl. zu dem Orakel an Alexander insgesamt Zuntz (1988) und bereits Reitzenstein (1921) – mit abweichender Auslegung des Orakels. B. III. 1.2 Verdeckt metasprachlich B. III. 1.2.1 Metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung B. III. 1.2.1.1 Zwei Rätselobjekte 1 Rätsel von Πύρρος AP XIV 20, Beckby Εἰ πυρὸς αἰθομένου μέσσην ἑκατοντάδα θείης, παρθένου εὑρήσεις υἱέα καὶ φονέα. Wenn in die Mitte des lodernden Feuers du hundert hinzusetzt, wirst du der Jungfrau Sohn und Mörder zugleich finden.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Es handelt sich um ein Buchstabenrätsel, das sich auf mythologisches Personal bezieht. v. 1 enthält eine, anders als für Buchstabenrätsel üblich, verschleierte Angabe zur Bezeichnung des gesuchten Objekts: Dass die ἑκατοντάς nicht als auf ein Objekt bezogenes Zahlattribut, sondern absolut, als Zahl, zu verstehen

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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ist und dann „übersetzt“ werden muss in das Buchstaben-Zahlzeichen Rho (ρ = 100), muss ein Rezipient ebenso erkennen wie den Umstand, dass mit der Mitte des Feuers, in die etwas geworfen werden soll, nicht das Feuer als Gegenstand, sondern das Wort πυρός, und zwar in eben dieser im Rätsel wörtlich genannten Genitivform, gemeint ist. Anders als ein oberflächlicher Rezipient glauben mag, soll nichts ins Feuer geworfen und dort verbrannt werden. Vielmehr bezeichnet μέσσην auf einer metasprachlichen Ebene die Mitte des Wortes (nicht der Sache!), sodass ein Rho in die Mitte von πυρός, d. h. vor oder nach dem bereits vorhandenen Rho, eingefügt werden soll. Es ergibt sich auf diese Weise der Name Πυρρός, der den Sohn Achills von Deidameia bezeichnet, der auch als Neoptolemos bekannt ist, vgl. Apollod. 3,13,8. v. 2 enthält nun zwei, scheinbar widersprüchliche, inhaltliche Hinweise auf den Achilles-Sohn. a) Er wird als Sohn einer Jungfrau (παρθένου υἱέα) und damit als solches schon als eine Unmöglichkeit bezeichnet, insofern sich Jungfräulichkeit und (natürliche) Mutterschaft kategorisch ausschließen. Als Jungfrau wird hier auf die von Achill beschlafene Deidameia vielleicht insofern angespielt, als dass der junge Achill von seiner Mutter Thetis, die ihren Sohn nicht in den Trojanischen Krieg hatte schicken wollen, unter den Töchtern des Königs Lykomedes von Skyros, zu denen auch Deidameia zählte, offenbar gerade deshalb versteckt wurde, weil es sich um eine Gruppe von Jungfrauen handelte (κρύψασα ἐσθῆτι γυναικείᾳ ὡς παρθένον Λυκομήδει παρέθετο, Apollod. 3,13,8). Wie der junge Achill – nur als Mädchen verkleidet – keine Jungfrau ist, so ist es Deidameia nicht mehr, nachdem Achill ihr beiwohnte. b) Er wird (zugleich) als Mörder einer Jungfrau bezeichnet. Die Formulierung suggeriert fälschlicherweise, dass es sich um dieselbe Jungfrau handelt, dass also nach einem Muttermörder gesucht wird. Tatsächlich aber wird hier eine weitere mythologische Figur, die trojanische Prinzessin Polyxena, in den Rätselzusammenhang integriert. Achilleus hatte sich im Kampf vor Troja vergeblich in Polyxena verliebt, die der Athena als Priesterin geweiht und dadurch an ihre Jungfräulichkeit gebunden war. Nach dem Fall Trojas erschien der Geist des verstorbenen Achill dessen Sohn Pyrros (bzw. Neoptolemos) und forderte, dass die Griechen ihm das schönste Stück aus ihrer Beute opferten. Als schönstes Beutestück wurde Polyxena auserkoren, die somit – wenn auch nicht zwingend direkt von der Hand des Pyrros – so doch durch sein Zutun den Tod fand; vgl. Paus. 10,26,4; LIMC I, 55. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche, metaphorische Rätsel von πυρ(ρ)ός, AP XIV 21. Literatur: Jacobs (1803) 344.

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B Paraphrasierende Rätsel

2 Rätsel vom (ἀλ)έκτωρ AP App. VII 30, Cougny Ἔλεγχος εἰμὶ τῶν φίλους ἀρνουμένων, βρότους ἐγείρω, πρὸς πόνους παροτρύνω. Τέμνεις κεφαλὴν, ἐκθερίζεις αὐχένα, καὶ γίνομαι παῖς αὐτίκα βασιλέως, ἀνὴρ αὐστηρὸς, ἀκλόνητος ἐν μάχῃ. Ich bin der Tadel an diejenigen, die ihre Freunde verleugnen, ich wecke die Menschen aus dem Schlaf, ich treibe sie zur Arbeit. Wenn du meinen Kopf abschneidest, erhältst du den Nacken, und ich werde augenblicklich zum Sohn des Königs, ein strenger Mann, unbewegt im Kampf.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein Rätsel, in dem inhaltlich beschreibende Elemente mit den formalen Strukturen eines Buchstabenrätsels verbunden sind. In v. 1 ist auf Simon Petrus angespielt, der von dem Schrei eines Hahns an die Vorhersage Jesus’ erinnert wurde, Petrus würde ihn noch in derselben Nacht dreimal verleugnen (Mk 14,27–31. 66–72). v. 2 beschreibt den Hahn im Hinblick auf sein Krähen bei Tagesanbruch. Die vv. 3–5 enthalten eine Umschreibung für Hektor, den Sohn des Königs Priamos (v. 4), der für seine Standhaftigkeit im Kampf bekannt war (v. 5). ἕκτωρ bedeutet geradezu – z. B. als Epitheton von Zeus – „der Standhafte“, „der, der etwas festhält“ (in diesem Sinne vielleicht auch die Assoziation mit dem Nacken, der den Kopf „hält“?). Aus dem Hahn (ἀλέκτωρ) als ersten Rätselobjekt wird in v. 3 in der typischen Manier eines Buchstabenrätsels ein zweites Objekt ( Ἕκτωρ) konstruiert. Dabei ist allerdings nicht ausdrücklich die Rede von Buchstaben, die vom Anfang des Wortes abgetrennt werden, sondern vielmehr steht κεφαλή metaphorisch für πρώτα γράμματα (ἀλ-). Etwas ungewöhnlich ist, dass hier zwei Buchstaben zugleich abgetrennt werden müssen, um die Bezeichnung des zweiten Rätselobjekts zu erhalten, da in der Regel Buchstabe für Buchstabe einzeln getilgt wird. Zusätzlich erzeugt κεφαλή in Verbindung mit αὐχήν (Nacken) die oberflächliche Vorstellung einer Hinrichtung, die unvereinbar mit der weiteren Beschreibung scheint und so das Raten erschwert. Intertextuelle Verweise: Vgl. AP App. VII 66 ein anderes Rätsel vom Hahn. Theogn. 1,861–864 zu Verrat im Kontext des Hahns und zu seiner Funktion als Wecker. 1197–1202 der Hahn als hellsingender Vogel, der die Zeit zum Pflü-

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gen verkündet, d. h. den Tagesanbruch mit seinem Krähen begleitet (ὄρνιθος φωνὴν […] ὀξὺ βοώσης/ ἤκουσ’, ἥτε βροτοῖσ’ ἄγγελος ἦλθ’ ἀρότου/ ὡραίου). Prud. Cath. bes. 1–4. 37–40 Umschreibung des Hahns (in christlicher Konnotation) (1) als Vogel, der bei Tagesanbruch kräht und die Menschen zur Arbeit ruft, (2) als Verkünder des Sieges von Licht (Christus) über das Dunkel: v. 1 der Hahn als Wecker bei Tagesanbruch; v. 2 als Verkünder Christi; vv. 3–4 Tagesanbruch = Tilgung der Sünden → Einladung zur Arbeit = Einladung zum Leben; v. 39 vertreibt der Hahnenschrei Dunkelheit und Sünde; vv. 49–53 Simon Petrus, dem angekündigt war, ein Hahnenschrei würde ihn an die Vorhersage Christi erinnern; vv. 65–72 Auferstehung Christi bei Tagesanbruch (Hahnenschrei) als Symbol für den Sieg des Lebens über den Tod; vv. 97–100 Christus beendet (wie der Hahn) die (ewige) Nacht und führt den Tag herauf. B. III. 1.2.1.2 Objektkette 1 Rätsel vom Honig/Wachs AP App. VII 50, Cougny; S 323 Πτηνόν με γεννᾶ, καὶ βροτὸν μαῖαν φέρω, οὗ πρέσβις οὐράνιος ἄπτιλος πέλω. Ἂν δ’ ἀποτάμῃς τὴν κατ’ ἀρχάς μου κάραν, δάκρυα κινῶ καὶ μόνης ἐκ τῆς θέας· εἰ δ’ ἀφέλῃς μου καὶ κάραν τὴν δευτέραν, ποθητόν εἰμι ναυτίλοις ἐν ταῖς ζάλαις· εἰ δ’ αὖ κεφαλὴν ἀφέλῃς μου καὶ τρίτην, ἔαρ τὸ τερψίθυμον εἰς μέσον φέρω. Εἰ δ’ ἀποκόψεις καὶ τετάρτην μου κάραν, ὕπαρξιν ἐκ ῥήματος καὶ μόνην ἔχω· εἰ δ’ αὖ σὺν αὐταῖς καὶ πέμπτην διατέμῃς, γραμμαὶ συνιστῶσί με τρεῖς. Σοφέ, νόει. Ein Flügeltier zeugt mich und ich habe eine menschliche Amme, wo ich als himmlischer, aber flügelloser Gesandter bin. Wenn du aber meinen Kopf vom Anfang wegschneidest, bewege ich zu Tränen sogar nur durch den Anblick selbst; Wenn du mir auch den zweiten Kopf wegnimmst, bin ich wünschenswert für die Schiffer bei Stürmen; Und wenn du wiederum mir den dritten Kopf abschlägst, bringe ich für alle den Frühling, welcher der Seele gefällt. Und wenn du mir auch den vierten Kopf abtrennst, habe ich die einzige Existenz nur noch vom Wort her; Wenn du aber wiederum mit jenen auch den fünften abtrennst, setzen mich drei Linien zusammen. Kluger, denk nach!

Form: 12 iambische Trimeter

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B Paraphrasierende Rätsel

Erklärung: Es handelt sich um ein sechsstufiges Buchstabenrätsel, das große Ähnlichkeit mit AP App. VII 40 hat und ebenfalls von κηρίον als Rätselobjekt ausgeht. Jeweils zwei der insgesamt zwölf Verse beschreiben einen der zu erratenden Gegenstände. Dass es sich um ein Buchstabenrätsel handelt, geht allerdings aus der Formulierung nicht eindeutig für den Rezipienten hervor. Anstelle von abgetrennten Buchstaben (γραμμαί) – wie in AP App. VII 40 – ist nämlich hier von fünf abgetrennten κάραι, also Häuptern, die Rede. Dass diese metaphorisch für die Buchstaben stehen sollen, weil sie jeweils den Anfang des gesuchten Begriffs bilden, muss der Rezipient erschließen, bevor er mit der eigentlichen Auflösung der einzelnen Objektsbeschreibungen beginnen kann. Es liegt somit gewissermaßen eine Mischform zwischen paraphrasierendem und metaphorischem Rätsel vor. Da jedoch die Lösung der Metapher nicht direkt zur Lösung des Rätsels selbst führt, die Metapher also nicht als Kern-Verrätselungsmechanismus dient, bleibt das Rätsel vornehmlich paraphrasierend und ist entsprechend eingeordnet. vv. 1–2: Es fehlt im Vergleich zu AP App. VII 40 ein Hinweis auf die äußere Struktur des gesuchten Begriffs (Silben o.ä.). Dafür ist das gesuchte Erzeugertier durch seine Flügel (πτηνόν) genauer charakterisiert, wodurch der Schluss auf die Biene vereinfacht wird. v. 1 enthält den Gegensatz zwischen tierischem Erzeuger und menschlicher Amme. Ein zusätzlicher Widerspruch scheint sich in der Verbindung der Eigenschaften himmlisch, aber flügellos, zumal von einem geflügelten Tier abstammend, zu verbergen; vgl. zur himmlischen Abstammung des Honigs Verg. ecl. 4,1 f. Protinus aerii mellis caelestia dona exsequar; ebenso Georges s. v. aerius/a Ia. Das Rätselobjekt ist wie in AP App. VII 40 ebenfalls das κηρίον. Bleiben wir bei dem Verständnis desselben als Honig, so ist die menschliche Amme (v. 1) metaphorisch als Imker zu verstehen, der den Honig der Bienen aus ihren Waben herausschneidet und so bei seiner „Geburt“ mithilft. Wollte man aber wie Schultz (1912), das κηρίον als Wachs verstehen – was schon im Hinblick auf die genannten Erklärungen für den himmlischen Charakter des Produktes, der nur für den Honig gilt, unpassend erscheint – müsste man wohl von einem Schriftsteller ausgehen, der Täfelchen mit Wachs bezieht und darauf dann schreibt. Der himmlische Gesandte (v. 2), d. h. das Produkt, ist nach unserer Auffassung als der Honig zu verstehen. Schultz müsste dann mit einem literarischen, göttlich inspirierten, von den Schriftstellern ins Wachstäfelchen eingeritzten Produkt, also einem Text, rechnen. vv. 3–4: Die Verse beziehen sich ebenso wie in AP App. VII 40 auf das ἠρίον, das Grabmal, doch in diesem Fall wird der Zusammenhang weiter verschleiert, weil in v. 3 nicht explizit von einem gestrichenen Buchstaben, sondern vielmehr von einem abgeschlagenen Kopf (κάρα) die Rede ist. Es entsteht

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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dadurch die Vorstellung, ein Geköpfter errege bei Zuschauern Tränen. Immerhin trifft in dieser wie in jener Lesart der Todes-Kontext zu, der dem Rezipienten das Auffinden des richtigen Begriffs ermöglicht. Vgl. dagegen erneut Schultz (1912) nr. 323, der meint, hier läge das Rätsel von einer Zwiebel vor, die beim Schneiden ja bekanntlich häufig Tränen erzeugt. Wo diese Erklärung inhaltlich plausibel sein mag, lässt sie sich doch lexikalisch nicht erklären (das gängige Wort für Zwiebel ist βολβός oder κρόμμυον). vv. 5–6: Da weiter von einem zweiten (!) abgeschlagenen Kopf die Rede ist, erschwert sich das Verständnis für den Ratenden zusätzlich, da die Formulierungen suggerieren, es sein ein mehrköpfiges (also unnatürliches) Wesen gemeint, das sich durch das sukzessive Abschlagen der Köpfe verändert. Anstelle des Gebirges, als welches ῥίον in AP App. VII 40 beschrieben wird, bezieht sich dieses Rätsel auf die (spätere) Bedeutungskomponente einer Bucht. Diese wird anhand ihrer Funktion für die Schifffahrer (Zuflucht vor Sturm) umschrieben. vv. 7–8: Auf das Veilchen ist im Hinblick auf die Jahreszeit, in der es blüht, nämlich durch den Frühling (ἔαρ) hingedeutet. Die Formulierung εἰς μέσον ist dabei im abstrakten Sinne als „öffentlich“, „für alle“, „deutlich“, nicht im engen räumlichen Sinne aufzufassen. vv. 9–10: Die Silbe –ον wird hier nicht direkt genannt, es spielt die Existenz ὕπαρξις auf ὄν als Partizip von εἶναι an. Besonders pointiert wirkt dies hier, weil dem sich selbst beschreibenden Ich inzwischen der vierte Kopf abgeschlagen wurde, sodass es verständlich scheint, dass sich seine lebendige Existenz dem Ende neigt und es nur mehr als Wort bzw. Silbe Bestand hat. vv. 11–12: Zusätzlich zu der Beschreibung in AP App. VII 40 wird hier die Silbe –ον noch aufgespalten, sodass nur das Ny übrig bleibt. Jenes wird – als zusätzliche Schwierigkeit für den Rezipienten – nun in seiner Form als Majuskel (!) beschrieben. Die Zusammensetzung aus drei γραμμαί deutet erstmals darauf hin, dass hier ein Wort, bzw. nun zu guter Letzt ein Schriftbild, ein geschriebener Buchstabe zu raten ist. Es folgt abschließend eine direkte Lösungsaufforderung an den Rezipienten. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ganz ähnliche Rätsel AP App. VII 50. Literatur: Vgl. zu den Bienen in der Antike allgemein Davies (1986) 47–72. Schultz (1912) 140 führt das Rätsel unter der Nr. 323 und nennt es das Rätsel vom Wachs. Es ist zwar richtig, dass κηρίον sowohl das Wachs als auch den Honig der Bienen bezeichnet und dass beides ein Erzeugnis der Bienen ist (πτηνόν με γεννᾶ), doch warum hier nicht die naheliegende Bedeutung Honig gelten soll, ist mir unbegreiflich; vgl. hierzu AP App. VII 40.

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B Paraphrasierende Rätsel

B. III. 1.2.2 Metasprachlich mit psephischen Angaben und unvollständiger Beschreibung 1 Rätsel von der Seele AP App. VII 78, Cougny; Basil. Megalomit. 43, Anecd. Gr. III, p. 451 f. Boiss.; S 373 Τῶν θηλέων μέν εἰμι· σῆμα δ’ οὐ φέρω μέλος δι’ οὗ τὸ θῆλυ πᾶν γνωρίζεται. Τὰ κοσμικὰ στοιχεῖα μακράν μου πέλει· στοιχεῖα δ’ ἄλλα τέτταρα πρόσεισί μοι. Ποσοῦ τὸ μὲν πρόσεστι· πλῆθος γὰρ φέρω καὶ τῶν ἀτμήτων οὐσιῶν ἀπειρίαν· τὸ πηλίκον δὲ παντελῶς ἀπεστράφην, ὡς μηδὲν οὐδαμοῦ λαβεῖν ἔχειν μέρος· καὶ γὰρ μεριστὴν οὐκ ἔχω τὴν οὐσίαν. Φωνὴν προΐσχω μηδαμῶς ὁρωμένη· ὁρῶ δὲ πάντα, καὶ τὰ πόρρω μου λίαν, ὡς μυθικῶς λέγουσι Λυγκέως χάριν. Κλῆσις δ’ ἀριθμὸν συμποσούμενον φέρει, κύβον τὸν ἐκ δὶς ἓξ, τετραπλῆς πεντάδος ἀφαιρεθείσης ἐξ ὅλων τῶν τοῦ κύβου. Ich bin etwas Weibliches; ein charakteristisches Glied aber trage ich nicht, durch welches irgendetwas Weibliches angedeutet wird. Weltliche Dinge sind mir sehr fern; vier andere Dinge aber gehören zu mir. So viel nämlich gehört zu mir: Ich trage nämlich eine Menge und die Unendlichkeit unsichtbarer Wesen; was ich aber ein bisschen ablehne, das lehne ich zur Gänze ab, weil mir nicht irgendwo einen Teil zu nehmen zukommt, denn ich habe kein Wesen, das geteilt werden kann. Ich bin auf keine Weise sichtbar, bringe aber eine Stimme hervor; ich aber sehe alles und die freilich, die in der Ferne sind, besonders, wie sie in Mythen auch von der Fähigkeit des Lynkeus sagen. Mein Name aber trägt eine zusammengerechnete Zahl, den Würfel aus zweimal sechs, wenn man eine Zahl, die viermal die fünf enthält, von der Summe des Würfels abzieht.

Form: 15 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein Buchstabenrätsel mit isopsephischer Beschreibung des Wortwertes. Die Seele (ψυχή) beschreibt sich als Rätselobjekt aus der Ich-Perspektive. Das ungewöhnlich umfangreiche Rätsel lässt sich inhaltlich grob in die folgenden vier Abschnitte teilen:

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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vv. 1–4: Äußere Form der Bezeichnung. vv. 1–2 beziehen sich auf das feminine Genus der Bezeichnung ἡ ψυχή. Dass diese metasprachlich-grammatikalische Eigenschaft und nicht ein tatsächlich weiblich-geschlechtliches Lebewesen gemeint ist, verdeutlicht die Verneinung eines σῆμα θῆλυ, vgl. hierzu in umgekehrter Form AP App. VII 33. 80, das Rätsel von der Mutterbrust (θηλή). Die vv. 3–4 werden von dem scheinbar paradoxen Gegensatz zwischen στοιχεῖα πέλει (v. 3) und στοιχεῖα πρόσεισί μοι (v. 4) bestimmt. Die στοιχεῖα bezeichnen jedoch in beiden Fällen unterschiedliche Dinge oder Elemente: Während es sich bei den κοσμικὰ στοιχεῖα, den kosmischen (als Synonym für σωματικά?) oder irdisch-körperlichen Dingen, um solche handelt, die der Seele in ihrer Körperlosigkeit fremd sind (vgl. auch vv. 5–9), stehen die στοιχεῖα ἄλλα für elementare sprachliche Einheiten, d. h. Buchstaben (vgl. für diese Bedeutungsnuance Plat. Krat. 424d. 426d; Plat. Tht. 202e; Aristot. poet. 1456b), von denen das Wort ψυχή in der Tat vier besitzt (v. 4). Dass hier generalisierend στοιχεῖα anstelle des konkreteren γράμματα steht, erschwert das Verständnis für einen Rezipienten. vv. 5–9: Die vv. 5–6 lassen sich einerseits inhaltlich auf die große Bedeutung der Seele (und ihrer Inhalte) trotz ihrer Unsichtbarkeit beziehen, gehen aber andererseits womöglich (auch) bereits auf den hohen psephischen Wert des Wortes ψυχή, der vv. 13–15 beschrieben wird. Die vv. 7–9 nehmen dann indirekt das Charakteristikum der Körperlosigkeit wieder auf, indem sie die ganzheitliche Unteilbarkeit der Seinsform betonen. Die vv. 10–12 thematisieren den Gegensatz zwischen der Unsichtbarkeit der Seele als Rätselobjekt und seiner bzw. ihrer hohen Seh- bzw- Wahrnehmungskraft. Als mythologisches Beispiel/ Analogie wird in v. 12 Lynkeus (der Luchsäugige), der Sohn des messenischen Königs Aphareus, der durch Mauern und ins Erdinnere blicken kann (vgl. Apollod. 1,67,111. 3,117,135 f.; Paus. 3,13,1. 3,14,7. 4,2,6 f. 4,3,1), genannt. v. 11 beschreibt direkt, dass das selbst unsichtbare Rätselobjekt alles, auch weit Entferntes, sieht, und bezieht sich damit auf die Wahrnehmungen der Seele als die Perzeptionen eines „inneren“ Auges, die selbstverständlich nicht an räumliche Distanzen gebunden sind; vgl. zu der Formulierung des Verses einerseits das Rätsel vom Licht (AP App. VII 48) und andererseits das Rätsel vom Brief (AP App. VII 7). Ferner bringt v. 10 den scheinbar paradoxen Gegensatz zwischen der Unsichtbarkeit bzw. der Gestaltlosigkeit des Rätselobjekts und seiner Fähigkeit, zu sprechen bzw. den Beseelten zu veranlassen, mit ein. Vgl. für den Gegensatz von materieller Gestaltlosigkeit und deutlich wahrnehmbarem Klang auch das Rätsel vom Brief, wo ein ähnlicher Gedanke über die Buchstaben als Konstituenten des Geschriebenen geäußert wird. Die Schlussverse 13–15 enthalten die psephische Beschreibung des Wortwertes, die sich von dem weithin bekannten Muster, nach dem verschiedene Rechnungen zur Gesamtzahl hin addiert werden, dadurch unterscheidet, dass

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B Paraphrasierende Rätsel

hier eine Subtraktion zu dem korrekten Wert führt. Die Beschreibung der Zahlwerte gibt keinen Aufschluss über die einzelnen Buchstaben: (2 ⋅ 6)3 – (4 ⋅ 5) = 123 – 20 = 1728 – 20 = 1708. Der Zahlwert für ψυχή berechnet sich tatsächlich ebenfalls auf 1708 und weist die Lösung somit als korrekt aus: Ψ Υ Χ Η

700 + 400 + 600 + 8 = 1708

Intertextuelle Verweise: Vgl. das inhaltlich ähnliche Buchstabenrätsel vom Geist (νοῦς), AP App. VII 71.

2 Psephisches Buchstabenrätsel vom Namen Ἀλέξ – ανδρος Lukian. Alex. 11, Macleod Εἴρητο δὲ χρησμὸς ἤδη, ὡς Σιβύλλης προμαντευσαμένης· Εὐξείνου Πόντοιο παρ’ ᾐόσιν ἄγχι Σινώπης ἔσται τις κατὰ Τύρσιν ὑπ’ Αὐσονίοισι προφήτης, ἐκ πρώτης δεικνὺς μονάδος τρισσῶν δεκάδων τε πένθ’ ἑτέρας μονάδας καὶ εἰκοσάδα τρισάριθμον, ἀνδρὸς ἀλεξητῆρος ὁμωνυμίην τετράκυκλον. Man hatte einen Orakelspruch gefunden, wie von einer Sibylle prophezeit: An den Stränden des Schwarzen Meeres nahe Sinope wird es unter der Herrschaft der Ausonier einen gewissen Propheten geben wie einen Turm, der folgend auf die erste Einheit die Einheiten von dreimal zehn und auch fünf andere zeigt und zwanzigmal die Dreizahl, ein Wort mit vier Buchstaben, das zugleich der Name eines eifrigen Verteidigers ist.

Form: 5 Hexameter (Prosarahmen) Kontext: Alexander von Abonuteichos (ca. 105–175 n. Chr.) ist ein griechischer Priester, der von Lukian und anderen als Schwindler und Scharlatan bezeichnet wurde. Er und sein Mitverschwörer Cocconas kommen nach längerer Abwesenheit nach Abonuteichos zurück und wollen dort ihren Kult mit einem Glykon-Orakel etablieren. In Anknüpfung an den Asklepioskult von Eleusis verehrten sie eine men-

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schenköpfige Schlange. Von Chalkedon aus, das Cocconas leitete, ließen sie deshalb gefälschte Orakel und Vorzeichen verbreiten, die die Bewohner von Abonuteichos dazu bringen, dem Asklepios einen Tempel zu errichten und Alexander zu verehren. Ein Beispiel für diese tendenziösen Sprüche gibt das vorliegende Orakel. Erklärung: Prophezeit wird die Geburt eines Propheten, nämlich die des Alexandros selbst. v. 1: Abonuteichos liegt in der Nähe von Sinope am Schwarzen Meer. Die Herkunft des gemeinten Propheten ist damit geographisch bestimmt. v. 2: Historisch wird die Geburt bzw. Lebensspanne des Propheten auf die Zeit der Römerherrschaft festgesetzt (ὑπ’ Αὐσονίοισι). Die konkreten Angaben der beiden Eingangsverse in diesem von Alexander selbst anachronistisch in Umlauf gebrachten Orakels erhöhen die Glaubwürdigkeit des Spruchs. Der Vergleich mit einem Turm (κατὰ Τύρσιν) soll wohl auf Alexanders Wirkmacht und Bekanntheit vorausdeuten. Möglich auch, dass hier indirekt auf seine vermeintliche, bei Lukian unmittelbar zuvor berichtete, „hohe“ Abstammung von Perseus angespielt wird. vv. 3–4: Es handelt sich um die psephische Teilbeschreibung des Namens. Dass der Zahlwert der Buchstaben umschrieben ist, geht deutlich aus dem Schlussvers hervor (ὁμωνυμίην τετράκυκλον). Erschwert wird das Verständnis dadurch, dass μονάς in doppeltem Sinne gebraucht ist und einerseits (1) die Einheit im Sinne eines Buchstabens und andererseits (2) die Einheit im Sinne des für Alpha stehenden Zahlwertes „eins“ bezeichnet. Die größeren Zahlwerte sind nicht direkt benannt, sondern müssen zunächst berechnet werden, wobei das milesische Zahlsystem der Beschreibung zugrunde liegt. So ergibt sich: 1. 1 = α 2. 3 ⋅ 10 = 30 = λ 3. 5 ⋅ 1 = 5 = ε 4. 20 ⋅ 3 = 60 = ξ v. 5: Der Schlussvers enthält einen Hinweis auf den berühmten Namensvetter (ὁμωνυμία) Alexander den Großen. Besonders pointiert ist dabei die Formulierung ἀνδρὸς ἀλεξητῆρος, in der einerseits der ἀλεξητήρ allein lautmalerisch bereits an den gesuchten Ἀλέξανδρος gemahnt, andererseits aber der Name in ἀνδρὸς ἀλεξ-, gleichsam in der Mitte gespiegelt, bereits vollständig gegeben ist. Zudem wird durch τετράκυκλος darauf hingewiesen, dass hier nur die ersten vier Buchstaben des Namens „berechnet“ sind, der weiter ergänzt werden muss; vgl. Ulrich (1997) z. St. 139, der meint, hier sei die Silbenzahl des gesamten Namens Ἀ-λέξ-αν-δρος angegeben. Obwohl eine solche Angabe der Silbenzahl in

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B Paraphrasierende Rätsel

Buchstabenrätseln durchaus geläufig ist, scheint mir der Spruch hier vielmehr darauf hinzudeuten, dass die Beschreibung der ersten vier Buchstaben durch -ανδρος (erstes Wort, v. 5) zu ergänzen ist. Literatur: Vgl. zum Kult der Schlange Glykon Drexler (1886–1890) 1692 f. Ulrich (1997) mit einer Gesamtdarstellung der Alexander-Figur. 3 Buchstabenrätsel von Ἰησοῦς AP App. VII 26, Cougny Τέσσαρα φωνήεντα φέρει· τὰ δ’ ἄφωνα ἐν αὐτῷ [δισσὰ ἓν ἀγγέλλοντ’]· ἀριθμὸν δ’ ὅλον ἐξονομήνω· ὀκτὼ γὰρ μονάδας, τόσσας δεκάδας δ’ ἐπὶ ταύταις, ἠδ’ ἑκατοντάδας ὀκτὼ, ἀπιστοκόροις ἀνθρώποις οὔνομα δηλώσει· σὺ δ’ ἐνὶ φρεσὶ σῇσι νόησον ἀθανάτοιο Θεοῦ Χριστὸν παῖδ’ ὑψίστοιο. Vier Vokale bringt er: Die Konsonanten in ihm zeigen zu zweit einen; die Gesamtzahl aber verrate ich: Acht Einheiten nämlich und gleich viele Zehner darüber und acht Hunderter wird der Name den unsicheren Menschen zeigen: Du aber überlege in deinem Geist des unsterblichen höchsten Gottes Sohn, Christus.

Form: 6 Hexameter Erklärung: Die vv. 1–4 des sibyllinischen Orakels beschreiben Anzahl (6), Art (vier Vokale zweimal derselbe Konsonant) und psephischen Wert (8 + 80 + 800 = 888) der Bezeichnung des gesuchten Rätselobjekts. vv. 5–6 verbinden mit der direkten Lösungsaufforderung an den Rezipienten den entscheidenden inhaltlichen Hinweis auf die Lösung, indem nach Gottes Sohn gefragt wird, der hier als Χριστός bezeichnet ist. Das Auffinden des korrekten Lösungswortes Ἰησοῦς wird einerseits erschwert durch die scheinbar unausgewogene Verteilung zwischen Vokalen und Konsonanten (v. 1–2a) und andererseits v. a. dadurch, dass absichtlich der Schnapszahlwert 888 betont wird, ohne dass jedoch die psephischen Werte der einzelnen Buchstaben aufgeführt werden. Überprüft man den psephischen Wert von Ἰησοῦς, ergeben sich jedoch tatsächlich die geforderten 888:

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

Ι Η Σ Ο Υ Σ

+ + + + + =

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10 8 200 70 400 200 888

Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche psephische Buchstabenrätsel vom ΘΕΟΣ ΣΩΤΗΡ.

B. III. 2 Silbenrätsel B. III. 2.1 Explizit metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung 1 Rätsel von (ὄ)νυξ AP App. VII 53, Cougny; Basil. Megalomit. 10, Anecd. Gr. III, p. 441 Boiss.; S 329 Μέρος μέν εἰμι σώματος ἀνθρωπίνου· οὐκοῦν με καὶ σίδηρος ἐκτέμνει λίαν. Πέλω δὲ δισύλλαβον· ἀλλ’ οὖν, ὑστέρως ὀφθὲν μονοσύλλαβον ἐν διαιρέσει, δύνω παρευθὺς ἡλίου λαμπαδόνα. Ich bin ein Teil des menschlichen Körpers; gleichwohl aber schneidet mich auch das Eisen sehr. Ich aber bestehe aus zwei Silben: Später allerdings, wenn du mich durch Abtrennung zu einer Silbe gemacht siehst, dann lasse ich plötzlich das Licht der Sonne versinken.

Form: 5 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel verbindet die formalen Strukturen eines Buchstabenrätsels mit inhaltlichen Hinweisen auf die beiden Rätselobjekte. In vv. 1–2 umschreibt sich das erste Rätselobjekt, der Zeh- oder Fingernagel ὄνυξ, inhaltlich aus der Ich-Perspektive. Dabei kommt ein scheinbares Paradoxon zum Einsatz: v. 1 nennt die Gruppe der menschlichen Körperglieder als Pool für die korrekte Antwort, den v. 2 dann jedoch mit der Folgerung, das gesuchte Glied werde stark durch den σίδηρος beschnitten, scheinbar konterkariert. Obwohl das μέρος durchaus auch einen sehr kleinen Teil des Ganzen bezeichnen kann (wie den Nagel), lässt ein μέρος σώματος doch eher an die größeren Kör-

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B Paraphrasierende Rätsel

perteile wie Hand, Arm, Bein, Kopf u.ä. denken. Diese aber bestehen aus Haut, Fleisch, Blut – aus verletzlichen Materialien also, deren (λίαν, regelmäßige?) Beschneidung durch ein Werkzeug aus Eisen, das zudem wohl in erster Linie eher an ein Schwert und damit an ein gewaltsames Schneiden als an eine Schere gemahnt, nicht leicht mit der gängigen Vorstellung des Menschen von sich selbst in Einklang zu bringen ist. Die vv. 3–4, in denen die Angaben zur äußeren Form, d. h. zur Bezeichnung der gesuchten Objekte gemacht werden, verschleiern durch die Bezugnahme auf die Silben (anstelle der einzelnen Buchstaben), welcher Teil des ursprünglichen Begriffs tatsächlich abgetrennt wird – nämlich nur ein einziger Buchstabe, der allein die Anfangssilbe bildet (ὀ-). v. 5 bringt dann mit der Sonne die der menschlichen Sphäre gegenübergestellte Natur bzw. Kosmologie ins Spiel. Die Umschreibung des Wechsels von Tageslicht zu dunkler Nacht verkehrt ferner, um einen Rezipienten in die Irre zu leiten, die eigentlichen Handlungszusammenhänge, indem auch das zweite Rätselobjekt, die Nacht (νύξ), als handelndes, sich selbst beschreibendes Objekt auftritt, welches die Sonne zum Sinken bringt. Tatsächlich aber ist ja die Sonne selbst der Akteur und ihre Bewegung bzw. ihr Fehlen bedingen die Nacht. Intertextuelle Verweise: Vgl. das stark verkürzte, inhaltlich aber vollkommen identische Rätsel von (ὄ)νυξ, AP XIV 35.

2 Buchstabenrätsel vom Namen Ἰωάννης AP App. VII 43, Cougny; Psellos 16, Anecd. Gr. III, p. 435 Boiss.; S 337 Κλῆσις πέφυκα καὶ Θεοῦ δηλῶ χάριν. Ἐκ σχετλιασμοῦ συλλαβὰς φέρω δύο. Πτῶσίς με θῆλυς συμπεραίνει δευτέρα ὑπὲρ γυναικός, εἰ διαιρεῖν με θέλεις. Ich bin ein Rufen und ich zeige die Güte des Herren. Aus einem Klageruf habe ich zwei Silben. Mein Kasus schließt einen zweiten femininen mit ein von einer Frau, wenn du mich teilen willst.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel hat den Evangelisten Johannes zur Lösung. Seine Beschreibung ist im Wesentlichen an den formalen Eigenschaften seines Namens orientiert. v. 1 enthält allerdings einen intertextuellen Verweis auf Joh 1,23 ἐγὼ φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήμῳ; vgl. hierzu auch Matth 3,3. Marc 1,3. Luc 3,4. Vgl. außerdem Bois-

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sonade z. St., der anführt, dass Ἰωάννης die hebräische Form für χάριν sei. In diesem Fall wäre δῆλω (v. 1) dann konkretisierend geradezu im Sinne von εἰμί gemeint. v. 2 beschreibt zwei der Silben des Namens, wobei nicht angegeben wird, aus wie vielen Silben der Name insgesamt besteht. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass, um diesen Hinweis nutzbar machen zu können, von dem griechischen σχετλιασμός auf die entsprechende lateinische lamentatio geschlossen werden muss. Die letzten beiden Silben dieses Begriffs, d. h. in diesem Fall seine letzten beiden Buchstaben (-io), bilden – wieder ins Griechische zurück transkribiert – den Anfang des Namens. Besondere Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass einerseits nicht angegeben wird, welche Position innerhalb des Namens die Teile der lamentatio einnehmen. Dass es sich um den Anfang handelt, kann ein Rezipient nur mutmaßen. Zusätzlich wird das Verständnis dadurch erschwert, dass, was in la-men-ta-ti-o tatsächlich zwei Silben bildet, in Ἰω-άν-νης zu einer Silbe verschmilzt. vv.3–4 beziehen sich auf die Endung des Namens (-ης), der dem Genitiv eines femininen Substantivs gleicht. Mit πτῶσις ist somit der Nominativ Ἰωάννης gemeint, der, teilt man ihn nach der ersten Silbe, die er mit der lamentatio teilt, in der zweiten Hälfte den Genitiv des Frauennamens Ἄννα enthält. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche Buchstabenrätsel von Ἰωάννης, AP App. VII 74 = Basil. Megalomit. 38 Boiss.

B. III. 2.2 Verdeckt metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung 1 Rätsel von Rhodos AP XIV 16, Beckby; S 20. O 222 Νῆσος ὅλη, μύκημα βοὸς φωνή τε δανειστοῦ. Eine Insel das Ganze, das Brüllen des Rinds und die Stimme des Bankiers.

Form: Hexameter Erklärung: Es handelt sich um ein Silbenrätsel. νῆσος gibt gleich zu Beginn die Kategorie des Lösungsobjekts an, zu erraten ist der Name einer Insel. Dieser Name ist zusammengesetzt (indirekt in ὅλη) aus zwei Silben, die je für sich auf der Grundlage einer gewissen lautlichen Ähnlichkeit umschrieben sind: a) Die erste Silbe bildet das Blöken eines Rindes (μύκημα βοός). Lautmalerisch lässt sich das Geräusch als ῥο wiedergeben.

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B Paraphrasierende Rätsel

b) Die zweite Silbe wird gebildet durch den Ruf eines Geldverleihers. Wer verleiht, der fordert auch zurück, sodass der Imperativ δός in diesem Zusammenhang eine durchaus plausible Annahme ergibt. Mit Verschiebung des Akzents setzen sich die beiden Silben zu Ῥόδος zusammen; vgl. hierzu auch Buttmann nach Beckby z. St. sowie Berra (2008) 671. Der alternative Lösungsvorschlag, der nach Beckby und Berra (2008) 671 von Fröhner stammt, gemeint sei die Insel Mykonos (zusammengesetzt aus μύκ(ημα) und ὦνος (Gewinn)), scheint dagegen wenig überzeugend. μύκημα selbst als Schlüssel zur Lösung anzusetzen, wo es doch ausdrücklich im Text vorkommt, durch das Genitivattribut aber konkretisiert wird, erscheint ebenso unglaubwürdig wie der Gewinn, um den es einem Geldverleiher zwar geht, der aber doch sicher nicht ständig beim Namen genannt wird; vgl. dagegen Ohlert (21912) 222, der glaubt, damit sei das Richtige getroffen. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ähnliche Rätsel von der geräuschvollen Insel, AP XIV 39. Literatur: Schultz (1909) 32, nr. 20 und (1912) 115 meint, ῥό oder ῥῶ könne nicht „die lautlich richtige Wiedergabe des Rindergebrülles“ sein, was im Übrigen nicht zu stimmen braucht, da die Tierlaute in verschiedenen Sprachen gemeinhin sehr unterschiedlich wiedergegeben zu werden pflegen und das dunkle Blöken eines Rindes trefflich genug durch das gerollte Rho abgebildet wird. Schultz hingegen glaubt, es sei ein als βοῦς bezeichnetes beckenartiges Instrument gemeint, welches bei der Orakelgebung auf Rhodos eine gewisse Rolle spielte. Jacobs (1803) 359.

B. III. 3 Buchstaben-Silben-Rätsel (explizit metasprachlich) B. III. 3.1 Metasprachlich mit unvollständiger Beschreibung B. III. 3.1.1 Ein Rätselobjekt 1 Rätsel vom Licht AP App. VII 48, Cougny; Basil. Megalomit. 2, Anecd. Gr. III, p. 437 f. Boiss.; S 314 Οὐδεὶς καθαρῶς τὸν φύσαντά με βλέπει, ἃ δὲ βλέπει τις δι’ ἐμοῦ ταῦτα βλέπει. Κἀγὼ τὸ μόχθειν τοῖς ὁρῶσι παρέχω. Ἐμὴν δὲ κλῆσιν συλλαβὴ πληροῖ μία,

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ταύτην δὲ πάλιν γράμματα μόνα τρία. Θνήσκω καθ’ ἡμέραν δὲ καὶ βιῶ πάλιν. Niemand sieht deutlich denjenigen, der mich gebar, was aber einer sieht, das sieht er durch mich. Und ich gewähre den Sehenden das Arbeiten. Meinen Namen aber macht eine Silbe voll, die aber wiederum nur drei Buchstaben. Ich sterbe täglich und erstehe wieder auf.

Form: 6 byzantinische Senare Erklärung: Es handelt sich um ein Buchstabenrätsel, das im Wesentlichen von inhaltlichen Hinweisen auf das Licht (φῶς) als Rätselobjekt bestimmt wird. Das Rätselobjekt beschreibt sich aus der Ich-Perspektive im Hinblick auf einige seiner zentralsten Eigenschaften. vv. 1–3 thematisieren den Zusammenhang zwischen Licht und Sehen bzw. Sichtbarkeit. Zwischen v. 1 und v. 2 ist ein Gegensatz installiert: Die Unsichtbarkeit des Vaters (1) steht – scheinbar paradox – der sichtbar machenden Funktion des Kindes gegenüber. Die Darstellung als etwas Geborenes (indirekt in φύσαντα) führt einen Rezipienten fälschlicherweise von dem eigentlich richtigen Gedanken an Abstrakta fort. v. 1: Ein Gott als Schöpfer des Lichts ist ebenso wenig für das menschliche Auge sichtbar wie die Sonne als Ausgangspunkt bzw. Quelle allen Lichts. Das verneinte καθαρῶς passt gut zu dem Zustand des Geblendeten, der in die Sonne schaut: Derjenige, der (direkt) in die Sonne schaut, sieht den Stern freilich schon, insofern er ihre Helligkeit wahrnimmt, doch ein exaktes Bild erhält er – aufgrund derselben Helligkeit – nicht. v. 2: Licht ist die Bedingung für jeden (Menschen), um etwas sehen zu können. v. 3: Hier wird v. 2 weiter ausgeführt. Licht wird mit der Helligkeit des Tages verbunden, während der die Menschen ihrer Arbeit nachgehen (können). Irreführend ist für einen Rezipienten womöglich die ungewöhnliche Verbindung des pejorativ gefärbten μόχθειν mit dem scheinbar gönnerhaften παρέχω. Der Dativ τοῖς ὁρῶσιν (den Sehenden, d. h. den Menschen), der anstelle des allgemeineren τοῖς ἀνθρώποις steht und hier weniger als Metapher denn als konkrete Umschreibung wirkt, gibt dagegen einen direkten inhaltlichen Hinweis auf den Kontext Licht – Sehen. vv. 4–5: Die Bezeichnung des Objekts wird anhand der Silben- (1) und Buchstabenzahl (3) beschrieben. Die kleine Zahl beider Angaben, also die Tatsache, dass eine so bedeutende Sache durch ein so kurzes Wort bezeichnet wird, gilt offenbar als Kuriosum.

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B Paraphrasierende Rätsel

v. 6: Hier liegt mit der Nennung der Wiederauferstehung (gibt vielleicht einen Hinweis für das Verständnis von v. 1) ein Kuriosum vor. Zusätzlich sind leben (βιόω) und sterben (θνήσκω) einander als direkte Gegensätze gegenübergestellt. Die Angabe καθ’ ἡμέραν, die die Vorstellung nicht nur einer Wiederauferstehung, sondern einer kontinuierlichen Abfolge von leben und sterben erzeugt, verstärkt so einerseits den paradoxen Eindruck, gibt aber andererseits einen echten Hinweis auf den kosmologischen Aspekt, denn gemeint ist natürlich das Tageslicht. Leben und sterben sind in diesem Zusammenhang in übertragenem Sinn, als verallgemeinernde Metapher zu verstehen: Wer lebt, ist da und sichtbar, wer tot ist, ist fort und nicht zu sehen. In diesem ganz allgemeinen Sinne müssen die konkreten Verben, die den Eindruck der Personifikation verstärken, aufgefasst werden, um zu der korrekten Lösung zu gelangen. Intertextuelle Verweise: Vgl. Ov. met. 4,227: omnia qui video, per quem videt omnia tellus. B. III. 3.1.2 Zwei Rätselobjekte 1 Rätsel von (κ)άλως AP App. VII 61, Cougny; Basil. Megalomit. 18, Anecd. Gr. III, p. 443 Boiss.; S 325 Διττὰς συλλαβὰς καὶ τόνον δ’ ἕνα φέρων, παντὶ βροτῶν χρήσιμος τυγχάνω γένει, μᾶλλον δὲ τοῖς πλέουσι θαλάσσης πλατή. Τοῦ γοῦν κατ’ ἀρχὰς γράμματος λελοιπότος, συντάσσομαι γῇ, καὶ τρέφω πᾶσαν κτίσιν ἀφ’ ὧν νέμω ξύμπασι καρπῶν ἡδέων. Χωρὶς γὰρ αὐτῶν τὴν βροτῶν πᾶσαν φύσιν οὐκ ἔστι ζῆσαι καὶ φυγεῖν μοῖραν μόρου. Aus zwei Silben zusammengesetzt und einen Akzent tragend bin ich dem gesamten Menschengeschlecht nützlich, besonders aber denen, die die Weiten des Meeres befahren. Wenn man den Buchstaben weglässt, der am Anfang steht, setze ich die Erde in die rechte Ordnung und ernähre alle Kreaturen, indem ich ihnen allen von den süßesten Früchten zuteile. Ohne diese nämlich könnte das ganze Geschlecht der Menschen nicht leben und dem Los des Todes entfliehen.

Form: 8 iambische Trimeter Erklärung: Dass es sich um ein Buchstabenrätsel handelt, dass also eher ein Wort als ein Objekt zu raten ist, geht für den Rezipienten aus der anfänglichen Nennung von Silben und Betonung, sowie aus der Nennung des abgetrennten Buchstabens

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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(v. 4) deutlich hervor. Das Seil (κάλως) beschreibt sich als Rätselobjekt selbst aus der Ich-Perspektive. Die Verse 1–3 beziehen sich dabei auf seine Bezeichnung (v. 1) und auf seine Funktion (allgemeiner Nutzgegenstand, bes. in der Schifffahrt, vv. 2–3; vgl. dass κάλως bes. in der Verbindung mit Reffen/Segeln verwendet wird). Die Beschreibung in v. 1 grenzt die möglichen Lösungsobjekte, die aus der inhaltlichen Beschreibung vv. 2–3 hervorgehen, auf solche ein, deren Bezeichnungen zweisilbig sind. In v. 4 ergeht dann die Aufforderung zur Änderung des Wortes durch Auslassung des ersten Buchstabens, sodass sich aus κάλως ἅλως ergibt. Erschwert ist dieser Schritt zusätzlich durch, dass sich der Rezipient für ein behauchtes oder unbehauchtes anlautendes Alpha entscheiden muss (wobei das Wort ἄλως nicht existiert). Die ἅλως bezeichnet im Wesentlichen eine Rundung und wird so u. a. zur Beschreibung des Dreschbodens und im etwas abstrakteren (nicht aber eigentlich metaphorischen) Sinne für das Rund von Sonne (und Mond) verwendet, welches ja tatsächlich den Lebensrhythmus strukturiert (v. 5) und alle Nahrungsmittel wachsen lässt (v. 6), ohne die die Menschen nicht leben könnten (vv. 7–8). Der allgemeine Erntekontext erleichtert das Finden der Lösung u. U. etwas, da ἅλως als Dreschinstrument sicher gebräuchlicher ist als zur Bezeichnung der Sonne, dann aber auch auf seine weiteren Bedeutungen verweist. Zwischen den beiden Abschnitten der Beschreibung vv. 1–3 und vv. 4–8 besteht kein inhaltliches Verhältnis (abgesehen davon, dass Sonne und Mond als Orientierungspunkte auch für die in v. 3 genannten Seefahrer von Bedeutung sind).

2 Rätsel von (χ)είρ AP App. VII 49, Cougny; Basil. Megalomit. 5, Anecd. Gr. III, p. 439 Boiss.; S 330 Μέλος πέφυκα σώματος βροτησίου. μονοσύλλαβον, βαρὺν τὸν τόνον φέρον. Τοῦ γοῦν κατ’ ἀρχὴν γράμματος κρατουμένου, κλῆσιν ποταμοῦ λαμβάνω παραυτίκα. Ich bin ein Teil des menschlichen Körpers, bestehend aus einer Silbe und einen schweren Akzent tragend: Wenn vom Anfang mein erster Buchstabe entfernt wird, nehme ich plötzlich den Namen eines Flusses an.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Das Rätsel verbindet die formalen Strukturen eines Buchstabenrätsels mit inhaltlichen Hinweisen auf die beiden Rätselobjekte und ist durch einen chiasti-

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B Paraphrasierende Rätsel

schen Aufbau entsprechend in zwei Hälften unterteilt. Die vv. 1 und 4 legen die jeweilige Kategorie, aus der das gesuchte Objekt stammt, offen (1. Körperteile, 2. Flüsse), während die vv. 2–3 formale Angaben zu den Bezeichnungen der Objekte enthalten. Aus der Hand (χείρ) wird durch Streichung des Anfangsbuchstabens der Name Εἴρ, der nach Hesych. u. Suda s. v. εἶρ bzw. εἴρ einen Fluss bezeichnet. 3 Buchstabenrätsel von (κ)όρος AP App. VII 77, Cougny; Basil. Megalomit. 42, Anecd. Gr. III, p. 451 Boiss.; S 312 Ὄρεξιν ἐμπίμπλημι τῶν ζώων ὅλων. Πεντάγραμμον πέφυκα δισυλλαβίᾳ· ἂν οὖν κεφαλὴν ἀφέλῃς τῶν γραμμάτων, εὕρῃς με πάντων φυλακὴν τῶν πραγμάτων. Das Begehren aller Menschen fülle ich aus. Ich bestehe aus fünf Buchstaben und zwei Silben; Wenn du allerdings meinen Anfangsbuchstaben streichst, wirst du mich als Wache aller Dinge finden.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein zweistufiges Buchstabenrätsel mit chiastischem Aufbau. In den Versen 1 und 4 beschreibt sich das jeweilige Rätselobjekt aus der IchPerspektive inhaltlich, die vv. 2–3 enthalten formale Angaben über die Bezeichnungen der Objekte. v. 1: Anhand ihrer Haupteigenschaft, d. h. aufgrund der Negierung ihres Gegenteils, des Hungers, der hier verallgemeinernd als Verlangen oder Sehnsucht (ὄρεξις) benannt ist, umschreibt die Sättigung (κόρος) sich selbst. Die Verbindung mit ἐμπίμπλημι ist im Kontext von Nahrungsaufnahme geläufig (vgl. Hom. Od. 7,221), sodass die Lösung, obwohl der Vers zunächst sehr allgemein formuliert scheint (schließlich bezeichnet die ὄρεξις nicht nur das Verlangen nach Nahrung, sondern eine ganz allgemeine Sehnsucht), einem Rezipienten eventuell nicht zu schwer gefallen sein dürfte. Die offene Formulierung und der weiter verallgemeinernde Genitiv τῶν ζῴων geben vielleicht einen Hinweis darauf, dass nach einem Abstraktum gefragt ist. v. 2: Die Anzahl der sich aus v. 1 ergebenden Lösungsmöglichkeiten wird eingeschränkt durch die formale Umschreibung der Bezeichnung des gesuchten Objekts anhand von Buchstaben- (5) und Silbenzahl (2). vv. 3–4: Nach Tilgung des Anfangsbuchstabens ergibt sich als zweites Rätselobjekt die Grenze (ὅρος). φυλάκη steht aufgrund der Analogie in der Funktion metaphorisch für den ὅρος, der durch den maskulinen φύλαξ wohl noch

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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trefflicher vertreten wäre. Auch hier findet sich ein verallgemeinernder Genitiv (πάντων τῶν πραγμάτων), der dem in v. 1 direkt gegenübergestellt ist und auch hier auf den abstrakten Charakter des gesuchten Objekts hindeutet. Zwischen den beiden Genitiven gibt es keinen echten Widerspruch, doch ζῷα und πράγματα, sind einander als zwei verschiedene Ebenen gegenübergestellt.

B. III. 3.1.3 Objektkette 1 Buchstabenrätsel vom Honig/Wachs AP App. VII 40, Cougny; Psellos 13, Anecd. Gr. III, p. 433 f. Boiss.; S 323 Τρισύλλαβον πέφυκα. Σὺ δέ μοι σκόπει· Ζῶόν με γεννᾷ· ζῶον οὔκουν τυγχάνω. Ἄν μου τὸ πρῶτον ἀφέλῃς τῶν γραμμάτων, εὕρῃς με κατάπαυσιν ἀνθρώπων γένους· τὸ δεύτερον δὲ γράμμα συναφανίσας, γῆς πρὸς θάλατταν ὀξὺ κατίδῃς τέλος· κἂν τὸ τρίτον γράμμα δὲ πάλιν ὑφέλῃς, εὐωδίαν ἔχον με πολλὴν κατίδῃς· εἰ γράμμα μου τέταρτον πάλιν ἐκβάλοις, ὄντως ὂν εὑρήσεις με, κἂν δίχα τόνου. Ich bin dreisilbig; du aber fass mich ins Auge: Ein Tier erzeugt mich, ein Tier aber bin ich nicht. Wenn du von mir den ersten Buchstaben abtrennst, findest du mich als Ruhe des Menschengeschlechts; wenn auch der zweite Buchstabe gelöscht ist, erkennst du als Ergebnis eine Erhöhung des Landes zum Meer; und wenn du wiederum den dritten Buchstaben abteilst, siehst du, dass ich einen sehr süßen Duft habe. Wenn du schließlich den vierten Buchstaben von mir fortstößt, findest du mich selbst als ὂν, wenn auch ohne Akzent.

Form: 10 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein fünfstufiges Buchstabenrätsel (für den Rezipienten aus der expliziten Nennung von Silbenzahl und Buchstaben ersichtlich), das von einem Rätselobjekt ausgeht, dessen Bezeichnung dreisilbig ist (κηρίον). Jeweils zwei der insgesamt zehn Verse beschreiben eins der fünf zu ratenden Objekte. vv. 1–2: In v. 1 wird die allgemeine formale Vorgabe der Dreisilbigkeit und eine direkte Lösungsaufforderung gegeben. v. 2 enthält als inhaltlichen Hinweis das vorgetäuschte, scheinbar paradoxe Verwandtschaftsverhältnis zwischen einem (ungenannten) Tier und seinem Erzeugnis. Zu raten ist κηρίον, der Honig,

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B Paraphrasierende Rätsel

der von den Bienen erzeugt wird. Darauf, welches Tier gemeint ist, gibt es allerdings keinen Hinweis. Ebenso wären beispielsweise Kuh und Milch denkbar, wobei γάλα wegen ihrer Zweisilbigkeit als Rätselobjekt nicht in Frage kommt. vv. 3–4: Das zweite Rätselobjekt trägt die Bezeichnung, die entsteht, wenn der Bezeichnung des ersten Objekts der erste Buchstabe genommen wird, also ἠρίον (der Grabhügel). v. 4 enthält eine verallgemeinernde, fast metaphorische Beschreibung des Grabhügels als κατάπαυσις. vv. 5–6: Das dritte Rätselobjekt, dessen Bezeichnung durch die erneute Auslassung des (nun) ersten Buchstabens entsteht, enthält eine einfache Umschreibung des Vorgebirges (ῥίον) anhand seiner äußeren Gestalt. vv. 7–8: Das Veilchen (ἴον), welches als viertes zu raten ist, wird auf der Grundlage seines Duftes beschrieben. vv. 9–10: Die letzten beiden Verse beziehen sich auf die verbleibende Silbe -ον, die übrig ist, wenn alle anderen Buchstaben des ursprünglichen κηρίον abgetrennt wurden. v. 10 enthält ein Spiel damit, dass es sich einerseits um eine (bedeutungslose) Silbe ohne Betonung, andererseits aber doch um eine bedeutungstragende Einheit, nämlich das Partizip ὄν von εἶναι handelt. Darauf weist die pointierte Formulierung ὄντως ὂν aus zwei Partizipien von εἶναι hin. Eventuell soll die Formulierung sogar eine stringente Entwicklung der Rätselgegenstände zum „wahren Sein“ suggerieren (Abstraktion): Es scheint beachtlich, dass der Akzent der einzelnen Begriffe jeweils mitbeachtet und stets korrekt ist. Die Schwierigkeit der Lösung hängt u. U. von der Art und Weise des Rätselstellens ab. Wenn das Rätsel ganz vorgetragen bzw. gelesen wird und der Rezipient gleichsam „von hinten“, also bei -ον mit der Lösung beginnen kann, gestaltet es sich als vergleichsweise einfach, da der Rätsellöser prinzipiell das Alphabet durchgehen und nach sinnvollen Ergänzungsbuchstaben suchen kann. Das Verständnis wird dagegen (wenigstens für den ungeübten Rätsellöser) erschwert, indem das erste Rätselobjekt durchgehend von sich als von einem sich verändernden Ich spricht, wodurch die Vorstellung entsteht, das Objekt (nicht seine Bezeichnung) würde sich tatsächlich verändern. Diese Vorstellung unterstreicht z. B. besonders das τέλος in v. 6; v. 8 suggeriert in eben dieser Manier, dass alle Teile der Rätsellösung, also das Rätselobjekt an sich, einen süßen Duft haben. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ganz ähnliche Rätsel AP App. VII 50 = Basil. Megalomit. 6, Anecd. Gr. III, p. 439 f. Boiss. Literatur: Vgl. zu den Bienen in der Antike allgemein Davies (1986) 47–72. Schultz (1912) 140 führt das Rätsel unter der nr. 323 und nennt es das Rätsel vom Wachs. Es ist zwar richtig, dass κηρίον sowohl das Wachs als auch den

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Honig der Bienen bezeichnet und dass beides ein Erzeugnis der Bienen ist, doch warum hier nicht die naheliegende Bedeutung Honig gelten soll, ist mir unbegreiflich; vgl. hierzu AP App. VII 50.

2 Buchstabenrätsel vom Fuß AP App. VII 56, Cougny; Basil. Megalomit. 36, Anecd. Gr. III, p. 449 Boiss.; S 332 Ἐν γράμμασι τέσσαρσι συλλαβὴν μίαν εἰς κλῆσιν αὐχῶ· τῶν βροτῶν δ’ εἰμὶ μέλος. Ὁ γοῦν τὸ πρῶτον ἐξελὼν τῶν γραμμάτων, εὕρῃ με πάντως ἄλλο τι βροτῶν μέλος. Τούτων δὲ πάλιν τις τὸ πρῶτον ἐκξέσας, ἕξει με πάντως ζῶον ἓν τῶν χρησίμων, ἐν τῇ τελευτῇ καὶ μόνῃ βροτοὺς τρέφον. Eine aus vier Buchstaben bestehende Silbe erkläre ich zu meinem Namen; ein Glied der Menschen aber bin ich. Wenn man meinen Anfangsbuchstaben abtrennt, wird man mich als ganz anderes Glied der Menschen finden. Wenn jemand wiederum von diesem den ersten abtrennt, wird er mich als ein sehr nützliches Tier haben, das nur durch seinen Tod den Menschen ernährt.

Form: 7 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, ähnlich AP App. VII 55. Die Rätselobjekte beschreiben sich selbst aus der Ich-Perspektive. vv. 1–2 betreffen den Fuß (ποῦς) als erstes Rätselobjekt. Zunächst wird die Form der Beschreibung (4 Buchstaben, eine Silbe) genannt, dann als inhaltlicher Hinweis die Kategorie der Körperteile offenbart. vv. 3–4 umschreiben das Ohr (οὖς) als zweites Rätselobjekt. Die gegenüber AP App. VII 53 leicht veränderte Formulierung betont insbesondere die Kuriosität, dass zwei ganz verschiedene Körperteile (πάντως ἄλλο) beinahe identische Bezeichnungen tragen. In vv. 5–7 findet ein inhaltlicher Wechsel vom Mensch zum Tier statt. v. 7 thematisiert ausdrücklich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier und verbindet so die beiden Teile des Rätsels (1–4 und 4–6). v. 6 umschreibt das dritte Rätselobjekt, das Schwein ὗς, indem es das Nutztier als Kategorie für Lösungsversuche nennt. v. 7 schränkt dies konkretisierend ein, wenn er offenbart, dass nur das tote Tier den Menschen nutzen bringt – was zunächst kontraintuitiv erscheint. Tatsächlich erzeugt aber das Schwein anders als Kühe, Hühner, Zie-

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B Paraphrasierende Rätsel

gen u. ä. keine Nebenprodukte und dient dem Menschen nur mit seinem Fleisch, also erst im Tod, als Nutztier. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlichen Buchstabenrätsel AP App. VII 55. 59. 69. 70; AP XIV 105. 106. 3 Buchstabenrätsel vom πνοῦς Aulikalamos 4, Anecd. Gr. III. p. 454 Boiss. Μονοσύλλαβον καὶ πεντάγραμμον, ξένε, Ἐμὴν παριστῶν κλῆσιν ἐκ τῶν γραμμάτων, Ἐντός σου μένω καὶ χρήσιμον εἰμί σοι. Εἰ δὲ κεφαλὴν καὶ δευτέραν ἐκκοψεις, Ἦλθόν σου πάλον κρατὸν ἔνδοθεν ἔξο. Εἰ δὲ καῖ τρίτην ὁμοίως συνεξέλῃς, Ἐχκυβιστᾷν με τῷ βορβόρῳ κατίδῃς. Ich habe eine Silbe und fünf Buchstaben, mein Freund, und zeige meinen Namen aus diesen Buchstaben, ich wohne in dir und bin dir nützlich. Wenn du mir das Haupt und das darauf Folgende abschlägst, wandere ich aus dem Inneren deines Kopfes nach außen. Wenn du auf gleiche Weise auch das dritte wegnimmst, werde ich dem Schmutz eine Freundin.

Form: 7 byzantinische Senare Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel aus der Ich-Perspektive. Die drei Rätselobjekte sind jeweils inhaltlich unvollständig umschrieben. vv. 1–3: Genannt sind die Silben- und Buchstabenzahl des Begriffs, der das erste Rätselobjekt bezeichnet (πνοῦς). Zusätzlich ist der semantische Raum – indirekt, durch Anrede des Rezipienten – auf die (nützlichen) Bestandteile des Menschen festgelegt. Die Formulierung ἐντὸς σου μένω suggeriert fälschlicherweise, dass es sich um ein inneres Organ o.Ä. handelt. vv. 4–5: Die Ankündigung der Veränderung des Lösungswortes durch Tilgung der beiden ersten Buchstaben ist doppeldeutig, wenn auch auf für das Buchstabenrätsel sehr gebräuchliche Weise, formuliert. Dass die κεφαλή nämlich für den ersten γράμμα steht, ist nicht explizit gesagt, sodass durch die scheinbare Personifizierung eine Enthauptung vorgestellt sein mag. Verstärkt wird dieser Eindruck durch v. 5, der die Verschiebung des gesuchten Objekts aus dem Inneren des Kopfes nach außen beschreibt. Einerseits konkretisiert diese Angabe den schon in v. 3 gegebenen Hinweis von dem gesamten Körper des

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Menschen auf seinen Kopf. Andererseits mag hier – nach der Entfernung der κεφαλή – vielleicht fälschlicherweise an Blut gedacht werden, das dem Menschen nützt (χρήσιμον), insofern es für ihn lebensnotwenig ist, und das sich bis zu einer Verletzung im Körperinneren befindet. Tatsächlich ergibt sich jedoch aus πνοῦς das Ohr, οὖς, welches als Extremität des Kopfes „außen“ seinen Sitzt hat. Erschwert wird diese Vorstellung womöglich durch den Umstand, dass der πνοῦς eigentlich nur ungenau als im Inneren des Kopfes ansässig bezeichnet werden kann, da (a) die für die Atmung zuständige Lunge in der Brust sitzt und (b) der Atem gerade durch den Mund (als Teil des Kopfes) auch nach außen hin entweicht. Zusätzlich wird das Verständnis der Gesamtkomposition durch den Wechsel von dem gesuchten Abstraktum auf ein konkretes Körperteil erschwert. vv. 6–7: Nachdem die ersten beiden Lösungsobjekte inhaltlich zusammenhingen, irritiert die Einführung eines dritten unabhängigen Objekts u. U. Es wird offen gelassen, ob es sich weiterhin um ein Körperteil handelt. Die unvollständige Umschreibung des Schweins (ὗς) beschränkt sich in der Nennung der Schmutzaffinität auf eins der Hauptmerkmale des Tiers.

4 Buchstabenrätsel von der χαρά Basil. Megalomit. 3, Anecd. Gr. III, p. 438 Boiss. Πέφυκά τι δισύλλαβον τετράγραμμον ἐν βίῳ, Παμπόθητον, φιλούμενον, καὶ πάνυ ζητητέον, Ὡς θυμηδίας πρόξενον καὶ πλῆρες εὐφροσύνης. Τούτου τὸ γράμμα δὲ τὸ κατ’ ἀρχὰς εἰ ξύσεις, Εὑρήσεις πάλιν γεγονὸς λύπης μεστὸν ἀπείρου, Ἀπόθητον τοῖς ἅπασι, μισούμενον, φευκτέον· Εἰ δέ γε καὶ τὸ δεύτερον πάλιν προσαφαιρέσεις, Ἴδῃς αὐτὸ γενόμενον γέλωτος πεπλησμένον, Ἐμπαικτικὸν προσφώνημα κατὰ μελαγχιτώνων. Ich bin etwas mit zwei Silben und vier Buchstaben im Leben, von allen gewünscht, geliebt und sehr gefragt, wie ein Freund des Glücksgefühls und voller Frohsinn. Wenn du aber davon den Anfangsbuchstaben wegschabst, wirst du etwas finden, das voll von unendlicher Trauer ist, das von allen gemieden und gehasst wird, wovor alle fliehen; wenn du dann auch den zweiten Buchstaben wegnimmst, siehst du das Entstandene als etwas voll von Gelächter, eine spöttische Anrede für die Schwarzgewandeten.

Form: 9 iambische Fünfzehnsilbler

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B Paraphrasierende Rätsel

Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel aus der Ich-Perspektive. Jedem der drei Objekte sind jeweils drei Verse gewidmet. vv. 1–3: χαρά v. 1: Formale Beschreibung: 2 Silben, vier Buchstaben (χα-ρά). vv. 2–3: Allgemeine positive Attribuierung. v. 2: Wirkung des Rätselobjekts auf Rezipienten. v. 3: Vergleich bzw. Kontextualisierung mit verwandten Begriffen und Synonymen. vv. 4–6: ἀρά (Fluch, Verwünschung) v. 4: Abtrennung des Anfangsbuchstabens (explizit). Boiss., Anecd. Gr. III, p. 438 z. St. merkt richtig an, dass der Vers verkürzt ist. vv. 5–6: Negative Attribuierung, verkehrt vv. 2–3 ins Gegenteil. Der Aufbau ist von einem Chiasmus geprägt, v. 5 spiegelt v. 3 (θυμηδία, εὐφροσύνη – λύπη), v. 6 spiegelt v. 2 ((παμ)πόθητον − ἀπόθητον, φιλούμενον – μισούμενον, ζητητέον – φευκτέον). vv. 7–9: Ausruf ἆ, ἆ oder ἇ, ἇ v. 7: Angekündigt wird die Abtrennung des zweiten Buchstabens (καὶ τὸ δεύτερον [sc. γράμματον] πάλιν). Gemeint ist nicht, wie im Buchstabenrätsel gemeinhin üblich, der zweite Buchstabe des ersten Lösungsbegriffs (α), also der zweite Anfangsbuchstabe, sondern vielmehr der zweite Buchstabe des zweiten Wortes, d. h. insgesamt der dritte (ρ), sodass aus ἀρά ἆ, ἆ wird. Hierauf könnte leicht durch ein Pronomen hingewiesen sein, doch ein solcher Hinweis wird, sicher bewusst, unterlassen. Stattdessen ist die Formulierung durch καί und πάλιν absichtlich irreführend gestaltet. v. 8: Die Kontextualisierung mit Gelächter (γέλως) deutet fälschlicherweise eine Rückwendung zur positiven Konnotation als eine zweite Verwandlung in ein absolutes Gegenteil an. v. 9: Der in v. 8 erzeugte Eindruck wird allerdings durch ἐμπαικτικόν relativiert: Es geht um (hämischen) Spott, nicht um fröhliches Lachen. Ein echter Hinweis auf den Gebrauch des Ausrufs liegt in προσφώνημα. Hierdurch wird der semantische Raum der Anreden bzw. (euphemistisch) Grußworte als Lösungsraum festgelegt. μελαγχίτων steht als umschreibende Metapher u. U. für Mönche in ihren schwarzen Kutten. Der spöttische Ruf mag einen lautmalerischen Zusammenhang mit dem Schrei von (schwarzen) Raben andeuten oder dem Geräusch nachempfunden sein, das Menschen machen, um Raben zu verscheuchen. 5 Buchstabenrätsel von Ἔρως AP App. VII 36, Cougny; Psellos 9, Anecd. Gr. III, p. 432 Boiss.; S 310 Πτερωτός εἰμι, τοξότης καὶ πυρφόρος. Διπλῆ με συντέθεικε δυὰς γραμμάτων,

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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μονάς τε διπλῆ συλλαβῶν. Τὸ πᾶν μάθε· τῆς γοῦν κορυφῆς ἠρμένης τῶν γραμμάτων, τοῖς βαρβάροις πέφυκα συντεταγμένος· ἂν δ’ ἡμισευθῷ, σώματος δηλῶ μέρος. Ich bin geflügelt, trage Bogen und Feuer. Doppelte Zweiheit der Buchstaben konstruierte mich, doppelte Einheit der Silben. Im Ganzen wisse: Wenn der Anfang der Buchstaben weggenommen wird, bin ich zusammengesetzt nach der Natur der Barbaren. Wenn ich aber in der Mitte geteilt werde, zeige ich einen Teil des Körpers.

Form: 6 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, in dem die Rätselobjekte sich aus der Ich-Perspektive umschreiben. v. 1: Ἔρως beschreibt sich als erstes Rätselobjekt anhand seiner markantesten, beinahe schon symbolischen Attribute, Bogen und Feuer. Beide Attribute stehen in direkter Verbindung zu Liebe und erotischer Lust; die Pfeile des Eros erzeugen, bzw. hemmen die Liebe (Ov. met. 1,468–471), das (rasende) Feuer seiner Fackel steht symbolisch für die Macht der Erotik (Ov. met. 1,461 f.). vv. 2–3: Beschreibung der Bezeichnung des gesuchten Objekts im Hinblick auf Buchstaben- (4) und Silbenzahl (2). vv. 4–5: Aus Ἔρως wird durch Tilgung des Anfangsbuchstabens die Bezeichnung Ῥώς, die nach Anecd. Gr. III, p. 432 Boiss. z. St. den Volksstamm der Russen bezeichnet (obwohl es das Wort ῥώς im klassischen Griechisch nicht zu geben scheint; vgl. nur LSJ Suppl. 271 s. v., wo dem Wort die – hier ganz unpassende Bedeutung – „Stärke“ (ῥῶσις) beigelegt ist). Aus der Sicht der Griechen wären die Russen gewiss als βάρβαροι (v. 5) zu bezeichnen. v. 6: Bei Teilung der ursprünglichen Bezeichnung in der Mitte ergibt die zweite Worthälfte das für οὖς stehende ὦς; vgl. die ähnlichen Buchstabenrätsel, in denen das Ohr eine Rolle spielt: AP App. VII 39 (vom Propheten Ἄμως). 55 (vom ποῦς). 56 (vom ποῦς). 71 (vom νοῦς); AP XIV 105 (vom ποῦς). 106 (vom ποῦς). Dass die zweite Worthälfte den gesuchten Körperteil benennt, ist nicht ausdrücklich gesagt, darauf muss der Rezipient selbständig schließen. Intertextuelle Verweise: Vgl. das ganz ähnliche dreistufige Buchstabenrätsel ausgehend von ἔρως bei Basil. Megalomit. 25 Boiss.

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B Paraphrasierende Rätsel

B. III. 3.2 Metasprachlich mit psephischen Angaben und unvollständiger Beschreibung B. III. 3.2.1 Ein Rätselobjekt 1 Rätsel von Gott als Alphabet Basil. Megalomit. 4, Anecd. Gr. III, p. 438 f. Boiss. Ὅλος ὁ νόμος δι’ ἐμοῦ καὶ πάντες οἱ προφῆται Συνίστανται καὶ τὴν ἀρχὴν λαμβάνουσι καὶ ῥίζαν. Τὸ δ’ ὄνομα μου συμπληροῖ συλλαβῶν δυὰς δίς μοι· Τετράκις δὲ τὰ χίλια πάρεξ μιᾶς καὶ μόνης Μετρῶν εὑρήσεις ἀριθμὸν πάλιν ἐμῶν γραμμάτων. Jede Ordnung und alle Propheten werden durch mich zusammengestellt und nehmen [in mir] ihren Anfang und ihren Ursprung. Meinen Namen machen mir zweimal zwei Silben voll; aber viermal tausend weniger eine Einheit an Teilen wirst du finden wiederum als Zahl meiner Buchstaben.

Form: 5 iambische Fünfzehnsilbler Erklärung: Das aus der Ich-Perspektive des auktorialen Erzählers formulierte Rätsel verbindet eine inhaltliche Umschreibung Gottes als Rätselobjekt (vv. 1–2) mit einer formalen Beschreibung (vv. 3–5). vv. 1–2: Die Kontextualisierung mit den προφῆται legt den religiösen Bereich als semantischen Lösungsraum fest. Auch der νόμος als göttliche Struktur und besonders die Charakterisierung als ἀρχὴ καὶ ῥίζη weisen auf (einen) Gott als Rätselobjekt hin; vgl. Aristot. meteor. 353a ἀρχαὶ καὶ ῥίζαι γῆς καὶ θαλάττης. vv. 3–5: Hier werden die Silbenzahl und der psephische Buchstabenwert des Lösungswortes benannt. Der hohe Wert von (4 ⋅ 1000) – 1 = 3.999 scheint dabei für die 2 ⋅ 2 = 4 Silben nur schwer zu realisieren. Die Tatsache, dass hohe Buchstabenwerte bes. z. B. durch die Konsonanten ρ (100), σ (200), τ (300) erreicht werden, die jedoch Vokale brauchen, um sich stimmhaft zu verbinden, und Vokale schnell zu viele Silben bilden, erschwert die Lösung. Gesucht ist somit ein Gottesname, der nur vier Silben hat, dessen Buchstabenwerte addiert aber 3.999 ergeben. Für die Lösung dieser Schwierigkeit gibt die erste Rätselhälfte einen inhaltlichen Hinweis. So lässt sich die Bezeichnung als ἀρχὴ καὶ ῥίζη übertragen in Α καὶ Ω, einer Metapher, die religiös durchaus üblicherweise nicht nur für den Anfang und das Ende des Alphabets, sondern für die abstrakte Ausdehnung des allumfassenden Gottes zwischen Anfang und Ende bzw. für Christus als den Ersten und Letzten zu stehen pflegt; vgl.

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B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

Offb 22,13 ἐγὼ τό Ἄλφα καὶ τὸ Ὦ, ὁ πρῶτος καὶ ὁ ἔσχατος, ἡ ἀρχὴ καὶ τὸ τέλος; als τὸ ἄλφα καὶ τὸ ὦ bereits Offb 1,8. 21,6. Das Rätsel setzt nun den ἀλ – φά – βη – τος als viersilbige Bezeichnung für Alpha bis Omega mit dem Namen Gottes gleich, der alles, von Alpha bis Omega, umfasst. Um auf den genannten psephischen Wert von 3.999 zu kommen, dürfen jedoch nicht, wie sonst bei derlei Rätseln übrig, die Buchstaben des Wortes ἀλφάβητος zusammengezählt werden. Vielmehr müssen alle Buchstaben des Alphabets addiert werden: Α Λ Φ Α Β Η Τ Ο Σ Summe

1 30 500 1 2 8 300 70 200

Α Β Γ Δ Ε Ζ Η Θ Ι

1 2 3 4 5 7 8 9 10

1.112

Κ Λ Μ Ν Ξ Ο Π Ρ Σ Τ Υ Φ Χ Ψ Ω

20 30 40 50 60 70 80 100 200 300 400 500 600 700 800

Summe

3.999

Die Buchstaben Stigma (6) und Qoppa (90) dürfen in die Berechnung nicht mit einbezogen werden. Literatur: Boissonade z. St. scheint nicht begriffen zu haben, dass alle Buchstaben des Alphabets summiert werden müssen, denn er kritisiert: ἀλφάβητος non efficit significatum numerum, 3999.

414

B Paraphrasierende Rätsel

B. III. 3.2.2 Objektkette 1 Buchstabenrätsel vom „vorher“ AP App. VII 72, Cougny; Basil. Megalomit. 35, Anecd. Gr. III, p. 449 Boiss.; S 371 Τῆς ὀγδοάδος τῶν μερῶν σοι τοῦ λόγου ἕν τι πέφυκα· συλλαβὴ δέ μοι μία, καὶ γράμματα τέσσαρα· καὶ μέτρον τόσον, τετράκις πεντήκοντα, τετράκις δέκα. Ἂν ἀφέλῃς τέσσαρας ἀρχῆς εἰκάδας, εὕρῃς με κρατὸς διέξοδον ῥευμάτων· ἂν δὶς δὲ πεντήκοντα πάλιν ἀφέλῃς, ἔχεις δύναμιν σὺν θεῷ σεσωσμένην. Von den acht Teilen der Rede bin ich einer: Silben habe ich aber nur eine und vier Buchstaben; und meine Zahl ist so groß wie viermal fünfzig, viermal zehn. Wenn du vom Anfang die viermal zwanzig wegnimmst, wirst du mich finden als Doppelweg des Kopfes für die Atemzufuhr; Wenn du wiederum zweimal fünfzig entfernst, hast du mit Gott gerettete Kraft.

Form: 8 byzantinische Senare Erklärung: Es handelt sich um ein dreistufiges Buchstabenrätsel, in dem sowohl inhaltliche Hinweise als auch psephische Elemente eine Rolle spielen. Die Rätselobjekte (πρίν, ῥίν/ῥίς, ἴν/ἴς) – aus der Ich-Perspektive beschrieben – stehen in keinem inhaltlichen Verhältnis zueinander. v. 1: Hier wird als inhaltlicher Hinweis auf die Lösung mit den acht Teilen der Rede ein begrenzter Pool an Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die achtteilige Einteilung der Sprache geht auf Donat (GL IV, p. 355 Keil) zurück: partes orationis quot sunt? octo. quae? nomen, pronomen, verbum, adverbium, participium, coniunctio, praepositio, interiectio. Wie viele Teile der Rede gibt es? Acht. Welche? Nomen, Pronomen, Verb, Adverb, Partizip, Konjunktion, Präposition, Interjektion.

Die folgenden Verse der Rätselfrage werden die Lösungshinweise derart konkretisieren, dass πρίν als Lösung erscheint, das zur Gruppe der coniunctio zu rechnen ist. vv. 2–4: Hier wird die äußere Erscheinungsform des Begriffs des gesuchten Objekts anhand von Silben- (1) und Buchstabenzahl (4) sowie mithilfe der pse-

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

415

phischen Umschreibung des Wortwertes (4 ⋅ 50 + 4 ⋅ 10 = 240) angedeutet. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass ein Rezipient diese Angaben nicht direkt auf die Begriffe, welche die acht Teile der Rede markieren, beziehen darf. Unter diesen findet sich denn auch keiner, der nur eine Silbe (und vier Buchstaben) hat. Man muss also vermuten, dass ein Beispiel zu einer der acht Kategorien gesucht ist. vv. 5–6: Durch Tilgung des ersten Buchstabens ergibt sich die Bezeichnung des zweiten Rätselobjekts, dessen inhaltliche Umschreibung als κρατὸς διέξοδος ῥευμάτων (v. 6) kaum missverstanden werden kann, vgl. AP App. VII 54. 69. Die Umschreibung der Nase beruht auf ihrer Anatomie (zwei Nasenflügel), ihrer Position (am Kopf) und ihrer Funktion (atmen). Die Streichung des π ist allerdings nicht, wie sonst in Buchstabenrätseln üblich, ausdrücklich benannt. Vielmehr ist der Anfangsbuchstabe anhand seines Zahlwertes (4 ⋅ 20 = 80 = π) symbolisch umschrieben. Der Rezipient muss erkennen, dass nicht vier Buchstaben mit dem Wortwert 20 (entspräche Kappa), sondern ein Buchstabe mit dem Wortwert 80 zu streichen ist. Auffällig ist dabei, dass die Zahlen bevorzugt als Vielfache von vier angegeben werden (vgl. v. 4). Es ergibt sich auf diese Weise aus πρίν die Nase, ῥίν. Die geläufige Bezeichnung wäre ῥίς, ῥίν steht als Nominativ erst später (Hippokr. de victus ratione 1,23). Tatsächlich muss hier wohl, ein wenig unsauber, von ῥίν noch auf ῥίς geschlossen werden, da sich anderenfalls die beiden Schlussverse nicht sinnvoll erklären lassen. vv. 7–8: Es wird nun der zweite Buchstabe, das Rho, welches den Zahlwert 100 (2 ⋅ 50, v. 7) besitzt, gestrichen, sodass sich ἴν bzw. ἴς ergibt. Zu der inhaltlichen Beschreibung in v. 7 passt jedoch nur die letzte Form ἴς (Kraft), die geradezu als Synonym zu der explizit genannten δύναμις steht. Das alte Personalpronomen ἴν dagegen lässt sich in diesem Zusammenhang nicht erklären.

2 Buchstabenrätsel vom Geist AP App. VII 71, Cougny mit Konjektur von Boissonade, Anecd. Gr. III, p. 447, Anm. 8 (Basil. Megalomit. 33); S 370 Εἰμὶ μὲν ἀσώματος· ὁ φρονῶν, νόει· ἔχω δ’ ἀριθμὸν ἑπτακοντάκις δέκα καὶ τὰ δέκα δίς, Συλλαβὴ δέ μοι μία· ἔχω δὲ καὶ γράμματα πάντα δὶς δύο. Ἂν γοῦν τὸ πρῶτον ἐξέλῃς τῶν γραμμάτων, αὐτίκα σῶμα γίνομαι ξένῳ τρόπῳ· ἢν δ’ αὖ τὸ πρῶτον ἐκξέσῃς τῶν δευτέρων εὐθύς με μάθῃς ζῶον ἓν τῶν ἀγρίων. Ἐμοῦ δὲ τὰ τέταρτα γράμματα πάλιν

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B Paraphrasierende Rätsel

φέροντος, ἄν τις τὸ τρίτον πρῶτον τάμῃ, ἀντιστρόφως τε καὶ καλῶς συλλαβίσῃ, εὕρῃ με τριγράμματον ἓν μέρος λόγου. 2

τριακοντάκις Cougny

Ich bin ohne Körper; du, der du weise bist, denk nach: Ich habe eine Zahl von dreißigmal zehn und zehn zweimal. Silben habe ich nur eine; Buchstaben habe ich im Ganzen zweimal zwei. Wenn du also meinen ersten Buchstaben wegnimmst, werde ich plötzlich auf merkwürdige Weise Körper; Wenn du wiederum von diesem zweiten Wort den ersten Buchstaben wegstreichst, erkennst du in mir weiterhin ein wildes Tier. Von mir, der ich aus vier Buchstaben bestehe, wenn da einer gleich zu Anfang den dritten entfernt und mich rückwärts liest und die eine Silbe wohl komponiert, wird er in meinen drei Buchstaben einen Teil der Grammatik finden.

Form: 12 byzantinische Zwölfsilbler Erklärung: Es handelt sich um ein vierstufiges Buchstabenrätsel, das denen um ποῦς (vgl. AP App. VII 55. 56. 59. 68. 70; AP XIV 105. 106) ähnelt. Inhaltlich ist das Rätsel bestimmt von dem Gegensatz zwischen Körperlosigkeit und Körperlichkeit. vv. 1–4 umschreiben den Geist (νοῦς) als erstes Rätselobjekt. v. 1 enthält neben dem einzigen inhaltlichen Hinweis der Körperlosigkeit (ἀσώματος) eine direkte Lösungsaufforderung an den Rezipienten. Dabei wird betont, dass nur der Weise die Lösung zu finden fähig ist. Die vv. 2–4 beziehen sich auf die Bezeichnung des gesuchten Objekts, sie nennen Silben- (1) und Buchstabenzahl (4) und eine psephische Beschreibung des Wortwertes, die sich allerdings nicht an den einzelnen Buchstaben des Wortes orientiert, sodass sie keinen direkten Hinweis enthält und lediglich zur rückwirkenden Überprüfung einer Lösungsidee genutzt werden kann. Die Rechnung ergibt sich folgendermaßen: 70 ⋅ 10 + 10 ⋅ 2 = 720 Dies stimmt mit dem Wortwert von νοῦς überein: Ν Ο Υ Σ

50 + 70 + 400 + 200 = 720

vv. 5–6 beschreiben den Wandel von dem ersten zum zweiten Rätselobjekt. Aus νοῦς wird durch Tilgung des Anfangsbuchstabens (wie sonst üblicherweise aus

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

417

ποῦς) οὖς. Das Verständnis soll erschwert werden durch die Konstruktion eines scheinbaren Paradoxons: Dass durch Reduktion aus etwas Körperlosem etwas Körperliches (d. h. ein Körperteil, das Ohr) entsteht, erscheint geradezu unmöglich. Der Körper steht hier – totum pro parte – verallgemeinernd für den Körperteil. vv. 7–8 treiben den Gegensatz auf die Spitze, indem hier nun ein konkretes Beispiel der Körperlichkeit, ein wildes Tier Gegenstand des Rätsels wird. Dass ὗς hier, anders als in den ähnlichen Rätseln, die über ποῦς und οὖς dorthin führen, nicht als Nutztier, sondern als ζῷον τῶν ἀγρίων umschrieben wird, ist sicher der Steigerung körperlos – körperlich – wilder Körper geschuldet. Zudem bezeichnet ὗς tatsächlich neben dem Hausschwein ebenfalls das Wildschwein, vgl. Hom. Il. 9,539. Od. 18,29; Hdt. 4,192; Xen. Kyr. 1,6,28. vv. 9–12 beziehen sich auf das vierte und letzte Rätselobjekt, dessen Kategorie v. 12 als μέρος λόγου, und somit wohl als einen Teil der Grammatik bestimmt. Ausgangspunkt ist noch einmal die vollständige Bezeichnung des ersten Objekts (νοῦς), von der nun der dritte Buchstabe entfernt werden soll (v. 10). Es ergibt sich νος. Wird dies rückwärts gelesen, erhält der Rätsellöser das Pronomen σον – und damit eine Lösung, die zu dem Körperlos-Abstrakten des Anfangs zurückkehrt. Die formalen Forderungen des Buchstabenrätsels sind bei der Verrätselung des vierten Objekts besonders kompliziert und können nur ausgeführt werden, wenn der Rätsellöser die bisherigen Objekte, v. a. aber das erste Rätselobjekt, korrekt erkannt hat. Intertextuelle Verweise: Vgl. das inhaltlich ähnliche Buchstabenrätsel von der Seele (ψυχή), AP App. VII78.

3 Buchstabenrätsel von der Nase AP App. VII 69, Cougny; Basil. Megalomit. 34, Anecd. Gr. III, p. 448 Boiss.; S 372 Γράμμασι τρισὶ συλλαβὴν μίαν φέρω· ἔχω δ’ ἀριθμὸν ἐννέα δὶς ἑπτάκις καὶ δώδεκα τρὶς καὶ δεκάκις τρὶς τρία, καὶ πεντάκις ἓξ καὶ τοὺς πέντε δὶς πάλιν, καὶ τετράκις δὶς καὶ πάλιν δὶς τὰ πέντε. Ὁ γοῦν ἀναγνοὺς τὴν γραφὴν, ἀντιστρόφως, κἂν τῷ μέσῳ γράμματα προσθήσει δύο, εὕρῃ πνοῆς ὄχημα τῆς βιοτρόφου. Ἐκ τῶν τριῶν δὲ γραμμάτων πρῶτον ξέσας, τῶν ἀρετῶν γνοίης με τῶν πρώτων μίαν. Ich bestehe aus drei Buchstaben und bilde eine Silbe: Ich habe aber die Zahl neun zweimal siebenmal

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B Paraphrasierende Rätsel

und zwölf dreimal und zehnmal dreimal drei und fünfmal sechs und fünf zweimal wiederum und viermal zweimal und wiederum zweimal fünf. Der, der das Wort kennt, wird, wenn er in der Mitte zwei Buchstaben einfügt, das Gefährt des lebennährenden Atems als das Gleiche finden. Wenn du aber von den drei Buchstaben den ersten abtrennst, wirst du mich als eine der ersten Tugenden erkennen.

Form: 10 byzantinische Senare Erklärung: Es liegt ein Buchstabenrätsel vor, das zusätzlich zu seinen formalen Strukturen psephische und inhaltliche Hinweise zur Umschreibung der Rätselobjekte verwendet. Das Rätsel gliedert sich in drei Abschnitte: vv. 1–5 umschreiben ausschließlich anhand formaler und psephischer Angaben die Nase (ῥίς) als erstes Rätselobjekt. v. 1 verrät Buchstaben- (3) und Silbenzahl (1), während die vv. 2–4 die bewusst kompliziert gehaltene Beschreibung des Wortwertes der Bezeichnung enthalten. Die Schwierigkeit wird für einen Rezipienten erhöht a) durch die Verwendung vieler (kleiner) Zahlen b) durch den Wechsel zwischen Zahladverbien und Kardinalzahlen. Es ergibt sich folgende Rechnung: 9⋅2⋅7 12 ⋅ 3 10 ⋅ 3 ⋅ 3 5⋅6 5⋅2 4⋅2 2⋅5

= = = = = = =

+ + + + + + =

126 36 90 30 10 8 10 310

Addiert man die Zahlwerte der Buchstaben ῥ (100), ί (10), ς (200), ergibt sich ebenfalls der Wert 310. Da die komplizierte Beschreibung des Zahlwertes jedoch nicht im entferntesten auf die einzelnen Buchstaben des gesuchten Wortes eingeht – im Gegenteil, ein Rezipient müsste angesichts der vielen einzelnen Rechnungen die Vorstellung von einem sehr viel längeren Wort (etwa mit 7 Buchstaben) bekommen – nützt die Beschreibung nur zur Kontrolle eines einmal gefundenen Lösungsvorschlags, nicht aber für den Prozess der Auffindung. Die vv. 6–8 dagegen enthalten auch einen inhaltlichen Hinweis, v. 8 nennt in πνοῆς ὄχμα eine beinahe metaphorische Umschreibung der Nase, die sich

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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auf ihre Funktion als Atemweg bezieht. Die weiteren Angaben der Verse sind in mehrererlei Hinsicht problematisch. v. 7 spricht einerseits von einer Wortmitte (τῷ μέσῳ), die bei einem aus drei Buchstaben bestehenden Wort (v. 1) nicht exakt zu bestimmen ist (vor oder nach dem zweiten Buchstaben). Ferner wird gefordert, dass zwei Buchstaben eingefügt werden, die jedoch nicht näher bestimmt sind. Einziger Hinweis ist ἀντιστρόφως (v. 6), das darauf hinweist, dass sich die Bedeutung des Wortes nicht verändert, wenn die beiden Buchstaben eingefügt werden. Daraus ergibt sich, dass πνοῆς ὄχμα als inhaltliche Umschreibung auch das in vv. 1–5 umschriebene Objekt bestimmt. Mit dem formalen Zusatz aus v. 1 kann ein Rezipient dann auf die Nase (ῥίς) schließen und diese Vermutung anhand des Zahlwertes überprüfen. Der Plural ῥίνες entsteht durch die Einfügung von -νε- nach dem Iota und steht auch als Pluraletantum in Sinne einer Nase (mit Betonung der zwei Nasenlöcher), vgl. Hom. Il. 16,503. Od. 5,456; Hes. scut. 267; Soph. Ai. 918. vv. 9–10 nehmen dann erneut die ursprüngliche Bezeichnung ῥίς als Ausgangspunkt, um von dort durch Tilgung des Anfangsbuchstabens auf ἴς als Kraft oder Stärke zu kommen. Zu dem festen Kanon der ἀρεταὶ πρῶται (v. 10) gehören die Eigenschaften σόφρων (besonnen), δίκαιος (gerecht), εὐσεβής (fromm) und ἀγαθός (gut), wobei für letztere auch ἀνδρεῖος (tapfer) steht (Aischyl. Sept. 610). ἴς wiederum kann als Synonym zu ἀνδρεία gelten und erfüllt damit die Forderung aus v. 10. Intertextuelle Verweise: Vgl. das Buchstabenrätsel von (π)ρίν, AP App. VII 72, in dem ebenfalls Singular (ῥίς) und Plural (ῥίνες) der Nase eine Rolle spielen.

B. III. 4 Psephische Rätsel (mit unvollständiger Beschreibung) 1 Rätsel vom Brot AP App. VII 67, Cougny; Basil. Megalomit. 30, Anecd. Gr. III, p. 446 f. Boiss.; S 369 Ἄπνους μέν εἰμι, τοὺς βροτοὺς δὲ ῥωννύω· τὴν κλῆσιν ἔσχον εὐαρίθμητον πάνυ· ἀσπάζομαι γὰρ τὸ τριακῶς δὶς μόνον, δὶς τριάκοντα καὶ μίαν πρὸς τοῖς δέκα. Ich bin ohne Atem, aber ich stärke die Menschen; ich habe einen Namen, der schwer auszurechnen ist: Ich umfasse nämlich zum einen dreimal zwei, zweimal dreißig und eins über zehn.

Form: 4 iambische Trimeter

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B Paraphrasierende Rätsel

Erklärung: Es handelt sich um ein isopsephisches Rätsel mit geringem inhaltlichen Hinweisanteil. Das Rätselobjekt beschreibt sich selbst aus der Ich-Perspektive. v. 1 gibt den einzigen inhaltlichen Hinweis zur Entwicklung einer Lösungsidee und wird bestimmt von einem Gegensatz zwischen ἄπνους und βροτοὺς ῥωννύω. Zwar liegt kein direkter Widerspruch darin, dass etwas Unbelebtes den Menschen nährt, doch zwischen ἄπνους und βροτός (dem Atmenden, dem Menschen) besteht eine gewisse Spannung. Die Angabe ist ungenau und bietet für einen konkreten Lösungsversuch kaum Anhaltspunkte, zumal pflanzliche Nahrungsmittel oder tierische Nebenerzeugnisse wie Milch und Käse u. U. ebenfalls als unbelebt gelten. vv. 2–4 enthalten die psephische Umschreibung des Wortwertes, ohne dass jedoch die einzelnen Buchstaben des gesuchten Begriffes je für sich Berücksichtigung fänden: 3⋅2=6 2 ⋅ 30 = 60 1 + 10 = 11 Die zuerst beschriebene Zahl sechs bezeichnet mit großer Wahrscheinlichkeit Hunderter, sodass sich ein Gesamtwert von 671 ergibt, der auf das Brot (ἄρτος) zutrifft: Ἄ Ρ Τ Ο Σ

+ + + + =

1 100 300 70 200 671

Da die Beschreibung des Gesamtwertes nur begrenzt Rückschlüsse auf den Wert der einzelnen Buchstaben zulässt, zumal nicht bekannt ist, aus wie vielen Buchstaben das gesuchte Wort besteht, helfen die psephischen Angaben kaum bei der Lösung des Rätsels. Es dürfte insgesamt beinahe unmöglich sein, dass ein Rezipient das Rätsel ohne Hilfe löst, da es kaum verwertbare Hinweise enthält.

2 Isopsephische Inschrift um den Namen Sarapis CIG III 504, nr. 5113 ΑΡΑΠΙΣ ΙΣΠΑΝΚΛΛΟΣ

ΧΖΒ ΧΖΒ

B. III METASPRACHLICHE BESCHREIBUNG

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Form: Prosa Erklärung: Die erste Zeile der Inschrift ist unvollständig und muss mithilfe der zweiten so ergänzt werden, dass die Zahlwerte der Buchstaben in beiden Zeilen gleich sind. Für die zweite Zeile ergibt sich: Ι Σ Π Α Ν Κ Α Λ Ο Σ

10 200 80 1 50 20 1 30 70 200

Summe

662

Auf diesen Wert von 662 hin muss auch die erste Zeile ergänz werden. In ihrem unvollständigen Zustand berechnet sich der psephische Wert folgendermaßen: Α Ρ Α Π Ι Σ

1 100 1 80 10 200

Summe

392

In der ersten Zeile der Inschrift fehlen somit Buchstaben im Gesamtwert von 270 (662–392). In der sinnvollen Ergänzung dieser Buchstaben liegt das eigentliche Rätsel. Ein Rezipient erhält keine Angaben dazu, wie viele oder gar welche Buchstaben hier zu ergänzen sind. Da sich der Buchstabenwert 270 auf unterschiedliche Art und Weise erzeugen lässt – bspw. σ (200) + ο (70) oder ρ (100) + ρ (100) + ο (70) oder ο (70) + λ (30) + χ (60) + μ (40) + κ (20) + ν (50) usw. –, bedarf es einer Einbeziehung der Inhalte der lesbaren Inschriftenteile. In der zweiten Zeile geht es um Isis. Das allein ist nicht ganz leicht zu erkennen, denn der Name ist, wenn auch auf gebräuchliche Weise, abgekürzt (ΙΣ) und anstatt mit seinem üblichen Epitheton ῥοδόστερνος (vgl. CIG III 505, nr.

422

B Paraphrasierende Rätsel

5115), anhand dessen er leicht identifiziert werden könnte, mit dem ungewöhnlichen πάνκαλος verbunden. Von Isis kann dann, gerade bei den schon angegebenen Buchstaben in der ersten Zeile, vergleichsweise einfach auf Sarapis als Ergänzung jenes höchsten Götterpaares geschlossen werden. Das ergänzte Σ in (Σ)ΑΡΑΠΙΣ entspricht einem Zahlwert von 200. Die fehlende 70 wird schließlich durch ein ὁ als Artikel aufgefüllt. Die Tatsache, dass hier gar nicht ein Wort, sondern die Verbindung aus Wort und Artikel gesucht wird, erschwert den Lösungsprozess zusätzlich. Intertextuelle Verweise: Vgl. Ps.-Kallisth. 1,31–33. Ferner AP App. VII 21 das Buchstabenrätsel vom Namen Sarapis. Literatur: CIG III p. 504 z. St. ist der Zahlwert der Inschrift falsch transkribiert als χζβ. Anstelle des Zeta hat dort ein Xi zu stehen, das im milesischen System die 60 vertritt. Das Zeta hingegen steht für die 7, im thesischen System für die 6, nicht aber für die an dieser Stelle erforderliche 60.

C Wissensrätsel C. I. Superlativische Fragen C. I. 1 Vereinigung von superlativischen Gegensätzen 1 Superlativische Rätselfrage vom besten und schlechtesten Teil eines Opfertiers Plut. mor. 38b (de audiendo) Βίας ὁ παλαιὸς Ἀμάσιδι, κελευσθεὶς τὸ χρηστότατον ὁμοῦ καὶ φαυλότατον ἐκπέμψαι κρέας τοῦ ἱερείου, τὴν γλῶτταν ἐξελὼν ἀπέπεμψεν, ὡς καὶ βλάβας καὶ ὠφελείας τοῦ λέγειν ἔχοντος μεγίστας. Bias hat in alter Zeit dem Amasis, als der ihn aufforderte, ihm dasjenige Fleisch eines Opfertiers zu schicken, das zugleich das nützlichste und schädlichste sei, die herausgetrennte Zunge geschickt, weil im Reden sowohl der größte Schaden als auch der größte Nutzen liege.

Form: Prosa Kontext: König Amasis von Ägypten ist auch aus anderen Kontexten als Rätselsteller und -Löser bekannt (Plut. conv. sept. sap. 147b. 153ad). Auch andere Könige pflegten, wie wir wissen, das Rätselspiel (untereinander), so etwa der israelitische König Salomo mit der Königin von Saba (1. Könige 10,1; 2. Chronik 9,1); mit König Hiram von Tyrus (Ios. ant. Iud. 8,143. 146. 148 f.; c. Ap. 1,11. 114 f. 120); der fiktive babylonische König Lykurg mit dem Ägypterkönig Nektenabo (vit. Aesop. 102–108. 111–123); vgl. hierzu Holzberg (1992) 65–69. Plutarch berichtet hier von einer Korrespondenz mit Bias von Pirene, der zum festen Kanon der Sieben Weisen gehörte und damit einen würdigen Partner bzw. Gegner im Rätselspiel abgab; vgl. Dikaiarch frg. 32 Wehrli; Diog. Laert. 1,41. 1,13. 82–88 passim; Strab. 14,1,12; Plut. conv. sept. sap. 146e-147a. 150b. 151ad. 152a. 155e. Diese Episode referiert Plutarch im Zusammenhang mit Überlegungen zu negativer und positiver Beeinflussung eines Charakters durch Sprache. Die superlativische Frage Illustriert die gegensätzlichen Potentiale der Sprache. Erklärung: Die Schwierigkeit der superlativischen Frage basiert auf ὁμοῦ, d. h. auf der (scheinbaren) Forderung danach, dass das gesuchte Rätselobjekt zugleich die Eigenschaften a und nicht-a besitzen soll. Dabei handelt es sich um eine scheinhttps://doi.org/10.1515/9783110674743-011

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C Wissensrätsel

bar unmögliche Bedingung, da ein Objekt nicht zugleich es selbst und sein Gegenteil sein kann. Die Lösung liegt in der nicht temporalen, sondern vielmehr modalen Auffassung von ὁμοῦ im Sinne von „gleichermaßen“, wodurch die Ambivalenz des Sprechens betont wird: Sprache besitzt das Potential, sowohl zu schaden als auch zu nutzen. Diese Erkenntnis wird in der superlativischen Frage zusätzlich dadurch erschwert, dass die Attribuierungen als χρηστότατον und φαυλότατον ganz konkret nicht die Sprache selbst betreffen, sondern ihre Konsequenzen. Diese sind ambivalent – ja nachdem, welche Dinge jemand sagt. Es handelt sich damit um eine nicht voll ausgedrückte Enallage. Die Zunge steht in dem Rätsel gleichsam metonymisch als Werkzeug für das Erzeugnis. Intertextuelle Verweise: Vgl. Diog. Laert. 1,104 f. die ganz ähnliche superlativische Rätselfrage nach dem, was für den Menschen zugleich gut und schlecht ist, die ebenfalls auf die Zunge geht; vgl. Plut. Is. 378c, dass zum Fest des Harpokrates, d. h. Horus in ganz Ägypten, der Ruf γλῶσσα τύχη, γλῶσσα δαίμων erklang. Vgl. ferner Certamen 11, p. 231,151–160 Allen, wo in ähnlicher Manier die Frage nach dem Schönsten und zugleich Schlimmsten für den Menschen gestellt ist [Lösung: das eigenverantwortliche Maßhalten]. 2 Superlativische Rätselfrage nach dem, was für die Menschen zugleich am Schönsten und am Schlimmsten ist Certamen 11, p. 231,151–160 Allen υἱὲ Μέλητος Ὅμηρ’ εἴ περ τιμῶσί σε Μοῦσαι, ὡς λόγος, ὑφίστοιο Διὸς μεγάλοιο θυγάτρες, λέξον μέτρον ἐναρμόζων, ὅ τι δὴ θνητοῖσι κάλλιστόν τε καὶ ἔχθιστον· ποθέω γὰρ ἀκοῦσαι. ὁ δέ φησι· Ἡσίοδ’ ἔκγονε Δίου ἑκόντα με ταῦτα κελεύεις εἰπεῖν· αὐτὰρ ἐγὼ μάλα τοι πρόφρων ἀγορεύσω. κάλλιστον μὲν τῶν ἀγαθῶν ἔσται μέτρον εἶναι αὐτὸν ἑαυτῷ, τῶν δὲ κακῶν ἔχθιστον ἁπάντων. […]. Sohn des Meles, wenn dich, wie es heißt, die Musen ehren, die Töchter des Höchsten und Größten, Zeus, sage mir, ins Metrum gefügt: Was ist für die Menschen das Schönste zugleich und das Verhassteste? Das trachte ich zu hören. Der aber sagte: Hesiod, Nachfahre des Zeus, gern will ich sagen, wonach du verlangst und mit ganz freiem Mute will ich es offen verkünden.

C. I. Superlativische Fragen

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Das Schönste unter den guten Dingen ist, sich selbst das eigene Maß zu sein; und von allen schlimmen Dingen das verhassteste.

Form: 8 Hexameter (4 für die Frage, 4 für die Antwort) Erklärung: Ähnlich wie bei anderen Fragen des Wettstreits zwischen Homer und Hesiod ist die eigentliche Rätselfrage eingeleitet von einer expliziten Lösungsaufforderung Hesiods an sein Gegenüber, die betont, dass das Rätsel schwer, nämlich nur für einen von den Musen Geehrten, zu lösen sei. Homers Antwort beginnt entsprechend mit einer Erwiderung, die seine eigene Kompetenz beteuert. Gesucht ist ein ambivalentes Ding oder Phänomen, etwas, das, so paradox es scheinen mag, für den Menschen zugleich positiv und negativ ist oder wirkt. Homer benennt als solches „Grenzwesen“ die aktive und bewusste eigene Maßregelung und Orientierung an sich selbst (μέτρον εἶναι αὐτὸν ἑαυτῷ). Es ist anzunehmen, dass der Sinn dieser kryptischen Erläuterung nicht weit von dem berühmten delphischen γνῶθι σεαυτόν entfernt liegt und auf die schwierige (philosophische) Leistung der Selbsterkenntnis – und entsprechender Handlungsformen – abzielt. Das Maßhalten gemäß eigener sinnvoll festgelegter Richtlinien ist in diesem Sinne einerseits κάλλιστον für den Menschen, insofern es eine positive (moralische, philosophische) Wirkung auf sein Leben hat. Es ist andererseits besonders unangenehm (ἔχθιστον), insofern es schwer zu erreichen ist und seine Erzeugung u. U. mit als unangenehm empfundenen Einschränkungen einhergeht. Intertextuelle Verweise: Diog. Laert. 1,105 überliefert eine ganz ähnliche Frage an den Weisen Anacharsis, der sie jedoch, und zwar mit dem ambivalenten Potential, das die Sprachfähigkeit für den Menschen bietet, anders beantwortet: ἐρωτηθεὶς τί ἐστιν ἐν ἀνθρώποις ἀγαθόν τε καὶ φαῦλον, „γλῶσσα,” ἔφη – Gefragt, was bei den Menschen gut und (zugleich) schlecht sei, erwiderte er: „Die Zunge.“ Vergleichbar auch Plut. mor. 38b (de audiendo) mit der superlativischen Rätselfrage vom besten und schlechtesten Teil eines Opfertiers von König Amasis an den Weisen Bias.

3 Superlativische Rätselfrage vom Größten im Kleinsten (an Periander) Stob. 3,3,45, Hense/Wachsmuth Περίανδρος ἐρωτηθείς, τί μέγιστον ἐν ἐλαχίστῳ, εἶπε „φρένες ἀγαθαὶ ἐν σώματι ἀνθρώπου“.

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C Wissensrätsel

Als Periander gefragt wurde, was das Größte im Kleinsten sei, antwortete er: „Guter Verstand im Körper des Menschen.“

Form: Prosa Erklärung: Die Frage ist nicht an sich paradox, auch wenn sie so scheinen mag: Fasst man beide Superlative (μέγιστον, ἐλάχιστον) absolut auf oder bezieht sie auf dieselbe Kategorie (z. B. Tiere, Gebäude, o.Ä.), ergibt sich zwar das Problem, dass das Größte notwendigerweise (viel) größer als das Kleinste erscheint und somit nicht (vollständig) durch das Kleinste aufgenommen werden kann. Fasst man dagegen den Dativ mit ἐν als Ersatz für den Genitivus partitivus auf, d. h. bezieht man den ersten Superlativ (μέδιστον) auf den zweiten (ἐλάχιστον) – z. B. das größte Organ des kleinsten Tieres – ist eine sinnvolle Beantwortung der Frage prinzipiell möglich. Zuerst müsste dann erschlossen werden, aus welcher semantischen Lösungskategorie das ἐλάχιστον stammt. Durch seine grundsätzliche Möglichkeit ist dieses Verständnis eventuell gegenüber der absoluten Auffassung bzw. dem Bezug auf ein Objekt verlockend. Tatsächlich führt aber gerade dies auf Abwege. Der Ausweg für einen Lösungsansatz liegt vielmehr darin, dass die Superlative nicht als Maßangaben materieller Quantitäten aufgefasst werden dürfen, sondern auf die Bedeutung bzw. den (ideellen) Wert des Bezugsobjekts bezogen werden müssen. Die Frage lautet dann im übertragenen Sinne: „Was ist das Bedeutungsvollste im Bedeutungslosesten?“. Hier genügt es nun gerade nicht, die einzelnen Superlative zu „übersetzen“, vielmehr ist ein Paar gesucht, und zwar dasjenige mit der größten Bedeutungsdiskrepanz. So ergibt sich schließlich die Frage: „Was ist es, wo die größte und die kleinste Bedeutung zusammen vorkommen?“. Als Antwort ergibt sich dann der Mensch mit seinem vergänglichen, in diesem Sinne minderwertigen (ἐλάχιστον) Körper und seiner vollkommenen, unsterblichen (μέγιστον) Seele. Besonders pointiert ist diese Lösung im Hinblick auf die Körperlosigkeit der Seele, der somit eine messbare räumliche Ausdehnung vollkommen abgeht, auf die sich die Adjektive μέγας uns μικρός primär beziehen. Intertextuelle Verweise: Vgl. Periander im Rätselkontext in der Episode von den ausgerissenen Ähren (Periander und Thrasybulos, Hdt. 5,92ζη) und bei der Befragung des Totenorakels (Melissa, Hdt. 5,92η). Dasselbe Rätsel ist auch Teil des Wettstreits zwischen Homer und Hesiod (Certamen 11, p. 232,166 f.): ἐν δ’ ἐλαχίστῳ ἄριστον ἔχεις ὅ τι φύεται εἰπεῖν; ὡς μὲν ἐμῇ γνώμῃ φρένες ἐσθλαὶ σώμασιν ἀνδρῶν.

C. I. Superlativische Fragen

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C. I. 2 Philosophisch-kosmologische Fragen (allgemeine Superlative) 1 Superlativische Frage nach dem Besten für den Menschen Certamen 7, p. 228,75–79 Allen υἱὲ Μέλητος Ὅμηρε θεῶν ἄπο μήδεα εἰδὼς, εἴπ’ ἄγε μοι πάμπρωτα τί φέρτατον ἐστι βροτοῖσιν; Ὅμηρος ἀρχὴν μὲν μὴ φῦναι ἐπιχθονίοισιν ἄριστον, φύντα δ’ ὅμως ὤκιστα πύλας Ἀίδαο περῆσαι. Sohn des Meles, Homer, der du deine Kenntnis von den Göttern hast, sag mir als erstes: Was ist das Beste für die Menschen? Homer Nicht geboren zu werden wäre für alle Menschen das Beste, doch einmal geboren schnellstmöglich an die Tore des Hades zu gelangen.

Form: 4 Hexameter (2 für die Frage und 2 für die Antwort) Kontext: Bei den Leichenspielen zu Ehren des Königs Amphidamas auf Euboia treffen u. a. Hesiod und Homer aufeinander. Es ist von dem Sohn des verstorbenen Königs, Ganyktor, ein Wettstreit zwischen den Dichtern ausgesetzt, der darin besteht, dass Hesiod Homer mit unterschiedlichen Rätselfragen konfrontiert, die der Dichter allesamt erfolgreich löst. Erklärung: Die Frage Hesiods wird eingeleitet durch eine direkte Lösungsaufforderung an Homer (εἴπ’ ἄγε), dessen Kompetenz in Weisheitsfragen, gleichsam herausfordernd, ausdrücklich betont wird (θεῶν ἄπο μήδεα εἰδώς). Die Antwort Homers ist unerwartet und in diesem Sinne typisch als Lösung einer superlativischen Rätselfrage – gerade ihre Originalität macht sie zu einer besonders vortrefflichen Lösung. Da Hesiod nach etwas Positivem (φέρτατον, ἄριστον) fragt, überrascht Homers scheinbar morbide Antwort, die entgegen aller landläufigen Vorstellung den Tod bzw. die Nicht-Existenz als für den Menschen erstrebenswert charakterisiert. In besonders pointierter (und pessimistischer) Weise bringt Homer damit zum Ausdruck, dass ein möglichst geringes Maß an Leid das höchste Gut für den Menschen sei. Geht man davon aus, dass nur lebendige Wesen Leid empfinden können, ergibt sich als sicherster Weg, um Leid zu vermeiden, überhaupt nicht oder nur sehr kurz zu leben. Der gedanklich zugrundeliegende Syllogismus ist also folgender: Menschen leiden, solange sie leben. Das größte Gut für den Menschen ist es, möglichst wenig zu leiden.

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Ergo ist es das größte Gut für den Menschen, überhaupt nicht oder nur für kurze Zeit zu leben. Ähnliche Gedanken bringt der Athener Solon in seinem Gespräch mit dem Lyderkönig Kroisos über die Frage nach dem glücklichsten Menschen zum Ausdruck (Hdt. 1,30–33, bes. 31: ὁ θεὸς ὡς ἄμεινον εἴη ἀνθρώπῳ τεθνάναι μᾶλλον ἢ ζώειν). Dass Homers Antwort, anders als von Hesiod in dem überlieferten Wettkampf, durchaus auch kritisch aufgenommen werden könnte, wenn man betont, dass es, wenn ein Mensch überhaupt nicht geboren wird, für ihn auch nichts Gutes geben kann, beeinflusst die inhärente Logik der Antwort nicht. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlich gelagerte Frage nach dem menschlichen Glück im weiteren Verlauf des Wettstreits (Certamen 11, p. 232,174 f. Allen), bei dessen Beantwortung Homer einen anderen Aspekt desselben Gedankens betont, nämlich mit Verweis auf möglichst wenig Leid und möglichst viel Freude beantwortet. Vgl. insgesamt auch die Konstellation zwischen Solon und Kroisos (Hdt. 1,30– 33) mit der superlativischen Rätselfrage nach dem glücklichsten Menschen, bei deren Auflösung durch Solon ähnliche Gedanken zum Tragen kommen. Literatur: Vgl. einführend zu jener pessimistischen Lebensauffassung Marquard (1905); Nestle (1921) 81–97; Gilhus/Zenkert (42003) 596–598.

2 Superlativische Rätselfrage nach dem Schönsten für den Menschen Certamen 7, p. 228 f.,81–89 Allen εἴπ’ ἄγε μοι καὶ τοῦτο θεοῖς ἐπιείκελ’ Ὅμηρε, τί θνητοῖς κάλλιστον ὀίεαι ἐν φρεσὶν εἶναι; ὁ δέ· ὁππότ’ ἂν εὐφροσύνη μὲν ἔχῃ κάτα δῆμον ἅπαντα, δαιτυμόνες δ’ ἀνὰ δώματ’ ἀκουάζωνται ἀοιδοῦ ἥμενοι ἑξείης, παρὰ δὲ πλήθωσι τράπεζαι σίτου καὶ κρειῶν, μέθυ δ’ ἐκ κρητῆρος ἀφύσσων οἰνοχόος φορέῃσι καὶ ἐγχείῃ δεπάεσσιν. τοῦτό τί μοι κάλλιστον ἐνὶ φρεσὶν εἴδεται εἶναι. Aber sage mir auch dies, göttergleicher Homer: Was erscheint dir im Sinn das Schönste für die sterblichen Menschen zu sein? Der aber sagte: Wenn Freude im ganzen Volk herrscht und alle schmausen in ihren Häusern und dem Sänger lauschen und in Reihen sitzen an Tischen, die überlaufen

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von Brot und Fleisch, und der Mundschenk schöpft aus dem Mischkrug funkelnden Wein und bringt ihn und füllt ihn in Becher. Das deucht mich im Sinne das Schönste zu sein.

Form: 8 Hexameter (2 für die Frage, 6 für die Antwort) Erklärung: Als Hesiod im Wettkampf mit Homer seine zweite superlativische Frage stellt, wandelt er seine erste Frage nur geringfügig ab. Hatte er zuerst nach dem Besten (φέρτατον) gefragt, gilt die zweite Frage dem Schönsten (κάλλιστον). Beide Begriffe lassen sich nicht leicht scharf voneinander abgrenzen und eine besondere Schwierigkeit mag hier für Homer darin liegen, auf die im Prinzip wiederholte Frage eine neue, eigenständige Antwort zu geben. So ist denn an Homers zweiter Antwort für sich genommen nichts besonders Originelles oder Pointiertes. Sie zielt nicht auf den Menschen als Individuum, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Das Beste sei in diesem Sinne, wenn alle froh und in Wohlstand und Muße lebten.

3 Allgemein-philosophische Frage nach dem größten Glück für den Menschen Certamen 11, p. 232,174–175 Allen Ἡσίοδος ἡ δὲ εὐδαιμονίη τί ποτ’ ἀνθρῶποισι καλεῖται; Ὅμηρος λυπηθέντ’ ἐλάχιστα θανεῖν ἡσθέντα τε πλεῖστα. Hesiod Was gilt den Menschen als Glück? Homer Zu sterben, nachdem man möglichst wenig gelitten und möglichst viel Lust empfunden hat.

Form: 2 Hexameter (einer für die Frage, einer für die Antwort) Erklärung: Die Frage Hesiods zielt auf ein landläufiges Verständnis von Glück (εὐδαιμονίη), ohne damit ein (direktes) Werturteil zu verbinden. Gefragt ist nach dem, was als Glück gilt, nicht danach, was Glück tatsächlich ist. In diesem Sinne steht seine Frage einer „normalen“ Wissens- oder Prüfungsfrage vergleichsweise nahe. Durch Befragung einer repräsentativen Anzahl von Menschen (ἀνθρώποισι) könnte Homer die gesuchte Lösung prinzipiell in Erfahrung bringen. Seine Antwort, die von solchen hypothetischen individuellen Antworten abstrahiert und das zugrunde liegende Prinzip veranschaulicht – Menschen sehnen sich

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nach Lust und Genuss und fliehen Mühsal und Leid – demonstriert damit eine gewisse Menschenkenntnis. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnlich gelagerte Frage nach dem Besten für den Menschen, die Hesiod schon einmal zu Beginn des Wettstreits stellt (Certamen 7, p. 228 f.,75–89 Allen). Bei der Beantwortung jener Frage betont Homer einen anderen Aspekt desselben Gedankens (Leidlosigkeit), nämlich den Umstand, dass möglichst wenig Leid als erstrebenswertes Ziel für den Menschen durch möglichst kurze Leidensdauer und in diesem Sinne durch eine möglichst kurze Lebensdauer zu erreichen sei. Vgl. insgesamt auch die Konstellation zwischen Solon und Kroisos (Hdt. 1,30– 33) mit der superlativischen Rätselfrage nach dem glücklichsten Menschen, bei deren Auflösung durch Solon ähnliche Gedanken zum Tragen kommen. 4 Superlativische Frage nach dem Unmöglichen Certamen 8, p. 229,94–101 Allen ὁ δὲ Ἡσίοδος ἀχθεσθεὶς ἐπὶ τῇ Ὁμήρου εὐημερίᾳ ἐπὶ τὴν τῶν ἀπόρων ὥρμησεν ἐπερώτησιν καὶ φησι τούσδε τοὺς στίχους· Μοῦσ’ ἄγε μοι τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα, τῶν μὲν μηδὲν ἄειδε, σὺ δ’ ἄλλης μνῆσαι ἀοιδῆς. ὁ δὲ Ὅμηρος βουλόμενος ἀκολούθως τὸ ἄπορον λῦσαι φησίν· οὐδέ ποτ’ ἀμφὶ Διὸς τύμβῳ καναχήποδες ἵπποι ἅρμαρα συντρίψουσιν ἐρίζοντες περὶ νίκης. Hesiod aber war verdrießlich über das gute Los Homers und deshalb ging er zu aporetischen Fragen über und sprach die folgenden Verse: Muse, was ist, was sein wird und was vormals war, davon singe mir nichts, sondern gedenke eines gänzlich anderen Gesanges. Homer aber wollte die Unmöglichkeit exakt auflösen und sagte: Niemals werden am Grabmal des Zeus donnerhufige Pferde ihre Wagen aneinander schmettern, wenn sie um den Sieg streiten.

Form: 4 Hexameter (2 für die Frage, 2 für die Antwort) mit Prosarahmen Erklärung: Mit seiner Rätselfrage wähnt sich Hesiod auf sicherem, eigenen Terrain, denn die Formulierung der Frage greift ausdrücklich auf die berühmten Verse aus der Theogonie zurück, in denen den Musen (Μοῦσα als Anrede für Homer) unbegrenztes prophetisches Wissen über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft attestiert wird (Hes. theog. 37–40): Τύνη, Μουσάων ἀρχώμεθα, ταὶ Διὶ πατρὶ ὑμνεῦσαι τέρπουσι μέγαν νόον ἐντὸς Ὀλύμπου, εἰρεῦσαι τά τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα, φωνῇ ὁμηρεῦσαι· […].

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Lass uns mit den Musen beginnen, die ihrem Vater Zeus im Olymp seinen hohen Sinn erfreuen mit ihrem Gesang, wenn sie das Gegenwärtige künden und das Zukünftige und das Vergangene mit harmonischer Stimme […].

Gesucht ist nun etwas, das in keine der drei Zeitkategorien fällt und das somit, genau genommen, nicht einmal den Musen bekannt sein dürfte. Dabei wird offenbar die Benennung von etwas, das nicht existiert (hat) und niemals existieren wird, verstanden als die Benennung von etwas, das nicht existieren kann, d. h. von etwas Unmöglichem (ἄπορον). Die Benennung bzw. das Ersinnen von etwas ganz und gar Unmöglichem gilt dabei selbst als (beinahe) Unmöglich. Homers Antwort, deren Unmöglichkeit in einem inhaltlichen Widerspruch besteht, ist insofern besonders kunstvoll, als letztendlich auf das konkrete Setting das er beschreibt, auf die Pferde, die Wagen, das Wettrennen oder den Sieger rein gar nichts ankommt. Unmöglich ist allein schon die Existenz eines Grabmahls für den unsterblichen Gott (Διὸς τύμβος). Intertextuelle Verweise: In leicht abweichender Form ist dieses Rätsel (mit Hesiod und Homer als Rätselpersonal) ebenfalls überliefert bei Plut. conv. sept. sap. 154a. 5 Superlativische Frage nach dem besten Gebet Certamen 11, p. 232,164 f. Allen Ἡσίοδος εὔχεσθαι δὲ θεοῖς ὅ τι πάντων ἐστὶν ἄμεινον; Ὅμηρος εὔνουν εἶναι ἑαυτῷ ‹ἀεὶ› χρόνον ἐς τὸν ἅπαντα. 1 θεοῖσι τί West Rzach

2 εὐνομον Rzach

†εἶναι ἑαυτῶι† χρόνον West

ἑῷ θυμῷ χρόνον Rzach

Hesiod Was ist besser als alles von den Göttern zu erflehen? Homer Sich selbst wohlgesinnt zu sein bis in alle Zeit.

Form: 2 Hexameter (einer für die Frage, einer (mit Störung) für die Antwort Erklärung: Es handelt sich um eine allgemeine superlativische Frage, die auf moralische Prinzipien zielt. Was man von den Göttern erflehen, d. h. was man sich für sich selbst wünschen soll, ist freilich, fragt man einen Weisen, wie Homer einer ist, nichts Materielles wie Reichtum, Besitz und gesichertes Auskommen. Doch auch moralisch vermeintlich hochstehende Werte wie Gesundheit, die Freiheit von

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Schicksalsschlägen oder eine große (glückliche) Familie nennt Homer nicht als Antwort. Aufgrund der unklaren Textgestalt an der entscheidenden Stelle ist nicht mit Sicherheit nachzuvollziehen, welcher Gedanke der homerischen Erwiderung zugrunde liegt. Die Antwort scheint jedoch um die Grundannahme zu kreisen, dass ein jeder – in welcher Art und Weise auch immer – eine positive Einstellung (εὔνουν bzw. εὔνομον) zu sich selbst (ἑαυτῶι bzw. ἑῷ θυμῷ), d. h. eventuell zu der ihm zugestandenen Zeit, seinen Vermögensverhältnissen oder, ganz allgemein, zu seinem Schicksal haben soll. Homers Rat wäre dann also, die Götter um eine grundsätzliche Zufriedenheit und Gelassenheit zu bitten. Vgl. hierzu die Debatte zwischen dem Lyderkönig Kroisos und dem weisen Athener Solon über das menschliche Glück und dessen Unbeständigkeit (Hdt. 1,30–33), in der Ähnliches zur Sprache kommt: Wahrhaftig glücklich ist nur der, der mit seiner Lage – ob gut oder schlecht – gut zurechtkommt, denn das wechselvolle menschliche Schicksal beschert jedem sowohl positive als auch negative Zeiten. Eine alternative Lesart, die Homers Antwort folgendermaßen rekonstruiert, weist hingegen in eine andere, weniger individuell-tiefgründige als vielmehr staatsmännisch-pragmatische Richtung: εὔνουν θυμὸν ἔχειν ἀστοῖς χρόνον ἐς τὸν ἅπαντα – Dass sie wohlgesinnt seien den Städten für alle Zeiten. Eine gewisse Weisheit zeigte sich in einer solchen Antwort etwa, insofern dem Einzelnen angeraten ist, bei den eigenen Wünschen nicht nur – egozentriert – sich selbst im Blick zu haben, sondern auch das Gemeinwesen, in dem er lebt und dessen Gedeihen sein Glück maßgeblich mitbestimmt. Auch die weitsichtige Ausrichtung eines solchen Gebets gegenüber einer auf ein kurzfristiges, temporär u. U. als lustbringender empfundenes Ziel gerichteten Bitte lässt eine gewisse philosophische Pointiertheit der von Hesiod sogleich anerkannten Rätsellösung erkennen.

6 Allgemein-philosophische Frage nach dem Ergebnis von Gerechtigkeit und Mannhaftigkeit Certamen 11, p. 232,168 f. Allen Ἡσίοδος ἡ δὲ δικαιοσύνη τε καὶ ἀνδρείη δύναται τί; Ὅμηρος κοινὰς ὠφελίας ἰδίοις μόχθοισι πορίζειν. Hesiod Rechtschaffenheit und Mannhaftigkeit vermögen (gemeinsam) was? Herodot Allgemeinen Nutzen durch individuelle Mühen zu schaffen.

Form: 2 Hexameter (einer für die Frage, einer für die Antwort)

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Erklärung: Es handelt sich nicht im strengen Sinne um eine superlativische Frage, doch weil δικαιοσύνη und ἀνδρείη besonders positiv besetzte Tugenden sind und ihre Verbindung so gleichsam einen Tugend-Superlativ bildet, lässt sich die allgemein-philosophische Frage durchaus in diesem Zusammenhang betrachten. Als (positiven) Effekt von Gerechtigkeit und Mannhaftigkeit nennt Homer in seiner Lösung den Einsatz des Einzelnen für das Gemeinwesen, mithin selbstloses, verantwortungsvolles Handeln. Ähnlich wie bei einigen der anderen Fragen aus dem Wettstreit zwischen den beiden großen Dichtern liegt auch hier die Pointe wohl darin, dass die Antwort auf eine Frage, die zunächst auf das Individuum abzuzielen scheint, sich auf die Allgemeinheit oder doch auf die Rolle des Individuums in einer solchen bezieht. Auch die Struktur der AntwortFormulierung macht jene Verschachtelung deutlich, indem die sich jeweils entsprechenden Begriffe aus Allgemeinheit und Individualismus in einer gewissen Klammerstellung angeordnet sind (κοινὰς – ἰδίοις, ἀφελίας – μόχθοισι). 7 Allgemein-philosophische Frage nach dem Anzeichen für menschliche Weisheit Certamen 11, p. 232,170 f. Allen Ἡσίοδος τῆς σοφίης δὲ τί τέκμαρ ἐπ’ ἀνθρώποισι πέφυκεν; Ὅμηρος γιγνώσκειν τὰ παρόντ’ ὀρθῶς, καιρῷ δ’ ἅμ’ ἕπεσθαι. Hesiod Welches Anzeichen von Weisheit entsteht an den Menschen? Homer Den gegenwärtigen Moment gut zu kennen und zugleich dem glücklichen Augenblick zu folgen.

Form: 2 Hexameter (einer für die Frage, einer für die Antwort) Erklärung: In einem Weisheitsagon eine Frage nach dem (deutlichsten) Anzeichen für Weisheit zu stellen, besitzt an sich schon eine gewisse Gewitztheit. Zugleich suggeriert die Frage, gesucht sei nach einem sichtbaren Zeichen – was freilich gedanklich in eine ganz falsche Richtung führt. Unbeirrt antwortet Homer mit dem Verweis auf einen guten, bewussten Umgang mit der Zeit. Als weise erweist sich demnach derjenige, der den Tag zu nutzen versteht und der sich ganz allgemein über die Zeitlichkeit, d. h. auch über die Veränderlichkeit und die Vergänglichkeit, des menschlichen Lebens in der Zeit bewusst ist.

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8 Allgemein-philosophische Frage nach dem Vertrauen Certamen 11, p. 232,172 f. Allen Ἡσίοδος πιστεῦσαι δὲ βροτοῖς ποῖον χρέος ἄξιόν ἐστιν; Ὅμηρος οἷς αὐτὸς κίνδυνος ἐπὶ πραχθεῖσιν ἕπηται. Hesiod Welcher Umstand ist es wert, den Menschen zu vertrauen? Homer Wenn ihnen für ihr Tun dieselbe Gefahr folgt.

Form: 2 Hexameter (einer für die Frage, einer für die Antwort) Erklärung: Schon die Frage suggeriert, dass der Mensch grundsätzlich kein allzu vertrauenswürdiges, weil etwa schwaches, ängstliches, bestechliches Wesen ist. Von einer solchen Grundannahme scheint dann auch die Antwort Homers getragen zu sein: Vertrauenswürdig ist ein Mensch demnach offenbar besonders dann, wenn seine Vertrauenswürdigkeit belohnt, bzw. vice versa, wenn seine mangelnde Vertrauenswürdigkeit in irgendeiner Form bestraft wird. Der Vertrauenswürdigkeit des jeweils anderen können sich demnach insbesondere diejenigen sicher sein, die in gleicher Weise von der Wahrung der Vertrauenswürdigkeit profitieren, etwa weil ein Vertrauensbruch beiden schaden könnte. Homers Lösung, die von Hesiod klaglos angenommen wird, wirft somit ein nicht eben schmeichelhaftes Licht auf die Grundhaltung des egozentrischen, nutznießenden Menschen. Vor diesem Hintergrund sind seine Antworten auf einige der anderen im Wettkampf von Hesiod gestellten Fragen besonders nachvollziehbar, die stets als weise (und in diesem Sinne wohl nicht gewöhnlich) denjenigen Menschen erscheinen lassen, der sich selbst als Teil eine Gemeinschaft wahrnimmt. 9 Superlativische Frage nach dem schrecklichsten Tier an Thales bzw. Bias Plut. conv. sept. sap. 147b, Babbitt […] καὶ πάλιν ἔν τινι πότῳ, περὶ τῶν θηρίων λόγου γενομένου, φαίης κάκιστον εἶναι τῶν μὲν ἀγρίων θηρίων τὸν τύραννον, τῶν δ᾽ ἡμέρων τὸν κόλακα· […]. Und dann wieder ein anderes Mal, als die Rede auf die Tiere kam, antwortest du, das schlimmste unter den wilden Tieren sei der Tyrann, das schlimmste unter den zahmen aber sei der Schmeichler.

Form: Prosa

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Kontext: Bei dem Zusammentreffen der Sieben Weisen in dem nahe Korinth gelegenen Landhaus Perianders, das sich der Beantwortung einer von dem König der Aithioper an den in dieser Sache hilflosen König Amasis von Ägypten gestellten Rätselaufgabe [Austrinken des Ozeans] widmet, kommt dem Weisen Bias ein besonderer Vorzug als Berater zu, da dieser sich bereits bei einem früheren Zusammentreffen mit dem Ägypter als besonders geschickt in Rätseldingen erwiesen hatte (Plut. mor. 38b (de audiendo)). Der ägyptische Bote Neiloxenos, der das Anliegen des Ägypterkönigs vor den Weisen vorbringt, erklärt nun, warum nicht Thales, der gemeinhin als der Vorderste unter den Sieben Weisen gilt, von Amasis besonders ins Vertrauen gezogen wird – er gilt als grundsätzlich (ob zu Recht oder zu Unrecht) königsfeindlich. Als Beispiel für diese Gesinnung verweist der Gesandte u. a. auf eine offenbar allgemein bekannte Befragung des Thales über das schlimmste Tier (κάκιστον θηρίον bzw. ζῴων χαλεπώτατον bei Plut. mor. 61c (quomodo adulator ab amico internoscatur)), bei der Thales eine für Könige (und Herrscher im Allgemeinen) wenig schmeichelhafte Antwort gibt. Erklärung: Bei der Frage nach dem κάκιστον θηρίον wird wohl der durchschnittliche Rezipient an eines unter den besonders gefährlichen Tieren denken wie einen Löwen, eine Giftschlange oder dergleichen. Thales jedoch fasst den Begriff θηρίον im übertragenen Sinne als ζῷον (wie ausdrücklich in Plut. mor. 61c (quomodo adulator ab amico internoscatur)) auf oder bezieht die im engeren Sinne ausschließlich für Tiere gebrauchte Bezeichnung auf den Menschen. Implizit erklärt er den Menschen im Allgemeinen damit zu einem θηρίον, worin eine durchaus kritische Betrachtung des ansonsten gemeinhin als Krone der Schöpfung angesehenen Menschen liegt. Sie betont im Charakter des Menschen Aspekte wie Grausamkeit, Gewaltbereitschaft, Wildheit, Unkontrolliertheit u. Ä., in denen sich – ehrlich betrachtet – Mensch und Tier vergleichsweise nahe stehen. Als die Schlimmsten unter jenen grundsätzlich negativ konnotierten Menschen nennt Thales, im Allgemeinen für seine herrscherkritische Haltung bekannt, einerseits den Tyrannen (τύραννος) und andererseits den Schmeichler (κόλαξ). Er unterscheidet dabei zwei Extremfälle und geht darin über die Anforderungen der Frage, die zunächst nur nach einer einfachen Antwort verlangt hatte, gewissermaßen hinaus. Den Tyrannen bezeichnet Thales als das schlimmste unter den wilden Tieren (ἀγρίων θηρίων) und betont dabei insbesondere die Unkontrollierbarkeit und sicher auch die temporäre Gewaltbereitschaft solcher unumschränkter Alleinherrscher. Auf der anderen Seite der Skala steht nach Thales der Schmeichler, den er als schlimmstes unter den zahmen Tieren (ἡμέρων θηρίων) klassifiziert. Dabei liegt in jener Attribuierung keine

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positive Aufwertung gegenüber dem Tyrannen, denn als „zahm“ lässt sich der Schmeichler wohl v. a. in dem Sinne bezeichnen, dass er stets demjenigen, den er umschmeichelt, nach dem Mund redet und ihm gegenüber gewissermaßen (hand-)zahm ist. Dass dies weniger als diplomatische Tugend geadelt denn als Zeichen eines schwachen, launenhaften Charakters verurteilt wird, leuchtet ein. Thales’ Antwort korrigiert somit gewissermaßen die Voraussetzungen der Ausgangsfrage, indem er den Menschen – anhand zweier Beispiele – als das schlechteste, schrecklichste Wesen abkanzelt. Kein Tier, so wohl die Pointe, kann sich ebenso fürchterlich verhalten wie der Mensch. Eine Frage nach dem schrecklichsten Tier gilt in diesem Sinne als gegenstandslos, weil die Schlechtigkeit jedes noch so wilden, grausamen Tieres durch jene Wildheit des Menschen noch übertroffen wird. Wenn man nach einem Superlativ in der Schlechtigkeit fragt, so scheint Thales seinem Gegenüber indirekt mitteilen zu wollen, dann müsse man ihn auf den Menschen beziehen. Intertextuelle Verweise: Plut. mor. 61c (quomodo adulator ab amico internoscatur) schreibt die Beantwortung dieser superlativischen Rätselfrage Bias zu und bewertet die Lösung als wenig gelungen (ὅθεν οὐδ’ ὁ Βίας ἀπεκρίνατο καλῶς …). Vgl. Plut. Alexander 64 mit den superlativischen Fragen Alexanders an die von ihm gefangenen Gymnosophisten, unter denen die dritte nach dem klügsten Tier mit Verweis auf dasjenige Tier, das der Kenntnis des Menschen bisher entgangen sei, gelöst wird. Auch hier klingt eine überlegene Bedrohung des Menschen für alle Tiere, mithin ein Grundgedanke von der Schrecklichkeit des Menschen, an.

10 Superlativische Rätselfragen von Amasis an den aithiopischen König (und an Thales) Plut. conv. sept. sap. 153ad, Babbitt „Τί πρεσβύτατον;“ „χρόνος.“ „Τί μέγιστον;“ „κόσμος.“ „Τί σοφώτατον;“ „ἀλήθεια.“ „Τί κάλλιστον;“ „φῶς.“ „Τί κοινότατον;“ „θάνατος.“ „Τί ὠφελιμώτατον;“ „θεός.“ „Τί βλαβερώτατον;“ „δαίμων.“ „Τί ῥωμαλεώτατον;“ „τύχη“ „Τί ῥᾷστον;“ „ἡδύ.“ […] ὅτι τὰς μὲν ἀπεδέξατο ταῖς δ᾽ ἐδυσκόλαινε, „καὶ μὴν οὐδὲν,“ εἶπεν ὁ Θαλῆς, „ἀνεπίληπτόν ἐστιν, ἀλλ᾽ ἔχει πάντα διαμαρτίας μεγάλας καὶ ἀγνοίας. οἷον εὐθὺς ὁ χρόνος πῶς ἂν εἴη πρεσβύτατον, εἰ τὸ μὲν αὐτοῦ γεγονὸς τὸ δ᾽ ἐνεστώς ἐστι τὸ δὲ μέλλον; ὁ γὰρ

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μεθ᾽ ἡμᾶς ἐσόμενος χρόνος καὶ πραγμάτων τῶν νῦν καὶ ἀνθρώπων νεώτερος ἂν φανείη. τὸ δὲ τὴν ἀλήθειαν ἡγεῖσθαι σοφίαν οὐδὲν ἐμοὶ δοκεῖ διαφέρειν τοῦ τὸ φῶς ὀφθαλμὸν ἀποφαίνειν. εἰ δὲ τὸ φῶς καλόν, ὥσπερ ἐστὶν [sic], ἐνόμιζε, πῶς τὸν ἥλιον αὐτὸν παρεῖδε; τῶν δ᾽ ἄλλων ἡ μὲν περὶ θεῶν καὶ δαιμόνων ἀπόκρισις θράσος ἔχει καὶ κίνδυνον, ἀλογίαν δὲ καὶ πολλὴν ἡ περὶ τῆς τύχης· οὐ γὰρ ἂν μετέπιπτε ῥᾳδίως οὕτως, ἰσχυρότατον οὖσα τῶν ὄντων καὶ ῥωμαλεώτατον. οὐ μὴν οὐδ᾽ ὁ θάνατος κοινότατόν ἐστιν· οὐ γάρ ἐστι πρὸς τοὺς ζῶντας. ἀλλ᾽ ἵνα μὴ δοκῶμεν εὐθύνειν τὰς τῶν ἑτέρων ἀποφάσεις, ἰδίας ταῖς ἐκείνου παραβάλωμεν· ἐμαυτὸν δὲ παρέχω πρῶτον, εἰ βούλεται Νειλόξενος, ἐρωτᾶν καθ᾽ ἕκαστον. ὡς οὖν ἐγένοντο τότε, κἀγὼ νῦν διηγήσομαι τὰς ἐρωτήσεις καὶ τὰς ἀποκρίσεις. „Τί πρεσβύτατον;“ „θεός,“ ἔφη Θαλῆς· „ἀγέννητον γάρ ἐστι.“ „Τί μέγιστον;“ „τόπος· τἄλλα μὲν γὰρ ὁ κόσμος, τὸν δὲ κόσμον οὗτος περιέχει.“ „Τί κάλλιστον;“ „κόσμος πᾶν γὰρ τὸ κατὰ τάξιν τούτου μέρος ἐστί.“ „Τί σοφώτατον;“ „χρόνος· τὰ μὲν γὰρ εὕρηκεν οὗτος ἤδη, τὰ δ᾽ εὑρήσει.“ „Τί κοινότατον;“ „ἐλπίς· καὶ γὰρ οἷς ἄλλο μηδέν, αὕτη πάρεστι.“ „Τί ὠφελιμώτατον;“ „ἀρετή· καὶ γὰρ τἄλλα τῷ χρῆσθαι καλῶς ὠφέλιμα ποιεῖ.“ „Τί βλαβερώτατον“ „κακία· καὶ γὰρ τὰ πλεῖστα βλάπτει παραγενομένη.“ „Τί ἰσχυρότατον;“ „ἀνάγκη· μόνον γὰρ ἀνίκητον.“ „Τί ῥᾷστον;“ „τὸ κατὰ φύσιν, ἐπεὶ πρὸς ἡδονάς γε πολλάκις ἀπαγορεύουσιν.“ „Was ist das Älteste?“ „Die Zeit.“ „Was ist das Größte?“ „Der Kosmos.“ „Was ist das Weiseste?“ „Die Wahrheit.“ „Was ist das Schönste?“ „Das Licht.“ „Was ist das Allgemeinste?“ „Der Tod.“ Was ist das Hilfreichste?“ „Der Gott.“ „Was ist das Schädlichste?“ „Der Daimon.“ „Was ist das Stärkste?“ „Das Schicksal?“ „Was ist das Leichteste?“ „Das Vergnügen.“ […] Als sie das gehört hatten, antwortete Thales mit Widerwillen: „Das ist aber ganz und gar nicht richtig, sondern es hat viele dumme Fehler in sich. Wie zum Beispiel könnte die Zeit das Älteste sein, wenn ein Teil davon vergangen ist, ein Teil aber gegenwärtig und einer zukünftig? Denn dann müsste doch die zukünftige Zeit jünger erscheinen als die Dinge und Menschen, die es jetzt gibt. Und die Wahrheit weise zu nennen scheint sich mir nicht davon zu unterscheiden, das Licht als Auge auszugeben. Wenn nämlich das Licht schon schön ist, wie auch ich selbst glaube, wie konnte er dann die Sonne übersehen? Von den anderen Antworten hat die über Götter und Daimonen Mut und Wagnis, ganz unlogisch ist aber die über das Schicksal. Denn es wäre doch sicher nicht so wechselvoll, wenn es das Stärkste und Mächtigste von allem wäre. Und ebenso wenig ist der Tod das Allgemeinste. Denn er kommt den Lebenden nicht zu. Aber damit es nicht aussieht, als würden wir nur die Antworten eines anderen aburteilen, lasst uns unsere eigenen mit seinen vergleichen. Und ich bin bereit, weil Neiloxenos es so möchte, zuerst über jedes einzeln befragt zu werden. Und wie es nun kommt, werde ich die Fragen wiederholen und die Antworten dazu nennen. „Was ist das Älteste?“ „Der Gott“, sagte Thales, „denn er ist ungeboren.“ „Was ist das Größte?“ „Der Raum. Denn alles andere umfängt der Kosmos, diesen aber umfängt der Raum.“ „Was ist das Schönste?“ „Der Kosmos, denn alles, was seine Ordnung hat, ist Teil von ihm.“ „Was ist das Weiseste?“ „Die Zeit. Denn einiges hat sie bereits herausgefunden, anderes wird sie herausfinden.“ „Was ist das Gewöhnlichste?“ „Die Hoffnung. Denn auch die, die nichts anderes haben, besitzen sie noch.“ „Was ist das Hilfreichste?“ „Die Tugend. Denn sie macht alles andere durch gute Benutzung nützlich.“ „Was ist das Schädlichste?“ „Die Schlechtigkeit. Denn sie schadet durch ihre Anwesenheit den meisten.“ „Was ist das Stärkste?“ „Die Notwendigkeit. Denn sie allein ist unbesiegbar.“ „Was ist das Leichteste?“ „Das gemäß der Natur, denn bei Vergnügungen wird man oft überdrüssig.“

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Kontext: Die Sieben Weisen (Solon, Bias, Thales, Anacharsis, Kleobulos, Pittakos, Chilon), die sich in Plutarchs Gastmahl zusammenfinden, hatten zuvor schon über den ägyptischen König Amasis und dessen Rätselwettstreit mit dem rivalisierenden König der Aithioper gesprochen, zu dessen Beratung die Weisen sich überhaupt in Korinth zusammengefunden haben. Nun wird referiert, wie er dem aithiopischen König eine Reihe superlativischer Rätselfragen stellte. Thales kritisiert die überlieferten Antworten und gibt eigene Lösungen zu den Fragen an. Erklärung: Die neun Superlative sind ihrem Inhalte nach sehr allgemein gehalten und zielen auf die großen philosophischen Abstrakta. Wie für superlativische Rätselfragen üblich gibt es dabei nicht nur eine logisch korrekte Antwort, sondern potentiell mehrere, von denen diejenige als die richtige Lösung gilt, die besonders originell oder tiefgründig erklärt wird. Die Korrektur der Antworten des aithiopischen Königs durch Thales macht dies besonders deutlich. 1. Das Älteste. Der aithiopische König nennt die Zeit als das Älteste. Hinter dieser Antwort steht offenbar die Überlegung, dass vor dem Existieren der Zeit eine Einteilung in älter und jünger noch gar nicht möglich ist. Thales hingegen bemängelt, dass die Zeit nicht punktuell, sondern kontinuierlich ist und dass somit Teile der Vergangenheit älter sind als Teile der Zukunft – und damit auch die in diesen Zeitabschnitten existierenden Objekte. Als alternative Lösung führt er den ungeborenen Gott an. ἀγέννητον impliziert dabei, dass, was keinen Ursprung hat, schon immer existiert haben muss, also älter als alles ist, was aus anderem hervorgeht. Auch an dieser Antwort ließe sich selbstverständlich Kritik üben. So wäre ein potentieller Einwand, dass die Götter vollkommen alterslos und immer jung sind und in diesem Sinne ganz und gar nicht als πρεσβύτατοι bezeichnet werden können. 2. Das Größte. Der aithiopische König nennt den Kosmos als das Größte. Die implizite Begründung zielt offenbar darauf, dass alles direkt oder indirekt Erfahrbare, alles Existierende oder auch nur Vorstellbare Teil des Kosmos sein muss, der als Allumfassendes, in dem alles andere enthalten ist, am größten sein muss. Thales hingegen wendet ein, der Kosmos selbst sei noch von τόπος umgeben. Obwohl es sich bei diesem (unendlichen?) Raum noch weniger als im Falle des Kosmos um ein Objekt im eigentlichen Sinne handelt – was sich durchaus ebenso kritisieren ließe – schreibt Thales dem τόπος eine räumliche Ausdehnung zu. 3. Das Schönste.7 Der Aithioperkönig nennt das Licht als das Schönste. Thales kritisiert hieran nicht den Gedanken als solchen, gesteht sogar zu, das Licht 7 Die Reihenfolge der dritten und vierten Frage vertauscht Thales gegenüber der Reihenfolge, in der der aithiopische König sie beantwortet hatte.

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sei schön, doch entspricht es seiner Ansicht nach nicht dem Superlativ κάλλιστον. Als Steigerung des „einfachen“ Lichts bezeichnet er die Sonne – gleichsam als größtes Licht oder Ursprung allen Lichts. Hier könnte ein Kritiker einwenden, dass die Sonne selbst für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar und deshalb nicht mit ästhetischen Begriffen zu bezeichnen ist – das Licht hingegen schon. 4. Das Weiseste. Der aithiopische König nennt die Wahrheit als das Weiseste. Thales gibt hierzu keine erklärende Kritik, führt aber als alternative Lösung die (allegorisch-personifizierte) Zeit an. Der König hatte sich offenbar darauf bezogen, dass es weise in einem moralischen Sinne sei, wahrheitsgetreu zu leben. Thales hingegen versteht die Weisheit streng intellektuell und benennt die Zeit gleichsam als den Augenzeugen aller Geschehnisse als dasjenige mit dem größten Wissen. 5. Das Gewöhnlichste. Der König der Aithioper nennt den Tod als dasjenige, was am gewöhnlichsten ist, d. h. als das, was am häufigsten vorkommt. Grundlage dieser Antwort ist das Wissen um die Sterblichkeit von Lebewesen. Der Tod ist somit etwas, was – früher oder später – alle Lebewesen, d. h. die maximale Anzahl an Lebewesen betrifft. Die Aussage bezieht sich also auf das Kontinuum der Zeit. Thales wendet ein, die Lebenden seien nicht tot, der Tod betreffe nur die bereits Toten und deshalb sei die Antwort des Königs falsch. Hierin muss wohl die Annahme liegen, dass es mehr Lebende als Tote gibt, vgl. hierzu Diog. Laert. 1,104. Alternativ nennt er die Hoffnung als das, was alle Menschen – sogar die ärmsten – besitzen. Hiergegen ließe sich einwenden, dass durchaus nicht alle Menschen hoffnungsvoll sind, wohingegen sich niemand letztgültig dem Tode entziehen kann. 6. Das Hilfreichste. Der König der Aithioper nennt den Gott als besonders hilfreich und hat dabei offenbar das Bild eines das Schicksal zugunsten des Menschen bestimmenden Gottes im Sinn. Diese Antwort lehnt Thales nicht direkt ab, sondern honoriert sie durch die Begriffe θράσος und κίνδυνος, die offenbar den Einfallsreichtum des Königs loben sollen. Dennoch nennt Thales selbst die Tugend als das Hilfreichste. Diese Antwort beruht offenbar auf der Annahme, dass ein tugendhaft handelnder Mensch automatisch nur Gutes erfährt und deshalb keine äußerliche Hilfe benötigt. Diese Annahme ließe sich sicher durch Alltagserfahrungen ebenso in Frage stellen, wie die des Königs. 7. Das Schädlichste. Auch hier unterscheiden sich die Antworten im Hinblick auf ihren Bezug auf Gott und Mensch. Während der König den Daimon, d. h. wohl einen ins Negative verkehrten θεός, als das Schädlichste nennt, führt Thales die κακία als Gegenteil der von ihm zuvor genannten ἀρετή ins Feld.

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8. Das Stärkste. Der aithiopische König bezeichnet das Schicksal als das Stärkste und vertritt damit eine durchaus gängige Auffassung, vgl. etwa die Verteidigung des Orakels gegen Anschuldigungen durch Kroisos, Hdt. 1,91: τὴν πεπρωμένην μοῖραν ἀδύνατά ἐστι ἀποφυγεῖν καὶ θεῷ. Thales hingegen nennt die ἀνάγκη aufgrund ihres zwingenden Charakters. Damit liegen beide Antworten inhaltlich eng beieinander, der Unterschied scheint hauptsächlich ein terminologischer zu sein. 9. Das Leichteste. Der König bezeichnet als das Leichteste, das was man gerne tut, nämlich das Angenehme. Leicht ist es, insofern es keinerlei Verbindung zu etwas Mühevollem hat. Thales wendet dagegen ein, Vergnügungen erzeugten (im Übermaß) Überdruss und seien deshalb nicht immer leicht. Dies treffe nur auf alles, was nach dem ihm bestimmten Maße verlaufe, zu. Auch die Antworten von Thales sind nicht wesentlich origineller als die des Königs, unterscheiden sich sogar z. T. nur in ihrer Zuordnung zu den einzelnen Fragen (θεός in der Antwort des Königs ὠφελιμώτατον, nach Thales πρεσβύτατον; χρόνος in der Antwort des Königs πρεσβύτατον, nach Thales σοφώτατον), oder sind sogar angreifbarer als die Alternativen des Königs (z. B. im Hinblick auf das κοινότατον). Der Beweis für die besondere Weisheit des Weisen liegt auch in dem Selbstvertrauen bzw. in der Autorität, mit dem bzw. mit der er sich für jeweils eins der hypothetisch möglichen Antwortobjekte entscheidet. Intertextuelle Verweise: Vgl. Diog. Laert. 1,35, der einzelne der hier beantworteten Fragen als weise Aussprüche (ἀποφθέγματα) des Thales überliefert. 11 Allgemein-Philosophische Fragen an Thales Diog. Laert. 1,36, Dorandi ἐρωτηθεὶς τί δύσκολον, ἔφη, „τὸ ἑαυτὸν γνῶναι·“ τί δὲ εὔκολον, „τὸ ἄλλῳ ὑποθέσθαι·“ τί ἥδιστον, „τὸ ἐπιτυγχάνειν·“ τί τὸ θεῖον, „τὸ μήτε ἀρχὴν ἔχον μήτε τελευτήν.“ Gefragt, was schwer sei, antwortete er: „Sich selbst zu erkennen“; was leicht sei: „Einem anderen einen Rat zu geben“; was das Angenehmste sei: „Erfolg zu haben“; was das Göttliche sei: „Das, was keinen Anfang und kein Ende hat.“

Form: Prosa Erklärung: Mit Ausnahme der vorletzte, dritten Frage, die einen echten Superlativ enthält, handelt es sich um Fragen, die nach allgemeinen philosophisch-moralischen Grundbegriffen fragen. Thales’ Antworten sind unmittelbar nachvollziehbar und beinhalten keine tiefere Pointe.

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1. Schwer. Die Selbsterkenntnis, die auch der berühmte delphische Leitspruch γνῶθι σεαυτόν fordert, gilt gemeinhin als hohe philosophische Tugend, die ihren besonderen Status auch dem Umstand verdankt, dass echte Selbsterkenntnis nur schwer zu erlangen und entsprechend selten ist. 2. Leicht. Die Antwort auf die zweite Frage, die das Gegenteil der ersten enthält, bezieht sich auf die erste Antwort. Schwer ist, sich selbst zu kennen, zu maßregeln und stetig zu verbessern. Leicht fällt es hingegen Menschen, die Fehler und Schwächen anderer zu tadeln und ihnen Ratschläge zu erteilen – auch wenn sie eventuell selbst nicht nach ihren eigenen Maximen leben. 3. Das Angenehmste. Die auf das persönliche Glück des Einzelnen gerichtete Antwort versteht sich von selbst und ist sicher in einem so allgemeinen Sinne aufzufassen, dass nicht nur ein bestimmter Aspekt des Lebens – wie etwa die berufliche Entwicklung – von Erfolg gekrönt sein, sondern das ganze Leben einen glücklichen Verlauf nehmen soll. 4. Das Göttliche. Gemäß allgemein gängiger Vorstellungen rekurriert Thales’ Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Göttlichen auf dessen Unentstandenheit und Unvergänglichkeit, mithin auf seine ewig fortdauernde Beständigkeit. 12 Allgemein-philosophische Frage nach dem Glück an Thales Diog. Laert. 1,37, Dorandi τίς εὐδαίμων, „ὁ τὸ μὲν σῶμα ὑγιής, τὴν δὲ ψυχὴν εὔπορος, τὴν δὲ φύσιν εὐπαίδευτος.“ [Darauf], wer glücklich sei, [antwortete Thales]: „Der, der einen gesunden Körper hat, reich ist an geistigen Kapazitäten und ein wohlerzogenes Wesen hat.“

Form: Prosa Erklärung: Thales’ Antwort ist v. a. in ihrem umfassenden Charakter besonders pointiert. Denn gewöhnlich wäre wohl zu erwarten, dass sich ein Rezipient der Frage auf einen der von Thales genannten Aspekte beschränkt bzw. fokussiert, mithin entweder das physische oder das geistige Wohl im Vordergrund stünde. Die zusätzliche Nennung der (geistigen) Geschultheit (εὐπαίδευτος), die sich unmittelbar an die εὐπορία der ψυχή anzuschließen scheint, soll u. U. betonen, dass nicht nur die naturgegebene Veranlagung eines Menschen für sein Glück verantwortlich ist, sondern auch seine Ausbildung, Beeinflussung, Prägung und Sozialisation dafür eine Rolle spielen. Intertextuelle Verweise: Vgl. ein anders gelagertes Glückskonzept in der (superlativischen) Debatte über den glücklichsten Menschen zwischen Solon und Kroisos, Hdt. 1,30–33.

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13 Superlativische Frage nach dem leichtesten Erdulden von Unglück an Thales Diog. Laert. 1,36, Dorandi πῶς ἄν τις ἀτυχίαν ῥᾷστα φέροι, „εἰ τοὺς ἐχθροὺς χεῖρον πράσσοντας βλέποι.“ [Darauf] wie man wohl ein Unglück am leichtesten ertragen könnte, antwortete er: „Wenn man sieht, dass es den Feinden noch schlimmer ergeht.“

Form: Prosa Erklärung: Die Frage scheint sich zunächst auf eine bestimmte (innere) Bewältigungsstrategie zu beziehen, mit der die eigene Wahrnehmung von Unglück positiv zu beeinflussen wäre oder durch die Unglück gleich ganz vermieden werden könnte. Pointiert liegt in Thales’ Antwort jedoch eine solche erwartete Handlungsanweisung nicht. Vielmehr enthält die Antwort den bloßen Hinweis darauf, dass Leid leichter zu verschmerzen sei, wenn auch der Feind – der einem jenes Leid u. U. zugefügt hat – selbst leidet. Jener Gedanke impliziert, dass die Leidens- und Opferbereitschaft eines Menschen steigt, wenn das durch jenes Leid erreichte Ziel für ihn ein erstrebenswertes ist.

14 Superlativische Frage nach der besten und gerechtesten Lebensführung an Thales Diog. Laert. 1,36, Dorandi πῶς ἂν ἄριστα καὶ δικαιότατα βιώσαιμεν, „ἐὰν ἃ τοῖς ἄλλοις ἐπιτιμῶμεν, αὐτοὶ μὴ δρῶμεν.“ [Darauf], wie man am besten und gerechtesten sein Leben führe, [antwortete er]: „Wenn wir, was wir an anderen tadeln, selbst nicht tun.“

Form: Prosa Erklärung: Thales’ Antwort auf die allgemeine superlativische Frage richtet sich nach gängigen Moralvorstellungen: An einen selbst müsse man dasselbe Maß anlegen wie an alle Fremden und der innere Zensor sei eine verlässliche moralische Richtschnur. Wenn niemand selbst täte, was er an anderen tadelt, dann, so müsste man annehmen, würde überhaupt nichts Tadelnswertes mehr getan – und damit wäre dann freilich nicht nur für den Einzelnen eine moralisch gute Lebensweise erreicht, sondern auch das beste und gerechteste Gemeinwesen.

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15 Superlativische Frage nach der größten Widersprüchlichkeit an Thales Plut. conv. sept. sap. 147b, Babbitt […] καί τινες ὑβριστικαί σου περὶ τυράννων ἀποφάσεις ἀνεφέροντο πρὸς αὐτόν, ὡς ἐρωτηθεὶς ὑπὸ Μολπαγόρου τοῦ Ἴωνος τί παραδοξότατον εἴης ἑωρακώς, ἀποκρίναιο „τύραννον γέροντα,“ […]. Und einige deiner frevlerischen Äußerungen über Tyrannen sind ihm [sc. König Amasis von Ägypten] zugetragen worden, z. B. dass du, als du von Molpagoras dem Ionier gefragt wurdest, was da Widersprüchlichste sei, geantwortet haben sollst: „Ein in die Jahre gekommener Tyrann.“

Form: Prosa Kontext: Beim Zusammentreffen der Sieben Weisen in dem Landhaus Perianders bei Korinth das sich der Beantwortung einer von dem König der Aithioper an den in dieser Sache hilflosen König Amasis von Ägypten gestellten Rätselaufgabe [Austrinken des Ozeans] widmet, kommt dem Weisen Bias ein besonderer Vorzug als Berater zu, da dieser sich bereits bei einem früheren Zusammentreffen mit dem Ägypter als besonders geschickt in Rätseldingen erwiesen hatte (Plut. mor. 38b (de audiendo)). Der ägyptische Bote Neiloxenos, der das Anliegen des Ägypterkönigs vor den Weisen vorbringt, erklärt nun, warum nicht Thales, der gemeinhin als der Vorderste unter den Sieben Weisen gilt, von Amasis besonders ins Vertrauen gezogen wird – er gilt als grundsätzlich (ob zu Recht oder zu Unrecht) königsfeindlich. Als Beispiel für diese Gesinnung führt der Gesandte ein offenbar allgemein bekanntes Aufeinandertreffen mit dem Ionier Molpagoras an, bei dem Thales, gerade von einer längeren Reise zurückgekehrt (Plut. mor. 578d (de genio Socratis)), nach dem Wunderlichsten bzw. Widersprüchlichsten gefragt wird, das er – auf dieser Reise – gesehen habe. Erklärung: Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass Thales unmittelbar nach der Rückkehr von einer Reise (ἀπὸ ξένης ἐλθὼν διὰ χρόνου, Plut. mor. 578d (de genio Socratis)) nach dem παραδοξότατον, das ihm begegnete, gefragt wird, wird man als Antwort eine tropische Pflanze, ein außergewöhnliches Tier, eine unvorstellbares Naturphänomen, einen ungewöhnlichen Brauch oder Vergleichbares, kurz: etwas, das in einem inneren Zusammenhang mit der Reise steht, erwarten. Thales’ Antwort jedoch zielt in eine ganz andere Richtung und es ist unklar, ob sie überhaupt vor dem Hintergrund seiner Reise gegeben ist. Dass er einen Tyrannenherrscher in hohem Alter als sonderbar und gar widersprüchlich einstuft, impliziert auf spitzzüngige Art und Weise vice versa, dass Tyrannen per se etwas an sich haben, was dem Erlangen eines hohen Alters widerspricht.

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Dass Tyrannen somit nach Thales’ Auffassung in aller Regel nicht alt werden, impliziert, dass sie entweder in ihrer Herrschaftsposition schon nach kurzem gestürzt (d. h. in ihrer Tyrannen-Existenz vernichtet) oder sogar getötet werden. Dies wiederum bedeutet, dass Tyrannen jenen, die sie beherrschen, gewöhnlich bald einen Anlass für derartige Auflehnung geben, mithin keine guten Herrscher sind. Ihre negativen (Charakter-)Eigenschaften bedingen somit ihr frühes Ende. Darin, dass Thales mit der Beobachtung eines wider Erwarten auf seinem Posten zu hohem Alter gelangten Tyrannen somit durchaus eine Absonderlichkeit beschreiben mag, die er auf seiner gerade beendeten Reise – womöglich erstmals – wahrgenommen hat, liegt eine besondere Pointe. In der scheinbar saloppen Antwort auf die unschuldige Frage liegt somit eine ernste Kritik an bestehenden Herrschaftsformen bzw. an den diese Strukturen immer wieder ausfüllenden Personen. Intertextuelle Verweise: Plut. mor. 578d (de genio Socratis) beschreibt die Situation, in der die Frage an Thales gerichtet wird. Vgl. ferner Diog. Laert. 1,36, wo die Frage ebenfalls erwähnt ist. Plut. conv. sept. sap. 152a antwortet Thales auf die superlativische Frage, was für einen Herrscher das Beste sei, in ganz ähnlichem Sinne, wenn er hohes Alter und einen (offenbar als ungewöhnlich eingeschätzten) natürlichen Tod als Antwort nennt (εὐδαιμονίαν ἄρχοντος νομίζειν, εἰ τεέυτήσειε γηράσας κατὰ φύσιν). Vgl. ferner zu jener Grundauffassung von dem gefährdeten Tyrannen Gnom. Vat. 321 Sternbach. Gnom. Vat. 550 Sternbach überliefert die inhaltlich ganz ähnliche Beantwortung derselben Frage durch Chilon, der (kritisch) als besonders ungewöhnlich (παραδοξότατον) das Zusammentreffen von Macht und Selbsterkenntnis in einem Menschen beschreibt. 16 Superlativische Rätselfragen Alexanders an die Gymnosophisten Plut. Alexander 64, Ziegler Τῶν δὲ Γυμνοσοφιστῶν τοὺς μάλιστα τὸν Σάββαν ἀναπείσαντας ἀποστῆναι καὶ κακὰ πλεῖστα τοῖς Μακεδόσι παρασχόντας λαβὼν δέκα, δεινοὺς δοκοῦντας εἶναι περὶ τὰς ἀποκρίσεις καὶ βραχυλόγους, ἐρωτήματα προὔθηκεν αὐτοῖς ἄπορα, φήσας ἀποκτενεῖν τὸν μὴ ὀρθῶς ἀποκρινάμενον πρῶτον, εἶτ’ ἐφεξῆς οὕτω τοὺς ἄλλους· ἕνα δὲ τὸν πρεσβύτατον ἐκέλευσεν ‹ἐπι›κρίνειν. ὁ μὲν οὖν πρῶτος ἐρωτηθείς, πότερον οἴεται τοὺς ζῶντας εἶναι πλείονας ἢ τοὺς τεθνηκότας, ἔφη τοὺς ζῶντας· οὐ[κέτι] γὰρ εἶναι τοὺς τεθνηκότας. ὁ δὲ δεύτερος, πότερον τὴν γῆν ἢ τὴν θάλατταν μείζονα τρέφειν θηρία, τὴν γῆν ἔφη· ταύτης γὰρ μέρος εἶναι τὴν θάλατταν. ὁ δὲ τρίτος, ποῖόν ἐστι ζῷον πανουργότατον, ὃ μέχρι νῦν, εἶπεν, ἄνθρωπος οὐκ

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ἔγνωκεν. ὁ δὲ τέταρτος ἀνακρινόμενος, τίνι λογισμῷ τὸν Σάββαν ἀπέστησεν, ἀπεκρίνατο, καλῶς ζῆν βουλόμενος αὐτὸν ἢ καλῶς ἀποθανεῖν. ὁ δὲ πέμπτος ἐρωτηθείς, πότερον οἴεται τὴν ἡμέραν πρότερον ἢ τὴν νύκτα γεγονέναι, τὴν ἡμέραν, εἶπεν, ἡμέρᾳ μιᾷ· καὶ προσεπεῖπεν οὗτος, θαυμάσαντος τοῦ βασιλέως, ὅτι τῶν ἀπόρων ἐρωτήσεων ἀνάγκη καὶ τὰς ἀποκρίσεις ἀπόρους εἶναι. μεταβαλὼν οὖν τὸν ἕκτον ἠρώτα, πῶς ἄν τις φιληθείη μάλιστα· ἂν κράτιστος ὤν, ἔφη, μὴ φοβερὸς ᾖ. τῶν δὲ λοιπῶν τριῶν ὁ μὲν ἐρωτηθείς, πῶς ἄν τις ἐξ ἀνθρώπου γένοιτο θεός, εἴ τι πράξειεν, εἶπεν, ὃ πρᾶξαι δυνατὸν ἀνθρώπῳ μὴ ἔστιν· ὁ δὲ περὶ ζῳῆς καὶ θανάτου, πότερον ἰσχυρότερον, ἀπεκρίνατο τὴν ζῳήν, τοσαῦτα κακὰ φέρουσαν. ὁ δὲ τελευταῖος, μέχρι τίνος ‹ἂν› ἄνθρωπον καλῶς ἔχοι ζῆν, μέχρι οὗ μὴ νομίζει τὸ τεθνάναι τοῦ ζῆν ἄμεινον. οὕτω δὴ τραπόμενος πρὸς τὸν δικαστήν, ἐκέλευσεν ἀποφαίνεσθαι. τοῦ δ’ ἕτερον ἑτέρου χεῖρον εἰρηκέναι φήσαντος, „οὐκοῦν“ ἔφη „καὶ σὺ πρῶτος ἀποθανῇ τοιαῦτα κρίνων.“ „οὐκ ἄν γ’“ εἶπεν „ὦ βασιλεῦ, εἰ μὴ σὺ ψεύδῃ, φήσας πρῶτον ἀποκτενεῖν τὸν ἀποκρινάμενον κάκιστα.“ Von den Gymnosophisten, die den Sabbas besonders zum Abfall überredet und den Makedonen auf diese Weise schwersten Schaden zugefügt hatten, nahm er zehn fest, und weil sie berüchtigt für ihre pointierten und kurzen Antworten waren, legte er ihnen Rätselfragen vor und sagte, er werde den, der (zuerst) falsch antwortete, zuerst töten, und so der Reihe nach auch die anderen. Einen, den Ältesten, befahl er zum Schiedsrichter. Der erste aber wurde zuerst gefragt, ob die Lebenden oder die Toten mehr seien, und er sagte, die Lebenden; denn die Toten seien nicht mehr. Der zweite aber wurde dann gefragt, ob die Erde oder das Meer größere Tiere hervorbringe, und er nannte die Erde; denn davon sei das Meer nur ein Teil. Der dritte, gefragt, welches das klügste Tier sei, antwortete, dasjenige, das der Mensch bisher nicht kennt. Der vierte antwortete auf die Frage, aus welcher Überlegung heraus er den Sabbas zum Abfall bewegt habe, er habe gewollt, dass er entweder ruhmvoll lebte oder ruhmvoll starb. Der fünfte wurde gefragt, ob er meine, der Tag oder die Nacht sei zuerst gewesen, und er sagte, das sei der Tag, und zwar um einen Tag. Als der König sich darüber wunderte und seine Bedenken äußerte, sagte er, auf rätselhafte Fragen müssten auch die Antworten rätselhaft sein. So ging der König weiter zum sechsten und fragte, auf welche Weise man am meisten geliebt würde, und der Gefragte antwortete: „Wenn man zwar die größte Macht besitzt, aber nicht gefürchtet wird.“ Von den übrigen dreien wurde einer gefragt, auf welche Weise ein Mensch zu einem Gott werden könne, und er antwortete, indem er etwas täte, was ein Mensch nicht vermag. Der nächste wurde über Leben und Tod befragt, welches stärker sei, und er nannte das Leben, weil es so großes Leid ertrage. Der letzte schließlich wurde gefragt, bis wann es für einen Menschen gut sei, zu leben, und er sagte, bis er sterben für besser hielte als leben. Dann wandte er sich dem Schiedsrichter zu und verlangte, er sollte einen auswählen. Der aber sagte, es habe immer einer schlechter als der andere geantwortet, worauf Alexander sprach: „Dann wirst du zuerst sterben, wenn du dieses Urteil fällst.“ „Oh nein, mein König“, widersprach der, „außer wenn du gelogen hast, als du sagtest, du würdest zuerst den töten, der am schlechtesten geantwortet hat.“

Form: Prosa Kontext: Die sog. nackten Weisen, eine indische Brahmanenkaste, die als Asketen lebten und großen politischen Einfluss besaßen, stachelten ihren König Sabbas zu einem Aufstand gegen Alexander an. Sabbas hatte sich zunächst freiwillig unter-

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worfen, fiel dann aber doch wieder ab; vgl. Arr. 6,16; Curt. 9,32. Zehn der Gymnosophisten, die ihn unterstützt hatten, ließ Alexander gefangen nehmen und, indem er ihnen (superlativische) Rätselfragen stellte, um ihr Leben rätseln. Erklärung: Obwohl nicht alle Fragen echten Superlative enthalten, können sie aufgrund ihrer Struktur und ihrer Offenheit bzw. ihrer Allgemeinheit, die nicht auf ein konkretes Lösungsobjekt, sondern auf eine möglichst originelle, tiefgründige Antwort zielt, ebenso wie die gängigen superlativischen Rätselfragen behandelt werden. Alexander kündigt an, die Gymnosophisten zu befragen und jeden, der falsch antwortet, zu töten. Die Befragung soll offenbar solange fortgesetzt werden, bis alle zehn einmal falsch geantwortet haben und aufgrund der falschen Antwort ums Leben gekommen sind (ἀποκτενεῖν τὸν μὴ ὀρθῶς ἀποκρινάμενον πρῶτον, εἶτ’ ἐφεξῆς οὕτω τοὺς ἄλλους). Damit, dass hier das Überleben – ähnlich wie im Rätsel der Sphinx – an die korrekte Rätsellösung geknüpft wird, rückt die Struktur der Szene in die Nähe eines Halslösungsrätsels der Form „Rate oder stirb!“; vgl. hierzu etwa Meyer (1967); Dorst (1983); Jolles (41972) 132. Die Gymnosophisten rätseln also im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Dabei deutet Plutarch an, dass die als ἄπορα charakterisierten Fragen (vgl. für ἄπορον zur Bezeichnung eines Rätsels auch Lukian. Demonax 39 mit der Rätselfrage nach dem Gewicht des Rauchs) speziell auf die Kompetenzen der Gymnosophisten zugeschnitten sind, d. h. diese auf die Probe stellen sollen. Sie fordern also die Fähigkeit insbesondere zu kurzen, pointierten, d. h. u. U. selbst rätselhaften, Antworten besonders heraus (δεινοὺς περὶ τὰς ἀποκρίσεις καὶ βραχυλόγους). Diese Befähigung stellen die Gymnosophisten im Laufe der Befragung dann auch tatsächlich unter Beweis, indem sie Alexander durch ihre der Komplexität der Fragen entsprechenden Antworten verwirren (προσεπεῖπεν οὗτος, θαυμάσαντος τοῦ βασιλέως, ὅτι τῶν ἀπόρων ἐρωτήσεων ἀνάγκη καὶ τὰς ἀποκρίσεις ἀπόρους εἶναι); vgl. auch S. Emp. adv. math. 2,22. 1. Die Frage nach der größeren Anzahl von Lebenden oder Toten beantwortet der Gymnosophist mit einer rätseltypischen Unterscheidung zwischen einer allgemeinen und einer existenziellen Bedeutung von εἶναι. Damit negiert er eine sinnvolle Verbindung der τεθνηκότες mit εἶναι als Vollverb, führt also gleichsam die ganze Frage, die εἶναι in einem allgemeineren Sinn als Hilfsverb aufgefasst hatte, ad absurdum. Vgl. Diog. Laert. 1,104 f., wo dasselbe Rätsel an den Weisen Anacharsis gerichtet wird. 2. Auch die zweite Antwort enthält eine implizite Korrektur der entsprechenden Fragestellung. Die größten Tiere können nach dem Gymnosophisten nur auf der Erde leben, weil auch das Meer Teil der Erde im Sinne des Planeten ist und so selbst die Meerestiere von der Erde hervorgebracht werden.

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Die Frage hatte hingegen zwischen der Erde als Festland und dem Meer unterscheiden wollen. 3. Die Antwort auf die Frage nach dem klügsten Tier geht nicht, wie von der Frage suggeriert, von einem Vergleich der Tiere aus, sondern legt ein Ranking der Fähigkeiten zugrunde. Als besonders klug gilt dann das sich-Fernhalten von den Menschen als größter Bedrohung der Tiere. Wo die Frage darauf spekulierte, dass der Befragte ein falsches Tier, d. h. eines, das nachvollziehbarerweise noch von einem anderen Tier an Klugheit übertroffen würde, nennt, benennt der Gymnosophist gar kein konkretes Tier und antwortet damit wie seine beiden Vorgänger ebenfalls nicht direkt auf die ihm gestellte Frage. 4. Die Frage nach den Gründen der Gymnosophisten zur Aufhetzung des Sabbas hängt als einzige Frage direkt mit dem Anlass der Befragung zusammen und ist damit – als nicht allgemein kosmologisch-philosophische – die wohl prekärste Frage, da sie eine individuelle Rechtfertigung verlangt. Die Antwort des Gymnosophisten lässt keine Furcht vor dem Urteil des Königs als Betroffenem erahnen. Vielmehr antwortet er so, wie es von jemandem erwartet würde, der ganz allgemein nach Gründen für eine Rebellion oder die Anstachelung dazu befragt würde. Eine solche ist nach seiner Ansicht richtig, wenn durch ihr Unterbleiben das eigene Leben nicht mehr achtenswert sei, weil ein Aufständischer in diesem Fall nichts zu verlieren habe: Er könne seine Lebensumstände verbessern oder einen glorreichen Tod sterben, der gegenüber einem verachtenswerten Leben den Vorzug verdiene. Zwar ist diese Antwort allgemein-philosophisch geprägt und trägt damit dem Format der gesamten Befragung in gewisser Weise Rechnung, doch eine tiefere Pointe, die den alexanderfeindlichen Grundgedanken (Alexander ist ein schlechter Herrscher) abmildern würde, scheint es nicht zu geben. Dass Alexander dies als Antwort akzeptiert, ist beachtlich. 5. In der Frage nach der zeitlichen Priorität von Tag oder Nacht gibt der befragte Gymnosophist, scheinbar willkürlich, dem Tag den Vorzug. Besonders der Zusatz, er sei einen Tag älter als die Nacht, scheint Alexander zu verwirren. Dabei legt die paradox erscheinende Formulierung nur die chronologische Abfolge beider Phänomene fest: Der Tag entsteht (mit dem ersten Sonnenaufgang) und nach Ablauf des Tages, d. h. einen Tag später, entsteht die Nacht. Hier liegt ein Spiel mit den unterschiedlichen Auffassungen der ἡμέρα vor, die einerseits die Zeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang bezeichnen kann, andererseits aber auch die vollen vierundzwanzig Stunden von Tag und Nacht bestimmt. Dieses Gedankenprinzip lag in ähnlicher Form schon in der zweiten Frage von Erde und Meer vor. Dasselbe Rätsel wird nach Diog. Laert. 1,36 an Thales gerichtet; vgl. ferner für das Rätselpo-

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tential im Verhältnis von Tag und Nacht das Rätsel des Theodektes von den zwei Schwestern, TrGF I, 72 F 4 Snell; AP XIV 40; AP App. VII 14. 6. Superlativische Frage im engeren Sinne. Die Antwort betont die Ambivalenz von Macht, die einerseits attraktiv macht, andererseits aber auch Furcht auslösen kann. Größte Attraktivität ergibt sich somit aus der Macht, die man nicht zu fürchten braucht. 7. Die Antwort auf die Frage nach einer Verwandlung aus einem Menschen in einen Gott ist streng logisch betrachtet falsch. Übermenschliches lässt sich erst von jemandem vollbringen, der bereits ein Gott geworden ist. Wie diese Verwandlung zu bewerkstelligen ist, wird damit nicht erklärt, vielmehr nur ein Symptom genannt, an dem man die Verwandlung bemerkt. Der tiefere Sinn der Antwort mag jedoch auch in dem subtilen Hinweis darauf liegen, dass eine solche Verwandlung eben nicht möglich ist (δυνατὸν μὴ ἔστιν). 8. Die Frage nach dem Vorrang zwischen Leben und Tod hat eine innere Verbindung zu der zuerst gestellten Frage. ἰσχύς wird hier, anders als im Rätsel suggeriert, nicht als stärke im Sinne einer letztendlichen Überlegenheit aufgefasst, sondern im Sinne einer Belastbarkeit. Anstatt den offensichtlichen Gedanken, dass alles Leben früher oder später durch den Tod besiegt wird, zugrunde zu legen, betont die Antwort also die abwegigere Überlegung von der (langen) Belastbarkeit des Lebens vor dem Tod, der selbst einerseits nur punktuell und andererseits als von Leid und damit von der zum Ertragen desselben notwendigen Stärke befreit gilt. 9. Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für den Tod schließt sich inhaltlich subtil an die vorangegangene an. Anstelle einer einfachen absoluten Antwort, betont der Gymnosophist die notwendige Bedingtheit der richtigen Antwort, ohne dabei jedoch die Nennung eines verbindlichen Zeitpunktes schuldig zu bleiben. 10. Die Frage an den zehnten Gymnosophisten, der als Schiedsrichter fungieren sollte, ist die nach einer Bewertung der übrigen Antworten, die zum Tode der Befragten nach der vorgegebenen Reihenfolge führen soll. In der Antwort, einer habe immer schlechter geantwortet als der Vorhergehende, liegt bereits der Hinweis darauf, dass Alexander die von ihm selbst anfangs angekündigte Prozedur nicht eingehalten hat, nach der jeder Befragte, sobald er falsch antwortete, getötet werden sollte. Deshalb widerlegt der Schiedsrichter auch die Auffassung Alexanders, es müsse der Schiedsrichter selbst zuerst sterben, weil er – nach seiner eigenen Aussage, die eine immer weiter abfallende Qualität der Antworten attestierte – die schlechteste Antwort, d. h. als Letzter eine falsche Antwort, geliefert hatte. Der Widerstand des Schiedsrichters, den Alexander letztlich gewähren lässt, beruht dabei offenbar darauf, dass der König anfangs nicht angekündigt hatte, nach der abge-

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stuften Qualität der Antworten, sondern rein chronologisch verfahren zu wollen. Da er aber nicht den ersten Gymnosophisten sofort töten ließ, dessen Antwort nach der Aussage des Schiedsrichters bereits falsch war, verfällt im Sinne des zuletzt Gefragten die Befugnis, die Tötungen überhaupt durchzuführen. Obwohl die Antwort des zehnten Gymnosophisten zunächst verräterisch gegenüber seinen Leidensgenossen erscheinen mag, ist sie somit besonders klug gewählt: Sie ist tatsächlich die falscheste von allen Antworten, da die vorigen, wie gezeigt, durchaus die jeweils vorgelegte Frage zufriedenstellend beantworten. Durch ein solches akribisches Beharren auf den eingangs festgelegten Regeln versucht der Gymnosophist offenbar (erfolgreich), sich und seine Kameraden zu befreien. Es scheint einer solchen Auslegung jedoch der zuletzt von dem Weisen gebrauchte Superlativ (φήσας πρῶτον ἀποκτενεῖν τὸν ἀποκρινάμενον κάκιστα) zu widersprechen, der, im Gegenteil, suggeriert, Alexander habe doch den schlechtesten Antworter zuerst töten lassen wollen. Warum Alexander dann jedoch dem Einwand des Gymnosophisten nachgeben sollte, ist nicht ersichtlich. Hamilton (1969) äußert sich nicht zu der betreffenden Stelle. Offenbar durch die Tiefgründigkeit der einzelnen Antworten beeindruckt, entlässt Alexander die Gymnosophisten schließlich entgegen seines Vorsatzes unbeschadet (65). Ihr Leben ist der Lohn der erfolgreichen Rätsellöser, die Alexander als Rätselsteller so weit übertroffen haben, dass er die Antworten z. T. nicht einmal völlig nachvollziehen konnte, aber dennoch ihre Richtigkeit anerkennen musste. Literatur: Hamilton (1969) 178 f. z. St. mit einer Zusammenstellung der unterschiedlichen Überlieferungen der Gymnosophisten-Befragung in zwei Gruppen. Auf die Antworten der indischen Weisen und deren Bedeutung geht Hamilton allerdings nicht näher ein.

17 Superlativische Fragen an Pittakos Diog. Laert. 1,77, Dorandi; S 220 ἐρωτηθεὶς δέ ποτε τί ἄριστον, „τὸ παρὸν εὖ ποιεῖν.” καὶ ὑπὸ Κροίσου, τίς ἀρχὴ μεγίστη, „ἡ τοῦ ποικίλου,” ἔφη, „ξύλου,” σημαίνων τὸν νόμον. […] καὶ πρὸς τοὺς πυνθανομένους τί εὐχάριστον, „χρόνος,” ἔφη· ἀφανές, „τὸ μέλλον·” πιστόν, „γῆ·” ἄπιστον, „θάλασσα.” Als er [sc. Pittakos] einst gefragt wurde, was das Beste sei, hat er geantwortet: „Das Gegenwärtige gut zu machen.“ Und als Kroisos ihn fragte, welches die mächtigste Herrschaftsform sei, sagte er: „Die des bunten Holzes“, und deutete damit auf das Gesetz hin.

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[…]. Und auf die Frage, was sehr angenehm sei, sagte er: „Zeit“; was unklar sei, „die Zukunft“; was sicher sei, „die Erde“; was unsicher sei, „das Meer“.

Form: Prosa Erklärung: Der Vergleich mit ähnlichen superlativischen Fragen in anderen Erzählkontexten (z. B. die nach der besten Herrschaftsform, Plut. conv. sept. sap. 154d) belegt, dass die Fragen nicht auf eine einzige richtige Antwort zielen. Vielmehr scheint es darum zu gehen, eine möglichst originelle (und dabei natürlich sachlich korrekte) Antwort zu formulieren. Die Originalität der Antworten ist ein Zeichen dafür, dass der Rätsellöser einen genaueren Einblick in den Zusammenhang der Dinge hat als der gewöhnliche Durchschnitt. Obwohl nur die ersten beiden der insgesamt sechs Fragen explizite Superlative enthalten, lassen sich alle sechs Fragen auf dieselbe Weise behandeln, insofern die allgemeine Offenheit der übrigen vier Fragen einem Superlativ entspricht (gefragt ist natürlich nicht nach irgendetwas Angenehmem, Unklarem, Sicherem oder Unsicherem, sondern nach etwas, das diese Attribute in besonderer Weise bzw. Ausprägung besitzt). 1. Was ist das Beste (ἄριστον)? Die Antwort – das Gegenwärtige gut zu verrichten – beruht auf einer gewissen (philosophischen) Vorstellung davon, dass die Gegenwart größere Bedeutung besitzt als Vergangenheit und Zukunft, insofern sie durch den Menschen unmittelbar mitbestimmbar ist und ihn andersherum unmittelbar beeinflusst. Hier klingen epikureische Grundgedanken an, die in dem berühmten carpe diem des Horaz (Hor. carm. 1,11,8) besonders pointiert zum Ausdruck gebracht sind; Horaz als Epikureer nach Hor. epist. 1,4,16. 2. Welche ist die stärkste bzw. beste Herrschaftsform (ἀρχὴ μεγίστη)? Diese superlativische Frage klingt zunächst konkret lebenspraktisch, wird jedoch von Pittakos allgemein-philosophisch beantwortet. Die Antwort nennt nämlich gar nicht – wie man erwarten würde – eine der gängigen Herrschaftsformen beim Namen, sondern macht eine grundlegende allgemeine Aussage: Jede Herrschaft ist gut, sofern sie sich an die Gesetze hält. Das ποικίλον ξύλον steht dabei als mit dem Gesetzestext beschriftete – und in diesem Sinne „bunte“ – Holztafel für das Gesetz selbst und die dadurch erzeugte Gerechtigkeit. Ob Kroisos, der sich nach Diog. Laert. den Rat geben lässt, die Metapher versteht, ist in Anbetracht seines sonstigen Umgangs mit Rätseln fraglich; vgl. Hdt. 1,30–33. 46–49. 53 f. 55. 87–91. Vgl. ferner Schultz (1912) 33 f., der von einer ursprünglichen superlativischen Frage nach dem stärksten Holz ausgeht, dessen Lösung verloren ist.

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3. Was ist angenehm (εὐχάριστον)? Die Antwort – Zeit – beruht wohl auf einer speziellen Auslegung von χρόνος als Freizeit oder (langer) Lebenszeit. Denkbar wäre durchaus auch die umgekehrte Einschätzung, die das mit der Zeit steigende Lebensalter mit seinen Gebrechen als Last für den Menschen bestimmt. 4. Was ist unklar (ἀφανές)? Frage und Antwort – die Zukunft – bilden gewissermaßen den inhaltlichen Gegenpol zu dem vorangegangenen Paar. Weil der Mensch keinen unmittelbaren Einfluss auf die durch das Schicksal bestimmte Zukunft auszuüben vermag (vgl. auch die erste Frage), gilt sie als ἀφανές. 5. Was ist sicher (πιστόν)? Die Antwort – die Erde – bezieht sich auf die ruhige Beständigkeit der Erde nicht als Planet o.Ä., sondern als Element. Im Vergleich zu Wasser, Wind und Feuer zeichnet sich die Erde durch eine gewisse Gleichmäßigkeit aus, die Pittakos hier als πιστόν bezeichnet. 6. Was ist unsicher (ἄπιστον)? Frage und Antwort – das Meer – bilden gewissermaßen den inhaltlichen Gegenpol zu dem vorangegangenen Paar. Das aufbrausende Meer, das als unberechenbar (ἄπιστον) gilt, ist dies auch bereits insofern das Element Wasser grundsätzlich beweglich ist (im Unterschied zur Erde in Frage fünf). Die auf große Abstrakta bezogenen Antworten sind durch die Allgemeinheit der Fragen bedingt. Pittakos beantwortet alle Fragen mit einer grundständigen Sicherheit und Autorität. 18 Superlativische Frage nach der besten Möglichkeit, Unrecht zu vermeiden, an Solon Diog. Laert. 1,59, Dorandi πῶς τε ἥκιστ᾽ ἂν ἀδικοῖεν οἱ ἄνθρωποι, „εἰ ὁμοίως,“ ἔφη, „ἄχθοιντο τοῖς ἀδικουμένοις οἱ μὴ ἀδικούμενοι.“ [Gefragt], wie die Menschen am wenigsten Unrecht täten, antwortete Solon: „Wenn zugleich mit denen, die Unrecht tun, diejenigen bestraft werden, die kein Unrecht tun.“

Form: Prosa Erklärung: Solons unerwartete Antwort auf eine Frage, die als Antwort bestimmte, besonders harte Strafmaßnahmen für diejenigen, die Unrecht tun, vermuten lässt, mutet zunächst scheinbar paradox an. Warum sollte eine Strafe auch die Schuldlosen treffen? Doch vor dem folgenden Grundgedanken wird Solons Antwort plausibel: An herrschendem Unrecht sind immer auch – wenigstens indi-

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rekt – diejenigen Schuld, die es zwar nicht selbst ausüben, es aber auch nicht verhindern. Eine Bestrafung der in diesem Sinne nur vermeintlich „Unschuldigen“ wäre in diesem Sinne also gerechtfertigt. Wenn auf die bloße Existenz von Unrecht Strafandrohung stünde, wäre ein besonderer Anreiz für diejenigen geschaffen, die selbst kein Unrecht begehen, andere ebenso daran zu hindern und so das allgemeine Maß der ἀδικία zu verringern. Da eine solche Regelung durchaus die Entwicklung einer stark ausgeprägten Selbstjustiz zur Folge haben könnte (die Unschuldigen bestrafen die „Schuldigen“, bevor sie ihr Unrecht begehen können, um ihrer eigenen Bestrafung zu entgehen), die, insofern sie gerechtfertigt und angemessen bliebe, als Ausübung von Gerechtigkeit zu gelten hätte, wäre demnach nicht nur ἀδικία unterbunden, sondern zugleich stattdessen δίκη erschaffen. 19 Allgemein-philosophische Frage nach einem besonders schrecklichen Tod an Anacharsis Anacharsis A 35 Kindstrand; Gnom. Vat. 21, Sternbach Ὁ αὐτὸς ἐρωτηθεὶς ὑπό τινος, ποῖός ἐστι θάνατος χαλεπώτερος, εἶπεν· „ὁ τῶν εὐτυχούντων“. Als er selbst einmal von jemandem darüber befragt wurde, welcher Tod besonders schlimm sei, antwortete er: „Der der Glücklichen.“

Form: Prosa Erklärung: Der als Elativ aufgefasste Komparativ χαλεπώτερος, der ein besonderes, überdurchschnittliches Maß zum Ausdruck bringt, ist inhaltlich – zumal im Kontext der allgemeinen Weisheitsfragen an die Sieben Weisen – nahezu gleichbedeutend mit dem Superlativ χαλεπώτατος, der ebenso an dieser Stelle stehen könnte, ohne den Sinn der Frage maßgeblich zu verändern. Die Einordnung der Frage unter die superlativischen Rätselfragen ist in diesem Sinne legitim; vgl. Plut. Pelopidas 34,5, wo ausdrücklich der Superlativ gebraucht ist. Die Frage, die als Antwort einen besonders schrecklichen Tod verlangt, scheint zunächst nach einer bestimmten Todesart oder -Ursache zu fragen, die etwa durch besonders dramatische Umstände, ein besonders hohes Maß an damit verbundenen Schmerzen o. Ä., mithin nach einem Extrem des auch ganz allgemein (abgesehen von bestimmten philosophischen Strömungen) als negativ und unwillkommen bewerteten Todes. Anacharsis begegnet der Frage jedoch auf einer anderen Ebene mit einer inhaltlich verschobenen Antwort: Besonders schlimm sei der Tod derjenigen, denen es im Leben gut geht, die eine gewisse εὐτυχία genießen. Was zunächst

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kontraintuitiv erscheinen mag, denn immerhin hat der Glückliche seine Lebenszeit unter besonders angenehmen Umständen verbracht, wird in folgender Hinsicht verständlich. Der Tod eines glücklichen, erfolgreichen Menschen lässt sich als χαλεπός in dem Sinne bezeichnen, dass er als besonders tragisch, weil vollkommen sinnlos, aufgefasst werden kann und deshalb besonders schwer zu ertragen ist. Beendet der Tod hingegen das (lange) Leiden eines Menschen, dann bringt er mit seinem Erlösungscharakter auch etwas Positives mit sich. Anacharsis beantwortet somit nicht die scheinbar gestellte Frage nach einer bestimmten, besonders grausamen Art des Todes, sondern eine durch die Formulierung ebenfalls nicht ausgeschlossene, aber weniger augenfällige Frage nach denjenigen Personen, für die der Tod – dann ganz allgemein als größtes Übel für den Menschen verstanden – besonders schwer zu ertragen ist. Mit dieser unerwarteten Ausrichtung seiner Antwort entspricht er ganz den Anforderungen einer superlativischen oder allgemein-philosophischen Rätselfrage, die besonders auf die Originalität der vorgebrachten Lösungsversuche zielt. Intertextuelle Verweise: Plut. Pelopidas 34,5 schreibt die Lösung der Rätselfrage in Form einer Gnome Aesop zu und setzt dem zugleich eine umgekehrte, besonders positive Vorstellung von dem Tod für den Glücklichen entgegen, die wir etwa auch in der Auseinandersetzung zwischen Solon und Kroisos über den glücklichsten Menschen (Hdt. 1,30–33) finden: οὐ γὰρ, ὡς Αἴσωπος ἔφασκε, χαλεπώτατός ἐστιν ὁ τῶν εὐτυχούντων θάνατος, ἀλλὰ μακαριώτατος – Denn nicht ist, wie Aesop sagt, besonders schwer zu ertragen der Tod der Glücklichen, sondern, im Gegenteil, er ist besonders gesegnet. So auch Diog. Laert. 6,1,5. 20 Superlativische Frage nach dem Widersprüchlichsten an Chilon Gnom. Vat. 550, Sternbach Ὁ αὐτὸς ἐρωταθεὶς τί παραδοξότατόν ἐστιν ἐν ἀνθρώποις εἶπεν· „εἴ τις ἐξουσίας κυριεύσας ἑαυτὸν γνωρίζοι.“ Er antwortete, als er gefragt wurde, was das Widersprüchlichste unter den Menschen sei: „Wenn einer, der Macht hat, sich selbst kennt.“

Form: Prosa Erklärung: Mit dem Superlativ παραδοξότατον ist nach etwas gefragt, was einen scharfen Widerspruch in sich birgt, sehr ungewöhnlich bzw. selten ist. Da die Frage explizit auf den Kreis des Menschlichen begrenzt ist (ἐν ἀνθρώποις), scheint nahezuliegen, dass nach einer bestimmten Eigenschaft oder speziellen Handlungsmustern gesucht ist, die das Wesen des Menschen zu einem ambivalenten machen.

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Chilon bezieht sich dabei auf eine bestimmte Menschengruppe, nämlich solche Individuen, die im Besitz von Macht (ἐξουσίας κυριεύσας) sind. An solchen Personen sei nur selten zu beobachten, dass sie eine reflektierte, philosophische Selbsterkenntnis im Sinne des berühmten delphischen Leitspruchs besäßen (ἑαυτὸν γνωρίζοι – γνῶθι σεαυτόν). „Paradox“ ist freilich eine solche Selbsterkenntnis – auch in den Augen Chilons – für Menschen in machtbegabten (Führungs)Positionen nicht, ganz im Gegenteil. Doch in der Antwort des Weisen liegt der spitzzüngige Vorwurf verborgen, dass, obwohl eine reflektierte Selbst(er)kenntnis gerade für Menschen mit Macht von besonderer Bedeutung wäre, wider Erwarten die Mächtigen sich in aller Regel nicht in Selbsterkenntnis üben, sondern vielmehr frei nach ihrem (emotionsgesteuerten) Belieben wüten und rasen, wie es ihnen gefällt. Ähnlich wie in einigen der königs- und tyrannenfeindlichen Äußerungen des Weisen Thales, bringt auch Chilon hier auf diese Weise (indirekt) die Auffassung zum Ausdruck, dass es keine guten Machthaber bzw. Herrscher gibt. παραδοξότατον ist das Zusammentreffen jener eigentlich zusammengehörigen Eigenschaften (Macht und Selbsterkenntnis) also insofern, als es nicht unmöglich oder widersprüchlich, aber sehr selten ist. Intertextuelle Verweise: Plut. conv. sept. sap. 147b berichtet von der Beantwortung derselben Frage durch Thales mit einem – inhaltlich ähnlich gelagerten – Verweis auf einen zu hohem Alter gelangten, d. h. lange als Herrscher geduldeten Tyrannen.

21 Superlativische Frage nach dem Besten im Leben an Chilon Gnom. Vat. 552, Sternbach Ὁ αὐτὸς ἐρωτηθεὶς ὑπό τινος τί κράτιστον ἐν βίῳ εἶπε· „τὸ μηδὲν ἄγαν.“ Er antwortete, als er von jemandem gefragt wurde, was das Beste im Leben sei: „Nichts zu sehr.“

Form: Prosa Erklärung: Die sehr rationale Antwort Chilons auf die zu unvernünftigem Überschwung geradezu reizende Frage nach dem Besten im Leben – denkbar wären als Antworten etwa auch „großer Reichtum“, „unendliches Glück“, „gänzliche Leidfreiheit“ und Vergleichbares –, die das Maßhalten als höchstes Gut benennt, gehört zu den drei apollinischen Weisheiten und den sog. delphischen Maximen der Sieben Weisen, wird dabei jedoch in der Regel dem Athener Solon zugeschrieben; vgl. zur Verwechslung der beiden Weisen exemplarisch Auson. ludus septem sapientium 3.

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Besonders pointiert ist die hier Chilon in den Mund gelegte Antwort, insofern sie den Superlativ der Fragestellung geradezu konterkariert. Das Beste ist demnach, gerade nicht nach superlativischen Extremen (wie dem Besten) zu streben oder zu fragen, sondern einen ausgewogenen Mittelweg zu beschreiten. Intertextuelle Verweise: Vgl. Phot. ep. et Amph. 872b: τί οὖν δεῖ ποιεῖν; πανταχοῦ τὸ μηδὲν ἄγαν ὑπολαμβάνειν κράτιστον; ferner Plut. Camillus 6 τὸ μηδὲν ἄγαν ἄριστον. Vgl. auch die Kleobulos von Lindos zugeschriebene Maxime μέτρον ἄριστον, die dem hier von Chilon geäußerten Gedanken entspricht; hierzu auch Auson. ludus septem sapientium 6.

22 Rätsel vom Stärksten (Die drei samischen Mädchen) Diphilos, PCG V, frg. 49, p. 79 f. K.-A.; zit. Athen. X 451bc; S 231 Δίφιλος δ’ ἐν Θησεῖ τρεῖς ποτε κόρας Σαμίας φησὶν Ἀδωνίοισιν γριφεύειν παρὰ πότον· προβαλεῖν δ’ αὑταῖσι τὸν γρῖφον, τί πάντων ἰσχυρότατον; καὶ τὰν μὲν εἰπεῖν ὁ σίδαρος, καὶ φέρειν τούτου λόγου τὰν ἀπόδειξιν, διότι τούτωι πάντ’ ὀρύσσουσίν τε καὶ τέμνουσι καὶ χρῶντ’ εἰς ἅπαντα. εὐδοκιμούσαι δ’ ἐπάγειν τὰν δευτέραν φάσκειν τε τὸν χαλκέα πολὺ κρείττω φέρειν ἰσχύν· ἐπεὶ τοῦτον κατεργαζόμενον καὶ τὸν σίδαρον τὸν σφοδρὸν κάμπτειν, μαλάσσειν, ὅ τι ἂν χρήζηι ποιεῖν. τὰν δὲ τρίταν ἀποφῆναι πέος ἰσχυρότατον πάντων, διδάσκειν δ’ ὅτι καὶ τὸν χαλκέα στένοντα πυγίζουσι τούτωι 2

αὐταῖσι

Kaibel

Diphilos sagt in seinem Theseus, dass sich einst drei samische Mädchen bei dem Adonisfest während des Gelages gegenseitig Rätsel stellten; sie hätten das Rätsel „Was ist das Stärkste?“ vorgebracht und die erste habe gesagt „Das Eisen“ und für diese Antwort den Beweis erbracht, dass man mit Eisen alles graben und schneiden könne und es überhaupt zu allem benutze. Diese Antwort wurde als richtig eingeschätzt und es kam das zweite Mädchen an die Reihe und sagte, der Schmied sei viel stärker als das Eisen; denn er bearbeite das Eisen, wie stark dies auch sei, und mache es biegsam, sodass er damit tun könne, was immer er wolle. Das dritte Mädchen aber gab bekannt, am stärksten von allem sei das männliche Glied, und sie erklärte, dass man sogar den Schmied zum Stöhnen bringe, wenn man ihn mit dem Glied penetriere.

Form: Prosa Erklärung: Die Mädchen treten abwechselnd (αὑταῖσι bzw. αὐταὶσι Kaibel) in die Rolle des Rätselstellers und formulieren eine Rätselfrage, auf welche die beiden anderen antworten müssen, bevor die Dritte ihre Auslegung als die korrekte Lösung preisgibt. Einen solchen Ablauf legt wenigstens das Beispiel, das Athenaios aus der Komödie extrahiert hat, nahe: Eins der Mädchen stellt die Frage, was das Stärkste von allem sei (προβάλλειν τὸν γρῖφον).

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Diese superlativische Frage hat nicht nur eine normative Antwort, sie fragt kein bereits vorhandenes Wissen ab, ihre Herausforderung besteht darin, eine besonders überzeugende oder originelle Antwort zu formulieren. In den Antworten der Mädchen zeigt sich deshalb eine entsprechende Steigerung: (1) Die Erste schlägt als Lösung das Eisen als besonders hartes und unnachgiebiges Material vor und beantwortet damit die Frage gewissermaßen im wörtlichen Sinne und sachlich vollkommen korrekt. Obwohl Athenaios sogar explizit sagt, dass diese Antwort die gestellte Frage korrekt beantwortet (εὐδοκιμοῦσᾳ), gilt diese erste Antwort wohl nicht als Lösung des Rätsels. Anderenfalls wäre die Beteiligung der beiden anderen Mädchen gegenstandslos. (2) Dagegen greift das zweite Mädchen die implizite Grundhypothese ihrer Vorgängerin „Was über die meisten Dinge herrscht, ist am stärksten“ auf und übertrifft sie in ihrer Antwort dadurch, dass sie den Schmied als denjenigen benennt, der sogar über das Eisen herrscht. Dass dies natürlich nur im Hinblick auf seine Arbeit zutrifft, während auch ein Schmied nicht vor einem Schwertstoß im Kampf gefeit ist, obwohl er die Klinge selbst hergestellt haben mag, bleibt dabei außer Acht. (3) Schließlich präsentiert das dritte Mädchen, welches die Frage gestellt hatte, ihrerseits eine Lösung, indem sie, die Gedankenkette ihrer Mitstreiterinnen fortführend, denjenigen als Beherrscher des Schmiedes ansieht, der ihn durch homoerotische Penetration gewissermaßen unterwerfen kann. Dass das dritte Mädchen mit dem Vortrag dieser Lösung die Antworten ihrer Vorrednerrinnen in der Manier einer Rätsellöserin korrigiert, dass es sich also nicht um eine gleichwertige dritte, nur sachlich richtige Meinung, sondern um die Lösung des Rätsels handelt, belegen mehrere Zusammenhänge: Einerseits (1) passt der erotisch-obszöne Ausgang des Rätsels zu der gesamten Fruchtbarkeitsthematik des Adonisfestes, in dessen Rahmen das Rätsel schließlich aufgegeben wird. Die Lösung des Rätsels würde gleichsam als Witz auf die Umstände des Spiels hinweisen. Andererseits (2) zeigt auch die konkrete Formulierung, dass die Antwort des dritten Mädchens als Lösung von den anderen beiden Versuchen abgehoben wird. Während die ersten Antworten durch die neutralen Verben λέγειν und φάσκειν eingeleitet werden, beschreibt Athenaios die Handlung des dritten Mädchens als ἀποφαίνειν. Sie macht keinen Vorschlag, sie konstatiert die Wahrheit. Dazu stimmt auch das διδάσκειν, welches ihre Erklärung einleitet, denn die Erklärung einen Rätsellösung wird auch an anderer Stelle durch dieses Verb benannt, vgl. Eur. Phoen. 48. 50.

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Intertextuelle Verweise: Vgl. für ein Beispiel ganz ähnlicher kultischer Einbindung des Rätselspiels die Schilderung der Agrionia in Plut. symp. 717a. Literatur: Vgl. zu der besonderen sozialen Konnotation der von Frauen gestellten Rätsel den Abschnitt IV 2.1 der Abhandlung. Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob γριφεύειν die Handlung des Rätselstellers oder des Rätsellösers beschreibt, ob die Mädchen sich also gegenseitig (abwechselnd) Rätsel stellen, von denen hier eins herausgegriffen ist, oder ob ihnen das Rätsel von einer vierten Person, einem unparteiischen Schiedsrichter, vorgelegt wird; vgl. dazu Auhagen (2009) 126, die von einem nicht genannten externen Rätselsteller ausgeht. Diese Annahme erklärt weder die vorliegende Stelle ausreichend noch passt sie zu den Beschreibungen anderer überlieferter Rätselsituationen. Den Subjektsakkusativ, den Auhagen im zweiten Satz vermisst, bilden noch immer die τρεῖς κόρας Σαμίας. Unserer Annahme entsprecht der Text nach Kassel-Austin, die reflexives αὑταισι drucken (Diphilos, PCG V, frg. 49, p. 79 f. K.-A.). Schweighäuser V (1804) 552 f. 23 Rätsel vom glücklichsten Menschen (Solon und Kroisos) Hdt. 1,30–33, Wilson αὐτῶν δὴ ὦν τούτων καὶ τῆς θεωρίης ἐκδημήσας ὁ Σόλων εἵνεκεν ἐς ‹τε› Αἴγυπτον ἀπίκετο παρὰ Ἄμασιν καὶ δὴ καὶ ἐς Σάρδις παρὰ Κροῖσον. ἀπικόμενος δὲ ἐξεινίζετο ἐν τοῖσι βασιληίοισι ὑπὸ τοῦ Κροίσου· μετὰ δέ, ἡμέρῃ τρίτῃ ἢ τετάρτῃ, κελεύσαντος Κροίσου τὸν Σόλωνα θεράποντες περιῆγον κατὰ τοὺς θησαυροὺς καὶ ἐπεδείκνυσαν πάντα ἐόντα μεγάλα τε καὶ ὄλβια. θεησάμενον δέ μιν τὰ πάντα καὶ σκεψάμενον, ὥς οἱ κατὰ καιρὸν ἦν, εἴρετο ὁ Κροῖσος τάδε· Ξεῖνε Ἀθηναῖε, παρ’ ἡμέας γὰρ περὶ σέο λόγος ἀπῖκται πολλὸς καὶ σοφίης εἵνεκεν τῆς σῆς καὶ πλάνης, ὡς φιλοσοφέων γῆν πολλὴν θεωρίης εἵνεκεν ἐπελήλυθας· νῦν ὦν ἵμερος ἐπειρέςάι μοι ἐπῆλθέ σε εἴ τινα ἤδη πάντων εἶδες ὀλβιώτατον. ὁ μὲν ἐλπίζων εἶναι ἀνθρώπων ὀλβιώτατος ταῦτα ἐπειρώτα, Σόλων δὲ οὐδὲν ὑποθωπεύσας, ἀλλὰ τῷ ἐόντι χρησάμενος, λέγει· Ὦ βασιλεῦ, Τέλλον Ἀθηναῖον. ἀποθωμάσας δὲ Κροῖσος τὸ λεχθὲν εἴρετο ἐπιστρεφέως· Κοίῃ δὴ κρίνεις Τέλλον εἶναι ὀλβιώτατον; ὁ δὲ εἶπε· Τέλλῳ τοῦτο μὲν τῆς πόλιος εὖ ἡκοντι παῖδες ἦσαν καλοί τε κἀγαθοί, καί σφι εἶδε ἅπασι τέκνα ἐκγενόμενα καὶ πάντα παραμείναντα, τοῦτο δὲ τοῦ βίου εὖ ἥκοντι, ὡς τὰ παρ’ ἡμῖν, τελευτὴ τοῦ βίου λαμπροτάτη ἐπεγένετο· γενομένης γὰρ Ἀθηναίοισι μάχης πρὸς τοὺς ἀστυγείτονας ἐν Ἐλευσῖνι βοηθήσας καὶ τροπὴν ποιήσας τῶν πολεμίων ἀπέθανε κάλλιστα, καί μιν Ἀθηναῖοι δημοσίῃ τε ἔθαψαν αὐτοῦ τῇ περ ἔπεσε καὶ ἐτίμησαν μεγάλως. ὡς δὲ τὰ κατὰ τὸν Τέλλον προετρέψατο ὁ Σόλων τὸν Κροῖσον εἴπας πολλά τε καὶ ὄλβια, ‹ὁ δὲ› ἐπειρώτα τίνα δεύτερον μετ’ ἐκεῖνον ἴδοι, δοκέων πάγχυ δευτερεῖα γῶν οἴσεσθαι. ὁ δὲ εἶπε· Κλέοβίν τε καὶ Βίτωνα. τούτοισι γὰρ ἐοῦσι γένος Ἀργείοισι βίος τε ἀρκέων ὑπῆν καὶ πρὸς τούτῳ ῥώμη σώματος τοιήδε· ἀεθλοφόροι τε ἀμφότεροι ὁμοίως ἦσαν, καὶ δὴ καὶ λέγεται ὅδε ὁ λόγος· ἐούσης ὁρτῆς τῇ Ἥρῃ τοῖσι Ἀργείοισι ἔδεε πάντως τὴν μητέρα αὐτῶν ζεύγεϊ κο-

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μισθῆναι ἐς τὸ ἱρόν, οἱ δέ σφι βόες ἐκ τοῦ ἀγροῦ οὐ παρεγίνοντο ἐν ὥρῃ· ἐκκληιόμενοι δὲ τῇ ὥρῃ οἱ νεηνίαι ὑποδύντες αὐτοὶ ὑπὸ τὴν ζεύγλην εἷλκον τὴν ἅμαξαν, ἐπὶ τῆς ἁμάξης δέ σφι ὠχέετο ἡ μήτηρ, σταδίους δὲ πέντε καὶ τεσσεράκοντα διακομίσαντες ἀπίκοντο ἐς τὸ ἱρόν. ταῦτα δέ σφι ποιήσασι καὶ ὀφθεῖσι ὑπὸ τῆς πανηγύριος τελευτὴ τοῦ βίου ἀρίστη ἐπεγένετο, διέδεξέ τε ἐν τούτοισι ὁ θεὸς ὡς ἄμεινον εἴη ἀνθρώπῳ τεθνάναι μᾶλλον ἢ ζώειν. Ἀργεῖοι μὲν γὰρ περιστάντες ἐμακάριζον τῶν νεηνιέων τὴν ῥώμην, αἱ δὲ Ἀργεῖαι τὴν μητέρα αὐτῶν, οἵων τέκνων ἐκύρησε. ἡ δὲ μήτηρ περιχαρὴς ἐοῦσα τῷ τε ἔργῳ καὶ τῇ φήμῃ, στᾶσα ἀντίον τοῦ ἀγάλματος εὔχετο Κλεόβι τε καὶ Βίτωνι τοῖσι ἑωυτῆς τέκνοισι, οἵ μιν ἐτίμησαν μεγάλως, τὴν θεὸν δοῦναι τὸ ἀνθρώπῳ τυχεῖν ἄριστόν ἐστι. μετὰ ταύτην δὲ τὴν εὐχὴν ὡς ἔθυσάν τε καὶ εὐωχήθησαν, κατακοιμηθέντες ἐν αὐτῷ τῷ ἱρῷ οἱ νεηνίαι οὐκέτι ἀνέστησαν, ἀλλ’ ἐν τέλεϊ τούτῳ ἔσχοντο, Ἀργεῖοι δέ σφεων εἰκόνας ποιησάμενοι ἀνέθεσαν ἐς Δελφοὺς ὡς ἀνδρῶν ἀρίστων γενομένων. Σόλων μὲν δὴ εὐδαιμονίης δευτερεῖα ἔνεμε τούτοισι, Κροῖσος δὲ σπερχθεὶς εἶπε· Ὦ ξεῖνε Ἀθηναῖε, ἡ δ’ ἡμετέρη εὐδαιμονίη οὕτω τοι ἀπέρριπται ἐς τὸ μηδέν, ὥστε οὐδὲ ἰδιωτέων ἀνδρῶν ἀξίους ἡμέας ἐποίησας; ὁ δὲ εἶπε· Ὦ Κροῖσε, ἐπιστάμενόν με τὸ θεῖον πᾶν ἐὸν φθονερόν τε καὶ ταραχῶδες ἐπειρωτᾷς ἀνθρωπηίων πρηγμάτων πέρι. ἒν γὰρ τῷ μακρῷ χρόνῳ πολλὰ μὲν ἔστι ἰδεῖν τὰ μή τις ἐθέλει, πολλὰ δὲ καὶ παθεῖν. […] οὕτω ὦν, ὦ Κροῖσε, πᾶσά ἐστι ἄνθρωπος συμφορή. ἐμοὶ δὲ σὺ καὶ πλουτέειν μέγα φαίνεαι καὶ βασιλεὺς πολλῶν εἶναι ἀνθρώπων· ἐκεῖνο δὲ τὸ εἴρεό με οὔ κώ σε ἐγὼ λέγω, πρὶν τελευτήσαντα καλῶς τὸν αἰῶνα πύθωμαι. οὐ γάρ τι ὁ μέγα πλούσιος μᾶλλον τοῦ ἐπ’ ἡμέρην ἔχοντος ὀλβιώτερός ἐστι, εἰ μή οἱ τύχη ἐπίσποιτο πάντα καλὰ ἔχοντα εὖ τελευτῆσαι τὸν βίον. πολλοὶ μὲν γὰρ ζάπλουτοι ἀνθρώπων ἀνόλβιοί εἰσι, πολλοὶ δὲ μετρίως ἔχοντες βίου εὐτυχέες. ὁ μὲν δὴ μέγα πλούσιος, ἀνόλβιος δὲ δυοῖσι προέχει τοῦ εὐτυχέος μοῦνον, οὗτος δὲ τοῦ πλουσίου καὶ ἀνόλβου πολλοῖσι· ὁ μὲν ἐπιθυμίην ἐκτελέσαι καὶ ἄτην μεγάλην προσπεσοῦσαν ἐνεῖκαι δυνατώτερος, ὁ δὲ τοῖσδε προέχει ἐκείνου· ἄτην μὲν καὶ ἐπιθυμίην οὐκ ὁμοίως δυνατὸς ἐκείνῳ ἐνεῖκαι, ταῦτα δὲ ἡ εὐτυχίη οἱ ἀπερύκει, ἄπηρος δέ ἐστι νούσων, ἀπαθὴς κακῶν, εὔπαις, εὐειδής· εἰ δὲ πρὸς τούτοισι ἔτι τελευτήσει τὸν βίον εὖ, οὗτος ἐκεῖνος τὸν σὺ ζητέεις, ‹ὁ› ὄλβιος κεκλῆσθαι ἄξιός ἐστι· πρὶν δ’ ἂν τελευτήσῃ, ἐπισχεῖν μηδὲ καλέειν κω ὄλβιον, ἀλλ’ εὐτυχέα. τὰ πάντα μέν νυν ταῦτα συλλαβεῖν ἄνθρωπον ἐόντα ἀδύνατόν ἐστι· […]. ὃς δ’ ἂν αὐτῶν πλεῖστα ἔχων διατελέῃ καὶ ἔπειτα τελευτήσῃ εὐχαρίστως τὸν βίον, οὗτος παρ’ ἐμοὶ τὸ οὔνομα τοῦτο, ὦ βασιλεῦ, δίκαιός ἐστι φέρεσθαι. σκοπέειν δὲ χρὴ παντὸς χρήματος τὴν τελευτὴν κῇ ἀποβήσεται· πολλοῖσι γὰρ δὴ ὑποδέξας ὄλβον ὁ θεὸς προρρίζους ἀνέτρεψε. ταῦτα λέγων τῷ Κροίσῳ οὔ κως οὔτε ἐχαρίζετο, οὔτε λόγου μιν ποιησάμενος οὐδενὸς ἀποπέμπεται, κάρτα δόξας ἀμαθέα εἶπαι, ὃς τὰ παρεόντα ἀγαθὰ μετεὶς τὴν τελευτὴν παντὸς χρήματος ὁρᾶν ἐκέλευε. Weil sich diese Dinge so verhielten und um beim Reisen die Welt zu sehen, machte sich Solon nach Ägypten davon zu Amasis und auch nach Sardes zu Kroisos. Dort angekommen, wurde er in den Königsgemächern von Kroisos bewirtet; dann aber, am dritten oder vierten Tag, befahl Kroisos, dass seine Diener Solon in die Schatzkammer führen und ihm zeigen sollten, wie groß und beglückend (ὄλβια) alles war. Als er alles gesehen und wie es der Sache geziemte betrachtet hatte, fragte Kroisos ihn Folgendes: „Fremder aus Athen, auch zu uns sind viele Erzählungen über dich gelangt, dass du um der Weisheit und des Reisens willen als ein Freund der Weisheit wegen der Erfahrung große Teile der Erde besucht hast; nun kam auf mich das Verlangen, dich zu befragen, ob du wohl einen Menschen kennst, der von allen der glücklichste ist (ὀλβιώτατος).“ Er war nämlich der Ansicht, selbst der glücklichste Mensch (ὀλβιώτατος) zu sein, und fragte deshalb, Solon aber benutzte keine Schmeichelei, sondern sagte, um die Wahrheit zu sprechen: „Mein König,

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der Athener Tellos.“ Kroisos wunderte sich sehr über die Antwort und fragte: „Weshalb entscheidest du, das Tellos der Glücklichste ist?“ Der aber antwortete: „Tellos geschah dieses, dass er in einer guten Stadt lebte, gute und schöne Kinder hatte, von denen er sah, wie sie alle Kinder bekamen, die alle am Leben blieben, nach unseren Maßstäben war er zum Leben gut versorgt und das Ende seines Lebens war glorreich; er nahm nämlich an einem Kampf der Athener gegen die benachbarten Bürger von Eleusis teil, bewirkte durch seine Unterstützung einen Rückzug der Feinde und starb ehrenvoll, und die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn hoch.“ Als Solon diese vielen und schönen (ὄλβια) Dinge über Tellos zu Kroisos gesagt hatte, fragte der ihn, welchen zweiten er nach jenem (als Glücklichsten) kenne, denn er war ganz sicher, hierbei siegreich zu sein. Der aber sagte: „Kleobis und Biton. Die beiden stammten aus Argos, hatten genug zum Leben und zudem große Körperkraft. Beide siegten in Kampfspielen und man erzählt folgende Geschichte: Als in Argos das Fest der Hera gefeiert wurde, musste die Mutter der beiden mit dem Wagen zum Heiligtum gebracht werden, doch die Rinder waren vom Feld nicht rechtzeitig zurück; durch die Zeit bedrängt traten die beiden Jünglinge selbst unter das Joch und zogen den Wagen, auf dem Wagen aber saß ihre Mutter, fünfundvierzig Stadien legten sie zurück und gelangten zum Tempel. Nachdem dies geschehen war, wobei das ganze Volk zuschaute, geschah ihnen der beste Tod und so zeigte der Gott an ihrem Beispiel, dass für den Menschen sterben besser ist als leben. Die Argeier nämlich standen dabei und priesen die Kraft der Jünglinge, die Argeierinnen priesen ihre Mutter, die solche Kinder geboren hatte. Die Mutter nämlich, erfreut durch die Tat und die Ehrung, betete vor dem Götterbild, die Göttin solle ihren Söhnen, Kleobis und Biton, die sie so hoch geehrt hatten, das Beste geben, was einem Menschen zuteil werden könne. Und nach diesem Gebet nahmen die Jünglinge am Opfer und am Mahl teil, legten sich in dem Heiligtum zum Schlafen nieder und erwachten nicht wieder, sondern waren am Ende ihres Lebens angelangt. Die Argeier fertigten Standbilder von ihnen und ließen sie in Delphi aufstellen als Abbild edler Männer.“ Ihnen also teilte Solon die zweite Stelle in der Glückseligkeit (εὐδαιμονία) zu, Kroisos Temperament aber war aufgewühlt und er sagte: „Fremder aus Athen, und mein Glück (εὐδαιμονία) wird so als nichtig verleumdet, dass du mich nicht einmal den einfachen Bürgern als ebenbürtig ansetzt?“ Der aber antwortete: „Kroisos, du fragst mich nach den menschlichen Angelegenheiten, der ich weiß, dass der Gott vollkommen neidisch und unbeständig ist. In der großen Zeitspanne [seines Lebens] muss der Mensch vieles sehen, was er nicht will, und vieles erleiden. […] So also, Kroisos, ist der Mensch ganz und gar Zufallsgewaber. Mir zeigt sich zwar, dass du großen Reichtum besitzt und über viele Menschen herrscht; jenes, aber, was du mich fragst, sage ich dir nicht, ehe ich erfahren habe, dass dein Leben auch gut geendet hat. Es ist nämlich der mit großem Reichtum nicht glücklicher (ὀλβιώτερος) als der, der jeweils genug für einen Tag hat, wenn ihm nicht das Schicksal zukommt, mit all seinem schönen Besitz auch sein Leben zu beschließen. Viele sehr reiche Menschen sind dennoch unglücklich (ἄνολβοι), viele aber, die mit Mittelmaß leben, haben ein segenreiches (εὐτυχέες) Leben. Der, der sehr reich, aber unglücklich (ἄνολβος) ist, hat nur zwei Dinge vor dem Glücklichen (εὐτυχής) voraus, dieser aber vor dem reichen Unglücklichen viele; der Reiche zwar ist besser in der Lage, seine Begehren zu befriedigen und große Schicksalsschläge zu bewältigen, der andere aber hat Folgendes vor jenem voraus: Schicksalsschläge und Begehren kann er zwar nicht so leicht ertragen wie jener, doch sein Glück hält sie ab, denn er ist ohne Verletzung, ohne Krankheit, leidlos, mit Kindern und Wohlgestalt gesegnet; wenn er zusätzlich zu diesen Dingen sein Leben auch noch gut be-

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schließt, so ist er würdig, glücklich (ὄλβιος) genannt zu werden, wonach du fragtest. Bevor einer gestorben ist, ist es nicht rechtens, ihn glücklich (ὄλβιος) zu nennen, sondern vorübergehend glücklich (εὐτυχής). Nun aber alles [was zum Glück gehört] auf einen Menschen zu vereinigen, ist unmöglich, […]. Der aber, der von dem, was er braucht, am meisten hat bis zum Ende und unter glücklichen Umständen stirbt, der darf, so sage ich, rechtmäßig diesen Namen tragen, oh König. Bei allen Dingen muss man das Ende betrachten, und wie sie ausgehen; vielen nämlich zeigte sich schon das Glück (ὄλβον), doch ein Gott vernichtete sie gänzlich.“ Als er dies zu Kroisos sagte, tat er das in keinster Weise, um ihm zu schmeicheln, und weil er kein einziges Wort über den König verloren hatte, wurde er fortgeschickt, denn er hatte den Eindruck hinterlassen, sehr dumm zu sein, der er gegenwärtiges Gutes nicht beachtete und verlangte, man müsse bei jeder Sache auf das Ende schauen.

Form: Prosa Kontext: Herodot berichtet, Solon von Athen sei in seiner zehnjährigen Abwesenheit aus Athen nach seinem Gesetzesentwurf 594 v. Chr., wie auch andere Intellektuelle der Zeit, die das aufblühende Lyderreich besuchten, nach Sardes gereist, wo er in einen Disput mit dem Lyderkönig Kroisos geriet. Da dieser erst seit 560 v. Chr. im Lyderreich regierte, ist die Episode wahrscheinlich nicht historisch. Erklärung: Kroisos befragt Solon aufgrund seiner Weisheit. Eine solche Befragung zwischen König und Weisem ist durchaus nicht singulär, sondern bildet ein geläufiges Muster für das Verhältnis der Rätselrollen ab, vgl. etwa die Beratung des ägyptischen Königs Amasis durch die Sieben Weisen, bes. durch Bias von Priene (Plut. conv. sept. sap. passim; Plut. mor. 38b (de audiendo)) sowie die Beratung des (fiktiven) babylonischen Königs Lykurg durch Aesop in Rätselangelegenheiten (vit. Aesop. 102–108. 111–123), vgl. hierzu Holzberg (1992) 65–69. Die superlativische Frage stellt mit ihrer Rätselstruktur einerseits die Weisheit des Atheners auf die Probe, doch andererseits, und darin muss Kroisos’ eigentliche Intention bestehen, lässt die Weisheit Solons ihn als potentiell erfolgreichen Rätsellöser erscheinen. Da Kroisos in der Manier eines Rätselstellers bereits weiß, oder doch glaubt, zu wissen, welches die Antwort auf seine Frage ist, und davon ausgeht, dass Solon sie finden wird, stellt er die Frage, um eine sichere Bestätigung für seine Eitelkeit zu erhalten. Wenn er also den Weisen – freilich nachdem er dem Gast all seine Reichtümer hat vorführen lassen – darüber befragt, wer der glücklichste Mensch sei (πάντων ὀλβιώτατος), dann tut er dies nicht, weil er sich erhofft, durch Solons Wissen belehrt zu werden. Er fragt auch nicht nach einem persönlichen Eindruck des Weisen, denn in diesem Fall müsste er selbigen ja (mehr oder weniger fraglos) akzeptieren. Vielmehr tritt er als Rätselsteller auf, und lehnt die Antworten bzw. Lösungsversuche seines Gastes, obwohl sie sich vollständig logisch begründen

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lassen (die Erklärungen sowohl zu Tellos als auch zu Kleos und Biton lassen ja eine stringente Logik erkennen: glücklich ist der, der nach einem Leben ohne zu großes Leid einen schönen Tod findet), nach eigenem Gutdünken (glücklich ist der, der Reichtum und Macht besitzt) ab. Dass, wo potentiell mehrere Antworten logisch möglich sind, nur diejenige das Rätsel löst, die von dem Rätselsteller anerkannt wird, ist ganz rätseltypisch, vgl. hierzu insbesondere andere superlativische Rätselfragen, in deren Natur es liegt, dass es nicht eine einzige, normativ bestimmte Lösungsmöglichkeit gibt, sondern eine auf gewisse Weise besonders originelle Variante ausgewählt wird. So werden am Schluss der Episode (1,33) zwei unterschiedliche Glücks-Konzepte gleichsam wie zwei auch terminologisch unterschiedene Beurteilungsebenen bzw. semantische Räume nebeneinandergestellt:8 das punktuelle Glück der Gegenwart (τύχη, εὐτυχίη) und das dauerhafte Gesamtglück (ὄλβος). Beide Konzepte beziehen sich auf dieselben Referenzgüter (Gesundheit, gute Kinder, gutes Aussehen, Kraft, gutes Einkommen) und unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf ihre zeitliche Ausdehnung. Kroisos fragt zwar nach dem (andauernd) ὀλβιώτατος, argumentiert jedoch für seine eigene Person als richtige Lösung mit Aspekten der (vergänglichen) τύχη. Dass schon 1,30 sein Schatz als μεγάλα τε καὶ ὄλβια beschrieben ist, spiegelt sein undifferenziertes Bild von dem facettenreichen Glücksbegriff. Solon hingegen antwortet mit der Frage exakt entsprechenden Argumenten und verfehlt so als Rätsellöser (wenn auch nicht aus Unwissenheit) die von Kroisos als Rätselsteller postulierte semantische Ebene und wird entsprechend für seine als falsch beurteilten Lösungsversuche durch Nichtachtung (und Verbannung?) bestraft (1,33); vgl. für das Verfehlen des richtigen semantischen Lösungsraumes auch die metasprachlichen Rätsel, bei denen besonders häufig mit diesem Prinzip der enttäuschten Erwartung gespielt wird. Ebenso charakteristisch ist der Umstand, dass bei den Lösungsversuchen nicht die bloße Nennung des Lösungswortes genügt, sondern auch der Lösungsweg bzw. der tiefere Sinn der Lösung erklärt werden muss – warum sonst sollte Solon nachfragen, inwiefern (κοίῃ) Tellos als der Glücklichste gilt (1,30)? Dass Kroisos nach der ersten Antwort auf seine superlativische Frage, nur noch nach der zweiten Stelle (δευτερεῖα) im Glück fragt, impliziert keine Anerkennung der Antwort. Vielmehr liegt in der leicht abgewandelten zweiten Frage sinngemäß eine bloße Wiederholung der ersten und damit ein Drängen zur Kor-

8 In dem Dialog zwischen Solon und Kroisos tauchen insgesamt vier unterschiedliche Glücksbegriffe auf, wovon jedoch der grundlegende, für die Auseinandersetzung relevante Unterschied zwischen ὄλβος und εὐτυχίη besteht; vgl. hierzu Asheri/Llloyd/Corcella (2007) 97 zu 1,29–33.

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rektur der ersten Antwort. Dass Kroisos nicht ernsthaft nach einem abgestuften zweiten Platz fragt, legt der unaristokratische Habitus dieses Gedankens offen, vgl. Asheri/Lloyd/Corcella (2007) z. St. Auch ein Vergleich der beiden Antworten Solons unterstützt diese Annahme. So werden in den Erklärungen zu beiden Lösungen gleichermaßen positiv auszeichnende Superlative gebraucht (λαμπροτάτη, κάλλιστα, μεγάλως, ἀρίστη, ἄριστον), während die Erklärung, die am Ende einen allgemeineren Zug bekommt, schließlich nicht von dem durch Kroisos hinterfragten Superlativ, sondern von dem allgemeinen Positiv ὄλβιος spricht (οὗτος ἐκεῖνος τὸν σὺ ζητέεις, ὄλβιος κεκλῆσάι ἄξιός ἐστιν, 1,32). Während Kroisos die Frage nach dem glücklichsten Menschen stellt, antwortet Solon abstrakter darauf, was Glück ist. Dieses Glück aber, der glückliche Tod, steht im Zentrum beider von Solon angeführten Beispiele. Dies deutet an, dass es Solon nicht so sehr um die konkreten Personen geht, die vielmehr nur als Beispiele für einen Typus Mensch stehen, sondern um das Glück selbst. Die Beispiele sind nicht qualitativ gegeneinander abgestuft, vielmehr veranschaulichen sie denselben Sachverhalt; vgl. ferner, dass Kroisos primär, d. h. noch bevor von einer zweiten Wettkampfsplatzierung (δευτερεῖα [ἆθλα]) die Rede war, eher neutral (temporal) nach einem zweiten Vorschlag gefragt hatte (ἐπειρώτα τίνα δεύτερον μετ’ ἐκεῖνον ἴδοι); während δευτερεῖα ἆθλα ganz explizit den zweiten Preis in einem Wettkampf, d. h. eine abgestufte Qualität bezeichnen, kann δεύτερος nach LSJ 382 s. v. I. 2. auch rein temporalen Charakter besitzen. Mit seiner zweiten Frage gibt Kroisos Solon also gleichsam eine zweite Gelegenheit, seine erste (als falsch eingestufte) Lösung zu korrigieren. Als der König jedoch auch von der zweiten Antwort enttäuscht wird, verhängt er – wie im Rätsel üblich – eine Strafe über den von ihm als erfolglos beurteilten Rätsellöser. Er schickt ihn fort, verbannt ihn vielleicht sogar. Selbstverständlich soll hier nicht geleugnet werden, dass an dieser Reaktion auch der gekränkte Stolz des Königs seinen Anteil hat. Doch in dieser Konstellation, in der das Rätsel nur dessen Eitelkeit bestätigen soll, fällt dies eben mit der üblichen Strafe für den Misserfolg bei der Rätsellösung in eins; vgl. hierzu die abschließende Formulierung, die eine entsprechend zweiteilige Begründung der Strafe verkündet (1,33): οὔτε λόγου μιν ποιησάμενος οὐδενὸς ἀποπέμπεται, κάρτα δόξας ἀμαθέα εἶναι. Zur Verteilung der Rätselrollen: Solon wird als weise (theoretisch) und erfahren (praktisch) charakterisiert und bringt dadurch die besten Voraussetzungen für ein Rätselspiel (sowohl als Rätselsteller als auch als Rätsellöser) mit. Sein Ruf als Weiser eilt ihm sogar voraus (1,30). Kroisos hingegen wird auch anderweitig für seinen schlechten Umgang mit Rätseln und Orakeln bekannt werden, vgl. seinen falschen Entschluss nach dem Traum von dem Tod seines Sohnes Atys, Hdt. 1,34–43; seine hybride Prüfung der griechischen Orakelstätten, Hdt. 1,46–49; das missverstandene Orakel von

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der Zerstörung eines großen Reiches, Hdt. 1,53; das missverstandene Orakel von einem Maultier als König der Meder; Hdt. 1,55. Es tritt, insofern er die Frage stellt und über die (vermeintliche) Richtigkeit der Antwort entscheidet, augenscheinlich Kroisos als Rätselsteller auf – obwohl er für diese überlegene Rolle durch seine individuelle Disposition weniger geeignet ist. Doch obwohl er mit seiner Beurteilung der Lösungsversuche faktisch Unrecht hat – erst Hdt. 1,86 f., wenn Kroisos nach dem Angriff des Meders Kyros auf dem Scheiterhaufen steht, wird sich zeigen, dass auch das Glück des Lyderkönigs vergänglich ist – und aufgrund seines Charakters (hochmütig, eitel) ganz wie Dareios vor den Skythen (Hdt. 4,131–135) ein schlechter Rätselsteller und -Löser ist, bleibt er rätselimmanent (!) dank seiner Rolle überlegen und kann Solon abstrafen, der trotz seiner sich später noch als richtig erweisenden Lösung geschmäht wird; vgl. hierzu Teiresias, der von Zeus und Hera in ihrer Kontroverse um die Frage, ob Frauen oder Männer beim Geschlechtsakt mehr Lust empfinden, aufgrund seiner Expertise (als Mann und Frau) als Schiedsrichter hinzugezogen wird. Teiresias antwortet – je nach Überlieferung –, die Frauen hätten zehn von neunzehn oder neun von zehn Anteile der Lust, die Männer entsprechend neun bzw. neun Teile bzw. einen Anteil, und wird trotz der faktischen Korrektheit der Antwort von Hera zur Strafe mit Blindheit geschlagen, weil die Göttin sich, um vor Zeus nicht schlecht dazustehen, die entgegengesetzte Antwort erhofft hatte, Hes. frg. 275 MW. Auf einer viel subtileren Erzählebene allerdings liegt das eigentliche Rätsel in den erklärungsbedürftigen, weil von einer landläufigen Glücksvorstellung abweichenden (jedoch mit dem seit Herodot klassischen griechischen Pessimismus übereinstimmenden), Antworten Solons, der als echter Rätselsteller schlussendlich betrachtet (1,86 f.) Kroisos als uneinsichtigen Rätsellöser übertrumpft. Diese Kommunikationsstruktur ähnelt sehr der bei der Befragung eines Orakels, wo das Rätsel ebenfalls stets in der Antwort (der Orakels), nicht in der Frage des Bittstellenden liegt. Hierzu stimmt trefflich das für die Handlung Solons verwendete Partizip χρησάμενος. Vgl. dazu, dass χρῆν häufig die Äußerungen von Orakeln bezeichnet, beispielsweise Hom. Od. 8,79 (von Apoll); Hom. h. 3,396 (von Apoll); Hdt. 1,55 (von der Pythia); Aischyl. Eum. 202 (von Apoll); Soph. El. 35 (von Apoll); Thuk. 2,102 (allgemein). Bei der Rückfrage nach einer Erklärung für die erste Antwort wird Solons Handeln ferner als κρίνειν, als die Handlung eines Schiedsrichters also etwa, beschrieben. Dies aber ist eindeutig die Aufgabe des Rätselstellers, bei dem die Entscheidungsgewalt liegt. Der Umstand, dass sowohl Kroisos als auch Solon unter je eigener Perspektive als Rätselsteller und Rätsellöser auftreten, drängt den Vergleich mit einem wechselseitigen Rätselwettkampf auf, in welchem schlussendlich Solon siegreich bliebe; vgl. den Streit um den sog. Opferbetrug zwischen Prometheus und

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Zeus als Beispiel dafür, dass sich ein solcher Rätselkampf über mehrere Etappen erstrecken kann, die hier einerseits mit der doppelten Frage des Kroisos, andererseits aber auch mit seinen schrittweisen Niederlagen im intellektuellen Kampf gegen das Orakel (1,46–49, bes. 1,53, 1,55) zu vergleichen wären (dort (1) Opferbetrug (Hes. theog. 535–553), (2) Feuerentzug (Hes. theog. 559–661), (3) Feuerraub mit dem Riesenfenchel (Hes. theog. 562–564), (4) Kettung an den Kaukasus (Hes. theog. 521–525), (5) Lösung vom Kaukasus mithilfe des Herakles, für den Prometheus eine List ersinnt, mit welcher der Heros in den Besitz der Hesperidenäpfel gelangt (Hes. theog. 526 f.; zur Täuschung des Atlas: Apollod. 2,5,11; Paus. 5,18,4)). Intertextuelle Verweise: Vgl. zu Kleobis und Biton Paus. 2,20,3, zum Heraion von Argos Paus. 2,17. AP XIV 70, Beckby enthält das Orakel an einen anonymen Unglücklichen, welches sich sehr trefflich auch an Kroisos richten könnte, der (a) sein Los gegenüber dem delphischen Orakel beklagt, von dem er sich getäuscht sieht (I 89–91), und (b) Solons (pessimistische) Weisheit vom „schönen Tod“ nicht verstehen will: Μὴ μεμψιμείρει μὴ θεοὺς μηδέν, ξένε· ὥρην δὲ μέμφου, ᾗ πατὴρ ἔσπειρέ σε.

Vgl. ferner die beiden superlativischen Fragen nach dem Besten (φέρτατον) und Schönsten (κάλλιστον) für den Menschen im Certamen 7, p. 228 f.,75–89 Allen. 11, p. 232,174 f. Allen, in denen ganz ähnliche Vorstellungen vom Menschenglück zum Tragen kommen. Literatur: Vgl. zur Stelle bei Herodot insgesamt Asheri/Lloyd/Concella (2007) 97–99. Zur Frage nach der Unterscheidung zwischen punktuellem und dauerhaftem Glück vgl. Weber (1927) 156–168; Krischer (1964) 174–177; Hinske (1978) 317– 330; Sage (1985); Krischer (1993) 213–222 (im Vergleich mit Pind. P. 1); Crane (1996) 57–85. Ferner zu der nicht nur von Rätselhaftigkeiten geprägten, sondern auch mit Sprichwörtern gespickten Unterredung zwischen dem Lyderkönig und dem athenischen Weisen Ellis (2015) 83–106.

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C. I. 3 Lebenspraktische Fragen 1 Superlativische Rätselfrage von der besten Demokratie an die Sieben Weisen Plut. conv. sept. sap. 154de, Babbitt […] δοκεῖ μοι πόλις ἄριστα πράττειν καὶ μάλιστα σῴζειν δημοκρατίαν, ἐν ᾗ τὸν ἀδικήσαντα τοῦ ἀδικηθέντος οὐδὲν ἧττον οἱ μὴ ἀδικηθέντες προβάλλονται καὶ κολάζουσι.“ Δεύτερος δ᾽ ὁ Βίας ἔφησε κρατίστην εἶναι δημοκρατίαν ἐν ᾗ πάντες ὡς τύραννον φοβοῦνται τὸν νόμον. Ἐπὶ τούτῳ Θαλῆς τὴν μήτε πλουσίους ἄγαν μήτε πένητας ἔχουσαν πολίτας. Μετὰ δὲ τοῦτον ὁ Ἀνάχαρσις ἐν τῶν ἄλλων ἴσων νομιζομένων ἀρετῇ τὸ βέλτιον ὁρίζεται, καὶ κακίᾳ τὸ χεῖρον. Πέμπτος δ᾽ ὁ Κλεόβουλος ἔφη μάλιστα σωφρονεῖν δῆμον ὅπου τὸν ψόγον μᾶλλον οἱ πολιτευόμενοι δεδοίκασιν ἢ τὸν νόμον. Ἓκτος δὲ Πιττακός, ὅπου τοῖς πονηροῖς οὐκ ἔξεστιν ἄρχειν καὶ τοῖς ἀγαθοῖς οὐκ ἔξεστι μὴ ἄρχειν. Μετατραφεὶς δ᾽ ὁ Χίλων ἀπεφήνατο τὴν μάλιστα νόμων ἥκιστα δὲ ῥητόρων ἀκούουσαν πολιτείαν ἀρίστην εἶναι. Τελευταῖος δὲ πάλιν ὁ Περίανδρος ἐπικρίνων ἔφη δοκεῖν αὐτῷ πάντας ἐπαινεῖν δημοκρατίαν τὴν ὁμοιοτάτην ἀριστοκρατίᾳ. „Mir scheint eine Polis am besten verwaltet und die Demokratie scheint am besten geschützt, in der einen Verbrecher die, denen kein Leid angetan wurde, ebenso sehr verfolgen und bestrafen wie diejenigen, denen Unrecht getan wurde.“ Als zweiter aber sagte Bias, die stärkste Demokratie sei diejenige, in der alle das Gesetzt wie einen Tyrannen fürchten. Danach nannte Thales diejenige, die weder zu reiche noch zu arme Bürger habe. Anschließend sagte Anacharsis, diejenige sei die stärkste Demokratie, in der alles andere den gleichen Werte habe, der Tugend aber der beste Platz zufalle und der Schlechtigkeit der schlechteste. Als fünfter sagte Kleobulos, ein Volk sei am besten, wenn die führenden Männer den Tadel mehr fürchteten als das Gesetzt. Als sechster sprach Pittakos und sagte, am besten sei es, wo es den Schlechten nicht erlaubt sei, zu herrschen, und den Guten, nicht zu herrschen. Chilon aber drehte sich zur Seite und antwortete, der beste Staat sei der, der auf die Gesetze und nicht auf die Rhetoren höre. Am Schluss aber sagte wiederum Periander, sie schienen ihm alle eine Demokratie zu loben, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Aristokratie besaß.

Form: Prosa Kontext: Periander gibt als nächsten Gesprächspunkt unter den Sieben Weisen des Gastmahls die Frage danach vor, wie eine demokratische Herrschaft besonders gut und beständig einzurichten sei. Es antwortet zuerst Solon. Erklärung: Die Konstellation verdeutlicht, dass eine Rätselfrage, und insbesondere eine superlativische, mehrere potentielle Antworten haben kann. Ferner zeigt sich auch hier, dass – obwohl sich die einzelnen Antworten nicht so sehr voneinander unterscheiden, dass sie sich widersprechen – eine superlativische Rätselfrage nicht nur sachliche Korrektheit, sondern auch Originalität und Entschlossenheit verlangt. Die sieben Antworten lösen die gestellte Frage jeweils in einem

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bestimmten Hinblick, es unterscheiden sich die jeweils gesetzten Schwerpunkte nach Gerechtigkeit, Ordnung und Tugend. 1. Solon. Hier liegt die Betonung auf Gerechtigkeit und gemeinschaftlicher Sühne für Unrecht. Der Gedanke stellt die Förderung einer demokratischen Gemeinschaft mit gleichberechtigten Bürgern in den Mittelpunkt. 2. Bias. Auch hier liegt der Fokus auf der – vom Gesetzt vertretenen – Gerechtigkeit. Inhaltlich gibt es keinen echten Unterschied zu Solons Antwort. Beide halten die Demokratie für sie stärkste (κρατίστη, indirekt auch in σώζειν), d. h. auch beständigste Herrschaftsform, die durch Gerechtigkeit bestimmt ist. 3. Thales. Hier wird eine finanzielle Ausgeglichenheit als Grundlage für den Zusammenhalt in der Bevölkerung, der wiederum das demokratische Prinzip stützt, in den Mittelpunkt gestellt. 4. Anacharsis. Hier wird eine moralische Ordnungsrichtlinie (im Unterschied zur offiziell-juristischen) gefordert, die sich nach Tugend und Schlechtigkeit richtet und somit an das Gewissen der Menschen appelliert. 5. Kleobulos. Auch hier soll die Scheu vor moralischen Urteilen noch über dem Respekt für das Gesetzt stehen. Ein Unterschied zur Forderung des Anacharsis ist nicht zu erkennen. 6. Pittakos. Hier werden die Schwerpunkte „Gerechtigkeit“ und „Moral“ zusammengeführt: Die moralisch Korrekten sind gerecht und sollen herrschen. Korruption muss unterbunden werden, bzw. darf zumindest nicht die Politik bestimmen. 7. Chilon. Hier stehen wieder ganz die Gesetze im Mittelpunkt. Sie dürfen nicht verfälscht werden durch die tendenziöse Auslegung von Rednern. Periander, der die Frage aufgeworfen hatte, konstatiert ebenfalls die inhaltliche Ähnlichkeit der einzelnen Antworten, indem er als ihre Schnittmenge eine aristokratisch geprägte Demokratie nennt. Intertextuelle Verweise: Vgl. alternative Antworten auf dieselbe Frage, die Stobaios Solon in den Mund legt: Σόλων ἐκείνην εἶπεν ἄριστα τὴν πόλιν οἰκεῖσθαι, ἐν ᾗ τοὺς ἀγαθοὺς ἄνδρας συμβαίνει τιμᾶσθαι, καὶ τὸ ἐναντίον ἐν ᾗ τοὺς κακοὺς ἀμύνεσθαι. (4,1,76) Σόλων ἐρωτηθεὶς πῶς ἂν μὴ γίγνοιτο ἀδίκημα ἐν πόλει, εἶπεν „εἰ ὁμοίως ἀγανακτοῖεν οἱ μὴ ἀδικούμενοι τοῖς ἀδικουμένοις“. (4,1,77) Σόλων ὁ νομοθέτης ἐρωτηθεὶς ὑπό τινος, πῶς ἄριστα αἱ πόλεις οἰκοῖντο, ἔφη „ἐὰν οἱ μὲν πολῖται τοῖς ἄρχουσι πείθωνται, οἱ δὲ ἄρχοντες τοῖς νόμοις.“ (4,1,89) Σόλων ἐρωτηθείς, τίς ἀρίστη πόλις, „ἐν ᾗ“ ἔφη „πλεῖστα ἀρετῆς ἆθλα.“ (4,1,91)

Eine ganz ähnliche Frage stellt Hesiod seinem Kontrahenten Homer im Wettstreit bei den Leichenspielen zu Ehren des verstorbenen Königs Amphidamas

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auf Euboia, wenn er nach der besten Verwaltung einer πόλις fragt (Certamen 11, p. 231 f.,161 f. Allen). Vgl. ferner die ganz ähnliche superlativische Frage nach dem besten οἶκος an die Sieben Weisen, Plut. conv. sept. sap. 155d. 2 Superlativische Frage nach der besten Verwaltung einer πόλις von Hesiod an Homer Certamen 11, p. 231 f.,161 f. Allen Ἡσίοδος πῶς ἂν ἄριστ’ οἰκοῖντο πόλεις καὶ ἐν ἤθεσι πείοις; Ὅμηρος εἰ μὴ κερδαίνειν ἀπὸ τῶν αἰσχρῶν ἐθέλοιεν, οἱ δ’ ἀγαθοὶ τιμῷντο, δίκη δ’ ἀδίκοισιν ἐπείη. Hesiod Wie verwaltet sich eine Stadt am besten und mit welchen Sitten? Homer Wenn sie nicht zulässt, dass einer an Schändlichem sich bereichert, die Guten aber ehrt und mit dem Gesetz die Ungerechten verfolgt.

Form: 3 Hexameter (einer für die Frage, 2 für die Antwort) Erklärung: Die von Homer gegebene Antwort orientiert sich an allgemeinen moralischen Grundsätzen: Schlechtigkeit soll nicht geduldet, sondern durch das Gesetz geahndet werden und gutes Verhalten muss als Maßstab aller Dinge gelten und entsprechend belohnt und in Ehren gehalten werden. Es ist an der Lösung nichts überdurchschnittlich Originelles, einzig sie ist aufgrund ihres allgemeinen Charakters und ihrer großen Tugendhaftigkeit kaum anfechtbar und in diesem Sinne als Rätsellösung besonders geeignet. Intertextuelle Verweise: Ähnlich gelagert ist Plut. conv. sept. sap. 154d mit der superlativischen Rätselfrage nach der besten Demokratie an die Sieben Weisen. Die dort gegebenen Antworten greifen einzelne Aspekte der Lösung Homers gesondert auf (Gerechtigkeit, Autorität des Gesetzes, Stellung der Guten). 3 Superlativische Frage vom besten οἶκος an die Sieben Weisen Plut. conv. sept. sap. 155d, Babbitt Τοῦτον οὖν ἄριστον ὁ Σόλων εἶπεν αὑτῷ δοκεῖν οἶκον, ὅπου τὰ χρήματα μήτε κτωμένοις ἀδικία μήτε φυλάττουσιν ἀπιστία μήτε δαπανῶσι μετάνοια πρόσεστιν. Ὁ δὲ Βίας ἐν ᾧ

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τοιοῦτός ἐστιν ὁ δεσπότης δι᾽ αὑτὸν οἷος ἔξω διὰ τὸν νόμον. Ὁ δὲ Θαλῆς ἐν ᾧ πλείστην ἄγειν τῷ δεσπότῃ σχολὴν ἔξεστιν. Ὁ δὲ Κλεόβουλος εἰ πλείονας ἔχοι τῶν φοβουμένων αὐτὸν τοὺς φιλοῦντας ὁ δεσπότης. Ὁ δὲ Πιττακὸς εἶπεν ὡς ἄριστος οἶκός ἐστιν ὁ τῶν περιττῶν μηδενὸς δεόμενος καὶ τῶν ἀναγκαίων μηδενὸς ἐνδεόμενος. Ὁ δὲ Χίλων ἔφη δεῖν μάλιστα βασιλευομένῃ πόλει προσεοικέναι τὸν οἶκον. εἶτα προσεπεῖπεν ὅτι καὶ Λυκοῦργος πρὸς τὸν κελεύοντα δημοκρατίαν ἐν τῇ πόλει καταστῆσαι, „πρῶτος,“ ἔφη, „ποίησον ἐν τῇ οἰκίᾳ σου δημοκρατίαν.“ So sagte dann Solon, ihm scheine dasjenige Haus das beste zu sein, wo weder dem, der Geld verdient, Unrecht noch dem, der es behält, Misstrauen noch dem, der es ausgibt, Reue entgegenschlägt. Bias meinte es sei dasjenige, in dem der Hausherr von sich aus derselbe ist wie außerhalb des Hauses aufgrund des Gesetzes. Thales aber sagte, das Haus sei das beste, in dem der Hausherr am meisten Ruhe fände. Kleobulos aber nannte dasjenige, wo der Hausherr mehr, die ihn lieben als die ihn fürchten, hat. Pittakos aber meinte, das beste Haus sei dasjenige, das nichts Überflüssiges braucht und nichts Notwendiges entbehrt. Chilon schließlich sagte, ein Haus solle möglichst stark einem von einem König regierten Staate gleichen. Und dann fügte er hinzu, Lykurg habe zu dem, der ihm befahl, eine Demokratie in der Polis zu etablieren, gesagt: „Zuerst richte du eine Demokratie in deinem eigenen Haus ein!“

Form: Prosa Kontext: Im Anschluss an die Frage nach der besten Demokratie (154d) kommt im Gastmahl der Sieben Weisen die Frage nach der besten Verwaltung des eigenen οἶκος als etwas auf, das mehr Menschen betrifft als die Leitung eines Staates. Es antworten alle Weisen mit Ausnahme des Anacharsis. Erklärung: Hier zeigt sich – wegen der größeren Divergenz der Antworten – noch stärker als am Beispiel der besten Demokratie, wie wenig eine superlativische Rätselfrage auf eine (nur) sachlich korrekte Antwort festgelegt ist. Die sieben Antworten unterscheiden sich zwar nicht in dem Maße, dass sie einander direkt widersprechen, doch setzen sie jeweils eigene Schwerpunkte. 1. Solon. Hier wird der gerechte Umgang mit den Finanzmitteln des Hauses betont. 2. Bias. Der Hausherr als aufgrund seiner Persönlichkeit respektierte Autorität steht im Zentrum des zweiten Ansatzes. 3. Thales. Im Gegensatz dazu betont Thales den Müßiggang des Hausherren als Grundlage für einen gut geordneten Oikos. 4. Kleobulos. Hier wird das gute Verhältnis zwischen Hausherr und Familie bzw. Dienerschaft betont. Der Grundgedanke ähnelt dem von Bias, der ebenfalls auf der persönlichen Autorität des Hausherren beruhte, die keine Folgsamkeit erzwingt, sondern ganz natürlich wirkt.

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5.

Pittakos. Hier steht der finanzielle Status des Haushalts im Mittelpunkt. Pittakos legt das Mittelmaß zwischen Überfluss und Mangel als Ideal fest. 6. Chilon. Anders als Bias und Kleobulos vergleicht Chilon den idealen Hausherren mit einem König, der über seinen Haushalt wie über einen Staat herrscht, dem also von Gesetzes wegen als Oberhaupt Gehorsam gebührt. Von einer Auflösung der Frage durch einen Schiedsrichter oder von einer Auswertung der einzelnen Antworten gegeneinander berichtet Plutarch nichts. Vielmehr wendet sich das Gespräch, nachdem die Weisen ihre Ansichten kundgetan haben, unmittelbar einem neuen Inhalt zu. Obwohl eine solche offizielle Beurteilung der Antworten fehlt, wird in den Äußerungen der Weisen ein gewisses für die Rätselstruktur, insbesondere den Rätselwettkampf, charakteristisches sich-aneinander-Messen gelegen haben, bei dem jeder versuchte, eine noch klügere Antwort als der andere zu geben. Dass für diesen Wettkampf kein Sieger gekürt wird, ist durch das Setting bedingt: Es messen sich – in freundschaftlichem Rahmen – einander ebenbürtige Gegner miteinander. Zwischen ihnen kann es höchstens graduelle Kompetenz-Unterschiede geben, die explizit zu benennen es in dem betreffenden Kontext keinen Anlass gibt. Intertextuelle Verweise: Vgl. die ganz ähnliche superlativische Rätselfrage von der besten Demokratie an die Sieben Weisen, Plut. conv. sept. sap. 154 df.

4 Superlativische Fragen an Anacharsis Diog. Laert. 1,104 f., Dorandi ἐρωτηθεὶς εἰ εἰσὶν ἐν Σκύθαις αὐλοί, εἶπεν, „ἀλλ’ οὐδὲ ἄμπελοι.” ἐρωτηθεὶς τίνα τῶν πλοίων εἰσὶν ἀσφαλέστερα, ἔφη, „τὰ νενεωλκημένα.” καὶ τοῦτο ἔφη θαυμασιώτατον ἑωρακέναι παρὰ τοῖς Ἕλλησιν, ὅτι τὸν μὲν καπνὸν ἐν τοῖς ὄρεσι καταλείπουσι, τὰ δὲ ξύλα εἰς τὴν πόλιν κομίζουσιν. ἐρωτηθεὶς πότεροι πλείους εἰσίν, οἱ ζῶντες ἢ οἱ νεκροί, ἔφη, „τοὺς οὖν πλέοντας ποῦ τίθης;” […] ἐρωτηθεὶς τί ἐστιν ἐν ἀνθρώποις ἀγαθόν τε καὶ φαῦλον, „γλῶσσα,” ἔφη. Als er [sc. Anacharsis] gefragt wurde, ob es bei den Skythen Flöten gebe, antwortete er: „Nicht einmal Weinstöcke.“ Als er gefragt wurde, welche Schiffe die sichersten seien, sagte er: „Die auf den Strand gezogenen.“ Und er sagte, dies sei am wunderlichsten anzuschauen bei den Griechen, dass sie den Rauch in den Bergen zurücklassen, das Holz aber mit in die Stadt bringen. Als er gefragt wurde, ob die Lebenden oder die Toten in der Mehrzahl seien, antwortete er: „Wohin rechnest du die Seefahrer?“ […]. Gefragt, was bei den Menschen gut und (zugleich) schlecht sei, erwiderte er: „Die Zunge.“

Form: Prosa

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C Wissensrätsel

Kontext: Der Skythe Anacharsis lebte zur Zeit Solons (um 600 v. Chr.), dem er nach Diog. Laert. 1,101 f. auch persönlich begegnete. Obwohl das Volk der Skythen gemeinhin als barbarisch-primitiv galt, ist Anacharsis stets als wissbegierig und hellenenfreundlich beschrieben. Er zählt in einigen Katalogen sogar zu den Sieben Weisen, vgl. Barkowski (1923) 2243–2247; Schubert (2010) 40. 44. 80. 140–145. 183. Erklärung: Nicht alle von Diog. Laert. hier wiedergegebenen Fragen sind im engeren Sinne superlativisch, doch ihre Struktur ist vergleichbar. Dabei sind die Fragen nicht alle gleichermaßen an lebenspraktischen Inhalten ausgerichtet. So mutet die vierte Frage (nach der Anzahl der Lebenden und Toten) bereits allgemein-philosophisch an, wird aber noch vergleichsweise konkret-lebenspraktisch beantwortet, während die fünfte Frage (nach dem, was zugleich gut und schlecht sei) eigentlich in die Kategorie der paradoxen superlativischen Fragen gehört, die superlativische Gegensätze miteinander verbinden. Die Pointe liegt jedoch stets in der spitzfindigen und unerwarteten Antwort des Anacharsis, nicht in der Frage selbst. 1. Flöten bei den Skythen: Es handelt sich eigentlich um eine reine Faktenfrage, die zu beantworten Anacharsis als Skythe nicht schwer fallen sollte. Anstatt einfach zu verneinen, betont er die Verneinung jedoch durch die Anfügung einer zweiten rätselhaft erscheinenden Verneinung und teilt mit, dass es bei den Skythen nicht einmal (ἀλλ’ οὐδὲ) Weistöcke gebe. Schwierig ist diese Antwort, insofern nicht unmittelbar ersichtlich ist, inwiefern Weinstöcke und Flöten in einem Zusammenhang zueinander stehen. Die Formulierung suggeriert eine kausale Abhängigkeit, also etwa, dass Flöten irgendwie aus Teilen der Weinpflanze hergestellt werden. Dies führt jedoch in eine Aporie, da Flöten gewöhnlich aus Tierknochen (Kleobuline, IEG II, frg. 3 West), Schilf oder Bambusrohr gefertigt sind (von Jan (1896) 2416 f. 2421). Viel eher ist das von den Skythen nicht begangene Symposion der Bezugspunkt der Aussage. Wenn Wein als Hauptbestandteil des Symposions fehlt, dann braucht es Beiwerk wie Flöten für die Musik gar nicht zu geben. Dieser verächtliche Einwand würde gut zur Grundhaltung des Anacharsis passen, der die barbarischen Skythen wohl gern hellenisiert hätte. 2. Die sichersten Schiffe: Gefragt ist offenbar eigentlich nach einer bestimmten Art Schiff, also etwa einem Kriegsschiff, Segelschiff, Ruderboot o.Ä. Die unerwartete Antwort nennt jedoch keinen spezifischen Schiffstypus, sondern korrigiert geradezu den Fragesteller. Wenn als sicher nur die Schiffe gelten, die an Land gezogen sind, die also nicht als Schiffe genutzt werden, also temporär keine sind, dann bedeutet

C. I. Superlativische Fragen

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das, dass Schiffe grundsätzlich nicht als sicher bezeichnet werden können – unabhängig von ihrem individuellen Charakter. 3. Das Wunderlichste bei den Griechen: Im Zentrum steht hier die wunderliche Unterbrechung des gewöhnlichen Kausalzusammenhangs, der aus Holz Feuer und dabei Rauch entstehen lässt. Eine räumliche Trennung von Holz und Rauch muss demnach paradox erscheinen. 4. Mehrzahl von Lebenden oder Toten; vgl. diese superlativische Frage auch bei Plut. Alexander 64 als Rätsel Alexanders des Großen an einen der von ihm gefangenen Gymnosophisten. Anstelle einer direkten Antwort gibt Anacharsis die Gegenfrage zurück, zu welcher Gruppe die Seefahrer (πλέοντες) zu rechnen seien. Die implizite Antwort ist offenbar: Es gibt (ungefähr) gleich viele Lebende und Tote. Das Zünglein an der Waage sind die Seefahrer, die aufgrund ihres offenbar als besonders gefährlich eingeschätzten Berufs (vgl. Frage 2) gewissermaßen permanent zwischen Leben und Tod schwanken. Indirekt bedeutet das entweder a) Die Zahl der Toten ist größer, denn alle Todgeweihten (darunter bes. die Seefahrer) gehören auch bereits dazu – und letztlich sind das alle Menschen, denn kein Mensch ist unsterblich. Oder b) Beide Gruppen sind – am Grenzwert der Unendlichkeit – genau gleich groß, denn jeder, der lebt, stirbt eines Tages, und jeder, der tot ist, hat einmal gelebt. 5. Gutes und Schlechtes bei den Menschen; vgl. die ganz ähnliche Frage nach dem besten und schlechtesten Stück Fleisch eines Opfertiers (Plut. Is. 378bc), hierzu auch Plut. mor. 38b (de audiendo); ferner Certamen 11, p. 231,151–160 Allen, wo in ähnlicher Manier nach dem Schönsten und zugleich Schlimmsten für den Menschen gefragt ist [Lösung: das eigenverantwortliche Maßhalten]. Es handelt sich um ein Rätsel im engeren Sinne. Die direkten Gegensätze ἀγαθός und φαυλός scheinen zunächst unter keinen Umständen vereinbar. Dass ein Körperteil gesucht ist, wird hingegen durch die Formulierung mit der Präposition ἐν wenigstens angedeutet. Demgegenüber wäre der reine Dativus (in-)commodi irreführender. Besonders erschwert wird das Verständnis durch die Verbindung τε καί, die eine strenge Gleichzeitigkeit der beiden gegensätzlichen Eigenschaften suggeriert. Gemeint ist jedoch gerade nicht eine strenge chronologische Übereinstimmung, sondern vielmehr das für beide Extreme angelegte Potential des Rätselobjekts, d. h. hier der Zunge, die durch das, was sie artikuliert, sowohl schaden als auch nützen kann.

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C. II Literarische Wissensfragen C. II. 1 Mythologisches Wissen 1 Rätsel von der Tritogeneia Tryphon, de tropis 4 (Rhet. Gr. VIII. p. 737 Walz) [αἴνιγμα] κατὰ δὲ ἱστορίαν, οἷον, Τριτογένεια. Ein Rätsel, das die Mythologie betrifft, ist zum Beispiel Tritogeneia.

Form: Prosa (Paraphrase) Erklärung: Tritogeneia ist ein Beiname der Athene, für dessen Etymologie es eine Reihe konkurrierender Erklärungsansätze gibt: 1. Abgeleitet von dem See Τριτωνίς, wo sie aus dem Haupte des Zeus geboren wurde. 2. Nach ihrem Ziehvater Τρίτων. 3. Am dritten (τρίτος) Tage eines Monats geboren. 4. Als drittes Kind des Zeus nach Apoll und Artemis geboren. Das Rätsel, auf welches Tryphon hier nur, vielleicht aufgrund seiner allgemeinen Bekanntheit, in einer knappen Paraphrase anspielt, könnte also beispielsweise sinngemäß gelautet haben „Wer ist Tritogeneia?“ oder „Warum wird Athene Tritogeneia genannt?“. Als Lösung könnte der Rätselsteller dann entweder die vollständige Aufzählung der Erklärungsansätze oder den einen Ansatz, der ihm selbst am plausibelsten schiene, gelten lassen. Intertextuelle Verweise: Vgl. auch das Orakel von der hölzernen Mauer (AP XIV 93 = Hdt. 7,141), wo Athene durch den Beinamen Tritogeneia geradezu vertreten wird.

C. II. 2 Metrisches Wissen 1 Metrisches Rätselgedicht über Pan Kastorion Sol., zit. Athen. X 454f–455b; SH 310; PLG III4, frg. 2, p. 635f Bergk τὸ δὲ Καστορίωνος τοῦ Σολέως, ὡς ὁ Κλέαρχός φησιν, εἰς τὸν Πᾶνα ποίημα τοιοῦτόν ἐστι· τῶν ποδῶν ἕκαστος ὅλοις ὀνόμασιν περιειλημμένος πάντας ὁμοίως ἡγεμονικοὺς καὶ ἀκολουθητικοὺς ἔχει τοὺς πόδας, οἷον· σὲ τὸν βολαῖς νιφοκτύποις δυσχείμερον ναίονθ’ ἕδραν, θηρονόμε Πάν, χθόν’ Ἀρκάδων

C. II Literarische Wissensfragen

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κλήσω γραφῇ τῇδ’ ἐν σοφῇ πάγκλειτ’ ἔπη συνθείς, ἄναξ, δύσγνωστα μὴ σοφῷ κλύειν, μουσοπόλε θήρ, κηρόχυτον ὃς μείλιγμ’ ἱεῖς, καὶ τὰ λοιπὰ τὸν αὐτὸν τρόπον. τούτων δὲ ἕκαστον τῶν ποδῶν, ὡς ἂν τῇ τάξει θῇς, τὸ αὐτὸ μέτρον ἀποδώσει, οὕτως· σὲ τὸν βολαῖς νιφοκτύποις δυσχείμερον, νιφοκτύποις σὲ τὸν βολαῖς δυσχείμερον. καὶ ὅτι τῶν ποδῶν ἕκαστός ἐστι ἑνδεκαγράμματος. ἔστι καὶ μὴ τοῦτον τὸν τρόπον ἀλλ’ ἑτέρως ποιῆσαι, ὥστε πλείω πρὸς τὴν χρῆσιν ἐκ τοῦ ἑνὸς ἔχειν οὕτω λέγοντας· μέτρον φράσον μοι τῶν ποδῶν ‹μέτρον λαβών›. λαβὼν μέτρον μοι τῶν ποδῶν μέτρον φράσον. […] Das Gedicht des Kastorion aus Soloi auf Pan ist, wie Klearchos sagt, folgender Art: Von den Metren schließt jedes mit einem ganzen Wort und alle Metren können gleichermaßen vorausgehen und nachfolgen, zum Beispiel: Dich, den winterlichen von Schneestürmen bedrängten Ort, das Arkaderland Bewohnenden, Tierherr Pan, will ich rühmen in dieser Schrift mit lobendem Wort, das ich klug zusammengesetzt, Herr, das der Unverständige nicht begreift, du Musentier, der du honigsüße, liebliche Töne produzierst. Das Übrige ist ebenso. Von den einzelnen Metren, in welcher Reihenfolge man sie auch setzt, ergibt sich derselbe Rhythmus, so: Dich, den winterlichen, von Schneestürmen bedrängten … Den winterlichen, von Schneestürmen bedrängten, dich … Jedes der Metren hat gleichermaßen elf Buchstaben. Es muss der Vers nicht auf diese Weise verfertigt sein, sondern er kann auch anders zusammengesetzt werden, sodass man aus einem Vers mehrere erhalten kann, folgendermaßen: Das Versmaß sag mir, wenn du es weißt. Wissend das Versmaß, sag’ es mir. […].

Form: Iambischer Trimeter / byzantinischer Zwölfsilbler Erklärung: Athenaios zitiert in seinem Abschnitt über Rätsel im vierzehnten Buch der Deipnosophistai ein Gedicht aus Klearchos, d. h. aus der Rätselmonographie Περὶ γρίφων. Es handelt sich um einen Hymnos des Kastorion aus Soloi, der den Hirtengott Pan preist. Das Besondere an diesem Hymnos, der sich auch als metrisches Rätselgedicht bezeichnen lässt, ist, auch nach Athenaios, Folgendes: a) Jedes der iambischen Metren besteht aus exakt elf Buchstaben. b) Jedes des Metren endet mit einem Wortende c) Daraus folgt, dass die Metren untereinander in ihrer Position im Vers austauschbar sind, ohne dass sich hierdurch das Versmaß verändert.

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Rätselhaft ist also gar nicht der Inhalt des Gedichts (Pan und das Lob auf ihn), sondern seine ungewöhnliche metrische Form. Diese scheint eine intellektuelle Herausforderung im Sinne eines Rätsels einerseits an den Dichter selbst zu stellen, der ein Gedicht in dieser speziellen Form verfassen muss. Ähnlich den Rezitationsaufgaben der Buchstabenverse im Symposion also etwa ließe sich die Aufforderung, einen Text mit den entsprechenden Eigenschaften zu formulieren, als Rätsel auffassen. Andererseits verweist v. 4 ([…]δύσγνωστα μὴ σοφῶι κλύειν) darauf, dass das Gedicht eine gewisse intellektuelle Herausforderung auch für den Rezipienten bedeutet. Nur der Kluge kann zum erfolgreichen Rätsellöser werden, indem er die diffizile Struktur des Gedichtes völlig durchschaut. Welche Handlungsaufforderung sich aus dieser Erkenntnis ergibt, ob der Rezipient also gleichsam eine alternative Version des Textes erschaffen soll, die es an Qualität mit dem Original aufnehmen kann o. ä., bleibt dabei offen; vgl. hierzu Magnelli (2015). Literatur: Vgl. zu den metrischen Feinheiten des Gedichts Magnelli (2015) 87–91. Ferner Bing (1985) 502–509; Wilamowitz (1899) 51–59. Schweighäuser V (1804) 578–581.

C. III Abstrakte Wissensfragen 1 Rätsel von der Zeit Athen. X 453b, Kaibel; S 233 „τί ταὐτὸν οὐδαμοῦ καὶ πανταχοῦ;“ […]. τὸ δὲ χρόνον σημαίνει· ἅμα γὰρ παρὰ πᾶσιν ὁ αὐτὸς καὶ οὐδαμοῦ διὰ τὸ μὴ ἐν ἑνὶ τόπῳ τὴν φύσιν ἔχειν. Was ist dasselbe nirgends und überall? […]. Es deutet auf die Zeit hin; zugleich nämlich ist sie selbst bei allen (gleich) und nirgends ist sie, insofern sie an keinem Ort eine körperliche Gestalt besitzt.

Form: Prosa Erklärung: Athenaios stuft das als direkte Frage formulierte Rätsel, das er als λογικὸς γρῖφος führt, als sehr alt (ἀρχαιότατος), d. h. wohl volkstümlich, ein. Im Kern des Rätsels steht die paradox anmutende Verbindung der Gegensätze οὐδαμοῦ und πανταχοῦ, deren scheinbare Unmöglichkeit durch die direkte Identifizierung miteinander durch τὸ αὐτόν noch verstärkt wird.

C. III Abstrakte Wissensfragen

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Tatsächlich jedoch ist die strenge identische Gleichzeitigkeit nur fälschlicherweise suggeriert. Die Zeit ist nicht zugleich (ἅμα) als Lebewesen oder Objekt nirgends und überall. Vielmehr ist sie einerseits im übertragenen Sinne überall gleich (πανταχοῦ), insofern sie (a) alle Menschen in gleichem Maße betrifft. Ferner ist sie (b) als körperloses Abstraktum nirgendwo (οὐδαμοῦ) unmittelbar anwesend – und zwar alle Orte und Menschen betreffend gleichermaßen. Sie betrifft also zugleich alle und ist dabei nirgendwo körperlich anwesend. Das kosmologische Rätsel ist Ausdruck eines gewissen Staunens über die kuriosen Zusammenhänge des Weltgeschehens. Die Zeit, die in ihren Eigenschaften für den Menschen nur schwer konkret fassbar wird, eignet sich in diesem Sinne als Rätselobjekt besonders. Literatur: Schweighäuser V (1804) 564 f.

2 Rätsel von der Seele Athen. X 453bc, Kaibel „τί πάντες οὐκ ἐπιστάμενοι διδάσκομεν;“ […]. τὸ δὲ προάγον ἐστὶ ψυχὰς ἔχειν· τοῦτο γὰρ οὐθεὶς ἡμῶν ἐπιστάμενος διδάσκει τὸν πλησίον. Was lehren wir alle, ohne dass wir es selbst wissen? […]. Das einleitende Rätsel bezieht sich auf das Handhaben der Seele; dies nämlich vermag keiner von uns selbst und doch belehrt er seinen Nächsten.

Form: Prosa Erklärung: Athenaios führt das Rätsel in Frageform unter den von ihm als volkstümlich eingeschätzten λογικοὶ γρῖφοι. Ein Paradoxon wird erzeugt durch die ungewöhnliche Verbindung von Ursache und Wirkung bzw. Folge. Die Folge A: „etwas lehren“ hat gemeinhin die Voraussetzung a: „sich mit etwas auskennen“. Aus der Ursache b: „sich mit etwas nicht auskennen“ geht ferner üblicherweise die Folge B: „nicht drüber lehren“ hervor. Das Rätsel aber konfrontiert den Rezipienten nun mit der folgenden Struktur: b



A.

Verstärkt wird das Paradoxon zudem durch die Beanspruchung einer allgemeinen Gültigkeit (πάντες). Bei diesem Paradoxon handelt es sich nicht um ein scheinbares, das mit der Rätsellösung aufgehoben wird, sondern um ein echtes. Das Rätsel enthält

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gewissermaßen eine Sittenkritik bzw. spielt auf tief im Menschen verwurzelte Kuriositäten an. Der Umstand, dass die Rätsellösung das Paradoxon nicht aufhebt, sondern lediglich inhaltlich erklärt, macht die Lösung für einen Rezipienten, der etwa behaupten könnte, er selbst belehre seine Mitmenschen niemals über die Handhabung der Seele, prinzipiell angreifbar. Literatur: Schweighäuser V (1804) 564.

3 Rätsel von dem Gleichen am Himmel, auf der Erde und im Meer Athen. X 453b, Kaibel; S 234 „τί ταὐτὸν ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς καὶ ἐν θαλάττῃ;“ τοῦτο δ’ ἐστὶν ὁμωνυμία· καὶ γὰρ ἄρκτος καὶ ὄφις καὶ αἰετὸς καὶ κύων ἐστὶν ἐν οὐρανῷ καὶ ἐν γῇ καὶ ἐν θαλάσσῃ. Was ist dasselbe am Himmel, auf der Erde und im Meer? Es liegt eine Homonymie vor: Denn der Bär, die Schlange, der Adler und der Hund existieren sowohl am Himmel, auf der Erde und im Meer.

Form: Prosa Erklärung: Athenaios führt das als direkte Frage formulierte Rätsel unter den von ihm als alt bzw. volkstümlich eingestuften λογικοὶ γρῖφοι. Die Gegensätzlichkeit der Elemente (οὐρανός, γῆ, θαλάττη) und die Größe der damit umspannten Sphäre macht die Suche nach einem identischen Objekt scheinbar schwierig. Tatsächlich liefert Athenaios dann aber mit Bär, Schlange, Adler und Hund sogar vier Lösungsobjekte. Die Identität (ταὐτόν) dieser Tiere wird dabei im weiteren Sinne einer Homonymie verstanden. Es gibt in allen drei Bereichen Objekte, die denselben Namen tragen, inhaltlich jedoch ganz unterschiedlich sein können. So gibt es jeweils ein Landtier, das als Sternbild auch am Himmel erscheint und zudem ein (ganz anders geartetes) Meerestier als Namensvettern besitzt: 1. ἄρκτος: a) Braunbär b) Sternbild Großer Bär (Ursa maior) c) Krabbenart Scyllarcus arctus, vgl. Aristot. hist. an. 549b. 2. ὄφις: a) Schlange b) Sternbild Schlange (Serpens; Caput et Cauda); vgl. Arat. 82; Hipparch. 1,2,18. c) Fischart; vgl. Hesych. s. v. ὀφίδιον.

C. III Abstrakte Wissensfragen

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3.

αἰετός: a) Adler b) Sternbild Aquila; vgl. Arat. 591; Ptol. Apotelesmatica 27. c) Adlerrochen; vgl. Aristot. hist. an. 540b. 4. κύων: a) Hund b) Hundsstern bzw. der Hund des Orion (Sirius); vgl. Hom. Il. 22,29; Soph. TrGF IV, frg. 803 Radt; Aristot. hist. an. 602a. c) Hundsfisch bzw. Hai; vgl. Hom. Od. 12,96; Aristot. hist. an. 566a.

4 Rätsel vom Gewicht des Rauches Lukian. Demonax 39, Macleod Καὶ μὴν καὶ πρὸς τὰς ἀπόρους τῶν ἐρωτήσεων πάνυ εὐστόχως παρεσκεύαστο· ἐρομένου γάρ τινος ἐπὶ χλευασμῷ, Εἰ χιλίας μνᾶς ξύλων καύσαιμι, ὦ Δημῶναξ, πόσαι μναῖ ἂν καπνοῦ γένοιντο; Στῆσον, ἔφη, τὴν σποδόν, καὶ τὸ λοιπὸν πᾶν καπνός ἐστιν. Und sogar auf die (scheinbar) unlösbaren unter den Fragen war er [sc. Demonax] sehr klug und schlagfertig vorbereitet; als er nämlich von einem, der es spöttisch meinte, gefragt wurde: „Wenn ich 100 Klafter Holz verbrenne, oh Demonax, wie viele Klafter Rauch entstehen dann wohl?“, sagte er: „Wiege die Asche und alles übrige ist der Rauch.“

Form: Prosa Kontext: Demonax ist ein kynischer Philosoph aus dem 2. Jh. n. Chr., der nur aus dieser idealisierenden Schrift Lukians bekannt ist. Er wird von Lukian, wie viele Philosophen von ihren Biographen, als klug und schlagfertig, auch und besonders im Umgang mit Rätseln und (superlativischen) Wissensfragen beschrieben. Die vorliegende Kommunikationssituation dient als Beispiel für diese Eigenschaften. Erklärung: Lukian charakterisiert die Frage nach dem Gewicht des Rauchs als ἄπορον und damit als grundsätzlich un- bzw. schwer lösbar. Dabei ist sie explizit mit der Intention einer Täuschung des Gefragten gestellt (ἐπὶ χλευασμῷ). Die konkrete Nennung des Holzgewichtes (χιλίας μνᾶς) suggeriert, dass auch der Rauch des verbrannten Holzes ein konkretes – dasselbe? – Gewicht haben muss. Diese Überlegung erscheint jedoch kurios, da Rauch wie die Luft, in der er sich bewegt, gemeinhin als gewichtslos gilt. Eine naheliegende (und vielleicht sogar faktisch richtige) Antwort müsste darum sein, dass Rauch nichts wiegt, unabhängig davon, wie viel Holz verbannt wird.

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C Wissensrätsel

Andererseits besteht dann ein Kontrast zwischen der Schwere des Holzes (bes. in großer Menge) und der Leichtigkeit des daraus entstehenden Rauchs, woraus sich die Frage ergibt, wohin das Gewicht des Holzes beim Verbrennen verschwindet. Die Antwort des Demonax, die offenbar als richtig gilt, da Lukian durch das Beispiel ja die Klugheit des Philosophen und seiner Antwort loben will, scheint zunächst ebenfalls von einer Konstanz des Gewichts auszugehen: Holzgewicht Rauchgewicht

= =

Rauchgewicht + Aschegewicht, Holzgewicht – Aschegewicht

V.a. weil in der Antwort des Demonax keine konkrete Information, d. h. ein bestimmtes Gewicht, angegeben wird, scheint die Pointe seiner Antwort jedoch tatsächlich darin zu bestehen, dass er die Unsinnigkeit der Frage – auf sehr subtile Art und Weise – vor Augen führt und so letztlich auch faktisch korrekt die Gewichtslosigkeit des Rauches in Anschlag bringt. Ohne dies jedoch explizit auszudrücken, spielt er die tückische Frage, die er als solche erkannt hat, an seinen Gesprächspartner zurück; vgl. hierzu die von Bias angeratene Vorgehensweise des Ägypterkönigs Amasis im Rätselwettstreit mit dem König der Aithioper in der Rätselaufgabe vom Austrinken des Ozeans (Plut. conv. sept. sap. 151bd). Nehmen wir an, dass das (vergleichsweise) geringe Gewicht von Asche als ebenso nichtig wie dasjenige von Rauch aufgefasst wird, dann gibt die Aufforderung, jenes Gewicht zu messen und von den 100 Klaftern abzuziehen, die Frage nach dem Gewicht des Rauchs unmittelbar zurück. Als Schlussfolgerung ergibt sich dann, dass die Gleichung „Holzgewicht = Rauchgewicht + Aschegewicht“ gerade nicht korrekt ist und dass sich Asche ebenso wenig wiegen lässt wie Rauch (ebenso wie sich der Zulauf aller Flüsse ins Meer nicht leichter abstellen lässt als die Wassermenge des gesamten Ozeans auszutrinken ist). Die rätselhafte Frage beantwortet Demonax also, indem er selbst ein (geringfügig modifiziertes) Rätsel zurückgibt. Demonax als Rätselsteller bzw. Rätsellöser: Lukian betont auch in anderen Zusammenhängen die kluge Schlagfertigkeit des Philosophen, dessen Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen häufig etwas von Scherzfragen bzw. Rätseln anhaftet. So etwa cap. 15, wo ihm ein junger Mann ein (ungenanntes) Rätsel stellt, und Demonax die ganze Gesprächssituation ad absurdum führt, und cap. 16 mit einem rätselähnlichen Wortspiel. Da Demonax die ihm gestellten Fragen in der Regel nicht konventionell beantwortet, sondern sie vielmehr als Rätsel zurückgibt, tritt er gleichsam als Rätselsteller und Rätsellöser gleichzeitig in Erscheinung.

C. III Abstrakte Wissensfragen

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5 Rätsel vom Feuer und den Bohnen Philostr. soph. 1,483, Stefec; S 142. O 13 ἦν γάρ τις Χαιρεφῶν Ἀθήνησιν, […] ὕβριν ἤσκει καὶ ἀναιδῶς ἐτώθαζεν. οὗτος ὁ Χαιρεφῶν τὴν σπουδὴν τοῦ Γοργίου διαμασώμενος „διὰ τί“, ἔφη, „ὦ Γοργία, οἱ κύαμοι τὴν μὲν γαστέρα φυσῶσι, τὸ δὲ πῦρ οὐ φυσῶσιν“; ὁ δὲ οὐδὲν ταραχθεὶς ὑπὸ τοῦ ἐρωτήματος „τουτὶ μέν“, ἔφη, „σοὶ καταλείπω σκοπεῖν, ἐγὼ δ’ ἐκεῖνο πάλαι οἶδα, ὅτι ἡ γῆ τοὺς νάρθηκας ἐπὶ τοὺς τοιούτους φύει“. Es gab nämlich in Athen einen gewissen Chairephon […], der sich ohne Gottesfurcht verhielt und schmachlose Witze machte. Dieser Chairephon bekrittelte [aus Neid] den Eifer des Gorgias und sagte: „Warum, oh Gorgias, blähen die Bohnen zwar den Bauch auf, das Feuer aber nicht?“ Der aber antwortete, gar nicht verunsichert durch die Frage: „Dies lasse ich dir zu ergründen übrig, ich aber weiß jenes schon lange, dass die Natur Holzstängel für solche hervorbringt.“

Form: Prosa Kontext: Philostrat beschreibt die große Intelligenz des Gorgias von Leontinoi (490/485– 396/380 v. Chr.), dessen Ruf bisweilen beneidet wurde – z. B. von dem Athener Chairephon, der vergeblich versucht, Gorgias mit seiner spitzfindigen Frage in Verlegenheit zu bringen. Erklärung: Im Zentrum der rätselhaften Frage steht das homonyme φυσᾶν, das einerseits (1) aufblähen, d. h. dick machen, und andererseits (2) anfachen bedeuten kann, wobei beide Nuancen kausal eng miteinander verknüpft sind. Die besondere Schwierigkeit der Frage liegt (a) in der Unterscheidung dieser beiden Bedeutungsnuancen und (b) in ihrer Obszönität (ἀναιδῶς). Die Frage soll demnach verstanden werden als „Warum bekommt der Mensch Blähungen, wenn er Bohnen isst, das Feuer aber nicht?“. Hieraus lässt sich dann die eigentliche, einzig plausible Frage „Warum vergrößern Bohnen ein Feuer nicht in der Weise, wie sie einen Bauch vergrößern, wenn sie ihn aufblähen?“. Dabei ist die Bedeutung von φυσᾶν im weiteren Sinne aufzufassen: Mit Bezug auf den Bauch bedeutet es eine Vergrößerung im Sinne eines Aufblähens, mit Bezug auf das Feuer im Sinne eines Anfachens. Eine sachlich korrekte Antwort könnte als Grund nennen, dass die Luft nicht aus den Bohnen (direkt) kommt – weder im Bauch noch im Feuer. Ferner brennen Bohnen wohl nicht richtig, sondern schwelen vielmehr, sind also keine Nahrung im eigentlichen Sinne für das Feuer. 1. Wenn der Mensch respektive Bauch also Bohnen isst, dann wächst der Bauch dadurch sowohl im Sinne einer Nahrungsaufnahme, die dick macht,

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als auch im Sinne einer temporären Anfüllung mit Luft, die den Bauch größer erscheinen lässt. 2. Wenn das Feuer Bohnen metaphorisch gesprochen „isst“, d. h. verbrennt, dann schwelen dieselben nur und machen das Feuer, anders als beispielsweise hinzugefügtes Holz, nicht größer. Eine direkte Antwort aber gibt Gorgias auf die Frage nicht, vielmehr wirf er sie (auch explizit) auf Chairephon zurück (σοὶ καταλείπω σκοπεῖν). Hierin liegt die Erkenntnis einer gewissen Täuschungsabsicht, d. h. die Überlegenheit des Gorgias, der die richtige „Antwort“ gerade darin findet, auf eine derart sinnlose Frage nicht (direkt) zu antworten. Zudem fügt Gorgias den pointiert doppeldeutigen Hinweis auf den Narthexstängel bzw. Holzstab hinzu. Dabei ist die unbestimmte Formulierung ἐπὶ τοὺς τοιούτους sicher bewusst gewählt: 1. Einerseits kann die Präposition mit dem Akkusativ eine feindliche Ausrichtung anzeigen, hier also auf eine Züchtigung solcher unverschämten Männer, wie Chairephon einer ist, mit dem (Rohr-)Stock zielen. Neben einer solchen physischen Zurechtweisung mag vielleicht auch im übertragenen Sinne an einen Stock zur Beseitigung geistiger Blähungen bzw. Verstopfungen im Sinne einer Klistierspritze gedacht sein. 2. In einem gewissen kausalen Sinne könnte die Formulierung auf die Verwendung der Stängel zum Anfachen des Feuers (eventuell auch „anstelle der Bohnen (τοιούτους)“?) bezogen sein. Dabei ist wohl nicht so sehr darauf gezielt, dass das Feuer durch die Verbrennung der Stängel wächst, da speziell Narthex für seine Unbrennbarkeit bekannt ist, vgl. dass Prometheus das geraubte Feuer in einem Narthexstängel verbirgt (Hes. erg. 52; Plin. nat. 7,198; Hyg. fab. 144); in diesem Sinne auch das Rätsel von Eunuch und Fledermaus (AP App. VII 15. 16 = Schol. Plat. rep. 479bc, p. 235 Greene). Vielmehr nutzten Feueranzünder die großen Hohlstängel als Blasrohre zum Anfachen – wodurch letztlich im Hineinblasen doch eine Analogie zu den Blähung verursachenden Bohnen entsteht. Besonders zu beachten ist ferner, dass die Ackerbohne (vicia faba) sich ebenfalls durch einen (allerdings kleineren) Hohlstängel auszeichnet. Damit könnte letztlich sogar der Ausgangspunkt der Frage, dass Bohnen nämlich ein Feuer nicht anfachen bzw. aufblähen, widerlegt sein, insofern die Stängel ebenfalls als Blasrohre zu verwenden wären.

C. III Abstrakte Wissensfragen

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6 Rätsel von der Schwäche des Philokleon Aristoph. Vesp. 67–90, Wilson

Σω. Ξα.

Σω. Ξα. Σω. Ξα.

Xa.

SO. XA.

SO. XA.

ἔστιν γὰρ ἡμῖν δεσπότης, ἐκεινοσὶ ἅνω καθεύδων, ὁ μέγας, οὑπὶ τοῦ τέγους. οὗτος φυλάττειν τὸν πατέρ’ ἐπέταξε νῷν, ἔνδον καθείρξας, ἵνα θύραζε μὴ ’ξίῃ. νόσον γὰρ ὁ πατὴρ ἀλλόκοτον αὐτοῦ νοσεῖ, ἣν οὐδ’ ἂν εἷς γνοίη ποτ’ οὐδ’ ἂν ξυμβάλοι εἰ μὴ πύθοιθ’ ἡμῶν· ἐπεὶ τοπάζετε. Ἀμυνίας μὲν ὁ Προνάπους φήσ’ οὑτοσὶ εἶναι φιλόκυβον αὐτόν. ἀλλ’ οὐδὲν λέγει, μὰ Δί’, ἀλλ’ ἀφ’ αὑτοῦ τὴν νόσον τεκμαίρεται. οὔκ, ἀλλὰ “φιλο” μέν ἐστιν ἁρχὴ τοῦ κακοῦ. ὁδὶ δέ φησι Σωσίας πρὸς Δερκύλον εἶναι φιλοπότην αὐτόν. οὐδαμῶς γ’, ἐπεὶ αὕτη γε χρηστῶν ἐστιν ἀνδρῶν ἡ νόσος. Νικόστρατος δ’ αὖ φησιν ὁ Σκαμβωνίδης εἶναι φιλοθύτην αὐτὸν ἢ φιλόξενον. μὰ τὸν κύν’, ὦ Νικόστρατ’, οὐ φιλόξενος, ἐπεὶ καταπύγων ἐστὶν ὅ γε Φιλόξενος. ἄλλως φλυαρεῖτ’· οὐ γὰρ ἐξευρήσετε. εἰ δὴ ’πιθυμεῖτ’ εἰδέναι, σιγᾶτε νῦν. φράσω γὰρ ἤδη τὴν νόσον τοῦ δεσπότου. φιληλιαστής ἐστιν ὡς οὐδεὶς ἀνήρ, ἐρᾷ τε τούτου, τοῦ δικάζειν, καὶ στένει ἢν μὴ ’πὶ τοῦ πρώτου καθίζηται ξύλου. Es ist nämlich unser Herr, der dort oben liegt, der fette, auf dem Dach. Seinen Vater zu bewachen gab er uns den Auftrag, der drinnen eingeschlossen ist, damit wir an der Tür Wache stehen, sodass er nicht hinaus kann. An einer ungewöhnlichen Krankheit leidet nämlich sein Vater, die keiner kennt oder zu erraten wüsste, wenn er es nicht von uns erführe; also ratet. Amynias, Sohn des Pronapes, sagt, jener sei spielsüchtig. Das ist ganz falsch, beim Zeus, die Krankheit erschließt er aus seinen eigenen Symptomen. Falsch, aber „süchtig“ ist ein Teil der Krankheitsbezeichnung. Nun sagt Sosias hier zu Derkylus, jener sei trunksüchtig. Ganz und gar nicht, denn diese Krankheit betrifft nur gute Männer. Nikostratos von Skambonidae wiederum meint, er sei opfersüchtig oder süchtig nach Gästen.

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Zum Henker, nein, Nikostratos, kein Gästesüchtiger (φιλόξενος), ein Lustmolch ist Philoxenos (Φιλόξενος). Ihr redet alle Unsinn; ihr kommt nicht drauf. Wenn ihr es aber erfahren wollt, schweigt nun. Ich werde nämlich offenbaren die Krankheit des Herren. Prozesssüchtig ist er wie kein zweiter Mann; er liebt das Richten, und er ist ärgerlich, wenn er nicht in der vordersten Bankreihe sitzt.

Form: 27 iambische Trimeter Erklärung: Die Sklaven Sosias und Xanthias, die sich bereits zuvor mit Rätseln (in der Traumdeutung) befasst hatten (vgl. vv. 15–23. 28–49), beschreiben dem Publikum, dass sie den in seinem eigenen Haus von seinem Sohn eingesperrten Philokleon bewachen. Sie geben dann vor, ein Rätselspiel um den Grund für die Inhaftierung, eine gewisse „Krankheit“ (νόσος, v. 71), zu veranstalten. Die Sklaven legen namhaften Athenern, von denen bei der Aufführung sicher einige im Publikum anwesend waren (vgl. MacDowell (1971) 138–141), verschiedene denkbare Antworten (Spielsucht, Trunksucht, Opfersucht, Fremdenliebe/Päderastie) in den Mund und verneinen diese. Schließlich geben sie die Auflösung bekannt: Philokleon ist Richter und prozesssüchtig (φιληλιαστής). Um seinen Vater von den Gerichten fernzuhalten, wo dieser seiner Sucht frönt, hat er ihn unter Arrest gestellt. Zwar handelt es sich bei einer solchen Sucht nach modernem Verständnis durchaus um eine Krankheit, doch ist der Begriff (νόσος) hier wohl eher metaphorisch, im Sinne einer Schwäche, gebraucht. Die Tatsache, dass es sich zudem um eine kaum kanonische, um nicht zu sagen erfundene Krankheit handelt, macht sie besonders geeignet für das Rätsel (λογίδιον γνώμη ἔχων, v. 64), insofern sie sich kaum logisch erschließen lässt, höchstens durch Zufall erraten werden kann. Für derartige Rätsel, die selbst keinen direkten Hinweis auf ihre Lösung enthalten, gibt es, besonders unter den logischen Wissensfragen auch anderweitige Beispiele, vgl. nur die zahlreichen superlativischen philosophischabstrakten Fragen. Literatur: Vgl. zur unklaren Sprecherverteilung bei dem Ratespiel Lenz (2014) z. St.; Wilamowitz (1911) 514 und Mastromarco (1983) 456 schreiben alles dem Xanthias zu; dagegen Sommerstein (1977) und MacDowell (1971) mit jeweils unterschiedlicher Verteilung.

C. IV Sonstige Wissensfragen

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C. IV Sonstige Wissensfragen 1 Rätsel von dem Turm, der weder Himmel noch Erde berührt vit. Aesop. 105. 111. 116, Perry (vita W) [105] μετὰ δὲ χρόνον τινὰ ἀκούσας ὁ βασιλεὺς Αἰγύπτου Νεκτεναβὼ τὸν Αἴσωπον τεθνηκέναι ἔστειλεν ἐξ Αίγύπτου πρὸς τὸν Λύκουρον δι’ ἐπιστολῆς ζητήματα προβλημάτων ἔχοντα οὕτως· „Νεκτεναβώ βασιλεὺς Αἰγυπτίων Λυκούργῳ βασιλεῖ Βαβυλωνίων χαίρειν. ἐπειδὴ θέλω οἰκοδομῆσαι πύργον μήτε γῆς μήτ’ οὐρανοῦ ἁπτόμενον, ἀπόστειλόν μοι τοὺς οἰκοδομοῦντας τὸν πύργον καὶ τὸν ἀποκριθησόμενόν μοι ὅσα ἂν ἐπερωτήσω αὐτόν, καὶ λάβε παρ’ ἐμοῦ ὑπὲρ ὅλης τῆς ὑπ’ ἐμὲ ἀρχῆς φόρους ἐτῶν δέκα· εἰ δ’ ἀπορεῖς, πέμψον μοι ὑπὲρ πάσης τῆς ὑπὸ σὲ γῆς φόρους ἐτῶν δέκα.“ Nach einiger Zeit vernahm Nektenabo, dass Aesop tot sei, und schickte mit einem Brief Rätselfragen von Ägypten an Lykurg, die folgenden Charakter hatten: „Nektenabo, König von Ägypten, entrichtet Lykurg, König der Babylonier, seinen Gruß. Ich will einen Turm bauen, der weder die Erde noch den Himmel berührt, also schicke mir Architekten für diesen Turm, und einen, der mir alles beantwortet, was ich ihn frage; wenn du das tust, sollst du von all meinen Besitztümern zehn Jahre lang Tribut erhalten. Wenn du aber scheiterst, dann schicke du mir von all deinem Besitz zehn Jahre lang Tribut.“

Form: Prosa Kontext: Aesop war auf seinen Wanderungen nach Babylon gekommen und hatte dort seine Klugheit unter Beweis gestellt (101). Zwischen Lykurg, dem König von Babylon, und Nektenabo, dem König von Ägypten, herrschte zu jener Zeit Frieden und die Könige tauschten – zum gelehrten Zeitvertreib – regelmäßig Rätsel und philosophische Streitfragen (προβλήματα) in Briefform untereinander aus (102). Wenn jemand die an ihn gestellte Frage nicht lösen konnte, hatte er dem anderen Tribut zu zahlen, ganz so, wie es für den erfolglosen Rätsellöser im Symposion eine Strafe gibt. Aesop verstand es, als Berater von König Lykurg alle nach Babylon geschickten Rätselfragen zu lösen und selbst solche zurückzugeben, die niemand lösen konnte (102). Auf diese Weise erhielt Babylon reichliche Tributzahlungen. Als König Nektenabo – aufgrund einer Intrige am babylonischen Königshof, die zunächst nicht einmal Lykurg selbst durchschaut – fälschlicherweise glaubt, der unbesiegbare Berater sei verstorben, sieht er seine Chance gekommen, auch einmal siegreich aus dem Rätselspiel hervorzugehen, und schickt die obenstehende Frage bzw. Aufgabe nach Babylon. Erklärung: Es handelt sich bei der an König Lykurg bzw. an seinen Berater Aesop gerichteten Rätselaufgabe am ehesten um eine rätselhafte aporetische Wissensfrage: Wie baut man einen Turm, der weder Himmel noch Erde berührt? Dabei ist die

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Frage – und darin liegt ihre Schwierigkeit – vollständig wörtlich zu begreifen. Entscheidend für die Rätselfrage und ihre Lösung ist jedoch, wie sich noch zeigen wird, dass Nektenabo als Rätselsteller nicht eine theoretische Beantwortung des Problems, etwa in Form einer architektonischen Skizze oder eines mathematischen Theorems, fordert, sondern auf der konkreten Umsetzung der Problemlösung, d. h. der aktiven Erbauung jenes Gebäudes, beharrt. Die Rätselfrage ist durch mehrere Unmöglichkeiten gekennzeichnet: (1) Ein Gebäude kann, wie hoch es auch sein mag, den Himmel als imaginäre, nicht materielle Linie niemals tatsächlich berühren. Weil die Rätselfrage gesondert darauf hinweist, dass das zu errichtende Gebäude den Himmel nicht berühren darf, entsteht der Eindruck, es müsse den Himmel beinahe berühren, also möglichst groß sein. In Anbetracht der weiteren Vorgaben (kein irdenes Fundament) erscheint eine solche Konstruktion jedoch besonders schwierig. (2) Der Turm darf auch die Erde nicht berühren, d. h. er darf kein konventionelles Fundament besitzen. Man könnte dabei u. U. an eine Konstruktion denken, die in dem Wipfel eines Baumes verankert, also nicht direkt mit der Erde in Berührung wäre, doch daran ist offenbar weder von Nektenabo noch von Aesop gedacht. Da die Befestigung eines Bauwerks mitten in der Luft (aufgrund der Erdanziehungskraft) schlichtweg unmöglich ist, scheint die Erfüllung der Aufgabe aussichtslos. (3) Vermeintlich erschwerend kommt hinzu, dass nicht nach einem theoretischen Plan für die Problemlösung gefragt ist, sondern nach den konkreten Bauarbeitern, d. h. nach der direkten Ausführung. Hintergrund für eine solche Forderung mag der Gedanke sein, dass bei der aktiven Ausführung der Bauarbeiten das erhoffte Scheitern des Gegners besonders deutlich sichtbar wird und dass – anders als womöglich in einem gewitzten theoretischen Plan – keine Täuschungsversuche unbemerkt bleiben. Wie sich zeigen wird, liegt hierin jedoch gerade der entscheidende gedankliche Fehler des Ägypterkönigs. Es gibt freilich keine Möglichkeit, die gestellte Aufgabe im wörtlichen Sinne tatsächlich zu erfüllen. Weil es jedoch für Lykurg und Aesop in Anbetracht der geforderten hohen Tributzahlungen keine Option ist, direkt auf die unfaire Aufgabenstellung hinzuweisen und dabei das eigene Unvermögen einzugestehen, muss der kluge Aesop sich anderweitig behelfen: Er fasst den Auftrag sehr wörtlich auf und beschränkt sie in diesem Sinne auf die Bereitstellung entsprechend kompetenter Bauarbeiter – die Durchführung der Bauarbeiten hingegen sieht er nicht als seine (alleinige) Aufgabe an. Er bildet Bauarbeiter aus, die auf Adlern reiten und mit den Vögeln große Lasten transportieren können, die also prinzipiell in der Lage wären, ihre Arbeit in der Luft zu verrichten: [111] Μετὰ δὲ ταῦτα συνκαλέσας Αἴσωπος πάντας τοὺς ἰχνευτὰς πάντας ἐκέλευσεν συλληφθῆναι ἀετῶν πρωτείων νεοσσοὺς τέσσαρας. συλληφθέντων δὲ ἀυτῶν ἀφείλετο τὰ

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ἔσχατα πτερά, οὕτως τε αὐτοὺς ‹ἐκέλευσε› τρέφεσθαι καὶ μανθάνειν παῖδας διὰ θυλάκων βαστάζειν. γενόμενοι δὲ τέλειοι οἱ ἀετοὶ καὶ τοὺς παῖδας ἤδη βαστάζοντες ἀνίπταντο εἰς ὕψος δεδεμένοι κάλῳς, ὑπήκοοι δὲ τοῖς παισὶν ἐγένοντο πρὸς τὸ ἐκείνων βούλημα φερόμενοι· ὅτε γὰρ ἤθελον οἱ παῖδες ἀνίπταντο εἰς τὸν ἀέρα ἄνω, ὅτε δὲ πάλιν ἐβούλοντο κατῄεσαν εἰς τὴν γῆν. Nachdem Aesop danach alle Jäger zu sich gerufen hatte, trug er ihnen auf, vier ganz junge Kinder der besten Adler zu fangen. Als man die Küken zusammengesammelt hatte, beschnitt er ihnen die Flügelspitzen und befahl, sie so aufzuziehen und Kinder darin zu unterrichten, mithilfe einer Halterung auf sie aufzusteigen. Als die Adler ausgewachsen waren, und die auf sie aufgestiegenen Kinder in die Luft erhoben, wobei sie sie gut auf dem Rücken trugen, gehorchten sie den Kindern und trugen sie, wohin ein jedes wollte; wenn die Kinder es nämlich wollten, erhoben sich die Vögel in die Luft, wenn sie es andersherum wollten, sanken sie auf die Erde nieder.

Sicher nicht ohne Grund wählt Aesop für Adler und Kinder die Zahl vier, die den Ecken eines gewöhnlichen Turms entspricht und auf diese Weise dem ansonsten freilich vollkommen absurden Tun einen gewissen Anschein von Plausibilität verleiht. Als der Turm dann in Ägypten gebaut werden soll, wirft Aesop die ursprüngliche Aufgabe gleichsam auch Nektenabo zurück, wenn er ihn bittet, den in der Luft schwebenden Arbeitern die benötigten Baumaterialien (Steine, Mörtel, Holzbalken) – in der Luft bereitzustellen, damit die Bauarbeiter selbst nicht immer wieder ihren Posten verlassen müssen. Da ist es an Nektenabo, die Unmöglichkeit der (d. h. seiner eigenen) Aufgabe einzugestehen und den Babyloniern die Überlegenheit einzuräumen, die sich in Aesops kluger, wenn auch völlig abwegiger Erfindung, demonstriert – unabhängig davon, dass die Bauarbeiter kaum wirklich ein in der Luft schwebendes Gebäude hätten errichten können. Nektenabo kann ihre Unfähigkeit nicht unter Beweis stellen, sodass Aesops Behauptung von der Fähigkeit seiner Bauarbeiter Gültigkeit behält: [116] ὁ δὲ Αἴσωπος στήσας κατὰ γωνίαν τοῦ δοθέντος τόπου τοὺς ἀετοὺς, καὶ τοὺς παῖδας διὰ τῶν [ἡμιτελῶν] θυλάκων τοῖς ποσὶν ἀπαρτήσας, καὶ μύστρα αὐτοῖς ἐπιδούς, ἐκέλευσεν ἀναπτῆναι. οἱ δὲ εἰς ὕψος γενόμενοι ἐφώνουν „δότε πηλόν, δότε πλίνθους, δότε ξύλα, καὶ ὅσα πρὸς οἰκοδομὴν χρὴ ὧδε κομίσατε.“ ὁ δὲ Νεκτεναβὼ θεασάμενος τοὺς παῖδας ὑπὸ τῶν ἀετῶν εἰς ὕψος φερομένους ἔφη „πόθεν ἐμοὶ πτηνοὶ ἄνθρωποι;“ Αἴσωπός φησιν „ἀλλὰ Λυκοῦργος ἔχει. σὺ δὲ θέλεις ἄνθρωπος ὢν ἰσοθέῳ ἐρίζειν βασιλεῖ.“ ὁ δὲ Νεκτεναβὼ ἔφη „Αἴσωπε, ἥττημαι. […].“ Aesop aber stand an der Ecke des zugewiesenen Platzes und er befahl den Adlern aufzusteigen, nachdem er die Kinder mit ihren Füßen in den Halterungen festgemacht und ihnen Maurerkellen gegeben hatte. Die aber riefen, als sie oben angekommen waren: „Gebt uns Mörtel! Gebt uns Steine! Gebt uns Holzbalken und schafft alles herbei, was wir zum Hausbau brauchen!“ Nektenabo blickte die auf den Adlern in die Höhe getragenen Kinder an und sagte: „Woher soll ich geflügelte Menschen nehmen?“ Aesop erwiderte:

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„Aber Lykurg hat welche. Du aber willst, obwohl du nur ein Mensch bist, mit einem gottgleichen König streiten?“ Da sagte Nektenabo: „Aesop, ich bin besiegt […].“

Es zeigt sich nun, dass Nektenabo, der selbst offenbar nicht alle möglichen Lösungsansätze zu seiner Aufgabe bedacht und deshalb nicht mit Aesops’ Vorgehen gerechnet, sondern die Aufgabe schlichtweg für völlig unlösbar gehalten hat, selbst nicht als kompetenter Rätselsteller auftritt, der die „Lösung“ zu seinem eigenen Rätsel kennen müsste. Hätte der ägyptische König es nämlich Aesop gleichgetan, könnte er nun ebenfalls entsprechende Arbeiter vorweisen, die Aesop in die unangenehme Lage bringen würden, zuzugeben, dass seine Arbeiter zwar jeden erdenklichen Punkt in der Luft erreichen, dort aber nicht, wie gefordert, ein beständiges Bauwerk installieren können. Aesop „beantwortet“ somit die ursprüngliche Forderung nach fliegenden Baumeitern. Die Problematik der konkreten Handlungsaufforderung hingegen wirft er auf Nektenabo zurück und führt damit die gestellte Aufgabe ad absurdum.

2 Rätsel vom Austrinken des Ozeans an König Amasis von Ägypten Plut. conv. sept. sap. 151bd, Babbitt Βασιλεὺς Αἰθιόπων ἔχει πρὸς ἐμὲ σοφίας ἅμιλλαν. ἡττώμενος δὲ τοῖς ἄλλοις ἐπὶ πᾶσι συντέθεικεν ἄτοπον ἐπίταγμα καὶ δεινόν, ἐκπιεῖν με κελεύων τὴν θάλατταν. ἔστι δὲ λύσαντι μὲν ἔχειν κώμας τε πολλὰς καὶ πόλεις τῶν ἐκείνου, μὴ λύσαντι δ᾽ ἄστεων τῶν περὶ Ἐλεφαντίνην ἀποστῆναι. […] „Φραζέτω τοίνυν,“ ἔφη, „τῷ Αἰθίοπι τοὺς ἐμβάλλοντας εἰς τὰ πελάγη ποταμοὺς ἐπισχεῖν, ἕως αὐτὸς ἐκπίνει τὴν νῦν οὖσαν θάλατταν· περὶ ταύτης γὰρ τὸ ἐπίταγμα γέγονεν, οὐ τῆς ὕστερον ἐσομένης.“ Der König der Aithioper liegt mit mir in einen Weisheitsagon. Nachdem er in allem anderen unterlegen war, hat er eine ganz ungewöhnliche und schreckliche Aufgabe gestellt, denn er trägt mir auf, den Ozean auszutrinken. Es steht mir nämlich, wenn ich die Lösung finde, zu, viele Dörfer und Städte von jenem in Besitz zu nehmen, doch wenn ich die Lösung nicht finde, muss ich mich von den Städten um Elephantine zurückziehen und sie ihm überlassen. […] „Er soll“, sagte Bias, „dem Aithioper erwidern, die in das Meer strömenden Flüsse anzuhalten, damit er selbst den Ozean in seinem jetzigen Zustand austrinken kann. Denn auf diesen Zustand bezog sich die Aufgabe, nicht darauf, wie er später einmal sein würde.“

Form: Prosa Kontext: Es versammeln sich die Sieben Weisen (und einige Nebenakteure) in dem nahe Korinth gelegenen Landhaus Perianders zu einem Symposion. Dort wird Neiloxenos, der ägyptische Gesandte des Königs Amasis, empfangen, der den Wei-

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sen, allen voran Bias, eine Amasis von dem König der Aithioper gestellte Rätselaufgabe zur Beratung vorlegt. Erklärung: Die Aufgabe des Aithioperkönigs ist eine, die sich mit Fug und Recht als ἄπορον bezeichnen lässt: Es ist für einen Menschen schlicht und einfach ganz und gar unmöglich, das Wasser des Ozeans vollständig zu trinken. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Gültigkeit der Aufgabe als Rätsel im Hinblick auf seine Lösbarkeit und seine Ratbarkeit durchaus anzweifeln. Viel eher scheint es sich um eine schwierige Aufgabe, vergleichbar etwa mit dem Töten eines Drachen oder dem Diebstahl eines niemals unbewachten Gegenstandes, zu handeln. Die Einstufung der rätselhaften Aufgabe durch Amasis als ἄτοπον zeigt hingegen, dass die Frage zwar als unliebsam, aber offenbar nicht als eklatanter Verstoß gegen ein ungeschriebenes Rätselgesetzt wahrgenommen wird. Sie ist außergewöhnlich oder untypisch einerseits, (a) insofern sie überdurchschnittliche Anforderungen stellt, also besonders schwierig ist, und andererseits, (b) insofern sie sich offenbar von den früheren, einfacheren Fragen des Aithioperkönigs unterscheidet, dem Amasis bislang in dem wechselseitigen Wettstreit überlegen war (ἡττώμενος δὲ τοῖς ἄλλοις ἐπὶ πᾶσι). Als grundsätzlich untypische oder ungerechte Rätselfrage scheint die Aufgabe hingegen nicht zu gelten, da anderenfalls ein entsprechender Protest entweder von Amasis selbst oder von den Sieben Weisen zu erwarten wäre. Und durch eben diese Auffassung wird die schwierige Aufgabe zum Rätsel: Die Tatsache, dass Amasis und Bias nicht davon ausgehen, dass die Aufgabenstellung wörtlich gemeint ist, und deshalb nach einem alternativen Lösungsmuster suchen, macht die Aufgabe erst zum Rätsel bzw. bringt ihren Rätselcharakter zum Vorschein. Dass eine Lösung der Aufgabe also keine wörtliche sein kann, die etwa eine bestimmte (medizinische) Technik zur Erweiterung des Fassungsvermögens des menschlichen Körpers beinhalten würde, ist offensichtlich. Wenn sich eine befriedigende Lösung der Aufgabe finden lässt, so müsste es eine sein, die den Auftrag im übertragenen Sinne löst oder die hypothetische Voraussetzung für seine Erfüllung schafft. Und eine eben solche Lösung präsentiert Bias mit seiner Gegen-Aufgabe. Nicht nur, dass die Aufgabe, alle in das Meer strömenden Flüsse anzuhalten, faktisch ebenso unlösbar ist wie die ursprüngliche Forderung, den Ozean auszutrinken, sodass sich zwischen den beiden Königen eine gewisse Pattsituation ergibt. Vielmehr hat Bias die Rückfrage an den Herausforderer so geschickt konzipiert, dass der Aithioperkönig zugleich doch gewissermaßen eines Verfahrensfehlers überführt und damit in dem Rätselwettstreit disqualifiziert wird. Weil er die Voraussetzungen für die Lösbarkeit seines eigenen Rätsels nicht herstellen kann, wird nicht nur das Rätsel ungültig. Zusätzlich erscheint der Aithio-

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per als unüberlegter Narr, der das von ihm selbst gestellte Rätsel nicht richtig durchdacht hat, der selbst die Lösung seines Rätsels nicht kennt, also gar kein eigentlicher Rätselsteller ist. Amasis hingegen ist unter diesen Umständen, welche seine hypothetische Fähigkeit unüberprüfbar machen, von dem Zwang befreit, seine faktische Unfähigkeit, den Ozean auszutrinken, – selbst wenn alle Zuflüsse abgestellt wären – einzugestehen und geht somit als Überlegener aus dem Wettstreit hervor. Die Rätsellösung durch Bias zeichnet sich überdies zusätzlich zu jener klugen Pragmatik auch durch echte Weisheit aus: Während die Aufgabe des Aithioperkönigs in ihrer Betonung der großen Wassermenge des Ozeans geradezu plump wirkt, verweist die durch Bias inspirierte Antwort des Ägypters auf das wahre Wesen des Ozeans, der nicht nur als homogene Masse sehr groß ist, sondern in Wahrheit als heterogene Summe aller Flüsse einen unendlich wandelbaren Kreislauf ohne fest definierte Grenzen darstellt. Dabei hat die Rück-Forderung an den Aithioper also schließlich auch eine ganz besonders subtile Pointe: Wären tatsächlich alle Mündungen der Flüsse ins Meer (dauerhaft) versperrt, könnte also der Aithioperkönig seine Aufgabe erfüllen, dann müsste der Ozean früher oder später durch den unterbrochenen Wasserkreislauf und die Verdunstung des Meereswassers, das nicht über die Flüsse wieder eingespeist würde, tatsächlich vollständig entleert werden, womit die ursprüngliche Aufgabe an Amasis gleichsam mit-erledigt wäre. Wenn Amasis seinem Rivalen also wie von Bias vorgegeben antwortet, so liegt darin auch die trotzig-kecke Replik des Überlegenen – „Mach’s doch selbst!“. Amasis als Rätselsteller und Rätsellöser: Obwohl der ägyptische König hier nicht selbst in der Lage ist, eine Lösung für die außergewöhnliche Ozean-Aufgabe zu finden, scheint er insgesamt einen recht überzeugenden Ruf im Hinblick auf seinen Umgang mit Rätseln zu haben. Nicht nur, dass er, wie es selbst zu Beginn der durch Neiloxenos übersandten Botschaft bemerkt, in dem bisherigen Wettstreit mit dem König der Aithioper sein Gegenüber offenbar in die unterlegene Position drängen konnte (ἡττώμενος δὲ τοῖς ἄλλοις ἐπὶ πᾶσι). Seine eigenen superlativischen Rätselfragen nach dem Ältesten, Größten, Weisesten usw., die der Aithioperkönig nach der Einschätzung des Weisen Thales nur unzureichend beantworten konnte (Plut. conv. sept. sap. 153ad), gelten, wohl aufgrund ihrer philosophischen Tiefgründigkeit, als besonders angemessen für den Rätselwettstreit unter Königen (Plut. conv. sept. sap. 153e). Als besonders rätselaffin ist der ägyptische König ferner auch aus einer anderen Erzählung bekannt. So soll er mit dem Weisen Bias, den er hier als Hauptberater um Hilfe ersucht, schon früher in geistigem Austausch gestanden und ihm beispielsweise die Rätselfrage nach dem zugleich besten und schlechtesten

C. IV Sonstige Wissensfragen

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Teil eines Opfertiers gestellt haben (Lösung: die Zunge, Plut. mor. 38b (de audiendo)). Darüber hinaus berichtet Herodot, dass der Weise Solon, bevor er zu dem in Rätseldingen bedauerlich unbegabten Lyderkönig Kroisos nach Sardes gelangte, auch die Gesellschaft des viel weiseren Königs Amasis suchte (Hdt. 1,30). Schließlich wird von der Weisheit und Weitsicht des Ägypterkönigs auch abseits des Rätselkontextes berichtet, wenn er, ebenfalls nach Herodot, als kluger Berater des reichen und allzu glücklichen Polykrates mit einer Warnung vor dem Neid der Götter auftritt (Hdt. 3,40–43). Dass Amasis, der durch seine persönliche intellektuelle Konstitution somit sowohl als Rätselsteller als auch als Rätsellöser überdurchschnittlich gut geeignet ist, sich in Bias (und den übrigen Weisen) einen Berater für die Beantwortung der schwierigen Ozean-Aufgabe nimmt, ist somit kein Zeichen von Schwäche, sondern viel eher ein Beweis für seine besondere Kompetenz in der Handhabung von Rätselangelegenheiten; vgl. etwa den Vorwurf, den das delphische Orakel dem unglücklichen Kroisos macht, er habe zu Unrecht das Orakel über den zweideutigen Spruch vom Überschreiten des Halys kein zweites Mal (gleichsam als Berater zu dem ursprünglichen Spruch) befragt (Hdt. 1,91). Der König der Aithioper als Rätselsteller und Rätsellöser: Der aithiopische König scheint im Unterschied zu Amasis weder als Rätselsteller noch als Rätsellöser besonders erfolgreich zu sein. Einerseits werden seine Antworten auf die von Amasis gestellten superlativischen Rätselfragen durch Thales scharf kritisiert (Plut. conv. sept. sap. 153ad). Andererseits bezeichnet Amasis selbst seinen Kontrahenten zu Beginn seiner Nachricht an die Sieben Weisen als unterlegenen Teilnehmer des Weisheits- und Rätselwettstreits (ἡττώμενος δὲ τοῖς ἄλλοις ἐπὶ πᾶσι). Die Aufgabe vom Austrinken des Ozeans, die dem Aithioperkönig in ihrer aporetischen Schwierigkeit zunächst Ruhm als Rätselsteller zu bescheren scheint, wird nicht nur von Bias auf besonders pointierte Weise gelöst, sondern auch von Kleodoros, einem dem Symposion ebenfalls beiwohnenden Arzt, in ihrer Angemessenheit für die Unterhaltung von Königen, d. h. von hierarchisch hochstehenden Persönlichkeiten, scharf kritisiert (Plut. conv. sept. sap. 153e–154b). Bias als Berater und Rätsellöser: Der Rätselwettstreit unter Königen ist in der Antike ein sehr geläufiges Motiv, vgl. den israelitischen König Salomo im Wettstreit mit der Königin von Saba (1. Könige 10,1; 2. Chronik 9,1); mit König Hiram von Tyrus (Ios. ant. Iud. 8,143. 146. 148 f.; c. Ap. 1,11. 114 f. 120); den fiktiven babylonischen König Lykurg im Wettstreit mit dem Ägypterkönig Nektenabo (vit. Aesop. 102–108. 111–123). Die Rolle des königlichen Beraters ist dabei ebenfalls geläufig (Hiram von Tyrus hat einen Berater, ebenso der babylonische König Lykurg, der sich von dem

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C Wissensrätsel

Fabeldichter Aesop beraten lässt). Dazu, dass die Sieben Weisen in Rätselangelegenheiten – sowohl als Rätselsteller wie auch als Rätsellöser – besonders bewandert und dadurch als Rätsel-Berater besonders geeignet sind, gibt es eine reiche Überlieferung, die die Weisen meist im Umgang mit superlativischen und allgemein-philosophischen Wissensfragen zeigt, vgl. hierzu ausführlich bes. die Abschnitte IV. 3.1 und IV. 3.3, ferner V. 6 der Abhandlung. Bias ganz persönlich hat sich nach Plut. mor. 38b (de audiendo) bereits in einer anderen Situation vor Amasis in seiner Kompetenz als Rätsellöser besonders hervorgetan, indem er auf die Frage nach dem zugleich besten und schlechtesten Teil eines Opfertiers dessen Zunge auswählte und so die philosophische Einsicht in den ambivalenten Charakter des menschlichen Sprachvermögens subtil zum Ausdruck brachte. Er gilt überdies auch ganz allgemein unter den Sieben Weisen als einer der vordersten, ihm gebührt nach einer gewissen Überlieferungstradition sogar der erste Platz unter den Sieben (Diog. Laert. 1,82); vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt IV. 3.3 der Abhandlung.

3 Rätsel von der Sprungweite des Flohs Aristoph. Nub. 144–152, Wilson Μα.

Στ. Μα.

Schüler:

Strepsiades: Schüler:

[…] ἀνήρετ᾽ ἄρτι Χαιρεφῶντα Σωκράτης ψύλλαν ὁπόσους ἅλλοιτο τοὺς αὑτῆς πόδας. δακοῦσα γὰρ τοῦ Χαιρεφῶντος τὴν ὀφρῦν ἐπὶ τὴν κεφαλὴν τὴν Σωκράτους ἀφήλατο. πῶς δῆτα διεμέτρησε; δεξιώτατα. κηρὸν διατήξας, εἶτα τὴν ψύλλαν λαβὼν ἐνέβαψεν ἐς τὸν κηρὸν αὐτῆς τὼ πόδε, κᾆτα ψυχείσῃ περιέφυσαν Περσικαί. ταύτας ὑπολύσας ἀνεμέτρει τὸ χωρίον. […] Es fragte kürzlich Sokrates den Chairephon, wie viele seiner eigenen Füße ein Floh springen könne. Es hat nämlich einer die Augenbraue des Chairephon gebissen und war von dort auf den Kopf des Sokrates gesprungen. Wie hat er das also gemessen? Auf sehr kluge Weise. Er hat Wachs geschmolzen, dann nahm er den Floh und steckte seine beiden Füße in das Wachs, und als sie abgekühlt waren, waren drum herum persische Stiefel entstanden. Diese nahm er ab und maß die Entfernung aus.

Form: Iambische Trimeter (Paraphrase)

C. IV Sonstige Wissensfragen

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Kontext: Der (eigentlich ganz unverständige) Bauer Strepsiades schickt sich an, bei Sokrates in die Lehre zu gehen, um die Kunst des Argumentierens zu erlernen. Er hofft, auf diese Weise seinen Gläubiger zum Erlass der Wettschulden seines Sohnes Pheidippides bewegen zu können. Als Strepsiades an das Tor der Philosophenschule klopft, kommt er mit einem der Schüler des Sokrates ins Gespräch, der ihm die obenstehende Episode als nur unter den eingeweihten Schülern kursierendes Geheimwissen (μυστήρια, v. 143; ἀλλ’ οὐ θέμις πλὴν τοῖς μαθηταῖσιν λέγειν, v. 140)) anpreist. Erklärung: Als geheim gilt wohl nicht die Episode als solche, also die Tatsache, dass ein Floh von Chairephon auf Sokrates hinübersprang, sondern die Lösung der sich daraus ergebenden Fragestellung nach der Sprungweite des Parasiten. In jedem Fall ist jedoch durch das zögerliche Verhalten des Sokrates-Schülers, die Geschichte einem Außenstehenden zu offenbaren, ähnlich etwa wie im Falle der pythagoreischen Symbole die Assoziation der Rätselform mit (philosophischem) Geheimwissen belegt. Die Schwierigkeit der von Sokrates gestellten Aufgabe liegt nun nicht darin, bloß anzugeben, wie weit ein Floh springt. Dies wäre eine reine Schätz- oder Messaufgabe, die sich auf einfachem Wege (nämlich durch die einfache Bestimmung des Abstands zwischen Chairephon und Sokrates) lösen ließe und damit keine für das Rätsel obligatorische intellektuelle Herausforderung enthielte. Eine solche rätseltypische Schwierigkeit kommt hingegen durch die vorgegebene, ungebräuchliche Maßangabe ins Spiel. Der Sprung eines Flohs ist in Bezug auf die Fußlänge eines Flohs, also gleichsam in „Flohfuß“ anzugeben. Die sokratische Frage lässt sich somit gewissermaßen in zwei Teilfragen zerlegen: a) Wie weit springt ein Floh? Die in der Situation selbst vorgegebene und von Chairephon als Ausgangspunkt für seine Lösung genutzte einfache Antwort lautet: „Von Chairephon bis Sokrates.“ b) Wie groß ist ein Flohfuß (und wie oft passt diese Größe in die nach (a) bestimmte Strecke)? Die Bestimmung der Flohfußgröße ist deshalb so besonders schwierig und in diesem Sinne rätselhaft, weil ein Floh einerseits natürlich sehr klein, d. h. schwer zu fassen, ist und sich seine einzelnen Gliedmaßen freilich noch schwieriger erkennen oder gar einzeln vermessen lassen. Andererseits wäre für die exakte Erfassung von etwas so Kleinem wie einem Flohfuß ein entsprechend feines Messinstrumentarium von Nöten. Ein einfaches Lineal etwa wäre in seiner Rasterung sicher zu grob für eine solche Messung. Chairephons Lösung, die freilich in ihrer Durchführung nicht eben wenig unrealistisch ist, ignoriert (a)

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C Wissensrätsel

die mikroskopische Dimension des Flohs, missachtet also die Schwierigkeit, die in der konkreten Durchführung des Wachsexperiments weiterhin besteht, umgeht aber (b) die Problematik des passenden Messinstruments, insofern sie gerade auf die Erschaffung eines neuen, ganz individuellen Instruments, nämlich der in Wachs gegossenen Fußabdrücke des Parasiten, zielt. In mit anderen schwierigen Rätselaufgaben (wie etwa dem Austrinken des Ozeans (Plut. conv. sept. sap. 151bd) oder der Erbauung eines Turms, der weder Himmel noch Erde berührt (vit. Aesop. 105. 111. 116)) vergleichbarer Form schafft Chairephon auf diese Weise die prinzipiellen Voraussetzungen für die hypothetische Erfüllung der Forderung. Nach der Beschreibung des Sokratesschülers setzt er dies dann auch tatsächlich in die Tat um – ungeachtet der schwierigen Handhabung des Wachses an den mikroskopischen Flohfüßen, der Schwierigkeit, mit im Vergleich völlig überdimensionierten Menschenfingern die erzeugten Wachsschuhe als Messinstrument zu gebrauchen und schließlich ungeachtet der Tatsache, dass er sich zum Fangen des Flohs sowie zur Herstellung der Wachsschuhe mit großer Wahrscheinlichkeit von seiner damals aktuellen Position gegenüber Sokrates entfernen und so den auszumessenden Zwischenraum auflösen müsste. Das (iterative oder durative) Imperfekt ἀνεμέτρει (v. 152) mag, auch wenn Dover (1970) 114 z. St. dies für überzogen hält, durchaus ein Hinweis darauf sein, dass Chairephon noch in dem Moment, da der Sokratesschüler mit dem ankommenden Strepsiades, der mit seinem Anklopfen eine Szene hinter der verschlossenen Tür der Philosophenschule gestört hatte (ἀμαθής γε νὴ Δί’, ὅστις οὑτωσὶ σφόδρα/ ἀπεριμερίμνως τὴν θύραν λελάκτικας/ καὶ φροντίδ ἐξήμβλωκας ἐξηυρημένην, vv. 135–137), spricht, mit seiner kleinteiligen Messung befasst ist. Die humoristische Behauptung des Gelingens jener Handlungen mag jedoch auch der Komödie als Kontext der Episode geschuldet sein. In jedem Fall enthält die Paraphrase der Rätsellösung durch den Sokratesschüler eine weitere äußerst rätseltypische Besonderheit. Bei den Περσικαί (v. 151), die Chairephon aus dem an den Flohfüßen getrockneten Wachs fertigt, handelt es sich nach Dover (1970) 113 z. St im Unterschied zu den Λακωνικαί der Männer um Damenschuhe. Auf den Grund für diese Wortwahl weist Dover jedoch nicht hin: Es sind die Schuhe des Flohs, dessen Bezeichnung als ψύλλα dem grammatischen Geschlecht nach weiblich ist. Der Floh ist also im Griechischen eine Frau – und trägt demnach Frauenschuhe.

D Göttlich inspirierte Rätsel D. I Privatwissen 1 Rätsel von Schildkröte und Lamm im Topf (Prüfung der Orakel durch Kroisos) Hdt. 1,46–49, Wilson μετὰ δὲ ἡ Ἀστυάγεος τοῦ Κυαξάρεω ἡγεμονίη καταιρεθεῖσα ὑπὸ Κύρου τοῦ Καμβύσεω καὶ τὰ τῶν Περσέων πρήγματα αὐξανόμενα πένθεος μὲν Κροῖσον ἀπέπαυσε, ἐνέβησε δὲ ἐς φροντίδα, εἴ κως δύναιτο, πρὶν μεγάλους γενέσθαι τοὺς Πέρσας, καταλαβεῖν αὐτῶν αὐξανομένην τὴν δύναμιν. μετὰ ὦν τὴν διάνοιαν ταύτην αὐτίκα ἀπεπειρᾶτο τῶν μαντηίων τῶν τε ἐν Ἕλλησι καὶ τοῦ ἐν Λιβύῃ, διαπέμψας ἄλλους ἄλλῃ, τοὺς μὲν ἐς Δελφοὺς ἰέναι, τοὺς δὲ ἐς Ἄβας τὰς Φωκέων, τοὺς δὲ ἐς Δωδώνην· οἱ δέ τινες ἐπέμποντο παρά τε Ἀμφιάρεων καὶ παρὰ Τροφώνιον, οἱ δὲ τῆς Μιλησίης ἐς Βραγχίδας. ταῦτα μέν νυν τὰ Ἑλληνικὰ μαντήια ἐς τὰ ἀπέπεμψε μαντευσόμενος Κροῖσος· Λιβύης δὲ παρὰ Ἄμμωνα ἀπέστειλε ἄλλους χρησομένους. διέπεμπε δὲ πειρώμενος τῶν μαντηίων ὅ τι φρονέοιεν, ὡς εἰ φρονέοντα τὴν ἀληθείην εὑρεθείη, ἐπείρηταί σφεα δεύτερα πέμπων εἰ ἐπιχειρέοι ἐπὶ Πέρσας στρατεύεσθαι. ἐντειλάμενος δὲ τοῖσι Λυδοῖσι τάδε ἀπέπεμπε ἐς τὴν διάπειραν τῶν χρηστηρίων, ἀπ’ ἧς ἂν ἡμέρης ὁρμηθέωσι ἐκ Σαρδίων, ἀπὸ ταύτης ἡμερολογέοντας τὸν λοιπὸν χρόνον ἑκατοστῇ ἡμέρῃ χρᾶσθαι τοῖσι χρηστηρίοισι, ἐπειρωτῶντας ὅ τι ποιέων τυγχάνοι ὁ Λυδῶν βασιλεὺς Κροῖσος ὁ Ἀλυάττεω· ἅσσα δ’ ἂν ἕκαστα τῶν χρηστηρίων θεσπίσῃ, συγγραψαμένους ἀναφέρειν παρ’ ἑωυτόν. ὅ τι μέν νυν τὰ λοιπὰ τῶν χρηστηρίων ἐθέσπισε, οὐ λέγεται πρὸς οὐδαμῶν· ἐν δὲ Δελφοῖσι, ὡς ἐσῆλθον τάχιστα ἐς τὸ μέγαρον οἱ Λυδοὶ χρησόμενοι τῷ θεῷ καὶ ἐπειρώτων τὸ ἐντεταλμένον, ἡ Πυθίη ἐν ἑξαμέτρῳ τόνῳ λέγει τάδε· οἶδα δ’ ἐγὼ ψάμμου τ’ ἀριθμὸν καὶ μέτρα θαλάσσης, καὶ κωφοῦ συνίημι καὶ οὐ φωνεῦντος ἀκούω. ὀδμή μ’ ἐς φρένας ἦλθε κραταιρίνοιο χελώνης ἑψομένης ἐν χαλκῷ ἅμ’ ἀρνείοισι κρέεσσιν, ᾗ χαλκὸς μὲν ὑπέστρωται, χαλκὸν δ’ ἐπίεσται. ταῦτα οἱ Λυδοὶ θεσπισάσης τῆς Πυθίης συγγραψάμενοι οἴχοντο ἀπιόντες ἐς τὰς Σάρδις. ὡς δὲ καὶ ὧλλοι οἱ περιπεμφθέντες παρῆσαν φέροντες τοὺς χρησμούς, ἐνθαῦτα ὁ Κροῖσος ἕκαστα ἀναπτύσσων ἐπώρα τῶν συγγραμμάτων. τῶν μὲν δὴ οὐδὲν προσίετό μιν· ὁ δὲ ὡς τὸ ἐκ Δελφῶν ἤκουσε, αὐτίκα προσεύχετό τε καὶ προσεδέξατο, νομίσας μοῦνον εἶναι μαντήιον τὸ ἐν Δελφοῖσι, ὅτι οἱ ἐξευρήκεε τὰ αὐτὸς ἐποίησε. ἐπείτε γὰρ δὴ διέπεμψε παρὰ τὰ χρηστήρια τοὺς θεοπρόπους, φυλάξας τὴν κυρίην τῶν ἡμερέων ἐμηχανᾶτο τοιάδε· ἐπινοήσας τὰ ἦν ἀμήχανον ἐξευρεῖν τε καὶ ἐπιφράσασθαι, χελώνην καὶ ἄρνα κατακόψας ὁμοῦ ἧψεε αὐτὸς ἐν λέβητι χαλκέῳ χάλκεον ἐπίθημα ἐπιθείς. τὰ μὲν δὴ ἐκ Δελφῶν οὕτω τῷ Κροίσῳ ἐχρήσθη· κατὰ δὲ τὴν Ἀμφιάρεω τοῦ μαντηίου ὑπόκρισιν οὐκ ἔχω εἰπεῖν ὅ τι τοῖσι Λυδοῖσι ἔχρησε ποιήσασι περὶ τὸ ἱρὸν τὰ νομιζόμενα (οὐ γὰρ ὦν οὐδὲ τοῦτο λέγεται) ἄλλο γε ἢ ὅτι καὶ τοῦτον ἐνόμισε μαντήιον ἀψευδὲς ἐκτῆσθαι. Dann aber ließ Kroisos ab von seinem Schmerz [um seinen toten Sohn], weil das Reich des Astyages, des Sohnes von Kyaxerxes, von Kyros, dem Sohn des Kambyses, zerstört https://doi.org/10.1515/9783110674743-012

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worden war und er den Einflussraum der Perser ausgedehnt hatte, und es kam ihm in den Sinn, ob er es irgendwie vermöchte, bevor das Perserreich (zu) groß würde, ihre wachsende Macht zu zerstören. Nach dieser Überlegung schickte er sofort zu den Orakeln in Griechenland und Libyen, die einen hierhin, die anderen dorthin, einige kamen nach Delphi, andere nach Abas in Phokis, wieder andere nach Dodona; einige wurden nach Amphiaraos geschickt, einige nach Trophonios, und wieder andere zu den Branchiden bei Milet. Zu diesen griechischen Orakelstätten schickte Kroisos aus, um sich weissagen zu lassen; doch er sandte auch Boten zum Orakel des Ammon in Libyen. Er schickte, um zu prüfen, was die Orakel wüssten, und wenn er herausgefunden hätte, dass sie die Wahrheit wüssten, dann wollte er ein zweites Mal schicken und fragen, ob sie ihm dazu rieten, gegen die Perser Krieg zu führen. Er entsandte also die Lyder zur Prüfung der Orakel und trug ihnen auf, von dem Tag an, an dem sie aus Sardes aufbrachen, die übrige Zeit genau abzuzählen und am hundertsten Tag die Orakel anzureden und zu fragen, was zu dieser Zeit der Lyderkönig, Kroisos, Sohn des Alyattes, tue; Was jedes der Orakel prophezeite, sollten sie alles zusammen aufschreiben und ihm bringen. Was also die übrigen Orakel verkündeten, wird nirgendwo überliefert; als aber die Lyder flink auch in das Heiligtum bei den Delphern eintraten, zu dem Gott sprachen und fragten, was ihnen aufgetragen war, antwortete die Pythia in Hexametern Folgendes: „Ich kenne die Anzahl der Sandkörner und das Maß des Meeres, und ich verstehe den Schweigenden und höre den Stummen. Es steigt mir ein Duft in die Nase der gepanzerten Schildkröte, gekocht im Erz mit dem Fleisch eines Lammes, das Erz aber bedeckt sie von oben und von unten.“ Dies schrieben die Lyder als Weissagung der Pythia auf und gingen fort, um nach Sardes zurückzukehren. Als nun auch die übrigen Gesandten wieder anwesend waren und die Orakelsprüche brachten, faltete Kroisos jeden von ihnen auseinander und betrachtete ihn. Von denen nahm er keinen an; als er aber den aus Delphi hörte, lobte er ihn sogleich und erkannte ihn als richtig an und er meinte, nur in Delphi gäbe es ein (wahres) Orakel, denn es habe herausgefunden, was er getan hatte. Als er nämlich die Boten zu den Orakeln ausgesandt hatte, achtete er auf den Verlauf der Tage und ersann etwas: er klügelte etwas aus und erfand, was unmöglich herausgefunden werden konnte, er zerschnitt zugleich eine Schildkröte und ein Lamm und kochte sie in einem Topf aus Erz und legte einen erzernen Deckel darauf. Dies also wurde dem Kroisos aus Delphi geweissagt; über die Antwort des Orakels des Amphiaraos habe ich nichts anderes zu sagen, was es den Lydern sagte, als sie die Gebräuche im Heiligtum erfüllten (denn dies wird nicht überliefert), als dass Kroisos entschied, auch dieses Orakel habe die Wahrheit verkündet.

Form: Erzählkontext und paraphrasiertes Rätsel: Prosa; Rätselantwort: 5 Hexameter Kontext: Kyros vergrößert das Perserreich und Kroisos erwägt einen Präventivschlag, um die Lyderherrschaft zu sichern (1,46). Bevor er das Orakel fragt, ob er gegen die Perser ziehen soll, will er zunächst dessen Qualität prüfen, um sicherzugehen, dass er keinen falschen Rat erhält. Zu diesem Zweck schickt er Boten mit einem Rätsel nach Delphi, Abai in Phokis, Dodona, Amphiaraos, Trophonios, Didyma

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und Libyen. Sie sollen den Orakeln jeweils die Frage stellen, was Kroisos in dem jeweiligen Moment (hundert Tage nach dem Aufbruch der Gesandten) gerade tut. Erklärung: Die Rätselfrage lässt sich nicht durch kognitive Fähigkeiten lösen. Das abgefragte Wissen ist streng situationsgebunden und nur Kroisos selbst bekannt. Ein menschlicher Rätsellöser könnte also – wie begabt auch immer – unter keinen Umständen (außer durch reinen Zufall) die richtige Lösung erschließen (1,48 ἀμήχανον ἐψευρεῖν); vgl. hierzu beispielsweise den Rätselwettstreit zwischen den Sehern Kalchas und Mopsos, die einander ebenfalls Rätsel stellen, die nur mithilfe göttlicher Inspiration zu lösen sind, Strab. 14,1,27. Kroisos ersinnt damit ein seinem Adressaten, der Pythia, angemessenes Rätsel. Absichtlich wählt er für den in Frage stehenden Zeitpunkt eine möglichst skurrile Handlung, damit ein Zufallstreffer bei sehr gebräuchlichen Handlungen ausgeschlossen ist. So kocht er eine Schildkröte und ein Lamm zusammen in einem mit Deckel verschlossenen Topf. Mag diese Handlung zunächst völlig willkürlich erscheinen, darf man doch vielleicht zumindest argwöhnen, dass die Tiere, so wenig sie als Speise zusammenpassen mögen, doch eine gewisse Verbindung, und zwar zu dem delphischen Orakelgott Apollon selbst, haben. Ist doch die Lyra als Instrument des Musikbegabten Gottes aus dem Panzer der Schildkröte verfertigt, während Apoll als Hirtengott (Apoll Nomios) auch mit dem Lamm eine gewisse innere Verbindung pflegt. Laut Herodot jedenfalls löst nur Delphi (und Amphiaraos) das Rätsel. In dem überlieferten Antwortspruch, der selbst als verbalisierte Form des Rätsels gelten dürfte, betont die Pythia zunächst (vv. 1–2) den allwissenden Charakter des delphischen Orakels, indem sie ihre Kenntnis von normalerweise aus unterschiedlichen Gründen (Inkommensurabilität, Tonlosigkeit) nicht rezipierbaren Inhalten (Anzahl der Sandkörner am Strand, Größe des Meeres, Worte eines Schweigenden) proklamiert. Die angeführten Beispiele bestätigen direkt die Fähigkeit zur Lösung auch des von Kroisos gestellten Rätsels: Trotz der viel zu großen Distanz riecht (ὀδμή) die Pythia – natürlich nur im übertragenen Sinne – den Duft des absonderlichen Mahls und erkennt die Zusammensetzung. Kroisos erkennt die Umschreibung seiner Tat im Umkehrzug als korrekte Lösung an (προσεδέξατο) und ehrt das Orakel durch zahlreiche Weihgeschenke (1,50–52), um es sich für seine dann folgende Anfrage (im Hinblick auf die Perser) gewogen zu machen (μετὰ δὲ ταῦτα θυσίῃσι μεγάλῃσι τὸν ἐν Δελφοῖσι θεὸν ἱλάσκετο, 1,50). Dieses Handeln belegt seine Hybris, die schon in der Prüfung des Orakels selbst zum Ausdruck gekommen war, denn er glaubt offenbar, das Orakel und damit die von ihm verkündete Wahrheit beeinflussen zu können. Hieran lässt sich bereits unzweifelhaft voraussehen, dass Kroisos aufgrund seines unkriti-

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schen, überheblichen Charakters das folgende Orakel missdeuten wird. Den doppeldeutigen Spruch von der Zerstörung eines großen Reiches wird er gar nicht als solchen erkennen, sondern glauben, das Orakel habe ihm, wie er es wollte, den Sieg verkündet. Zur Verteilung der Rätselrollen: Gewöhnlich liegt bei einem Orakel das Rätsel nicht in der Frage des Ratsuchenden, sondern in der (Orakel-)Antwort. Hier ist es umgekehrt: Kroisos stellt das Rätsel, die Pythia antwortet (relativ eindeutig). Diese von Kroisos erzwungene Konstellation entbehrt, auch wenn der Lyderkönig als Nicht-Grieche u. U. insgesamt einen unkonventionellen Orakelglauben pflegt, nicht einer gewissen Anmaßung, wenn der Lyderkönig als nichtiger Mensch den mächtigen Gott auf die Probe stellen will, wo es geboten wäre, das Orakel ehrfurchtsvoll um Rat in einer schwierigen Situation zu ersuchen; vgl. Hdt. 6,86, wo Glaukos dafür bestraft wird, das Orakel versucht zu haben (πειρηθῆναι). Einzig legitim scheint das Anliegen zu sein, weil die meisten Orakel offenbar falsch antworten (1,48 f.). Denkbar scheint jedoch auch, dass sie zwar richtig antworten, Kroisos ihre Lösungen jedoch willkürlich nicht als solche anerkennt (τῶν μὲν δὴ οὐδὲν προσίετό μιν). Freilich aber ist der delphische Gott kein gewöhnlicher Rätsellöser (und Kroisos kein typischer Rätselsteller), sodass ihm die Lösung des Rätsels gelingt, obwohl diese der Determination der Rätselrollen zuwiderlaufende Situation in derart stilisierten Rätselspielen (literarisch) nur äußerst selten eintritt. Es mag das Durchbrechen der determinierten Rätselrollen dadurch zu erklären sein, dass es hier nicht um den Rätsellöser, sondern primär um den inkompetenten Rätselsteller geht. Intertextuelle Verweise: Vgl. die beiden von Kroisos jeweils missverstandenen Folgeorakel (1) von der Zerstörung eines großen Reiches (1,53 f.), (2) von dem Maultier als Mederkönig (1,55 f.). Vgl. ferner die Auseinandersetzung zwischen Kroisos und Solon über die Frage nach dem glücklichsten Menschen (1,30–33), wo Kroisos Solon aufgrund seiner Weisheit und der sich daraus ergebenden hohen Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit seiner Rätsellösung als Gesprächspartner wählt; ähnlich hier die Qualitätsprüfung der Orakel. Literatur: Pelling (2006) 141–178, bes. 142–155; Mills (2014) 147–151. Asheri/Lloyd/Corcella (2007) 108–110 z. St. mit einer Auseinandersetzung der einzelnen von Kroisos geprüften Orakelstätten. Dort ferner der wichtige Hinweis darauf, dass eine Prüfung des griechischen Orakels durch Kroisos als „Bar-

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bar“ zu Herodots Zeit, die von allgemeinem Skeptizismus gegenüber Divination und Prophetie geprägt war, durchaus nichts Ungewöhnliches war; hierzu auch Hdt. 8,133–135, wo von einer vergleichbaren Prüfung der Orakelstätten in Böotien durch den persischen, d. h. ebenfalls „barbarischen“ Heerführer Mardonius berichtet wird.

D. II Inkommensurables Wissen 1 Rätselwettkampf zwischen Kalchas und Mopsos Rätsel von der Anzahl der Feigen und Rätsel von der Anzahl der Ferkel Hes. frg. 278 MW; Strab. 14,1,27; S 340, O 27–30 λέγεται δὲ Κάλχας ὁ μάντις μετ’ Ἀμφιλόχου τοῦ Ἀμφιαράου κατὰ τὴν ἐκ Τροίας ἐπάνοδον πεζῆι δεῦρο ἀφικέσθαι, περιτυχὼν δ’ ἑαυτοῦ κρείττονι μάντει κατὰ τὴν Κλάρον Μόψωι τῶι Μαντοῦς τῆς Τειρεσίου θυγατρός, διὰ λύπην ἀποθανεῖν. Ἡσίοδος μὲν οὖν οὕτω πως διασκευάζει τὸν μῦθον· προτεῖναι γάρ τι τοιοῦτο τῶι Μόψωι τὸν Κάλχαντα· θαῦμά μ’ ἔχει κατὰ θυμόν, ἐρινειὸς ὅσσον ὀλύνθων οὗτος ἔχει, μικρός περ ἐών· εἴποις ἂν ἀριθμόν; τὸν δ’ ἀποκρίνασθαι· μύριοί εἰσιν ἀριθμόν, ἀτὰρ μέτρον γε μέδιμνος· εἷς δὲ περισσεύει, τὸν ἐπενθέμεν οὔ κε δύναιο. ὣς φάτο, καί σφιν ἀριθμὸς ἐτήτυμος εἴδετο μέτρου. καὶ τότε δὴ Κάλχανθ’ ὕπνος θανάτοιο κάλυψεω. Φερεκύδης δέ φησιν ὗν προβαλεῖν ἔγκυον τὸν Κάλχαντα, πόσους ἔχει χοίρους, τὸν δ’ εἰπεῖν ὅτι „δέκα, ὧν ἕνα θῆλυν“· ἀληθεύσαντος δ’, ἀποθανεῖν ὑπὸ λύπης. οἱ δὲ τὸν μὲν Κάλχαντα προβαλεῖν τὴν ὗν φασι, τὸν δὲ τὸν ἐρινεόν, καὶ τὸν μὲν εἰπεῖν τἀληθές, τὸν δὲ μή, ἀποθανεῖν δὲ ὑπὸ λύπης καὶ κατά τι λόγιον. Es heißt, dass der Seher Kalchas gemeinsam mit Amphilochos, dem Sohn des Amphiaraos, auf seinem Rückweg von Troja zu Fuß dorthin [sc. nach Kolophon] gelangte und dass er vor Kummer starb, weil er bei Klaros schicksalsgemäß in Mopsos, dem Sohn der Manto, der Tochter des Teiresias, einen Seher traf, der mächtiger war als er selbst. Hesiod jedenfalls erzählt die Geschichte folgendermaßen: Dass nämlich Kalchas dem Mopsos folgende Frage vorgelegt habe: „Wunder hält mich im Herzen darüber, wie viele Feigen dieser wilde Feigenbaum trägt, obwohl er so sehr klein ist. Kannst du wohl die Zahl benennen?“ Der aber antwortete: „Zehntausend sind es an der Zahl, dem Gewicht nach aber ein Medimnus; eine aber ist übrig, die kannst du nicht mit hineinfügen.“ So sprach er und die Größe des Gewichtes erwies sich als richtig. Und dann bedeckte der Schlaf des Todes Kalchas. Pherekydes aber berichtet, Kalchas habe die Frage nach einer trächtigen Sau vorgebracht, wie viele Ferkel sie trage, und jener habe gesagt, dass sie zehn trage, von denen eins weiblich sei. Weil er [sc. Mopsos] die Wahrheit sagte, sei er [sc. Kalchas] vor Kummer

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gestorben. Einige sagen auch, Kalchas habe die Frage bezüglich der Sau gestellt, Mopsos aber die zum Feigenbaum, sodass letzterer die Wahrheit sagte, der erste aber nicht, und dass er vor Kummer und gemäß eines gewissen Orakelspruchs starb.

Form: 2 und 4 Hexameter mit Prosa-Rahmen Erklärung: Einiges spricht dafür, dass in einer ursprünglichen Version der Geschichte beide Seher im Rahmen eines Wettstreits (ἔρις, vgl. Strab. 14,5,16) sich gegenseitig Rätsel stellten, um ihre Kompetenz jeweils als Rätselsteller und Rätsellöser zu prüfen. Ein solcher Wettkampf macht nur Sinn bei prinzipieller Vergleichbarkeit beider Parteien. In diesem Sinne sind beide Rätsel – das von der Anzahl der Feigen und das von Anzahl und Geschlecht der Ferkel bzw. dem Zeitpunkt ihrer Geburt (vgl. Schol. Lykophr. Alex. 980, p. 308 Scheer) – in struktureller Hinsicht identisch. Gefragt ist jeweils nach einer Zahl, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, anhand äußerer Anhaltspunkte nur ungefähr einzuschätzen ist. Die Feigen sind aufgrund ihrer großen Zahl nicht durch bloßes Abzählen exakt zu erfassen, eventuell aber ungefähr zu schätzen, weil sie immerhin sichtbar sind. Die Ferkel sind im Bauch des Muttertieres verborgen und damit unsichtbar und können deshalb nicht abgezählt werden. Die Rundung des Bauches gibt eventuell einen ungefähren Hinweis auf die Zahl der Ferkel. Die Antworten enthalten jeweils eine zusätzliche Angabe, nach der nicht direkt gefragt wurde – wie um den Fragenden zu beeindrucken. So wird zusätzlich zu der Anzahl der Feigen auch ihr Gewicht benannt, neben der Anzahl der Ferkel auch ihr Geschlecht (vgl. Schol. Lykophr. 980, p. 308 Scheer, wo von einem männlichen Ferkel die Rede ist) vorausgesagt. Die Rätselfrage von der Anzahl der Feigen enthält zusätzlich einen rätseltypischen Gegensatz zwischen dem kleinen Wuchs des Baumes und der großen Anzahl der Früchte, vgl. μυρίος auch im Sinne von ‚unendlich‘. Mopsos als überlegener Rätselsteller: Den Charakter der Mopsosfigur konkret zu konturieren, ist aufgrund antiker und moderner Differenzierung zwischen verschiedenen mythologischen Persönlichkeiten desselben Namens, die sich zu regelrechten Mopsos-Traditionen ausgewachsen haben, nicht trivial (Strab. 14,5,16); Zusammenstellung bei Scheer (1993) 154–173. Jedoch scheinen die einzelnen Erzählungen einen gewissen Konsens im topographischen Bezug zu Kleinasien und einer Profession in sakraler Sphäre zu finden. Diese Hauptmerkmale treffen auch auf den sogenannten jüngeren Mopsos als Kontrahenten des Kalchas zu (Strab. 9,5,22), einen kleinasiatischen Seher, dessen Abstammung wenigstens seit hellenistischer Zeit, wahrscheinlich aber bereits seit dem Aufkommen der Erzählung unseres Wettstreits, von Apoll und Manto, der Tochter des berühmten thebanischen Se-

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hers Teiresias, hergeleitet wird (Apollod. epit. 6,2; Strab. 14,5,16; Lykophr. Alex. 439–446); vgl. Prinz (1979) 25. In abweichender Überlieferung tritt er auch als Sohn der Manto mit dem Kreter Rhakios, dem sie auf Geheiß Apolls zur Frau gegeben wurde, in Erscheinung (Paus. 7,3,1 f.), doch schmälert dies den Glanz seiner Herkunft nur geringfügig. Selbst über Manto allein, die ebenso wie Teiresias der Prophetie mächtig war (Eur. Phoen. 834–840), und den durch seinen Lebenswandel vergleichslosen Großvater ist Mopsos besonderes seherisches Potential beschieden. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass Manto ihren Sohn von Apoll, dem sie als Kriegsbeute aus dem Epigonenkrieg übergeben worden war, empfangen hatte, bevor sie mit dem Kreter vermählt wurde (Apollod. 3,7,4; Paus. 9,33,2; Schol. Apoll. Rhod. 1,308, p. 35 f. Wendel). In jedem Fall ist Mopsos die Gabe des Sehers gleichsam in die Wiege gelegt und durch eine spezielle – genealogische oder wenigstens patronatsartige – Verbindung zu Apoll als Orakelgott zusätzlich unterstützt. Mopsos selbst führt seine exakten Seherfähigkeiten gegenüber den ungenauen des Kalchas auf seine Abstammung von Apoll und Manto zurück (Κάλχας τῆς ἀκριβοῦς μαντείας ἀπεναντίας διάκειται, ἐγὼ δ’ Ἀπόλλωνος καὶ Μαντοῦς παῖς ὑπάρχων τῆς ἀκριβοῦς μαντείας τὴν ὀξυδορκίαν πάντως πλουτῶ, Apollod. epit. 6,2–4). Angesichts dieser Herkunft verwundert es kaum, dass Mopsos sich auf den Umgang mit Rätseln versteht: Der religiöse Ursprung seiner Weisheit verleiht durch die enge Bindung an die prophetische Gottheit besondere Kompetenz im Rätselspiel. Er ist damit geradezu prädestiniert für die Rolle des Rätselstellers. Dass er zunächst als Rätsellöser auftritt, ist der Wechselseitigkeit des Wettkampfs und der schicksalhaften Achtlosigkeit des Kalchas geschuldet. Erstere bedingt, dass beide Seher sich sowohl als Rätselsteller wie auch als Rätsellöser beweisen, letztere, dass Kalchas trotz warnendem Orakel den Wettkampf mit der ersten Frage initiiert und Mopsos so zunächst in die Rolle des Rätsellösers bringt. Anders jedoch als die meisten anderen in ihrer passiven Rolle als Rätsellöser hilflosen Figuren zeigt sich Mopsos als uneingeschränkt erfolgreich. Seine Antwort ist auf die Feige genau. Doch nicht nur, dass Mopsos auch die Zahl der Ferkel genauer (und damit richtig) bestimmen kann als Kalchas, auch die Angabe des Geburtszeitpunktes, die Kalchas wohl aus Unwissenheit gar nicht erst gemacht hatte, obwohl die Rätselfrage auch darauf gerichtet war, trifft genau zu. Als zusätzliche Information, die in seiner Frage gar nicht verlangt worden war, ergänzt er noch die Angabe über das Geschlecht der Ferkel (Apollod. epit. 6,4; abweichend Strab. 14,1,27). Insbesondere ist ferner darauf zu achten, dass Mopsos die Antwort auf die eigene Frage kennt, er korrigiert Kalchas unmittelbar nach dessen Antwortversuch. Hierin zeigt sich die charakteristische Überlegenheit des Rätselstellers. Die Anzahl der Feigen muss dagegen offenbar durch Abzählen nachgeprüft werden (καὶ εὑρέθησαν οὕτω, Apollod. epit. 6,4), sodass Kalchas nicht eigentlich

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als echter Rätselsteller, sondern als bloßer Frager auftritt, der die Antwort zu seiner eigenen Frage selbst nicht weiß. Dass Mopsos bei solcher Qualifikation auch als Rätsellöser erfolgreich ist, kann nun nicht mehr überraschen. Kalchas als unterlegener Rätsellöser: Auch Kalchas blickt, ebenso wie sein Konkurrent, auf eine für einen Seher nicht wenig ruhmvolle Abkunft: Über seinen Vater Thestor stammt er in genealogischer Linie entweder von dem berühmten Seher Melampus, oder von Apoll selbst ab (Hom. Il. 1,69; Hyg. fab. 97. 128. 190; ferner Apoll. Rhod. 1,139). Zusätzlich weist die in der Antike gängige etymologische Ableitung seines Namens von καλχαίνω bzw. καλχή auf seine Verbindung zur Dunkelheit oder Undeutlichkeit des Prophetischen hin, die ihn grundsätzlich auch für das Rätselspiel qualifiziert (Eust. Il. 1,70, Bd. 1, p. 82 van der Valk; Et. Mag. s. v.). In gleicher Weise zeichnet ihn die berühmte Beschreibung Homers als Kenner von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aus (Il. 1,69–72). Es gibt somit nach Aussage Homers nichts, was Kalchas verborgen bleiben könnte. Sein Wissen ist allumfassend und er hat den Griechen im Trojanischen Krieg durch die Ausübung seiner Profession oft gute Dienste erwiesen. Auch im konkreten Kontext seiner Reise nach Kolophon, wo er auf Mopsos treffen sollte, zeigt sich auf gewisse Weise sein Weitblick: Mit einigen Gefährten bricht er zu einer Heimreise über Land auf, da er das unglückliche Schicksal der übrigen Griechen voraussieht und sein Leben nicht den von der langen Wartezeit morsch gewordenen griechischen Schiffen anvertrauen will (Prop. 4,1,109; Q. Smyrn. 14,360–366; Theopomp, FGrH 115 F 351 Jacoby; dagegen Schol. Hom. Od. 13,259, Bd. 2, p. 570 Dindorf); vgl. auch Prinz (1979) 23. Dass er durch dieses ausweichende Vorgehen eine Situation zur Erfüllung des ihm gegebenen verhängnisvollen Orakelspruchs (Strab. 14,1,27: Apollod epit. 6,2–4) von seinem Tod bei Aufeinandertreffen mit einem überlegenen Seher gerade erst provoziert, verkennt er jedoch. Sein Wissen scheint also, trotz des umfassenden homerischen Lobes, eine Schwachstelle zu besitzen, wo es selbstreflexiv auf seine eigene Person bezogen ist. Einen gewissen Stolz, der das auf sich selbst bezogene Urteilsvermögen trübt, weist nicht nur die von Kalchas ausgehende Herausforderung an Mopsos nach, sondern auch anderweitige Überlieferungen um den Tod des Sehers. So provoziert Kalchas nach Lykophr. Alex. 978–981 einen Streit mit Herakles über die Anzahl der an einem Baum hängenden Feigen und wird im Jähzorn von dem Heros totgeschlagen; nach Serv. ecl. 6,72 erstickt der Seher hingegen aufgrund seines unreflektierten Verhaltens gegenüber der Prophezeiung eines Auguren ausgerechnet in dem heiligen Hain des Apollon bei Grynoi. Und so ist es schließlich in der Auseinandersetzung mit Mopsos ebenfalls der Stolz des Sehers, der ihn vor Gram (ὑπὸ λύπης) über die missglückte Rätsellösung sterben lässt.

D. II Inkommensurables Wissen

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Kalchas zeigt sich somit als grundsätzlich guter Seher, der auch im Umgang mit Rätseln (im Trojanischen Krieg) fähig erscheint. Doch sein stolzer und spöttischer Charakter sowie der achtlose Umgang mit Weissagungen, die sich auf die eigene Person beziehen, beeinflussen sein Urteilsvermögen und bilden eine bedeutende Lücke in seinem ansonsten umfassenden Wissen. In Abstufung zu Mopsos, der insbesondere aufgrund seiner graduell vornehmeren Abstammung überlegen zu sein scheint, zeigt sich somit ein qualitativer Unterschied, der das Urteil Homers revidiert: Jeder Seher ist in seinem Wissen grundsätzlich durch Apoll unterstützt und hebt sich durch sein auf diese Weise generiertes Wissen von den übrigen Menschen ab. Erst in der direkten Konfrontation der Seher untereinander werden feinere Unterschiede deutlich. Auch Kalchas liegt schließlich mit seiner Antwort auf die Frage nach der Anzahl der Ferkel nicht besonders weit daneben. Sein Urteil und seine Eignung als Rätsellöser sind damit qualifizierter als das der meisten Laien – und doch weniger vollkommen als das Wissen seines Kontrahenten Mopsos. Intertextuelle Vergleichsstellen: Vgl. Hes. scut. 178–181 für Mopsos als Argonautenfahrer, der nicht eigentlich als Seher auftritt (dagegen allerdings μάντις Μόψος in Pind. P. 4 189–192), hierzu auch Schauenburg (1965) 294, der in scheinbarer Analogie auch Kalchas zum Argonauten erklärt; Diod. 3,55,10 f. für Mopsos als Amazonenkämpfer ohne prophetische Gabe, aber mit anderen Anklängen an den von uns zu untersuchenden Mopsos (Vertreibung des Thrakerkönigs (Hom. Il. 6,130–140; Soph. Ant. 955–960); Vertreibung der Karer (Paus. 7,3,1 f.); Athen. VIII 346e für Mopsos als Lyder mit einer besonderen Rolle im Kult der Atargatis. All die auf die verschiedenen Mopsosfiguren zurückgeführten Städtegründungen hier aufzulisten, ist nicht der Ort, vgl. für eine Zusammenstellung Höfer (1894–1897) 3207 f.; Kruse (1933) 242; Simon (1992) 652. Strab. 14,5,16 f. von dem (zeitlich vorgelagerten?) Wettstreit zwischen Mopsos und Amphilochos, die, aus Troja zurückgekehrt, Mallos gründen und sich im Streit um die Herrschaft gegenseitig töten. Soph. TrGF IV, frg. 180 Radt mit Paraphrase des Orakels, das den Tod des Kalchas vorhersagt; vgl. hierzu auch Pearson (1917) 126 z. St. Lykophr. 980 spielt auf eine Auseinandersetzung zwischen Kalchas und Herakles an, bei der Kalchas – anders als in der restlichen Überlieferung – die ihm gestellte Frage von den Feigen richtig beantwortet, dann aber wegen seiner Schadenfreude über Herakles als Frager, der vergeblich versucht, die zehntausendste Feige noch mit in den Scheffel zu pressen, von diesem erschlagen wird. Lykophr. 426–430 spielt jedoch auch auf den Wettkampf mit Mopsos an, in dem Kalchas die Antwort auf die Frage nicht kennt:

502

D Göttlich inspirierte Rätsel

τὸν μέν, Μολοσσοῦ Κυπέως Κοίτου κύκνον, συὸς παραπλαγχθέντα θηλείας τόκων, ὅτ’ εἰς ὀλύνθων δῆριν ἑλκύσας σοφὴν τὸν ἀνθάμιλλον, αὐτὸς ἐκ μαντευμάτων σφαλεὶς ἰαύσει τὸν μεμορμένον πότμον. Der eine, der Schwan des molossischen kypeischen koitischen Apoll, hat sich geirrt im Bezug auf die Kinder der Sau, als er seinen Rivalen in einen Wettstreit über Feigen verwickelte, und er wird gemäß des Orakels – besiegt – schlafen den vorbestimmten Schlaf.

Auch Schol. z. St. Tzetz. (beachte die unterschiedlichen Feigen-Begriffe: ὄλυνθος, φήληξ, σύκη, ἰσχάς); ebenso Eust. Od. 21,31, Bd 2, p. 248 Stallbaum; vgl. CIG I 858 f., nr. 1759, wo Kalchas und Mopsos offenbar zu einer Seherfigur zusammengefasst sind, die mit Herakles den Feigen-Streit hatte. Pointiert ist die Lokalisierung des Seher-Grabmals ἐν Ἐρινεῷ in der lautlichen Ähnlichkeit zu der Feige ἐρινεός. Apollod. epit. 6,2–4 stellt Kalchas die Frage nach den Feigen, die Mopsos richtig beantwortet (10.000 Feigen, die bis auf eine in einen Scheffel passen). Mopsos fragt nach den Ferkeln und Kalchas gibt die falsche Antwort (acht), die Mopsos auf neun korrigiert und zusätzlich noch Angaben über Geschlecht (alle männlich) und Geburtszeitpunkt (Folgetag, sechste Stunde) hinzufügt. Q. Smyrn. 14,360–369 von der Vorahnung, die Kalchas von den schlimmen Irrfahrten der Griechen hat und die ihn veranlassen, auf dem Landwege zu reisen, bis er auf Mopsos traf. AP App. VII 1 (Hesiod): Kalchas stellt die Frage nach der Anzahl der Feigen und stirbt, weil Mopsos die richtige Antwort gibt. Literatur: Hornblower (2015) 426–430. Vgl. ferner Prinz (1979) 25, der m. E. richtig postuliert, die hervorragende Abstammung des Mopsos müsse bereits in den Nosten bekannt gewesen sein. Dagegen die Vermutung, die Frage nach der Abstammung sei erst spät, erstmals gesichert erst bei Philostephanos von Kyrene (Athen. VII 297), aufgekommen, zuvor sei die Figur genealogisch und topographisch noch nicht festgelegt gewesen. Hiergegen spricht am deutlichsten die Unvorstellbarkeit des Sieges eines vollkommen Unbekannten im Wettstreit mit dem Seher, der die Griechen durch den Trojanischen Krieg geleitet hat. Nicht den geringsten Sinn machte es für Hesiod, die Episode in seine Melampodie aufzunehmen, wo er die Geschichten berühmter Seher zusammenstellte, sofern Mopsos nicht bekannt und zudem von bester Herkunft gewesen wäre, denn welche Bedeutung kann schon der Sieg eines Unbekannten haben? Ferner scheint die Stelle Strab. 14,1,27, wo zu-

D. II Inkommensurables Wissen

503

nächst beiläufig Manto als Mutter des Mopsos erwähnt ist und dann auf unterschiedliche Überlieferungen des Wettstreits, zuerst auf diejenige bei Hesiod, eingegangen wird, wenigstens die Möglichkeit zu eröffnen, dass die Abstammung nicht von Strabon (oder seinen Zeitgenossen) konstruiert, sondern bereits in den Anfängen der Überlieferung bekannt gewesen ist. Anders ließe sich kaum der beiläufige Ton der Anmerkung erklären, die dann ja im Widerspruch zu den wiedergegebenen Zeugnissen stehen müsste.

E Mathematische Rätsel E. I Arithmetische Aufgaben E. I. 1 Einfache Aufgaben E. I. 1.1 Gewicht und Zusammensetzung von Statuen und Schalen 1 Rätsel über die Zusammensetzung einer Pallasstatue Metrodoros, AP XIV 2, Beckby Παλλὰς ἐγὼ χρυσῆ σφυρήλατος· αὐτὰρ ὁ χρυσὸς αἰζηῶν πέλεται δῶρον ἀοιδοπόλων. ἥμισυ μὲν χρυσοῖο Χαρίσιος, ὀγδοάτην δὲ Θέσπις καὶ δεκάτην μοῖραν ἔδωκε Σόλων, αὐτὰρ ἐεικοστὴν Θεμίσων· τὰ δὲ λοιπὰ τάλαντα ἐννέα καὶ τέχνη δῶρον Ἀριστοδίκου. Pallas bin ich aus Gold geschlagen; aber das Gold haben kraftvolle Sänger mir geschenkt. Die Hälfte des Goldes Charisios, ein Achtel aber Thespis und ein Zehntel gibt Solon, aber ein Zwanzigstel Themision. Die übrigen neun Talente und die Kunst gab Aristodikos dazu.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Es handelt sich um eine Rechenaufgabe. Zu bestimmen ist, welcher der Sänger wie viel Gold (in Talenten) gespendet hat. Dabei beschreibt die Statue sich in der für das Rätsel typischen Ich-Perspektive. Die Gleichung lässt sich folgendermaßen für x = Gesamtgewicht der Statue aufstellen: 1 1 1 1 x+ x+ x+ x+9 2 8 10 20 20 + 5 + 4 + 2 x+9 40 31 40 x− x 40 40 −9 x 40 x

=

x

=

x

=

−9

=

−9

=

40

https://doi.org/10.1515/9783110674743-013

E. I Arithmetische Aufgaben

505

Die Statue hat somit ein Gewicht von 40 Talenten, wovon Charisios 20, Thespis 5, Themision 2, Solon 4 und Aristodikos 9 Talente spendete. Literatur: Jacobs (1801) 365. 2 Rätsel vom Gewicht der Statuen Zethos und Amphion Metrodoros, AP XIV 13, Beckby Ἄμφω μὲν ἡμεῖς εἴκοσι μνᾶς ἕλκομεν, Ζῆθός τε χὠ ξύναιμος· ἢν δέ μου λάβῃς τρίτον τὸ τέτρατον τε τοῦδ’ Ἀμφίονος, ἓξ πάντ’ ἀνευρὼν μητρὸς εὑρήσεις σταθμόν. Wir beide wiegen zwanzig Minen, ich, Zethos, und mein Bruder. Wenn du aber von mir ein Drittel und von Amphion ein Viertel wegnimmst, erhältst du sechs im Ganzen, genau das Gewicht unserer Mutter.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Es handelt sich um eine Rechenaufgabe. Zu bestimmen ist, wie viel jede der beiden Statuen im Einzelnen wiegt. Angegeben ist ihr gemeinsames Gewicht. Inhaltlich scheint der Zusammenhang – ganz rätseltypisch – durch die Einführung eines Familienverhältnisses zusätzlich paradox. Die Statuen tragen die Namen der Zwillingssöhne von Zeus und Antiope, auf die hier ebenfalls angespielt wird. Der Mythos um die thebanischen Herrscher spielt für die rechnerische Lösung der Aufgabe keine Rolle, begründet aber ihren Status als Rätsel (gegenüber einer „gewöhnlichen“ Rechenaufgabe). Die Gleichung lässt sich folgendermaßen für a = Gewicht der Zethos-Statue und b = Gewicht der Amphion-Statue aufstellen: a+b

=

20

=

6

=

20 − b

20 1 1 − b+ b 3 3 4

=

6

2 −4 + 3 + b 3 12

=

6

=

−2 3

1 1 a+ b 3 6 a

6

−1 b 12

506

E Mathematische Rätsel

b a

= =

8 12

Es wiegt also die Zethos-Statue 12 Minen, die Amphion-Statue 8 Minen. Literatur: Jacobs (1801) 367.

3 Rätsel vom Gewicht zweier Statuen Metrodoros, AP XIV 144, Beckby Ἁ βάσις, ἃν πατέω, σὺν ἐμοὶ βάρος ἁλίκον ἕλκει. „Χἀ κρηπὶς σὺν ἐμοὶ τόσσα τάλαντα φέρει.“ Ἀλλ’ ἐγὼ οἶος ἅπαξ τὰν σὰν βάσιν ἐς δὶς ἀνέλκω. „Κἠγὼ μοῦνος ἐὼν σὰν βάσιν ἐς τρὶς ἄγω.“ A.: B.: A.: B.:

Die Basis, auf der ich stehe, hat mit mir zusammen ein gewaltiges Gewicht. Meine Basis und ich zusammen bringen ebenso viele Talente. Aber ich allein wiege das Doppelte deiner Basis. Und ich allein wiege dreimal deine Basis.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es handelt sich um eine Aufgabe, in der nur das Verhältnis der beiden Statuen zueinander berechnet werden kann, nicht ihr absolutes Gewicht (diophantische Gleichung). Zusätzliche Ungenauigkeit wird durch die Variation von βάσις auf κρηπίς und zurück erzeugt, beide Bezeichnungen sind aber wohl als Synonyme zueinander aufzufassen. Wunderlich erscheint die Behauptung, Statue 1 und Statue 2 wögen einerseits mit ihren jeweiligen Basen zusammen gleich viel, andererseits aber jeweils ein Vielfaches der anderen. Die Lösung dieses scheinbaren Paradoxons liegt darin, dass das Verhältnis Statue : Basis für beide Statuen variiert. Nur ihr Gesamtgewicht (Statue + Basis) ist identisch, die Verteilung auf Statue und Basis aber jeweils unterschiedlich. Suggeriert wird aber durch den Text, das Gewicht der beiden Statuen und das der beiden Basen entspreche sich exakt (Χἀ κρηπὶς σὺν ἐμοὶ τόσσα τάλαντα φέρει). Die Gleichung lässt sich folgendermaßen für x1 = Statue 1, y1 = Basis 1; x2 = Statue 2, y2 = Basis 2 aufstellen: x1 + y1 x1 x2 2y + y1

= = = =

x2 + y2 2y2 3y1 3y1 + y2

E. I Arithmetische Aufgaben

y2

=

2y1

y​1 y​2

=

1 2

y2

=

1 x1 2

y1

=

1 x2 3

=

x2 +

1 x1 2

=

2 x2 3

x​1 x​2

=

4 3

x1 +

1 x2 3

507

1 x1 2

Beschrieben ist ein Verhältnis, für das es verschiedene konkrete Lösungen gibt. Die Statuen stehen im Verhältnis 4 : 3 zueinander, die Basen im Verhältnis 1 : 2. Literatur: Jacobs (1801) 362 f.

4 Rätsel vom gegenseitig definierten Gewicht zweier Statuen Metrodoros, AP XIV 145, Beckby Δός μοι δέκα μνᾶς, καὶ τριπλοῦς σοῦ γίνομαι. — „Κἀγὼ λαβὼν σοῦ τὰς ἴσας σοῦ πενταπλοῦς.“ A.: B.:

Gib mir zehn Minen und ich werde zum Dreifachen von dir. Und ich, wenn ich dasselbe von dir nehme, bin fünfmal du.

Form: 2 iambische Trimeter Erklärung: Die Statuen sprechen ganz rätseltypisch in der ersten Person und definieren ihr Gewicht jeweils in Abhängigkeit von der anderen (ebenso AP XIV 146). Eine Gleichung lässt sich folgendermaßen für a = Gewicht von Statue 1 und b = Gewicht von Statue 2 aufstellen: a + 10 b + 10 a + 10

= = =

3b 5a 3 ⋅ (5a − 10)

508

E Mathematische Rätsel

a 40

= =

15a − 30 − 10 14a

a

=

40 14

=

2

b

=

5a − 10

=

100 70 − 7 7

6 7 =

30 7

=

4

2 7

Vgl. jedoch Beckby z. St., der davon ausgeht, dass das jeweils zusätzlich gegebene Gewicht der anderen Statue abgezogen wird, und so zu folgender Gleichung kommt: a + 10 b + 10

= =

3 ⋅ (b − 10) 5 ⋅ (a − 10)

Er kommt auf diese Weise zu dem Ergebnis a = 15

4 5 und b = 18 Minen. 7 7

Literatur: Jacobs (1801) 363, der wie Beckby rechnet. 5 Rätsel vom gegenseitig definierten Gewicht zweier Statuen Metrodoros, AP XIV 146, Beckby Δός μοι δύο μνᾶς, καὶ διπλοῦς σοῦ γίνομαι. — „Κἀγὼ λαβὼν σοῦ τὰς ἴσας σοῦ τετραπλοῦς.“ A.: B.:

Gib mir zwei Minen und ich bin das Doppelte von dir. Und ich, wenn ich dasselbe von dir nehme, bin viermal du.

Form: 2 iambische Trimeter Erklärung: Die Statuen sprechen ganz rätseltypisch in der ersten Person und definieren ihr Gewicht jeweils in Abhängigkeit von der anderen (ebenso AP XIV 145). Eine Gleichung lässt sich folgendermaßen für a = Gewicht von Statue 1 und b = Gewicht von Statue 2 aufstellen: a+2 b+2 a+2 6

= = = =

2b 4a 2 ⋅ (4a − 2) 7a

a

=

6 7

=

8a − 4

E. I Arithmetische Aufgaben

b

=

4a − 2

=

24 14 − 7 7

=

10 7

=

1

509

3 7

Vgl. jedoch Beckby z. St., der davon ausgeht, dass das jeweils zusätzlich gegebene Gewicht der anderen Statue abgezogen wird, und so zu folgender Gleichung kommt: a+2 b+2

= =

2 ⋅ (b − 2) 4 ⋅ (a − 2)

Er kommt auf diese Weise zu dem Ergebnis a = 3

6 5 und b = 4 Minen. 7 7

Literatur: Jacobs (1801) 363 f.

6 Rätsel vom Gewicht der Kroisos-Schalen Metrodoros, AP XIV 12, Beckby; S 360 Ἓξ μνῶν ἓξ φιάλας Κροῖσος βασιλεὺς ἀνέθηκεν δραχμῇ τὴν ἑτέρην μείζονα τῆς ἑτέρης. König Kroisos weihte sechs Schalen, die zusammen sechs Minen wogen, jede eine Drachme mehr als die vorige wog.

Form: Elegisches Distichon Erklärung: Der historisch-mythologische Kontext, der mit der Nennung des Kroisos auf den Plan gerufen wird, spielt für die Lösung der Rechenaufgabe keine Rolle und begründet doch zugleich den Charakter der Aufgabe als (erzählendes) Rätsel mit. Wunderlich scheint u. U., dass die Zahl der Schalen und die Zahl der Minen insgesamt übereinstimmen, dass die Schalen je für sich aber dennoch unterschiedliche Gewichte haben sollen. Die Lösung liegt darin, dass die Schalen keine ganzzahligen Minenwerte als Gewicht haben. Folgende Gleichung lässt sich zur Lösung aufstellen (mit Mine = 100 Drachmen, also 6 Minen = 600 Drachmen): a+b+c+d+e+f b c d e

= = = = =

600 a+1 b+1 c+1 d+1

= = =

a+2 a+3 a+4

510

E Mathematische Rätsel

f = e+1 a+a+1+a+2+a+3+a+4+a+5 6a + 15 6a a

= = = = =

a+5 600 600 585 97,5

Die kleinste Schale hat somit ein Gewicht von 97,5 Drachmen, die zweite wiegt 98,5 Drachmen, die dritte 99,5 Drachmen, die vierte 100,5 Drachmen, die fünfte 101,5 Drachmen und die fünfte 102,5 Drachmen. Literatur: Jacobs (1801) 341 f.

7 Rätsel von der Edelmetallmischung eines Kranzes Metrodoros, AP XIV 49, Beckby Τεῦξόν μοι στέφανον, χρυσὸν χαλκόν τε κεράσσας κασσίτερόν θ’ ἅμα τοῖσι πολύκμητόν τε σίδηρον, μνῶν ἑξήκοντα· χρυσὸς δ’ ἐχέτω μετὰ χαλκοῦ δοιὰ μέρη τρισσῶν· χρυσὸς δ’ ἅμα κασσίτερός τε τρισσὰ μέρη τετόρων· χρυσὸς δ’ αὖτ’ ἠδὲ σίδηρος τόσσα μέρη τῶν πέντε. πόσον δ’ ἄρα δεῖ σε κεράσσαι λέξον τοῦ χρυσοῦ, χαλκοῦ πόσον, ἀλλ’ ἔτι λέξον, κασσιτέροιο πόσον, λοιποῦ πόσον εἰπὲ σιδήρου, ὥστε σε τὸν στέφανον τεῦξαι μνῶν ἑξήκοντα. Mach mir einen Kranz, mische Gold und Kupfer und Zinn zugleich und hartes Eisen, zu sechzig Minen. Das Gold zusammen mit dem Kupfer soll haben zwei Drittel; das Gold mit dem Zinn zusammen wiege drei Viertel; das Gold aber mit dem Eisen zusammen wiederum wiege drei Fünftel. Wie viel aber musst du mischen, sag, von Gold, wie viel Kupfer, und sag auch weiter, wie viel Zinn, und schließlich wie viel Eisen, damit du einen Kranz von sechzig Minen anfertigst.

Form: 9 Hexameter Erklärung: Angegeben sind das Gesamtgewicht und das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander. Auszurechnen ist das Gewicht der einzelnen Materialanteile. Erschwert wird das Verständnis u. U. dadurch, dass die verschiedenen Verhältnisse mit dem Goldanteil angegeben werden, sodass ein oberflächlicher Hörer glauben könnte, das Beimischen eines anderen Metalls verändere den Goldanteil jeweils. Tatsäch-

E. I Arithmetische Aufgaben

511

lich liegt in der mehrfachen Bezugnahme auf dasselbe Edelmetall jedoch die Lösung für die Rechenaufgabe, die sich folgendermaßen als Gleichung darstellen lässt (a = Goldanteil, b = Kupferanteil, c = Zinnanteil, d = Eisenanteil): a+b+c+d

=

60

a+b

=

2 ⋅ 60 3

=

40 →

b

=

40 − a

a+c

=

3 ⋅ 60 4

=

45



c

=

45 − a

=

36



d

=

36 − a

= =

60 60

=

30

3 ⋅ 60 5 a + 40 − a + 45 − a + 36 − a −2a + 121 a+d

=

a

1 2

1

1

2

2

Die Mischung des Kranzes besteht somit aus 30 Minen Gold, 9 Minen Kupfer, 14

1 2

1

Minen Zinn und 5 Minen Eisen. 2

Literatur: Jacobs (1801) 339.

8 Rätsel vom Gewicht einer Silberschale Metrodoros, AP XIV 50, Beckby Τὸ τρίτον, ἀργυροποιέ, προσέμβαλε καὶ τὸ τέταρτον τῆς φιάλης εἰς ἕν, καὶ τὸ δυωδέκατον· εἰς δὲ κάμινον ἔλαυνε βαλὼν καὶ πάντα κυκήσας ἔξελέ μοι βῶλον· μνᾶν δέ μοι ἑλκυσάτω. Ein Drittel, oh Schmied, wirf zusammen und ein Viertel der Schale in eins und ein Zwölftel. Bring es dann zum Ofen, wirf es hinein und rühr’ alles zusammen und hole den Klumpen heraus; er soll dann eine Mine wiegen.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Es fehlt eine explizite Frage, doch es ist ohne Zweifel, dass nach dem Gesamtgewicht der Schale gefragt ist. Umso verwunderlicher muss es erscheinen, dass

512

E Mathematische Rätsel

der Schmied die Schale auflöst und damit zerstört, um ihr Gewicht zu ermitteln. Der Inhalt der Erzählung hat jedoch keinen Einfluss auf die mathematische Lösung der rätselhaften Rechenaufgabe. Sie lässt sich folgendermaßen als Gleichung darstellen: 1 1 1 x+ x+ x 3 4 12 4+3+1 x 12 8 x 12

=

1

=

1

=

1

x

=

12 8

=

1,5

Die Schale wiegt insgesamt 1,5 Minen, bevor sie geschmolzen und aufgeteilt wird; so auch Beckby z. St., Meziriac und Zirkel; dagegen Kries mit einer Lösung von

3 5

Mine.

Literatur: Jacobs (1801) 339 f.

E. I. 1.2 Fontänen 1 Rätsel vom Brunnenlöwen Metrodoros, AP XIV 7, Beckby Χάλκεός εἰμι λέων· κρουνοὶ δέ μοι ὄμματα δοιὰ καὶ στόμα καὶ τὸ θέναρ δεξιτεροῖο ποδός. πλήθει δὲ κρητῆρα δύ’ ἤμασι δεξιὸν ὄμμα καὶ λαιὸν τρισσοῖς καὶ πισύροισι θέναρ· ἄρκιον ἓξ ὥραις πλῆσαι στόμα· σὺν δ’ ἅμα πάντα, καὶ στόμα καὶ γλῆναι καὶ θέναρ, εἰπὲ πόσον. Ein erzerner Löwe bin ich; Fontänen aber sind mir beide Augen und der Mund und die Sohle meines rechten Fußes. Für die Befüllung des Beckens benötigt das rechte Auge zwei Tage und das linke braucht drei und die Fußsohle vier. In genau sechs Stunden aber füllt mein Mund das Becken. Und alle zusammen, Mund, Augen und Sohle, sag, wie lange sie brauchen.

Form: 3 elegische Distichen

E. I Arithmetische Aufgaben

513

Erklärung: Es handelt sich um eine arithmetische Rätselaufgabe zur Fließgeschwindigkeit. Der in Frage stehende Springbrunnen hat die Form eines kupfernen Löwen, der seine Fontänen aus der Ich-Perspektive beschreibt. Dass von einem (Spring-)Brunnenlöwen die Rede ist, wird erst im dritten Vers richtig klar, zuvor mag sich ein Hörer über den Löwen aus Kupfer (und seine Fontänen) wundern. Bei der Annahme, dass ein Tag auf 12 Stunden berechnet wird, ergibt sich folgende Gleichung für das Befüllen des Beckens, mit: b = vollgefülltes Becken: 24ar 36al 48f 6m

= = = =

b b b b

Fließen die Fontänen aus allen Öffnungen zugleich, ergibt sich für eine Stunde:

1 1 1 1 b+ b+ b+ b 24 36 48 6 6 + 4 + 3 + 24 b 144 37 b 144

=

1 Stunde

=

1 Stunde

=

1 Stunde

b

=

144 Stunden 37

=

Das Becken wird von allen Fontänen zusammen in 3

33

3

33 Stunden 37

Stunden gefüllt; so nach

37 44 Beckby auch Camerarius und Zirkel; Kries errechnet 3 Stunden. Nach Beckby 61

z. St. geben ferner die Scholien acht verschiedenen Lösungen. Literatur: Jacobs (1801) 366 f. 2 Rätsel von den vier Fontänen Metrodoros, AP XIV 130, Beckby Τῶν πισύρων κρουνῶν ὁ μὲν ἤματι πλῆσεν ἅπασαν δεξαμενήν, δυσὶ δ’ οὗτος, ὃ δ’ ἐν τρισὶν ἤμασιν οὗτος, τέτρατος ἐν τετόρεσσι. πόσῳ πλήσουσιν ἅπαντες; Von vier Fontänen füllt eine innerhalb eines Tages das ganze Becken, die zweite benötigt zwei Tage, die letzte aber schafft es in drei Tagen und die vierte braucht vier. Innerhalb welcher Zeit füllen alle zusammen das Becken?

514

E Mathematische Rätsel

Form: 3 Hexameter Erklärung: Aus der Erzählerperspektive werden die Eigenschaften der vier Fontänen beschrieben. Zu berechnen ist, innerhalb welches Zeitraums die vier Fontänen zusammen das Becken füllen. Bei einem Tag von 12 Stunden lässt sich der Zusammenhang in der folgenden Gleichung veranschaulichen:

1 1 1 1 x+ x+ x+ x 12 24 36 48 12 + 6 + 4 + 3 x 144 25 x 144

=

1

=

1

=

1

x

=

144 25

=

19

5

19 29

12

Alle Fontänen brauchen gemeinsam 5 Stunden (d. h. eines Tages), um das 29 25 Becken zu füllen.

3 Rätsel von den drei Fontänen Metrodoros, AP XIV 131, Beckby Οἶγέ με, καὶ πισύρεσσιν ἐνιπλήσω παρεοῦσαν δεξαμενὴν ὥραις κρουνὸς ἅλις προρέων· δεξιτερὸς δ’ ἄρ’ ἐμεῖο τόσαις ἀπολείπεται ὥραις, ὄφρα μιν ἐμπλήσει· δὶς δὲ τόσαις ὁ τρίτος. εἰ δ’ ἄμφω σὺν ἐμοὶ προχέειν ῥόου ἑσμὸν ἀνώγοις, εἰν ὀλίγῃ μοίρῃ πλήσομεν ἠματίῃ. Sieh, ich bin eine vollströmende Quelle und ich fülle innerhalb von vier Stunden das Becken hier voll, indem ich Wasser speie. Die zu meiner Rechten aber, die bleibt ebenso viele Stunden zurück, bis sie vollfüllt; zweimal so viele aber die dritte. Wenn du aber befielst, dass beide mit mir gemeinsam ihren Strahl fließen lassen, füllen wir innerhalb von nur einem Teil des Tages das Becken voll.

Form: 3 elegische Distichen

E. I Arithmetische Aufgaben

515

Erklärung: Die Fontäne beschreibt sich und ihre Kollegen aus der Ich-Perspektive und richtet an den Rezipienten eine direkte Frage bzw. Lösungsaufforderung. Die Antwort berechnet sich für einen 12-Stunden-Tag folgendermaßen: 1 1 1 x+ x+ x 4 8 12 6+3+2 x 24 11 x 24 x

=

1

=

1

=

1

=

24 11

=

2

2 11

Wenn alle Fontänen zusammen fließen, dauert er 2

2 11

Stunden, das Becken zu

füllen. Literatur: Jacobs (1801) 354 f.

4 Rätsel vom Brunnenpolyphem Metrodoros, AP XIV 132, Beckby Κύκλωψ τοι Πολύφημος ὁ χάλκεος· οἷα δ’ ἐπ’ αὐτῷ τεῦξέ τις ὀφθαλμὸν καὶ στόμα καὶ παλάμην κρουνοῖς συζεύξας· στάζοντι δὲ πάμπαν ἔοικεν ἠδ’ ἔτι καὶ βλύζων φαίνετ’ ἀπὸ στόματος. κρουνῶν δ’ οὔτις ἄτακτος· ὁ μὲν παλάμης τρισὶ μούνοις ἤμασιν ἐμπλήσει δεξαμενὴν προρέων· ἠμάτιος γλήνης· στόμα δ’ ἤματος ἐν δύο πέμπτοις. τίς κ’ ἐνέποι τρισσοῖς ἶσα θέοντα χρόνον; Hier steht Polyphem der Zyklop aus Bronze; wie kunstvoll ihm einer das Auge und den Mund und die Hand anfertigte und mit Fontänen ausstattete: Einem Sprenkler gleicht er ganz und gar, ja es scheint sich sogar ein Schwall aus seinem Mund zu ergießen. Doch keine der Fontänen ist ungenau: Der Quell der Hand füllt in nur drei Tagen das Becken voll mit seinem Strahl; einen Tag brauch der des Auges; der Mund füllt das Becken in zwei Fünfteln. Zu welcher Zeit füllen sie es voll, wenn alle drei gemeinsam fließen?

Form: 4 elegische Distichen

516

E Mathematische Rätsel

Erklärung: Ein Hörer, der nicht a priori weiß, dass ihm eine Aufgabe über Fließgeschwindigkeit, Brunnen etc. gestellt wird, der mag zunächst darüber nachsinnen, inwiefern der berühmte Kyklop aus Bronze sein kann, bevor er erkennt, dass es sich lediglich um die (für die Lösung der Aufgabe irrelevante) Form des Brunnens handelt. Klug gewählt ist auch das οὖτις (v. 5), das den Rezipienten u. U. an die berühmte Täuschung des Kyklopen durch Odysseus erinnert, der seinem Gastgeber vortäuschte, sein Name sei Οὖτις (Hom. Il. 9,364/370). Die Lösung berechnet sich für einen 12-Stunden-Tag folgendermaßen: 1 1 5 x+ x+ x 36 12 24 24 + 72 + 189 x 864 276 x 864 x

=

1

=

1

=

1

=

864 276

Die drei Fontänen brauchen 3

36 276

=

3

36 276

Stunden (d. h.

6 23

eines Tages), um das Becken

zu füllen. Literatur: Jacobs (1801) 355. 5 Rätsel von den drei Springbrunnen Metrodoros, AP XIV 133, Beckby Ὡς ἀγαθὸν κρητῆρι θοοὶ κερόωσι ῥέεθρον οἵδε δύω ποταμοὶ καὶ Βρομίοιο χάρις. ἶσος δ’ οὐ πάντεσσι ῥόου δρόμος· ἀλλά μιν οἶος Νεῖλος μὲν προρέων ἠμάτιος κορέσει, τόσσον ὕδωρ μαζῶν ἀπερεύγεται· ἐκ δ’ ἄρα Βάκχου θύρσος ἐνὶ τρισσοῖς ἤμασιν οἶνον ἱείς· σὸν δὲ κέρας, Ἀχελῷε, δύ’ ἤμασι. νῦν δ’ ἅμα πάντες ῥεῖτε καὶ εἰν ὥραις πλήσετέ μιν ὀλίγαις. Welch schönes Fließen mischen die beiden schnellen Ströme in das Becken hinein und das Abbild des Bromios. Aber nicht alle haben die gleiche Stärke des Flusses: Sondern der Nil ist in der Lage, an einem Tag mit seinen Fluten das Becken zu füllen, so viel Wasser entfließt seinen Brüsten; aus dem Thyrsos des Bakchos aber

E. I Arithmetische Aufgaben

517

fließt drei Tage lang Wein. Dein Horn aber, Acheloos, benötigt zwei Tage. Nun aber fließt alle zusammen und füllt in wenigen Stunden das Becken voll!

Form: 4 elegische Distichen Erklärung: Aus der Erzählerperspektive wird ein dreiteiliger Springbrunnen beschrieben, der die mythologische Figur Dionysos (als Bromios und Bakchos) mit den beiden Flüssen bzw. Flussgottheiten Nil und Acheloos zusammenstellt. Dass es sich um drei Teile eines Springbrunnens handelt, wird nicht explizit gesagt, der Rezipient muss dies erschließen. Die Erkenntnis wird besonders dadurch erschwert, dass die (personifizierten) Flüsse ganz selbstverständlich, also auch als Nicht-Springbrunnen, mit Wasser verbunden sind, ebenso wie Dionysos mit dem Wein. Dass die Flüsse Wasser spenden, ist deshalb ganz selbstverständlich (das Horn des Acheloos ist aus der mythologischen Auseinandersetzung des Gestaltenwandlers als Stier mit Herakles bekannt, der ihm eines seiner Hörner abbrach, Apollod. 2,7,5; Ov. met. 9,86–88). Das Wasser, das aus dem Thyrsosstab der Dionysosstatue fließt, wird metaphorisch als Wein bezeichnet, wodurch auch hier die Illusion aufrechterhalten wird, es handle sich um die Beschreibung einer mythologischen Szene. Die Angaben zu den unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten geben den notwendigen Hinweis, um das Beschriebene als arithmetische Rätselaufgabe zu erkennen. Auf die rechnerische Lösung der Aufgabe haben der Inhalt der Erzählung und die fremd anmutende Verbindung der drei Figuren freilich keinen Einfluss, sie trägt jedoch zusätzlich zur narratologischen Ausgestaltung der Verrätselung bei. Die Lösung berechnet sich für einen 12-Stunden-Tag folgendermaßen: 1 1 1 x+ x+ x 12 36 24 36 + 12 + 18 x 432

=

1

=

1

66 x 432

=

11 x 72

=

x

=

72 11

=

1 6

6 11

6

6

Die drei Springbrunnen benötigen gemeinsam 6 Stunden (d. h. eines Tages), 11 11 um das Becken zu füllen. Literatur: Jacobs (1801) 355 f.

518

E Mathematische Rätsel

6 Rätsel von den drei Erotenbrunnen Metrodoros, AP XIV 135, Beckby Οἵδε λοετροχόοι τρεῖς ἕσταμεν ἐνθάδ’ Ἔρωτες καλλιρόου πέμποντες ἐπ’ εὐρίποιο λοετρά. δεξιτερὸς μὲν ἔγωγε τανυπτερύγων ἀπὸ ταρσῶν ἤματος ἑκταίῃ μοίρῃ ἔνι τόνδε κορέσσω· λαιὸς δ’ αὖ πισύρεσσιν ἀπ’ ἀμφιφορῆος ἐν ὥραις· ἐκ δ’ ὁ μέσος τόξοιο κατ’ ἤματος αὐτὸ τὸ μέσσον. φράζεο δ’, ὡς ὀλίγῃ κεν ἐνιπλήσαιμεν ἐν ὥρῃ ἐκ πτερύγων τόξου τε καὶ ἀμφιφορῆος ἱέντες. Wir sind drei Eroten, stehen hier als Wasserspender im Bade und lassen die herrlichen Fluten strömen. Ich, als rechter, fülle aus meinen weitgespreizten Schwingen innerhalb eines Sechstels vom Tag dieses an; der Linke wiederum füllt es aus seiner Amphore in vier Stunden; aus dem Bogen braucht der Mittlere die Hälfte des Tages. Sag aber, in wie wenigen Stunden füllen wir das Becken an, wenn wir aus Schwingen, Bogen und Amphore strömen.

Form: 8 Hexameter Erklärung: Auch in diesem Rätsel geht aus der Erzählung selbst nicht eindeutig hervor, dass es sich um einen Brunnen mit drei Erotenstatuen als Wasserspeiern handelt. Da anstelle eines Beckens das Bad (λοετρά) erwähnt wird und die Eroten auch als λοετροχόοι bezeichnet sind eine Benennung, die auch die Sklaven, die Wasser ins Bad bringen mussten, trugen könnte ein Rezipient zunächst auch an eine mythologische Szene denken. Die Lösung der arithmetischen Aufgabe lässt sich folgendermaßen berechnen: 1 1 1 x+ x+ x 2 4 6 6+3+2 x 12 11 x 12

=

1

=

1

=

1

x

=

12 11

=

1

1 11

Die Erotenstatuen benötigen zusammen 1

1 11

Stunden, um das Becken zu füllen.

E. I Arithmetische Aufgaben

519

Literatur: Jacobs (1801) 356 f.

E. I. 1.3 Alter bzw. Lebensdauer 1 Rätsel vom Horoskop Metrodoros, AP XIV 124, Beckby Ἠέλιος μήνη τε καὶ ἀμφιθέοντες ἀλῆται ζῳοφόρου τοίην τοι ἐπεκλώσαντο γενέθλην· ἕκτην μὲν βιότοιο φίλῃ παρὰ μητέρι μεῖναι ὀρφανόν, ὀγδοάτην δὲ μετ’ ἀντιβίοισιν ἀνάγκῃ θητεύειν· νόστον δὲ γυναῖκά τε παῖδά τ’ ἐπ’ αὐτῇ τηλύγετον δώσουσι θεοὶ τριτάτῃ ἐπὶ μοίρῃ· δὴ τότε σοι Σκυθικοῖσιν ὑπ’ ἔγχεσι παῖς τε δάμαρ τε ὄλλυνται. σὺ δὲ τοῖσιν ἐπ’ ἄλγεσι δάκρυα χεύσας ἑπτὰ καὶ εἴκοσ’ ἔτεσσι βίου ποτὶ τέρμα περήσεις. Die Sonne und der Mond und die herumwandelnden Planeten des Tierkreises spannen dir von der Geburt her ein Schicksal zu: Ein Sechstel des Lebens bleibst du bei deiner lieben Mutter ohne Vater, danach dienst du ein Achtel als Sklave bei Feinden; Heimkehr aber und eine Frau und einen lieben Sohn von ihr werden die Götter dir im folgenden Drittel geben; dann aber werden dein Sohn und deine Frau von skythischen Pfeilen dahingerafft. Du aber, wenn du über diese Tränen im Kummer vergossen hast, erreichst nach 27 weiteren Jahren das Ende des Lebens.

Form: 9 Hexameter Erklärung: Aus dem Horoskop lässt sich das vorausgesagte Alter (x) des Betreffenden konstruieren:

1 1 1 x + x + x + 27 6 8 3 4+3+8 x + 27 24 15 x + 27 24 9 x 24 x

=

x

=

x

=

x

=

27

=

72

520

E Mathematische Rätsel

Der das Horoskop betreffenden Person ist prophezeit, dass sie im Alter von 72 Jahren sterben wird. Es ist beachtlich, dass dieses Rätsel passend zu einer Altersangabe eine ganzzahlige Lösung hat, wo doch viele der übrigen arithmetischen Rätselaufgaben ungerade (Bruch-)Zahlen als Lösung hervorbringen. Man sieht hieran, dass die Zahl, die als Lösung dient, keinesfalls zufällig, sondern vielmehr ganz bewusst von dem Steller des Rätsels gewählt ist.

2 Rätsel um die Lebensdauer des Diophantes Metrodoros, AP XIV 126, Beckby Οὗτός τοι Διόφαντον ἔχει τάφος. ἆ μέγα θαῦμα· καὶ τάφος ἐκ τέχνης μέτρα βίοιο λέγει. ἕκτην κουρίζειν βιότου θεὸς ὤπασε μοίρην· δωδεκάτην δ’ ἐπιθεὶς μῆλα πόρεν χνοάειν· τῇ δ’ ἄρ’ ἐφ’ ἑβδομάτῃ τὸ γαμήλιον ἥψατο φέγγος, ἐκ δὲ γάμων πέμπτῳ παῖδ’ ἐπένευσεν ἔτει. αἰαῖ, τηλύγετον δειλὸν τέκος· ἥμισυ πατρὸς τοῦδ’ ἐκάη κρυερὸς μέτρον ἑλὼν βιότου· πένθος δ’ αὖ πισύρεσσι παρηγορέων ἐνιαυτοῖς τῇδε πόσου σοφίῃ τέρμ’ ἐπέρησε βίου. Dies ist das Grabmal des Diophantes. Welch ein Wunder: Und der Grabstein verkündet mit Kunst die Abschnitte des Lebens. Ein Sechstel des Lebens ein Knabe zu sein, gab ihm der Gott; nach einem Zwölftel aber ließ er ihm den Bart wachsen; nach einem weiteren Siebtel entzündete er die Hochzeitsfackel, aus der Ehe nickte er ihm im fünften Jahr darauf einen Sohn zu. Ach, der süße geliebte Sohn; als er die Hälfte des Alters seines Vaters erreichte, wurde er als Kalter verbrannt; den Kummer aber wiederum vier Jahre mit Weisheit ertragend erreichte er das Ende des Lebens.

Form: 5 elegische Distichen Erklärung: In der Form eines (fiktiven) Grabepigramms wird die Dauer der einzelnen Lebensabschnitte des Diophantes im Verhältnis zu seiner gesamten Lebensspanne beschrieben. Auf den Rätselcharakter der Beschreibung ist explizit hingewiesen (ἐκ τέχνης). Das Verständnis der Aufgabe wird erschwert durch mehrere Fakto1 ren. Einerseits erscheint die Tatsache, dass des Lebens der Kindheit vorbehal6 ten war, aber (vermeintlich schon) nach einem Zwölftel, also in der Mitte der Kindheit, der Bartwuchs begann, paradox. Der Rezipient muss sich hinzudenken, dass δωδεκάτην nicht absolut von der Geburt des Diophantes an, sondern

E. I Arithmetische Aufgaben

521

nach Abschluss des Sechstels gemeint ist. Ähnlich verhält es sich mit dem fünften (Ehe-)Jahr, in dem Diophantes seinen Sohn erhält. Gemeint ist selbstverständlich nicht sein fünftes Lebensjahr, sondern das fünfte Jahr nach dem Sechstel, dem Zwölftel und dem Siebtel. Ferner ist zunächst nicht eindeutig, ob das Todesalter des Sohnes sich auf das Gesamtalter des Vaters oder auf sein damaliges Alter bezieht. Schließlich ist der Gegensatz zwischen kalt und warm, den der metaphorische Gebrauch von κρυερός (v. 8) im Sinne eines Toten mit dem Bestattungsfeuer bildet, ganz rätseltypisch. Wie schon AP XIV 124 ist bewusst eine ganze Zahl als Lösung gesetzt. Zu berechnen bleibt das Alter des Diophantes bei seinem Tode:

1 1 1 1 x+ x+ x+5+ x+4 6 12 7 2 14 + 7 + 12 + 42 x+9 84 75 x+9 84 9 x 84 x

=

x

=

x

=

x

=

9

=

84

Literatur: Jacobs (1801) 350 f.

3 Rätsel vom Leben des Demochares Metrodoros, AP XIV 127, Beckby Παντός, ὅσου βεβίωκε, χρόνου παῖς μὲν τὸ τέταρτον Δημοχάρης βεβίωκε, νεηνίσκος δὲ τὸ πέμπτον, τὸ τρίτον εἰς ἄνδρας· πολιὸν δ’ ὅτ’ ἀφίκετο γῆρας, ἔζησεν λοιπὰ τρισκαίδεκα γήραος οὐδῷ. Von der ganzen Zeit, die er lebte, verbrachte Demochares ein Viertel als Kind, ein Fünftel als Jüngling, ein Drittel als Mann; als er aber das graue Alter erreichte, lebte er noch dreizehn übrige Jahre auf der Schwelle des hohen Alters.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Die einzelnen Abschnitte des Lebens sind im Verhältnis zur gesamten Lebensspanne, die berechnet werden muss, beschrieben:

522

E Mathematische Rätsel

1 1 1 x + x + x + 13 3 5 4 15 + 12 + 20 x + 13 60 47 x + 13 60 13 x 60 x

=

x

=

x

=

x

=

13

=

60

Demochares wurde 60 Jahre alt. Wie schon AP XIV 124 und 126 ist bewusst eine ganze Zahl als Lösung gesetzt. Literatur: Jacobs (1801) 351.

E. I. 1.4 Apfelraub und -Verteilung 1 Rätsel vom Apfelraub der Musen an Eros Metrodoros, AP XIV 3, Beckby; S 353 Ἁ Κύπρις τὸν Ἔρωτα κατηφιόωντα προσηύδα· „Τίπτε τοι, ὦ τέκος, ἄλγος ἐπέχραεν;“ ὃς δ’ ἀπάμειπτο· „Πιερίδες μοι μῆλα διήρπασαν ἄλλυδις ἄλλη αἰνύμεναι κόλποιο, τὰ δὴ φέρον ἐξ Ἑλικῶνος. Κλειὼ μὲν μήλων πέμπτον λάβε, δωδέκατον δὲ Εὐτέρπη· ἀτὰρ ὀγδοάτην λάχε δῖα Θάλεια· Μελπομένη δ’ εἰκοστὸν ἀπαίνυτο, Τερψιχόρη δὲ τέτρατον· ἑβδομάτην δ’ Ἐρατὼ μετεκίαθε μοίρην· ἡ δὲ τριηκόντων με Πολύμνια νόσφισε μήλων, Οὐρανίη δ’ ἑκατόν τε καὶ εἴκοσι· Καλλιόπη δὲ βριθομένη μήλοισι τριηκοσίοισι βέβηκε. σοὶ δ’ ἄρα κουφοτέρῃσιν ἐγὼ σὺν χερσὶν ἱκάνω πεντήκοντα φέρων τάδε λείψανα μῆλα θεάων.“ Kypris sprach zu Eros, der niedergedrückten Sinnes war: „Welcher Kummer, mein Sohn, ergriff dich?“ Er aber antwortete: „Die Pieriden raubten mir die Äpfel aus dem Schoß und trugen sie hierhin und dorthin fort, die ich mir vom Helikon holte. Kleio zwar nahm ein Fünftel der Äpfel, ein Zwölftel Euterpe; aber ein Achtel brachte die göttliche Thaleia an sich; Melpomene aber nahm ein Zwanzigstel fort, Terpsichore aber ein Viertel; ein Siebtel beschlagnahmte Erato; Polymnia ging mit dreißig Äpfeln von dannen, Urania nahm 120; Kalliope aber

E. I Arithmetische Aufgaben

523

ging schwer beladen mit 300 Äpfeln fort. Zu dir also komme ich nun mit leichteren Händen, denn ich trage die fünfzig Äpfel, die die Göttinnen mir übrig ließen.

Form: 13 Hexameter Erklärung: Eros hat vom Helikon einem der bevorzugten Aufenthalts- bzw. Wohnorte der Musen Äpfel geholt, die ihm jedoch auf seinem Rückweg von den neun Musen jeweils anteilig wieder geraubt werden. Die wunderliche Vorstellung, dass Eros eine derart große Anzahl an Äpfeln getragen haben soll (κόλποιο), und die Frage, warum die Musen die Äpfel am Helikon nicht einfach selbst sammeln, haben mit der rechnerischen Lösung der arithmetischen Aufgabe nichts zu tun, prägen aber ihren rätselhaften Charakter. Zu berechnen ist die ursprüngliche Gesamtzahl der Äpfel (x): 1 1 1 1 1 1 x+ x+ x+ x + x + x+ 30 + 120 + 300 + 50 5 12 8 20 4 7 168 + 70 + 105 + 42 + 210 + 120 x + 500 = x 840 500

=

x−

3.360

=

x

715 x 840

=

=

x

125 x 840

Eros hatte ursprünglich 3.360 Äpfel gesammelt. Literatur: Jacobs (1801) 336–338.

2 Rätsel von der Apfelteilung zwischen Grazien und Musen Metrodoros, AP XIV 48, Beckby; S 354 Αἱ Χάριτες μήλων καλάθους φέρον, ἐν δὲ ἑκάστῃ ἶσον ἔην πλῆθος. Μοῦσαι σφίσιν ἀντεβόλησαν ἐννέα καὶ μήλων σφέας ᾔτεον· αἳ δ’ ἄρ’ ἔδωκαν ἶσον ἑκάστῃ πλῆθος, ἔχον δ’ ἴσα ἐννέα καὶ τρεῖς. εἰπέ, πόσον μὲν δῶκαν, ὅπως δ’ ἴσα πᾶσαι ἔχεσκον. Die Chariten trugen Apfel-Körbe, in jedem war dieselbe Menge. Die neun Musen trafen sie und baten sie um Äpfel; die aber gaben also die gleiche Menge einer jeden, sodass die neun und die drei alle gleich viel hatten. Sag, wie viel gaben sie, damit alle gleichviel besaßen.

524

E Mathematische Rätsel

Form: 5 Hexameter Erklärung: Eine konkrete Zahl lässt sich als Lösung nicht berechnen, vielmehr ist offenbar nach einem Verhältnis der beschriebenen Größen untereinander gefragt. Es lässt sich somit bestimmen, welchen Anteil die Grazien veräußern, sodass die Gesamtzahl der Äpfel gleichmäßig auf die zwölf Personen verteilt sind. Auf jede Grazie entfallen drei Musen. Jede Grazie muss ihre Äpfel also auf vier Personen verteilen, gibt also drei Viertel ihrer Äpfel an die Musen, jeweils ein Viertel an jede Muse. Literatur: Jacobs (1801) 338.

3 Rätsel vom Apfelraub Metrodoros, AP XIV 117, Beckby Ποῦ σοι μῆλα βέβηκεν, ἐμὸν τέκος; „Ἕκτα μὲν Ἰνὼ δοιὰ καὶ ὀγδοάτην μοῖραν ἔχει Σεμέλη· Αὐτονόη δὲ τέταρτον ἀφήρπασεν· αὐτὰρ Ἀγαυὴ πέμπτον ἐμῶν κόλπων ᾤχετ’ ἀπαινυμένη· σοὶ δ’ αὐτῇ δέκα μῆλα φυλάσσεται· αὐτὰρ ἔγωγε, ναὶ μὰ φίλην Κύπριν, ἓν τόδε μοῦνον ἔχω.“ Wohin sind deine Äpfel entschwunden, mein Kind? „Zwei Sechstel hat Ino und ein Achtel Semele; Autonoe aber hat mir ein Viertel gestohlen; aber Agaue hat aus meinem Gewandbausch ein Fünftel entwendet; für dich selbst aber habe ich zehn Äpfel gerettet; aber ich, bei der lieben Kypris, habe nur diesen einen.“

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Wenn es auch nicht explizit gesagt sein mag, legt doch der Vergleich mit AP XIV 3 die Vermutung nahe, dass hier wie dort Aphrodite mit ihrem Sohn Eros im Gespräch ist, der abermals, diesmal nicht von den Musen, sondern von den thebanischen Prinzessinnen Ino, Semele, Autonoe und Agaue (die durch ihre Mutter Harmonia den Musen in gewissem Maße sogar ähneln) um seine Äpfel gebracht wurde. Die Anzahl der Äpfel, die er ursprünglich besaß (x), berechnet sich folgendermaßen:

E. I Arithmetische Aufgaben

1 1 1 2 x + x + x + x + 10 + 1 4 5 8 6 40 + 15 + 30 + 24 x + 11 120 109 x + 11 120

=

x

=

x

=

x

11

=

x

=

525

11 x 120 120

Der Beraubte (Eros) verfügte ursprünglich über 120 Äpfel. Literatur: Jacobs (1801) 343 f.

4 Rätsel vom Apfelpflücken Metrodoros, AP XIV 118, Beckby Δρεψαμένη ποτὲ μῆλα φίλαις διεδάσσατο Μυρτώ. Χρυσίδι μὲν μήλων πέμπτον πόρε, τέτρατον Ἡροῖ, ἐννεακαιδέκατον Ψαμάθῃ, δέκατον Κλεοπάτρῃ· αὐτὰρ ἐεικοστὸν δωρήσατο Παρθενοπείῃ· δώδεκα δ’ Εὐάδνῃ μοῦνον πόρεν· αὐτὰρ ἐς αὐτὴν ἤλυθον ἐκ πάντων ἑκατὸν καὶ εἴκοσι μῆλα. Es pflückte Myrto einst Äpfel und teilte sie unter ihren Freundinnen auf. Chrysis nämlich bot sie ein Fünftel der Äpfel, ein Viertel der Hero, ein Neunzehntel der Psamathe, ein Zehntel der Kleopatra; aber ein Zwanzigstel gab sie Parthenopeia; zwölf nur bot sie Euadne an; aber auf sie selbst entfielen von allen Äpfeln einhundertzwanzig.

Form: 6 Hexameter Erklärung: In diesem Rätsel kommen Frauengestalten aus unterschiedlichen mythologischen Kontexten zusammen. So ist mit Psamathe eine Nereide vertreten (Ov. met. 11,346–409), mit Parthenopeia ein Sirene (Lykophr. Alex. 712 ff.). Doch nicht alle Namen sind eindeutig zuzuordnen. So bezeichnet Myrto sowohl eine Mänade (Nonn. Dion. 29,270) als auch eine Amazone (Schol. Apoll. Rhod, 1,752, p. 64 f. Wendel) und sogar eine Schwester des Patroklos (Plut. Aristides 20,6). Bei Chrysis (v. 2) handelt es sich nach Klügmann (1884–1886) 905 um eine Amazone oder eine Bakchantin.

526

E Mathematische Rätsel

Mit Hero wird wohl auf die tragische Geliebte Leanders angespielt (Verg. georg. 3,209–257), während Kleopatra als mythologische Gestalt eine Tochter des Nordwindes Boreas benennt (Apollod. 3,15,2). Euadne schließlich bezeichnet neben verschiedenen anderen, vergleichsweise unbekannten mythologischen Figuren auch die Tochter des Poseidon, die zusammen mit Apoll den Iamos zeugen und so das Sehergeschlecht der Iamiden von Olympia begründen sollte (Pind. O. 6,27–70). Die Zusammenstellung der einzelnen Frauen, die jeweils zu einer gewissen Gruppe gehören, macht das inhaltliche Verständnis u. U. komplizierter, beeinflusst jedoch die rechnerische Lösung der Aufgabe nicht direkt. Die Gesamtanzahl der Äpfel (x) ergibt sich folgendermaßen:

1 1 1 1 1 x+ x+ x+ x+ x + 12 + 120 5 4 19 10 20 76 + 95 + 20 + 38 + 19 x + 132 380 248 x + 132 380 132 x

=

x

=

x

=

x

= =

Myrto hat also ursprünglich 380 Äpfel gepflückt. Literatur: Jacobs (1801) 344 f. 5 Rätsel von der Apfelteilung Metrodoros, AP XIV 119, Beckby Ἀντομέναις ποτὲ μῆλα φίλαις διεμοιρήσαντο Ἰνὼ καὶ Σεμέλη δώδεκα παρθενικαῖς. καὶ ταῖς μὲν Σεμέλη πόρεν ἄρτια· ταῖς δὲ περισσὰ δῶκε κασιγνήτη, μῆλα δ’ ἔχεν πλέονα. ἡ μὲν γὰρ τρισσῇσι τρί’ ἕβδομα δῶκεν ἑταίραις, ταῖς δὲ δύω πάντων πέμπτον ἔδωκε λάχος· ἕνδεκα δ’ Ἀστυνόμη μιν ἀφείλατο καί οἱ ἔλειπεν μοῦνα κασιγνήταις μῆλα δύω φερέμεν. ἡ δ’ ἑτέρη πισύρεσσι πόρεν δύο τέτρατα μήλων, πέμπτῃ δ’ ἑκταίην μοῖραν ἔδωκεν ἔχειν· τέσσαρα δ’ Εὐρυχόρῃ δῶρον πόρε· τέτρασι δ’ ἄλλοις μήλοισιν Σεμέλη μίμνεν ἀγαλλομένη.

132 x 380 380

E. I Arithmetische Aufgaben

527

Es trafen einst Ino und Semele zwölf liebe Gespielinnen und teilten Äpfel unter ihnen auf. Und Semele gab ihnen gerade Zahlen; ihre Schwester aber gab ihnen ungerade Zahlen, sie hatte mehr Äpfel. Sie gab nämlich drei Mädchen drei Siebtel, und zweien gab sie ein Fünftel von allen; elf aber nahm Astynome ihr und so blieben nur zwei Äpfel übrig, um sie ihrer Schwester zu bringen. Die andere aber gab vieren zwei Viertel, der fünften schenkte sie ein Sechstel; vier aber gab sie der Eurychore als Geschenk; vier andere Äpfel aber blieben zu Semeles Glück noch übrig.

Form: 6 elegische Distichen Erklärung: Ino und Semele verteilen Äpfel unter ihren Gespielinnen. Zu berechnen sind die Äpfel, die jede von ihnen zu Beginn besaß. Erschwert wird das Verständnis der Aufgabe dadurch, dass nur wenige der Beschenkten namentlich genannt, die meisten durchgezählt und dann sogar häufig zu Gruppen zusammengefasst sind. So ist z. B. nicht unmittelbar einsichtig, ob „dreien drei Siebtel geben“ bedeutet, jeder ein Siebtel und so insgesamt drei Siebtel, oder aber jeder einzelnen drei Siebtel zu geben. Ferner ähneln sich die Anteile häufig stark mit der Zahl der jeweils Beschenkten: Vieren werden Viertel gegeben, dreien Drittel usw., wodurch das (Hör-)Verständnis zusätzlich erschwert ist. Schließlich scheint v. 8 ein Paradoxon zu enthalten, wenn von den übrigen Äpfeln die Rede ist, die Ino ihrer Schwester bringt. Da Ino und Semele Schwestern sind, Semele aber selbst auch Äpfel verteilt, birgt diese Formulierung eine gewisse Unsicherheit. Gemeint ist aber wohl, dass Ino einer ihrer anderen Schwestern (Agaue oder Autonoe) die übrigen Äpfel mitbringt, während Semele die übrigen Äpfel für sich behält. Es ergeben sich folgende Apfelzahlen mit x = Gesamtapfelzahl der Ino, y = Gesamtapfelzahl der Semele: 1 3 x + x + 11 + 2 7 5 15 + 7 x + 13 35 22 x + 13 35 13

=

x

=

x

=

x

=

13 x 35

528

E Mathematische Rätsel

x

=

35

2 1 y+ y+4+4 6 4 12 + 4 y+8 24 16 y+8 24

=

y

=

y

=

y

8

=

y

=

8 y 24 24

Ino besaß zu Beginn 35 Äpfel, Semele 24. Literatur: Jacobs (1801) 345 f. E. I. 1.5 Nussraub 1 Rätsel vom Nussraub Metrodoros, AP XIV 116, Beckby Τίπτε με τῶν καρύων ἕνεκεν πληγῇσι πιέζεις, ὦ μῆτερ; τάδε πάντα καλαὶ διεμοιρήσαντο παρθένοι. ἦ γὰρ ἐμεῖο Μελίσσιον ἕβδομα δοιά, ἡ δὲ δυωδέκατον Τιτάνη λάβεν· ἕκτον ἔχουσιν καὶ τρίτον Ἀστυόχη φιλοπαίγμονες ἠδὲ Φίλιννα· εἴκοσι δ’ ἁρπάξασα Θέτις λάβε, δώδεκα Θίσβη· ἡ δ’, ὅρα, ἡδὺ γελᾷ Γλαύκη παλάμῃσιν ἔχουσα ἕνδεκα· τοῦτο δέ μοι καρύων περιλείπεται οἶον. Was willst du mich um der Nüsse willen schlagen, oh Mutter? Die haben alle die schönen Mädchen unter sich aufgeteilt. Denn die Tochter des Melisseus hat mir zwei Siebtel genommen, Titane aber ein Zwölftel; ein Sechstel und ein Drittel haben Astyoche und die spielliebende Philinna; zwanzig stahl Thetis, zwölf Thisbe; Glauke aber, sieh, hält mit süßem Lachen elf in Händen; diese eine aber der Nüsse ist für mich übriggeblieben.

Form: 8 Hexameter Erklärung: Es spricht ein Kind mit seiner Mutter (v. 2). Der naheliegende Vergleich mit AP XIV 3, lässt vermuten, dass auch hier Eros (als Sprecher) und Aphrodite gedacht sind.

E. I Arithmetische Aufgaben

529

Das Kind hatte offenbar den Auftrag, Nüsse zu besorgen, und wird nun getadelt, weil es nur eine einzige hat. Als entschuldigende Erklärung führt es an, dass ihm die ursprünglich gesammelten Nüsse von sieben Mädchen aus unterschiedlichen mythologischen Kontexten geraubt wurden. Dabei lassen sich nicht alle der genannten Namen eindeutig einer mythologischen Figur zuordnen. v. 3 Μελίσσιον ist wohl als Patronym „die Tochter des Melisseus“, d. h. als Melissa, Amme des Zeus, aufzufassen. v. 4 f.: Zu Titane (v. 4) und Philinna (v. 5) finde ich in der griechischen Mythologie keine passenden Identifikationsmöglichkeiten. Auf eine Philinna weist jedoch einerseits die fragmentarisch überlieferte Komödie desselben Namens des Hegemon von Thasos (PCG V, p. 546 f. K.-A.) hin, andererseits könnte der Name die Frau Philipps II., Philinna aus Larissa, bezeichnen. v. 5: Astyoche ist nach Graf (1997) 141 ein häufiger mythologisch-epischer Frauenname. Bekannte Namensträgerinnen sind beispielsweise (a) die Schwester von Agamemnon und Menelaos (Hyg. fab. 117) und (b) eine Tochter des Laomedon (Apollod. 3,12,3). v. 6: Thetis ist unter den genannten Figuren als Schönste unter den Nereiden und Achilles-Mutter sicher die berühmteste. Ebenfalls erweiterte Bekanntheit besitzt Thisbe, die babylonische Geliebte des Pyramus, die den Metamorphosen Ovids ihren Ruhm verdankt. v. 7: Die zuletzt genannte Glauke wiederum ist nicht eindeutig zu identifizieren. Neben der Gattin des Iason gibt es verschiedene Nymphen, eine Danaide sowie eine Amazone gleichen Namens, von denen eine nicht weniger als die andere Anrecht darauf hat, sich hier angesprochen zu fühlen. Dass hier Personal aus verschiedenen Mythen, und darunter auch als Individuen eher unbekannte Figuren größerer Gruppen (einzelne Nymphen, Amazonen, Danaiden), miteinander in Zusammenhang gebracht wird, lässt das Gesagte u. U. komplexer erscheinen und suggeriert eventuell fälschlicherweise, dass ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der Rechnung und dem narrativen Kontext besteht. Die ursprüngliche Zahl der Nüsse (x) berechnet sich folgendermaßen: 2 1 1 1 x + x + x + x + 20 + 12 + 11 + 1 7 12 6 3 24 + 7 + 14 + 28 x + 44 84 73 x + 44 84 11 x 84 x

=

x

=

x

=

x

=

44

=

336

530

E Mathematische Rätsel

Der Beraubte besaß ursprünglich 336 Nüsse. Literatur: Jacobs (1801) 343.

2 Rätsel vom Nussbaum Metrodoros, AP XIV 120, Beckby Ἡ καρύη πολλοῖσιν ἐβεβρίθει καρύοισιν· νῦν δέ τις ἐξαπίνης μιν ἀπέθρισεν. ἀλλὰ τί φησιν; „Ἐκ μὲν ἐμεῦ καρύων πέμπτον λάβε Παρθενόπεια· ὀγδόατον δὲ Φίλιννα φέρει λάχος, ἡ δ’ Ἀγανίππη τέτρατον· ἑβδομάτῳ δ’ ἐπιτέρπεται Ὠρείθυια· ἕκτην δ’ Εὐρυνόμη καρύων ἐδρέψατο μοίρην· τρισσαὶ δ’ ἓξ ἑκατὸν Χάριτες διεμοιρήσαντο· ἐννάκι δ’ ἐννέα Μοῦσαι ἐμεῦ λάβον· ἑπτὰ δὲ λοιπὰ δήεις ἀκρεμόνεσσιν ἐφήμενα τηλοτέροισιν.“ Der Nussbaum war schwer von den vielen Nüssen; nun aber fällte ihn plötzlich jemand. Aber was sagte er? „Von meinen Nüssen nahm ein Fünftel Parthenopeia; ein Achtel trug Philinna davon, Aganippe aber ein Viertel; über ein Siebtel aber freute sich Oreithyia; ein Sechstel aber der Nüsse pflückte Eurynome; die drei Chariten aber teilten untereinander hundertsechs auf; neunmal neun aber nahmen mir die Musen; sieben übrige aber findest du hängend an den äußersten Zweigen.

Form: 9 Hexameter Erklärung: Zu berechnen ist die ursprüngliche Zahl der Nüsse, die der gefällte Baum trug. Die genannten Räuberinnen stammen aus unterschiedlichen mythologischen Kontexten, die jedoch für die rechnerische Lösung der arithmetischen Rätselaufgabe nicht von Belang sind. Wunderlich scheint höchstens, wie die drei Chariten 106 Nüsse (gleichmäßig) untereinander aufteilen können. v. 3: Mit Parthenopeia befindet sich eine der Sirenen unter den Räuberinnen (Lykophr. Alex. 712 ff.). v. 4: Während ich für Philinna keine Identifikation anzugeben weiß, handelt es sich bei der im Anschluss angesprochenen Aganippe einerseits (a) um die Mutter der Danae, andererseits (b) um die berühmte Musenquelle. In Anbetracht der häufigen Assoziation der einzelnen Gestalten mit Wasser, wird man

E. I Arithmetische Aufgaben

531

geneigt sein, Aganippe hier eher als Quelle aufzufassen; vgl. Wernicke (1893) 731. v. 5: Mit Oreithyia ist unter den Räuberinnen eine ebenfalls wasseraffine Nymphe (Hom. Il. 18,48; Apollod. 1,2,7) v. 6: Eurynome ist zugleich die Tochter des Okeanos und damit ebenfalls eng mit dem Medium Wasser verbunden, und Mutter der Chariten, sodass hier bereits eine Überleitung zu den Schlussversen des Rätsels entsteht. vv. 7–8 nennen auch die Kollektive von Musen und Chariten als Nussräuber. Die Gesamtzahl der Nüsse (x) berechnet sich folgendermaßen: 1 1 1 1 1 x + x + x + x + x + 106 + 81 + 7 5 8 4 7 6 168 + 105 + 210 + 120 + 140 x + 194 840 743 x + 194 840 97 x 840 x

=

x

=

x

=

x

=

194

=

1.680

Der Baum trug 1.680 Nüsse; vgl. jedoch das Schol. z. St., welches nach Beckby 1.360 Nüsse als Lösung angibt. Literatur: Jacobs (1801) 346. 3 Rätsel von der Nusszahl Metrodoros, AP XIV 138, Beckby Νικαρέτη παίζουσα σὺν ἡλικιώτισι πέντε, ὧν εἶχεν, καρύων Κλεῖτ’ ἔπορεν τὸ τρίτον καὶ Σαπφοῖ τὸ τέταρτον, Ἀριστοδίκῃ δὲ τὸ πέμπτον, εἰκοστὸν Θεανοῖ καὶ πάλι δωδέκατον, εἰκοστὸν τέτρατον δὲ Φιλιννίδι· καὶ περιῆν δὲ πεντήκοντ’ αὐτῇ Νικαρέτῃ κάρυα. Als Nikarete mit fünf Gleichaltrigen spielte, gab sie von den Nüssen, die sie hatte, der Kleis ein Drittel und Sappho ein Viertel, der Aristodike aber ein Fünftel, ein Zwanzigstel und noch dazu ein Zwölftel der Theano, ein Vierundzwanzigstel aber der Philinnis; und es waren dann fünfzig Nüsse für Nikarete selbst übrig.

Form 3 elegische Distichen

532

E Mathematische Rätsel

Erklärung: Es handelt sich um eine einfache arithmetische Rechenaufgabe. Das im erzählerischen Rahmen der Aufgabe vorgeführte, größtenteils wohl (anders als in AP XIV 116) historische Personal lässt sich nicht in allen Fällen eindeutig identifizieren. Auf die konkrete Lösung der Rechenaufgabe hat eine solche Identifikation jedoch freilich keinen Einfluss. v. 1: Für die genannte Nikarete scheint es zwei Identifikationsmöglichkeiten zu geben. Bekannt sind (a) eine namhafte Hetäre des Namens (5./4. Jh. v. Chr.) aus Korinth sowie (b) eine Schülerin des megarischen Philosophen Stilpon (4. Jh.). Beide Ausdeutungen passen, wie sich zeigen wird, gleichermaßen zu den übrigen Frauengestalten und in Anbetracht der Tatsache, dass zwischen beiden Figuren offenbar schon in der Antike keine eindeutige Trennschärfe besteht, ist eine Festlegung hier eventuell unnötig (Diog. Laert. 2,115–118). v. 2 nennt Kleis als eine der Empfängerinnen der Nüsse und bezieht sich dabei möglicherweise auf die gleichnamige Tochter der Sappho, welche selbst im folgenden Vers auftritt. v. 3 nennt zunächst die berühmte lesbische Dichterin Sappho (7./6. Jh. v. Chr.) und anschließend eine gewisse, heute offenbar gänzlich unbekannte Aristodike. v. 4: Für Theano gibt es einerseits eine mythologische Identifikation als Danaide, andererseits, und das liegt in Anbetracht der Historizität der übrigen Frauengestalten hier wohl näher, handelt es sich bei Theano um eine der bekanntesten Frauen aus dem Kreise der Pythagoreer (6./5. Jh. v. Chr.), der man sogar eine Liebesbeziehung mit dem Philosophen nachsagte; vgl. Fritz (1934) 1379–1381. v. 5: Die zuletzt genannte Philinnis könnte auf die für ihre Schrift über die unterschiedlichen Liebesstellungen beim Geschlechtsverkehr berühmte Philinnis von Samos (3. Jh. v. Chr.) deuten (Polybios 12,13,1). Das erotische Metier würde dann einen Bogen von der korinthischen Hekate über Sappho mit ihrer Mädchenschule und den z. T. erotischen Gedichten bis zur Verfasserin des Erotikhandbuchs schlagen. Die megarische Philosophenschülerin Nikarete wäre andererseits besonders mit der Pythagoreerin Theano besonders eng verbunden. Bemerkenswert ist an der Nennung der unterschiedlichen Frauennamen, dass es sich um Personen handelt, die z. T. aus ganz unterschiedlichen Jahrhunderten stammen, sich also realiter niemals begegnet sein können. Für die Rechnung ergibt sich: 1 1 1 1 1 1 x+ x+ x+ x+ x+ x + 50 3 4 5 12 20 24

=

x

E. I Arithmetische Aufgaben

80 + 60 + 48 + 20 + 12 + 10 x + 50 240 230 x + 50 240 10 x 240 x

=

x

=

x

=

50

=

1.200

533

Nikarete hatte ursprünglich 1.200 Nüsse, von denen sie 1.150 verteilte. Literatur: Jacobs (1801) 358 f.

E. I. 1.6 Tageszeit 1 Rätsel von den Stunden Metrodoros, AP XIV 6, Beckby Ὡρονόμων ὄχ’ ἄριστε, πόσον παρελήλυθεν ἠοῦς; „Ὅσσον ἀποιχομένοιο δύο τρίτα, δὶς τόσα λείπει.“ A.: Bester der Zeiteinteiler, wie viel ist seit Tagesanbruch vergangen? B.: Von dem Vergangenen zwei Drittel, davon das Doppelte bleibt noch übrig.

Form: 2 Hexameter Erklärung: Nach der Beschreibung ist der Tag aus zwei Teilen, der vergangenen Zeit und der noch übrigen Zeit zusammengesetzt. In gegenseitiger Abhängigkeit von einander wird bestimmt, wie viel Zeit schon vergangen bzw. noch übrig ist, d. h. auch welche Uhrzeit gerade ist. Die Frage, deren zugehörige Antwort die rätselhafte arithmetische Aufgabe beinhaltet, richtet sich entsprechend an einen ὡρονόμος, eine Uhr. Für einen 12-Stunden-Tag lässt sich die Aufgabe mit x = vergangene Stunden des Tages, y = noch übrige Stunden des Tages folgendermaßen lösen: 12

=

x+y

y

=

2⋅

2 x 3

=

4 x 3

12

=

x+

4 x 3

=

7 x 3

534

E Mathematische Rätsel

36 7

=

5

1 7

=

x

y

=

12 − x

=

12 − 5

1 7

=

6

6 7

7 1

6

7

7

Vergangen sind demnach 5 Stunden, es verbleiben somit 6

Stunden.

2 Rätsel von der Tageszeit Metrodoros, AP XIV 139, Beckby Γνωμονικῶν Διόδωρε μέγα κλέος, εἰπέ μοι ὥρην, ἡνίκ’ ἀπ’ ἀντολίης πόλον ἥλατο χρύσεα κύκλα ἠελίου. —„Τοῦ δή τοι ὅσον τρία πέμπτα δρόμοιο, τετράκι τόσσον ἔπειτα μεθ’ Ἑσπερίην ἅλα λείπει.“ A.: Der Zeitmesser großer Ruhm, Diodoros, sag mir die Stunden, seit vom Osten her über den Horizont sich das goldene Rad der Sonne erhob. B.: Drei Fünftel des jetzigen Ablaufs, viermal so viel ist übrig, dann sinkt es in das Westmeer zurück.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Ein Tag setzt sich zusammen aus der jeweils schon vergangenen und gerade noch bevorstehenden Zeit. Beide Teile werden in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander bestimmt. Für einen Tag mit 12 Stunden ergibt sich folgende Lösung mit x = vergangene Stunden des Tages, y verbleibende Stunden des Tages: 12

=

x+y

y

=

4⋅

3 x 5

12

=

x+

12 x 5

x

=

60 17

y

=

12 − 3

9 17

=

17 x 5

=

3

9 17

=

8

8 17

E. I Arithmetische Aufgaben

Es sind 3

3 19

Stunden vergangen, 8

8 17

535

Stunden des Tages sind noch übrig.

Literatur: Jacobs (1801) 359.

3 Rätsel vom Zeitpunkt der Mondfinsternis Metrodoros, AP XIV 140, Beckby Ζεῦ μάκαρ, ἦ ῥά τοι ἔργα τάδ’ εὔαδεν, οἷα γυναῖκες Θεσσαλικαὶ παίζουσι; μαραίνεται ὄμμα Σελήνης ἐκ μερόπων· ἴδον αὐτός· ἔην δ’ ἔτι νυκτὸς ἐπ’ ἠῶ δὶς τόσον ὅσσα δύ’ ἕκτα καὶ ἕβδομον οἰχομένοιο. Glückseliger Zeus, gefallen dir etwa die Werke, die Frauen aus Thessalien im Spiel verrichten? Verfinstert wird das Auge Selenes von Menschen ich habe es selbst gesehen. Es war von der Nach bis zum Morgengrauen noch übrig zweimal so viel wie zwei Sechstel und ein Siebtel des Vergangenen.

Form: 4 Hexameter Erklärung: Der Sprecher beschreibt den Zeitpunkt einer Mondfinsternis, die gemäß der antiken Vorstellung von thessalischen Zauberinnen herbeigeführt wurde, die den Mond zur Erde herabzogen; vgl. hierzu Balss (1949) 236; Bicknell (1983) 160– 163. Den Mond benennt er dabei ganz rätseltypisch metaphorisch als Auge der Selene (ὄμμα Σελήνης) eine Analogie, die wohl vorrangig auf der runden Form von Auge und Mond beruht. Die Zeitangabe bezieht sich auf das Verhältnis zwischen vergangenem und bevorstehendem Teil der Nacht und berechnet sich für eine Nacht mit 12 Stunden für x = vergangene Stunden der Nacht, y = bevorstehende Stunden der Nacht folgendermaßen: 12

=

x+y

y

=

2⋅

2 1 x+2⋅ x 6 7

=

28 + 12 x 42

12

=

x+

40 x 42

=

80 x 42

x

=

504 82

=

6

12 82

=

40 x 41

=

6

6 41

536

y

E Mathematische Rätsel

=

12 − 6

6 41

=

Die Mondfinsternis fand statt, als 6 ren und 5

35 41

5 6 41

35 41

Stunden der Nacht schon vergangen wa-

Stunden noch bevorstanden, bis die Sonne wieder aufging.

Literatur: Jacobs (1801) 359 f. 4 Rätsel von der Tageszeit bei einer Geburt Metrodoros, AP XIV 141, Beckby Ἀπλανέων ἄστρων παρόδους τ’ ἐπὶ τοῖσιν ἀλητῶν εἰπέ μοι, ἡνίκ’ ἐμὴ χθιζὸν ἔτικτε δάμαρ. „Ἦμαρ ἔην, ὅσσον τε δὶς ἕβδομον ἀντολίηθεν, ἑξάκι τόσσον ἔην Ἑσπερίην ἐς ἅλα.“ A.: Die Umläufe der wandernden Planeten und von den Sternen sage mir, als gestern meine Frau ein Kind gebar. B.: Es war Tag und zwei Siebtel vom Osten her, sechsmal so viel war es, bis zum Westmeer.

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Jemand, der am vorigen Tag (offenbar in Abwesenheit) Vater geworden ist, fragt nach dem genauen Zeitpunkt der Geburt (allerdings indirekt, indem er sich auf Lauf und Stand der Planeten und Sterne bezieht). Die Antwort ist eine Beschreibung der bei der Geburt schon vergangenen und danach noch folgenden Stunden des Tages. Im Hintergrund steht die Bestimmung des Tagesablaufs durch die Sonne, die im Osten aufgeht und im Westen (ins Meer) wieder untergeht. Die räumliche Orientierung (Ost West) steht metaphorisch-stellvertretend für entsprechende chronologische Angaben, die Sonne als Akteur muss sich der Rezipient hinzudenken, da die Beschreibung anderenfalls wie eine Wegbeschreibung von A nach B klingt. Der Zeitpunkt der Geburt berechnet sich, einen 12-Stunden-Tag vorausgesetzt, bei x = vergangene Stunden des Tages, y = noch bevorstehende Stunden des Tages folgendermaßen: 12

=

x+y

y

=

6

2 x 7

=

12 x 7

E. I Arithmetische Aufgaben

12 x 7

12

=

x+

x

=

84 19

y

=

12 − 4

8 19

=

19 x 7

=

4

8 19

=

7

11 19

8

537

11

Bei der Geburt des Kindes waren somit 4 Stunden des Tages vergangen, 7 19 19 Stunden standen noch bevor.

5 Rätsel von der Tageszeit Metrodoros, AP XIV 142, Beckby Ἔγρεσθ’, Ἠριγένεια παρέδραμε· πέμπτον, ἔριθοι, λειπομένης τρισσῶν οἴχεται ὀγδοάτων. Wacht auf, die Morgenröte verblasst schon! Ein Fünftel, Arbeiterinnen, von drei Achteln der übrigen Zeit ist vergangen.

Form: elegisches Distichon Erklärung: Anders als in den übrigen arithmetischen Rätselaufgaben zur Tageszeit wird hier die vergangene Zeit in Abhängigkeit von der verbleibenden beschrieben, nicht umgekehrt. Der Zeitpunkt, zu dem die Sklavinnen geweckt werden, berechnet sich für einen 12-Stunden-Tag mit x = vergangene Stunden des Tages, y = verbleibende Stunden des Tages folgendermaßen: 12

=

x+y

x

=

1 3 + y 5 8

12

=

3 y+y 40

=

43 y 40

y

=

480 43

=

11

x

=

12 − 11

=

36 43

7 43

7 43

538

E Mathematische Rätsel

Als die Sklavinnen geweckt werden, ist es noch sehr früh, es ist noch keine 36

7

43

43

ganze Stunde ( ) des Tages vergangen. 11

Stunden stehen noch aus.

Literatur: Jacobs (1801) 360 f. E. I. 1.7 Vermögensverteilung 1 Rätsel vom Erbe für die beiden Söhne Metrodoros, AP XIV 11, Beckby Τοὺς χιλίους στατῆρας, οὓς ἐκτησάμην, λαβεῖν κελεύω τοὺς ἐμοὺς παῖδας δύο· πλὴν γνησίου τὸ πέμπτον ηὐξήσθω δέκα μέτρου τετάρτου τῶν λαχόντων τῷ νόθῳ. Die tausend Statere, die ich besitze, sollen, so verfüge ich, meine beiden Söhne an sich nehmen; aber es soll das Fünftel des leiblichen Sohnes höher sein um zehn als das Viertel, das dem Bastard nach seinem Los zufällt.

Form: 4 iambische Trimeter Erklärung: Die ungleiche Aufteilung des Erbes auf zwei Söhne wird anhand des Verhältnisses beider Teile zueinander beschrieben. Für x = Erbe des leiblichen Sohnes und y = Erbe des Bastards ergibt sich folgende Gleichung: x+y

=

1.000

1 x 5

=

1 y + 10 4

x

=

5 y + 50 4

=

1.000

=

1.000

=

950

=

422

5 y + 50 + y 4 9 y + 50 4 9 y 4 y

2 9

E. I Arithmetische Aufgaben

x

=

1.000 − 422

2 9

=

577

539

7 9

7

Der leibliche Sohn erhält mit 577 Stateren natürlich einen größeren Anteil des 2 9 Erbes als der Bastard, der 422 Statere erhält. 9

2 Rätsel von der Vermögensberechnung Metrodoros, AP XIV 51, Beckby Ἔχω τὸν ἑξῆς καὶ τὸ τοῦ τρίτου τρίτον. — Κἀγὼ τὸν ἑξῆς καὶ τὸ τοῦ πρώτου τρίτον.‛ — „Κἀγὼ δέκα μνᾶς καὶ τὸ τοῦ μέσου τρίτον.“ A.: B.: C.:

Ich habe den Teil des nächsten und des Dritten Drittel. Und ich habe den Teil des nächsten und des Ersten Drittel. Und ich habe zehn Minen und des Mittleren Drittel.

Form: 3 iambische Trimeter Erklärung: Drei Parteien, beispielsweise drei Brüder, beschreiben ihren Anteil an einem Ganzen, beispielsweise einem Erbe, jeweils in Abhängigkeit voneinander. Die Verständlichkeit der Aufgabe wird erschwert dadurch, dass „der nächste“ (τὸν ἑξῆς ) sich ebenso wie das Drittel (τὸ τρίτον) jedes Mal auf eine andere Partei bezieht. Die Anteile lassen sich folgendermaßen berechnen für a = Anteil der ersten Partei, b = Anteil der zweiten Partei, c = Anteil der dritten Partei:

a

=

b+

1 c 3

b

=

c+

1 a 3

c

=

10 +

a

=

c+

2 a 3 a

= =

4 c 3 2c

1 b 3

1 1 a+ c 3 3

540

E Mathematische Rätsel

1 c 3

2c

=

b+

b

=

5 c 3

c

=

10 +

4 c 9

=

10

c

=

b

=

a

=

1 5 ⋅ c 3 3

90 4 (22,5 − 10) ⋅ 3 1 45 37,5 + ⋅ 3 2

=

10 +

=

22

=

2 4 37,5

=

45

5 c 9

=

22,5

Die erste Partei verfügt über 45 Anteile des Ganzen, die zweite über 37,5 Anteile und die dritte Partei besitzt 22,5 Anteile. Literatur: Jacobs (1801) 340 f.

3 Rätsel von der Vermögensberechnung Metrodoros, AP XIV 123, Beckby Πέμπτον μοι κλήρου, παῖ, λάμβανε· δωδέκατον δὲ δέξο, δάμαρ· πίσυρες δ’ υἱέος οἰχομένου παῖδες ἀδελφειοί τε δύω καὶ ἀγάστονε μῆτερ, ἑνδεκάτην κλήρου μοῖραν ἕκαστος ἔχε. αὐτὰρ ἀνεψιαδοῖ δυοκαίδεκα δέχθε τάλαντα· Εὔβουλος δ’ ἐχέτω πέντε τάλαντα φίλος. πιστοτάτοις δμώεσσιν ἐλευθερίην καὶ ἄποινα, μισθὸν ὑπηρεσίης, τοῖσδε δίδωμι τάδε· ὧδε δὲ λαμβανέτωσαν· Ὀνήσιμος εἰκοσιπέντε μνᾶς ἐχέτω, Δᾶος δ’ εἴκοσι μνᾶς ἐχέτω, πεντήκοντα Σύρος, Συνετὴ δέκα, Τίβιος ὀκτώ· ἑπτὰ δὲ μνᾶς Συνετῷ παιδὶ δίδωμι Σύρου. ἐκ δὲ τριηκόντων κοσμήσατε σῆμα ταλάντων· ῥέζετε δ’ Οὐδαίῳ Ζανὶ θυηπολίην· δισσῶν ἐς δὲ πυρὴν καὶ ἄλφιτα καὶ τελαμῶνας· εἰκαίην δοιῶν σῶμα χάριν λαβέτω. Ein Fünftel meines Vermögens, Kind, nimm: ein Zwölftel aber soll dir gegeben sein, Frau; die vier Kinder meines verstorbenen Sohnes, meine beiden Brüder und meine laut klagende Mutter,

541

E. I Arithmetische Aufgaben

ein Elftel des Vermögens nehmt jeder als euren Anteil. Aber ihr Vettern nehmt zwölf Talente; aber mein Freund Eubulos soll 5 Talente haben. Den treuesten Sklaven gebe ich die Freiheit und Loskaufgeld und als Lohn für ihre Dienste folgendermaßen: So aber sollen sie es nehmen: Onesimos soll 23 Minen haben, Doas aber 20, 50 Syros, Synete zehn, Tibios acht; sieben Minen aber gebe ich Synetos, dem Sohn des Syros. Aus 30 Talenten errichtet und schmückt mein Grabmal, gebt auch dem Zeus die entsprechenden Opfer; von zwei Talenten bezahlt den Holzstoß und den Leichenschmaus und Totenbänder; und schließlich sollen zwei Talente verwendet werden, um meinem Körper nichtige Ehre zu erweisen.

Form: 8 elegische Distichen Erklärung: In der Art eines Testamentes ist die anteilige Verteilung eines Erbes auf verschiedene Personen beschrieben. Aus den Angaben lässt sich der Wert des gesamten Erbes (x) folgendermaßen errechnen: 1 1 7 25 + 20 + 50 + 10 + 8 + 7 x + x + x + 12 + 5 + + 30 + 2 + 2 5 12 11 60 132 + 55 + 420 120 x + 51 + 660 60 607 x + 53 660 53 x 660 x = 660 Das verteilte Gesamtvermögen beläuft sich auf 660 Talente. Literatur: Jacobs (1801) 348–350. 4 Rätsel von der ungleichen Vermögensverteilung Metrodoros, AP XIB 128, Beckby Οἷον ἀδελφειός μ’ ἐβιήσατο, πέντε τάλαντα οὐχ ὁσίῃ μοίρῃ πατρικὰ δασσάμενος. ἑπτὰ κασιγνήτοιο τόδ’ ἑνδεκάτων πολύδακρυς πέμπτον ἔχω μοίρης. Ζεῦ, βαθὺν ὕπνον ἔχεις.

=

x

=

x

=

x

=

53

542

E Mathematische Rätsel

Wie hat mich mein Bruder betrogen, als er die fünf väterlichen Talente nicht gleichmäßig unter uns verteilte. Von sieben Elfteln des brüderlichen Anteils habe ich, in Tränen aufgelöst, ein Fünftel. Zeus, du hast einen sehr tiefen Schlaf!

Form: 2 elegische Distichen Erklärung: Die Verteilung des Erbes auf zwei Söhne lässt sich in folgender Gleichung für x = Anteil des betrogenen Sohnes, y = Anteil des Betrügers abbilden: x+y = 5 x

=

1 7 ⋅ y 5 11

=

7 y 55

=

4

=

35 62

7 y+y = 5 55 62 y = 5 55 y

=

275 62

x

=

5−4

27 62

27 62

Die Ungerechtigkeit der Aufteilung und die entsprechenden Anrufe, die der Sprecher an Zeus und seine Zuhörer richtet, sind für die Lösung der arithmetischen Rechenaufgabe ohne Belang. Der Betrüger hat sich 4

27 62

Talente verschafft 35

und seinem Bruder nicht einmal ein ganzes Talent, sondern nur eines Talents 62 gelassen. Literatur: Jacobs (1801) 351 f.

5 Rätsel von der Vermögensteilung Metrodoros, AP XIV 143, Beckby Σύρτιος ἐν τενάγεσσι πατὴρ θάνεν· ἐκ δ’ ἄρ’ ἐκείνης πέντε τάλαντα φέρων ἤλυθε ναυτιλίης οὗτος ἀδελφειῶν προφερέστατος. ἦ γὰρ ἔμοιγε δῶκεν ἑῆς μοίρης διπλάσιον τριτάτων δοιῶν, ἡμετέρης δὲ δύ’ ὄγδοα μητέρι μοίρης ὤπασεν, οὐδὲ δίκης ἤμβροτεν ἀθανάτων.

E. I Arithmetische Aufgaben

543

In den Untiefen der Syrte kam mein Vater zu Tode; von der Seefahrt aber zurück kam mein ältester Bruder und er brachte fünf Talente mit. Aber mir gab er zweimal zwei Drittel seines Teils, unserer Mutter aber zwei Achtel des Teils (den wir beide hatten), und er hat damit nicht das Recht der Unsterblichen verletzt.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Das Vermögen des Vaters, das sich auf 5 Talente beläuft, wird auf drei Parteien, die beiden Söhne und die Mutter, zu unterschiedlichen Anteilen, die in gegenseitiger Abhängigkeit beschrieben sind, verteilt. Sie lassen sich für a = Anteil des jüngeren Bruders, b = Anteil des Ältesten, c = Anteil der Mutter folgendermaßen bestimmen: a+b+c

= 5

a

= 2⋅

c

=

2 b 3

=

4 b 3

2 2 4 ⋅ (a + b) = ⋅ ( b + b) 8 8 3

4 14 b+b+ b 3 24 32 + 24 + 14 b 24 70 b 24

=

2 7 + b 8 3

=

5

=

5

=

14 1b 24

= 5

b

=

120 70

=

1

50 70

a

=

4 120 ⋅ 3 70

=

2

2 7

c

=

2

2 2 5 ⋅ (2 + 1 ) 8 7 7

=

2 ⋅4 4

=

1

=

1

5 7

5

Der älteste Bruder behält 1 Talente für sich, gibt einen größeren Anteil, näm2

7

lich 2 Talente an seinen Bruder und 1 Talent an die gemeinsame Mutter. 7

Literatur: Jacobs (1801) 361 f.

544

E Mathematische Rätsel

E. I. 1.8 Sonstige 1 Rätsel von der Anzahl der Pythagorasschüler Metrodoros, AP XIV 1, Beckby; S 361 Ὄλβιε Πυθαγόρη, Μουσέων Ἑλικώνιον ἔρνος, εἰπέ μοι εἰρομένῳ, ὁπόσοι σοφίης κατ’ ἀγῶνα σοῖσι δόμοισιν ἔασιν ἀεθλεύοντες ἄριστα. „Τοιγὰρ ἐγὼν εἴποιμι, Πολύκρατες· ἡμίσεες μὲν ἀμφὶ καλὰ σπεύδουσι μαθήματα· τέτρατοι αὖτε ἀθανάτου φύσεως πεπονήαται· ἑβδομάτοις δὲ σιγὴ πᾶσα μέμηλε καὶ ἄφθιτοι ἔνδοθι μῦθοι· τρεῖς δὲ γυναῖκες ἔασι, Θεανὼ δ’ ἔξοχος ἄλλων. τόσσους Πιερίδων ὑποφήτορας αὐτὸς ἀγινῶ.“ A.: Edler Pythagoras, Nachfahre der helikonischen Musen, sage mir, der ich frage, wie viele Schüler hast du auf dem Kampfplatz der Weisheit, die danach streben, den ersten Preis zu erlangen. B.: So will ich es dir denn sagen, Polykrates: die Hälfte nämlich beschäftigt sich mit der schönen Mathematik; ein Viertel aber bemühte sich mit den unsterblichen Erscheinungen; ein Siebtel aber verwendet Mühe auf völliges Schweigen und bewahrt die unvergängliche Lehre; es gibt aber drei Frauen, Theano aber den anderen voran. So viele mache ich selbst zu Priestern der Pieriden.

Form: 9 Hexameter Erklärung: Polykrates, der Tyrann von Samos, fragt seinen Zeitgenossen Pythagoras nach der Anzahl von dessen Schülern und erhält als Antwort eine arithmetische Rechenaufgabe, in der die Anteile der Schülerschaft, die auf unterschiedliche Disziplinen spezialisiert sind, genannt werden. Für p = Gesamtzahl der Pythagorasschüler lässt diese sich folgendermaßen berechnen: 1 1 1 p+ p+ p+3 = p 2 4 7 14 + 7 + 4 p+3 = p 28 25 p+3 = p 28 3 p

3 p 28 = 28

=

E. I Arithmetische Aufgaben

545

Pythagoras hat insgesamt 28 Schüler, davon drei Frauen, 14 Mathematiker, 7 Erforscher des Unsterblichen und 4 schweigende Eingeweihte. Literatur: Jacobs (1801) 335 f. 2 Rätsel von der Zahl der Augias-Rinder Metrodoros, AP XIV 4, Beckby; S 352 Αὐγείην ἐρέεινε μέγα σθένος Ἀλκεΐδαο πληθὺν βουκολίων διζήμενος· ὃς δ’ ἀπάμειπτο· „Ἀμφὶ μὲν Ἀλφειοῖο ῥοάς, φίλος, ἥμισυ τῶνδε· μοίρη δ’ ὀγδοάτη ὄχθον Κρόνου ἀμφινέμονται· δωδεκάτη δ’ ἀπάνευθε Ταραξίπποιο παρ’ ἱρόν· ἀμφὶ δ’ ἄρ’ Ἤλιδα δῖαν ἐεικοστὴ νεμέθονται· αὐτὰρ ἐν Ἀρκαδίηφι τριηκοστὴν προλέλοιπα· λοιπὰς δ’ αὖ λεύσσεις ἀγέλας τόδε πεντήκοντα.“ Die Anzahl der Rinder des Augias wollte der Alkide wissen und fragte; der aber antwortete: „Um die Strömung des Alpheios, mein Freund, befindet sich die Hälfte der Rinder; ein Achtel aber grast auf dem Hügel des Kronos; ein Zwölftel aber ist weit entfernt am Heiligtum des Taraxippos; um Elis herum aber weidet ein Zwanzigstel; aber ein Dreißigstel habe ich in Arkadien gelassen; die übrigen wiederum aus der Herde, diese fünfzig, siehst du hier.

Form: 8 Hexameter Erklärung: In einem fiktiven Gespräch zwischen Herakles, ganz rätseltypisch nicht mit seinem Namen, sondern nach seinem Großvater als Alkide bezeichnet, und dem Helios-Sohn Augias, dessen Rinderställe Herakles als eine der ihm von Eurystheus auferlegten Aufgaben reinigen musste, fragt der Heros nach der Anzahl der Rinder. Als Antwort erhält er eine rätselhafte arithmetische Aufgabe, in welcher verschiedene Anteile der Herde nach ihren Standorten getrennt aufgezählt werden. Der genannte Kronoshügel liegt bei Olympia, so ebenfalls das Heiligtum des Heros Taraxippos (vv. 4–5). Daraus lässt sich für x = Gesamtzahl der Rinder dieselbe folgendermaßen berechnen: 1 1 1 1 1 x+ x+ x+ x+ x + 50 2 8 12 20 30 60 + 15 + 10 + 6 + 4 x + 50 120

=

x

=

x

546

E Mathematische Rätsel

95 x + 50 120

=

50

=

x

=

x 25 x 120 240

Die Gesamtzahl von 240 Rindern mag beträchtlich erscheinen, reicht jedoch längst nicht an die Zahl der mythologischen Überlieferung für die Rinder der Sonnengottes auf Sizilien heran, vgl. AP App. VII (Archimedes) sowie Hom. Od. 12,127–136. Literatur: Jacobs (1801) 365 f.

3 Rätsel über die Reise von Gades nach Rom Metrodoros, AP XIV 121, Beckby Ἑπτάλοφον ποτὶ ἄστυ Γαδειρόθεν, ἕκτον ὁδοῖο Βαίτιος εὐμύκους ἄχρις ἐς ἠιόνας· κεῖθεν δ’ αὖ πέμπτον Πυλάδου μετὰ Φώκιον οὖδας· Ταύρη χθὼν βοέης οὔνομ’ ἀπ’ εὐετίης· Πυρήνην δέ τοι ἔνθεν ἐπ’ ὀρθόκραιρον ἰόντι ὄγδοον ἠδὲ μιῆς δωδέκατον δεκάτης. Πυρήνης δὲ μεσηγὺ καὶ Ἄλπιος ὑψικαρήνου τέτρατον· Αὐσονίης αἶψα δυωδέκατον ἀρχομένης ἤλεκτρα φαείνεται Ἠριδανοῖο. ὦ μάκαρ, ὃς δισσὰς ἤνυσα χιλιάδας, πρὸς δ’ ἔτι πέντ’ ἐπὶ ταῖς ἑκατοντάδας ἔνθεν ἐλαύνων· ἡ γὰρ Ταρπείη μέμβλετ’ ἀνακτορίη. Zur Stadt der sieben Hügel von Gades aus, ein Sechstel der Reise bis zum Strand des Baitis, wo lautes Viehgebrüll herrscht; von dort aber ein Fünftel bis zum phokischen Land des Pylades, das „Land der Stiere“ heißt, obwohl es viele Rinder hervorbringt; von dort zum hochaufragenden Pyrenäengebirge aber ist es für den Reisenden ein Achtel und ein Hundertzwanzigstel. Von den Pyrenäen aber bis zum riesigen Gipfel der Alpen ein Viertel; es kommt dann bald ausonisches Gebiet und ein Zwölftel ist es bis zum Bernstein führenden Eridanos. Ich Glücklicher, der ich 2.000 Stadien und fünfmal 100 weiter noch gereist bin; denn dort erstreckt sich der gebieterische Tarpejische Felsen.

Form: 6 elegische Distichen

E. I Arithmetische Aufgaben

547

Erklärung: Der Sprecher schildert eine (fiktive) Reise von Gades (in Südspanien) nach Rom metaphorisch umschrieben als die Stadt der sieben Hügel. Die Gesamtlänge der Reiseroute benennt er nicht, doch er beschreibt, welchen Anteil des Ganzen einzelne Etappen eingenommen haben. vv. 1–2: Der Baitis ist ein spanischer Fluss, der nahe Gades ins Meer mündet. vv. 3–4: Pylades ist als Sohn des Königs Strophios Herrscher über Phokis, einer Landschaft in Mittelgriechenland. Jene griechische Landschaft kann aber natürlich in diesem Zusammenhang unmöglich gemeint sein, da sie weit außerhalb der beschrittenen Route liegt. Es muss vielmehr ein spanisches Phokis geben, auf welches zur Erzeugung von Ungewissheit unter Bezugnahme auf den griechischen Prinzen angespielt wird. Beckby IV (1958) 532 z. St. verweist auf das Volk der Vaccaer am Duero im Norden der iberischen Halbinsel, das auch namentlich mit dem Rind (vacca) verwandt ist. vv. 5–6: Die Pyrenäen trennen als Gebirgskette die iberische Halbinsel im Norden von dem übrigen Europa. vv. 7–8: Die Alpen markieren als zweites Gebirge den Eingang nach Italien von Norden her. Ausonia ist entsprechend die griechische Bezeichnung für ganz Italien, das der Reisende von Norden her betritt. v. 9: Die nächste Etappe führt bis zum Fluss Eridanos, der den norditalienischen Po bezeichnet. v. 12: Als Tarpejischer Felsen war schließlich die südliche Spitze des Kapitolshügels in Rom bekannt. Vgl. insgesamt Beckby IV (1958) 531 z. St.; ferner CIL 11,3281–3284. So lässt sich schließlich die gesamte Reisestrecke (x) folgendermaßen berechnen: 1 1 1 1 1 1 x+ x+ x+ x + x + x + 2.500 6 5 8 120 4 12 20 + 24 + 15 + 1 + 30 + 10 x + 2.500 120 100 x + 2.500 120 20 x 120 x

=

x

=

x

=

x

=

2.500

=

15.000

Die Länge der Reise von Gades nach Rom auf dem vorgegebenen Weg beträgt nach der Beschreibung des Sprechers 15.000 Stadien. Beckby IV (1958) 531 z. St. gibt erstaunlicherweise 1.500 Stadien als Lösung an, wobei es sich wohl um einen Tippfehler handelt.

548

E Mathematische Rätsel

Literatur: Jacobs (1801) 346–348. 4 Rätsel vom Geldraub Metrodoros, AP XIV 122, Beckby Εὐβλεφάροιο Δίκης ἱερὰ κρήδεμνα μιήνας, ὄφρα σε, πανδαμάτωρ χρυσέ, βλέποιμι τόσον, οὐδὲν ἔχω· πίσυρας γὰρ ἐπ’ οὐκ ἀγαθοῖσι ταλάντων οἰωνοῖσι μάτην δῶκα φίλοις δεκάδας· ἥμισυ δ’ αὖ τρίτατόν τε καὶ ὄγδοον, ὦ πολύμορφοι ἀνθρώπων κῆρες, ἐχθρὸν ἔχοντα βλέπω. Der scharfblickenden Dike heiligen Schleier zerriss ich, auf dass ich sähe, allesbezwingendes Gold, was ich nicht habe; 40 Talente nämlich gab ich Dummer nicht unter guten Vorzeichen meinen Freunden; die Hälfte aber wiederum und ein Drittel und ein Achtel, oh vielfältige Kümmernisse der Menschen, besitzt, wie ich sehe, mein Feind.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Bei dem Sprecher scheint es sich um einen Dieb zu handeln, oder doch um jemanden, der unrechtmäßig an Geld gekommen ist, und nun von der scharfsichtigen Dike bestraft wird, indem ihm selbst das Geld wieder abhandenkommt; vgl. hierzu auch Beckby z. St. Sowohl Dikes Auge als auch das Zerreißen ihres Schleiers sind metaphorische Ausdrücke, die für Gerechtigkeit und Verletzung von gerechten Regeln stehen. Diese Zusammenhänge muss ein Rezipient des Rätsels sich zunächst erschließen, bevor er folgendermaßen die Summe des Geldes (x), welches der Sprecher zunächst gestohlen und dann wieder verloren hat, folgendermaßen berechnen kann: x

=

1 1 1 x + x + x + 40 2 3 8

x

=

12 + 8 + 3 x + 40 24

x

=

23 x + 40 24

1 x = 40 24 x = 960 Der Sprecher berichtet also von insgesamt 960 gestohlenen Talenten.

E. I Arithmetische Aufgaben

549

Literatur: Jacobs (1801) 348.

5 Rätsel von den Kindern der Philinna Metrodoros AP XIV 125, Beckby Τύμβος ἐγώ· κεύθω δὲ πολύστονα τέκνα Φιλίννης τοῖον μαψιτόκων καρπὸν ἔχων λαγόνων· πέμπτον ἐν ἠιθέοις, τρίτατον δ’ ἐνὶ παρθενικῇσιν, τρεῖς δέ μοι ἀρτιγάμους δῶκε Φίλιννα κόρας· λοιποὶ δ’ ἠελίοιο πανάμμοροι ἠδὲ καὶ αὐδῆς τέσσαρες ἐκ λαγόνων εἰς Ἀχέροντα πέσον. Ich, das Grab: ich berge die vielbetrauerten Kinder der Philinna, so viele der Mutterschoß vergeblich hervorbrachte: Ein Fünftel in mir sind Knaben, ein Drittel aber junge Mädchen, drei Mädchen aber übergab mir Philinna, als sie gerade verheiratet waren; die übrigen vier aber gingen, bevor sie jemals die Sonne erblickten und lernten, zu sprechen, vom Mutterschoß direkt in den Hades.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Das Grab spricht aus der Ich-Perspektive von den in ihm Begrabenen, deren Gesamtzahl der Rezipient der Aufgabe berechnen soll. Wer die genannte Mutter Philinna ist, ob sie beispielsweise etwas mit der historische Philinna von Larissa, einer Frau Philipps II., zu tun hat, bleibt unklar und ist für die rechnerische Lösung der arithmetischen Aufgabe unerheblich. Ebenso ist die Unterscheidung in Mädchen und Jungen unerheblich. Erschwert wird das Verständnis der Aufgabe dadurch, dass ein Fünftel Jungen und ein Drittel Mädchen genannt werden (v. 3), denn Jungen und Mädchen zusammen müssen ja ein Ganzes ergeben. Doch das rätseltypische, scheinbare Paradoxon löst sich dadurch auf, dass die Töchter nach dem Alter bei ihrem Tod in Neugeborene, junge Mädchen (Jungfrauen) und frisch Verheiratete unterschieden werden. Die Gesamtzahl der toten Kinder (x) berechnet sich damit folgendermaßen:

x

=

1 1 x+ x+3+4 5 3

x

=

3+5 x+7 15

x

=

8 x+7 15

550

E Mathematische Rätsel

7 x = 7 15 x = 15 Die Rede ist von insgesamt 15 begrabenen Kindern der Philinna, davon drei Jungen, fünf ganz junge Mädchen, drei frisch vermählte Frauen und vier Neugeborene. Literatur: Jacobs (1801) 350. 6 Rätsel von der Dauer der Seefahrt Metrodoros, AP XIV 129, Beckby Εἶπε κυβερνητῆρι πλατὺν πόρον Ἀδριακοῖο τέμνων νηί· „Ἁλὸς πόσα λείπεται εἰσέτι μέτρα;“ τὸν δ’ ἀπαμείβετο· „Ναῦτα, μέσον Κριοῖο μετώπου Κρηταίου Σικελῆς τε Πελωρίδος ἑξάκι μέτρα χίλια· δοιῶν δ’ αὖτε παροιχομένοιο δρόμοιο πέμπτων διπλάσιον Σικελὴν ἐπὶ πορθμίδα λείπει.“ Es fragte einer beim Steuermann nach, als das Schiff über das Wasser der Adria glitt: „Wie viel Strecke der Seefahrt ist noch übrig?“ Dem antwortete jener: „Fahrgast, von Kriumetopon auf Kreta bis zu Siziliens Peloris sind es 6.000 Stadien; zwei Fünftel aber der zurückgelegten Strecke zweimal sind übrig bis zu Siziliens Hafen.

Form: 6 Hexameter Erklärung: Bei dieser arithmetischen Rechenaufgabe ist die Gesamtzahl, die Länge der Strecke vom kretischen Kap bis nach Sizilien, angegeben. Berechnet werden sollen der bereits zurückgelegte Anteil der Reise sowie der noch ausstehende. Vergleichbar ist thematisch einerseits die arithmetische Rätselaufgabe von der Strecke zwischen Gades und Rom (XIV 121), andererseits sind strukturell die Aufgaben, in denen Tageszeiten anhand von vergangenen und noch verbleibenden Stunden zu bestimmen sind (E. I. 1.6), vergleichbar. Für x = zurückgelegte Strecke, y = verbleibende Strecke ergibt sich folgende Gleichung: x+y= y

6.000

= 2⋅

2 x 5

=

4 x 5

E. I Arithmetische Aufgaben

x+

4 x 5

=

6.000

9 x 5

=

6.000

x

=

30.000 9

y

=

6.000 − 3.333

3.333

1 3 2

=

3.333

3.333 9

1 = 3

2.666

2 3

=

3.333

551

1 3

der insgesamt 6.000 Stadien sind auf der Reise bereits zurückgelegt,

2.666 Stadien sind noch übrig. 3

Literatur: Jacobs (1801) 352 f.

7 Rätsel von den drei Spinnerinnen Metrodoros, AP XIV 134, Beckby Ὦ γύναι, ὡς πενίης ἐπελήσαο· ἣ δ’ ἐπίκειται αἰὲν ἀναγκαίῃ κέντρα φέρουσα πόνων. μνᾶν ἐρίων νήθεσκες ἐν ἤματι· πρεσβυτέρη δὲ θυγατέρων καὶ μνᾶν καὶ τρίτον εἷλκε κρόκης· ὁπλοτέρη δὲ μιῆς φέρεν ἥμισυ. νῦν δ’ ἅμα πάσαις δόρπον ἐφοπλίζεις μνᾶν ἐρύσασα μόνον. Oh Frau, hast du die Armut ganz vergessen? Sie aber liegt doch immer schwer mit Zwang auf dir und piekt dich mit dem Stachel der Mühen. Eine Mine Wolle spannst du früher am Tag; deine ältere Tochter aber webte sogar eine Mine und ein Drittel; die jüngere aber brachte eine halbe Mine zustande. Nun aber bekommst du mit allen zusammen nur eine Mine gesponnen.

Form: 3 elegische Distichen Erklärung: Drei Frauen weben in einen gewissen Verhältnis zueinander, das auf eine neue Gesamtzahl übertragen wird. Für a = Webanteil der Mutter, b = Webanteil der älteren Tochter und c = Webanteil der jüngeren Tochter ergibt sich somit bei einem Gesamtgewicht der gesponnenen Wolle von einer Mine Folgendes:

552

E Mathematische Rätsel

a

=

1

b

=

1 a 3

c

=

1 a 2

1 4 a+ a = 1 3 2 6+8+3 a = 1 6 17 a = 1 6

a+

a

=

6 17

b

=

4 a 3

=

4 6 ⋅ 3 17

=

8 17

c

=

1 a 2

=

1 6 ⋅ 2 17

=

3 17

In der neuen, geringeren Webgeschwindigkeit, spinnt die Mutter die ältere Tochter

8 17

und die jüngere Tochter

3 17

einer Mine.

Literatur: Jacobs (1801) 356. 8 Rätsel vom Hausbau Metrodoros, AP XIV 136, Beckby Πλινθουργοί, μάλα τοῦτον ἐπείγομαι οἶκον ἐγεῖραι, ἦμαρ δ’ ἀννέφελον τόδε σήμερον, οὐδ’ ἔτι πολλῶν χρηίζω, πᾶσαν δὲ τριηκοσίῃσι δέουσαν πλίνθον ἔχω. σὺ δὲ μοῦνος ἐν ἤματι τόσσον ἔτευχες· παῖς δέ τοι ἐκ καμάτοιο διηκοσίαις ἀπέληγεν· γαμβρὸς δ’ αὖ τόσσῃσι καὶ εἰσέτι πεντήκοντα. τρισσαῖς συζυγίαις πόσσαις τόδε τεύχεται ὥραις; Ziegelstreicher, sehr drängt es mich, dieses Haus zu vollenden, denn der Tag ist heute wolkenlos, und nicht viel mehr Ziegelsteine

6 17

einer Mine,

E. I Arithmetische Aufgaben

553

brauche ich, insgesamt nur 300 muss ich noch haben. Du aber hast allein schon an einem Tag so viele gemacht; dein Sohn aber hat die Arbeit bei 200 beendet; und dein Schwiegersohn wiederum bei ebenso vielen und zusätzlich 50. Ihr drei vereint, in wie vielen Stunden könnt ihr dies schaffen?

Form: 7 Hexameter Erklärung: Die Aufgabe ist vergleichbar mit denen zu den Fließgeschwindigkeiten der Fontänen (E. I. 1.2), bei denen ebenfalls stets das Zusammenspiel mehrerer Elemente zu einem Ganzen zu bestimmen ist.. Für einen 12-Stunden-Tag lässt sich die Zeit (x), die die drei Arbeiter zusammen benötigen, um 300 Steine herzustellen, folgendermaßen berechnen: 300 + 20 + 250 x 12 750 x 12 x

=

300

=

300

=

4

4 5 4

Gemeinsam benötigen die Arbeiter 4 Stunden Zeit, um 300 Steine herzustel5 len. Literatur: Jacobs (1801) 357 f.

9 Rätsel von der Anzahl erschlagener Gäste Metrodoros, AP XIV 137, Beckby Δάκρυ παρὰ στάξαντες ἀμείβετε· οἵδε γὰρ ἡμεῖς, οὓς τόδε δῶμα πεσὸν ὤλεσεν Ἀντιόχου δαιτυμόνας, οἷσίν γε θεὸς δαιτός τε τάφου τε τόνδ’ ἔπορεν χῶρον, τέσσαρες ἐκ Τεγέης κείμεθα, Μεσσήνης δὲ δυώδεκα, ἐκ δέ τε πέντε Ἄργεος, ἐκ Σπάρτης δ’ ἥμισυ δαιτυμόνων, αὐτός τ’ Ἀντίοχος· πέμπτου δέ τε πέμπτον ὄλοντο Κεκροπίδαι· σὺ δ’ Ὕλαν κλαῖε, Κόρινθε, μόνον. Geht vorüber und weint! Wir nämlich, die dieses Haus des Antiochos beim Einsturz erschlug, wir schmausten, doch uns machte ein Gott dies zum Ort

554

E Mathematische Rätsel

sowohl des Festmahls als auch des Grabmals, vier von uns liegen hier aus Tegea, zwölf aber aus Messenien, und fünf aus Argos, aus Sparta aber die Hälfte der Schmausenden, und auch Antiochos selbst; ein Fünftel des Fünftels starben als Athener; du aber, Korinth, weine nur um den Hylas allein.

Form: 4 elegische Distichen Erklärung: Zu berechnen ist die Gesamtzahl der Toten, die nach Herkunftsort in Gruppen geteilt angegeben ist. Viele der Angaben enthalten selbst schon absolute Zahlen, nur wenige sind als Anteil im Verhältnis zu der Gesamtzahl (x) angegeben, die sich folgendermaßen berechnet: 1 1 x+1+ x+1 2 25

x

=

5 + 12 + 5 +

x

=

23 +

25 + 2 x 50

x

=

23 +

27 x 50

23 x 50 x

= 23 =

50

Insgesamt kamen 50 Menschen bei dem Einsturz des Hauses ums Leben. Literatur: Jacobs (1801) 358.

10 Rätsel von der Anzahl der Griechen vor Troja AP XIV 147, Beckby Ἕπτ’ ἔσσαν μαλεροῦ πυρὸς ἐσχάραι, ἐν δὲ ἑκάστῃ πεντήκοντ’ ὀβελοί, περὶ δὲ κρέα πεντήκοντα· τρὶς δὲ τριηκόσιοι περὶ ἓν κρέας ἦσαν Ἀχαιοί. Sieben Lagerplätze mit riesigem Feuer gab es, an jedem aber 50 Bratspieße mit (jeweils) 50 Portionen Fleisch; Dreimal 300 Achaier kamen auf eine Fleischportion.

Form: 3 Hexameter

E. I Arithmetische Aufgaben

555

Erklärung: Die Anzahl der Griechen vor Troja wird nicht direkt genannt, sondern lässt sich aus der Anzahl der im Lager zubereiteten Essensportionen errechnen. Unklar ist allerdings, ob in v. 2 50 Spieße, d. h. 50 Fleischportionen, also an jedem Spieß eine Portion, oder 50 Spieße mit jeweils 50 Fleischportionen, also insgesamt 2.500 Portionen gemeint sind. 1) Bei insgesamt 50 Portionen ergibt sich eine Gesamtzahl (x) von 7 ⋅ 50 ⋅ 3 ⋅ 300 = 315.000 Griechen. 2) Bei insgesamt 2.500 Portionen ergibt sich eine entsprechend erhöhte Gesamtzahl (x) von 7 ⋅ 50 ⋅ 50 ⋅ 3 ⋅ 30 = 15.750.000. Intertextuelle Verweise: Auch im Certamen zwischen Homer und Hesiod wird die Frage nach der Anzahl der Griechen vor Troja als arithmetisches Rechenrätsel, in geringfügig abweichender Form, gestellt (Certamen 10, p. 231,143–145 Allen): πεντηήκοντ’ ἦσαν πυρὸς ἐσχάραι, ἐν δὲ ἑκάστῃ πεντήκοντ’ ὀβελοί, περὶ δὲ κρέα πεντήκοντα· τρὶς δὲ τριηκόσιοι περὶ ἓν κρέας ἦσαν Ἀχαιοί.

Es ergibt sich so die abweichende Gesamtzahl x = 50 ⋅ 50 ⋅ 3 ⋅ 300 = 2.250.000 bzw. x = 50 ⋅ 50 ⋅ 50 ⋅ 3 ⋅ 300 = 112.500.000. Die Rahmenerzählung des Dichter- bzw. Rätselwettstreits macht deutlich, dass das in AP XIV 147 überlieferte Rätsel ursprünglich die Antwort auf eine allgemeine Wissens-Rätselfrage ist. Vgl. ferner Hom. Il. 2,119–133, wo die Anzahl der Griechen im Verhältnis zur Zahl der Trojaner ähnlich rätselhaft arithmetisch umschrieben wird (Anzahl der Griechen = (Anzahl der Trojaner) 10 + x): αἰσχρὸν γὰρ τόδε γ’ ἐστὶ καὶ ἐσσομένοισι πυθέσθαι, μὰψ οὕτω τοιόνδε τοσόνδέ τε λαὸν Ἀχαιῶν ἄπρηκτον πόλεμον πολεμίζειν ἠδὲ μάχεσθαι ἀνδράσι παυροτέροισι, τέλος δ’ οὔ πώ τι πέφανται. εἴ περ γάρ κ’ ἐθέλοιμεν Ἀχαιοί τε Τρῶές τε ὅρκια πιστὰ ταμόντες ἀριθμηθήμεναι ἄμφω, Τρῶες μὲν λέξασθαι, ἐφέστιοι ὅσσοι ἔασιν, ἡμεῖς δ’ ἐς δεκάδας διακοσμηθεῖμεν Ἀχαιοί, Τρώων δ’ ἄνδρα ἕκαστοι ἑλοίμεθα οἰνοχοεύειν,

Schändlich nämlich ist es auch für die Zukünftigen zu erfahren, dass vergebens ein solches und so großes Volk der Achaier einen erfolglosen Krieg führt und kämpft gegen eine geringere Anzahl an Männern, und doch ist kein Ende in Sicht. Wollten wir nämlich, die Achaier und die Troer, nachdem wir Eidopfer dargebracht hätten, uns zählen lassen beide, und es sammelten sich die Troer, so viele einen Herd besitzen, und wir Achaier ordneten uns zu Zehntschaften zu-

556

E Mathematische Rätsel

πολλαί κεν δεκάδες δευοίατο οἰνοχόοιο. τόσσον ἐγώ φημι πλέας ἔμμεναι υἷας Ἀχαιῶν Τρώων, οἳ ναίουσι κατὰ πτόλιν· ἀλλ’ ἐπίκουροι πολλέων ἐκ πολίων ἐγχέσπαλοι ἄνδρες ἔνεισιν, οἵ με μέγα πλάζουσι καὶ οὐκ εἰῶσ’ ἐθέλοντα Ἰλίου ἐκπέρσαι εὖ ναιόμενον πτολίεθρον.

sammen und nähmen je einen Mann der Troer, uns Wein auszuschenken, viele Zehntschaften entbehrten dann den Mundschenk. So viel gewaltiger, sage ich, sind wir Söhne der Achaier an Zahl als die Troer, die in der Stadt wohnen; aber als Verbündete sind lanzenschwingende Männer vieler Städte dort drinnen, die mich immer wieder zurückschlagen und nicht zulassen meinen Willen, die gutbewohnte Stadt von Ilios zu zerstören.

Ähnliche Beschreibungen, die den arithmetischen Rechenrätseln der Anthologia Palatina gleichen, finden sich zu unterschiedlichen Inhalten an verschiedenen Stellen der Überlieferung: Hdt. 1,32 mit einer Umschreibung der Länge eines Menschenlebens nach Jahren, Monaten und Tagen durch Solon vor Kroisos. Solon rechtfertigt hier seine für Kroisos unerwartete und nicht nachvollziehbare Antwort auf die Frage nach dem glücklichsten aller Menschen. Da der Mensch ein ephemeres Wesen sei, könne er vor seinem Tode niemals dauerhaft und absolut, sondern höchstens punktuell glücklich sein. Die lange Dauer eines Menschenlebens (angesetzt auf 70 Jahre) schlüsselt Solon daher bis zum einzelnen Tag auf: Ὦ Κροῖσε, ἐπιστάμενόν με τὸ θεῖον πᾶν ἐὸν φθονερόν τε καὶ ταραχῶδες ἐπειρωτᾷς ἀνθρωπηίων πρηγμάτων πέρι. ἐν γὰρ τῷ μακρῷ χρόνῳ πολλὰ μὲν ἔστι ἰδεῖν τὰ μή τις ἐθέλει, πολλὰ δὲ καὶ παθεῖν. ἐς γὰρ ἑβδομήκοντα ἔτεα οὖρον τῆς ζόης ἀνθρώπῳ προτίθημι. οὗτοι ἐόντες ἐνιαυτοὶ ἑβδομήκοντα παρέχονται ἡμέρας διηκοσίας καὶ πεντακισχιλίας καὶ δισμυρίας, ἐμβολίμου μηνὸς μὴ γινομένου· εἰ δὲ δὴ ἐθελήσει τοὔτερον τῶν ἐτέων μηνὶ μακρότερον γίνεσθαι, ἵνα δὴ αἱ ὧραι συμβαίνωσι παραγινόμεναι ἐς τὸ δέον, μῆνες μὲν παρὰ τὰ ἑβδομήκοντα ἔτεα οἱ ἐμβόλιμοι γίνονται τριήκοντα πέντε, ἡμέραι δὲ ἐκ τῶν μηνῶν τούτων χίλιαι πεντήκοντα. τουτέων τῶν ἁπασέων ἡμερέων τῶν ἐς τὰ ἑβδομήκοντα ἔτεα, ἐουσέων πεντήκοντα καὶ διηκοσιέων καὶ ἑξακισχιλιέων καὶ δισμυριέων, ἡ ἑτέρη αὐτέων τῇ ἑτέρῃ ἡμέρῃ τὸ παράπαν οὐδὲν ὁμοῖον προσάγει πρῆγμα. οὕτω ὦν, ὦ Κροῖσε, πᾶσά ἐστι ἄνθρωπος συμφορή. Kroisos, du befragst mich, der ich weiß, dass die Gottheit ganz neidisch und unbeständig ist, über die menschlichen Angelegenheiten. In der langen Lebenszeit nämlich muss einer vieles sehen, was er nicht will, und vieles erleiden. Auf siebzig Jahre setze ich die Grenze des Lebens für den Menschen an. Diese siebzig Jahre beinhalten 25.200 Tage, die Schaltmonate nicht mitgerechnet; will man aber jedes zweite Jahr noch um einen Monat verlängern, damit die Jahreszeiten in Übereinstimmung sind mit den Kalendermonaten, dann kommen zu jenen siebzig Jahren noch 35 Schaltmonate hinzu, daraus ergeben sich 1.050 Tage. Von all diesen Tagen in den siebzig Jahren, und das sind 26.250, ist nicht einer einem anderen vollkommen gleich und jeder bringt neue Dinge mit sich. So also, Kroisos, ist der ganze Mensch eine „Ansammlung“.

E. I Arithmetische Aufgaben

557

70 Jahre = 70 ⋅ 12 Monate = 840 Monate 840 Monate = 840 ⋅ 30 Tage = 25.200 Tage 35 Schaltmonate (jedes zweite Jahr) = 35 30 Tage = 1.050 Tage 70 Jahre = 25.200 + 1.050 Tage = 26.250 Tage. Ähnlich dann auch Hes. frg. 304 MW; Plut. de def. or. 415cd mit einer Umschreibung des hohen Alters der Baumnymphen: λέγει γὰρ ἐν τῶι τῆς Ναΐδος προσώπωι καὶ τὸν χρόνον αἰνιττόμενος· ἐννέα τοι ζώει γενεὰς λακέρυζα κορώνη ἀνδρῶν ἡβώντων· ἔλαφος δέ τε τετρακόρωνος· τρεῖς δ᾽ ἐλάφους ὁ κόραξ γηράσκεται· αὐτὰρ ὁ φοῖνιξ ἐννέα τοὺς κόρακας· δέκα δ᾽ ἡμεῖς τοὺς φοίνικας νύμφαι ἐυπλόκαμοι, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο. Er [sc. Hesiod] spricht nämlich im Namen der Naiade und verrätselt ihr Alter: Neun Geschlechter lebt die krummkrallige Krähe erwachsener Menschen; der Hirsch vier Lebensalter der Krähe; drei Hirsch-Alter durchlebt der Rabe; aber der Phönix lebt neunmal so lange wie der Rabe; zehnmal leben wir das Leben des Phönix, wir schönlockigen Nymphen, die Töchter des ägisschüttelnden Zeus.

Krähe Hirsch Rabe Phönix Nymphe

= = = = = = =

9 ⋅ Mensch 4 ⋅ Krähe = 3 ⋅ Hirsch = 9 ⋅ Rabe = 3.888 ⋅ Mensch 10 ⋅ Phönix = 1.080 ⋅ Krähe =

36 ⋅ Mensch 12 ⋅ Krähe 27 ⋅ Hirsch

= =

90 ⋅ Rabe = 38.880 ⋅ Mensch

108 ⋅ Mensch 108 ⋅ Krähe 270 ⋅ Hirsch

Literatur: Vgl. zu der Version des Certamen Schadewaldt (1942) 69 f. Jacobs (1801) 364. 11 Rätsel von Eselin und Maultier AP App. VII 2 (Euklid), Cougny Ἡμίονος καὶ ὄνος φορέουσαι σῖτον ἔβαινον· αὐτὰρ ὄνος στενάχιζεν ἐπ’ ἄχθεϊ φόρτου ἑοῖο· τὴν δὲ βαρυστενάχουσαν ἰδοῦσ’ ἐρέεινεν ἐκείνη· „Μῆτερ, τί κλαίουσ’ ὀλοφύρεαι, ἠύτε κούρη; εἰ μέτρον ἕν μοι δοίης, διπλάσιον σέθεν ἦρα· εἰ δὲ ἓν ἀντιλάβοις, πάντως ἰσότητα φυλάξεις.“ Εἰπὲ τὸ μέτρον, ἄριστε γεωμετρίης ἐπίιστορ. Ein Maultier und eine Eselin trugen Wein und gingen; aber die Eselin seufzte unter der Last ihrer Bürde; als das Maultier die schwer seufzende Eselin sah, sagte es:

558

E Mathematische Rätsel

„Mutter, was weinst und klagst du wie ein Mädchen? Wenn du mir einen Teil deiner Last gibst, trage ich doppelt so viel wie du; wenn aber du einen Teil von mir nimmst, hast du genau so viel wie ich.“ Nenne das Maß, der du ein Kenner der Geometrie bist.

Form: 4 Hexameter (mit Prosarahmen) Erklärung: Amüsant ist die Zusammenstellung von Eselin und weiblichem Maultier (Halbesel): Der Halbesel trägt mehr als der Vollesel, die Eselin soll sich nicht wie ein Mädchen verhalten (obwohl sie eben dies ist). Die Anteile der verteilten Last lassen sich für x = Last der Eselin und y = Last des Maultiers folgendermaßen berechnen: y+1 x+1 y+1 y x

= = = = =

2x y → x = y−1 2 ⋅ (y − 1) = 2y − 2 3 y−1 = 3−1 =

2

Vgl. allerdings die alternative Lösung in den Anmerkungen zur Appendix der Anthologie, wo davon ausgegangen wird, dass die Last jeweils tatsächlich einem der beiden Tiere abgezogen wird, damit sie dem anderen aufgeschlagen werden kann, also: y+1 x+1 y+1 y x

= = = = =

2 ⋅ (x − 1) y−1 2 ⋅ (y − 2) − 2 7 y−2

= 2x−2 → x = y2 = 2y−4−2 = 7−2

=

2y−6

= 5.

E. I. 2 Schwierige Aufgaben 1 Das Rätsel von den Rindern des Sonnengottes, sog. Problema Bovium Archim., Problema, p. 528–534 Heiberg II (1913); AP App. VII 5 ΠΡΟΒΛΗΜΑ ὅπερ Ἀρχιμήδης ἐν ἐπιγράμμασιν εὑρὼν τοῖς ἐν Ἀλεξανδρείᾳ περὶ ταῦτα πραγματευομένοις ζητεῖν ἀπέστειλεν ἐν τῇ πρὸς Ἐρατοσθένην τὸν Κυρναῖον ἐπιστολῇ. Πληθὺν Ἠελίοιο βοῶν, ὦ ξεῖνε, μέτρησον φροντίδ’ ἐπιστήσας, εἰ μετέχεις σοφίης,

E. I Arithmetische Aufgaben

559

πόσση ἄρ’ ἐν πεδίοις Σικελῆς ποτ’ ἐβόσκετο νήσου Θρινακίης, τετραχῇ στίφεα δασσαμένη, χροιὴν ἀλλάσσοντα τὸ μὲν λευκοῖο γάλακτος, κυανέῳ δ’ ἕτερον χρώματι λαμπόμενον, ἄλλο γε μὲν ξανθόν, τὸ δὲ ποικίλον. ἐν δὲ ἑκάστῳ στίφει ἔσαν ταῦροι πλήθεσι βριθόμενοι, συμμετρίης τοιῆσδε τετευχότες· ἀργότριχας μέν κυανέων ταύρων ἡμίσει ἠδὲ τρίτῳ καὶ ξανθοῖς σύμπασιν ἴσους, ὦ ξεῖνε, νόησον, αὐτὰρ κυανέους τῷ τετράτῳ τε μέρει μικτοχρόων καὶ πέμπτῳ, ἔτι ξανθοῖσί τε πᾶσιν. τοὺς δ’ ὑπολειπομένους ποικιλόχρωτας ἄθρει ἀργεννῶν ταύρων ἕκτῳ μέρει ἐβδομάτῳ τε καὶ ξανθοῖς αὐτοὺς πᾶσιν ἰσαζομένους. θηλείαισι δὲ βουσὶ τάδ’ ἔπλετο· λευκότριχες μέν ἦσαν συμπάσης κυανέης ἀγέλης τῷ τριτάτῳ τε μέρει καὶ τετράτῳ ἀτρεκὲς ἶσαι αὐτὰρ κυάνεαι τῷ τετράτῳ τε πάλιν μικτοχρόων καὶ πέμπτῳ ὁμοῦ μέρει ἰσάζοντο σὺν ταύροις πάσαις εἰς νομὸν ἐρχομέναις ξανθοτρίχων δ’ ἀγέλης πέμπτῳ μέρει ἠδὲ καὶ ἕκτῳ ποικίλαι ἰσάριθμον πλῆθος ἔχον τετραχῇ ξανθαὶ δ’ ἠριθμεῦντο μέρους τρίτου ἡμίσει ἶσαι ἀργεννῆς ἀγέλης ἑβδομάτῳ τε μέρει. ξεῖνε, σὺ δ’, Ἠελίοιο βόες πόσαι, ἀτρεκὲς εἰπών, χωρὶς μὲν ταύρων ζατρεφέων ἀριθμόν, χωρὶς δ’ αὖ, θήλειαι ὅσαι κατὰ χροιὰν ἕκασται, οὐκ ἄιδρίς κε λέγοι’ οὐδ’ ἀριθμῶν ἀδαής, οὐ μήν πώ γε σοφοῖς ἐναρίθμιος. ἀλλ’ ἴθι φράζευ καὶ τάδε πάντα βοῶν Ἠελίοιο πάθη. αργότριχες ταῦροι μὲν ἐπεὶ μιξαίατο πληθύν κυανέοις, ἵσταντ’ ἔμπεδον ἰσόμετροι εἰς βάθος εἰς εὖρός τε, τὰ δ’ αὖ περιμήκεα πάντη πίμπλαντο πλίνθου Θρινακίης πεδία. ξανθοὶ δ’ αὖτ’ εἰς ἒν καὶ ποικίλοι ἀθροισθέντες ἵσταντ’ ἀμβολάδην ἐξ ἑνὸς ἀρχόμενοι σχῆμα τελειοῦντες τὸ τρικράσπεδον οὔτε προσόντων ἀλλοχρόων ταύρων οὔτ’ ἐπιλειπομένων. ταῦτα συνεξευρὼν καὶ ἐνὶ πραπίδεσσιν ἀθροίσας καὶ πληθέων ἀποδούς, ξεῖνε, τὰ πάντα μέτρα ἔρχεο κυδιόων νικηφόρος ἴσθι τε πάντως κεκριμένος ταύτῃ γ’ ὄμπνιος ἐν σοφίῃ. Rätsel, das Archimedes in Alexandria (er-)fand und denen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, unter (anderen) Epigrammen in seinem Brief an den Eratosthenes von Kyrene zum Lösen schickte. Die Anzahl von des Sonnengottes Rindern, Freund, messe, setze deinen Verstand ein, wenn du Teil hast an der Weisheit.

560

E Mathematische Rätsel

Wie viele nämlich in den Fluren Siziliens, der Trinakischen Insel, pflegt er zu weiden, in vier Herden unterteilt? In der Farbe ihres Fells unterscheiden sie sich, die eine ist milchweiß, eine andere glänzt an der Haut von schwarzer Farbe; eine andere ist gelb, die letzte ist bunt gescheckt; in jeder Herde sind Stiere in übergroßer Zahl, die in folgendem Verhältnis zueinander stehen: Dass die mit weißglänzendem Fell nämlich dem zweiten und dritten Teil der schwarzen Stiere und allen gelben zusammen an Zahl gleich sind, Freund, merke; dass aber die schwarzen dem vierten und fünften Teil der gescheckten und ferner allen gelben gleich sind. Bedenke aber, dass die übrigen bunt gescheckten dem sechsten und siebten Teil der weißen Stiere und all den gelben an Zahl gleich sind. Die weiblichen Rinder aber haben folgende Mischung: Die mit dem weißen Fell sind dem dritten und vierten Teil der ganzen schwarzen Herde an Zahl genau gleich. Aber die mit schwarzem Fell sind dem vierten und zugleich fünften Teil der gescheckten gleich, die alle mit den Stieren gemeinsam auf die Weide gehen; die bunten haben ganz genau die gleiche Anzahl wie der fünfte und sechste Teil der ganzen Herde der gelben. [Die gelben aber werden gleichgezählt der Hälfte des dritten Teils und dem siebenten Teil der weißen Herde.] Freund, wenn du die Anzahl der Rinder des Sonnengottes genau angeben kannst, einzeln die Zahl der wohlgenährten Stiere, einzeln auch, wie viele weibliche Rinder von jeder Farbe es gibt, will ich dich nicht als unwissend bezeichnen und nicht als dumm. Und doch zählst du noch nicht zu den Weisen: Aber geh und erfahre auch noch alle übrigen Geschicke der Rinder des Sonnengottes. Wenn sich die Stiere mit weißem Fell nämlich den schwarzen in die Zahl mischen, stehen sie auf Land von gleicher Ausdehnung in der Tiefe und in der Breite; ihre Anzahl aber füllt von jedem Punkt aus die Felder der ziegelgestaltigen Thrinakia. Die gelben aber wiederum und die bunten in eins versammelt der Reihe nach aufgestellt, mit einem beginnend, bildeten ein Dreieck, ohne die anwesenden andersfarbigen Stiere und die übrigen. Wenn du diese Dinge herausgefunden und im Geiste erkannt hast und alle Teile der Anzahl erklärt hast, Freund, geh als stolzer Sieger, und wisse ganz sicher, dass du als reich in dieser Weisheit beurteilt bist.

Form: 22 elegische Distichen Erklärung: vv. 1–2: Rateaufforderung und Betonung der zur erfolgreichen Lösung notwendigen Weisheit (εἰ μετέχεις σοφίης) des Rezipienten.

E. I Arithmetische Aufgaben

561

vv. 3–4: Direkte Fragestellung nach der Anzahl der Rinder. vv. 5–7: Rahmensituation: vier Herden, die sich in ihrer Fellfarbe unterscheiden (schwarz, weiß, gelb, bunt). vv. 8–16: Verrätselt ist die Anzahl der männlichen Rinder (ταύροι) in den einzelnen Herden. Aus der Umschreibung lassen sich drei Gleichungen mit insgesamt vier Unbekannten aufstellen. Die genannten Anteile nehmen dabei 1

1 1

2

3 4

schrittweise von über ,

1

… bis zu ab (bzw. die Nenner der entsprechenden 7

Brüche wachsen von 2 bis 7). vv. 17–26: Verrätselt ist die Anzahl der weiblichen Rinder in den einzelnen Herden. Aus der Umschreibung lassen sich vier Gleichungen mit vier Unbekannten aufstellen. Die genannten Bruchteile nehmen dabei schrittweise von 1

über ,

1

4 5

… bis zu

1 7

1 3

ab, wobei stets ein Bruchteil in zwei unterschiedlichen

1 1 1 1 1 1 Gleichungen vorkommt ( + , + , + …). 3 4 4 5 5 6 vv. 27–30: Abschluss des ersten Rätselabschnitts und Lob für den bis hierhin erfolgreichen Rätsellöser. v. 31a: Rückbezug auf v. 2 (σοφία) und Überleitung zum zweiten Rätselabschnitt. vv. 31b–32: Zweite Lösungsaufforderung. vv. 33–40: Aufstellen von zwei weiteren, komplexeren Bedingungen, denen alle Unbekannten genügen müssen. vv. 41–44: Abschluss und zweites Lob für den erfolgreichen Rezipienten. Für W S B G w s b g

= = = = = = = =

weiße Stiere schwarze Stiere gescheckte/bunte Stiere gelbe Stiere weiße Kühe schwarze Kühe gescheckte/bunte Kühe gelbe Kühe

ergeben sich aus der Rätselfrage folgende Gleichungen:

W

=

1 1 ( + )S+G 2 3

562

E Mathematische Rätsel

S

1 1 = ( + )B+G 4 5

B

1 1 = ( + )W+G 6 7

w

1 1 = ( + ) ⋅ (S + s) 3 4

s

1 1 = ( + ) ⋅ (B + b) 4 5

b

1 1 = ( + ) ⋅ (G + g) 5 6

g

1 1 1 1 1 = ( ⋅ + )⋅(W + w) = ( + ) ⋅ (W + w) 2 3 7 6 7

Zur Berechnung der Stier-Anzahl in den einzelnen Herden: Setzt man B in S ein, ergibt sich:

S

1 1 1 1 = ( + ) ⋅ [( + ) ⋅ W + G] + G 4 5 6 7 =

13 9 ⋅ ( W + G) + G 20 42

=

117 9 20 W+ G+ G 840 20 20

=

117 29 W+ G 840 20

=

117 1.218 W+ G 840 840

Setzt man dann S in W ein, ergibt sich:

W

=

11 840 1.218 5 ⋅( W+ G) + G 6 840 840 840

=

585 6.090 5.040 W+ G+ G 5.040 5.040 5.040

E. I Arithmetische Aufgaben

5.040 W 5.040 4.455 W 5.040 4.455 W

=

563

11.130 585 G W+ 5.040 5.040

11.130 G 5.040 = 11.130 G

=

W

=

11.130 G 4.455

W

=

2.226 G 891

Da wir annehmen, dass sinnvollerweise nur nach ganzzahligen Ergebnissen für die Stieranzahl gesucht sein kann, muss G ein Vielfaches von 891 sein, d. h. G W

= =

x ⋅ 891 2.226 ⋅ x

Setzt man dann W in B ein, ergibt sich: B

=

13 ⋅W+G 42

=

13 2.226 ⋅ G+G 42 891

=

28.938 37.422 G+ G 37.422 37.422

=

66.360 G 36.422

1.580 G 891 Mit Ersetzung von G = x ⋅ 891 ergibt sich: =

B

=

1.580 ⋅ x

Setzt man dann B in S ein, ergibt sich:

S

=

9 1.580 ⋅ G+G 20 891

=

891 711 g+ G 891 891

564

E Mathematische Rätsel

1.602 G 891 Mit Ersetzung von G = x 891 ergibt sich: =

S

= 1.602 ⋅ x

Zur Berechnung der Kuhanzahl in den einzelnen Herden: Setzt man die errechneten Stierzahlen in die oben aufgestellten Gleichungen ein, ergibt sich: w

=

7 7 ⋅ 1.602x + s 12 12

s

=

9 9 ⋅ 1.580x + b 20 20

b

=

11 11 ⋅ 891x + g 30 30

g

=

13 13 ⋅ 2.226x + w 42 42

Setzt man nun g in b ein, ergibt sich:

b

=

13 11 13 11 ⋅ 891x + ⋅ ( ⋅ 2.226x + w) 30 30 42 42

=

17.380 143 x+ w 30 1.260

Setzt man nun b in s ein, ergibt sich:

s

=

17.380 9 143 9 ⋅ 1.580x + ⋅ ( x+ w) 20 20 30 1.260

=

14.220 7.821 143 x+ x+ w 20 30 2.800

=

143 583.020 x+ w 600 2.800

Setzt man nun s in w ein, ergibt sich:

w

=

97.170 7 143 7 ⋅ 1.602x + ⋅ ( x+ w) 12 12 100 2.800

E. I Arithmetische Aufgaben

565

11.214 143 680.190 x+ w x+ 1.200 4.800 12

= 4.800 w 4.800

=

143 1.801.590 x+ x 1.200 4.800

4.657 w 4.800

=

1.801.590 x 1.200

=

7.206.360 x 4.657

w

Wird das soeben errechnete w in die obenstehende Gleichung für w eingesetzt, ergibt sich: 1.801.590 x 1.200

=

7 7 ⋅ 1.601 ⋅ x + s 12 12

=

11.214 7 x+ s 12 12

86.476.320 x = 55.884

52.223.598 7 x+ s 55.884 12

34.252.722 7 x = s 55.884 12

s

=

411.032.644 x = 391.188

4.893.246 x 4.657

Wird das soeben errechnete s in die obenstehende Gleichung für s eingesetzt, ergibt sich: 4.893.246 x 4.657

=

9 9 ⋅ 1.580x + b 20 20 =

1.582.118 x 4.657

b

3.311.127 9 x+ b 4.657 20

=

9 b 20

=

3.515.820 x 4.657

566

E Mathematische Rätsel

Wird das soeben errechnete b in die obenstehende Gleichung für b eingesetzt, ergibt sich: 3.515.820 x 4.657

=

11 11 g 891 x + 30 30

=

9.801 11 x+ g 30 30

105.474.600 x 139.710

=

45.643.257 11 x+ g 139.710 39

159.831.343 x 139.710

=

11 g 30

=

5.439.213 x 4.657

g

Da wir annehmen, dass auch hier sinnvollerweise nur nach ganzzahligen Ergebnissen für die Kuhanzahl gesucht sein kann, muss x ein Vielfaches von 4.657 sein, d. h. x = 4.657 y. Damit ergeben sich die folgenden (jeweils ko-abhängigen) Rinderzahlen: W S B G w s b g

= = = = = = = =

10.366.482 y 7.460.514 y 7.358.060 y 4.149.387 y 7.206.360 y 4.893.246 y 3.515.820 y 5.439.213 y

Als kleinstmögliche Gesamtzahl der Rinder, für y = 1, ergibt sich somit 50.389.082 eine Zahl, die in Anbetracht der (vergleichsweise kleinen Weide-)Fläche von Sizilien de facto gänzlich unrealistisch ist, vgl. hierzu Nesselmann (1842) 485 f. 487 f., und lediglich als poetische Spielerei gelten kann, die durch ihre enorme Größe beeindrucken soll. Zu den beiden komplexeren Bedingungen im zweiten Teil des Rätsels: Aus den vv. 33–40 lassen sich die beiden folgenden, weiteren Bedingungen ableiten, denen alle berechneten Größen genügen müssen: I. W + S ergibt eine Quadratzahl II. G + B ergibt eine Dreieckszahl.

E. I Arithmetische Aufgaben

I. W + S

= = = =

567

10.366.482 y + 7.460.514 y 17.826.996 y 3 ⋅ 4 ⋅ 11 ⋅ 29 ⋅ 4.657 ⋅ y 3 ⋅ 22 ⋅ 11 ⋅ 29 ⋅ 4.657 ⋅ y

Aus dieser Faktordarstellung ergibt sich, dass y, um die Summe (W + S) zu einer Quadratzahl zu machen, mindestens die Form y

= 3 ⋅ 11 ⋅ 29 ⋅ 4.657

=

4.456.749

haben müsste. Eine Multiplikation mit jeder weiteren Quadratzahl würde die Eigenschaft der Quadratzahl auch für die Summe (W + S) erhalten. II. G + B

= =

4.149.387 y + 7.358.060 y 11.507.447 y

Damit die Bedingung der Dreieckszahl erfüllt ist, muss für die Summe (G + B) folgendes gelten:

G+B

=

11.507.447 y

=

1 q (q + 1). 2

Für eine Lösung der Gleichung, die in Größenordnungen führt, die ohne technische Hilfsmittel nicht zu berechnen sind (ca. 7.760 · 10206.544), mit Rückführung auf die sog. Pell’sche Gleichung (x2 − d⋅y2 = 1), vgl. u. a. Nesselmann (1842) 487 f.; Heath (1921) 98; Lenstra (2002) 184–186. Intertextuelle Verweise: Vgl. die rätselhafte Beschreibung der Anzahl der Rinder und Schafe des Sonnengottes auf Thrinakia, bei Hom. Od. 12,127–136: Θρινακίην δ’ ἐς νῆσον ἀφίξεαι· ἔνθα δὲ πολλαί βόσκοντ’ Ἠελίοιο βόες καὶ ἴφια μῆλα ἑπτὰ βοῶν ἀγέλαι, τόσα δ’ οἰῶν πώεα καλά, πεντήκοντα δ’ ἕκαστα γόνος δ’ οὐ γίνεται αὐτῶν, οὐδέ ποτε φθινύθουσι. θεαὶ δ’ ἐπὶ ποιμένες εἰσίν, νύμφαι ἐϋπλόκαμοι, Φαέθουσά τε Λαμπετίη τε, ἃς τέκεν Ἠελίωι Ὑπερίονι δῖα Νέαιρα. τὰς μὲν ἄρα θρέψασα τεκοῦσά τε πότνια μήτηρ Θρινακίην ἐς νῆσον ἀπώικισε τηλόθι ναίειν, μῆλα φυλασσέμεναι πατρώϊα καὶ ἕλικας βοῦς.

Zur Insel Thrinakia wirst du gelangen; dort aber weiden viele Rinder und fette Schafe des Helios. Sieben Rinderherden und ebenso viele schöne Schafe, jeweils mit fünfzig Tieren. Ihnen aber entstehen keine Nachkommen und niemals sterben sie. Göttinnen sind ihre Hirtinnen, schönhaarige Nymphen, Phaetusa und Lampetia, die dem Helios die Neaira gebar.

568

E Mathematische Rätsel

Die schickte, nachdem sie ihre Töchter erzogen, die göttliche Mutter auf die Insel Thrinakia, um dort zu weilen und die Schafe ihres Vaters zu bewachen und die gehörnten Rinder.

Bevor Kirke Odysseus und seine Männer von ihrer Insel fortsegeln lässt, spricht sie diese Warnung aus (Hom. Od. 11,104–113 hatte bereits Teiresias Odysseus und seine Gefährten davor gewarnt, Hand an die Rinder auf Thrinakia zu legen). Weil die Gefährten des Odysseus sich trotzdem an den Rindern und Schafen des Sonnengottes vergreifen (vgl. die Klage des Helios gegenüber Zeus, Hom. Od. 12,377–383), lässt Zeus die Gefährten alle in einem Sturm auf See umkommen, während Odysseus noch weitere Leiden zu ertragen hat. Insgesamt weiden auf der Insel 2 ⋅ 7 ⋅ 50 = 700 Tiere. Da diese Anzahl konstant bleibt, müssen die göttlichen Tiere sowohl unsterblich als auch ungeboren sein. Die Zahl der Tiere auszurechnen, stellt selbst keine Schwierigkeit dar, vgl. aber auch die ganz ähnlich gearteten arithmetischen Aufgaben der Anthologia Palatina. Doch auch hier ist hinter der oberflächlichen Bildebene, obwohl keine Rätselsituation im klassischen Sinne vorliegt, ein tieferer Sinn verborgen: Die je 350 Schafe und 350 Rinder mögen gemeinsam für die Tage und Nächte eines Jahres stehen, wie Helios mit seinem Licht den Tag (und die Nacht) strukturiert. Vgl. hierzu auch Hom. Od. 10,80–86 (ferner Hes. theog. 748 ff.) die beiden Hirten, die sich bei den Laistrygonen mit ihren Herden für Tag und Nacht jeweils abwechseln und einander auf dem Weg, weil beides direkt aneinander grenzt, stets begegnen. Vgl. zur Bekanntheit des Rätsels im Altertum allgemein Schol. Plat. Charmid. 165, p. 115 f. Greene; Cic. Att. 12,4. 13,28. Literatur: Die einschlägigen Editionen sind zusammengestellt bei Heiberg II (1881) 448 f., wo sich 454 f. auch ein Scholion z. St. findet. Erläuterungsansätze der mathematischen Zusammenhänge des Rätsels u. a. bei: Gottfried (1828) 228. Nesselmann (1842) 482–491, der die Autorschaft des Archimedes bezweifelt. Bell (1895) 163–164; Archibald (1918) 411–414; Heath II (1921) 97 f.; Wußing 2 ( 1965); Krumbiegel, B.; Amthor, A. (1980) 121–136. 153–171, bes. 156 f.; Pieper (21991); Rorres (2008) 43–66; Benson (2014) 169–196.

E. I Arithmetische Aufgaben

569

2 Diophantes, Aufgabe vom Weinmischen Diophantes 5,30, Tannery; AP App. VII 3 Ὀκταδράχμους καὶ πενταδράχμους χοέας τις ἔμιξε τοῖς ὁμοπλοῖσι ποιεῖν χρήστ’ ἐπιταττόμενος, καὶ τιμὴν ἀπέδωκεν ὑπὲρ πάντων τετράγωνον, τὰς ἐπιταχθείσας δεξάμενον μονάδας καὶ ποιοῦντα πάλιν ἕτερόν σε φέρειν τετράγωνον κτησάμενον πλευρὰν σύνθεμα τῶν χοέων· ὥστε διάστειλον τοὺς ὀκταδράχμους πόσοι ἦσαν, καὶ πάλι τοὺς ἑτέρους, παῖ, λέγε πενταδράχμους. Es mischte einer eine für acht Drachmen gekaufte Menge Wein mit einer für fünf Drachmen gekauften Menge, darin, den Seefahrtsgenossen guten Wein zu mischen, erfahren; und für das Ganze gab er als Preis eine Quadratzahl, die, um eine gegebene Zahl vermehrt, dir wiederum ein anderes Quadrat erzeugt, dessen Wurzel die Summe der Mengen angibt. Deshalb unterscheide, wie viel Maß Acht-Drachmen-Wein es waren, und dagegen, Junge, wie viele Maß für fünf Drachmen.

Form: 4 elegische Distichen Kontext: Von den ursprünglich 13 Büchern der Arithmetik des spätantiken griechischen Mathematikers Diophantos von Alexandria sind 6 Bücher mit insgesamt rund 300 Einzelaufgaben im griechischen Original erhalten. Der größte Teil dieser arithmetischen Aufgaben hat pragmatischen, abstrakt-mathematischen Charakter und ist aus diesem Grund nicht in die vorliegende Rätselsammlung aufgenommen obwohl auch für jene Aufgaben eine Verwendung als Rätselaufgabe in bestimmten (etwa schulischen) Situationen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die vorliegende Aufgabe, die das fünfte der sechs erhaltenen Bücher beschließt, hat dabei aufgrund ihres narrativen, die bloße Rechenaufgabe in eine (fiktive) erzählbare Situation setzenden Rahmens, der die Aufgabe in die Nähe der zahlreichen ähnlich ausgeschmückten arithmetischen Rätselaufgaben aus dem 14. Buch der Anthologia Palatina rückt, eine gewisse Sonderstellung. Ihre bewusste literarische und metrische Ausgestaltung, die nicht dem mathematischen Inhalt, sondern wohl einem gesonderten Anlass oder einer speziellen Intention des Vortrags der Aufgabe geschuldet ist, hebt sie von dem Pragmatismus einer „einfachen“ Rechenaufgabe ab und rückt sie zugleich näher an andere Unterarten des Rätsels heran. Erklärung: Wie es für die nach Diophantos benannten diophantischen Gleichungen üblich ist, zielt die vorliegende Aufgabe nicht auf eine einzige richtige, aus den Vorga-

570

E Mathematische Rätsel

ben der Aufgabe direkt errechenbare Lösung. Vielmehr lassen sich zwei (oder mehr) unbekannte Größen stets nur in einer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander bestimmen. Die Aufgabe ähnelt in dieser Hinsicht vielen der superlativischen (philosophischen) Rätselfragen, die ebenfalls die Auswahl einer möglichst originellen unter mehreren prinzipiell möglichen Lösungen zum Ziel hat. Im vorliegenden Fall kennzeichnen wir die Gesamtmenge des (gemischten) Weins – entsprechend der Angaben in v. 6 – als (x). Da sich (x) als Gesamtmenge aus zwei verschiedenen Teilmengen (a) und (b) zusammensetzt, gilt: x

=

a+b

Durchschreiten wir dann die Angaben des Rätsels gleichsam rückwärts, ergibt sich für den Preis (p) der Weinmischung folgende Gleichung: p =

x2 − m,

wobei (m) jene in v. 4 benannte Zahl sei, die für die unterschiedlichen konkreten Lösungen der Gleichung im Vorfeld (beliebig) festzulegen ist. Da außerdem festgesetzt ist (v. 3), dass es sich bei (p) um eine Quadratzahl handeln soll, gilt überdies p =

x2 − m =

(x − y)2

In seinen Arithmetika fügt Diophantos der Aufgabe eine Beispiellösung für den Fall (m) = 60 an: p =

x2 − 60

Als Preis für die gesamte Weinmischung bildet (p) die Summe aus zwei Teilpreisen, und zwar dem Preis für den 5-Drachmen-Wein und dem Preis für den 8Drachmen-Wein: p =

p1 + p2

Vice versa ergibt sich, dass die Maßzahl der beiden einzelnen Weinsorten sich 1

1

5

8

berechnen lässt als p1 bzw. als zerlegen, sodass

1 5

des einen und

des gemischten Weins ergeben:

p2 . Es ist somit x2 60 in zwei Summanden zu 1 8

anderen zusammen die Gesamtmenge (x)

E. I Arithmetische Aufgaben

x

1 1 p1 + p2, d. h. 8 5

=

a

=

1 p1 5

b

=

1 p2 8

571

Gemäß der diophantischen Ausführungen ist dies genau dann der Fall, wenn 1 2 (x − 60) 8