Unternehmerisches Ermessen: Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat 9783161579448, 316148780X

Die Diskussion über die Funktionsfähigkeit der deutschen Unternehmensverfassung (Corporate Governance) hat einen tiefgre

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Unternehmerisches Ermessen: Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat
 9783161579448, 316148780X

Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Corporate Governance und kein Ende?
1. Teil Das Corporate Governance Problem
A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance
I. Der empirische Befund
1. Der Fall ARAG
2. Der Fall Metallgesellschaft
3. Der Fall ASS
4. Der Fall Bremer Vulkan
5. Der Fall Balsam
6. Der Fall KHD
7. Der Fall Mannesmann I
8. Der Fall Mannesmann II
9. Der Fall Holzmann
10. Der Fall HypoVereinsbank
II. Der analytische Befund
1. Die unzureichenden Wirkungskräfte der externen Corporate Governance Mechanismen
2. Die Relevanz der internen Corporate Governance Mechanismen
3. Ergebnis
B. Das Kernproblem: Die business judgment rule
I. Der Ausgangspunkt: Weite Entscheidungsfreiräume
II. Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs
III. Der UMAG-Vorschlag der Bundesregierung
IV. Ergebnis
C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen Kontrolle
I. Vergleichbare Problemlagen im Verwaltungsrecht
II. Kompetenzverteilung unter dem Kontrollaspekt
III. Gang der Untersuchung
2. Teil Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats
A. Ansatzpunkt
I. Die normative Ermächtigungslehre
1. Einschätzungsprärogativen
2. Ermessensspielräume
3. Gestaltungsspielräume?
4. Schlußfolgerung
II. Die gesellschaftsrechtliche Legitimationsgrundlage
1. Regelungstechnik des Aktiengesetzes
2. Konkretisierung der Befugnisnorm
3. Auslegung der Befugnisnorm
a) Das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung
b) Der betriebswirtschaftlich absicherbare Befund
c) Operationalisierung
aa) Handlungsbedarf
bb) Handlungsprogramm
4. Rechtsvergleich
5. Ergebnis
B. Vorstand
I. Die Führungsaufgabe des Vorstands
1. Strategische Entscheidungen
2. Operative Entscheidungen
3. Unternehmensorganisatorische Entscheidungen
4. Selbstorganisatorische Entscheidungen
5. Internes Steuerungs- und Überwachungssystem
II. Der Überwachungsbereich des Aufsichtsrats
1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des § 90 AktG
2. Delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des § 90 AktG
3. Aufgaben des Vorstands im Lichte ergänzender Berichtspflichten
III. Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats
1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands
2. Delegierbare Aufgaben des Vorstands
3. Ergebnis
C. Aufsichtsrat
I. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG
1. Überwachung, Kontrolle, Prüfung und Beratung
2. Überwachung beabsichtigter, laufender und abgeschlossener Vorgänge
a) Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge
b) Überwachung abgeschlossener Vorgänge
3. Ergebnis
II. Die sonstigen Aufgaben des Aufsichtsrats
1. Überwachung und Leitung
2. Einordnung der Aufgaben
3. Ergebnis
III. Die Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats
1. Die Entscheidungsfreiräume im Rahmen der Überwachungsaufgabe aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG
a) Die Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands
aa) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs
bb) Die richtige Fragestellung
cc) Der richtige Ansatz
(1) Konkretisierung der Aufgabe
(2) Wahrnehmung der Aufgabe
dd) Rechtsvergleich
ee) Ergebnis
b) Die Erkenntnis einer besseren Entscheidung
aa) Prüfungspflicht
bb) Einschätzungsprärogativen
cc) Ergebnis
c) Die Einwirkung auf den Vorstand
aa) Einwirkungsfälle und Einwirkungsmöglichkeiten
bb) Ermessensspielräume
(1) Entschließungsermessen?
(2) Auswahlermessen?
(a) Heterogenität der Einwirkungsmöglichkeiten
(b) Rechtsvergleich
(c) Spezifische Fragen
(d) Problemeingrenzung
(aa) Das Handlungsprogramm des Aufsichtsrats
(α) Sanktionierung der Unternehmensführung
(β) Optimierung der Unternehmensführung
(i) Erste Einwirkungsstufe
(ii) Zweite Einwirkungsstufe
(iii) Dritte Einwirkungsstufe
(χ) Ergebnis
(bb) Ermessensprärogativen des Aufsichtsrats?
(α) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs
(β) Die richtige Fragestellung
(χ) Der richtige Ansatz
(i) Konkretisierung der Aufgaben
(ii) Wahrnehmung der Aufgaben
(δ) Ergebnis
(cc) Evaluationsermessen des Aufsichtsrats?
(α) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs
(β) Die richtige Fragestellung
(χ) Der richtige Ansatz
(i) Konkretisierung der Aufgabe
(ii) Wahrnehmung der Aufgabe
(δ) Rechtsvergleich
(ε) Ergebnis
(dd) Auswahlermessen des Aufsichtsrats?
(α) Die problematischen Fallkonstellationen
(β) Die richtige Fragestellung
(χ) Der richtige Ansatz
(δ) Ergebnis
2. Die Entscheidungsfreiräume im Rahmen der sonstigen Aufgaben
a) Personalentscheidungen
b) Sonstige Vorstandsentscheidungen
c) Mitwirkungs- und Initiativentscheidungen
d) Selbstorganisatorische Entscheidungen
e) Überwachungsaufgaben außerhalb des § 111 Abs. 1 AktG
f) Ergebnis
D. Zusammenfassung der Ergebnisse
3. Teil Die Reichweite der Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats
A. Ansatzpunkt
I. Die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre
1. Die Bedeutung des Verwaltungsverfahrensrechts
2. Die Grundannahmen der Entscheidungsfehlerlehre
a) Trennungsprinzip
b) Fehleridentität
c) Anknüpfungspunkt
d) Zwei Fehlerquellen
3. Die „Fehlerliste“
a) Interpretations- und Feststellungsfehler
aa) Vorliegen des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung
bb) Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung
cc) Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung
dd) Sachverhalt
b) Abwägungsfehler
aa) Vorliegen und Aussage der Wertungsgrundsätze
bb) Verbot unsachlicher Beweggründe
cc) Berücksichtigung der Wertungsgrundsätze
(1) Berücksichtigung der relevanten Gesichtspunkte
(2) Gewicht und Bedeutung der relevanten Gesichtspunkte
(3) Bewertung, Gewichtung und Ausgleich der relevanten Gesichtspunkte
(4) Vorrang der Aussage eines Wertungsgrundsatzes
4. Ein „Systematisierungsversuch“
a) Inhaltliche und strukturelle Fehler
aa) Ergebnisfehler und inhaltliche Vorgangsfehler
bb) Strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe
cc) Strukturelle Vorgangsfehler zweiter Stufe
b) „Spezifische Ermessensfehler“
c) Zuordnung zur „Zweck- und Grenzenformel“
aa) „Grenzen“
bb) „Zweck“
(1) „unter anderen Umständen“
(2) „aus anderen Gründen“
(3) „nicht aufgrund der tatsächlichen Motive“
II. Das Konzept einer gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre
1. Grundlegung
2. Fehlerkategorien
a) Typisierung des abstrakten Verhaltensfehlers und der konkreten Verhaltensfehler
b) Bestimmung der konkreten Verhaltensfehler
aa) Abwägungsmangel
bb) Abwägungsunschlüssigkeit
cc) Abwägungsmißorganisation
dd) Mißverhältnis zwischen Ergebnis und Vorgang
ee) Ergebnis
3. Fehlerfolgen
a) Fehlerkausalität
aa) Voraussetzungen
bb) Reichweite
b) Entscheidungskausalität
4. Ein Vergleich mit der U.S. amerikanischen business judgment rule
a) Die U.S. amerikanische Rechtsprechung
aa) Prozessuale Funktionen der business judgment rule
bb) Materiell-rechtliche Voraussetzungen der business judgment rule
(1) business judgment
(2) good faith
(3) disinterested judgment
(4) informed judgment
(5) rational business purpose
cc) Materiell-rechtliche Konsequenzen des Nichteingreifens der business judgment rule
b) Die Vorzüge der gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre
aa) Unterschiede im Konzept
(1) Rechtsvergleich
(2) Würdigung
bb) Unterschiede in den Fehlerkategorien
(1) Rechtsvergleich
(2) Würdigung
cc) Unterschiede im Kontrollmaßstab
(1) Abgrenzungs- und Legitimationsprobleme
(2) Funktion der Aktionärsklage
(3) Verschärfung der business judgment rule
B. Die gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre
I. Die Relevanz des Deutschen Kodex
1. Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre
a) Zögerliche Herausbildung von Rechtspflichten
b) Zögerliche Rezeption von Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung
2. Deutscher Kodex und Aktiengesetz
a) Methodischer Ansatz
b) Ausstrahlungswirkung
c) Rezeptionsprobleme
aa) Zielsetzung
bb) Regelungstechnik
(1) Empfehlungen und Anregungen
(2) Auslegungsfragen
cc) Defizitäre Substantiierung
d) Ergebnis
II. Überschreitung und Abwägungsmangel
1. Generelle Entscheidungsgrenzen
2. Absolute Entscheidungsgrenzen, Ermessensgrenzen und Ermessensrichtlinien
a) Das Konzept von Manfred H. Kessler
aa) Absolute Entscheidungsgrenzen
bb) Ermessensgrenzen
cc) Ermessensrichtlinien
b) Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung
aa) Ermessensgrenzen
bb) Ermessensrichtlinien
c) Ermessensrichtlinien für Einzelfragen
3. Allgemeine Abwägungsgrundsätze
a) Gesellschaftsrechtlicher Ausgangsbefund
b) Betriebswirtschaftlicher Befund
c) Rechtsvergleichender Befund
d) Richtlinien für eine sachgemäße Einschätzung, Evaluation und Auswahl
4. Rationalgebot
III. Abwägungsmißorganisation und Abwägungsunschlüssigkeit
1. Bedeutung der informationellen Instrumentarien
2. Erste Konkretisierung
a) Abstrakte Abwägungsmißorganisation
b) Konkrete Abwägungsmißorganisation
c) Abwägungsunschlüssigkeit
3. Weitere Konkretisierung
a) Ansatzpunkt informationelle Instrumentarien
b) Ansatzpunkt Organisationsrecht
c) Problemeingrenzung
aa) Unternehmensberichterstattung und externe Prüfung
(1) Konzernrechnungslegung
(a) Hintergrund
(b) DRS 3 – Segmentberichterstattung
(aa) Segmentierung
(bb) Segmentinformationen
(cc) Verbesserung der Segmentberichterstattung?
(c) DRS 5 – Risikoberichterstattung
(aa) Risikoabgrenzung
(bb) Risikoinformationen
(cc) Verbesserung der Risikoberichterstattung?
(d) DRS 6 – Zwischenberichterstattung
(e) DRS 11 – Berichterstattung über Beziehungen zu nahe stehenden Personen
(f) Schlußfolgerungen
(aa) DRS 11
(bb) DRS 2
(cc) DRS 3, DRS 5 und DRS 6
(dd) Ergebnis
(2) Lageberichterstattung
(a) Kennzahlen
(aa) Finanzielle Kennzahlen
(α) Jüngste Entwicklung
(β) Weitere Entwicklung
(bb) Betriebliche Kennzahlen
(α) Jüngste Entwicklung
(β) Weitere Entwicklung
(b) Ziele, Strategien und Pläne
(aa) Jüngste Entwicklung
(bb) Weitere Entwicklung
(c) Hintergrundinformationen
(aa) Jüngste Entwicklung
(bb) Weitere Entwicklung
(d) Finanzinstrumente und bilanzunwirksame Geschäfte
(aa) Entwicklung in den Vereinigten Staaten
(bb) Entwicklung in Deutschland
(e) Bewertungsunsicherheiten und Bewertungsmethoden
(aa) Entwicklung in den Vereinigten Staaten
(bb) Entwicklung in Deutschland
(f) Aufgliederung der Finanzberichterstattung nach core and noncore activities
(g) Management und Anteilseigner
(h) Schlußfolgerungen
(aa) Management und Anteilseigner
(bb) Hintergrundinformationen
(cc) Sonstige Vorschläge des Special Committee
(dd) Ergebnis
(3) Externe Prüfung
(a) Neuausrichtung der gesetzlichen Vorgaben
(aa) Internationalisierung
(bb) Zukunftsorientierung
(cc) Risikoorientierung
(dd) Aufsichtsratsorientierung
(b) Ausformung der neuen gesetzlichen Vorgaben
(c) Weiterentwicklung des gesetzgeberischen Ansatzes
(d) Ergebnis
bb) Internes Steuerungs- und Überwachungssystem
(1) Der Streit um die Interpretation des § 91 Abs. 2 AktG
(2) Die Auffassung des Instituts der Wirtschaftsprüfer
(a) Risikofrüherkennungssystem und darauf bezogenes Überwachungssystem
(b) Internal Control
(aa) Definition
(bb) Komponenten und Faktoren
(cc) Prüfungsrelevante Dimension
(3) Die im Lichte der §§ 93, 116 AktG zentrale Frage der Risikoidentifikation
(4) Die Integration der Chancen
(5) Ergebnis
cc) Organisation des Aufsichtsrats
(1) Unabhängigkeit und Qualifikation
(a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten
(aa) New York Stock Exchange
(bb) Securities and Exchange Commission
(b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts
(aa) Europäische Kommission
(bb) Schlußfolgerungen
(2) Aufsichtsratsausschüsse
(a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten
(aa) New York Stock Exchange
(bb) Securities and Exchange Commission
(b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts
(aa) Europäische Kommission
(bb) Schlußfolgerungen
(3) Strukturierung der Überwachungstätigkeit
(a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten
(b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts
(4) Ergebnis
C. Zusammenfassung der Ergebnisse
Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Sachregister

Citation preview

JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 100

Andrea Lohse

Unternehmerisches Ermessen Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat

Mohr Siebeck

Andrea Lohse, geboren 1964, 1983-1988 Studium der Rechtswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1989—1990 Promotionsstipendium des Landes Schleswig-Holstein, 1991 Promotion, 1990-1993 Juristischer Vorbereitungsdienst in Schleswig-Holstein, 1994-2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Assistentin am Institut für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Energierecht der Freien Universität Berlin (Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h.c. Franz Jürgen Säcker), 2002-2003 Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2003—2004 Rechtsanwältin bei Hengeler Mueller in Frankfurt am Main, 2004 Habilitation, 2004/2005 Lehrstuhlvertretung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2005/2006 Lehrstuhlvertretung an der Ruhr-Universität Bochum.

978-3-16-157944-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

ISBN 3-16-148780-X ISSN 0940-9610 Qus Privatum)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide Druck in Tübingen aus der Garamond Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Fiir Thomas

Vorwort Der Begriff unternehmerisches Ermessen' bezeichnet schlagwortartig das Spannungsfeld zwischen eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung (§§76 Abs. 1 AktG, 111 Abs. 1 AktG) und fremdverantwortlicher Haftung (§§93,116 AktG): Unter welchen Voraussetzungen bleiben unternehmerische Entscheidungen des Vorstands und des Aufsichtsrats auch dann pflichtgemäß und haftungsfrei, wenn sie sich später als Fehlentscheidungen erweisen? Diese Frage steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der These, daß eine Übernahme der U.S. amerikanischen business judgment rule, wie vom Gesetzgeber mit §93 Abs. 1 Satz 2 AktG idF. des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) und vom Bundesgerichtshof in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung (BGHZ 135, 244) favorisiert, nicht zu einer Optimierung der Unternehmensführung beiträgt und deshalb der Steuerungsfunktion der Organhaftung nicht gerecht wird. Ziel und Ergebnis der Arbeit ist eine gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre, die funktionalere Anforderungen an den Entscheidungsprozeß und das Entscheidungsergebnis stellt und diese Anforderungen durch strenge haftungsrechtliche Konsequenzen absichert. Sie beruht auf der verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre und betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen aus der Entscheidungstheorie. Sie bezieht die Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene (Aktionsplan Corporate Governance) und in den Vereinigten Staaten (Sarbanes-Oxley Act) ein. Sie trägt unter dem Gesichtspunkt der zukunfts-, problem- und risikoorientierten Informationsversorgung von Vorstand und Aufsichtsrat auch dem Funktionswandel von Unternehmensberichterstattung und Abschlußprüfung (business reporting and audit) und dem Entwicklungsstand der Betriebswirtschaftslehre zu Organisation und Unternehmensführung (Risikomanagement; internal control concept) Rechnung. Diese Schrift ist die überarbeitete Fassung der Arbeit, die unter dem Titel .Corporate Governance und Effizienz der Unternehmensführung - Eine aktienrechtliche Untersuchung der Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat' im Sommersemester 2003, im Wintersemester 2003/2004 und im Sommersemester 2004 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Habilitationsschrift vorlag; Vortrag und Aussprache fanden am 9. Juni 2004 statt. Erstgutachter war Herr Universitätsprofessor Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h. c. Franz Jürgen Säcker, und Zweitgutachter war Herr Universitätsprofessor Dr. iur. Dieter Heckelmann. Universitätsprofessor Dr. rer. pol. Axel von Werder von der

VIII

Vorwort

Technischen Universität Berlin erstellte ein Kurzgutachten zu dem betriebswirtschaftlichen Teil der Arbeit. Der Abschluß der dem Habilitationsverfahren zugrundeliegenden Fassung dieser Arbeit wurde mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Überarbeitung für die Drucklegung war dem Umstand geschuldet, daß im Jahr 2003 die Umsetzung des Maßnahmenkataloges der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes, des Aktionsplans Corporate Governance der Europäischen Kommission und des SarbanesOxley Acts des U.S. amerikanischen Gesetzgebers begann und Ende 2004/Anfang 2005 einen gewissen Abschluß fand. Sie ist charakteristisch für die Entstehung dieser Arbeit: Sie mußte immer wieder im Zuge des Mitte der 90er Jahre einsetzenden Reformprozesses im Gesellschafts-, Bilanz- und Kapitalmarktrecht überarbeitet werden, den die Diskussion über die Funktionsfähigkeit der deutschen Unternehmensverfassung (Corporate Governance) auslöste. In der nun vorliegenden Fassung ist die Rechtsentwicklung bis August 2005 und sind Literatur und Rechtsprechung bis Juni 2005 berücksichtigt; auch während der Drucklegung schritt der Reformprozeß weiter fort: Das UMAG passierte in geänderter Fassung den Bundesrat, und der Deutsche Corporate Governance Kodex wurde zum vierten Mal geändert. Von all denen, denen ich Dank schulde, seien an dieser Stelle nur die genannt, ohne die diese Arbeit in der Sache nicht entstanden wäre: Herr Universitätsprofessor Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h. c. Franz Jürgen Säcker, der mich über viele Jahre gefördert, das Thema vorgeschlagen und mir bei der Bearbeitung freie Hand gelassen hat, Herr Universitätsprofessor Dr. iur. Hans Hattenhauer, der sehr früh einen interdisziplinären Ansatz angeregt hat, Herr Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Lebrecht Rürup und Herr Universitätsprofessor Dr. rer. pol. Axel von Werder, ohne deren Gesprächsbereitschaft und Unterstützung die interdisziplinäre Ausrichtung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre, Herr Rechtsanwalt Dr. h. c. Karlheinz Quack und Herr Rechtsanwalt und Honorarprofessor Dr. iur. Hans-Jürgen Hellwig, die mir einen Einblick in die Unternehmenspraxis gegeben haben, der mich in meinem Ansatz bestärkt und sich in seiner Ausformung niedergeschlagen hat, und Herr Universitätsprofessor Dr. iur. Dr. h. c. Theodor Baums, ohne dessen Bereitschaft, mir im Wintersemester 2004/2005 die Vertretung seines Lehrstuhls anzuvertrauen, die Endfassung so, wie sie nun vorliegt, nicht existieren würde. Frankfurt am Main im August 2005

Andrea

Lohse

Inhaltsübersicht Corporate Governance und kein Ende? 1. Teil: Das Corporate

1 Governance

Problem

A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance

10

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule

37

C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen Kontrolle

51

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume des und des Aufsichtsrats

Vorstands

A. Ansatzpunkt I. Die normative Ermächtigungslehre II. Die gesellschaftsrechtliche Legitimationsgrundlage

60 61 70

B. Vorstand I. Die Führungsaufgabe des Vorstands II. Der Überwachungsbereich des Aufsichtsrats III. Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats

88 90 96

C. Aufsichtsrat I. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG II. Die sonstigen Aufgaben des Aufsichtsrats III. Die Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats 1. Die Entscheidungsfreiräume im Rahmen der Überwachungsaufgabe aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG a) Die Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands b) Die Erkenntnis einer besseren Entscheidung c) Die Einwirkung auf den Vorstand 2. Die Entscheidungsfreiräume im Rahmen der sonstigen Aufgaben D. Zusammenfassung der Ergebnisse

101 106 106 112 117 118 120 127 131 171 175

X

Inhaltsübersicht

3. Teil: Die Reichweite

der Entscheidungsfreiräume und des Aufsichtsrats

des Vorstands

A. Ansatzpunkt I. Die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre II. Das Konzept einer gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre B. Die I. II. III.

gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre Die Relevanz des Deutschen Kodex Überschreitung und Abwägungsmangel Abwägungsmißorganisation und Abwägungsunschlüssigkeit . . . . 1. Bedeutung der informationellen Instrumentarien 2. Erste Konkretisierung 3. Weitere Konkretisierung a) Ansatzpunkt informationelle Instrumentarien b) Ansatzpunkt Organisationsrecht c) Problemeingrenzung aa) Unternehmensberichterstattung und externe Prüfung . bb) Internes Steuerungs- und Uberwachungssystem cc) Organisation des Aufsichtsrats

182 184 210 268 271 294 320 320 321 325 325 328 333 334 427 446

C. Zusammenfassung der Ergebnisse

487

Fazit und Ausblick

497

Literaturverzeichnis

505

Sachregister

535

Inhaltsverzeichnis Corporate Governance und kein Ende ?

1

1. Teil Das Corporate Governance Problem A. Unternehmen Governance

außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate 10

I. Der empirische Befund 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Der Der Der Der Der Der Der Der Der Der

Fall Fall Fall Fall Fall Fall Fall Fall Fall Fall

ARAG Metallgesellschaft ASS Bremer Vulkan Balsam KHD Mannesmann I Mannesmann II Holzmann HypoVereinsbank

II. Der analytische Befund 1. Die unzureichenden Wirkungskräfte der externen Corporate Governance Mechanismen 2. Die Relevanz der internen Corporate Governance Mechanismen 3. Ergebnis B. Das Kernproblem: Die business judgment rule I. Der Ausgangspunkt: Weite Entscheidungsfreiräume II. Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs

10 11 13 13 14 16 17 17 18 24 25 26 28 31 33 37 39 40

III. Der UMAG-Vorschlag der Bundesregierung

42

IV. Ergebnis

47

C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen Kontrolle

51

XII

Inhaltsverzeichnis

I. Vergleichbare Problemlagen im Verwaltungsrecht II. Kompetenzverteilung unter dem Kontrollaspekt III. Gang der Untersuchung

52 55 57

2. Teil Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats A. Ansatzpunkt I. Die normative Ermächtigungslehre 1. 2. 3. 4.

Einschätzungsprärogativen Ermessensspielräume Gestaltungsspielräume? Schlußfolgerung

II. Die gesellschaftsrechtliche Legitimationsgrundlage 1. Regelungstechnik des Aktiengesetzes 2. Konkretisierung der Befugnisnorm 3. Auslegung der Befugnisnorm a) Das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung b) Der betriebswirtschaftlich absicherbare Befund c) Operationalisierung aa) Handlungsbedarf bb) Handlungsprogramm

4. Rechtsvergleich 5. Ergebnis B. Vorstand

61 62 65 66 67 70 71 73 73 74 78 79 79 81

83 86 88

I. Die Führungsaufgabe des Vorstands 1. 2. 3. 4. 5.

60

Strategische Entscheidungen Operative Entscheidungen Unternehmensorganisatorische Entscheidungen Selbstorganisatorische Entscheidungen Internes Steuerungs- und Überwachungssystem

II. Der Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats 1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des § 90 AktG 2. Delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des §90 AktG 3. Aufgaben des Vorstands im Lichte ergänzender Berichtspflichten

90 91 92 92 93 94 96 96 99 100

Inhaltsverzeichnis III. Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats 1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands 2. Delegierbare Aufgaben des Vorstands 3. Ergebnis

C. Aufsichtsrat I. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund des § 1 1 1 Abs. 1 A k t G

XIII

101 103 104 105

106 106

1. Überwachung, Kontrolle, Prüfung und Beratung 2. Überwachung beabsichtigter, laufender und abgeschlossener Vorgänge a) Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge b) Überwachung abgeschlossener Vorgänge

108 110 111

3. Ergebnis

111

II. Die sonstigen Aufgaben des Aufsichtsrats 1. Überwachung und Leitung 2. Einordnung der Aufgaben 3. Ergebnis III. Die Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats

106

112 113 114 116 117

1. Die Entscheidungsfreiräume im Rahmen der Überwachungsaufgabe aufgrund des § 1 1 1 Abs. 1 A k t G a) Die Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands aa) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs bb) Die richtige Fragestellung cc) Der richtige Ansatz (1) Konkretisierung der Aufgabe (2) Wahrnehmung der Aufgabe dd) Rechtsvergleich ee) Ergebnis b) Die Erkenntnis einer besseren Entscheidung aa) Prüfungspflicht bb) Einschätzungsprärogativen cc) Ergebnis c) Die Einwirkung auf den Vorstand aa) Einwirkungsfälle und Einwirkungsmöglichkeiten bb) Ermessensspielräume (1) Entschließungsermessen? (2) Auswahlermessen? (a) Heterogenität der Einwirkungsmöglichkeiten (b) Rechtsvergleich (c) Spezifische Fragen (d) Problemeingrenzung

118 120 121 123 123 124 124 126 126 127 127 128 131 131 131 134 134 136 136 139 140 142

Inhaltsverzeichnis

XIV (aa) (a) (ß) (i) (ii) (iii)

Das Handlungsprogramm des Aufsichtsrats . . . Sanktionierung der Unternehmensführung . . . . Optimierung der Unternehmensführung Erste Einwirkungsstufe Zweite Einwirkungsstufe Dritte Einwirkungsstufe

143 143 143 144 144 145

(x) Ergebnis (bb) Ermessensprärogativen des Aufsichtsrats? . . . . (а) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (ß) Die richtige Fragestellung (x) Der richtige Ansatz (i) Konkretisierung der Aufgaben (ii) Wahrnehmung der Aufgaben (б) Ergebnis (cc) Evaluationsermessen des Aufsichtsrats? (а) Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (ß) Die richtige Fragestellung (x) Der richtige Ansatz (i) Konkretisierung der Aufgabe (ii) Wahrnehmung der Aufgabe (б) Rechtsvergleich (E) Ergebnis (dd) Auswahlermessen des Aufsichtsrats? (а) Die problematischen Fallkonstellationen (ß) Die richtige Fragestellung (x) Der richtige Ansatz (б) Ergebnis

149 150 150 153 154 155 157 159 160 160 163 163 164 165 166 166 167 167 168 168 170

2. D i e E n t s c h e i d u n g s f r e i r ä u m e i m R a h m e n d e r s o n s t i g e n

D.

Aufgaben

171

a) b) c) d) e) f)

171 172 173 173 174 174

Personalentscheidungen Sonstige Vorstandsentscheidungen M i t w i r k u n g s - u n d Initiativentscheidungen Selbstorganisatorische Entscheidungen Überwachungsaufgaben außerhalb des § 111 Abs. 1 A k t G Ergebnis

Zusammenfassung

der Ergebnisse

175

3.

Teil

D i e Reichweite der E n t s c h e i d u n g s f r e i r ä u m e des Vorstands u n d des Aufsichtsrats A.

Ansatzpunkt I. D i e v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e E n t s c h e i d u n g s f e h l e r l e h r e

182 184

Inhaltsverzeichnis 1. D i e B e d e u t u n g d e s V e r w a l t u n g s v e r f a h r e n s r e c h t s 2. D i e G r u n d a n n a h m e n d e r E n t s c h e i d u n g s f e h l e r l e h r e a) b) c) d)

Trennungsprinzip Fehleridentität Anknüpfungspunkt Zwei Fehlerquellen

3. D i e „ F e h l e r l i s t e " a) Interpretations-und Feststellungsfehler aa) Vorliegen des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung bb) Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung cc) Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung dd) Sachverhalt b) Abwägungsfehler aa) Vorliegen und Aussage der Wertungsgrundsätze bb) Verbot unsachlicher Beweggründe cc) Berücksichtigung der Wertungsgrundsätze (1) Berücksichtigung der relevanten Gesichtspunkte (2) Gewicht und Bedeutung der relevanten Gesichtspunkte (3) Bewertung, Gewichtung u n d Ausgleich der relevanten Gesichtspunkte (4) Vorrang der Aussage eines Wertungsgrundsatzes 4. E i n „ S y s t e m a t i s i e r u n g s v e r s u c h " a) Inhaltliche und strukturelle Fehler aa) Ergebnisfehler und inhaltliche Vorgangsfehler bb) Strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe cc) Strukturelle Vorgangsfehler zweiter Stufe b) „Spezifische Ermessensfehler" c) Zuordnung zur „Zweck- und Grenzenformel" aa) „Grenzen" bb) „Zweck" (1) „unter anderen Umständen" (2) „aus anderen G r ü n d e n " (3) „nicht aufgrund der tatsächlichen Motive"

XV 184 186 186 187 187 188 189 190 190 191 192 192 193 194 195 195 197 198 198 199 199 200 202 202 203 204 204 204 205 205 207 209

II. D a s K o n z e p t e i n e r g e s e l l s c h a f t s r e c h t l i c h e n Entscheidungsfehlerlehre

210

1. G r u n d l e g u n g

211

2. F e h l e r k a t e g o r i e n

216

a) Typisierung des abstrakten Verhaltensfehlers und der konkreten Verhaltensfehler b) Bestimmung der konkreten Verhaltensfehler aa) Abwägungsmangel

216 217 218

XVI

Inhaltsverzeichnis bb) cc) dd) ee)

Abwägungsunschlüssigkeit Abwägungsmißorganisation Mißverhältnis zwischen Ergebnis und Vorgang Ergebnis

3. F e h l e r f o l g e n

221 221 224 227 228

a) Fehlerkausalität aa) Voraussetzungen bb) Reichweite b) Entscheidungskausalität

229 229 231 236

4 . E i n V e r g l e i c h m i t der U . S . a m e r i k a n i s c h e n business

B.

j u d g m e n t rule

237

a) Die U.S. amerikanische Rechtsprechung aa) Prozessuale Funktionen der business judgment rule bb) Materiell-rechtliche Voraussetzungen der business judgment rule (1) business judgment (2) good faith (3) disinterested judgment (4) informed judgment (5) rational business purpose cc) Materiell-rechtliche Konsequenzen des Nichteingreifens der business judgment rule b) Die Vorzüge der gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre aa) Unterschiede im Konzept (1) Rechtsvergleich (2) Würdigung bb) Unterschiede in den Fehlerkategorien (1) Rechtsvergleich (2) "Würdigung cc) Unterschiede im Kontrollmaßstab (1) Abgrenzungs- und Legitimationsprobleme (2) Funktion der Aktionärsklage (3) Verschärfung der business judgment rule

238 241

Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

I. D i e R e l e v a n z des D e u t s c h e n K o d e x 1. R e c h t s w i s s e n s c h a f t u n d B e t r i e b s w i r t s c h a f t s l e h r e a) Zögerliche Herausbildung von Rechtspflichten b) Zögerliche Rezeption von Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung 2. Deutscher K o d e x und Aktiengesetz

244 245 245 246 249 252 255 257 257 258 258 259 259 260 261 261 264 266 268 271 271 271 272 277

a) Methodischer Ansatz

277

b) Ausstrahlungswirkung c) Rezeptionsprobleme aa) Zielsetzung

279 283 283

Inhaltsverzeichnis bb) Regelungstechnik (1) Empfehlungen und Anregungen (2) Auslegungsfragen cc) Defizitäre Substantiierung d) Ergebnis II. Ü b e r s c h r e i t u n g u n d A b w ä g u n g s m a n g e l 1. G e n e r e l l e E n t s c h e i d u n g s g r e n z e n

XVII 285 285 287 291 292 294 297

2. A b s o l u t e E n t s c h e i d u n g s g r e n z e n , E r m e s s e n s g r e n z e n u n d Ermessensrichtlinien

297

a) Das Konzept von Manfred H . Kessler aa) Absolute Entscheidungsgrenzen bb) Ermessensgrenzen cc) Ermessensrichtlinien b) Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung aa) Ermessensgrenzen bb) Ermessensrichtlinien c) Ermessensrichtlinien für Einzelfragen

297 300 302 302 304 304 307 309

3. A l l g e m e i n e A b w ä g u n g s g r u n d s ä t z e a) b) c) d)

Gesellschaftsrechtlicher Ausgangsbefund Betriebswirtschaftlicher Befund Rechtsvergleichender Befund Richtlinien für eine sachgemäße Einschätzung, Evaluation und Auswahl

4. R a t i o n a l g e b o t III. Abwägungsmißorganisation u n d Abwägungsunschlüssigkeit . . . . 1. B e d e u t u n g d e r i n f o r m a t i o n e l l e n I n s t r u m e n t a r i e n 2. E r s t e K o n k r e t i s i e r u n g

312 313 313 315 317 319 320 320 321

a) Abstrakte Abwägungsmißorganisation b) Konkrete Abwägungsmißorganisation

323 323

c) Abwägungsunschlüssigkeit

324

3. W e i t e r e K o n k r e t i s i e r u n g a) Ansatzpunkt informationelle Instrumentarien b) Ansatzpunkt Organisationsrecht c) Problemeingrenzung aa) Unternehmensberichterstattung und externe Prüfung (1) Konzernrechnungslegung (a) Hintergrund (b) D R S 3 - Segmentberichterstattung (aa) Segmentierung (bb) Segmentinformationen (cc) Verbesserung der Segmentberichterstattung? . . (c) D R S 5 - Risikoberichterstattung (aa) Risikoabgrenzung (bb) Risikoinformationen

325 325 328 333 334 337 337 344 344 347 348 349 349 354

XVIII

Inhaltsverzeichnis (cc) Verbesserung der Risikoberichterstattung? . . . . (d) D R S 6 - Zwischenberichterstattung (e) D R S 11 - Berichterstattung über Beziehungen zu nahe stehenden Personen (f) Schlußfolgerungen (aa)DRSll (bb) DRS 2 (cc) DRS 3, DRS 5 und DRS 6 (dd) Ergebnis (2) Lageberichterstattung (a) Kennzahlen (aa) Finanzielle Kennzahlen (a) Jüngste Entwicklung (ß) Weitere Entwicklung (bb) Betriebliche Kennzahlen (a) Jüngste Entwicklung (ß) Weitere Entwicklung (b) Ziele, Strategien und Pläne (aa) Jüngste Entwicklung (bb) Weitere Entwicklung (c) Hintergrundinformationen (aa) Jüngste Entwicklung (bb) Weitere Entwicklung (d) Finanzinstrumente und bilanzunwirksame Geschäfte (aa) Entwicklung in den Vereinigten Staaten (bb) Entwicklung in Deutschland (e) Bewertungsunsicherheiten und Bewertungsmethoden (aa) Entwicklung in den Vereinigten Staaten (bb) Entwicklung in Deutschland (f) Aufgliederung der Finanzberichterstattung nach core and noncore activities (g) Management und Anteilseigner (h) Schlußfolgerungen (aa) Management und Anteilseigner (bb) Hintergrundinformationen (cc) Sonstige Vorschläge des Special Committee . . . (dd) Ergebnis (3) Externe Prüfung (a) Neuausrichtung der gesetzlichen Vorgaben (aa) Internationalisierung (bb) Zukunftsorientierung (cc) Risikoorientierung (dd) Aufsichtsratsorientierung (b) Ausformung der neuen gesetzlichen Vorgaben (c) Weiterentwicklung des gesetzgeberischen Ansatzes . (d) Ergebnis

357 358 361 362 363 364 364 365 366 367 369 370 371 373 374 377 378 380 382 386 388 389 389 390 392 396 396 397 399 400 404 404 405 405 407 411 414 414 416 418 419 419 421 425

Inhaltsverzeichnis bb) Internes Steuerungs- u n d Überwachungssystem (1) D e r Streit u m die Interpretation des §91 A b s . 2 A k t G . . (2) Die Auffassung des Instituts der Wirtschaftsprüfer (a) Risikofrüherkennungssystem u n d darauf bezogenes Uberwachungssystem (b) Internal C o n t r o l (aa) Definition (bb) K o m p o n e n t e n u n d Faktoren (cc) Prüfungsrelevante Dimension (3) Die im Lichte der §§93,116 A k t G zentrale Frage der Risikoidentifikation (4) Die Integration der Chancen (5) Ergebnis cc) Organisation des Aufsichtsrats (1) Unabhängigkeit u n d Qualifikation (a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten (aa) N e w York Stock Exchange (bb) Securities and Exchange Commission (b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts (aa) Europäische Kommission (bb) Schlußfolgerungen (2) Aufsichtsratsausschüsse (a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten (aa) N e w York Stock Exchange (bb) Securities and Exchange C o m m i s s i o n (b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts (aa) Europäische Kommission (bb) Schlußfolgerungen (3) Strukturierung der Überwachungstätigkeit (a) Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten (b) Weiterentwicklung des deutschen Gesellschaftsrechts (4) Ergebnis

C. Zusammenfassung

der Ergebnisse

XIX 427 428 430 430 431 434 435 436 438 440 443 446 447 449 450 452 454 455 456 458 460 463 466 467 470 473 479 479 480 483

487

Fazit u n d Ausblick

497

Literaturverzeichnis

505

Sachregister

535

Corporate Governance und kein Ende? Die Diskussion um die Funktionsfähigkeit der deutschen Corporate Governance setzte Mitte der 90er Jahre ein und wird bis heute lebhaft geführt. Sie ist durch spektakuläre Unternehmenskrisen und Unternehmensskandale - von AEG und Metallgesellschaft über Sachsenmilch und Schneider, ARAG und Balsam, Vulkan und Holzmann, KHD und HypoVereinsbank, Telekom und Mannesmann, Flowtex und EM.TV, Ahold und Babcock sowie Worldcom und Enron bis hin zu Berliner Volksbank und Berliner Bankgesellschaft - ausgelöst und immer wieder neu entfacht worden. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen Vorstände, Aufsichtsräte, Abschlußprüfer und Geschäftsbanken. Ihnen wird öffentlich Versagen vorgeworfen: Vorstände würden evidente Fehlentscheidungen treffen und über enorme kriminelle Energien verfügen („Nieten in Nadelstreifen"). Aufsichtsräte würden nie etwas bemerken, bevor es zu spät sei („Weder Aufsicht noch Rat"). Abschlußprüfer würden wegsehen oder gar Vorständen helfen, Verluste zu vertuschen und Risiken zu verschleiern („KPMG: Keiner prüft mehr gründlich"). Geschäftsbanken seien den Interessenkonflikten nicht gewachsen, die aus ihren Funktionen als Anteilseigner, als Vertreter der Kleinaktionäre, als Inhaber von Aufsichtsratsmandaten und als Kreditgläubiger erwachsen. Sie würden überdies aus falsch verstandener Loyalität heraus über das Mißmanagement von Vorständen hinwegsehen („Kungelkapitalismus"). Das intensive öffentliche Interesse hat eine Welle von Reformen des Gesellschafts-, Bilanz- und Kapitalmarktrechts ausgelöst, die in ihrem Ausmaß einzigartig sein dürfte. Die erste Phase zeichnete sich durch ausschließlich gesetzgeberische Aktivitäten aus. Das Ergebnis waren das Gesetz zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Konzerne an Kapitalmärkten und zur Erleichterung der Aufnahme von Gesellschafterdarlehen (Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz - KapAEG) vom 20. April 1998,1 das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (Kontroll- und Transparenzgesetz - KonTraG) vom 27. April 1998,2 das Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Änderung der Bilanz- und der Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs (90/605/EWG), zur Verbesserung der Of1 2

BGBl. 1998 I S . 7 0 7 f f . BGBl. 1998 I S . 7 8 6 f f .

2

Corporate Governance und kein Ende?

fenlegung von Jahresabschlüssen und zur Änderung anderer handelsrechtlicher Bestimmungen (Kapitalgesellschaften- und C o - R i c h t l i n i e - G e s e t z -

KapCoRi-

L i G ) v o m 24. Februar 2 0 0 0 3 und das Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz - N a S t r a G ) vom 18. Januar

2001.4 D i e zweite Phase begann im J a h r 2000, als die Debatte über einen Deutschen Corporate Governance K o d e x (im folgenden Deutscher K o d e x ) einsetzte und der C o r p o r a t e Governance Diskussion eine neue Dimension verlieh. D i e G r u n d satzkommission C o r p o r a t e Governance (im folgenden Grundsatzkommission) legte im Frühjahr 2000 einen C o d e of Best Practice vor (im folgenden Frankfurter Kodex). 5 D e r Berliner Initiativkreis G e r m a n C o d e o f C o r p o r a t e Governance (im folgenden Berliner Initiativkreis) veröffentlichte im S o m m e r 2000 einen G e r m a n C o d e o f C o r p o r a t e Governance (im folgenden Berliner Kodex). 6 Sie schlugen damit Standards guter Leitung und Ü b e r w a c h u n g in Unternehmen vor, 7 die zur Optimierung der Leitung und Überwachung in U n t e r n e h m e n beitragen 8 und an die sich die U n t e r n e h m e n durch Verpflichtungserklärungen binden können und sollen. 9 D e r Gesetzgeber fühlte sich durch diese Initiativen auf den Plan gerufen und setzte im S o m m e r 2000 die Regierungskommission „Corporate Governance Unternehmensführung - Unternehmenskontrolle - Modernisierung des Aktienrechts" 1 0 unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Dr. h.c. T h e o d o r Baums ein (im folgenden Regierungskommission). Sie legte im Juli 2001 ihren Abschlußbericht vor (im folgenden Kommissionsbericht). 1 1 Sie sprach sich für Gesetzesänderungen und das Modell der verbindlichen Information über die Beachtung der Regeln eines C o r p o r a t e Governance K o d e x aus (Compliance Modell). Sie schlug die Einsetzung einer Folgekommission vor, um einen solchen K o d e x zu erarbeiten. 1 2 Im September 2001 wurde die Regierungskommission Deutscher C o r p o r a t e Governance K o d e x unter dem Vorsitz von Dr. Gerhard C r o m m e eingesetzt (im folgenden Kodexkommission). E t w a zeitgleich ging man im Bundesministerium für Justiz an die erste Stufe der legislatorischen U m s e t z u n g der Empfehlungen der Regierungskommission und bearbeitete die Bereiche Aufsichtsrat, R e c h -

BGBl. 2000 IS. 154ff. BGBl. 2001 I S. 123ff. 5 Abgedruckt etwa bei Schneider/Strenger AG 2000, S. 106, 109ff. 6 Abgedruckt etwa in AG 2001, S. 1, 6ff. 7 So ausdrücklich die Präambel des Berliner Kodex. 8 So ausdrücklich die Präambel des Berliner Kodex. 9 Schneider/Strenger AG 2000, S. 106, 109; Präambel des Berliner Kodex. 10 Tsp.25. Juni 2000, S.21. 11 Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance. Siehe dazu insbesondere DAV BB 2003, S. lff. 12 Siehe zu den letzteren beiden Fragen Rdn. 5-17 des Kommissionsberichts. 3 4

Corporate Governance und kein Ende?

3

nungslegung und Abschlußprüfung. 1 3 D e r Deutsche K o d e x wurde im D e z e m b e r 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt und im Februar 2002 dem Bundesjustizministerium übergeben; 1 4 er erhielt seine zweite Fassung v o m 7. N o v e m b e r 2 0 0 2 aufgrund einer Neuregelung der directors' dealings in § 15a W p H G . 1 5 Das Ergebnis der gesetzgeberischen Bemühungen war das Gesetz zur weiteren R e f o r m des A k tien- und Bilanzrechts, zu Transparenz- und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz - T r a n s P u G ) v o m 19. Juli 2 0 0 2 . 1 6 A u ß e r d e m kamen nach langer Vorbereitung das Gesetz zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum E r w e r b von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen (Wertpapiererwerbs-

und

Übernahmegesetz - W p U G ) v o m 20. D e z e m b e r 2 0 0 1 1 7 und das Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz) v o m 26. Juni 2 0 0 2 1 8 zustande. 1 9 D i e dritte Phase begann im Frühjahr 2003. D i e Bundesregierung legte am 25. Februar 2003 einen Maßnahmenkatalog zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes vor, der zahlreiche weitere Änderungen des Gesellschafts-, Bilanz- und Kapitalmarktrechts noch für die laufende Legislaturperiode in Aussicht nahm (im folgenden Maßnahmenkatalog 2 / 2 0 0 3 ) . 2 0 D i e K o m m i s s i o n der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichte am 21. Mai 2003 eine Mitteilung der K o m m i s s i o n an den Rat und das Europäische Parlament mit dem Titel „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der C o r p o r a t e G o vernance in der Europäischen U n i o n - A k t i o n s p l a n " , der in drei Stufen ( 2 0 0 3 2 0 0 5 , 2 0 0 6 - 2 0 0 8 , ab 2009) zahlreiche Maßnahmen und insbesondere den Erlaß von (Änderungs-) Richtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts vorsah (im folgenden Aktionsplan 5/2003). 2 1 M a n ging hier wie dort zügig an die Umsetzung. Anfang J u n i 2005 lagen bereits die überarbeitete (vierte) Fassung des Deutschen K o d e x v o m 2 . J u n i 2005, 2 2 die Verordnung zur Konkretisierung des Verbotes der K u r s - und Marktpreismanipulation ( K u M a K V ) v o m 18. N o v e m b e r 2003, 2 3 das Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes (Anlegerschutzverbesserungsgesetz - A n S V G ) v o m 28. O k t o ber 2 0 0 4 , 2 4 das Gesetz zur Einführung internationaler RechnungslegungsstanAllgemeiner Teil der Begründung zum RegE TransPuG 2/2002. Bundesministerium der Justiz, Mitteilungen für die Presse A 27/01 und Nr. 9/02. Der Deutsche Kodex ist in dieser Fassung abgedruckt in AG 2002, S. 237ff. 15 Basta AG 2003, S. R3. Siehe zu directors' dealings insbesondere Pluskat BKR 2004, S. 467ff. 16 BGBl. 2002 IS. 2681 ff. 17 BGBl. 2001 I S. 3822ff. 18 BGBl. 2002 IS. 201 Off. 19 Siehe dazu auch Ziff. 3.7 des Deutschen Kodex und Rdn. 181 des Kommissionsberichts. 20 Mitteilung für die Presse Nr. 10/03; siehe dazu Schiessl AG 2002, S. 593ff. 21 KOM (2003) 284. Siehe dazu Van Hulle/MaulZGK 2004, S. 484ff. sowie Wiesner ZIP 2003, S.977ff. und BB 2003, S.213ff. 22 Abrufbar unter http://www.corporate-governance-code.de/. 23 BGBl. 2003 I S. 2300ff. 24 BGBl. 2004 I S.2630ff. Siehe dazu: Ziemons NZG 2004, S.537ff.; DuhnkracUHasche DB 13

14

4

Corporate Governance und kein Ende?

dards und zur Sicherung der Qualität der Abschlußprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz - BilReG) vom 4. Dezember 2004,25 das Gesetz zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen (Bilanzkontrollgesetz - BilKoG) vom 15. Dezember 2004,26 das Gesetz zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschlußprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung (Abschlußprüferaufsichtsgesetz - APAG) vom 27. Dezember 2004,27 der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 17. November 2004,28 der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz - KapMuG) vom 17. November 2004,29 der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. N o vember 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (Wertpapierprospektgesetz - WpPG) vom 3. März 2005,30 der Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen (Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz - VorstOG) vom 18. Mai 2005,31 der Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der 2004, S. 1351 ff.; Fleischer BKR 2004, S.339ff.; Bürgers BKR 2004, S.467ff.; von Falkenhausen/ Widder BB 2005, S.225ff.; Langenbucher ZIP 2005, S.239ff. 25 BGBl. 2004 I S. 3166ff. Siehe dazu: Kaiser DB 2005, S.345ff.; Wendlandt/Knorr KoR 2004, S. 45ff.; Peemöller/Oehler BB 2004, S.1158ff. und BB 2004, S.539ff.; Großfeld N Z G 2004, S. 393ff.; Veltins DB 2004, S. 445ff.; Lenz BB 2004, S. 707ff.; Hüttemann BB 2004, S. 203ff.; IDW WPg 2004, S. 143 ff., Hochschullehrerarbeitskreis Bilanzrecht BB 2004, S. 546ff. 26 BGBl. 2004 I S.3408ff. Siehe dazu: Ernst BB 2004, S.936ff.; Mattheus/Schwab BB 2004, S. 1099ff.; Hommelhoff/Mattheus BB 2004, S.93ff.; Pellens/Detert/Nölte/Sellhorn KoR 2004, S. 1 ff.; Kilian ZGR 2004, S. 189ff. 27 BGBl. 2004 I S. 3846ff. 28 Abgedruckt in ZIP 2004, S.2455ff.; mit Änderungen vom Bundestag am 16. Juni 2005 angenommen (BR-Drucksache 454/05) [Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22. September 2005 - BGBL 2005 I S. 2802ff.]. Siehe dazu: Arnold/Born A G 2005, S. R 198, R 200, R 201; Semler A G 2005, S. 321 ff.; Köhler/Marten/Hülsberg/Bender BB 2005, S. 501 ff.; Schütz N Z G 2005, S. 5ff.; Wilsing DB 2005, S. 35ff.; Gantenberg DB 2005, S.207ff.; Holzborn/Bunnemann BKR 2005, S. 51ti.; Jahn BB 2005, S. 5ff.; Diekmann/ Leuering N Z G 2004, S. 249ff.; Küthe BB 2004, S. 449ff.; DAV ZIP 2005, S. 774ff. und ZIP 2004, S. 1230ff.; IDW WPg 2004, S. 487f.; Hirte ZIP 2004, S. 1091 ff.; Kiethe N Z G 2004, S. 489ff.; Meilicke/Heidel DB 2004, S. 1479ff.; Thümmel DB 2004, S. 471ff. und A G 2004, S. 83ff.; Ulmer DB 2004, S. 859ff.; Kock/Dinkel N Z G 2004, S.441 ff.; Fleischer ZIP 2004, S.685ff.; Peltzer, Festschrift Hadding, S.593ff.; Kinzl DB 2004, S. 1653f. 29 Abgedruckt in ZBB 2004, S. 522ff.; mit Änderungen vom Bundestag am 16. Juni 2005 angenommen (BR-Drucksache 455/05) [Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vom 16. August 2005 - BGBl. 2005 I S. 2437ff.]. Siehe dazu: Duve/Pfitzner BB 2005, S. 673ff.; Zypries BB 2004, Heft 23, S. I; Braun/Rolter BKR 2004, S. 296ff.; Reuschle N Z G 2004, S. 590ff.; Hess/Michailidou W M 2003, S. 2318 ff. 30 BT-Drucksache 15/4999; mit Änderungen vom Bundestag am 21. April 2005 angenommen (BR-Drucksache 304/05) [Prospektrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 22. Juni 2005 - BGBl. 2005 I S. 1698ff.]. Siehe dazu Ekkenga BB 2005, S.561ff. 31 Volltext abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/Volltext vom 23. Mai 2005; mit Ände-

Corporate Governance und kein Ende?

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Haftung für falsche Kapitalmarktinformationen (Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz - K a p I n H a G ) vom 7. O k t o b e r 2 0 0 4 3 2 vor; ein Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz war angekündigt. 3 3 I m Zuge dieser Maßnahmen wurde auch das Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft ( S E E G ) v o m 22. D e z e m ber 2 0 0 4 verabschiedet. 3 4 A u f europäischer E b e n e wurde die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in B e z u g auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten M a r k t zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2 0 0 1 / 3 4 / E G („Transparenzrichtlinie") am 11. Mai 2004 erlassen. 3 5 E s wurden der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten („Verschmelzungsrichtlinie") vom 18. N o v e m b e r 2 0 0 3 , 3 6 der Vorschlag für eine R i c h t linie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Abänderung der Richtlinien 7 8 / 6 6 0 / E W G und 8 3 / 3 4 9 / E W G hinsichtlich der Jahresabschlüsse bestimmter Arten von Unternehmen und konsolidierter Abschlüsse vom 27. O k t o b e r 2 0 0 4 , 3 7 der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 7 7 / 9 1 / E W G des Rates in B e z u g auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals v o m 21. September 2 0 0 4 , 3 8 die Grundzüge der geplanten 14. Gesellschaftsrechtsrichtlinie über die grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzstaates von Kapitalgesellschaften v o m 26. April 2 0 0 4 , 3 9 die Empfehlung zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellrungen vom Bundestag am 30. Juni 2005 angenommen (BR-Drucksache 451/05) [Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz vom 3. August 2005 - BGBl. 2005 IS. 2267ff.]. Siehe dazu: Bundesministerium der Justiz, Pressemitteilung vom 11. März 2005; Börsenzeitung 12. März 2005, S.6; Börsenzeitung 8. April 2005, S. 5; Strieder DB 2005, S. 975ff.; Zypries BB 2005, Heft 15, S. I. Siehe dazu auch den Vorschlag eines Gesetzes zur Verbesserung der Transparenz von Vorstandsvergütungen von Baums, abgedruckt in ZIP 2004, S. 1877ff. 32 Abgedruckt in NZG 2004, S.1042ff. Siehe dazu: Sauer ZBB 2005, S.24ff.; Casper BKR 2005, S. 83ff.; Veil BKR 2005, S. 91 ff.; Langenbucher ZIP 2005, S. 239ff.; Gittermann NZG 2004, S. 1081 ff.; Fleischer BKR 2003, S.608ff. und ZGR 2004, S.437ff.; Baums ZHR 167 (2003), S. 139ff.; Baums/Fischer, Haftung des Prospekt- und des Abschlußprüfers gegenüber den Anlegern; Schwark, Festschrift Hadding, S. 1117ff.; Zimmer WM 2004, S. 9ff.; Keusch/Wankerl BKR 2003, S.744ff.; Heppe WM 2003, S. 714ff. und 753ff. Vgl. auch Friedl NZG 2004, S.448ff. 33 Abschnitt I des Allgemeinen Teils der Begründung zum RegE BilReG 4/2004 (Volltext abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/Volltext vom 27. April 2004). Siehe dazu nur SchulzeOsterloh ZIP 2004, S. 1128 ff. 34 BGBl. 2004 I S. 3675ff. 35 KOM (2003) 138(01). 36 KOM (2003) 703. Siehe dazu: Kommission, Pressemitteilung IP/04/1405; Müller ZIP 2004, S. 1790ff.; Wiesner DB 2005, S.91ff. 37 KOM (2004) 725. Siehe dazu Kommission, Pressemitteilung IP/04/1318. 38 KOM (2004) 730. Siehe dazu Kommission, Pressemitteilung IP/04/1334. 39 Abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/company/. Siehe dazu Kommission, Pressemitteilung IP/04/270.

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Corporate Governance und kein Ende?

Schäften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats v o m 15. F e bruar 2005 (Unabhängigkeitsempfehlung), 4 0 die Empfehlung zur Einführung einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der U n t e r n e h mensleitung börsennotierter Gesellschaften vom 14. D e z e m b e r 2004 4 1 und das zweite Konsultationspapier zur Einführung einer angemessenen Regelung zur Stärkung der Aktionärsrechte vom 13. Mai 2005 4 2 vorgelegt. D i e Schaffung der Europäischen Corporate Governance F o r u m s wurde am 18. Januar 2 0 0 4 , die E i n setzung des Sachverständigenausschusses am 28. April 2005 bekanntgegeben. 4 3 I m Zuge dieser Maßnahmen wurden die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Ubernahmeangebote („Ubernahmerichtlinie") v o m 21. April 2004 erlassen 4 4 und ein Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses und zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/ 3 4 9 / E W G des Rates („Prüferrichtlinie") vom 16. M ä r z 2004 gemacht. 4 5 D e r P r o z e ß der U m s e t z u n g des Maßnahmenkataloges 2/2003 und des A k tionsplans 5/2003 war Anfang J u n i 2 0 0 5 mithin in vollem Gange. Sein E n d e wird allerdings nicht das Ende der R e f o r m e n sein. D i e europäischen M a ß n a h m e n werden weitere deutsche Maßnahmen nach sich ziehen. Zudem gibt es neue nichtstaatliche Initiativen, die die Diskussion nicht zur R u h e k o m m e n lassen werden. So veröffentlichte das Berliner N e t z w e r k Corporate Governance im April 2 0 0 4 „12 Thesen zur Modernisierung der M i t b e s t i m m u n g " 4 6 und legte die gemeinsame Kommission Mitbestimmung von B D I und B D A im N o v e m b e r 2 0 0 4 ihren B e richt „Mitbestimmung modernisieren" vor. 4 7 Diese Untersuchung greift aus dem mit Corporate Governance beschriebenen Problemkreis einen Aspekt heraus, und zwar die Frage nach einer operationalen Interpretation der den Vorständen und Aufsichtsräten bei unternehmerischen Entscheidungen obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 9 3 , 116 A k t G : Sie müssen so konkretisiert werden, daß sie den Vorständen und Aufsichtsräten hin40 ABl. EG Nr. L 52 S. 51. Siehe zum Arbeitsdokument vom 23. Juli 2004 nur Maul/Lanfermann BB 2004, S. 1861, 1861 ff. 41 ABl. EG Nr. L 385 S. 55. Siehe zum Arbeitsdokument vom 23. Juli 2004 nur Maul/Lanfermann BB 2004, S. 1861, 1866f. 42 Abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/company/. 43 Kommission, Pressemitteilungen IP/04/1241 und IP/05/500. Die deutschen Mitglieder des Sachverständigenausschusses sind Theodor Baums (Universität Frankfurt) und Daniela WeberRey (Clifford Chance). 44 Abgedruckt in NZG 2004, S. 651 ff. Siehe dazu Maul NZG 2005, S. 151 ff. 45 KOM (2004) 177. Siehe dazu: Maul/Lanf ermann BB 2004, S. 1861, 1865f.; Lanfermann DB 2004, S. 609ff.; Wiesner ZIP 2003, S. 1186ff.; Van Hülle/Lanfermann BB 2003, S. 1323ff.; Schmidt BB2003, S. 779ff. 46 AG 2004, S.200f. Siehe dazu: Von Werder AG 2004, S. 166ff.; Schwark AG 2004, S. 173ff.; Säcker AG 2004, S. 180ff. und BB 2004, S. 1462ff.; Schwalbach AG 2004, S. 186ff.; Windbichler AG 2004, S. 190ff.; Kirchner AG 2004, S. 197ff. 47 BDA-200.

Corporate Governance und kein Ende?

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reichende Anhaltspunkte für eine effiziente Aufgabenwahrnehmung geben, ohne sie durch unübersehbare Haftungsrisiken in ihrem Engagement zu behindern. D e r Bundesgerichtshof hat dem Vorstand in der A R A G - E n t s c h e i d u n g „einen weiten Handlungsspielraum" zugebilligt und ausgeführt, „eine Schadensersatzpflicht" könne „erst in Betracht k o m m e n , wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am U n t e r n e h m e n s wohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist." 4 8 D e r Aufsichtsrat habe daran „insoweit Anteil, wie das Gesetz auch ihm unternehmerische Aufgaben überträgt." 4 9 D e r Bundesgerichtshof hat die Grundlage der Entscheidungsfreiräume des Vorstands in der „Führungsaufgabe" des Vorstands 5 0 und die der Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats in den „unternehmerischen Aufgaben" des Aufsichtsrats 5 1 gesehen. 5 2 E r hat den Begriff des „autonomen unternehmerischen Ermessensspielraums" geprägt. 53 D e r Bundesgerichtshof hat damit in dogmatischer Hinsicht Neuland betreten und eine intensive Diskussion ausgelöst. 5 4 In der Folge sind einige Vorschläge unterbreitet worden, die zweierlei gemeinsam haben: Sie verankern die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats in den Aufgabenzuweisungen nach den § § 7 6 A b s . l , 111 Abs. 1 A k t G . 5 5 Sie nehmen keine Haftung nach den §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G an, wenn Vorstand und Aufsichtsrat Entscheidungen im R a h m e n ihrer Entscheidungsfreiräume treffen, die sich später als Fehlentscheidungen erweisen. 5 6 D e r jüngste Vorschlag stammt von der Bundesregierung. Sie hat vorgeschlagen, in § 9 3 Abs. 1 A k t G den folgenden Satz 2 einzufügen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln." 5 7 Alle diese Vorschläge haben noch ein weiteres gemeinsam: Im Detail herrscht Unklarheit, und zwar insbesondere im H i n b l i c k auf drei Fragen: Bei welchen Entscheidungen verfügen Vorstand und Aufsichtsrat über welche EntscheiBGH ZIP 1997, S. 883, 885, 886 - ARAG/Garmenbeck. BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 50 BGH ZIP 1997, S.883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 51 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 52 So auch Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 105. 53 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 54 Siehe dazu nur Horn ZIP 1997, S. 1129, 1134f. und Roth, Ermessen, S.40ff. sowie Kindler ZHR 162 (1998), S.104, 105f., 106f. 55 Kindler ZHR 162 (1998), S.101, 105f.; Horn ZIP 1997, S.1129, 1134f.; Roth, Ermessen, S.48ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.26ff., 35ff. 56 Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 104; Roth, Ermessen, S.48ff.; Paefgen, Entscheidungen, S. 171 ff., 222ff.; Hopt, Festschrift Mestmäcker, S.909, 920; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1135. 57 Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004. 48

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8

Corporate Governance und kein Ende?

dungsfreiräume, oder anders gewendet, was ist eine unternehmerische Entscheidung? 5 8 U n t e r welchen Bedingungen fallen Entscheidungen in diese Entscheidungsfreiräume, oder anders gewendet, wann liegen ermessensfehlerfreie unternehmerische

Entscheidungen

vor? 5 9

U n t e r welchen

Voraussetzungen

sind

Pflichtverletzungen im Sinne der § § 9 3 , 116 A k t G gegeben, wenn Entscheidungen gemessen an diesen Bedingungen nicht von den Entscheidungsfreiräumen gedeckt sind, oder anders gewendet, wann müssen Vorstand und Aufsichtsrat für ermessensfehlerhafte unternehmerische Entscheidungen einstehen? 6 0 Vor diesem Hintergrund befaßt sich diese Untersuchung mit der zentralen dogmatischen Frage im Spannungsfeld zwischen den Aufgabenzuweisungen nach den §§ 76 Abs. 1 , 1 1 1 Abs. 1 A k t G und den Pflichtverletzungen im Sinne der § § 9 3 , 1 1 6 A k t G : Wie können die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats durch Auslegung der §§ 76 Abs. 1 , 1 1 1 Abs. 1 A k t G sachgerecht bestimmt und durch Konkretisierung der den Vorständen und den Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 9 3 , 116 A k t G angemessen gesichert und begrenzt werden? Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in einer kritischen A n a l y se der bisher unterbreiteten Vorschläge und der Grundlegung eines Haftungskonzepts, das die ihm obliegende Steuerungsfunktion tatsächlich erfüllen kann (Teil 1). D i e Ausformung dieses Haftungskonzepts erfolgt entsprechend der dogmatischen Fragestellung in zwei Schritten: E s werden die Voraussetzungen für die A n n a h m e von Entscheidungsfreiräumen des Vorstands und des Aufsichtsrats konkretisiert (Teil 2) und die den Vorständen und Aufsichtsräten insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 9 3 , 1 1 6 A k t G präzisiert (Teil 3). Das E r gebnis ist eine deutsche business judgment rule, die wie die U . S . amerikanische business judgment rule eine beschränkte Uberprüfung des Entscheidungsergebnisses mit einer Uberprüfung des Entscheidungsprozesses verbindet, im H i n blick auf die Kontrolldichte und die haftungsrechtlichen Konsequenzen jedoch deutlich strenger ist. D i e Untersuchung belegt, daß es ein Irrtum ist zu glauben, zur „Präzisierung der Haftungsvoraussetzungen" würde „ein rechtsvergleichender B l i c k auf die U . S . amerikanischen Erfahrungen mit der business judgment rule" ausreichen. 6 1

58 Siehe dazu: Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004; Paefgen AG 2004, S.245, 251; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 443; Thümmel DB 2004, S.471, 472; Fleischer ZIP 2004, S. 685, 685; Roth BB 2004, S. 1066, 1068; Heermann AG 1998, S.201, 203. 59 Siehe dazu: Ulmer DB 2004, S.859, 859f., 860f.; Fleischer ZIP 2004, S.685, 690f.; Paefgen AG 2004, S.245,252f., 253ff., 255,255f.; ThümmelDB 2004, S.471, 472 und AG 2004, S. 83, 87; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 443f.; Kinzl DB 2004, S. 1653, 1653f. 60 Siehe dazu: Roth, Ermessen, S.48ff., 135; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 105; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 251 f., 253f., 260f., 266; Fleischer ZIP 2004, S. 685,689; Henze BB 2001, S.53, 57. 61 Vgl. Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 107.

Erster Teil

Das Corporate Governance Problem

A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance Die Diskussion um die Funktionsfähigkeit der deutschen Corporate Governance hat sich an dem Versagen von Vorständen, Aufsichtsräten, Abschlußprüfern und Geschäftsbanken im Zuge einer ganzen Reihe von spektakulären Unternehmenskrisen entzündet. Dies dürfte der Grund dafür sein, daß die Anforderungen an die Träger von Leitungs- und Uberwachungsaufgaben in den Unternehmen im Mittelpunkt der Reformbemühungen gestanden haben und stehen. Das Ergebnis sind zahlreiche Änderungen des Gesellschafts-, Bilanz- und Kapitalmarktrechts gewesen. Die Frage, ob dies der richtige Ansatzpunkt ist, wurde und wird jedoch selten gestellt. So formulierte etwa Meinhard Dreher im Jahr 1996: „Je mehr Hilfe wir uns vom Organisationsrecht erwarten, desto eher geht es uns vielleicht wie demjenigen, der in einer dunklen Nacht im Schein einer Straßenlaterne nach einer verlorenen Münze sucht. Ein zufällig vorbeikommender Passant fragt ihn, wo er die Münze verloren habe. Der Verlierer weist auf einen finsteren Platz weiter weg auf der anderen Straßenseite. Daraufhin fragt ihn der Passant: Aber warum suchen Sie dann hier? Zur Antwort bekommt er: Weil hier das Licht ist!" 1 Die entscheidende Frage lautet mithin, ob die Lösung des Corporate Governance Problems darin liegt, die Anforderungen an Vorstände, Aufsichtsräte, Abschlußprüfer und Geschäftsbanken und damit an die Leitung und Überwachung in den Unternehmen zu verschärfen. Ein Blick auf die spektakulären Unternehmensskandale und das deutsche Corporate Governance System macht deutlich, daß dies der Fall ist.

I. Der empirische Befund Die Unternehmenskrisen sind zumeist nicht durch eine unglückliche Unternehmenspolitik, sondern durch greifbare Fehlverhaltensweisen der Vorstände, Aufsichtsräte und/oder Abschlußprüfer ausgelöst worden. In einer Reihe von Fällen waren Handlungen unverantwortlich oder sogar kriminell. In anderen Fällen lagen äußerst zweifelhafte Geschäftspraktiken vor oder kamen plötzlich ans Licht, und zwar durch hohe Wertberichtigungen, umfangreiche Rückstellungen und be1

Dreher,

Corporate Governance, S. 60.

A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate

Governance

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trächtliche Verluste im Zusammenhang mit kritischen Immobilienprojekten. In die erste Fallgruppe fallen etwa die Fälle A R A G , Metallgesellschaft, A S S und B r e mer Vulkan sowie Balsam und K H D , in die zweite die Fälle Mannesmann, H o l z mann und HypoVereinsbank.

1. D e r F a l l A R A G D i e A R A G A G und ihre hundertprozentigen Tochtergesellschaften A R G r u n d G m b H und A R A G Finanz B . V. unterhielten Geschäftsbeziehungen mit der G a r menbeck Ltd. Diese nahm einerseits Kapital zu erheblich über dem Kapitalmarktniveau liegenden Zinsen auf und gewährte andererseits Kredite zu deutlich unterhalb des marktüblichen Zinsniveaus liegenden Zinsen. Sie konnte die Verluste aus ihrer Geschäftstätigkeit nur für eine begrenzte Zeit durch eine Ausweitung der Geschäftstätigkeit auffangen und brach im J a h r 1990 zusammen. D i e A R A G A G und ihre Tochtergesellschaften erlitten mit Blick auf die der G a r m e n b e c k Ltd. gewährten Darlehen („Anlagegeschäft") einen Zinsausfallschaden in H ö h e von rund 4 2 0 T D M . Sie verloren darüberhinaus mit Blick auf die von der G a r menbeck Ltd. zur Verfügung gestellten Darlehen, die die Tochtergesellschaften der A R A G A G vorfinanziert hatten, und zwar vermittels der G a r m e n b e c k Ltd. gewährter (durch Eurokredite finanzierter) Vorschaltdarlehen („Kreditanlagegeschäft"), mehr als 80 M i o . D M (und zwar infolge der Tilgung der Eurokredite nach Nichtauszahlung bereits vorfinanzierter Darlehen durch die G a r m e n b e c k Ltd.). 2 Verantwortlich gemacht wurden insbesondere zwei Mitglieder des Vorstands der A R A G A G , der Vorstandsvorsitzende L.F. (Familienstamm H . H . F . ) und der Finanzvorstand H . H . , die zugleich alleinvertretungsberechtigte

Ge-

schäftsführer der A R G r u n d G m b H und A R A G Finanz B.V. waren. D i e seit J a h ren andauernden Differenzen zwischen den beiden Familienstämmen H . H . F . und W.F. eskalierten, eine wahre P r o z e ß welle brach über die A R A G - G r u p p e herein, und der Finanzvorstand H . H . wurde schließlich rechtskräftig zu einem Schadensersatz in H ö h e von 55,6 Mio. D M und zu einer Freiheitsstrafe von vier J a h ren und acht Monaten verurteilt. 3 O L G Düsseldorf ZIP 1995, S. 1183, 1183ff. - ARAG/Garmenbeck. Aufsichtsratsprozeß: Anfechtung eines Aufsichtsratsbeschlusses des Aufsichtsrats der A R A G AG, mit dem die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Vorstandsvorsitzenden der ARAG AG abgelehnt worden ist, durch unterlegene Mitglieder des Aufsichtsrats der A R A G AG (BGH vom 21. April 1997 - II ZR 175/95 - ZIP 1997, S. 883 ff. - ARAG/Garmenbeck; O L G Düsseldorf vom 22. Juni 1995 - 6 U 104/94 - ZIP 1995, S. 1183ff. - ARAG/Garmenbeck; L G Düsseldorf vom 14. März 1994 - 32 O 158/92 - ZIP 1994, S.628f. - ARAG/Garmenbeck; die Revision führte zur Zurückverweisung der Sache); AFI-Prozeß: Anfechtung eines Gesellschafterbeschlusses der Gesellschafterversammlung der mit einer Kapitalbeteiligung in Höhe von 50% an der A R A G AG beteiligten AFI Verwaltungsgesellschaft mbH, mit dem eine Weisung an den Geschäftsführer der AFI GmbH, die Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung der A R A G AG mit dem Ziel der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die Vorstandsmitglieder der A R A G AG zu bewirken, abgelehnt worden ist, 2

3

12

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

Das O L G Düsseldorf sah die Pflichtverletzung des Finanzvorstands H . H . darin, daß er im Rahmen des 7. und 8. „Kreditanlagegeschäfts" die Auszahlung eines Teilbetrages der bereitgestellten Eurokreditvaluten durch die A R A G Finanz B. V. an eine Tochtergesellschaft der Garmenbeck Ltd., die F I D O R International A G , veranlaßte, obwohl nicht f ü r eine hinreichende Sicherung v o r einem etwaigen Verlust des Kapitals gesorgt w a r und insbesondere die Garantieerklärung der Schweizer Rückversicherung nicht vorlag, v o n der die Auszahlung der Vorschaltdarlehen abhängen sollte. 4 Soweit die Prozesse zum Ende des Jahres 1998 noch nicht rechtskräftig entschieden waren, wurden sie einvernehmlich beendet. 5 Die

durch unterlegene Gesellschafter der AFI GmbH (OLG Düsseldorf vom 14. März 1996 - 6 U 119/94 - ZIP 1996, S. 1083 ff. - ARAG/Garmenbeck II; LG Düsseldorf vom 7. April 1994 - 32 O 225/92 - AG 1994, S.330ff. - ARAG/Garmenbeck II; rechtskräftig, denn der BGH hat mit Beschluß vom 20. Januar 1997 - II ZR 90/96 - die Annahme der Revision mangels grundsätzlicher Bedeutung und Erfolgsaussicht abgelehnt - ZIP 1997, S. 887); erster Schadensersatzprozeß: Schadensersatzklage der ARAG AG, vertreten durch den Aufsichtsrat der ARAG AG, gegen den Finanzvorstand der ARAG AG (OLG Düsseldorf vom 28. November 1996 - 6 U 11/95 ZIP 1997, S. 27ff.; LG Düsseldorf vom 23. November 1994 - 33 O 204/93 - nicht veröffentlicht siehe dazu Grooterhorst ZIP 1999, S.1117, 1118 Fn. 9; rechtskräftig, denn die Revision ist am 9. Juni 1997 zurückgenommen worden - siehe dazu Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1118 Fn. 10) und Strafurteil gegen den Finanzvorstand der ARAG AG (LG Aachen vom 19. März 1993 - 86 Kls 31 Js 1420/90 - nicht veröffentlicht - siehe dazu Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1119 Fn. 16); zweiter Schadensersatzprozeß: Schadensersatzklage der ARAG AG, vertreten durch zwei nach §147 AktG bestellte besondere Vertreter, gegen den Vorstandsvorsitzenden und vier weitere Vorstandsmitglieder der ARAG AG (LG Düsseldorf vom 15. September 1995 - 40 O 226/94 ZIP 1995, S. 1985 ff.); Anfechtungs- und Nichtigkeitsfeststellungsverfahren: Nichtigkeitsklage des Vorstands der ARAG AG gegen den Beschluß der Hauptversammlung der ARAG AG vom 26. Oktober 1994, mit dem auf Veranlassung des Notgeschäftsführers der mit einer Kapitalbeteiligung in Höhe von 50% an der ARAG AG beteiligten FIDA Gesellschaft für Vermögensverwaltung und für Vermittlung GmbH die Erhebung einer Schadensersatzklage der ARAG AG, vertreten durch zwei nach § 147 AktG bestellte besondere Vertreter, gegen den Vorstandsvorsitzenden und vier weitere Vorstandsmitglieder der ARAG AG beschlossen wurde, sowie Nichtigkeits- und Anfechtungsklage des Vorstands der ARAG AG gegen den Beschluß der Hauptversammlung der ARAG AG vom 10. Januar 1995, mit dem die Erhebung dieser Schadensersatzklage noch einmal beschlossen wurde (OLG Düsseldorf vom 24. April 1997 - 6 U 20/96 - ZIP 1997, S. 1153 ff.; LG Düsseldorf vom 28. November 1995 - 1 0 O 66/95 - nicht veröffentlicht - siehe dazu Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1120 Fn. 28 iVm. 21; rechtskräftig, denn der BGH hat mit Beschluß vom 22. Juni 1998-11 ZR 135/97-die Annahme der Revision abgelehnt-nicht veröffentlicht - siehe dazu Grooterhorst ZIP 1999, S.1117, 1120 Fn.28); FIDA-Prozeß: Antrag eines Gesellschafters der mit einer Kapitalbeteiligung in Höhe von 50% an der ARAG AG beteiligten FIDA Gesellschaft für Vermögensverwaltung und für Vermittlung GmbH auf Abberufung des Notgeschäftsführers dieser Gesellschaft wegen Unstimmigkeiten betreffend die Erhebung einer Schadensersatzklage der ARAG AG gegen den Vorstandsvorsitzenden und vier weitere Vorstandsmitglieder der ARAG AG (OLG Düsseldorf vom 18. April 1997 - 3 Wx 584/96 - ZIP 1997, S. 846ff. - Fida/ARAG; rechtskräftig - ZIP 1997, S.846). Siehe zu den Prozessen, die zu dem ARAG/Garmenbeck-Fall gehören, insbesondere den Beitrag des Rechtsanwalts Grooterhorst, der den Familienstamm L.F. (H.H.F.) vertreten hat, ZIP 1999, S. 1117ff. 4 OLG Düsseldorf ZIP 1997, S.27, 27ff., 30f. 5 Grooterhorst ZIP 1999, S.1117, 1117.

A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate

Governance

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A R A G - G r u p p e wurde im J a h r 1999 umstrukturiert, und der Familienstamm W.F. übernahm die Beteiligungen des Familienstamms H . H . F . 6 2. D e r F a l l Metallgesellschaft D e r Vorstand der Metallgesellschaft A G ließ sich im J a h r 1993 auf riskante O l t e r mingeschäfte ein, das U n t e r n e h m e n erlitt Verluste in H ö h e von rund 1,3 M r d . D M - und zwar entweder durch die Oltermingeschäfte des Vorstands oder durch die abrupte Abwicklung der Oltermingeschäfte auf Veranlassung des Aufsichtsrats. Es gelang dem neuen Vorstandsvorsitzenden mit einem rigorosen Sanierungskonzept, den K o n k u r s abzuwenden. 7 3. D e r Fall A S S D e r Vorstand der Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken A G hatte im J a h r 1990 im Zuge der Aufhebung eines Leasingvertragswerks erreicht, daß das (zuvor verkaufte und zurückgeleaste) Betriebsgrundstück in das Eigentum einer neu gegründeten Kommanditgesellschaft fiel (Treuhandvertrag). D i e Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken A G war an dieser Gesellschaft als einzige Kommanditistin mit einem Kommanditanteil von 9 4 % beteiligt (Kommanditgesellschaftsvertrag). Sie schloß mit ihr einen Mietvertrag über das Betriebsgrundstück ab, der eine fünfzehnjährige Bindung des Vermieters, jedoch eine dreimonatige Kündigungsfrist für den Mieter vorsah (Mietvertrag). D e r Vorstand der A l tenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken A G veranlaßte daraufhin, daß das Betriebsgrundstück zur Herstellung der Liquidität der Altenburger und Stralsunder Spielkartenabriken A G zu einem Kaufpreis von 14 M i o . D M verkauft wurde (Kaufvertrag). All diesen Verträgen stimmte der Aufsichtsrat am 26. September 1990 zu, und der Kaufvertrag über das Betriebsgrundstück wurde am 19. D e z e m b e r 1990 notariell beurkundet. Das L G Stuttgart sah eine Pflichtverletzung des v o m Konkursverwalter in A n spruch genommenen Aufsichtsratsmitglieds darin, daß es dem beabsichtigten Verkauf zu einem Kaufpreis von 14 Mio. D M nach Vermietung mit Mietbindung von fünfzehn Jahren auf Vermieterseite zugestimmt hatte, o b w o h l keine längere Vermieterbindung als fünf Jahre vertretbar und das Betriebsgrundstück selbst bei fünfzehnjähriger Vermieterbindung rund 23 M i o . D M wert war. Eine offensichtlich außerhalb vertretbarer kaufmännischer Interessenwahrung liegende E n t scheidung des Vorstands dürfe der Aufsichtsrat nicht billigen. E i n e Nachfrage wäre das Mindeste gewesen, was das beklagte Aufsichtsratsmitglied im R a h m e n seiner Sorgfaltspflicht hätte tun müssen, bevor es - ohne nähere Darlegungen des Tsp. 14. April 2000, S. 27. AG 1994, S. R 44f.; DER SPIEGEL 13/1997, S.104f.; siehe dazu auch Girnghuber, audit committee, S.92ff. 6

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Problem

Vorstands zu dessen etwaigen eigenen Erkundungen - einem Verkauf zu einem Preis von 14 Mio. D M hätte zustimmen dürfen. Das beklagte Aufsichtsratsmitglied habe der Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken A G durch Verletzung seiner Sorgfaltspflicht einen Schaden in H ö h e von 9 4 % von 15 Mio. D M zugefügt, weil das Betriebsgrandstück statt für 29 Mio. D M nur für 14 Mio. D M verkauft worden sei. Dafür hafte es dem Konkursverwalter der Altenburger und Stralsunder Spielkarten Fabriken AG. 8 4. D e r Fall B r e m e r V u l k a n Der Vorstandsvorsitzende der Holding Bremer Vulkan Verbund A G verwendete Beihilfen für den A u f b a u der Ostwerften in H ö h e von rund 700 Mio. D M , u m den Vulkan Verbund zu einem maritimen Technologiekonzern auszubauen und die Liquiditätsschwierigkeiten einiger Konzerntöchter im Westen zu beseitigen, und - so der Vorwurf - verschleierte auf diese Weise die Existenzkrise des Konzerns seit dem Jahr 1993. 9 Der Konzern räumte im September 1995 Liquiditätsprobleme ein, stellte im Februar 1996 Vergleichsantrag, und im Mai 1996 w u r d e der Anschlußkonkurs eröffnet. Das Bremer Landgericht wies die Schadensersatzklage der BvS (vormals T H A ) gegen vier Vorstandsmitglieder der Bremer Vulkan Verbund A G ab. Es verneinte insbesondere einen Schadensersatzanspruch der M T W (und damit der BvS) nach §823 Abs. 2 B G B iVm. § 2 6 6 StGB. Eine Pflichtverletzung der Bremer Vulkan A G gegenüber der M T W liege nicht vor, weil die „Liquiditätsabflüsse bei der M T W " nicht „zu einer Beeinträchtigung des Stammkapitals geführt hätten" und „es keine Verletzung der gesellschaftlichen Treuepflicht gegenüber einer einzelnen Verbundgesellschaft" darstelle, „wenn die Muttergesellschaft versucht, w i r t schaftliche Schwierigkeiten anderer Verbundgesellschaften und des Konzerns insgesamt durch Zusammenfassung aller Kräfte des Gesamtkonzerns zu beheben." Es verwies darauf, daß „die gesellschafterliche Treuepflicht... gegenüber allen Verbundgesellschaften gleichermaßen" bestand und „regionalpolitische allgemeine Interessen" an einer anderen Gewichtung insoweit bedeutungslos waren. 1 0 Die Berufung gegen dieses Urteil blieb erfolglos. Das O L G Bremen sah z w a r anders als das L G Bremen 1 1 - eine Pflichtverletzung der Bremer Vulkan A G ge8

LG Stuttgart vom 29. Oktober 1999-4 KfH O 80/98 - AG 2000, S. 237ff.; nicht rechtskräf-

tig9 Tsp.26. Oktober 1999, S.18; DER SPIEGEL 26/1996, S.78ff.; DER SPIEGEL 10/1996, S. 104ff.; FOCUS 10/1996, S.256ff.; siehe dazu auch Girnghuber, audit committee, S.96f. Siehe zum Sachverhalt auch LG Bremen vom 19. November 1997 - 4 O 1073/96 - ZIP 1998, S. 561 ff. Bremer Vulkan/MTW und OLG Bremen vom 18. Mai 1999 - 3 U 2/98 - ZIP 1999, S. 1676ff. Bremer Vulkan/MTW sowie BGH vom 17. September 2001 - II ZR178/99 - ZIP 2001, S. 1874ff. - Bremer Vulkan. 10 LG Bremen ZIP 1998, S. 561, 564ff. - Bremer Vulkan/MTW. 11 LG Bremen ZIP 1998, S. 561, 563f. - Bremer Vulkan/MTW.

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genüber der T H A darin, daß ein Betrag in H ö h e von 194 Mio. D M nicht voll für Investitionen bei der M T W Schiffswerft G m b H in Wismar zur Verfügung stand, sondern für den Finanzbedarf der Westwerften ausgegeben worden war. Es bejahte auch eine Gesamtverantwortung der beklagten Vorstandsmitglieder. Es hielt den Schadensersatzanspruch der BvS gemäß § 8 2 3 Abs. 2 B G B iVm. § 2 6 6 S t G B aber für nicht durchsetzbar. 1 2 D i e Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung. D e r Bundesgerichtshof folgte der dargestellten Ansicht des O L G Bremen nicht, hielt aber insbesondere einen Schadensersatzanspruch der M T W (und damit der BvS) nach § 8 2 3 Abs. 2 B G B iVm. § 2 6 6 S t G B für möglich. E r nahm eine Pflichtverletzung der B r e m e r Vulkan A G gegenüber der M T W an, da sie „das Vermögen von M T W insoweit zu betreuen" hatte, „als sie bei ihren Dispositionen über Vermögenswerte der M T W durch angemessene Rücksichtnahme auf deren Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung ihrer Fähigkeit, ihren Verbindlichkeiten nachzukommen, darauf zu achten hatte, daß sie die Existenz der M T W nicht gefährdete", und „dieser Pflicht ... nicht n a c h g e k o m m e n " war. Forderungen der M T W in H ö h e von ca. 590 M i o . D M hätten in der Bilanz per 31. D e z e m b e r 1995 auf N u l l wertberichtigt werden müssen, was zu einer Uberschuldung der M T W in H ö h e von ca. 233 Mio. D M geführt und sie der Fähigkeit beraubt habe, ihren Verbindlichkeiten nachzuk o m m e n und ihr Unternehmen weiter zu betreiben. Das Berufungsgericht müsse allerdings noch die erforderlichen Feststellungen dazu treffen, o b die beklagten Vorstandsmitglieder vorsätzlich gehandelt hätten. 1 3 Das Strafverfahren gegen drei Vorstandsmitglieder der B r e m e r Vulkan Verbund A G führte ebenfalls zur Aufhebung und Zurückverweisung. D e r Bundesgerichtshof führte aus, jedenfalls bei der gegebenen Sachverhaltskonstellation könne die der Alleingesellschafterin B r e m e r Vulkan A G gegenüber der M T W o b liegende Pflicht, ihr das zur Begleichung ihrer Verbindlichkeiten erforderliche Kapital zu belassen, auch eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 2 6 6 Abs. 1 S t G B darstellen. D i e Vermögenswerte der Ostwerften hätten entweder als Festgeldanlagen dem K o n z e r n bzw. seinen Tochtergesellschaften zur Verfügung gestanden oder wären in das Cash-Management-System einbezogen worden, was materiell die Gewährung eines Darlehens bedeutet hätte. Insoweit wäre die B r e mer Vulkan A G , die als Alleingesellschafterin nur in den oben gesteckten Schranken hätte verfügen dürfen, rechtlich gehalten gewesen, eine andauernde Sicherung der Gelder zu gewährleisten. Zwar sei die Errichtung eines Cash-Management-Systems nicht an sich pflichtwidrig. W ü r d e n automatisch ohne Rücksicht OLG Bremen ZIP 1999, S. 1671, 1676ff. - Bremer Vulkan/MTW. BGH ZIP 2001, S. 1874ff. und insbesondere S. 1876f., 1878 ff. - Bremer Vulkan; siehe zu den in diesem Urteil angesprochenen Fragen der Konzernhaftung: Emmerich AG 2004, S. 423 ff.; Henze AG 2004, S.405ff.; Hüffer AG 2004, S.416, 417; Schön ZHR 168 (2004), S.268, 272ff.; Lütter/Banerjea ZGR 2003, S.402, 403ff., 413ff.; Wiedemann ZGR 2003, S.283ff.; Ulmer ZIP 2001, S.2021, 2021 ff. 12

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auf bestehende Verbindlichkeiten Gelder in dieses System eingespeist, löse dies gesteigerte Sicherungspflichten aus, wenn auf diese Weise Vermögenswerte das Unternehmen verlassen und innerhalb des Konzerns transferiert würden. Erreiche der Vermögenstransfer ein solches Ausmaß, daß die Erfüllung der eigenen Verbindlichkeiten des einlegenden Konzernmitglieds im Falle eines Verlustes der Gelder gefährdet wäre, dann treffe die Muttergesellschaft eine Vermögensbetreuungspflicht, die Rückzahlung der Gelder - etwa durch ausreichende Besicherung - zu gewährleisten. Diese Pflicht sei den Angeklagten nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB als Mitgliedern des Organs der Muttergesellschaft zuzurechnen. Der Bundesgerichtshof ließ es im Ergebnis offen, ob die bislang getroffenen Feststellungen eine Untreuehandlung unter dem Gesichtspunkt des existenzgefährdenden Eingriffs tragen würden, weil ihm jedenfalls eine Durchentscheidung zum Schuldspruch verschlossen sei. 14 5. Der Fall Balsam Der Vorstand der Balsam AG ließ die Procedo Gesellschaft für Exportfactoring jahrelang vorgetäuschte und überhöhte Aufträge vorfinanzieren und fügte ihr (und ihren 49 Gläubigerbanken) einen Schaden in Höhe von rund 1,6 Mrd. DM zu. Das Unternehmen stellte im Juni 1994 Konkursantrag. Im Zuge des Konkursverfahrens stellte sich heraus, daß die Balsam AG entgegen dem durch die uneingeschränkt testierten Jahresabschlüsse vermittelten Eindruck bereits seit Jahren überschuldet war; der aufgelaufene Jahresfehlbetrag machte mindestens 1 Mrd. D M aus. Die Balsam AG hatte im operativen Geschäft und im Zusammenhang mit von ihr eingegangenen Devisenoptionsgeschäften erhebliche Verluste erwirtschaftet. Es waren zudem hohe Verbindlichkeiten (Zinsen und Gebühren) daraus entstanden, daß die Balsam AG fortlaufend in großem Umfang zur Liquiditätsbeschaffung fiktive Forderungen im Wege des Factorings verkauft hatte. Die Überschuldung war bis zur Konkursantragstellung auf rund 2,5 Mrd. D M gestiegen. Die Schadensersatzklage des Konkursverwalters gegen ein Aufsichtsratsmitglied war in erster Instanz erfolgreich. Das LG Bielefeld sah die Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds darin, daß es Ende März 1994 eine glaubhafte Information über die Größenordnung des Factoringgeschäfts bekam, aber die anderen Aufsichtsratsmitglieder nicht informierte. So habe der Aufsichtsrat nicht sogleich einschreiten und weitere Factoringgeschäfte und daran (zur vermeintlichen) Kurssicherung anknüpfende Devisenoptionsgeschäfte bis auf weiteres einem Zustimmungsvorbehalt unterwerfen können. Pflichtgemäßes Handeln hätte diese Reaktionen geboten. Die Fehleinschätzung und das daran anknüpfende Fehlverhalten des Aufsichtsratsmitglieds hätten eine Steigerung der Überschuldung und

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BGH vom 13. Mai 2004 - 5 StR 73/03 - DB 2004, S. 1487, 1490f. - Bremer Vulkan II.

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damit einen von ihm zu ersetzenden Schaden mindestens in H ö h e von 5 M i o . D M verursacht. 1 5

6. D e r Fall K H D D e r Vorstand der H u m b o l d t Wedag A G , einer Konzerngesellschaft des K l ö c k n e r - H u m b o l d t - D e u t z - K o n z e r n s , vertuschte jahrelang durch Bilanzmanipulationen Verluste beim Bau von Zementfabriken in H ö h e von rund 650 M i o . D M . E r trieb damit den K l ö c k n e r - H u m b o l d t - D e u t z - K o n z e r n im J a h r 1996 in eine E x i stenzkrise, aus der er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. D i e wichtigsten Gläubigerbanken einigten sich auf ein Sanierungskonzept, und der K o n zern wurde zerschlagen. 1 6

7. D e r F a l l M a n n e s m a n n I Das Ubernahmeangebot des K o n z e r n s Vodafone Airtouch Plc. an die Aktionäre der Mannesmann A G im N o v e m b e r 1999 führte zu einer öffentlichen „Übernahmeschlacht" 1 7 und veranlaßte einige Aktionäre der Mannesmann A G , eine einstweilige Verfügung gegen ihren Vorstandsvorsitzenden Esser zu beantragen. Sie behaupteten, er wirke mit der Rückendeckung des Aufsichtsrats auf die Bildung eines „harten K e r n s " verkaufsunwilliger Aktionäre hin und unternehme mit G e sellschaftsmitteln eine aufwendige Werbekampagne für eine Ablehnung der Übernahme. Sie machten geltend, er müsse sich neutral verhalten und deshalb alle Maßnahmen unterlassen, die den Interessen der Aktionäre entgegenstünden, das Übernahmeangebot anzunehmen. Das L G Düsseldorf gab dem Antrag nicht statt. D i e gezielte Information bestimmter Aktionärsgruppen (road shows), die Einnahme einer bestimmten Verhandlungsposition gegenüber dem Management von Vodafone A i r t o u c h Plc. und die Darstellung dieser Position sowie die Werbung dafür in den Medien seien ge15 LG Bielefeld vom 16. November 1999 - 15 O 91/98 - ZIP 2000, S.20, 20f., 24f. - Balsam AG; nicht rechtskräftig. Siehe dazu: Brandi ZIP 2000, S. 173ff.; Thümmel AG 2004, S. 83, 85; Girnghuber, audit committee, S.94f.; Peltzer, Festschrift Hadding, S.593, 595f., führt aus, der Insolvenzverwalter habe nicht den Aufsichtsratsvorsitzenden in Anspruch genommen, sondern den zweiten Anteilseignervertreter (das dritte Aufsichtsratsmitglied war eine Arbeitnehmervertreterin), und zwar, weil bei diesem die Vollstreckungsmöglichkeiten besonders günstig erschienen. Der Fall hinterlasse ein schales Gefühl, weil das Aufsichtsratsmitglied verurteilt worden sei, das seinen Pflichten am rührigsten nachgekommen sei und gleichwohl das Komplott nicht habe aufdecken können. 16 Tsp.5. Juni 1996, S. 17; DER SPIEGEL 23/1996, S.96ff.; FOCUS 23/1996, S.214ff.; siehe dazu auch Girnghuber, audit committee, S. 91 f. 17 Tsp.23. November 1999, S.20; Tsp.26. November 1999, S.27; Tsp.29. November 1999, S.20; Tsp.30. November 1999, S. 17; Tsp.6. Dezember 1999, S. 19; Tsp. 10. Dezember 1999, S.25; Tsp. 20. Dezember 1999, S. 17; Tsp. 14. Januar 2000, S. 3; Tsp. 1. Februar 2000, S. 17; Tsp. 4. Februar 2000, S.21; Tsp.5. Februar 2000, S.21; Tsp. 13. April 2000, S.23; Tsp.6. Juni 2000.

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1 Teil: Das Corporate

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Problem

wohnliche Geschäftsführungsmaßnahmen, deren Qualität und Bewertung sich auch nicht dadurch änderten, daß sie in der einen oder anderen Phase einer feindlichen Übernahme erfolgen würden. 18 8. Der Fall Mannesmann II Nachdem Esser bereits 330 Mio. DM zur Abwehr der Übernahme ausgegeben hatte, einigte er sich mit Gent, dem CEO von Vodafone Airtouch Plc., am 2. Februar 2000 mündlich über die Bedingungen der Übernahme. Der Aufsichtsrat der Mannesmann AG beriet am 4. Februar 2000 über seine Zustimmung zu dem am 3. Februar 2000 aufgesetzten schriftlichen term sheet und erteilte sie. Unmittelbar vorher tagte das Aufsichtsratspräsidium. Es waren nur der Aufsichtsratsvorsitzende Funk und Ackermann anwesend; Zwickel war verhindert und Ladberg erkrankt. Nach der von Esser formulierten Beschluß vorläge sollte „Herr Dr. Esser auf Initiative des Großaktionärs Hutchison Whampoa und nach einer zwischen Hutchison und Vodafone getroffenen Abstimmung eine Anerkennungsprämie in Höhe von GBP 10 Mio. erhalten" und sollte „ebenfalls auf Initiative von Hutchison und ebenfalls in Abstimmung mit Vodafone ein weiterer Fonds von GBP 10 Mio. für Herrn Professor Dr. Funk, Aufsichtsratsvorsitzender, und für Mitarbeiter im Telekommunikationsbereich geschaffen werden, die persönlich einen hohen Beitrag zum wertmäßigen Erfolg der Aktionäre geleistet haben und deren weitere Mitarbeit im auf Vodafone übergehenden Verbund von besonderer Bedeutung ist. Dabei soll Herr Professor Funk eine Prämie in Höhe von GBP 3 Mio. erhalten." Funk und Ackermann verständigten sich darauf, und als Zwickel telefonisch erklärte, mit dem Beschluß keine Probleme zu haben, wurde dieser niedergelegt und unterschrieben. Esser wies auf die Ordnungswidrigkeit der Stimmabgabe von Funk in eigener Sache hin, und der Beschluß wurde insoweit kassiert. Am 17. Februar 2000 kam es zu weiteren Beschlüssen des Aufsichtsratspräsidiums. Es wurde zustimmend zur Kenntnis genommen, daß Funk zugesagt hatte, Esser nach seinem Ausscheiden auf Lebenszeit Wagen und Büro zu gewähren (was später durch eine Zahlung in Höhe von 2 Mio. Euro abgelöst wurde), und daß Vodafone Airtouch Plc. Esser eine Anerkennungsprämie in Höhe von 10 Mio. GBP zuerkannt hatte. Zudem wurde „ergänzend zu dem vorhandenen Protokoll des Ausschusses für Vorstandsangelegenheiten vom 04.02.2000 beschlossen, daß - neben verschiedenen nicht dem Vorstand angehörenden Herren - folgende Mitglieder des Vorstands die nachstehend ausgewiesenen Beträge erhalten sollen: Dr. Kinzius 3,7 Mio. DM, Herr Gerard 2,7 Mio. DM, Herr Weismüller 2 Mio. DM, Herr Berg 1,5 Mio. DM." Es folgte der Zusatz: „Die Herren Zwickel 18 LG Düsseldorf vom 14. Dezember 1999 - 14 O 495/99 Q - AG 2000, S.233ff. - Mannesmann/Vodafone; siehe dazu Krause AG 2000, S.217ff. und Menke NZG 2004, S.697ff.

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außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance

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und Ladberg weisen daraufhin, daß sie diesen Beschluß aus grundsätzlichen Erwägungen nicht mittragen können und sich deshalb der Stimme enthalten." A m 28. Februar 2000 kam es zu einem Umlaufverfahren für die folgende Beschlußvorlage: „Es w i r d festgestellt, daß die Zahlung des Betrages von G B P 10 Mio. durch die Mannesmann A G an Herrn Dr. Esser von dem Großaktionär Hutchison W h a m p o a mit Herrn Chris Gent (Vodafone Airtouch Plc.) abgestimmt w o r d e n und dem Ausschuß für Vorstandsangelegenheiten vorgeschlagen worden ist. Dieser hat sich am 4.2. 2000 und am 17.2. 2000 mit der Angelegenheit befaßt. Der Ausschuß für Vorstandsangelegenheiten beschließt hiermit, daß der genannte Betrag Herrn Dr. Esser zugewendet werden soll. Nach Auffassung der Herren Zwickel und Ladberg ist die Höhe des genannten Betrages den Arbeitnehmern schwer vermittelbar. Sie nehmen daher die Entscheidung zur Kenntnis." Dieser Beschluß w u r d e von Funk, Ackermann u n d Zwickel, nicht aber von Ladberg unterschrieben. A m 17. April 2000 k a m das Aufsichtsratspräsidium auf die Anerkennungsprämie für F u n k zurück. A n seine Stelle w a r inzwischen Gent getreten. Es w u r d e beschlossen: „In der bisherigen Beschlußfassung des Ausschusses für Vorstandsangelegenheiten z u m sogenannten Appreciation A w a r d ist Herr Professor Dr. Dr. h.c. F u n k nicht berücksichtigt worden. Im Hinblick darauf, daß er in den Jahren 1994 bis 1999 als Vorsitzender des Vorstands maßgeblich z u m Unternehmenserfolg und zur Steigerung des Unternehmenswertes beigetragen hat, w i r d ihm hiermit ein Betrag von D M 6 Millionen zugewendet." Dieser Beschluß w u r d e von Gent, Ackermann und Zwickel, nicht aber von Ladberg unterschrieben. Das Aufsichtsratspräsidium beschloß außerdem Abfindungszahlungen in H ö he von rund 64 Mio. D M auf Pensionsansprüche von achtzehn ehemaligen Vorstandsmitgliedern oder nach ihnen versorgungsberechtigten Personen. Dabei handelte es sich u m Alternativpensionen: Die Versorgungsbezüge richten sich nach einem Prozentsatz des letzten Gehalts, es sei denn, das Gesamteinkommen (Gehalt und Bonus) der jeweils aktiven Vorstandsmitglieder ist höher; dann richten sich die Versorgungsbezüge nach einem Prozentsatz von diesem. Letzteres w a r in der Vergangenheit durchweg der Fall. Da infolge der Übernahme eine deutliche Absenkung des Vergütungsniveaus der aktiven Vorstandsmitglieder zu erwarten w a r und damit eine A b w e r t u n g der Alternativpensionen auf das Niveau der Festpensionen drohte, beschloß man die A b f i n d u n g dieser Pensionsansprüche. A m 27. M ä r z 2000 w u r d e beschlossen: „Die lebenslänglichen Ansprüche der Begünstigten auf die Differenz zwischen den beiden Beträgen für das J a h r 2000 und alle Folgejahre w i r d auf der Basis der Bemessungsgrundlagen, die für die Berechnung der Pensionsrückstellungen z u m 31.12.1999 zugrunde gelegt w o r d e n sind, durch Einmalzahlungen abgefunden. Hierüber ist mit jeder Einzelperson eine Vereinbarung zu treffen." Der Beschluß enthielt eine Auflistung der den achtzehn Berechtigten zugeordneten Einzelbeträge und w u r d e von Ackermann, Zwickel und Ladberg unterschrieben; Funk nahm wegen eigener Betroffenheit

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Problem

nicht an der Sitzung teil. In drei Fällen mußte nachgebessert werden, und zwar von ca. 3,9 M i o . D M auf ca. 4,7 M i o . D M (Beschluß v o m 11. April 2 0 0 0 , unterschrieben von F u n k , A c k e r m a n n und Zwickel, aber nicht von Ladberg), von ca. 7 Mio. D M auf 7,7 M i o . D M (Beschluß v o m 17. April 2 0 0 0 , unterschrieben von allen Ausschußmitgliedern) und von ca. 5,4 M i o . D M auf eine Zeitrente auf Basis dieses Betrages unter Berücksichtigung eines Zinssatzes von 6 % p.a. und einer Steigerungsrate von 2 , 5 % p.a. (Beschluß v o m 5. J u n i 2000, unterschrieben von Ackermann, Zwickel und Ladberg, aber nicht von G e n t ) . D i e Staatsanwaltschaft Düsseldorf erhob mit Anklageschrift v o m 14. Februar 2003 gegen Esser, Ackermann, F u n k , Ladberg, Zwickel und den für die Bearbeitung des Vertragsangelegenheiten in der Direktionsabteilung zuständigen Mitarbeiter D r o s t e den Vorwurf, durch mehrere Handlungen in unterschiedlichen und wechselnden Tatbeteiligungen Untreue (§ 266 Abs. 1 S t G B ) begangen oder Beihilfe dazu verübt zu haben, und zwar jeweils im besonders schweren Fall ( § 2 6 3 Abs. 3 iVm. § 2 6 6 Abs. 2 S t G B ) . 1 9 D i e Angeklagten wurden nach einem aufsehenerregenden P r o z e ß am 22. Juli 2004 freigesprochen, 2 0 das Urteil blieb gerade auch im H i n b l i c k auf die aktienrechtlichen Ausführungen der Strafkammer umstritten, 2 1 und die Staatsanwaltschaft legte Revision ein, der sich im April 2 0 0 5 der Generalbundesanwalt anschloß. Die Strafkammer ging davon aus, daß der Untreuetatbestand zivilrechtsakzessorisch ist: Ein Verstoß gegen eine vermögensbezogene privatrechtliche - ziviloder gesellschaftsrechtliche - Pflicht sei zwingende Voraussetzung der Strafbarkeit. Bei unternehmerischen Entscheidungen der vorliegenden Art sei darüberhinaus eine gravierende vermögensbezogene Pflichtverletzung erforderlich. O b eine vermögensbezogene Pflichtverletzung gravierend iSd. § 2 6 6 S t G B sei, bestimme sich aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Kriterien. Welche dies mit welchem Gewicht seien, hänge von der jeweils in Rede stehenden Pflichtverletzung und dem konkret gewährten Handlungs- und Ermessensspielraum ab; als Leitlinien könnten die in anderen Entscheidungen genannten Kriterien der Ertrags- und Vermögenslage des Unternehmens, der innerbetrieblichen Transparenz, des Umgangs mit Informations- und Prüfpflichten, der Entscheidungsbefugnisse, der Motive der Handelnden und der A r t und Weise

19 Siehe zum Sachverhalt LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 8ff., 21 ff., 32ff., 41 ff., 50ff., 61 f., 62f., 63f., 64ff. und Hüffer BB 2003, Beilage 7, S.2ff. 20 LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 161 ff. (zum Teil abgedruckt in ZIP 2004, S. 2044ff.) 21 Martens ZHR 169 (2005), S. 124,131 ff., 139ff.; Hoff mann-Becking ZHR 169 (2005), S. 155, 159ff.; Brauer/Dreier NZG 2005, S. 5ff.; Fonk NZG 2005, S. 249ff.; Schünemann, Organuntreue, S. 49ff., 57ff., 63 ff., 65ff.; Brauer NZG 2004, S. 502ff.; Wollburg ZIP 2004, S. 646ff.; Liebers/Hoefs ZIP 2004, S. 97ff.; Lutter ZIP 2003, S. 737ff.; Hüffer BB 2003, Beilage 7, S. 11 ff.; Thüsing ZGR 2003, S.457ff.

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der Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen dienen. 2 2 Die Strafkammer ist ausgehend von dieser Interpretation des § 266 StGB zu dem Ergebnis gelangt, die Mitglieder des Aufsichtsratspräsidiums hätten z w a r „gegen ihre Pflichten aus §§116, 93, 87 A k t G " bzw. „gegen § 8 7 Abs. 1 Satz 1 A k t G " verstoßen, 2 3 aber im Falle der Anerkennungsprämien für die amtierenden Vorstandsmitglieder und der Alternativpensionen seien die Pflichtverletzungen nicht gravierend gewesen und im Falle der Anerkennungsprämie für F u n k habe ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorgelegen. Eine Strafbarkeit von Esser und Droste wegen Beihilfe scheitere im ersten Fall am Fehlen der erforderlichen Haupttat und im zweiten Fall am Fehlen des erforderlichen Gehilfenvorsatzes. 2 4 Z u m Komplex Anerkennungsprämien führt die Strafkammer aus: Zu den originären Befugnissen eines Aufsichtsrats zähle die Ausgestaltung der Anstellungsbzw. Dienstverträge mit den Vorstandsmitgliedern. Dabei handele es sich u m eine eigenständige in seinem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich liegende Personalkompetenz. Der Aufsichtsrat habe insbesondere die Vergütungsentscheidungen für die Vorstandsmitglieder in eigener Verantwortung zu treffen. Da derartige Vergütungsentscheidungen Ausdruck unternehmerischen Handelns seien, stehe dem Aufsichtsrat dabei grundsätzlich ein für solches Handeln anerkanntermaßen zuzubilligender Handlungsspielraum zur Verfügung. 2 5 Der Handlungsspielraum sei nicht uferlos. N a c h § 87 Abs. 1 Satz 1 A k t G sei nicht nur dafür Sorge zu tragen, daß die Gesamtbezüge eines Vorstandsmitglieds in einem angemessenen Verhältnis zu seinen Aufgaben und zur Lage der Gesellschaft stehen. § 8 7 Abs. 1 A k t G diene dem Schutz der Aktiengesellschaft, ihrer Aktionäre, Arbeitnehmer und anderer Gläubiger vor sachlich ungerechtfertigten Bezügen des Vorstands. Er weise dem Aufsichtsrat daher auch die ureigene Verantwortung für das Eruieren eines Zahlungsanlasses zu. N a c h den §§116, 93 A k t G sei die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters an den Tag zu legen. Der Aufsichtsrat habe sich bei der Bestimmung der im Sinne des § 87 Abs. 1 Satz 1 A k t G angemessenen (Gesamt-) Vergütung angesichts des ihm obliegenden Sorgfaltsmaßstabs ausschließlich am Unternehmenswohl zu orientieren und eine Entscheidung im Unternehmensinteresse zu treffen. Dabei könne es dahinstehen, ob das Unternehmensinteresse als dem (konkretisierenden) § 87 Abs. 1 A k t G vorgelagert oder als Ausprägung der Angemessenheit anzusehen sei. 26 Bei einer Vergütungsentscheidung müsse stets zunächst die Frage beantwortet werden, ob die in Betracht gezogene Vergütung in der konkret gegebenen SituaL G Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - X I V 5/03 (28 Js 159/00) - S. 162, 172f. L G Düsseldorf v o m 22. Juli 2 0 0 4 - X I V 5/03 (28 Js 1 5 9 / 0 0 ) - S . 1 6 2 , 1 6 3 ff., 176ff., 180f., 185. 24 L G Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - X I V 5/03 (28 Js 159/00) - S. 173ff., 178, 185, 186, 187; 183 f.; 175, 178, 186f., 187; 184f. 2 5 L G Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - X I V 5/03 (28 Js 159/00) - S. 163f. 2 6 L G Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - X I V 5/03 (28 Js 159/00) - S. 164. 22 23

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1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

tion überhaupt gezahlt werden kann und darf. Dies sei nur der Fall, w e n n die Vergütung sachlich gerechtfertigt sei, und dies sei w i e d e r u m nur der Fall, w e n n sie im Zeitpunkt ihrer Zuwendung im Interesse des Unternehmens erfolge. Dies möge bei der erstmaligen Ausgestaltung des Dienstvertrages und einer darin enthaltenen Vergütungsvereinbarung als Selbstverständlichkeit anzusehen sein. Anders sei es hingegen bei Zahlungen, die freiwillig für zuvor erbrachte Leistungen und erzielte Erfolge sowie zusätzlich zu bereits vorhandenen vertraglich vereinbarten Vergütungen geleistet würden, w e n n das baldige Ausscheiden des Begünstigten aus dem Vorstand feststehe und die die Zahlung gewährende Aktiengesellschaft auf dem Weg zu einer konzernabhängigen Tochtergesellschaft sei. D e m A u f sichtsrat stehe bei der Entscheidung, ob in der jeweiligen Situation ein Unternehmensinteresse für eine Vergütung spreche, ein Beurteilungsspielraum zu, der je nach den tatsächlichen Voraussetzungen durchaus zu einer zeitweisen Bevorzugung einer der im Unternehmensinteresse unstreitig gebündelten Partikularinteressen führen könne. 2 7 Wegen der bei der Mannesmann A G infolge des zugunsten von Vodafone entschiedenen Ubernahmekampfes eingetretenen Situation habe den Mitgliedern des Aufsichtsratspräsidiums allerdings in keinem der fraglichen Fälle ein H a n d lungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielraum der dargelegten Art hinsichtlich der Frage zugestanden, ob eine Anerkennungsprämie zu gewähren sei. Es sei ausgeschlossen, daß die beschlossenen Anerkennungsprämien unter Berücksichtigung der Kriterien des § 87 Abs. 1 Satz 1 A k t G im Interesse der Mannesmann A G gelegen hätten. In der am 4. Februar 2000 gegebenen konkreten Situation der Mannesmann A G sei kein im Unternehmensinteresse liegender sachlicher Grund für die zusätzlich zu der übrigen vereinbarten Vergütung zu zahlenden A n e r k e n nungsprämie erkennbar gewesen. § 8 7 Abs. 1 Satz 1 A k t G sei prospektiv ausgerichtet. Es gehe u m die derzeitigen und künftigen Aufgaben der Vorstandsmitglieder und u m die derzeitige und künftige Lage der Gesellschaft. Da die amtierenden Vorstandsmitglieder jedoch nur noch zeitlich und inhaltlich begrenzte Aufgaben vor sich gehabt hätten und ein ehemaliges Vorstandsmitglied gar keine Aufgaben mehr erfüllen würde, hätten die Anerkennungsprämien nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Vorstandsmitglieder gestanden. Da die finanzielle bzw. wirtschaftliche Lage der Mannesmann A G bereits hervorragend und ihre unternehmerische Lage durch das künftige Dasein als konzernabhängige Tochtergesellschaft geprägt gewesen sei, hätten die Anerkennungsprämien weder für die amtierenden Vorstandsmitglieder noch für andere potentielle Vorstandsmitglieder eine A n r e i z w i r k u n g für die Zukunft entfalten können und damit auch nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Lage der Mannesmann A G gestanden. Eine rückwärtsgewandte Betrachtung könnte im Rahmen des § 87 Abs. 1 Satz 1 A k t G allenfalls dann anzustellen sein, wenn Aufgaben erfüllt w o r 27

LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 164f.

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außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate

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den wären, die neu gewesen wären und bei Abschluß des Dienstvertrages außerhalb der Vorstellungen der Vertragsparteien gelegen hätten, wenn überobligationsmäßige Leistungen erbracht worden wären, die nach den Vorstellungen der Vertragsparteien nicht schon durch die jeweiligen Dienstverträge abgegolten gewesen wären, und/oder wenn Erfolge und Wertsteigerungen erzielt worden wären, die nicht bereits durch die vereinbarte Vergütung honoriert worden wären. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall gewesen. Die Vorstandsmitglieder hätten weder Aufgaben erfüllt noch Leistungen erbracht, die nicht bereits auf der Grundlage ihrer Dienstverträge zu ihren Pflichten gehört hätten und vergütet worden wären, und auch keine Erfolge und Wertsteigerungen erzielt, die nicht bereits durch die vereinbarte Vergütung abgegolten worden wären. Eine erneute Vergütung im Wege der Anerkennungsprämie stelle sich folglich als eine doppelte Vergütungsleistung für die gleiche Aufgabe dar. 28 Eine gravierende Pflichtverletzung iSd. § 266 StGB habe nur im Falle der Anerkennungsprämie für das ehemalige Vorstandsmitglied Funk vorgelegen: Die Ertrags- und Vermögenslage der Mannesmann AG sei sehr gut gewesen, die Anerkennungsprämien hätten die wirtschaftliche Existenz der Mannesmann AG, ihren Bestand und ihre Rentabilität nicht gefährdet. Die innerbetriebliche Transparenz und Zuständigkeitsordnung sei gewahrt worden. Im Falle der Anerkennungsprämien für die amtierenden Vorstandsmitglieder seien den Mitgliedern des Aufsichtsratspräsidiums die maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen bekannt und im Zeitpunkt ihrer Beschlußfassung bewußt gewesen, sie hätten keine sachwidrigen Motive verfolgt. In diesem Fall könne zudem berücksichtigt werden, daß die in der Vergangenheit liegenden Leistungen der amtierenden Vorstandsmitglieder zumindest mitursächlich für den wirtschaftlichen Erfolg der Mannesmann AG gewesen seien und die zukünftige Mehrheitsaktionärin der Mannesmann AG, Vodafone, ihre Zustimmung erklärt habe, sowie im Hinblick auf die Motivation der Mitglieder des Aufsichtsratspräsidiums die jedenfalls 1999/2000 vorherrschende Shareholder Value - Maxime, das Fehlen eines Aktienoptionsplans und der nicht zur Auszahlung gelangte Share Price Bonus. Im Falle der Anerkennungsprämie für das ehemalige Vorstandsmitglied Funk habe es dagegen an einer sorgfältigen Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen gefehlt und eine sachwidrige Motivation vorgelegen: Es habe sich um eine willkürliche Zuerkennung einer Anerkennungsprämie gehandelt, weil die Mitglieder des Aufsichtsratspräsidiums lediglich dem Wunsch von Funk gefolgt seien, an dem Prämienfonds beteiligt zu werden. Vor diesem Hintergrund sei zwar nicht im Falle der Anerkennungsprämien für die amtierenden Vorstandsmitglieder, wohl aber im Falle der Anerkennungsprämie für das ehemalige Vorstandsmitglied Funk von einer gravierenden Pflichtverletzung iSd. §266 StGB auszugehen. 29 28 29

LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 165ff., 172, 176ff., 180f. LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 173ff., 178, 182.

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1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

D i e Strafkammer hat zu der Abfindung der Alternativpensionen ausgeführt: „In entsprechender Übertragung der bereits zu § 87 Abs. 1 Satz 1 A k t G dargelegten Grundsätze sind diese als nicht in Einklang mit den aktienrechtlichen Vorgaben stehend anzusehen. Ein Beurteilungs-, Handlungs- und Ermessensspielraum war am 2 7 . 0 3 . 2 0 0 0 auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen für die beschlossene Abfindung der Alternativpensionsansprüche nicht eröffnet. Ein Interesse der Mannesmann A G an den Abfindungen war nicht vorhanden. I m U n ternehmensinteresse lag ex ante betrachtet vielmehr das Abschmelzen und die Abschaffung der Alternativpension, was mit Beibehaltung der bestehenden Pensionsregelung erreicht worden wäre. Ein N u t z e n für eines oder für alle in dem B e griff des Unternehmensinteresses gebündelten Interessen an der Begründung einer derartigen Zahlungsverpflichtung war nicht vorhanden. Es wurde ein tatsächlich in Zukunft nicht mehr bestehender Anspruch abgefunden. Das Interesse der Pensionäre und Hinterbliebenen in der gegebenen Situation eine Abfindung zu erhalten und so ihres vertraglichen Risikos enthoben zu werden und stattdessen künftig nicht mehr werthaltige Ansprüche abgegolten zu bekommen, ist zwar unverkennbar, mußte jedoch unberücksichtigt bleiben. Dieses partikulare Interesse stand in deutlichem Gegensatz zu den Interessen der anderen am U n t e r n e h m e n s wohl zu Beteiligenden. E s liegt jedoch keine gravierende Pflichtverletzung vor. Die Ertrags- und Vermögenslage der Mannesmann A G war sehr gut. D e r Bestand und die Rentabilität des Unternehmens wurden nicht durch diese Zahlungen berührt, auch nicht in der Gesamtschau mit den übrigen beschlossenen Zahlungen. D i e innerbetriebliche Transparenz wurde gewahrt, ebenso die Zuständigkeiten. Sachwidrige Motive konnten für keinen der Angeklagten festgestellt werden. Sie gingen im Ergebnis zu R e c h t von einem Vergleich aus." 3 0 9. D e r Fall H o l z m a n n D e r Vorstand der Philipp H o l z m a n n A G mußte im J a h r 1995 mit B l i c k auf das Immobilien-Projektgeschäft angesichts des Verfalls der Mieten und Preise bei den Vorratsgrundstücken und Projekten erhebliche Wertberichtigungen hinnehmen, beträchtliche Verluste übernehmen und zur Risikovorsorge umfangreiche R ü c k stellungen vornehmen. Das Gesamtergebnis war mit 4 6 0 M i o . D M belastet, und die Verbindlichkeiten beliefen sich auf fast 8 Mrd. D M . M i t einem von den Gläubigerbanken unterstützten Sanierungsprogramm wurden in den Jahren 1996 bis 1998 die operativen Ergebnisse verbessert und Schulden im U m f a n g v o n rund 3 Mrd. D M abgebaut. 3 1 Im J a h r 1999 lag ein vom Aufsichtsratsvorsitzenden im S o m m e r 1998 in A u f trag gegebenes Gutachten vor, es wurden weitere Verluste in einer H ö h e von rund 30 31

S.23.

LG Düsseldorf vom 22. Juli 2004 - XIV 5/03 (28 Js 159/00) - S. 185, 186, 187. Hansen AG 1996, S. R 374, R 376; Tsp.27. Oktober 1999, S.27; Tsp.20. November 1999,

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2,4 Mrd. D M aufgedeckt, von denen der überwiegende Teil aus dem ImmobilienProjektgeschäft stammte, und der K o n z e r n geriet erneut in eine Existenzkrise. D i e Gläubigerbanken waren erst nach massivem öffentlichen und politischen D r u c k bereit, ein von ihnen nicht als völlig überzeugend angesehenes Sanierungsprogramm mit einer Summe von rund 4,3 Mrd. D M zu unterstützen. D e r Streit um die Verantwortlichkeit des seit 1997 im A m t befindlichen Vorstands und Aufsichtsrats sowie der K P M G und der Banken begann. 3 2 D e r Sanierungsversuch erwies sich als schwierig. 3 3 I m Geschäftsjahr 2001 entstand ein überraschend hoher Verlust von 2 3 7 M i o . E u r o . A u f einer außerordentlichen Hauptversammlung im D e z e m b e r 2001 war lediglich ein Verlust von 80 Mio. E u r o prognostiziert worden. Das Eigenkapital war nun vollständig aufgebraucht, und es war vorbei: D i e Philipp H o l z m a n n A G stellte am 19. M ä r z 2002 einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. 3 4 Dieser Insolvenzfall wird als Folge eines jahrelangen Mißmanagements verbunden mit einer unentschlossenen und zögerlichen Sanierung und einer suboptimalen Kontrolle durch Aufsichtsrat und Abschlußprüfer angesehen: N a c h der Wiedervereinigung sei im Projektgeschäft eine erhebliche Expansion mit einer groben Fehleinschätzung des Marktes betrieben worden. E s sei weder ein G e samtkonzept noch eine konstruktive Zusammenarbeit im Management erkennbar gewesen. Ein Risikomanagementsystem sei erst Ende der neunziger Jahre aufgebaut worden. Das Beteiligungsportefeuille sei stark aufgebläht gewesen. D e r angestrebte Zusammenschluß mit H o c h t i e f habe erhebliche Managementkapazitäten gebunden. K P M G habe den Grundbesitz nicht frühzeitig einer realistischeren Bewertung unterzogen. D e r langjährige Vorstandsvorsitzende sei Anfang der neunziger Jahre Aufsichtsratsvorsitzender geworden und habe damit die von ihm zu verantwortenden Entscheidungen zu überwachen gehabt. 3 5 10. D e r Fall H y p o V e r e i n s b a n k I m O k t o b e r 1998 mußte der Vorstandsvorsitzende der Bayerischen H y p o - und Vereinsbank A G , die aus einer Verschmelzung der Bayerischen H y p o t h e k e n und Wechselbank A G auf die Bayerische Vereinsbank A G hervorgegangen war, 32 Hansen AG 2000, S. R 44ff.; Tsp. 16. November 1999, S. 17; Tsp. 18. November 1999, S. 31; Tsp. 20. November 1999, S. 23; Tsp. 22. November 1999, S. 17; Tsp. 23. November 1999, S. 1, 17, 18; Tsp.24. November 1999, S.21; Tsp.25. November 1999, S. 1, 2, 21; Tsp.26. November 1999, S.l, 2, 3, 23; Tsp.27. November 1999, S.21; Tsp.28. November 1999, S.25; Tsp. 10. Dezember 1999, S.21; Tsp. 12. Dezember 1999, S.26; Tsp.3. Januar 2000, S. 17; Tsp. 14. Januar 2000, S.23; Tsp. 2. Februar 2000, S. 20; Tsp. 10. Februar 2000, S. 24; Tsp. 28. Februar 2000, S. 18; Tsp. 14. März 2000, S.22; Tsp. 16. März 2000, S.27; Tsp. 19. Mai 2000, S.23. 33 Hansen AG 2002, S. R 50, R 54; Tsp.28. Juli 2000, S.19; Tsp.l. September 2000, S.24; Tsp. 15. März 2001; Tsp. 18. Mai 2001. 34 Hansen AG 2002, S. R 162. 35 Hansen AG 2002, S. R 162, R 164.

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1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

wegen fehlgeschlagener Immobiliengeschäfte der ehemaligen Bayerischen H y p o theken- und Wechselbank A G Wertberichtigungen in H ö h e von rund 3,5 Mrd. D M bekanntgeben. E r warf dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Bayerischen H y p o t h e k e n - und Wechselbank A G vor, in unverantwortlicher Weise insbesondere in Ostdeutschland zu hohe Risiken bei G e w e r b e - und Grundstücksprojekten eingegangen zu sein. D i e Bayerische H y p o - und Vereinsbank A G bemühte sich um Schadensbegrenzung und Aufklärung. A u f der Hauptversammlung am 6. Mai 1999 erklärte der Aufsichtsratsvorsitzende, die Bayerische H y p o t h e k e n - und Wechselbank A G sei in Erwartung eines anhaltenden Preisauftriebs in das Developergeschäft eingestiegen. A u f die Investitionsphase seien jedoch schwierige I m m o b i l i e n märkte mit teilweise deutlichen Preiseinbrüchen gefolgt, und überdies hätten fast alle Projekte nicht in der kalkulierten Zeitspanne realisiert werden können. D i e Bilanzansätze hätten auf Planwerten beruht. D a b e i habe das Immobilienmanagement zu lange auf den Immobilienzyklus vertraut und mit einer deutlich positiveren Marktentwicklung gerechnet. Z u d e m sei eine regelmäßige, systematische und vollständige Erfassung und Bewertung der Risiken unterblieben. Es wurde beschlossen, eine Sonderprüfung durchführen zu lassen. D i e A n f e c h tungen der Beschlüsse, mit denen der Sonderprüfer bestellt und die K P M G , die an dem Verschmelzungsgutachten mitgewirkt hatte, zum Abschlußprüfer gewählt wurde, blieben erfolglos. D i e Sonderprüfung ergab, daß der Wertberichtigungsbedarf n o c h höher war. D i e Bayerische H y p o - und Vereinsbank A G nahm im Abschluß für das J a h r 1999 eine weitere Wertberichtigung in H ö h e von 2 M r d . D M vor. Sie überwand die Krise. 3 6

II. Der analytische

Befund

D i e dargestellten Fälle belegen, daß Vorstände mit unvorstellbarem Leichtsinn ( A R A G und Metallgesellschaft), ohne die gebotene Information (ASS), mit krimineller Energie (Bremer Vulkan, Balsam und K H D ) handeln und sich ohne jede Scheu in dem Graubereich des rechtlich gerade noch oder gerade nicht mehr Z u lässigen bewegen (Mannesmann, H o l z m a n n , HypoVereinsbank). Sie zeigen, daß Aufsichtsräte und Abschlußprüfer nichts bemerken, nichts unternehmen oder nicht genug tun. Sie belegen, daß die Geschäftsbanken den Einfluß, den sie aus ihren Beteiligungen, Aufsichtsratsmandaten und Vollmachtsstimmrechten sowie aus den Kredit- und Emissionsgeschäften auf das Management haben, offensichtlich nicht zu Uberwachungszwecken ausüben; sie treten bestenfalls auf den Plan, 36 LG München vom 21. Oktober 1999-5 HKO 9527 /99 - AG 2000, S. 235ff. (nicht rechtskräftig); Hansen AG 1999, S. R 278, R 280, R 282; Tsp.22. März 1999, S.20; Tsp.28. Oktober 1999, S.25; Tsp.20. November 1999, S.23; Tsp. 18. Dezember 1999, S.21; Tsp.23. Februar 2000, S.24; Tsp.27. Oktober 2000, S.24; Tsp.22. Februar 2001, S.25.

A. Unternehmen außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance

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wenn die Sanierung ansteht und finanziert werden muß. 37 Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, daß der Kern des Corporate Governance Problems die Steuerung des Verhaltens der handelnden Personen ist. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, daß die Optimierung der Verhaltenssteuerung gerade durch eine Verschärfung der Anforderungen an Vorstände, Aufsichtsräte, Abschlußprüfer und Geschäftsbanken und damit an die Leitung und Überwachung in den Unternehmen erfolgen muß. Corporate Governance läßt sich am ehesten mit „angemessener Unternehmensorganisation" 38 übersetzen. Der mit Corporate Governance schlagwortartig beschriebene Problemkreis erfaßt aber weit mehr als die Frage, wie die „rechtliche Struktur der Entscheidungs- und Überwachungsorganisation der Unternehmen" 3 9 bzw. der „rechtliche und faktische Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens" 40 so ausgestaltet werden kann, daß zur Optimierung der Leitung und Überwachung in Unternehmen beigetragen wird. 41 Ein Corporate Governance System umfaßt alle Mechanismen, die eine effiziente Unternehmensleitung und Unternehmensüberwachung sicherstellen. Sie zielen darauf, daß die Unternehmensführung fundierte Entscheidungen trifft und in Übereinstimmung mit den Interessen der Anteilseigner handelt.42 Sie sollen eine „verantwortliche, auf langfristige Wertschöpfung ausgerichtete Unternehmensleitung und -kontrolle" 4 3 bzw. eine auf „nachhaltige Steigerung des Unternehmenswerts" zielende Unternehmensführung 44 gewährleisten. Vor diesem Hintergrund zielt die aufgeworfene Frage auf die Wirkungskraft der anderen Elemente des deutschen Corporate Governance Systems. Die Anforderungen an Vorstände, Aufsichtsräte, Abschlußprüfer und Geschäftsbanken und damit an die Leitung und Überwachung in den Unternehmen kennzeichnen die Strukturen der Leitung und Überwachung in den Unternehmen. Sie bilden gemeinsam mit den wirtschaftlichen Verhaltensanreizen für die Unternehmensführer die internen Corporate Governance Mechanismen. Die übrigen Elemente 37 Vgl. zu diesem Problemkreis: Hopt, Corporate Governance, S.243, 244ff., 247ff., 256ff., 260ff.; Westermann, Corporate Governance, S.264,264ff., 275ff., 278ff., 285f.; von Rosen, Corporate Governance, S. 289,294ff., 297f.; Rock AG 1995, S. 291,295f. Er weist daraufhin, daß viele U.S. amerikanische Gesellschaftsrechtler glauben, daß es in Deutschland die Banken sind, die die Überwachung des Managements übernehmen, und daß dieses Modell eine effiziente Überwachung ohne die Kosten feindlicher Übernahmen gewährleistet. Er führt aus, daß „in Frankfurt, the lawyers and bankers... found it extraordinary that American scholars should think that the system worked this way. In their view, the large banks played a far less significant and far less constructive role." 38 39 40 41 42 43 44

Feddersen/Hommelhoff/Schneider, Corporate Governance, S. 1, 1. Schneider/Strenger AG 2000, S. 106, 107. Präambel des Berliner Kodex. Präambel und Ziff. II.4.1 des Berliner Kodex. Vgl. Hess, Corporate Governance, S.9, 10. Schneider/Strenger AG 2000, S. 106, 106, 109. Ziff. 1.2 des Berliner Kodex.

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1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

eines Corporate Governance Systems sind die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte, des Unternehmenskontrollmarktes und des Wettbewerbs auf den Güter- und Kapitalmärkten. Sie stellen die externen Corporate Governance Mechanismen dar. Die Strukturen der Leitung und Überwachung in den Unternehmen einschließlich der wirtschaftlichen Verhaltensanreize für die Unternehmensführer und die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte, des Unternehmenskontrollmarktes und des Wettbewerbs auf den Güter- und Kapitalmärkten sind Elemente eines beweglichen Systems: Je weniger (mehr) der Unternehmenserfolg und damit die Unternehmensführung von Markt und Wettbewerb abhängen, um so stärker (schwächer) kommen die Strukturen der Leitung und Überwachung in den Unternehmen einschließlich der wirtschaftlichen Verhaltensanreize für die Unternehmensführer zum Tragen und um so eher (weniger) muß die Corporate Governance ausgehend von diesem Ansatzpunkt optimiert werden. 1. Die unzureichenden Wirkungskräfte der externen Corporate Governance Mechanismen Die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte erwachsen aus dem weltweiten Wettbewerb um Risikokapital. Er zwingt auch die deutschen Unternehmen angesichts ihres wachsenden Kapitalbedarfs dazu, ihre Strategie auf die Kapitalmärkte auszurichten. Sie müssen auf die Erwartungen der Anleger eingehen und dabei in Rechnung stellen, daß diese Erwartungen von der shareholder value Philosophie geprägt sind. Dahinter steht ein kapitalmarktorientiertes Konzept der strategischen Steuerung und Überwachung von Unternehmen, 45 das Verfahren der dynamischen Investitionsrechnung mit der modernen Kapitalmarktheorie verbindet. 46 Es gipfelt in der Forderung, daß das Management die langfristige Steigerung des Ertragswerts des Unternehmens anzustreben und sich dabei an der Aktienbewertung durch die Kapitalmärkte zu orientieren hat 47 und eine angemessene Dividenden45 Mülbert ZGR1997, S. 129,129,131 f., 171, weist auf S. 130f. daraufhin, daß insbesondere bei Unternehmensleitungen die Vorstellung herrsche, es handele sich um eine unternehmenspolitische Philosophie, wonach den finanzwirtschaftlichen Interessen des Aktionärs größere Bedeutung zuzumessen sei, als dies bislang bei börsennotierten Aktiengesellschaften üblich gewesen sei, und daß die praktische Handhabung des shareholder value - Konzepts dieser Vorstellung entspreche (vgl. dazu auch Kittner DU 1997, S. 2285,2285, der von einer „Diskrepanz verschiedener Shareholder-Value-Verständnisse" spricht und dabei insbesondere die Frage eines „zwangsläufigen Fundamentalkonflikts zwischen den Interessen von Aktionären und Arbeitnehmern" im Blick hat, und Kuhner ZGR 2004, S. 244, 258ff., der von einem „gesellschaftspolitischen Kampfbegriff" und einem „Interessenmonismus" spricht); von Cölbe ZGR 1997, S.271, 272ff., 276, 283ff. 46 Mülbert ZGR 1997, S.129, 130. 47 Mülbert ZGR 1997, S. 129,131f., 134; von Cölbe ZGR 1997, S.271,272ff., 283ff.; Kühnberger/Keßler AG 1999, S.453, 453.

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ausschüttung und einen steigenden Börsenkurs erreichen muß. 4 8 Als Ausfluß des shareholder value Konzeptes läßt sich auch die Forderung nach der G e w ä h r aussagekräftiger Informationen über das U n t e r n e h m e n und damit insbesondere nach einer Erweiterung der Berichtspflichten der Unternehmensleitung und der Pflichtprüfung des Abschlußprüfers ansehen. D e n n sie zielt darauf, es den Anlegern zu ermöglichen, das Unternehmen zu bewerten und eine fundierte Anlageentscheidung zu treffen. 4 9 J e mehr U n t e r n e h m e n nun um Anleger konkurrieren und je mehr Anleger an einer langfristigen Steigerung des Ertragswerts des Unternehmens interessiert sind, um so stärker werden die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte: Wenn eine große Zahl von Anlegern bei Enttäuschung ihrer Erwartungen eine „ A b stimmung mit den F ü ß e n " vornimmt und sich dafür entscheidet, Aktien eines anderen Unternehmens zu kaufen und/oder Aktien des betroffenen Unternehmens zu verkaufen, kann der Börsenkurs der Aktien des betroffenen Unternehmens fallen. Dies beraubt das betroffene U n t e r n e h m e n der Möglichkeit einer Eigenkapitalfinanzierung neuer Vorhaben zu guten Konditionen. 5 0 Es wird auch der G e fahr ausgesetzt, daß ein Dritter vermittels eines Aktienaufkaufs einen beherrschenden Einfluß erlangt. In beiden Fällen ist die Unternehmensführung von Entlassung bedroht. 5 1 D i e disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte beruhen mithin letztlich darauf, daß die Unternehmensführung sinkende Börsenkurse fürchten m u ß und deshalb im eigenen Interesse dafür sorgen wird, daß der E r tragswert des Unternehmens langfristig steigt. 5 2 D i e disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte sind eng verwandt mit den disziplinierenden Kräften des Unternehmenskontrollmarktes. Sie beruhen auf der Annahme, daß die Führungsteams auf einem Markt um die Kontrolle über die U n t e r n e h m e n konkurrieren und ein effektiver Wettbewerb auf diesem M a r k t die amtierenden Führungsteams zu stärkerem Wettbewerb auf den Gütermärkten veranlaßt, weil sie andernfalls damit rechnen müssen, im Zuge einer feindlichen Ü b e r n a h m e der von ihnen geführten Unternehmen abgelöst zu werden. 5 3 D a h i n ter steht die Vorstellung, daß die amtierenden Führungsteams der konkurrierenVon Cölbe ZGR 1997, S.271, 274. Mülbert ZGR 1997, S. 129,133,170f.; von Cölbe ZGR 1997, S.271,288f.; Kühnberger/Keßler AG 1999, S. 453,453. Dasselbe gilt für die Forderung nach einer Einführung anreizkompatibler Vergütungssysteme für die Unternehmensführung, weil sie darauf zielt, durch Aktienoptionen, aber auch durch Gehaltskürzungen/-erhöhungen in Abhängigkeit vom Aktienkurs oder von kapitalmarktrelevanten Erfolgskennziffern wie etwa dem cash flow einen Gleichlauf der Interessen der Unternehmensführung mit den Interessen der Anleger zu erreichen. Siehe dazu: Kübnberger/Keßler AG 1999, S. 453,453; Mulbert ZGR 1997, S.129,133,170f,-,von Cölbe ZGR 1997, S.271, 288f. 50 Becker, Verwaltungskontrolle, S. 60. 51 Hess, Corporate Governance, S. 9, 11; Becker, Verwaltungskontrolle, S. 59ff. 52 Hess, Corporate Governance, S. 9, 11; Becker, Verwaltungskontrolle, S.59ff. 53 Krause AG 2000, S.217,218f.; vgl. dazu auch Kaplan, Corporate Governance, S.301,301ff. und Becker, Verwaltungskontrolle, S. 59ff. 48 49

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Governance

Problem

den Unternehmen am ehesten dazu in der Lage und daran interessiert sind, eine schlechte Führungsleistung zu erkennen und ihr vermittels einer feindlichen Übernahme des betroffenen Unternehmens abzuhelfen. Sie verfügen nicht nur über die finanziellen Mittel für feindliche Ubernahmen, sondern profitieren auch von den feindlichen Ubernahmen wegen der mit ihnen verbundenen Ausschaltung von Wettbewerbern auf den Gütermärkten. 5 4 Die disziplinierenden Kräfte des Wettbewerbs auf den Güter- und Kapitalmärkten beruhen auf zwei schlichten Erkenntnissen: Herrscht auf den Gütermärkten Wettbewerb (und sind die staatlichen Subventionen gering), können die Unternehmen (und die Unternehmensführer) nicht überleben, wenn sie keine Maximierung betreiben. Herrscht auf den Kapitalmärkten Wettbewerb, so können die Unternehmen (und die Unternehmensführer) keine Finanzierungsmöglichkeiten für ein übersteigertes oder unrentables Wachstum erschließen. Man kann es auch anders herum formulieren: Wenn sich die Unternehmen in marktbeherrschenden Positionen oder in einer Phase der Stagnation befinden, können sie (und die Unternehmensführer) auch ohne Maximierung lange Zeiträume überdauern und dabei beträchtliche Ressourcen verschwenden. 5 5 Dabei ist es eines der Paradoxons des Corporate Governance Problems, daß eine Übernahmekultur, die feindlichen Übernahmen ablehnend gegenübersteht, und eine Wettbewerbspolitik, die feindliche Übernahmen - durch typischerweise marktmächtige U n ternehmen - verhindert, den Unternehmenskontrollmarkt unterminieren, aber die Wettbewerbskräfte der Gütermärkte stärken. 5 6 Wenn es jedoch um die Frage geht, inwieweit diese externen Mechanismen tatsächlich gewährleisten, daß die Unternehmensführung verantwortlich und mit dem Ziel einer langfristigen Wertschöpfung und nachhaltigen Steigerung des U n ternehmenswerts handelt, ergibt sich für Deutschland folgendes Bild: Die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte sind angesichts relativ illiquider Kapitalmärkte so gut wie nicht vorhanden. Das gleiche gilt für die disziplinierenden Kräfte des Unternehmenskontrollmarktes wegen des strengen Fusionskontrollrechts und mangels einer Übernahmekultur. Die einen wie die anderen werden in Rock A G 1995, S. 291, 293. Kaplan, Corporate Governance, S.301, 31 Iff.; Rock A G 1995, S.291, 298 formuliert diese Erkenntnis sehr pointiert so: „Where product markets are highly competitive, such as California's high tech industry in Silicon Valley, the sort of concerns that preoccupy corporate law academics in worrying about corporate governance are a nonissue. If managers slack off or steal from the firm or build inefficient empires, the firm fails in short order and a firm without such problems takes its place. In other words, highly competitive product markets root out suboptimal governance structures before corporate law needs to pay any attention." 5 6 Vgl. Rock A G 1995, S.291, 298: „Competition policy and corporate law are intimately linked. O n the one hand, a competition policy that prohibits all horizontal mergers in the interest of maintaining competitive product markets undermines the market for corporate control by removing the most likely aquirers. On the other hand, a competition policy that permits horizontal mergers that create market power undermines the competitiveness of the product markets that hold managers' feet to the fire." 54 55

A. Unternehmen

außer Kontrolle: Das Versagen der Corporate Governance

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naher Zukunft w o h l auch nicht in einem nennenswerten U m f a n g vorhanden sein. 57 Der Wettbewerb auf den Kapitalmärkten spielt nur eine untergeordnete Rolle, weil die Geschäftsbanken, die über Beteiligungen, Aufsichtsratsmandate sowie Emissions- und Kreditgeschäfte mit den Unternehmen verbunden sind, sie auch in schwierigen Situationen mit Fremdkapital unterstützen. 5 8 Die meisten Gütermärkte sind keine idealtypischen Wettbewerbsmärkte, sondern unvollkommene Märkte, die durch wettbewerbsgestörte Marktstrukturen (Oligopole oder M o n o p o l e ) oder staatliche Eingriffe (Subventionen oder Regulierung) gekennzeichnet sind. Das deutsche (und europäische) Kartellrecht vermag daran nichts zu ändern, weil es lediglich eine weitere Verschlechterung der Unternehmens- und Marktstruktur verhindern kann. Vor diesem Hintergrund lautet die abschließende Erkenntnis, daß die Kapitalmärkte, der Unternehmenskontrollmarkt und der Wettbewerb auf den Güterund Kapitalmärkten in Deutschland eine effiziente Unternehmensleitung und Unternehmensüberwachung nicht sicherzustellen vermögen. Der Unternehmenserfolg und damit die Unternehmensführung hängen nicht hinreichend von M a r k t und Wettbewerb ab. Die disziplinierenden Kräfte der Kapitalmärkte, des Unternehmenskontrollmarktes und des Wettbewerbs auf den Güter- und Kapitalmärkten haben eine so geringe Wirkungskraft, daß sie nicht gewährleisten können, daß die Unternehmensführung verantwortlich und mit dem Ziel einer langfristigen Wertschöpfung und nachhaltigen Steigerung des Unternehmenswertes handelt. 2. D i e R e l e v a n z der internen C o r p o r a t e G o v e r n a n c e M e c h a n i s m e n Wenn die externen Corporate Governance Mechanismen versagen, k o m m t es entscheidend auf die internen Corporate Governance Mechanismen - die Strukturen der Leitung und Ü b e r w a c h u n g in den Unternehmen einschließlich der wirtschaftlichen Verhaltensanreize für die Unternehmensführer - an. Damit rücken die strukturellen Unterschiede in den Corporate Governance Systemen in den U S A , Deutschland und Japan ins Blickfeld. Das amerikanische System gilt als marktorientiert. Die Gehälter der Unternehmensleiter sind hoch. Ihre unternehmensinterne Ü b e r w a c h u n g erfolgt durch den üblicherweise von Außenstehenden (outside directors) beherrschten board of directors. Der Unternehmenskontrollmarkt funktioniert. Die Kapitalmärkte sind liquide. Das Eigentum an den Unternehmen ist relativ wenig konzentriert. Das deutsche System und das japanische System werden dagegen als beziehungsorientiert charakterisiert. Die Gehälter der Unternehmensleiter sind bescheiden bzw. niedrig. Ihre unternehmensinterne Ü b e r w a c h u n g erfolgt vor allem durch die Geschäftsbanken Kaplan, Corporate Governance, S.301, 301 ff. Hopt, Corporate Governance, S.243, 246, 254f., 255f.; Kaplan, Corporate Governance, S.301, 302, 310f. 57 58

32

1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

und Großaktionäre (bank and corporate directors), die Geschäftspartner und - in Deutschland - die Arbeitnehmer, und zwar vermittels ihrer Repräsentanten im Aufsichtsrat bzw. board. D e r Unternehmenskontrollmarkt funktioniert kaum bzw. gar nicht. D i e Kapitalmärkte sind relativ illiquide. Das Eigentum an den U n ternehmen ist relativ stark konzentriert. 5 9 Steven N. Kaplan

hat einmal untersucht, welche wirtschaftlichen Verhaltensan-

reize in den C o r p o r a t e Governance Systemen in den U S A , Deutschland und Japan die Unternehmensleiter davon abhalten sollen, unwirtschaftliche Investitionen vorzunehmen oder erzielte Uberschüsse zu verschwenden. D i e drei C o r porate Governance Systeme reagieren auf aktuelle Erfolgskennziffern, also auf Aktienkurse und Einnahmen. In allen drei Ländern steigt bei sinkenden Aktienkursen und bei Ertragseinbußen die Zahl der Entlassungen von U n t e r n e h m e n s leitern stark an. D i e C o r p o r a t e Governance Systeme in den U S A und Japan reagieren jedoch auch auf langfristige Erfolgskennziffern, also auf U m s ä t z e und Marktanteile. In diesen Ländern nimmt die Gefahr der Entlassung von U n t e r n e h mensleitern auch dann zu, wenn nur eine geringe Umsatzsteigerung erzielt wird, während die Position deutscher Unternehmensleiter durch eine schlechte U m satzentwicklung nicht gefährdet ist. D i e Gehälter der Unternehmensleiter sind in den U S A und Japan zudem stark abhängig von Aktienkurs, G e w i n n und U m s a t z . In dem von Steven N . Kaplan untersuchten Zeitraum führte eine Standardabweichung beim Wert der Aktien um zwei Punkte in beiden Ländern zu einer Gehaltssteigerung von etwa 8 % und ein Gewinnrückgang zu einer Gehaltskürzung, und zwar in den U S A um 1 8 % und in Japan um 1 3 % . In den U S A verfügen die U n t e r nehmensleiter schließlich über einen viel größeren Anteil am Eigentum an den U n t e r n e h m e n als die Unternehmensleiter in Deutschland und Japan. Das läßt den Schluß zu, daß das C o r p o r a t e Governance System in den U S A die besten wirtschaftlichen Verhaltensanreize bietet, um die Unternehmensleiter dazu anzuhalten, wirtschaftliche Investitionen vorzunehmen oder die von erfolgreichen U n ternehmen erzielten Überschüsse wirtschaftlich zu verwenden. 6 0 Seit der Untersuchung von Steven

N. Kaplan

hat sich im H i n b l i c k auf die wirt-

schaftlichen Verhaltensanreize in Deutschland allerdings einiges getan. D e r G e setzgeber hat die Einführung von Aktienoptionsprogrammen erleichtert ( § § 7 1 , 71 d, 1 9 2 , 1 9 3 A k t G ) , 6 1 allerdings nur zugunsten der Vorstandsmitglieder und der sonstigen Führungskräfte. 6 2 Eine E r h ö h u n g des variablen Anteils der Vergütung Kaplan, Corporate Governance, S.301, 301ff., 31 Of. Kaplan, Corporate Governance, S.301, 301 ff., 304ff., 312ff. 61 Art. 1 Nr. 5f., 26f. KonTraG 4/1998. Siehe dazu auch Ziff. 4.2.3 des Deutschen Kodex, Ziff. II.3.a des Frankfurter Kodex und Ziff. III.6.3 des Berliner Kodex. 62 Begründung zu Art.l Nr.24f. RegE KonTraG 11/1997. Der Bundesgerichtshof ist dieser Auffassung anders als das OLG Schleswig gefolgt; BGH BB 2004, S. 621,622f. - MobilCom und OLG Schleswig NZG 2003, S. 176,178f. - MobilCom. Siehe dazu: Henze BB 2005, S. 165,172f.; Bösl BKR 2004, S. 474ff.; Paefgen WM 2004, S. 1169,1170ff.; Vetter AG 2004, S. 234,236f.; Peltzer NZG 2004, S. 509ff.; Richter BB 2004, S. 949, 950f., 952ff.; Meyer/Ludwig ZIP 2004, S. 940, 59 60

A. Unternehmen

außer Kontrolle:

Das Versagen der Corporate

Governance

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der Aufsichtsratsmitglieder kann auch nicht auf der Grundlage des § 1 1 3 Abs. 3 A k t G durch eine Ausgabe v o n Wandel- oder Optionsanleihen mit geringem Nennbetrag verbunden mit einer Schaffung bedingten Kapitals gemäß § 1 9 2 Abs. 2 Nr. 1 A k t G zur Bedienung der Umtausch- oder Bezugsrechte erfolgen. 6 3 3. Ergebnis Die Kapitalmärkte, der Unternehmenskontrollmarkt und der Wettbewerb auf den Güter- und Kapitalmärkten können in Deutschland eine effiziente Unternehmensleitung und Unternehmensüberwachung nicht gewährleisten. Das deutsche Corporate Governance System kann daher nur ausgehend v o n den Strukturen der Leitung und Überwachung in den Unternehmen einschließlich der w i r t schaftlichen Verhaltensanreize f ü r die Unternehmensführer verbessert werden. Die anreizkompatiblen Vergütungssysteme als selbständige Corporate G o v e r nance Mechanismen 6 4 sollen im Rahmen dieser Untersuchung ebensowenig be942 f.; Hoff WM 2003, S. 910,911,912ff.; Wiechers DB 2003, S. 595f. Siehe zur erfolgsorientierten Vergütung des Vorstands: Hoffmann-Becking ZHR 169 (2005), S.153, 159ff., 163ff.; Martens ZHR 169 (2005), S. 124,13Iff., 139ff., 144ff.; Kramarsch ZHR 169 (2005), S. 113,116f. Siehe zur erfolgsorientierten Vergütung des Aufsichtsrats: Gehling ZIP 2005, S. 141 ff.; Hoffmann-Becking ZHR 169 (2005), S. 153, 174ff., 177ff.; Kramarsch ZHR 169 (2005), S. 113, 118ff. 63 So aber Rdn. 64 des Kommissionsberichts. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage offengelassen, aber angemerkt, es erscheine fraglich, ob dieser Weg für Aktienoptionsprogramme zugunsten von Aufsichtsratsmitgliedern noch gangbar sei, da die einschlägigen Neuregelungen einen gegenteiligen Willen des Gesetzgebers nahelegen würden; BGH BB 2004, S.621, 623 - MobilCom. Siehe zu dieser Frage: Paefgen WM 2004, S. 1169,1172f.; Vetter KG 2004, S.234, 237f.; Peltzer NZG 2004, S.509ff.; Richter BB 2004, S.949, 950f., 954, 956; Meyer!Ludwig ZIP 2004, S.940, 943; Hoff WM 2003, S.910, 910, 911 f.; Wiechers DB 2003, S.595, 596ff. Siehe dazu auch Ziff. 5.4.7 des Deutschen Kodex, Ziff. III. 1 .d des Frankfurter Kodex und Ziff. IV.7.3 des Berliner Kodex. Die Rechtslage ist allerdings im Fluß. Zunächst sollte der Anwendungsbereich von § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG erweitert werden und statt „bei Beschlüssen nach § 192 Abs. 2 Nr. 3" künftig „bei Beschlüssen zur Gewährung von Bezugsrechten an Arbeitnehmer oder Mitglieder der Geschäftsführung nach § 192 Abs. 2 Nr. 1 oder 3" gelten; Art. 1 Nr. 15 RefE UMAG 1/2004. Dieser Gesetzgebungsvorschlag ist im RegE UMAG 11/2004 nicht mehr enthalten; siehe zur Bedeutung, die diese Neuregelung für die Zulässigkeit von Aktienoptionsprogrammen zugunsten von Aufsichtsräten gehabt hätte, nur Meyer/Ludwig ZIP 2004, S.940, 943f. Stattdessen wird §221 Abs. 4 Satz 2 AktG neu gefaßt und „§186 gilt sinngemäß" durch „Die §§ 186 und 193 Abs. 2 Nr. 4 gelten sinngemäß" ersetzt; Art. 1 Nr. 17 RegE UMAG 11/2004. Damit soll klargestellt werden, daß Aufsichtsratsmitgliedern auch schuldrechtliche Optionsrechte nicht gewährt werden dürfen; Begründung zu Art. 1 Nr. 17 RegE UMAG 11/2004 und Henze BB 2005, S. 165, 172. 64 Siehe dazu bereits soeben zu Fn. 61 bis 63. Siehe auch: § 160 Abs. 1 Nr. 5 AktG, §§285 Nr. 9a, 314 Abs. 1 Nr. 6a HGB idF. von Art. 1 Nr. 23, Art. 2 Nr. 2 KonTraG 4/1998 (und dazu: LG München AG 2001, S. 376, 377; Kühnberger/Keßler AG 1999, S. 453,458ff.; Hüffer ZHR 161 (1997), S.214,237ff.); §§285 Nr.9a, 314 Abs. 1 Nr.6a HGB idF. von Art.2 Nr. la und Nr. IIa. bb TransPuG 7/2002 (zugleich Aufhebung des § 86 AktG durch Art. 1 Nr. 4 TransPuG 7/2002); Ziff. 3 des Maßnahmenkataloges 2/2003 (und dazu Kiethe BB 2003, S. 1573ff. und WM 2004, S. 458ff.); Ziff. 4.2.2—4.2.4, 5.4.7, 6.6 und 7.1.3 des Deutschen Kodex; Ziff. III.6 und IV.7 des Berliner Kodex; Ziff. II.3 und Ill.l.d und e des Frankfurter Kodex. Vgl. zu diesem Problemkreis: Günther/ Plaschke BB 2004, S. 121 Iff.; Käppiinger/Käppiinger WM 2004, S.712ff.; Paefgen WM 2004,

1 Teil: Das Corporate Governance

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Problem

handelt werden wie die Unabhängigkeit und Haftung der Abschlußprüfer 6 5 oder die Rolle der Geschäftsbanken. 6 6 Diese Untersuchung befaßt sich mit der O p t i mierung der Steuerung des Verhaltens von Vorständen und Aufsichtsräten durch eine Verschärfung der Anforderungen an sie und damit an die Leitung und U b e r wachung in den U n t e r n e h m e n durch sie. D a die Anforderungen an Vorstände und Aufsichtsräte jedoch auch und gerade ihr Zusammenwirken mit den A b schlußprüfern betreffen, können die Anforderungen an die Abschlußprüfung von dem hier gewählten Untersuchungsgegenstand nicht unberührt bleiben. D i e Aufgabenwahrnehmung durch Vorstände und Aufsichtsräte und die damit verbundenen Aufgaben der Abschlußprüfer bilden vielmehr den K e r n der Leitung und Ü b e r w a c h u n g in den U n t e r n e h m e n und des deutschen C o r p o r a t e G o v e r nance Problems. 6 7 Dies entspricht auch dem Reformansatz des Gesetzgebers. Vorstand, A u f sichtsrat und Abschlußprüfung bilden einen Schwerpunkt der R e f o r m b e m ü h u n gen. So stehen die Zusammensetzung, die Organisation und die Instrumentarien von Vorstand und Aufsichtsrat, das Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlußprüfer und die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat im M i t telpunkt des K o n t r o l l - und Transparenzgesetzes, 6 8 des Transparenz- und PubliziS. 1169,1173 ff.; Peltzer NZG 2004, S. 509, 511 f.; Hoff WM 2003, S. 910, 910f.; Kühnberger/Keßler AG 1999, S. 453ff.; Schwarz/Michela 1998, S. 489ff.; Kohler ZHR161 (1997), S. 246ff.; Hüffer ZHR 161 (1997), S.214ff,;Feddersen ZHR 161 (1997), S.269ff.; Lutter ZIP 1997,S. \{{.-,Fuchs DB 1997, S.661 ff.; Schneider ZIP 1996, S.1769ff.; Knoll DB 1997, S.2138ff.; Pulz BB 2004, S.1107ff. (zu den Arbeitnehmern). 65 Siehe dazu: §§ 319 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Nr. 6,323 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 HGB idF. von Art.2 Nr.8, 11 KonTraG 4/1998; §§318 Abs.3, 319, 319a HGB idF. von Art.l Nr.22-24 BilReG 12/2004 (und dazu: Peemöller/OehlerW> 2004, S. 1158, 1159ff. und S.539ff.; Großfeld NZG 2004, S.393, 395f.; Veltins DB 2004, S.445, 447ff.; Lenz BB 2004, S.707ff.); Art.23ff., 30 des Vorschlags einer Prüferrichtlinie 3/2004 (und dazu: Lanfermann DB 2004, S.609, 610, 611; van Hülle/Lanfermann BB 2003, S.1323, 1326f., 1327; Schmidt BB 2003, S. 779ff.); Ziff. 7.2.1 des Deutschen Kodex; Ziff. VI.2.6 des Berliner Kodex. Siehe zum SarbanesOxley Act 7/2002: Block BKR 2003, S. 774,780f.; Lanfermann/Maul DB 2003, S. 349,351,354f.; Hütten/Stromann BB 2003, S.2223, 2224; Kersting ZIP 2003, S.233, 234f.; Niehus DB 2004, S. 885ff. Vgl. zu diesem Problemkreis: BGH NZG 2003, S.216ff.; OLG Frankfurt am Main AG 2004, S.215ff.; BGH ZIP 1997, S. 1162ff. - Allweiler; Marx ZGR 2002, S.292ff., Hellwig ZIP 1999, S.2117ff.; Neumann ZIP 1998, S. 1338ff.; Hommelhoff ZGR 1997, S.550ff.; Weiland BB 1996, S. 1211 ff. 66 Siehe dazu: §§ 128 Abs. 2 Satz 2, Satz 5 und Satz 6,135 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 6, Abs. 3 Satz 1 AktG, §§285 Nr. 11, 340a Abs.4 HGB idF. von Art.l Nr.17, 21, Art 2 Nr.2c, 12 KonTraG 4/1998; §§ 128,134 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3,135 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 4 Satz 3, Abs. 7 Satz 1 und Satz 2, Abs. 10 Satz 1 AktG idF. von Art. 1 Nr. 10,13f. NaStraG 1/2001; § 135 Abs.4 Satz 3 idF. von Art. 1 Nr. 10 RegE UMAG 11/2004; Ziff. 2.3.3 des Deutschen Kodex; Ziff. V.l.3 des Berliner Kodex. Vgl. zu diesem Problemkreis: Hopt, Corporate Governance, S. 243 ff.; Westermann, Corporate Governance, S. 264ff.; Kiem, Corporate Governance, S. 287ff.; von Rosen, Corporate Governance, S.289, 294ff., 297f. 67 Siehe dazu grundlegend Götz AG 1995, S.337, 337ff. 68 Art. 1 Nr.8-12,14-16, 22, 24-25, 31, 34 und Art.2 Nr.2-6, 9 KonTraG 4/1998: §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG - Berichterstattung des Vorstands; §91 Abs. 2 AktG - Risikomanagementsy-

A. Unternehmen

außer Kontrolle:

Das Versagen der Corporate

Governance

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tätsgesetzes, 69 des Deutschen Kodex 7 0 und des Entwurfs eines Gesetzes zur U n ternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts. 7 1 Der Gestern des Vorstand; § 100 Abs. 2 Satz 3 AktG, §§ 124 Abs. 3 Satz 3,127 AktG, §§ 125 Abs. 1 Satz 3, 127 AktG, §285 Nr. 10 Satz 1 HGB - Zusammensetzung des Aufsichtsrats; § 110 Abs. 3 AktG Aufsichtsratssitzungen; §§111 Abs. 2 Satz 3 AktG, 318 Abs.l Satz 4 und Abs. 7 Satz 5 HGB sowie §§321 Abs.5 Satz 2, 318 Abs.7 Satz 4 HGB - Erteilung des Prüfungsauftrages durch den Aufsichtsrat und Vorlage des Prüfungsberichts an den Aufsichtsrat; §§147 Abs. 3, 315 Satz 2 AktG - Minderheitenrecht auf Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs und Durchführung einer Sonderprüfung; § 170 Abs. 1 Satz 2 AktG gestrichen - Vorlagepflicht des Vorstands für den Prüfungsbericht; § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG - Aushändigung der Vorlagen und Prüfungsberichte an Aufsichtsratsmitglieder; §337 Abs. 1 AktG - Angleichung an §170 AktG; §171 Abs.l Satz 1 AktG - Prüfung des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts; § 171 Abs. 1 Satz 2 - Bilanzsitzung des Aufsichtsrats mit dem Abschlußprüfer; § 171 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AktG - Aufsichtsratsausschüsse; §§289 Abs. 1,297 Abs. 1,315 Abs. 1,317,321 HGB - Unternehmensberichterstattung und Abschlußprüfung. 69 Art. 1 Nr. 5-10,16-19,26-27 und Art. 2 Nr. 1,4,11-15 TransPuG 7/2002: § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 sowie Abs. 4 Satz 2 AktG - Berichterstattung des Vorstands; §§ 90 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 Satz 2,110 Abs. 2,170 Abs. 3 Satz 2,314 Abs. 1 Satz 2 AktG - Berichts- bzw. Einberufungsbegehren; § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG - Berichterstattung der Aufsichtsratsausschüsse; § 110 Abs. 3 A k t G - Aufsichtsratssitzungen; § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG-Zustimmungsvorbehalt; §§116 Satz 2,404 AktG - Verschwiegenheit; § 161 AktG, §§ 285 Nr. 16,314 Abs. 1 Nr. 8,325 Abs. 1 Satz 1 HGB - Complianceerklärung; §§170 Abs.l Satz 2, 171 Abs.l Satz 2, 171 Abs.2 Satz 5, 171 Abs. 3 Satz 3 2. Halbsatz, 173 Abs. 1 Satz 2 AktG, 316 Abs. 2 HGB - Vorlage, Prüfung und Billigung des Konzernabschlusses durch den Aufsichtsrat (dementsprechend wurde §337 AktG gestrichen); § 297 Abs. 1 Satz 2, 314 Abs. 2, 317 Abs. 4, 321 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 HGB - Unternehmensberichterstattung und Abschlußprüfung. 70 Ziff. 3, 5.1.1 - Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat; Ziff. 3.3 - Zustimmungsvorbehalt; Ziff. 3.8 - Selbstbehalt; Ziff. 3.10 - Corporate Governance Bericht; Ziff. 4.2.1, 5.1.2, 5.4.1-5.4.4 - Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat; Ziff. 5.2,5.3 - Aufsichtsratsvorsitzender und Aufsichtsratsausschüsse; Ziff. 5.4.8, 5.6 - Rechenschaftspflichten des Aufsichtsrats; Ziff. 3.5,4.3.4,4.3.5,5.5.2-5.5.4,5.4.7 - Vertraulichkeit und Interessenkonflikte; Ziff. 7.1.1 — Zwischenberichte; Ziff. 7.2.1, 7.2.3 - Zusammenwirken mit Abschlußprüfer. Siehe dazu auch Ziff. II, III.1-5, IV.1-6, VI.2 des Berliner Kodex und Ziff. II.l, II.4, III des Frankfurter Kodex. Vgl. zur D&O-Versicherung: Ziff. 3 des Maßnahmenkataloges 2/2003; von Westphalen DB 2005, S. 431 ff.; Deilmann NZG 2005, S.151ff.; Lange ZIP 2004, S.2221ff.; Kiethe BB 2003, S.537ff.; Dreher/Görner ZIP 2003, S.2321ff.; Dreher ZHR 165 (2001), S.293ff.; Kästner AG 2000, S. 113ff.; Hucke DB 1996, S.2267ff.; Tbümmel/Sparberg DB 1995, S. 1013ff. Vgl. dazu auch Mertens, Festschrift Fleck, S.209ff. 71 Art. 1 Nr. 1, 3, 11-16, 31, 36 RegE UMAG 11/2004: §93 Abs.l Satz 2 AktG - business judgment rule; §117 Abs. 7 Nr. 1 AktG - Haftungseinschränkung entfällt; §§142, 145, 146, 147 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 (Abs. 3 und Abs. 4 entfallen), 148,149,258 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4,315 Satz 2 bis Satz 5 AktG - Minderheitenrecht auf Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs und Durchführung einer Sonderprüfung; §§ 142, 145, 148, 149, 315 idF. von Art. 1 Nr. 11, 12, 15, 16, 36 RegE UMAG 11/2004 sind aufgrund der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses vom 15. Juni 2005 (BT-Drucksache 15/5693) durch Gesetzesbeschluß des Bundestages vom 16. Juni 2005 (BR-Drucksache 454/05) geändert worden (für den Schwellenwert wird statt auf den Börsenwert auf den Nennbetrag abgestellt). Siehe zur Haftung auch §§37b, 37c WpHG idF. des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes 6/2002 sowie §§37a, 37b, 37c WpHG idF. des Diskussionsentwurfs eines Kapitalmarktinformationshaftungsgesetzes 10/2004 und den Regierungsentwurf eines Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes 11/2004 (Kapitalmarkthaftung). Vgl. zu diesem Problemkreis: Sauer ZBB 2005, S.24ff.; Casper BKR 2005, S.83ff.; Veil BKR 2005, S. 91 ff.; Langenbucher ZIP 2005, S.239ff.; Gittermann NZG 2004, S. 1081 ff.; Fleischer ZGR

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1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

setzgeber hat in der Begründung zum Kontroll- und Transparenzgesetz besonders deutlich gemacht, daß die Führungsaufgaben und Berichtspflichten des Vorstandes und der Gegenstand und die Funktion der Abschlußprüfung den Erfordernissen einer besseren Überwachung durch den Aufsichtsrat und den Bedürfnissen der Kapitalmärkte angepaßt werden müssen. Er wollte die Gewähr und Prüfung von Informationen über zukünftige Vorhaben und Entwicklungen sowie Risiken und Chancen verbessern. Das sind die Informationen, die im Sinne der shareholder value Philosophie für den langfristigen Ertragswert des Unternehmens ausschlaggebend sind. Auf diese Weise sollten die Möglichkeiten des Aufsichtsrats verbessert werden, den Vorstand zukunfts-, problem- und risikoorientiert zu überwachen. Zugleich sollte den Interessen von Gesellschaftern, Anlegern und Gläubigern Rechnung getragen werden, die das Unternehmen bewerten und eine fundierte Anlageentscheidung treffen wollen. 72

2004, S.437ff. und BKR 2003, S.608ff.; Baums ZHR 167 (2003), S. 139ff.; Schwark, Festschrift Hadding, S. 1117ff.; Zimmer WM 2004, S. 9ff.; Keusch/WankerlBKR 2003, S. 744ff.; Heppe WM 2003, S. 714ff. und S. 753ff.; Duve/Pfitzner BB 2005, S.673ff.; Braun/Rolter BKR 2004, S.296ff.; W M 2003, Zypries BB 2004, Heft 23, S.I; Reuschle NZG 2004, S.590ff.; Hess/Michailidou S.2318ff. Siehe zur Unternehmensberichterstattung und Abschlußprüfung §§285 Satz 1 Nr. 18, Nr. 19 und Satz 2, 289 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3, 297 Abs. 1, 314 Abs. 1 Nr. 10, Nr. 11 und Abs.2, 315 Abs. 1 und Abs.2 Nr.2, 315a, 317 Abs.2, 321 Abs.2 Satz 3 und Abs.3 Satz 2, 321a, 324a, 331 Nr. la und Nr. 3 HGB, §§170 Abs. 1 Satz 2,171 Abs. 4 AktG idF. von Art. 1 Nr. 5,9,15, 18-21,25, 26,28, 32, Art.4 Nr.2, 3 BilReG 12/2004; §292a HGB ist durch Art. 1 Nr. 11 BilReG 12/2004 aufgehoben werden. 72 Allgemeine Begründung zum RegE KonTraG 11/1997 und Begründung zu Art. 2 Nr. 5, 8,9 RegE KonTraG 11/1997. Siehe dazu: Mattheus ZGR 1999, S.682ff.; Schindler/Rabenhorst BB 1998, S. 1886ff. und S.1939ff.; Hommelhoff BB 1998, S.2567ff. und S.2625ff.; Hommelhoff/ Mattheus AG 1998, S.249, 256ff.; Claussen DB 1998, S. 177,177,180f., 181 ff.; Schulze-Osterloh ZIP 1998, S.2129ff.; Westerfehlhaus DB 1998, S.2078ff.; Strieder/ Graf BB 1997, S. 1943ff.; Dörner DB 1998, S. 1,2ff.; Klar DB 1997, S. 685ff.; Funke ZIP 1996, S. 1602ff. Vgl. dazu auch bereits: Forster AG 1995, S. 1 ff.; Götz AG 1995, S.337, 340ff.; Rürup AG 1995, S.219ff.; Clemm ZGR 1980, S.455ff.

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule Ist das Ziel die Optimierung der Steuerung des Verhaltens von Vorständen und Aufsichtsräten und ist der Ansatzpunkt eine Verschärfung der Anforderungen an sie und damit an die Leitung und Überwachung in den U n t e r n e h m e n durch sie, so geht es im K e r n um die operationale Interpretation der den Vorständen und A u f sichtsräten bei unternehmerischen Entscheidungen obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G . Sie müssen so konkretisiert werden, daß sie in optimaler Weise dazu beitragen, Vorstände und Aufsichtsräte dahin zu motivieren, verantwortlich und mit dem Ziel einer langfristigen Wertschöpfung und nachhaltigen Steigerung des Unternehmenswerts zu handeln. Das k ö n n e n sie nur, wenn sie den Vorständen und Aufsichtsräten hinreichende Anhaltspunkte für eine effiziente Aufgabenwahrnehmung geben, ohne sie durch unübersehbare Haftungsrisiken in ihrem Engagement zu behindern. 1 Es ist allgemein anerkannt, daß die gesellschaftsrechtliche Organhaftung nicht nur eine Ausgleichsfunktion, sondern vor allem eine Steuerungsfunktion hat. Sie soll einerseits sicherstellen, daß die Nachteile ausgeglichen werden, die die Gesellschaft durch schuldhafte Pflichtverletzungen der mit der Unternehmensführung betrauten Organmitglieder erleidet. Sie soll die Organmitglieder andererseits dazu anhalten, den ihnen gegenüber der Gesellschaft obliegenden Pflichten nachzuk o m m e n . Die Gesellschaftsrechtler sprechen demgemäß von einer D o p p e l f u n k tion der Organhaftung. 2 I m R a h m e n der Steuerungsfunktion ist zu berücksichtigen, daß den Organmitgliedern nicht durch eine allzu strenge Haftung „jeder M u t zur Tat g e n o m m e n " werden darf. 3 Das Eingehen unternehmerischer Risiken ist der unternehmerischen Tätigkeit immanent und birgt gerade die Erfolgschancen, die es ermöglichen, die Gewinnerwartungen der Gesellschafter zu erfüllen. Eine Risikoaversion der Organmitglieder hätte zudem negative Allokationswirkungen für die gesamte Volkswirtschaft. 4 1 Vgl. Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,103 („unternehmerische Initiative nicht durch unüberschaubare Haftungsrisiken" behindern) und Horn ZIP 1997, S. 1129, 1129 („Das Recht muß einerseits Handlungsfreiheit und Selbstverantwortung garantieren, andererseits die Bindung an Sorgfaltspflichten vorsehen."). 2 Siehe dazu nur Goette, Handbuch Corporate Governance, S. 749, 750ff. und Scholz-Schneider, GmbHG, §43 Rdn 7, 12a sowie Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 441. 3 Begründung zu § 84 AktG 193 7, abgedruckt bei Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften, S.71 4 Ulmer DB 2004, S. 859, 859; Fleischer ZIP 2004, S.685, 685; Paefgen AG 2004, S.245, 247;

1 Teil: Das Corporate Governance

38

Problem

Vor diesem Hintergrund geht es um die Zubilligung und Begrenzung von E n t scheidungsfreiräumen bzw. - in der Terminologie des Bundesgerichtshofs - von „autonomen unternehmerischen Ermessensspielräumen". 5 Das Kernproblem ist mithin die dogmatische Verankerung und inhaltliche Ausgestaltung einer business judgment rule. Inzwischen ist weitgehend anerkannt, daß die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats auf den Aufgabenzuweisungen nach den §§ 76 Abs. 1, 111 Abs. 1 A k t G beruhen. 6 D e r Bundesgerichtshof hat die dogmatische Verankerung der Entscheidungsfreiräume des Vorstands in der „Führungsaufgab e " des Vorstands 7 und die der Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats in den „unternehmerischen Aufgaben" des Aufsichtsrats 8 gesehen. 9 Streitig sind dagegen die dogmatischen Konsequenzen, wenn Vorstand und Aufsichtsrat Entscheidungen im R a h m e n ihrer Entscheidungsfreiräume treffen, die sich später als Fehlentscheidungen erweisen. Es wird diskutiert, ob es dann an einer Pflichtverletzung im Sinne der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G fehlt 1 0 oder o b eine Pflichtverletzung im Sinne des § § 9 3 , 116 A k t G vorliegt, für die aber nicht gehaftet wird („haftungsfreie Pflichtverletzung"). 1 1 Streitig sind die dogmatischen Konsequenzen auch, wenn Vorstand und Aufsichtsrat Entscheidungen treffen, die nicht von ihren Entscheidungsfreiräumen gedeckt sind. Es wird diskutiert, o b dann eine Pflichtverletzung im Sinne der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G vorliegt 1 2 oder o b anhand weiterer Kriterien zu prü-

Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 442f.; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1129; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 103; Schneider DB 2005, S.707, 709. 5 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck; siehe auch BGH BGHZ 136, S. 133,137, 139 - Siemens/Nold und BGHZ 75, S.96, 107f. - Herstatt. 6 Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,105f.; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1134f.; Thümmel AG 2004, S. 83, 86f.; Kock/Dinkel ZGR 2004, S.441, 442f.; Roth, Ermessen, S.48ff. und BB 2004, S. 1066, 1068; Paefgen, Entscheidungen, S. 26ff., 35ff.; Goette, Handbuch Corporate Governance, S. 749, 756. 7 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 8 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 9 So auch Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 105. 10 Kindler ZHR 162 (1998), S.101, 104; Roth, Ermessen, S.48ff.; Paefgen, Entscheidungen, S. 171 ff., 222ff.; so auch der Wortlaut von §93 Abs.l Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr.l RegE UMAG 11/2004. 11 Siehe dazu Fleischer ZIP 2004, S.685, 689f. sowie Roth BB 2004, S. 1066,1068 und Ermessen, S. 85 im Hinblick auf die Kombination subjektiver und objektiver Tatbestandselemente und die Anlehnung an die U.S. amerikanische business judgment rule in §93 Abs. 1 Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004 und im Hinblick darauf, daß der Bundesgerichtshof eine Haftung erst bei einer „deutlichen" Überschreitung des Handlungsrahmens annimmt (BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck). So bereits Hopt, Festschrift Mestmäcker, S.909, 920 („Haftungsfreiraum bis in den Bereich der groben Fahrlässigkeit hinein") und Horn ZIP 1997, S. 1129, 1135 („auch dann haftungsfrei, wenn sie im Einzelfall aus den bereits allgemein erörterten Gründen als Sorgfaltspflichtverletzung bewertet werden müßten"). 12 Henze BB 2005, S. 165, 166; Roth, Ermessen, S.48ff., 135; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 105; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 251 f., 253f., 260f., 266 (siehe dazu aber auch Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 162ff., 169ff.).

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule

39

fen ist, o b eine Pflichtverletzung im Sinne der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G angenommen werden kann. 1 3

I. Der Ausgangspunkt:

Weite

Entscheidungsfreiräume

A u c h wenn im Detail noch undeutlich ist, unter welchen Voraussetzungen E n t scheidungen von Vorständen und Aufsichtsräten von ihren Entscheidungsfreiräumen gedeckt sind, 1 4 so herrscht doch in einem Punkt weitgehend Einigkeit: D i e Entscheidungsfreiräume sollen weit sein. Vorstände und Aufsichtsräte sollen nur für „schlechthin unvertretbares H a n d e l n " haften. 1 5 Zur Begründung wird auf das „Anliegen" verwiesen, „die Gerichte aus den unternehmerischen Entscheidungen weitmöglichst heraus zu halten". 1 6 Es könne „nur so ... der Versuchung der Gerichte entgegengewirkt werden, mittels Definition des Unternehmensinteresses konkrete Verhaltenspflichten des Vorstands zu entwickeln." 1 7 Zudem sei eine „Verbesserung der Performance des Vorstands ... nicht durch eine K o n k r e t i sierung rechtlicher Standards, sondern nur durch einen weiten Ermessensspielraum verbunden mit rechtlich unverbindlichen ,best practices' erreichbar." 1 8 D i e se Ansätze liegen auf der Linie der A R A G - E n t s c h e i d u n g des Bundesgerichtshofs 1 9 und des Vorschlags der Bundesregierung, in § 9 3 Abs. 1 Satz 2 A k t G eine business judgment rule zu verankern. 2 0

13 Siehe dazu Fleischer ZIP 2004, S. 685, 689. Für diese Auffassung spricht die Anlehnung an die U.S. amerikanische business judgment rule in §93 Abs. 1 Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 (siehe zum U.S. amerikanischen Recht nur Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 167f.) und der Umstand, daß der Bundesgerichtshof formuliert hat, eine Haftung „kann erst in Betracht kommen, wenn" eine deutliche Überschreitung des Handlungsrahmens vorliegt (BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck). 14 Ulmer DB 2004, S.859, 859f., 860f.; Fleischer ZIP 2004, S.685, 690f.; Paefgen AG 2004, S. 245,252f., 253ff., 255,255f.; Thümmel DB 2004, S. 471,472 und AG 2004, S. 83, 87; Kock/DinkelNZG2004, S. 441,443f.; Kinzl DB 2004, S. 1653,1653f.; Witte/Hrubesch BB 2004, S. 725, 727; Roth BB 2004, S. 1066, 1068f.; Heermann ZIP 1998, S.761, 762f., 763ff. und AG 1998, S.201, 203 ff. 15 So Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 103. Im Ergebnis ebenso: Semler AG 2005, S.321, 324; Henze BB 2005, S.165, 166 und BB 2000, S.209, 215 sowie BB 2001, S.53, 60; Roth, Ermessen, S. 80ff., 97ff., 100 und BB 2004, S. 1066,1068; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.267ff.; Paefgen AG 2004, S.245, 252f., 253 ff., 255, 255f.; Witte/Hrubesch BB 2004, S.725, 727; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1134f.; Heermann AG 1998, S.201, 204. 16 Paefgen, Entscheidungen, S. 176f. 17 Roth, Ermessen, S. 89; ganz ähnlich auch Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 300ff. 18 Roth, Ermessen, S.93. 19 BGH ZIP 1997, S. 883, 883 ff. - ARAG/Garmenbeck. 20 Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004.

40

1 Teil: Das Corporate Governance

II. Die ARAG-Entscheidung

Problem

des Bundesgerichtshofs

D e r Bundesgerichtshof hat dem Vorstand bei „unternehmerischen Entscheidungen" einen „weiten Handlungsspielraum" zugebilligt, zu dem „neben dem bewußten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen" gehöre, und zwar mit der Konsequenz, daß eine Pflichtverletzung im Sinne des § 93 A k t G „erst dann in Betracht k o m m t , wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist" oder wenn „das Verhalten aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten m u ß . " 2 1 Das „von Verantwortungsbewußtsein oder das „ausschließlich

getragene unternehmerische H a n d e l n "

am Unternehmenswohl orientierte unternehmerische

H a n d e l n " wird mit der Abwesenheit von Interessenkonflikten gleichgesetzt. 2 2 Aus dem „auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhenden unternehmerischen H a n d e l n " wird das Erfordernis einer ausreichenden oder sorgsamen Entscheidungsvorbereitung abgeleitet. 2 3 Das „am U n t e r n e h m e n s wohl orientierte unternehmerische H a n d e l n " wird dahin verstanden, daß die Entscheidung im besten Interesse der Gesellschaft liegen muß; 2 4 in dem Hinweis auf eine „deutliche Überschreitung" bzw. „unverantwortliche Ü b e r s p a n n u n g " wird das Erfordernis einer inhaltlichen Bewertung gesehen. 2 5 Z u m Teil wird aber nicht in dieser Weise differenziert, sondern unmittelbar aus dem Hinweis auf eine „deutliche Überschreitung" bzw. „unverantwortliche Überspannung" das E r f o r dernis abgleitet, die Entscheidung dürfe nicht unverantwortlich sein. 2 6 „Andere

BGH ZIP 1997, S. 883, 885f. - ARAG/Garmenbeck. 1. Alternative: Paefgen AG 2004, S.245,252; Henze BB 2001, S.53, 57 und BB 2000, S.209, 215. 2. Alternative: Kock/DinkelNZG 2004, S.441,444; ThümmelDb 2004, S.471, 472; Kindler ZHR 162 (1998), S.101, 106. 23 Henze BB 2001, S.53, 57 und BB 2000, S.209, 215; ThümmelDB 2004, S.471, 472 und AG 2004, S. 83, 87; Roth, Ermessen, S. 80f. 24 Henze BB 2001, S. 53, 57 und BB 2000, S. 209,215. Vgl. auch Thümmel DB 2004, S. 471,472 und AG 2004, S. 83, 87. 25 Henze BB 2005, S. 165,166 und BB 2001, S. 53, 57,60 sowie BB 2000, S. 209,215 („wenn das Handeln schlechterdings nicht zu rechtfertigen ist und ein verantwortungsbewußt denkender und handelnder Kaufmann zu ihrer Durchführung zu keiner Zeit bereit wäre"); Thümmel DB 2004, S.471, 472 und AG 2004, S.83, 87. 26 So Paefgen AG 2004, S.245, 255 (siehe aber auch Entscheidungen, S. 177, 178f., wo er nur von „rational schlichtweg nicht mehr nachvollziehbaren Entscheidungen" spricht und anmerkt, mit dem „deutlich" werde „der durch die Anerkennung des Gedankens der business judgment rule erreichte Verzicht auf eine inhaltliche Uberprüfung des Entscheidungsergebnisses wieder relativiert") sowie Roth BB 2004, S. 1066,1068 und Ermessen, S. 97ff., 100 („fehlende kaufmännische Rechtfertigung mehr als offensichtlich"). Die Terminologie ist uneinheitlich: Siehe etwa 21

22

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule

41

G r ü n d e " sollen vorliegen, wenn das Handeln „gegen Gesetz (insbesondere § 93 Abs. 3 A k t G ) und Satzung verstößt." 2 7 D e r Bundesgerichtshof hat dem Aufsichtsrat einen Anteil an dem „weiten Handlungsspielraum" nur insoweit zugebilligt, „wie das G e s e t z auch ihm unternehmerische Aufgaben überträgt, wie z . B . bei der Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern oder im Rahmen des § 1 1 1 Abs. 4 Satz 2 A k t G , d.h. überhaupt überall dort, w o er die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend mitgestaltet." D a die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder nicht zu diesem Aufgabenbereich gehöre, könne der Aufsichtsrat insoweit „ein unternehmerisches Ermessen in dem v o m B e r u fungsgericht angenommen Sinne nicht in Anspruch n e h m e n . " 2 8 D e r Bundesgerichtshof hat dem Aufsichtsrat für diesen Fall eine dreistufige Prüfung aufgegeben. In einem ersten Prüfungsschritt müsse der Aufsichtsrat den zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestand in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht feststellen. In einem zweiten Prüfungsschritt müsse der Aufsichtsrat eine Analyse des Prozeßrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung vornehmen. Eine Entscheidungsprärogative könne der Aufsichtsrat für diesen Teil seiner E n t scheidung nicht in Anspruch nehmen; es könne allenfalls die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht k o m m e n . In einem dritten Prüfungsschritt dürfe er prüfen, ob „er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohles ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs absehen m ö c h t e . " In diesen engen G r e n z e n sei dem Aufsichtsrat ein Entscheidungsermessen zuzuerkennen. D a b e i könnten Gesichtspunkte bedeutsam sein wie „negative Auswirkungen auf G e schäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas" sowie - ganz ausnahmsweise - „einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied." 2 9 Diese Rechtsprechung hat in der Literatur nicht nur mit Blick auf die Vorstandshaftung weitgehende Zustimmung gefunden 3 0 , sondern auch mit B l i c k auf die These, der Aufsichtsrat könne für die Entscheidung über die Geltendma-

Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 106, 107 („Einhaltung der Grenzen zur schieren Unvernunft") und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.243ff. („keine plausible Begründung"). 27 Paefgen AG 2004, S.245, 252; Roth BB 2004, S. 1066,1068; ThümmelDB 2004, S.471, 471 und AG 2004, S. 83, 87; Henze BB 2000, S.209, 215. 28 BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. Siehe zu dieser Differenzierung Schneider DB 2005, S. 707, 709. 29 BGH ZIP 1997, S.883, 885, 886, 886f. - ARAG/Garmenbeck. 30 Siehe nur: Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 103ff.; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1131ff.; Heermann ZIP 1998, S. 761,762f., 763f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.24ii{.; Roth, Ermessen, S. 97ff., 100; Paefgen, Entscheidungen, S.177.

42

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

chung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder kein unternehmerisches Ermessen in Anspruch nehmen. 31 Der Bundesgerichtshof hat die in der ARAG-Entscheidung eingeschlagene Linie fortgesetzt. Während er zuvor noch von „pflichtgemäßem Ermessen" 32 und kurz danach von „unternehmerischem Ermessen" 33 sprach, betonte er in einer jüngeren Entscheidung, daß dem Vorstand einer Aktiengesellschaft wie dem Geschäftsführer einer GmbH ein „grundsätzlich weiter unternehmerischer Ermessensspielraum" zukommt. 3 4

III. Der UMAG-Vorschlag

der

Bundesregierung

Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, in § 93 Abs. 1 AktG den folgenden Satz 2 einzufügen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln." 3 5 In Art. 1 Nr. 1 RefE U M A G 1/2004 hieß es noch: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln." 3 6 Mit dieser Änderung, die einem Vorschlag von Holger Fleischer entspricht, 37 wollte man den in der Literatur geäußerten dogmatischen Bedenken Rechnung tragen. 38 Es war geltend gemacht worden, die Kombination subjektiver und objektiver Tatbestandsmerkmale trage Verschuldenselemente in die Definition der Pflichtverletzung hinein und es würden zivilrechtliche Kategorien verwoben, die sonst getrennt würden. 3 9

31 Siehe nur: Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 109ff.\Horn ZIP 1997, S.1129, 1136ff.; Heermann AG 1998, S.201, 203ff. 32 BGH BGHZ 75, S.96, 108 - Herstatt. 33 BGH BGHZ 136, S. 133, 140 - Siemens/Nold. 34 BGH AG 2003, S.381, 382. 35 Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004. 36 Im Maßnahmenkatalog hatte die Bundesregierung zuvor formuliert: „In § 93 AktG ist klarzustellen, daß eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheidet, wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung getroffen haben, die sich später als unternehmerische Fehlentscheidung erweist; Ziff. 1 des Maßnahmenkataloges 2/2003. Eine inhaltliche Änderung sollte mit der Formulierung im RefE UMAG 1/2004 nach Aussage des zuständigen Referatsleiters im Bundesministerium der Justiz nicht verbunden sein; Seibert/Schütz ZIP 2004, S.252, 254. 37 Fleischer ZIP 2004, S.685, 689. 38 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 („Vermengung von Pflichten- und Sorgfaltsmaßstab"). 39 Fleischer ZIP 2004, S. 685,688,689 und Roth BB 2004, S. 1066,1068. Siehe dazu auch Semler AG 2005, S. 321, 325 und DAV ZIP 2005, S. 774, 775.

43

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule

D i e Bundesregierung führt aus, die neue Vorschrift solle den Bereich unternehmerischen Handlungsspielraums aus dem Tatbestand der Sorgfaltspflichtverletzung nach Satz 1 ausgrenzen. D i e Tatbestandseinschränkung setze fünf - teils implizierte - Merkmale voraus: Unternehmerische Entscheidung, Gutgläubigkeit, Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse, Handeln zum W o h l e der Gesellschaft und Handeln auf der Grundlage angemessener Information. Dies entspreche Vorbildern der business judgment rule aus dem angelsächsischen Rechtskreis und finde Parallelen in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ( B G H Z 135, S . 2 4 4 f f . - A R A G / G a r m e n b e c k ) . 4 0 Das M e r k m a l der Annahme

zwinge zu einem Perspektivwechsel in der B e u r -

teilung. D i e Voraussetzungen der Entscheidungsfindung müßten aus der Sicht betreffenden

Organs

des

beurteilt werden. Diese Sichtweise werde durch das „ A n -

nehmendürfen" begrenzt und objektiviert.

Als Maßstab für die Uberprüfung, o b

die A n n a h m e des Vorstands nicht zu beanstanden sei, diene das M e r k m a l „vernünftigerweise". 4 1 In der Begründung zu Art. 1 N r . 1 R e f E U M A G 1/2004 hieß es, die A n n a h m e sei ein subjektives nehmendürfen" objektiviert

Tatbestandsmerkmal, welches durch das „ A n -

werde. D i e A n n a h m e müsse frei von groben Sorg-

faltspflichtverletzungen gebildet worden sein, worauf das Tatbestandsmerkmal „ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte" hinweise. Eine inhaltliche Ä n d e rung ist mit dem Verzicht auf das Kriterium der groben Fahrlässigkeit erkennbar nicht bezweckt. 4 2 Das zeigen bereits die weiteren Ausführungen an dieser Stelle. Sie sind in der Begründung zu Art. 1 Nr. 1 R e f E U M A G 1/2004 und in der B e gründung zu Art. 1 Nr. 1 R e g E U M A G 11/2004 identisch: Das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals sei etwa dann zu verneinen, wenn das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig

unverantwortlicher

Weise

falsch beurteilt worden sei (vgl. B G H Z 135, S . 2 4 4 , 253, A R A G / G a r m e n b e c k ) . D i e Bundesregierung führt weiter aus, ein Handeln schaft

zum

Wohle

der

Gesell-

liege jedenfalls dann vor, wenn es der langfristigen Ertragsstärkung und

Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen diene. Dies beziehe auch das W o h l von Tochtergesellschaften und des Gesamtkonzerns mit ein. E s gehe dabei nicht um das ex post ermittelte W o h l der

40 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 und - nahezu wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004. 41 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004. 42 Siehe dazu: DAV ZIP 2005, S. 774,775 („Was das Wort bedeutet und ob damit etwas anderes gemeint ist als ohne Fahrlässigkeit, bleibt offen."); Semler AG 2005, S. 321, 325 („Diese Haftungserleichterung ist aus dem Gesetzentwurf gestrichen worden ... Jetzt ist der Verschuldensmaßstab durch den Begriff vernünftigerweise' eingeschränkt worden. Ob das Gesetz damit auch die leichte Fahrlässigkeit bei der Feststellung des Verschuldens einbezieht, sollte vom Gesetzgeber noch einmal geprüft werden."); Holzborn/Bunnemann B K R 2005, S.51, 52 (Schon leichte Fahrlässigkeit könne zu einer aus objektiver Sicht nicht mehr vertretbaren Annahme führen, und zwar insbesondere dann, wenn bei besonders riskanten Geschäften eine Entscheidungsgrundlage leicht fahrlässig falsch beurteilt sei.).

44

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

Gesellschaft, sondern um ein von dem Geschäftsleiter ex ante in gutem Glauben angestrebtes Gesellschaftswohl.43 Im übrigen dürfe in der Regel nur der annehmen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, der sich frei von Interessenkonflikten, Fremdeinflüssen und unmittelbarem Eigennutz wisse und gutgläubig sei. Anders möge es ausnahmsweise zu beurteilen sein, wenn das Organmitglied zuvor den Interessenkonflikt offengelegt habe und unter diesen Umständen die Annahme, gleichwohl zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, vernünftig und nachvollziehbar erscheine.44 Das Annehmendürfen soll gerade auch die Informationsgrundlage erfassen. Die unternehmerische Entscheidung dürfe weder verrechtlicht noch (schein-) objektiviert werden. Es werde auf die vernünftigerweise als angemessen erachtete Information abgestellt und damit dem Entscheidungsträger in den Grenzen seiner Sorgfaltspflichten ein erheblicher Spielraum eingeräumt, den Informationsbedarf abzuwägen und sich selbst eine Annahme dazu zu bilden. Welche Intensität der Informationsbeschaffung im Sinne der Norm „angemessen" sei, sei anhand des Zeitvorlaufs, des Gewichts und der Art der zu treffenden Entscheidung und unter Berücksichtigung anerkannter betriebswirtschaftlicher Verhaltensmaßstäbe von ihm ohne groben Pflichtenverstoß zu entscheiden. Bereits das Tatbestandsmerkmal „angemessene Information" nehme darauf Rücksicht, daß unternehmerische Entscheidungen häufig auch auf Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen und einem Gefühl für die Märkte und die Reaktion der Abnehmer und Konkurrenten beruhten. Es reflektiere zudem, daß bei Entscheidungen, die unter hohem und nicht selbst erzeugtem Zeitdruck zu fällen seien, eine umfassende Entscheidungsvorbereitung schwierig oder gar unmöglich sein könne.45 An dieser Stelle zeigt sich wiederum, daß mit der Ersetzung des „ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte" durch das „vernünftigerweise annehmen durfte" keine inhaltliche Änderung bezweckt ist. Die Ausführungen in der 43 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 und - bis auf den mittleren Satz wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004. Fleischer ZIP 2004, S. 685, 690 sieht in dem Abstellen auf das Unternehmenswohl kein Abrücken von der - höchst problematischen Figur des Unternehmensinteresses, sondern eine terminologische Lässigkeit. Das dürfte unrichtig sein. Es wird auf die Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit, nicht auf konfligierende oder gemeinsame Interessen der Unternehmensbeteiligten (Aktionäre, Gläubiger, Arbeitnehmer, Öffentlichkeit) abgestellt. Das entspricht der ARAG-Entscheidung. Dort heißt es, Gesichtspunkte des Unternehmenswohls seien negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas; BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 44 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 und - bis auf die Einschränkung nahezu wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004. Mit der Einschränkung werden möglicherweise die Anregungen von Paefgen AG 2004, S. 245,253,254f., 261 aufgenommen, der eine ergänzende Regelung im Hinblick auf Interessenkonflikte und Informationsgrundlage angesichts der Kollektiventscheidungen für erforderlich hält, da es reichen müsse, daß die entscheidungstragende Mehrheit diese Voraussetzungen erfülle. 45 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 und - bis auf das Wort vernünftigerweise wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004.

B. Das Kernproblem:

45

Die business judgment rule

Begründung zu Art. 1 Nr. 1 R e f E U M A G 1/2004 und in der Begründung zu Art. 1 N r . 1 R e g E U M A G 11/2004 sind bis auf einen Punkt identisch: E s wird einmal von der vernünftigerweise von der ohne grobe

als angemessen erachteten Information und einmal

Fahrlässigkeit

chen. D a ß der von Peter

als angemessen erachteten Information gespro-

Ulmer ebenso fundiert wie pointiert vorgetragenen Kri-

tik an der „Haftungsfreistellung bis zur Grenze grober Fahrlässigkeit" 4 6 keine Rechnung getragen werden soll, 4 7 zeigt insbesondere die nach wie vor vorhandene Formulierung, was angemessen sei, sei ohne groben

Pflichtenverstoß

zu ent-

scheiden. In der Literatur hat bereits der Regelungsvorschlag des Referentenentwurfs überwiegend grundsätzliche Zustimmung erfahren. 4 8 Abgesehen von Peter mer hat lediglich Roderich

C. Thümmel

Ul-

grundlegende Kritik geäußert, und zwar

daran, daß statt einer objektiven Bewertung, o b die Entscheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt geeignet war, das Unternehmenswohl zu fördern, und o b der Vorstand sich eine der Tragweite der Entscheidung angemessene Informationsgrundlage beschafft hatte, eine subjektive Betrachtung maßgeblich sein und es darauf a n k o m m e n soll, o b der Vorstand annehmen durfte, im Sinne des U n t e r n e h m e n s wohls und auf der Basis ausreichender Informationen zu handeln. D a m i t werde der notwendige und unbestrittene Haftungsfreiraum der Organe über das erforderliche M a ß hinaus erweitert. Ein Unternehmensleiter sei ausreichend geschützt, wenn er für eine Entscheidung nicht einstandspflichtig gemacht werden könne, die in dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen worden sei, am U n t e r n e h m e n s wohl orientiert gewesen sei und auf einer situationsentsprechenden Informationsgrundlage beruht habe. Beides könne - bezogen auf den damaligen Zeitpunkt - objektiv festgestellt werden. D a ß dies Schwierigkeiten bereiten könne,

46 Ulmer D B 2004, S. 859, 859, 862f. (Eine solche Haftungsfreistellung bis zur Grenze grober Fahrlässigkeit bei unternehmerischen Fehlentscheidungen sei im Lichte der seltenen Haftungstatbestände des bürgerlichen Rechts, die eine Schadensersatzhaftung erst bei grober Fahrlässigkeit zulassen (§§300, 521, 599, 680, 968 BGB), und im Lichte der aus sozialpolitischen Gründen eingeschränkten, aber nur auf normale Fahrlässigkeit begrenzten Arbeitnehmerhaftung nicht gerechtfertigt. Eine seit Jahren zu beobachtende, nicht unproblematische Entwicklung im Zeichen unverhältnismäßig stark ansteigender Managementvergütungen einschließlich Aktionsprogrammen, großzügiger Abfindungsvereinbarungen und zunehmend verbreiteter D&O-Versicherungen solle hier offenbar ihren gesetzlichen Abschluß finden.). Dieser Kritik hat sich Semler AG 2005, S.321, 325 angeschlossen. Zustimmend dagegen: Paefgen A G 2004, S.245, 254; Roth BB 2004, S. 1066, 1068; Kock/Dinkel N Z G 2004, S.441, 444; Fleischer ZIP 2004, S.685, 689f., 690f.; siehe dazu auch Kinzl DB 2004, S. 1653f.

A.A. Semler KG 2005, S.321, 325 und Holzborn/Bunnemann B K R 2005, S.51, 52. Kock/Dinkel N Z G 2004, S. 441,443 f.; Fleischer ZIP 2004, S. 685,689f., 690f.; Roth BB 2004, S. 1066,1068; Paefgen AG 2004, S. 245,252f., 254f., 255,256. Dabei hat Fleischer ZIP 2004, S. 685, 687f. Zweifel an einer Kodifizierung angemeldet („Eingriff in einen noch nicht abgeschlossenen Dogmatisierungsprozeß, der im Zusammenspiel von Rechtsprechung und Rechtslehre womöglich weitere Präzisierungen hervorgebracht hätte); Semler AG 2005, S.321, 324 bezeichnet die Kodifizierung schlicht als unnötig. 47 48

46

1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

dürfe kein G r u n d sein, den Unternehmensleitern auch hier Erleichterungen zu gewähren. 4 9 Diese Überlegungen hat der Bundesrat aufgegriffen. E r hat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf vom 18. Februar 2 0 0 5 die folgende Formulierung vorgeschlagen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung R e c h t und Gesetz, die Bestimmungen der Satzung und rechtswirksame Beschlüsse von Gesellschaftsorganen beachtet sowie auf der Grundlage sellschaft

gehandelt

angemessener

Information

zum Wohle der

Ge-

hat." E r hat dazu ausgeführt, nach dem E n t w u r f solle es auf

das „Annehmendürfen" und damit auf eine subjektive Betrachtung ankommen, eine objektive Bewertung sei jedoch vorzugswürdig. Das Vorstandsmitglied sei hinreichend geschützt, wenn es für eine Entscheidung nicht einstandspflichtig gemacht werden könne, die in dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen worden sei, am Wohl der Gesellschaft (und nicht an Eigeninteressen oder Drittinteressen) orientiert gewesen sei und auf einer situationsentsprechenden Informationsgrundlage beruht habe. Beides könne - b e z o g e n auf den damaligen Zeitpunkt - objektiv festgestellt werden. Eigeninteressen würden, wenn sie vorlägen, offensichtlich sein. D i e Ermittlung des der Tragweite der Entscheidung angemessenen Informationsumfangs möge zwar gelegentlich Schwierigkeiten bereiten, dies sollte aber kein G r u n d sein, in dieser Frage eine subjektive Anknüpfung zu wählen. 5 0 D i e Bundesregierung hat diesen Vorschlag am 9. M ä r z 2 0 0 5 zurückgewiesen. E s sei Kernbestandteil der business judgment rule, daß nicht nur die unternehmerische Entscheidung selbst, sondern auch die Planungs- und Informationsphase der gerichtlichen Uberprüfung teilweise entzogen sei. Deshalb sei die Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte" als bewußter Perspektivwechsel zum Vorstand essentiell. 51 Das kann nicht überraschen. Bereits nach Aussage des zuständigen Referatsleiters im Bundesministerium der Justiz zum Referentenentwurf ist die „subjektive Absicherung des Freiraums" durch das Kriterium des „Annehmendürfens" der entscheidende P u n k t der Neuregelung: Würde man den Ermessensspielraum nur auf die unternehmerische Entscheidung selbst beziehen, die äußeren Voraussetzungen „Gesellschaftswohl" und „angemessene Informat i o n " dagegen objektiv fassen, unterlägen diese objektiven Merkmale der vollen ex p o s t - Ü b e r p r ü f u n g durch die Gerichte und es könnte leicht eine Reduzierung des Ermessens auf N u l l angenommen werden. Dadurch, daß sich die Einschät-

Thümmel DB 2004, S.471, 472. BR-Drucksache 3/05 (Beschluß) [Volltext auch abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/ Volltext vom 30. März 2005]. 51 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (BR-Drs. 3/05 (Beschluß)) [Volltext abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/Volltext vom 30. März 2005], 49

50

B. Das Kernproblem:

Die business judgment

rule

47

Zungsprärogative aber auch auf die genannten Voraussetzungen erstrecke, sei dies nicht möglich. 52 Einen vermittelnden Vorschlag hat dann Jobannes Semler zur Diskussion gestellt. Es bestehe kein Anlaß, auch die angemessene Information zu konditionieren. Eine angemessene Informationsermittlung sei Voraussetzung jeder sorgfältigen Organentscheidung. Wenn ein Geschäftsleiter keine ausreichenden Informationen beschaffen könne, müsse er das Vorhaben unterlassen. Richtig müsse es heißen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln." 53

IV.

Ergebnis

Wenn der Bundesgerichtshof durch Interpretation des geltenden Aktiengesetzes einen wirksamen Beitrag zur Optimierung der Aufgabenwahrnehmung durch Vorstände und Aufsichtsräte leisten wollte, muß sein Versuch als Fehlschlag bezeichnet werden. Er hat die den Vorständen bei unternehmerischen Entscheidungen und die den Aufsichtsräten bei der Entscheidung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§93, 116 A k t G zwar konkretisiert. Er hat dies aber in einer Weise getan, daß sie den Vorständen und Aufsichtsräten kaum Anhaltspunkte für eine effiziente Aufgabenwahrnehmung geben und die aus ihnen resultierenden Haftungsrisiken so gering sind, daß sie kaum einen Vorstand oder Aufsichtsrat zu mehr Engagement motivieren werden. Der Bundesgerichtshof hat Vorständen und Aufsichtsräten im Ergebnis die Möglichkeit eröffnet, sich unter Berufung auf „weite Handlungsspielräume" 54 ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu entziehen. Der Bundesgerichtshof erfaßt nur das „schlechthin unvertretbare Vorstandshandeln" 55 als Pflichtverletzung im Sinne des § 93 AktG. Auf der Grundlage seiner Entscheidung kann so gut wie keine Entscheidung des Aufsichtsrats über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder als Pflichtverletzung im Sinne der §§116, 93 A k t G angesehen werden. Es läßt sich „stets" plausibel behaupten, „daß eine gerichtliche Geltendmachung von Innenhaftungsansprüchen zumindest potentiell schädigende Wirkungen für Seibert/Schütz ZIP 2004, S.252, 254. Semler KG 2005, S. 321, 325. Ähnlich bereits Ulmer D B 2004, S. 859, 863: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln." 5 4 B G H ZIP 1997, S.883, 885 - ARAG/Garmenbeck. 55 So zutreffend Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 103. 52 53

1 Teil: Das Corporate Governance

48

Problem

das Image der Gesellschaft" hat und „daß die Geschäftstätigkeit der übrigen Vorstandsmitglieder dadurch beeinträchtigt wird, daß sie entweder selbst bei der Sachverhaltsermittlung durch den Aufsichtsrat in das Verfahren hineingezogen werden oder sie sich aus Furcht vor persönlicher Haftung zukünftig bei riskanten unternehmerischen Entscheidungen eher defensiv verhalten". 5 6 Es k o m m t erschwerend hinzu, daß der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat das R e c h t zu einer „Gnadenentscheidung" zubilligt, o b w o h l „der Aufsichtsrat als Sachwalter der Aktionärsinteressen" dafür „kein Mandat besitzt". 5 7 D a die Bundesregierung mit § 93 Abs. 1 Satz 2 A k t G idF. des R e g E U M A G 11/ 2004 nicht nur eine Klarstellung vornimmt, 5 8 sondern über die richterrechtliche Haftungsfreistellung noch hinausgeht, 5 9 ist die damit vorgeschlagene business judgment rule noch kritischer zu sehen als die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Die Organhaftung verliert ihre Steuerungsfunktion gerade in dem Graubereich, der sich in der Vergangenheit als besonders problematisch erwiesen hat. M a n denke nur an die Fälle Schneider, H o l z m a n n , HypoVereinsbank, Telek o m und Berliner Bankgesellschaft, in denen äußerst zweifelhafte Entscheidungen getroffen worden sind, und zwar gerade auch aufgrund anscheinend unzureichender Informationsgrundlage. Das Ergebnis ist sogar eine Fehlsteuerung. D i e Organmitglieder brauchen im H i n b l i c k auf die Informationsgrundlage und die Wahrung des Gesellschaftswohls keine festen Regeln einzuhalten. 6 0 D i e von dem Bundesgerichtshof in der A R A G - E n t s c h e i d u n g angelegte objektive Bewertung wird vermittels des „Annehmendürfens" weitgehend durch eine subjektive B e trachtung ersetzt, und im H i n b l i c k auf die Informationsgrundlage sollen dann auch n o c h Instinkt, Erfahrung, Phantasie, Gespür und Gefühl zulässige Entscheidungskriterien sein. D a m i t wird den Organmitgliedern die Möglichkeit gegeben, sich einer sorgsamen Entscheidungsvorbereitung zu entziehen, solange sich ihr Verhalten nicht als „Unbesonnenheit und Leichtsinn auf Kosten der Kapitalgeber und A r b e i t n e h m e r " 6 1 darstellt. D i e Neuregelung steht damit im krassen Widerspruch z u m Bankrecht. N a c h § 1 8 K W G darf ein Kreditinstitut einen Kredit von insgesamt mehr als 2 5 0 . 0 0 0 E u r o nur gewähren, wenn es sich von dem Kreditnehmer die wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegen läßt. D e r Bundesgerichtshof hat zu § 2 6 6 Abs. 1 S t G B ausgeführt: „Jede Kreditbewilligung ist ihrer N a t u r nach ein mit einem R i s i k o beSo zutreffend Heermann AG 1998, S.201, 208. So zutreffend Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 114. 58 Begründung zu Art. 1 Nr.l RegE UMAG 11/2004 und-insoweit wortgleich-Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004. 59 Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 444; Thümmel DB 2004, S.471, 472; Ulmer DB 2004, S. 859, 859. Siehe dazu auch Henze BB 2005, S. 165, 166. 60 Siehe im Hinblick auf die Informationsgrundlage die Beispiele bei Ulmer DB 2004, S. 859, 860, 862. 61 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 und-insoweit wortgleich-Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE UMAG 1/2004. 56

57

B. Das Kernproblem: Die business judgment rule haftetes Geschäft. Bei einer Kreditvergabe sind auf der Grundlage

49 umfassender

Information diese Risiken gegen die sich daraus ergebenden Chancen abzuwägen. Ist diese Abwägung sorgfältig vorgenommen worden, kann eine Pflichtverletzung nicht deshalb angenommen werden, weil das Engagement später notleidend wird. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, daß die Risikoprüfung nicht ausreichend vorgenommen worden ist, können sich nach der Erfahrung des Senats insbesondere daraus ergeben, daß Informationspflickten

vernachlässigt

wurden

... Aus der Nichtbeachtung oder Verletzung der Vorschrift des § 18 Satz 1 K W G können sich ... Anhaltspunkte dafür geben, daß dieser Pflicht nicht ausreichend Genüge getan wurde ... D e r Schluß, eine Kreditbewilligung sei pflichtwidrig gewesen, s e t z t . . . voraus, daß sich das Tatgericht eingehend lichen

Umständen,

mit allen dafür

maßgeb-

insbesondere den Vermögensverhältnissen des Kreditneh-

mers, der beabsichtigten Verwendung des Kredits und den Aussichten des geplanten Geschäfts auseinandersetzt." 6 2 Ein zentrales P r o b l e m der Neuregelung liegt auch in ihrer Entkopplung von den R e f o r m e n der letzten Jahre. Sie geht über einen Widerspruch zu den R e f o r m bemühungen, die auf eine Verbesserung des Informationsstandes von Vorstand und Aufsichtsrat gezielt haben ( § § 9 0 , 9 1 Abs. 2 , 1 7 0 , 1 7 1 A k t G i V m . d e n § § 3 1 6 f f . H G B ) 6 3 hinaus. D i e Zusammensetzung, die Organisation und die Instrumentarien von Vorstand und Aufsichtsrat sowie das Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlußprüfer standen im Mittelpunkt des K o n t r o l l - und Transparenzgesetzes, des Transparenz- und Publizitätsgesetzes und des D e u t schen Kodex. 6 4 Sie sollten die Führung durch den Vorstand und die Ü b e r w a chung durch den Aufsichtsrat verbessern, und zwar gerade im H i n b l i c k auf die Entscheidungsqualität. Diese organisationsrechtlichen Regelungen sollen im H i n b l i c k auf die Haftungsfreistellung für unternehmerische Fehlentscheidungen nun keine Rolle spielen. 6 5 Dieser Befund wiegt um so schwerer, als das Haftungsrisiko für organisatorische Fehlentscheidungen ohnehin gering ist 66 und durch die Neuregelung weiter eingeschränkt wird. Ein elementarer Widerspruch besteht auch zu den Entwicklungen im Kapitalmarktrecht. D i e Verschärfung der Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat ist das zentrale Anliegen des Diskussionsentwurfs eines Kapitalmarktinformationshaftungsgesetzes 10/2004 und des Regierungsentwurfs eines Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes

11/2004. 6 7

D i e Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für eine fehlerhafte Stellungnahme

62 BGH ZIP 2000, S. 1210, 1210f. Siehe zur Haftung für Kreditvergaben nach den §§93, 116 AktG nur Kiethe WM 2003, S. 861, 862ff. und Witte/Hrubesch BB 2004, S. 725, 729ff. 63 So zutreffend Ulmer DB 2004, S. 859, 862f. 64 Siehe dazu oben S.34f. Fn. 68-70. 65 Ansätze für eine solche Interpretation der business judgment rule finden sich allerdings bei Kiethe WM 2003, S.861, 864f. und Witte/Hrubesch BB 2004, S.725, 730f. 66 Siehe dazu Thümmel AG 2004, S. 83, 89f. 67 Siehe dazu oben S.35f. Fn.71.

50

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

gemäß §27 Abs. 1 W p Ü G ist Gegenstand intensiver Diskussion. 68 Es gibt keinen einleuchtenden Grund dafür, daß die Außenhaftung verstärkt und die Innenhaftung beschränkt wird. Im Lichte der Steuerungsfunktion sollte die Verschärfung der Außenhaftung vielmehr mit einer Verschärfung der Innenhaftung einhergehen. 69 Der weitgehende Haftungsausschluß durch die Neuregelung läßt sich auch nicht mit der „Verschärfung des Verfolgungsrechts einer Aktionärsminderheit nach §148 AktG idF. von Art.l Nr. 15 RegE U M A G 11/2004" rechtfertigen. 70 Das Erfordernis eines der Gesellschaft durch Unredlichkeit oder grobe Verletzung des Gesetzes oder der Satzung entstandenen Schadens nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG idF. von Art. 1 Nr. 15 RegE U M A G 11/2004 71 verhindert, daß eine Aktionärsminderheit eine Haftungsklage unter Hinweis auf zwar nachteilige, jedoch nicht durch Verfolgung persönlicher Interessen beeinflußte unternehmerische Entscheidungen in Gang setzen kann. Denn ausweislich der Begründung zu Art. 1 Nr. 14,15 RegE U M A G 11 /2004, die insoweit klarer als die Begründung zu Art.l Nr. 13, 14 RefE U M A G 1/2004 ist, sollen insbesondere Ersatzansprüche, die aus Treupflichtverletzungen (Unredlichkeiten) von Organmitgliedern herrühren, künftig unter erleichterten Voraussetzungen verfolgt werden können. Es heißt dort weiter, Unredlichkeiten seien stets ins kriminelle reichende Treupflichtverstöße, und mit der Norm sollten vor allem solche Fälle einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden, in denen wegen der besonderen Schwere der Verstöße, die nicht im Bereich unternehmerischer Fehlentscheidungen liegen, sondern regelmäßig im Bereich der Treupflichtverletzung, eine Nichtverfolgung unerträglich wäre. Angesichts dieser Einschränkung des Verfolgungsrechts einer Aktionärsminderheit bedarf es des weitgehenden Haftungsausschlusses durch die Neuregelung nicht, um den Gefahren eines Mißbrauchs dieses Verfolgungsrechts vorzubeugen. 72

Siehe dazu nur Friedl N Z G 2004, S.448, 449ff., 452f., 453. Genau umgekehrt argumentiert Fleischer ZIP 2004, S. 685, 688, 691f. 7 0 So aber Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 und - nahezu wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE U M A G 1/2004 (mit Blick auf § 147a AktG idF. von Art. 1 Nr. 14 RefE U M A G 1/2004). Fleischer ZIP 2004, S.685, 687 spricht pointiert von einer „rechtspolitischen Gleichgewichtslehre." Diese Argumentationslinie kehrt in der Beschlußempfehlung des Rechtssauschusses vom 15. Juni 2005 (BT-Drucksache 15/5693) wieder, wo die Vorschläge des Bundesrates zur Einschränkung der business judgment rule mit der Begründung zurückgewiesen werden, mit dem Abstellen auf den Nennbetrag anstelle des Börsenwerts für die Haftungsklage sei eine spürbare Anhebung des Schwellenwerts verbunden und damit könnten die Anderungswünsche als erledigt beurteilt werden (Begründung zu § 148 Abs. 1). 71 Wortgleich § 147a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG idF. von Art. 1 Nr. 14 des RefE U M A G 1/2004. 72 So zutreffend Ulmer D B 2004, S.859, 863. 68

69

C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen Kontrolle Die Frage nach der operationalen Interpretation der den Vorständen und Aufsichtsräten bei unternehmerischen Entscheidungen obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§ 93,116 AktG läßt sich konkretisieren. Es geht darum, bei welchen Entscheidungen der zur originären Entscheidung berufene Vorstand/Aufsichtsrat über welche Entscheidungsfreiräume mit welcher Reichweite verfügt. Sie ist im Lichte ihrer Konsequenzen zu sehen. Die Entscheidungsfreiräume berechtigen den Vorstand/Aufsichtsrat dazu, die zugehörigen Entscheidungen in diesem Rahmen kraft eigener verbandsrechtlicher Legitimation zu treffen. Der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG ist insoweit ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Problemkomplexe unterscheiden. Zunächst stellt sich die Frage, bei welchen Entscheidungen der zur originären Entscheidung berufene Vorstand/Aufsichtsrat über welche Entscheidungsfreiräume verfügt. Sie zielt auf die Präzisierung der Voraussetzungen für die Annahme und damit auf die Legitimation der Entscheidungsfreiräume von Vorstand und Aufsichtsrat. Im Anschluß daran stellt sich die Frage nach der Reichweite dieser Entscheidungsfreiräume. Diese Frage zielt auf die Konkretisierung der den Vorständen/Aufsichtsräten insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§ 93,116 AktG und damit auf die Sicherung und Begrenzung der Entscheidungsfreiräume von Vorstand und Aufsichtsrat. Ausgehend von diesen beiden Fragen ist ein in dogmatischer Hinsicht geschlossenes1 und im Hinblick auf die Lösung von Einzelfragen tragfähiges Haftungskonzept zu entwickeln, das die von ihm wahrzunehmende Steuerungsfunktion 2 tatsächlich erfüllen kann. 3 Dies soll hier auf der Grundlage des aus dem Verwaltungsrecht stammenden Konzepts der negativen Kontrolle 4 geschehen. Es ist entwickelt worden, um Entscheidungsfreiräume zu legitimieren und gleichermaßen zu sichern wie zu begrenzen. Dieser Ansatz rechtfertigt sich daraus, daß das Verwaltungsrecht vergleichbaren Problemlagen gegenübersteht, aber anders als Siehe zu den derzeit offenen dogmatischen Fragen oben S. 7f. und S. 3 8 f. Siehe dazu S. 37. 3 Siehe dazu S.33ff.,47ff.. 4 Alexy JZ 1986, S.701, 701 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31; VwGO, §114. 1

2

Kopp/Schenke,

52

1 Teil: Das Corporate Governance

Problem

das Gesellschaftsrecht mit dem Konzept der negativen Kontrolle auch ein Lösungskonzept entwickelt hat, und im Gesellschaftsrecht an dieses Lösungskonzept angeknüpft werden kann.

I. Vergleichbare Problemlagen im

Verwaltungsrecht

Den Weg in das Verwaltungsrecht ebnet der Befund, daß viele aktienrechtliche Kontrollrechte auch dann eingreifen, wenn keine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung im Sinne des Aktiengesetzes vorliegt. Dies gilt etwa für die Rechte des Aufsichtsrats zur Abberufung des Vorstands aus wichtigem Grund nach §84 Abs. 3 AktG oder zur Ausübung von Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme bestimmter Arten von Geschäften durch den Vorstand nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. Von diesen Rechten kann der Aufsichtsrat auch Gebrauch machen, wenn keine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG gegeben ist. Das hat entscheidende Konsequenzen für die gerichtliche Kontrolle: U m den Bereich der pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116, 93 AktG zu bestimmen, müssen die Gerichte (auch) den Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand (den Bereich der „unternehmerischen Handlungsfreiheit" des Vorstands 5 ) 6 festlegen. Dabei stehen sie vor dem Problem der Abgrenzung des Bereichs der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand von dem Bereich der pflichtgemäßen bzw. pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG. Dies läßt sich an den soeben genannten Beispielen belegen. Wird eine pflichtwidrige Wahrnehmung der Kontrollrechte nach den §§ 84 Abs. 3,111 Abs. 4 Satz 2 AktG durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116, 93 AktG von den zu seiner Kontrolle insbesondere berufenen Aktionären gerichtlich geltend gemacht, so 5

So die Formulierung des B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. Im Rahmen einer treuhänderischen Vermögensverwaltung im Zivilrecht (fremdnützige Geschäftsbesorgung/Auftrag) kann es keine echte Entscheidungsfreiheit (im Sinne eines Freiheitsrechts/einer Privatautonomie) geben. Der Entscheidungsträger kann nicht von seiner Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen befreit sein und nach Willkür (ohne Gründe) oder nach Beheben (aufgrund nur individuell-subjektiver Erwägungen) entscheiden dürfen. Der U m stand, daß die Rechtsordnung es in bestimmten Fällen hinnehmen muß, daß der Entscheidungsträger nach Gutdünken (Fürrichtighalten) entscheidet, ist lediglich die Konsequenz daraus, daß bestimmte Entscheidungen nur in einem begrenzten Ausmaß einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben zugänglich sind. Vor diesem Hintergrund wird hier der Begriff der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung verwendet, und zwar als Synonym für das, was im Gesellschaftsrecht üblicherweise mit „unternehmerischer Handlungsfreiheit", „rein unternehmerischen Vorstellungen" bzw. „reinen Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsüberlegungen" bezeichnet wird. 6

C. Der Lösungsansatz:

Das Konzept

der negativen

Kontrolle

53

müssen die Gerichte die Voraussetzungen konkretisieren, unter denen die Annahme eines sonstigen Grundes im Sinne der §§ 84 Abs. 3 , 1 1 1 Abs. 4 Satz 2 A k t G durch den Aufsichtsrat pflichtwidrig im Sinne der §§116, 93 A k t G ist. Sie können sie jedoch nur (abschließend) präzisieren, wenn sie zuvor klären, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine Handlung des Vorstands einen sonstigen Grund im Sinne der §§84 Abs. 3, 111 Abs. 4 Satz 2 A k t G abgibt. Die Gerichte müssen etwa festlegen, daß eine abweichende, aber rechtlich gleichwertige A n sicht des Vorstands über die erfolgreiche Gestaltung der zukünftigen Entwicklung des Unternehmens ein sonstiger Grund im Sinne des § 84 Abs. 3 A k t G ist 7 und daß abweichende, aber rechtlich gleichwertige „rein unternehmerische Vorstellungen" bzw. „reine Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsüberlegungen" des Vorstands einen sonstigen Grund im Sinne des § 111 Abs. 4 Satz 2 A k t G darstellen. 8 Die Annahme eines sonstigen Grundes im Sinne der §§ 84 Abs. 3 , 1 1 1 Abs. 4 Satz 2 A k t G durch den Aufsichtsrat ist dann (auch) pflichtwidrig im Sinne der § § 1 1 6 , 9 3 A k t G , wenn sie auf einer abweichenden, aber rechtlich fehlerhaften unternehmerischen Erwägung beruht oder wenn ihr andere Erwägungen zugrunde liegen als die, wie das Unternehmen am besten zum Erfolg geführt werden kann und welche Entscheidungen im Hinblick auf dieses Ziel die besten sind. Blickt man nun in das Verwaltungsrecht, so stehen sich hier die Ausgangsbehörde 9 und die Fachaufsichtsbehörde gegenüber. Die Kontrollrechte der Fachaufsichtsbehörde greifen auch dann ein, wenn keine rechtswidrige Aufgabenwahrnehmung durch die Ausgangsbehörde gegeben ist. Das hat für die gerichtliche Kontrolle die gleichen Konsequenzen wie soeben dargestellt: U m den Bereich der rechtswidrigen Aufgabenwahrnehmung durch die Fachaufsichtsbehörde zu bestimmen, müssen die Gerichte (auch) den Bereich der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch die Ausgangsbehörde (insbesondere den Bereich des „freien Ermessens" 1 0 ) 1 1 festlegen. Vgl. Mutter, Entscheidungen, S. 78ff. und Mertens, Kölner Kommentar, § 8 4 Rdn. 103. Vgl. Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 85 und Semler, Überwachung, S. 115f., 120ff. 9 Gegebenenfalls einschließlich der Widerspruchsbehörde, da Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens dann der Verwaltungsakt in der Gestalt ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, und nicht die Frage, ob die Widerspruchsbehörde den Ausgangsbescheid zutreffend beurteilt hat. 10 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 40. 11 Im Verwaltungsrecht kann es ebensowenig wie im Rahmen einer treuhänderischen Vermögensverwaltung im Zivilrecht (fremdnützige Geschäftsbesorgung/Auftrag) eine echte Entscheidungsfreiheit (im Sinne eines Freiheitsrechts/einer Privatautonomie) geben. Der Entscheidungsträger kann im Verwaltungsrecht nicht von seiner Pflicht, die nach den Gesichtspunkten der Billigkeit und der Zweckmäßigkeit verwaltungsmäßig richtige Entscheidung zu treffen, befreit sein und nach Willkür (ohne Gründe) oder nach Belieben (aufgrund nur individuell-subjektiver Erwägungen) entscheiden dürfen. Der Umstand, daß die Rechtsordnung es in bestimmten Fällen hinnehmen muß, daß der Entscheidungsträger nach Gutdünken (Fürrichtighalten) entscheidet, ist lediglich die Konsequenz daraus, daß bestimmte Entscheidungen nur in einem begrenzten 7 8

54

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

Dabei stehen sie ebenfalls vor dem Problem der Abgrenzung des Bereichs der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch die Ausgangsbehörde von dem Bereich der rechtmäßigen/rechtswidrigen Aufgabenwahrnehmung durch die Ausgangsbehörde. Sie können die Voraussetzungen, unter denen etwa die Annahme eines sonstigen Grundes für den Erlaß einer Weisung durch die Fachaufsichtsbehörde rechtswidrig ist, nur (abschließend) präzisieren, wenn sie zuvor klären, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine Handlung der Ausgangsbehörde einen sonstigen Grund für den Erlaß einer Weisung abgibt. Sie müssen etwa festlegen, daß eine abweichende, aber rechtlich gleichwertige „reine Billigkeits- und Zweckmäßigkeitsüberlegung" 1 2 der Ausgangsbehörde ein sonstiger Grund für den Erlaß einer Weisung ist. Die Annahme eines sonstigen Grundes für den Erlaß einer Weisung durch die Fachaufsichtsbehörde ist dann (auch) rechtswidrig, wenn sie auf einer abweichenden, aber rechtlich fehlerhaften Opportunitätserwägung beruht oder wenn ihr andere als Opportunitätserwägungen zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund stellt sich in den Fällen, in denen eine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand/Aufsichtsrat im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r §§116, 93 A k t G von den zur Kontrolle insbesondere berufenen Aufsichtsräten/Aktionären geltend gemacht wird, und in den Fällen, in denen eine rechtswidrige Aufgabenwahrnehmung durch die Ausgangsbehörde/Fachaufsichtsbehörde von der zur Kontrolle insbesondere berufenen Fachaufsichtsbehörde/betroffenen Person gerichtlich geltend gemacht wird, die gleiche Frage: Bei welchen Entscheidungen verfügen die zur originären Entscheidung berufenen Organe (Vorstand/Aufsichtsrat) bzw. Verwaltungsbehörden (Ausgangsbehörde/Fachaufsichtsbehörde) über welche Entscheidungsfreiräume mit welcher Reichweite? Die Konsequenzen sind ebenfalls die gleichen: Die Entscheidungsfreiräume berechtigen sie, die zugehörigen Entscheidungen in diesem Rahmen kraft eigener verbandsrechtlicher bzw. verfassungsrechtlicher Legitimation zu treffen. Der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r §§116, 93 A k t G bzw. einer rechtswidrigen Aufgabenwahrnehmung ist insoweit ausgeschlossen. 13 Ausmaß einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben zugänglich sind. Siehe zu diesem Problemkreis Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.40 und Alexy J Z 1986, S. 701, 705f. Vor diesem Hintergrund wird hier der Begriff der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung verwendet, und zwar als Synonym für das, was im Verwaltungsrecht üblicherweise mit „freiem Ermessen" bzw. „reinen Billigkeits- und Zweckmäßigkeitsüberlegungen" bezeichnet wird. So die Formulierung von Alexy J Z 1986, S. 701, 706. Im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand/Aufsichtsrat bzw. durch die Ausgangsbehörde/Fachaufsichtsbehörde (und damit im Bereich der Entscheidungsfreiräume) - etwa im Rahmen einer Klage auf Feststellung des Vorliegens eines sonstigen wichtigen Grundes im Sinne des § 84 Abs. 3 AktG oder eines sonstigen Grundes für den Erlaß einer Weisung - können sich diese Fragen nicht stellen. Denn dann geht es nicht um die Frage, wer „Recht" hat, sondern lediglich um die 12

13

C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen Kontrolle

II. Kompetenzverteilung

unter dem

55

Kontrollaspekt

Anders als das Gesellschaftsrecht hat das Verwaltungsrecht allerdings auch mit dem K o n z e p t der negativen Kontrolle ein Lösungskonzept entwickelt, und zwar vor dem Hintergrund, daß die Verwaltung in vielen Fällen offene N o r m e n k o n kretisieren und eine möglichst gerechte Anpassung des abstrakten Gesetzes an die konkreten Gegebenheiten von Einzelfällen erreichen muß. 1 4 Es beruht auf der Theorie, daß die Kompetenzen zwischen der Verwaltung und den Verwaltungsgerichten unter dem Kontrollaspekt verteilt werden: 1 5 D e r Bestand einer E n t scheidung der Verwaltung im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hängt entweder davon ab, o b die „rechtlich einzig richtige Entscheidung" 1 6 getroffen worden ist, oder davon, ob eine „im Lichte einer Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten 1 7 rechtlich vertretbare und in diesem Sinne rechtlich richtige E n t scheidung 1 8 " getroffen worden ist. I m ersten Fall hat das Verwaltungsgericht (und damit der Kontrollträger) die Letztentscheidungskompetenz inne, weil es prüfen muß, ob die Verwaltung die „einzig richtige A n t w o r t " aufgefunden hat. Dies bedeutet nicht, daß Umstände außerhalb der „Entscheidung als solcher" (des Entscheidungstenors) für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ohne Bedeutung sind. Sie können nur nicht zur materiellen Rechtswidrigkeit führen. Eine unzureichende Begründung kann nur den Charakter einer Verfahrensfehlers im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes haben. Die Gefahr, daß das Verwaltungsgericht die nach Meinung der Verwaltung „einzig richtige A n t w o r t " nicht durch die an sich „einzig richtige A n t w o r t " , sondern nur durch die nach Meinung des Gerichts „einzig richtige A n t w o r t " ersetzt, wird dabei in Kauf genommen. D e r Begriff der „einzig richtigen A n t w o r t " besagt nichts anderes, als daß eine möglichst weitgehende Annäherung an die „einzig richtige A n t w o r t " zu versuchen ist. Z u m einen muß in einer juristischen Kontroverse jede Partei unabhängig davon, o b eine „einzig richtige A n t w o r t " existiert, den Anspruch erheben, daß ihre A n t w o r t die rechtlich einzig richtige ist. D e n n ihr Vortrag wäre ohne Sinn, ginge sie nicht von der „einzig richtigen A n t w o r t " wenigstens als regulativer Idee aus. Dies setzt nicht voraus, daß es in jedem Fall eine „einzig richtige A n t w o r t " gibt, wohl aber, daß es in irgendwelFrage, wer seine Ansicht durchsetzen darf, und das ist nach der gesetzgeberischen Konzeption der abberufungs-/weisungsberechtigte Entscheidungsträger, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen eines sonstigen wichtigen Grundes im Sinne des § 84 Abs. 3 AktG oder eines sonstigen Grundes für den Erlaß einer Weisung gegeben sind. 14 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. lf., 3f., 5ff., 8ff., 14ff., 31 ff., 34, 35ff. 15 Alexy JZ 1986, S.701, 715f. 16 So die Formulierung von Alexy JZ 1986, S. 701, 714. 17 So die Formulierung von BVerwG BVerwGE 39, S. 197, 203. 18 Vgl. die Formulierungen von Alexy JZ 1986, S.701, 714 und Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. la sowie Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.54 und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 18.

1 Teil: Das Corporate Governance Problem

56

chen Fällen „einzig richtige A n t w o r t e n " geben kann und nicht bekannt ist, in welchen Fällen dies der Fall ist, so daß es sich lohnt, in jedem Fall das Auffinden der „einzig richtigen A n t w o r t " zu versuchen. Z u m anderen ist die „einzig richtige A n t w o r t " , wenn sie existieren sollte, nur unter höchst idealen Bedingungen, nicht aber unter den realen Bedingungen eines Rechtssystems, intersubjektiv zwingend beweisbar oder erkennbar. 1 9 I m zweiten Fall liegt die Letztentscheidungskompetenz dagegen bei der Verwaltung (und damit bei dem Entscheidungsträger), weil das Verwaltungsgericht nicht fragen darf, „was das richtige Ergebnis ist und ob es getroffen wurde, sondern nur, ob Fehler vermieden w u r d e n . " 2 0 D i e K o n t r o l l k o m p e t e n z des Verwaltungsgerichts ist insofern begrenzt, als - etwa im Falle einer Ermessensentscheidung - im H i n b l i c k auf das Ergebnis der Ermessensausübung nur zu fragen ist, ob es sich im Rahmen des rechtlich Möglichen hält. Die K o n t r o l l k o m p e t e n z des Verwaltungsgerichts ist allerdings insofern erweitert, als die Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit des Gesamtaktes sich - etwa im Falle einer Ermessensentscheidung - nicht nur (auch) auf den Inhalt des Ergebnisses der Ermessensausübung, sondern zudem auf den zu dem Ergebnis der Ermessensausübung führenden Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozeß als den Vorgang der Ermessensausübung erstreckt: Das Ergebnis der Ermessensausübung m u ß in einem rechtlich zulässigen Vorgang gewonnen worden sein. D i e rechtliche Freiheit hinsichtlich der Wahl des Ergebnisses wird mit der Pflicht, es in einem rechtlich fehlerfreien Vorgang zu gewinnen, verbunden. D i e K o n s e q u e n z lautet, daß E r gebnis und Vorgang unter dem Gesichtspunkt der materiellen Rechtmäßigkeit des Gesamtaktes eine Einheit bilden. 2 1 H ä n g t der Bestand einer Entscheidung der Verwaltung im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht davon ab, ob die rechtlich einzig richtige Entscheidung getroffen worden ist, spricht man von positiver Kontrolle, weil das Verwaltungsgericht entscheidet, wie die einzig richtige A n t w o r t lautet. H ä n g t der Bestand einer Entscheidung der Verwaltung im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht dagegen davon ab, ob eine im Lichte einer Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten rechtlich vertretbare und in diesem Sinne rechtlich richtige Entscheidung getroffen worden ist, spricht man von negativer Kontrolle, weil das Verwaltungsgericht nicht entscheiden darf, wie die einzig richtige A n t w o r t lautet, sondern nur fragen darf, o b der gefundenen A n t w o r t im H i n b l i c k auf Ergebnis und Vorgang bestimmte Fehler anhaften. In diesem Fall liegen Verwaltungsspielräume vor, weil die Verwaltung über die A n t w o r t insoweit letztverbindlich entscheiden darf, als sie diese Fehler vermeidet.

19 20 21

Alexy JZ 1986, S.701, 714, 715f. Alexy ]Z 1986, S.701, 714. Alexy JZ 1986, S.701, 706f., 707ff., 711f., 714f., 715f.

C. Der Lösungsansatz: Das Konzept der negativen

Kontrolle

57

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die unter dem Aspekt der Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgericht entscheidenden Fragen lauten, in welchen Fällen eine positive Kontrolle und in welchen Fällen eine negative Kontrolle stattfinden soll und wann in den Fällen negativer Kontrolle von einem (keinem) rechtlich fehlerfreien Vorgang und Ergebnis ausgegangen werden soll.22 Dabei geht es im Kern um die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, bei welchen Entscheidungen die zur originären Entscheidung berufene Verwaltung in welcher Hinsicht und in welchem Umfang eine Letztentscheidungskompetenz innehat, die im Verhältnis zu dem die Rechtmäßigkeit der Aufgabenwahrnehmung überprüfenden Verwaltungsgericht durch eine negative Kontrolle abgesichert werden muß. Dieser Ansatz trägt auch im Gesellschaftsrecht: Die Kompetenzen zwischen dem Vorstand/Aufsichtsrat und den zur Kontrolle insbesondere berufenen Aufsichtsräten/Aktionären lassen sich ebenfalls unter dem Kontrollaspekt verteilen. Im Kern geht es auch hier um die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, bei welchen Entscheidungen der zur originären Entscheidung berufene Vorstand/Aufsichtsrat in welcher Hinsicht und in welchem Umfang eine Letztentscheidungskompetenz innehat, die im Verhältnis zu den eine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG geltend machenden Aufsichtsräten/Aktionären (und damit auch im Verhältnis zu den von ihnen in Anspruch genommenen berufenen Gerichten) durch eine negative Kontrolle abgesichert werden muß.

III.

Gang der

Untersuchung

Die Untersuchung folgt den beiden dogmatischen Fragen und erfolgt demgemäß in zwei Schritten. Der zweite Teil befaßt sich mit der Frage, bei welchen Entscheidungen der zur originären Entscheidung berufene Vorstand/Aufsichtsrat über welche Entscheidungsfreiräume verfügt. Es geht um die Präzisierung der Voraussetzungen für die Annahme der Entscheidungsfreiräume von Vorstand und Aufsichtsrat und damit um die Legitimation des Eingreifens der negativen Kontrolle. Im ersten Kapitel werden die verwaltungsrechtlichen Konzepte der Entscheidungsfreiräume herausgearbeitet und unter Heranziehung betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse für das Gesellschaftsrecht fruchtbar gemacht. Im zweiten und dritten Kapitel wird belegt, daß mit diesem Ansatz die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats im Wege der Interpretation der §§ 76 Abs. 1,111 Abs. 1 AktG ermittelt werden können. Es läßt sich insbesondere die Frage lösen, ob und gegebenen-

22

Alexy JZ 1986, S.701, 715f.

58

1 Teil: Das Corporate

Governance

Problem

falls welche Entscheidungsfreiräume dem Aufsichtsrat im Rahmen der Überwachungsaufgabe aufgrund des §111 A b s . l A k t G zustehen. Der dritte Teil behandelt die Frage nach der Reichweite dieser Entscheidungsfreiräume. Sie zielt auf die Konkretisierung der den Vorständen/Aufsichtsräten insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§93, 116 A k t G . Es geht um die Sicherung und Begrenzung der Entscheidungsfreiräume von Vorstand und Aufsichtsrat durch sachgerechte Kriterien der negativen Kontrolle. Im ersten Kapitel wird zunächst die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre (Ermessensfehlerlehre) aufgearbeitet. Auf dieser Grundlage wird das Konzept einer gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre entworfen. Es werden Grundannahmen gelegt, Fehlerkategorien gebildet und Haftungsfolgen bestimmt. Die Ergebnisse werden im Lichte der U . S . amerikanischen business judgment rule kritisch gewürdigt und abgesichert. Im zweiten Kapitel wird die gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre ausgeformt. Es wird zuerst die Frage gestellt, welchen Beitrag der Deutsche Kodex dazu leisten kann. Es werden dann die Anforderungen an den Entscheidungsinhalt und den Entscheidungsprozeß konkretisiert. Dabei werden Erkenntnisse des U.S. amerikanischen Gesellschaftsrechts und der Betriebswirtschaftslehre herangezogen und die Informationspotentiale der Unternehmensberichterstattung und ihrer externen Prüfung verwertet. In den Entscheidungsprozeß werden die Entscheidungsgrundlagen, die Entscheidungsfindung

und

die

Entscheidungsorganisation

eingebunden.

Das

Schwergewicht der Untersuchung liegt insoweit auf den informationellen Instrumentarien von Vorstand und Aufsichtsrat und auf der Zusammensetzung und den Ausschüssen des Aufsichtsrats. Diese Eingrenzung der Untersuchung ist der Diskussion der letzten Jahre geschuldet. Man sich diesseits und jenseits des Atlantiks zur Lösung des Corporate Governance Problems vor allem darum bemüht, eine stärker zukunfts-, problem- und risikoorientierte Informationsversorgung des Vorstands und des Aufsichtsrats bzw. des board of directors und eine Optimierung der Aufgabenwahrnehmung durch Aufsichtsräte und directors über das Organisationsrecht zu erreichen. Im Mittelpunkt dieser Anstrengungen stand die Intensivierung des Zusammenwirkens von Aufsichtsrat bzw. board of directors und externem Prüfer. Abschließend wird der derzeitige Diskussionsstand zur Entwicklung einer deutschen business judgment rule noch einmal aufgegriffen. Die Vorzüge des hier vertretenen Konzepts werden verdeutlicht. Darin liegt zugleich die Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse dieser Untersuchung.

2. Teil

Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats

A. Ansatzpunkt Zur Lösung der Frage, bei welchen Entscheidungen der Vorstand und der A u f sichtsrat über welche Entscheidungsfreiräume verfügen, trägt die gesellschaftsrechtliche Rechtsprechung und Literatur bislang wenig bei. E s läßt sich zwar insoweit eine gewisse Einigkeit feststellen, als die Existenz von Entscheidungsfreiräumen des Vorstands und des Aufsichtsrats nicht bestritten wird. 1 Was jedoch die Frage angeht, wann dies der Fall ist, wird zumeist auf das Kriterium der „unternehmerischen E n t s c h e i d u n g " 2 oder der „unternehmerischen T ä t i g k e i t " 3 verwiesen. Das P r o b l e m dabei ist, daß damit - abhängig von der jeweils „eigenen Grenzziehung bei der Bestimmung unternehmerischer Tätigkeit" - ganz unterschiedliches beschrieben wird. 4 Als gesichert kann vor diesem Hintergrund lediglich gelten, daß allein der U m stand, daß der Vorstand die Aktiengesellschaft nach § 76 A k t G unter eigener Verantwortung zu leiten und der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 1 A k t G den Vorstand zu überwachen hat, noch nicht den Schluß erlaubt, daß der Vorstand und der A u f sichtsrat über Entscheidungsfreiräume verfügen. M i t § 76 A k t G wird keine generelle F a c h k o m p e t e n z des Vorstands vermutet, die nicht durch den Aufsichtsrat, 1 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004; BGH AG 2003, S.381, 382; BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck; OLG Düsseldorf ZIP 1995, S. 1183, 1190f. - ARAG/ Garmenbeck; Semler AG 2005, S.321, 324; Schneider DB 2005, S.707, 707; Ulmer DB 2004, S. 859, 859; Fleischer ZIP 2004, S. 685, 685; Paefgen AG 2004, S. 245, 245f.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 442f.; Roth BB 2004, S.1066, 1066,1068 und Ermessen, S.8ff.; Thümmel DB 2004, S. 471, 471 f. und AG 2004, S. 83, 84; Henze BB 2005, S. 165, 166 und BB 2000, S. 209, 211, 214f. sowie BB 2001, S.53,57f., 59f.; Heermann ZIP 1998, S. 761, 762 und AG 1998, S. 201,203; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 103ff.; Horn ZIP 1997, S.1129, 1133ff., 1136ff.; Lutter ZIP 1995, S. 441,441 f.; Dreher ZIP 1995, S. 628,628f. und ZHR 158 (1994), S. 614,618ff.-Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157, 1158f.; Fischer BB 1996, S.225, 226f., 227f. 2 Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004 und Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004; OLG Düsseldorf ZIP 1995, S. 1183, 1190 - ARAG/Garmenbeck; Ulmer DB 2004, S.859, 859; Schneider DB 2005, S.707, 707; Fleischer ZIP 2004, S.685, 690; Paefgen AG 2004, S.245, 251; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 443; Heermann AG 1998, S.201, 203; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1133; Fischer BB 1996, S.225, 227; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1994, S. 1157, 1158f. 3 BGH ZIP 1997, S. 883, 885f., 886 - ARAG/Garmenbeck; Henze BB 2000, S.209,215; Semler AG 2005, S.321, 324 („unternehmerisches Verhalten"). 4 So zutreffend Heermann AG 1998, S. 201, 203 unter Hinweis auf Mutter, Entscheidungen, S.4 („Der Begriff der unternehmerischen Entscheidung wird im juristischen Alltag gemeinhin unreflektiert gebraucht."); Roth, Ermessen, S. 77ff., hält dieses Kriterium im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit sogar für entbehrlich.

A. Ansatzpunkt

61

die Aktionäre oder außenstehende Dritte und damit in letzter K o n s e q u e n z auch durch die Gerichte ersetzt werden kann. 5 I m Aktienrecht findet sich insbesondere keine „eigenständige ... Ermächtigung des Aufsichtsrats, in freier, am U n t e r nehmensinteresse orientierter Verantwortung ... zu entscheiden." 6 Demgegenüber hat das Verwaltungsrecht ein Lösungskonzept entwickelt. D a bei dient die normative Ermächtigungslehre dazu, die Voraussetzungen für die Annahme von Entscheidungsfreiräumen zu präzisieren und damit zugleich ihre Legitimationsgrundlage zu erfassen. A n diesen Ansatz kann im Gesellschaftsrecht angeknüpft werden, um sachlogische Kriterien für die Bestimmung von Entscheidungsfreiräumen der Unternehmensführung zu bilden.

I. Die normative

Ermächtigungslehre

I m Verwaltungsrecht stehen die Entscheidungsfreiräume der Verwaltungsbehörden in dem primär verfassungsrechtlich determinierten Spannungsfeld zwischen der Eigenständigkeit und K o m p e t e n z der Verwaltung (Verwaltungsvorbehalt) und den Grundrechten und damit den Verwaltungsgerichten (Verwaltungskontrolle). A u f der einen Seite stehen die Verwaltungsbehörden. Sie müssen beweglich sein, u m die vielfältigen und legislativ nur ansatzweise typisierbaren Lebenssachverhalte möglichst gerecht beurteilen zu können (effektive und leistungsfähige Verwaltung). A u f der anderen Seite stehen die subjektiven R e c h t e und insbesondere die Grundrechte der Bürger. Es sind die Verwaltungsgerichte, denen im gewaltengeteilten Staat die Verwaltungskontrolle aufgegeben ist. Sie müssen sicherstellen, daß die verfassungsrechtlich geschützte Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 G G ) nicht leerläuft (effektiver Rechtsschutz). 7 D i e normative Ermächtigungslehre betont den Parlamentsvorbehalt:

Die

Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 G G zwingt die Verwaltungsgerichte zu einer vollen Nachprüfung der Rechtsanwendung durch die Verwaltung, es sei denn, der Gesetzgeber hat die Letztentscheidungskompetenz in verfassungsrechtlich zulässiger Weise auf die Verwaltung verlagert. 8 D e r Gesetzgeber kann es der Verwaltung vermittels der Zuweisung von Entscheidungsfreiräumen aufgeben, offene N o r m e n kraft eigener verfassungsrechtlicher Legitimation zu k o n kretisieren. D a z u muß er auf der Tatbestandsseite Einschätzungsbegriffe und/ oder auf der Rechtsfolgenseite Ermessensspielräume normieren. Es ist gegebenenfalls durch Auslegung der einer Entscheidung zugrundeliegenden öffentlich5

6

Vgl. dazu Fischer BB 1996, S.225, 226.

Fischer BB 1996, S. 225, 228, vgl. dazu auch Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157, 1159.

Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 1,5,6,24a, 24b; Wolf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.3ff., 16, 24, 31ff., 44. 8 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.3ff.; Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn. la, 23ff.; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.5f., 9, 31ff. 7

62

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

r e c h t l i c h e n B e f u g n i s n o r m z u e r m i t t e l n , o b dies d e r F a l l ist u n d d a m i t die V o r a u s s e t z u n g e n f ü r die A n n a h m e e i n e s o d e r m e h r e r e r E n t s c h e i d u n g s f r e i r ä u m e g e g e ben sind.9

1.

Einschätzungsprärogativen

D i e E i n s c h ä t z u n g s b e g r i f f e z ä h l e n z u d e n T y p e n b e g r i f f e n , die z u m i n d e s t h i n s i c h t l i c h e i n z e l n e r A s p e k t e , die f ü r die S u b s u m t i o n b e d e u t s a m s i n d , e i n e u n t e r w e r t e n d e r A b w ä g u n g g e w o n n e n e B e u r t e i l u n g eines gegebenen L e b e n s s a c h v e r halts e r f o r d e r l i c h m a c h e n . D i e T y p e n b e g r i f f e u m f a s s e n k e i n e ö r t l i c h u n d z e i t l i c h genau b e s t i m m t e n Klassen v o n G e g e n s t ä n d e n . Sie b e s t i m m e n (nur) T a t s a c h e n - , I n t e r e s s e n - o d e r W e r t b e r e i c h e , n i c h t a b e r die G e g e n s t ä n d e d i e s e r B e r e i c h e , s o d a ß i h n e n in v e r s c h i e d e n e n Z u s a m m e n h ä n g e n u n d u n t e r v e r s c h i e d e n e n U m s t ä n d e n s e h r u n t e r s c h i e d l i c h e L e b e n s s i t u a t i o n e n als A u s p r ä g u n g e n u n t e r f a l l e n k ö n nen (unbestimmte Gesetzesbegriffe im engeren Sinne).10 D i e b e s o n d e r e E i g e n a r t v o n E i n s c h ä t z u n g s b e g r i f f e n liegt d a r i n , d a ß d e r S a c h verhalt nicht diskursiv begründbar, sondern nur schätzungsweise subsumierbar ist u n d / o d e r a u f u n g e s i c h e r t e a u ß e r r e c h t l i c h e M a ß s t ä b e v e r w i e s e n w i r d ( M a ß -

9 Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.17f., 36ff., 63f.; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. la, 3, 10, 23ff., 31, 33. Die häufig verwendete Auslegungsregel lautet, im Zweifel sei auf der Tatbestandsseite kein Einschätzungsbegriff, wohl aber auf der Rechtsfolgenseite Ermessen anzunehmen; siehe dazu Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn. la, 24a und auch Wolff/Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 16,17f. sowie Maurer, Verwaltungsrecht, 6. Auflage 1988, § 7 Rdn. 33 f. Diese Auslegungsregel knüpft daran an, daß der Gesetzgeber im ersten Fall den Tatbestand vermittels zumindest eines Gesetzesbegriffes konkretisiert, während er im zweiten Fall gerade keine Bindung an eine bestimmte Rechtsfolge normiert. Deshalb ist im ersten Fall durch Auslegung zu ermitteln, ob ein Einschätzungsbegriff vorliegt, oder, da diese selten sind, kann man fragen, ob ausnahmsweise ein Einschätzungsbegriff gegeben ist, während im zweiten Fall ein Umkehrschluß zulässig ist: Wenn der Gesetzgeber keine Bindung an eine bestimmte Rechtsfolge normiert, spricht dies dafür, daß die Rechtsetzung in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist. 10 Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.8ff., 14f., 20; Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 27ff. Dabei geht es nicht um schlichte Subsumtionsschwierigkeiten, die daraus resultieren, daß die jeder Rechtsanwendung immanente Verkopplung von Lebenssachverhalt und Rechtsnorm ein menschliches Erkennen und Bewerten voraussetzt, das um so schwieriger ist, je verwickelter der Sachverhalt oder je ferner er dem in der Norm typisierten Sachverhalt oder je unklarer der gesetzliche Tatbestand ist. Zu den Typenbegriffen zählen weder die empirischen Begriffe, deren Unbestimmtheit lediglich auf einer zeitlichen und/oder örtlichen Verschiedenheit von Tatsachen beruht, noch die unbestimmten Gesetzesbegriffe, die die Rechtsprechung im Wege der Auslegung weitgehend objektiv bestimmt gemacht hat; siehe dazu Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 6,10 und Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 27. Die Typenbegriffe sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber keine bestimmtere Fassung verwenden kann oder dies nicht will, um im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit eine Anpassung des abstrakten Gesetzes an den konkreten Lebenssachverhalt zu ermöglichen. Sie finden ihre Rechtfertigung letztlich darin, daß der Gesetzgeber nicht alle denkbaren Lebenssituationen, die im Rechtsstaat rechtliche Beachtung verlangen, im voraus zu übersehen und angemessen zu regeln vermag; siehe dazu Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 12.

A.

Ansatzpunkt

63

geblichkeit von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken, von außerhalb des rechtlich exakt faßbaren Bereichs liegenden Erwägungen oder von Abschätzungen zukünftiger Entwicklungen, Risiken, wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, gesamtwirtschaftlicher/politischer Tendenzen; Fehlen hinreichend bestimmter Entscheidungsprogramme oder adäquaterer Erkenntnismöglichkeiten; Unwiederholbarkeit der entscheidungserheblichen Situation). 11 Die Rechtsprechung hat in drei Fallgruppen anerkannt, daß der Gesetzgeber die Verwaltung mit Typenbegriffen zumindest hinsichtlich einzelner Aspekte, die für die Subsumtion bedeutsam sind, nur auf bestimmte Elemente wertender Erkenntnis verweist, deren Ergebnisse nicht vollständig auf eine Anwendung der einschlägigen Normen zurückzuführen sind, und ihr damit eine Einschätzungsprärogative zuweist, die sie entsprechend dem Zweck der Rechtsvorschrift, die sie einräumt, ausfüllen muß. 12 Die erste Fallgruppe umfaßt die Bewertungen des Gesamteindrucks einer Person im Beamten-, Schul- und Prüfungsrecht. Dienstliche Beurteilungen und insbesondere die Feststellung der Eignung im Beamten- und Schulrecht erfordern ein Werturteil aufgrund persönlichen Eindrucks von den charakterlichen Eigenschaften, der Befähigung, der Gewandtheit und ähnlichen Anforderungen. Diese Einschätzung beruht auf außerrechtlichen (pädagogischen, charakterologischen, ästhetischen, wissenschaftlichen) Maßstäben und hängt von der Persönlichkeit des Einschätzenden ab. Sie wird aufgrund der langen Zusammenarbeit dem Dienstvorgesetzten anvertraut und setzt zudem ein prognostisches Urteil voraus. Im Prüfungsrecht wird eine prüfungsspezifische Gesamtwertung vorgenommen, und zwar insbesondere hinsichtlich der Gewichtung von Vorzügen und Mängeln im Rahmen des Gesamtergebnisses. Diese Einschätzung beruht auf außerrechtlichen Maßstäben und auf den Erfahrungen des Einschätzenden mit vergleichbaren Bewertungen. Sie wird gerade deshalb einer sachverständigen Stelle anvertraut. Dagegen sind reine Fachfragen voll überprüfbar. Dies gilt insbesondere für die Fragen, ob der Betroffene sachkundig und qualifiziert ist und ob Prüfungsaufgaben richtig, vertretbar oder falsch gelöst worden sind. 13 Die zweite Fallgruppe umfaßt die Einschätzungen kollektiver Bewertungskommissionen. Wenn der Gesetzgeber die Einschätzung einem weisungsfreien und unabhängigen, nach spezieller Sachkunde und gruppenpluraler bzw. gesellschaftlicher Repräsentanz zusammengesetzten Kollegialorgan überläßt, wird eine Einschätzungsprärogative unter den Gesichtspunkten der Staatsferne und der pluralistischen Meinungsbildung im Interesse eines wirksamen Grundrechts11 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.l4f., 17f., 19ff., 24ff.; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rein.3, 23, 24, 24a, 25ff., 34ff., 37ff., 38. 12 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.l9ff.; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.23, 24a, 25f., 34ff., 37ff., 38; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.35f., 38ff. 13 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.21f.; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.24a, 25, 30; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.38ff., 43f.

64

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

schutzes bejaht. 1 4 So hat das B V e r w G zur Entscheidung der Bundesprüfstelle, o b ein Kunstwerk als jugendgefährdend zu indizieren ist, ausgeführt, die wertende Einschätzung des Kunstwerks und die Beurteilung des von ihm ausgehenden jugendgefährdenden Einflusses sei voll nachprüfbar, während die Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter einer Einschätzungsprärogative der dafür geschaffenen, sachverständigen und unabhängigen Bundesprüfstelle unterliege. F ü r die Abwägung habe das B V e r f G lediglich die Aussage getroffen, daß sie der H e r stellung praktischer K o n k o r d a n z verpflichtet sei (verhältnismäßiger Ausgleich der widerstreitenden Belange). Zwar unterliege dies der gerichtlichen Prüfung. Es sei jedoch zu respektieren, daß der Gesetzgeber die Abwägung der Bundesprüfstelle zugewiesen habe. Das Gericht habe lediglich zu kontrollieren, o b die rechtlichen Vorgaben eingehalten seien, welche die Bundesprüfstelle dabei zu beachten habe. M i t der Bundesprüfstelle sei ein Element der Selbstverwaltung geschaffen, das die Kunstfreiheit in einem rechtlich nur schwer faßbaren Bereich optimiere. K ö n n t e ein Gericht seine Auffassung, welches der widerstreitenden Verfassungsgüter im Einzelfall Vorrang genießen solle, unbeschränkt an die Stelle der E i n schätzung der Bundesprüfstelle setzen, liefe diese institutionelle Grundrechtsabsicherung leer. 15 Die dritte Fallgruppe umfaßt mit den Abschätzungen von zukünftigen E n t wicklungen, Risiken, wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen, gesamtwirtschaftlichen oder politischen Tendenzen zukunftsorientierte komplexe Entscheidungsvorgänge. Prognosen bauen auf künftigen Entwicklungen auf, die sich ex ante einer exakten Vorhersage entziehen. Sie sind in gewissem A u s m a ß immer unvermeidbar subjektiv. Risikobeurteilungen entziehen sich aus tatsächlichen Gründen oder mangels allgemein anerkannter Beurteilungskriterien in wesentlichen P u n k ten einer exakten Beurteilung. Sie können deshalb nur auf Wahrscheinlichkeiten und Schätzungen beruhen. All diesen Fällen ist die vorausschauende Einschätzung gemeinsam. 1 6 So gelangt das B V e r f G mit Blick auf das in Art. 7 Abs. 5 G G genannte Tatbestandsmerkmal eines „besonderen pädagogischen Interesses" zu der Annahme einer Einschätzungsprärogative der Verwaltung. D i e Entscheidung der Schulbehörde beruhe teilweise auf prognostischen Erkenntnissen. E s sei vorausschauend festzustellen, o b sich ein pädagogisches K o n z e p t verwirklichen lasse, ob seine E r p r o b u n g zu einer Bereicherung des Schulwesens führe und o b es das Interesse der Schüler gefährde. Eine Uberprüfung solcher Einschätzungen sei ihrem Wesen nach beschränkt. Gerichtliche Kontrolle könne nicht stattfinden, soweit das materielle R e c h t der Verwaltung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlange, ohne dafür hinreichend bestimmte Entschei14 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.23; Kopp/Schenke, Rdn.24a, 26; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.40, 45. 15 BVerwG JZ 1993, S.790, 791 f. 16 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.20; Kopp/Schenke, Rdn.23, 24a, 34ff., 37ff., 38; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.41.

VwGO, §114 VwGO, §114

A. Ansatzpunkt

65

dungsvorgaben (Entscheidungsprogramme) zu enthalten. D i e Verwaltung handele in einer solchen Lage kraft eigener Kompetenz. D i e Entscheidung verlange eine Gewichtung unterschiedlicher Belange, für die Art. 7 Abs. 5 G G keine vollständige rechtliche Bindung vorgebe. D e n dadurch begründeten Handlungsspielraum müsse die Verwaltung kraft ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Legitimation ausfüllen. Sie unterliege insoweit der parlamentarischen, nicht aber der gerichtlichen Kontrolle. 1 7

2.

Ermessensspielräume

Ermessen ist die gesetzliche Unbestimmtheit der Rechtsfolge: D i e Setzung der Rechtsfolge wird dem gesetzlich nicht genau gebundenen Entschluß der Verwaltung überlassen. D e r Verwaltung werden mehrere Handlungsmöglichkeiten angeboten, oder der Verwaltung wird ein nicht näher bestimmter Handlungsbereich zugewiesen. Dies kann ausdrücklich erfolgen, etwa durch Formulierungen wie „kann", „darf", „ist berechtigt" oder „ist befugt". D e n k b a r ist auch das E i n räumen von Alternativen, die Vorgabe rechtlicher Ziele, Grundsätze, Programme und Pläne oder das Bereitstellen von Mitteln für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, ohne ihre Verwendung konkret vorzuschreiben. Ermessen kann schließlich kraft N a t u r der Sache eingeräumt sein, etwa aufgrund der Verteilungsprobleme im Leistungsbereich. D i e besondere Eigenart von Ermessen liegt darin, daß die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte - die privaten und öffentlichen Belange, die nach der jeweiligen Ermessensvorschrift zu berücksichtigen sind - abzuwägen sind, und zwar mit dem Ziel, die zweckmäßigste R e c h t s folge zu setzen. Dabei m u ß nicht nur der Gesetzeszweck durch Verfassungsprinzipien und die jeweils zu beachtenden einfachrechtlichen Zwecke präzisiert werden, es müssen auch unterschiedliche Zwecke gewichtet und etwaige Z w e c k kollisionen aufgelöst werden. 1 8 So lautet etwa § 73 Abs. 1 sh LVerwG (vgl. § 114 V w G O ) : „Die Behörde entscheidet, soweit Rechtsvorschriften nicht bestimmen, daß oder in welcher Weise sie tätig zu werden hat, im Rahmen der ihr erteilten E r mächtigung nach sachlichen Gesichtspunkten unter Abwägung der öffentlichen Belange und der Interessen des einzelnen über die von ihr zu treffenden M a ß n a h men (pflichtgemäßes Ermessen)." BVerfG DVB1. 1993, S.485, 488f. Alexy JZ 1986, S. 701,709f.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.35ff., 39ff., 44ff.; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.7f., 9, 11 f., 13ff., 22; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. la, 21 ff., 22. Die Eröffnung von Ermessen dient dem Gesetzgeber dazu, im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit eine möglichst gerechte, zweckmäßige und flexible Anpassung der konkreten Rechtsgestaltung an die besonderen Gegebenheiten von Einzelfällen und an die politischen Entscheidungen der Regierungs- und Verwaltungsorgane zu ermöglichen. Das Ermessen der Verwaltung ist Ausfluß des Opportunitätsprinzips. Siehe dazu: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 31; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. 1; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 13. 17

18

66

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

3. Gestaltungsspielräume? Mit Blick auf die Vorschriften des Planungsrechts wird die Ansicht vertreten, es handele sich nicht um konditional formulierte Rechtsnormen. Es werde weder die Subsumtion unter Gesetzesbegriffe noch die Setzung einer Rechtsfolge angeordnet. Es handele sich vielmehr um final programmierte Rechtsnormen mit Zielvorgaben. Die Verwaltung solle im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben schöpferisch tätig werden und nach ihren planerischen Vorstellungen gestaltend wirken. Darin liege zugleich ein wesentlicher Unterschied zu den Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräumen. Dies mache die Annahme einer eigenständigen Kategorie der Gestaltungsspielräume erforderlich. 1 9 Wenn man die Planungsnormen strukturiert, zeigt sich allerdings, daß sie sich als konditional formulierte Rechtsnormen strukturieren lassen. Sie ordnen eine Subsumtion unter einen Gesetzesbegriff (die materielle Planrechtfertigung) und eine Rechtsfolge (das Ergehen des Planungsaktes) an, und sie stellen den Inhalt der Rechtsfolge (den Inhalt des Planungsaktes) in das Ermessen des Planungsträgers. Nach § 1 Abs. 3 B a u G B haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Die materielle Planrechtfertigung („städtebaulich erforderlich") ist die Handlungsvoraussetzung. Sie gewährt nur insoweit Einschätzungsprärogativen, als sie auf Prognosen über künftige Entwicklungen aufbaut (Faktorenlehre 2 0 ). D e r Bauleitplan muß bei Vorliegen der Planrechtfertigung ergehen. Daher steht lediglich der Inhalt des Bauleitplans im Ermessen (§§ 1 Abs. 4 - 6 , la, 2 Abs. 2, 8 Abs. 2 Satz 1, 9 B a u G B , § 5 0 BImSchG). Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 F S t r G darf ein Planfeststellungsbeschluß nur ergehen, wenn er erforderlich ist (Bau oder wesentliche Änderung einer Bundesfernstraße). Das Gesetz nennt keine weitergehenden materiellen Voraussetzungen. Wegen der Auswirkungen auf die Rechte unmittelbar und mittelbar Betroffener (§§17 Abs. 1 Satz 3, 19 Abs. 1 F S t r G ) verlangt die ganz herrschende Meinung aber dennoch eine materielle Planrechtfertigung („objektiv erforderlich" bzw. „objektiv vernünftigerweise geboten") als Handlungsvoraussetzung. Einschätzungsprärogativen werden nur insoweit anerkannt, als die materielle Planrechtfertigung auf Prognosen über künftige Entwicklungen aufbaut. Der Planfeststellungsbeschluß muß bei Vorliegen der Planrechtfertigung ergehen. Der Inhalt des Planfeststellungsbeschlusses steht dagegen im Ermessen (§§ 1 Abs. 1, 4 Satz 1 , 1 0 - 1 2 , 1 6 , 17 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 FStrG, §41 B I m S c h G ) . Es kommt hinzu, daß die für die Planungsspielräume entwickelte Fehlerlehre „strukturell mit der Beurteilungs- und Ermessensfehlerlehre übereinstimmt und 19 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.2, 59; Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn.63. 2 0 Siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.20.

A. Ansatzpunkt

67

deshalb am Maßstab des § 1 1 4 V w G O zu beurteilen ist." 2 1 Vor diesem Hintergrund erscheint die A n n a h m e einer eigenständigen dritten Kategorie der Gestaltungsspielräume weder geboten noch hilfreich. 2 2 4. S c h l u ß f o l g e r u n g D i e Einschätzungsbegriffe und das Ermessen führen aufgrund ihrer besonderen Eigenart dazu, daß die Verwaltungsgerichte die Einschätzung/Ermessensausübung der Verwaltung in einem Kernbereich weder aufgrund eigener Sachkenntnis n o c h durch Heranziehung von Sachverständigen oder andere Beweismittel selbständig nachzuvollziehen, deshalb nicht zu widerlegen und also auch nicht zu überprüfen vermögen und daher an sachlogische und damit rechtslogische und letztlich funktionale G r e n z e n stoßen. 2 3 E s läßt sich nicht einwenden, daß es in jedem Einzelfall - das gesetzgeberische Ziel konsequent weitergedacht und fallbezogen konkretisiert - immer nur eine nach dem derzeitigen Erkenntnisstand haltbare Einschätzung und immer nur eine dem Gesetzeszweck entsprechende Ermessensausübung gibt 2 4 und es genügt, wenn das Verwaltungsgericht die Ansicht der Verwaltung im R a h m e n der B e weiswürdigung berücksichtigt und ihr eine indizielle und der prima-facie-Wirkung von Erfahrungssätzen vergleichbare Bedeutung zumißt. 2 5 M a n m u ß zwar in einer juristischen Kontroverse von der „einzig richtigen A n t w o r t " wenigstens als regulativer Idee ausgehen. Dies setzt aber nicht voraus, daß es in jedem Fall eine „einzig richtige A n t w o r t " gibt. Zudem ist die „einzig richtige A n t w o r t " , wenn sie denn existieren sollte, nur unter höchst idealen Bedingungen, nicht aber unter den realen Bedingungen eines Rechtssystems, intersubjektiv zwingend beweisbar oder erkennbar. 2 6 E s führt nichts an der Tatsache vorbei, daß die Überprüfung einer Einschätzung/Ermessensausübung Erkenntnisprobleme aufwerfen kann, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist, und zwar mit der K o n s e quenz, daß die Einschätzung/Ermessensausübung nicht überprüft, sondern nur ersetzt werden kann. 2 7

Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.61. Alexy JZ 1986, S.701, 711 und Fn. 115 zu den Abwägungsfehlern: „Die Grundgedanken dieser Formel gelten für jede Abwägung und damit für jede Art der Ermessensbetätigung.... Es wird häufig gesagt, daß zwischen dem Planungsermessen und dem normalen Ermessen ein qualitativer und nicht nur ein quantitativer Unterschied besteht... die Geltung der Abwägungsregeln in beiden Bereichen ist ein wesentliches Argument dafür, daß ein nur quantitativer Unterschied besteht, die These vom qualitativen Unterschied also falsch ist." 23 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 18; Maurer, Verwaltungsrecht, 6. Auflage 1988, §7 Rdn.33f.; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.24, 22. 24 Vgl. dazu Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 29, 54. 25 Vgl. dazu Kopp, VwGO, 10. Auflage 1994, § 114 Rdn. 24b, 24c. 26 Alexy JZ 1986, S.701, 715. 27 Vgl. dazu Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.29f., 54. 21 22

68

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Das ist jedoch nicht die Aufgabe der Verwaltungsgerichte. Im Gegensatz zu den Widerspruchs- und Fachaufsichtsbehörden, die die Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit der Ermessensausübung 2 8 zu beurteilen haben, sind die Verwaltungsgerichte gerade nicht zur originären Rechtsanwendung, sondern nur zur reagierenden Rechtskontrolle berufen. 2 9 Die Garantie effektiven Rechtschutzes macht es nicht erforderlich, daß in den Fällen, in denen mehrere im Lichte der eingeschränkten rechtlichen Uberprüfbarkeit einzelner (mehrerer/aller) Entscheidungsteile „rechtlich vertretbare und in diesem Sinne rechtlich richtige Entscheidungen" 30 (im folgenden rechtlich vertretbare Entscheidungen) existieren, die Auswahl letztverbindlich durch das Verwaltungsgericht vorgenommen wird. 3 1 Es w ü r d e vielmehr die verfassungsrechtlich vorgegebene Funktionentrennung verletzen, müßte das Verwaltungsgericht es in diesen Grenzfällen nicht hinnehmen, daß die Verwaltung eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/ treffen wird, auch wenn es selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde. 3 2 Die von dem Verwaltungsgericht zu klärende Frage kann dann nur lauten, ob die Verwaltung eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird. Soweit der Verwaltung bei einer Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, hat das Verwaltungsgericht mithin (nur) zu prüfen, ob die Verwaltung die Entscheidungsfehler vermieden hat und/oder vermeiden wird, in denen die eingeschränk-

28 Die im Zusammenhang mit Ermessensentscheidungen genannten Kriterien der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit bleiben unklar, wenn man sich nicht vergegenwärtigt, daß zwecklose, zweckwidrige und unzweckmäßige Maßnahmen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen, weil sie bezogen auf den angestrebten Zweck ungeeignet, nicht erforderlich oder unangemessen sind, und daß deshalb die meisten Zweckmäßigkeitsfehler zugleich Rechtmäßigkeitsfehler sind; siehe dazu Alexy JZ 1986, S. 701, 705f. Das Begriffswirrwarr wird besonders in der Formulierung deutlich, eine unzweckmäßige Maßnahme könne rechtmäßig sein (so Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 39). Dies ist allerdings richtig, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erst dann verletzt sein soll, „wenn das Ermessen eine zwar abstrakt zulässige, im konkreten Falle aber nicht nur unzweckmäßige, sondern ungeeignete, nicht erforderliche, oder unangemessene Rechtsfolge gewährt hat" (so Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 50). Die im Zusammenhang mit Ermessensentscheidungen vieldiskutierte Pflicht zur Zweckmäßigkeit kann - soweit sie nicht in dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgeht nicht nur als eine bloß politische oder moralische Pflicht angesehen werden. Sie kann in einem demokratischen Verfassungsstaat nur eine Rechtspflicht sein. Daher wird im Verwaltungsrecht zwischen gerichtlich kontrollierbaren und gerichtlich nicht kontrollierbaren Rechtspflichten zur „Zweckmäßigkeit" unterschieden (Rechtspflichten im engeren und im weiteren Sinne); siehe dazu Alexy JZ 1986, S. 701, 705f. 29 Wolff/Bachof/Stober,Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 15f.,24,44;Maurer,Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 5 f., 17, 58 ff. 30 Vgl. die Formulierungen von: Alexy JZ 1986, S.701, 714; Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.la; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.54; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 18. 31 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 24. 32 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 15f., 18, 24, 44; Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 5f., 17, 56f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 1.

A. Ansatzpunkt te

materiell-rechtliche

Überprüfbarkeit

der

69 Entscheidung

zum

Ausdruck

k o m m t 3 3 (im folgenden rechtlich relevante Entscheidungsfehler). D e r große Vorzug der normativen Ermächtigungslehre ist, daß sie für die U n terscheidung von positiver und negativer Kontrolle auf die herkömmliche G r e n z ziehung zwischen gebundenen Entscheidungen und Ermessensentscheidungen verzichtet. D i e These lautet nicht, daß die materielle Rechtmäßigkeit bei gebundenen Entscheidungen davon abhängt, o b die rechtlich einzig richtige Entscheidung getroffen worden ist, während es bei Ermessensentscheidungen darauf ank o m m t , ob eine im Lichte einer Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten rechtlich vertretbare und in diesem Sinne rechtlich richtige Entscheidung getroffen worden ist. Das Problem der Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgericht kann auf diese Weise nicht gelöst werden. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Kontrolle mit der Grenzziehung zwischen gebundenen Entscheidungen und Ermessensentscheidungen. 3 4 Dieser Befund wird nicht nur durch den Streit um die Anerkennung einer nur eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung von (bestimmten) gebundenen E n t scheidungen 3 5 und die Forderung nach einer vollen gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen 3 6 belegt. Ungleich wichtiger ist die Erkenntnis, daß bei gebundenen Entscheidungen wie bei Ermessensentscheidungen ein inhaltlicher Verstoß gegen geltendes Recht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt, der Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozeß in gleicher Weise fehlerhaft sein und eine mögliche und gebotene Abwägung unterbleiben kann. Z u dem ist bei gebundenen Entscheidungen das Gegenteil einer Ermessensunterschreitung, nämlich die irrige A n n a h m e einer Ermessensermächtigung denkbar. E s herrscht, „was die Möglichkeit des V o r k o m m e n s der Fehler betrifft, eine nahezu vollständige, durch die Ermessensunterschreitung nur unerheblich eingeschränkte Fehleridentität." 3 7 Vor diesem Hintergrund m u ß die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Kontrolle substantiell getroffen werden. Das Gebotensein einer positiven oder negativen Kontrolle bedarf im H i n b l i c k auf jede Entscheidung einer B e gründung, die mit der Frage, o b es sich um eine gebundene Entscheidung oder ei-

33 Vgl. Alexy JZ 1986, S. 701, 702, 714, 715f. und Wolff/Bacbof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.25. 34 Alexy JZ 1986, S. 701,715 f. Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 47ff., betont in Rdn. 51, daß in manchen Fällen ein bestimmtes gesetzgeberisches Ziel durch eine entsprechende Regelung auf der Tatbestandsseite ebenso erreicht werden kann wie durch die Normierung von Ermessen auf der Rechtsfolgenseite. 35 Siehe dazu: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 15,16f.; Kopp, VwGO, 10. Auflage 1994, §114 Rdn.24b, 24c; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.31 ff., 55ff. 36 Siehe dazu Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 54. 37 Alexy JZ 1986, S.701, 713f.

70

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

ne Ermessensentscheidung handelt, nichts zu tun hat. 3 8 Diesem Erfordernis wird die normative Ermächtigungslehre gerecht, weil sie mit der Anknüpfung an die verfassungsrechtlich

vorgegebenen

Funktionentrennung

eine

Legitimations-

grundlage für die Annahme von Entscheidungsfreiräumen der Verwaltung liefert.

II. Die gesellschaftsrechtliche

Legitimationsgrundlage

Knüpft man im Gesellschaftsrecht an die normative Ermächtigungslehre an, so stehen die Entscheidungsfreiräume von Vorstand und Aufsichtsrat in dem Spannungsfeld zwischen der Eigenständigkeit und K o m p e t e n z dieser Verwaltungsorgane (Verwaltungsvorbehalt) und den Kontrollrechten der jeweils anderen Verwaltungsorgane und der Aktionäre (Verwaltungskontrolle). A u f der einen Seite stehen Vorstand und Aufsichtsrat. D e r Vorstand ist das nach § 76 A k t G zur „Leitung der Gesellschaft unter eigener Verantwortung" berufene Gesellschaftsorgan, und der Aufsichtsrat ist das zur „Überwachung der Geschäftsführung" berufene Gesellschaftsorgan (Selbstverwaltung). Sie müssen beweglich sein, um ihre vielfältigen und legislativ nur ansatzweise typisierbaren Aufgaben im Interesse der Gesellschaft wahrzunehmen. A u f der anderen Seite stehen Organrechte des Aufsichtsrats bzw. Vorstands und der Hauptversammlung sowie Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre. Sie sind es, die in den aus der Staatsaufsicht entlassenen Verbänden dazu berufen sind, Vorstand und/oder Aufsichtsrat - in letzter K o n s e quenz durch Inanspruchnahme der Gerichte - zu kontrollieren und auf diese Weise die Interessen der Gesellschaft zu schützen (Selbstkontrolle). D e r dadurch begründete K o n f l i k t zwischen der Verwaltung der Gesellschaft durch Vorstand und Aufsichtsrat und der Kontrolle dieser Verwaltung durch die dazu berufenen Gesellschaftsorgane und Aktionäre ist der nach Art. 9 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich geschützten Verbandsautonomie immanent. Sie beinhaltet zum einen das R e c h t zur Selbstverwaltung, so daß das R e c h t von Vorstand und Aufsichtsrat zur Verwaltung der Gesellschaft auf der Verbandsautonomie beruht. Sie umfaßt zum anderen die Pflicht zur Selbstkontrolle, so daß auch die K o n t r o l l e dieser Verwaltung durch die dazu berufenen Gesellschaftsorgane und Aktionäre in der Verbandsautonomie gründet. 3 9 Vor diesem Hintergrund ist es irreführend, wenn gefordert wird, es müsse einer zu weitgehenden Einflußnahme der Gerichte auf die eigenverantwortlichen G e sellschaftsorgane vorgebeugt werden, 4 0 da es andernfalls zu einem externen Durchgriff auf die unternehmenspolitische Entscheidungs- und Organisationsautonomie 4 1 und zu einer richterlichen Ersatzvornahme mit B l i c k auf die Wil38 39 40 41

Alexy JZ 1986, S.701, 715f. Vgl. dazu Becker, Verwaltungskontrolle, S. 1 ff., 39ff. OLG Düsseldorf ZIP 1995, S. 1183, 1188 - ARAG/Garmenbeck. Martens, Festschrift für Fischer, S.437, 446.

A.

Ansatzpunkt

71

lensbildungsautonomie der Gesellschaft komme. 4 2 In gleicher Weise geht die Behauptung fehl, nach der Rechts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik müsse zum Schutz des Kerns unternehmerischer Eigenverantwortung gewährleistet bleiben, daß autonome unternehmerische Handlungsbefugnisse weder allgemein durch Entscheidungen des Staates noch speziell durch solche der Gerichte ersetzt würden. 4 3 Denn mit diesen Äußerungen wird der Eindruck erweckt, es handele sich hier - wie bei der Zwangsauflösung nach §396 AktG - um einen Konflikt zwischen Verband und Staat und damit zwischen Verbandsautonomie und Staatsaufsicht. Die Aufgabe der Gerichte im Spannungsfeld zwischen Verwaltungsvorbehalt und Verwaltungskontrolle besteht im Verbandsrecht jedoch allein darin, die Rechte der zur Kontrolle von Vorstand und Aufsichtsrat berufenen Gesellschaftsorgane und Aktionäre zu schützen. Die Lage entspricht insoweit dem Verwaltungsrecht: Die Verwaltungsgerichte gewährleisten, daß die Grundrechte der Bürger gewahrt bleiben und die verfassungsrechtlich geschützte Rechtsschutzgarantie nicht leerläuft. Betont man nun den Gesetzesvorbehalt, so ist es der Gesetzgeber, der den verfassungsrechtlich determinierten Konflikt zwischen der Verwaltung der Gesellschaft durch Vorstand und Aufsichtsrat und der Kontrolle dieser Verwaltung durch die dazu berufenen Gesellschaftsorgane und Aktionäre lösen muß. Die Pflicht zur Selbstkontrolle zwingt grundsätzlich zu einer vollen Kontrolle von Vorstand und Aufsichtsrat durch Aufsichtsrat bzw. Vorstand und Hauptversammlung sowie Aktionäre vermittels ihrer Organ- bzw. Mitgliedschaftsrechte. Eine eingeschränkte Kontrolle ist nur ausnahmsweise gerechtfertigt. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber Vorstand und Aufsichtsrat Entscheidungsfreiräume zuweist und damit die Letztentscheidungskompetenz auf Vorstand und Aufsichtsrat verlagert. Es ist die Normierung von Einschätzungsbegriffen auf der Tatbestandsseite und/oder von Ermessen auf der Rechtsfolgenseite, vermittels derer der Gesetzgeber es Vorstand und Aufsichtsrat in verbandsrechtlich zulässiger Weise aufgeben kann, offene Normen kraft eigener verbandsrechtlicher Legitimation zu konkretisieren. 1. Regelungstechnik des Aktiengesetzes Diese Regelungstechnik ist dem Aktiengesetz allerdings fremd. Ein flüchtiger Blick auf die beiden zentralen aktienrechtlichen Normen des §76 A b s . l AktG („Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten.") und des § 111 Abs. 1 AktG („Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwa-

42

Bungen ZHR 159 (1995), S.261, 271; Dreher ZUR 158 (1994), S.614, 636. OLG Düsseldorf ZIP 1995, S. 1183, 1190 - ARAG/Garmenbeck; vgl. auch Dreher ZHR 158 (1994), S.614, 630 („Kernbereich der unternehmerischen Handlungsfreiheit") und Jaeger/ Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157, 1159 („freie unternehmerische Initiative"). 43

72

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats

chen.") zeigt, daß der Gesetzgeber nicht einmal zwischen Tatbestand und R e c h t s folge unterscheidet. Ein Vergleich mit der im Verwaltungsrecht diskutierten Ansicht, es handele sich bei den Vorschriften des Planungsrechts u m final programmierte R e c h t s n o r men, die Gestaltungsspielräume eröffnen, drängt sich geradezu auf. Diese A n sicht ist jedoch selbst im Verwaltungsrecht umstritten, und zwar insbesondere, weil sich die Planungsnormen in eine Handlungsvoraussetzung (Beurteilung der Erforderlichkeit der Planung - Planrechtfertigung) und eine Handlungsbefugnis (Entschließung über das „ o b " und „wie" der Planung - Planungsentschluß/Planinhalt) aufspalten lassen. Es ist möglich (und aus systematischen G r ü n d e n auch angebracht), sie als konditional formulierte R e c h t s n o r m e n zu strukturieren, die Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume eröffnen. Dieser Einwand läßt sich im Aktienrecht aufgreifen. M i t Blick auf § 76 Abs. 1 A k t G liegt die Parallele zu den Planungsnormen besonders nahe, weil die meisten Entscheidungen des Vorstands die Qualität von Planungsentscheidungen haben. § 76 Abs. 1 A k t G läßt sich regelmäßig in zumindest eine Handlungsvoraussetzung (Beurteilung der Erforderlichkeit/Gebotenheit eines Vorhabens - H a n d lungsrechtfertigung) und eine Handlungsbefugnis (Entschließung über das „ o b " und „wie" der Realisierung des Vorhabens - Handlungsentschluß/Handlungsinhalt) untergliedern. Mit Blick auf § 111 Abs. 1 A k t G liegt die Parallele zum Planungsrecht zwar nicht so nahe, aber die Uberwachungsaufgabe hat eine durchaus ähnliche Struktur. D a h e r läßt sich § 111 Abs. 1 A k t G ebenfalls in zumindest eine Handlungsvoraussetzung (Beurteilung der Erforderlichkeit/Gebotenheit einer Einwirkung auf den Vorstand - Handlungsrechtfertigung) und eine Handlungsbefugnis (Entschließung über das „ o b " und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand - Handlungsentschluß/Handlungsinhalt) untergliedern. Dies belegt auch die A R A G / G a r m e n b e c k - E n t s c h e i d u n g des Bundesgerichtshofs zu der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder.

Der

Bundesgerichtshof

greift die Begriffe „Beurteilungsspielraum" und „Handlungsermessen" auf und spaltet den § 9 3 A k t G ganz im Sinne des Verwaltungsrechts in mehrere H a n d lungsvoraussetzungen und eine Handlungsbefugnis auf („Prüfung des Bestehens und der Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs" und „Frage, ob der Aufsichtsrat

gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs

...

absehen

kann").44 D e r Gedanke, daß der Gesetzgeber es Vorstand und Aufsichtsrat vermittels der N o r m i e r u n g von Einschätzungsbegriffen auf der Tatbestandsseite und/oder von Ermessen auf der Rechtsfolgenseite in verbandsrechtlich zulässiger Weise aufgeben kann, offene N o r m e n kraft eigener verbandsrechtlicher Legitimation zu k o n kretisieren, kann mithin im Gesellschaftsrecht fruchtbar gemacht werden. D i e ak44

BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck.

A.

73

Ansatzpunkt

tienrechtlichen Befugnisnormen müssen allerdings zuvor in Handlungsvoraussetzungen (Beurteilung der Erforderlichkeit/Gebotenheit eines Vorhabens

-

Handlungsrechtfertigung) und Handlungsbefugnisse (Entschließung über das „ob" und „wie" der Realisierung des Vorhabens - Handlungsentschluß/Handlungsinhalt) untergliedert werden. Sie sind als konditional formulierte Rechtsnormen zu strukturieren und damit als Befugnisnormen, die möglicherweise Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume eröffnen. Dann kann durch Auslegung der einer Entscheidung zugrundeliegenden Befugnisnorm (und damit in aller Regel einer N o r m des die Verbandsordnung nach § 2 3 Abs. 5 A k t G überwiegend zwingend regelnden Aktiengesetzes) ermittelt werden, ob dem Vorstand/Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume zustehen. 2. Konkretisierung der Befugnisnorm Allerdings gestaltet sich diese Auslegung schwieriger als im Verwaltungsrecht. Denn zahlreiche aktienrechtliche Normen und insbesondere die beiden zentralen Normen des § 76 Abs. 1 A k t G und des § 111 Abs. 1 A k t G unterscheiden nicht nur nicht zwischen Tatbestand und Rechtsfolge. Sie sind auch im übrigen so unbestimmt, daß die Frage nach Entscheidungsfreiräumen nicht abstrakt und generell beantwortet werden kann. Daher muß die Befugnisnorm zunächst weiter konkretisiert werden. In einem ersten Schritt ist zu klären, welchen sachlichen Anwendungsbereich die aktienrechtliche Vorschrift hat. Es geht um die Frage, ob unterschiedliche Entscheidungsgegenstände von ihr erfaßt werden. Ist dies der Fall, müssen im Wege der inhaltsbezogenen Typisierung Fallgruppen von Entscheidungen gebildet werden. In einem zweiten Schritt sind - gegebenenfalls bezogen auf bestimmte Entscheidungstypen - die Handlungsvoraussetzungen und die Handlungsbefugnisse inhaltlich zu konkretisieren. Erst im Anschluß daran kann die aus dem Verwaltungsrecht vertraute Auslegungsfrage gestellt werden: Es ist zu klären, ob die - gegebenenfalls für bestimmte Entscheidungstypen -

inhaltlich konkretisierten

Handlungsvoraussetzungen

Einschätzungsprärogativen einräumen und/oder ob die - gegebenenfalls für bestimmte Entscheidungstypen - inhaltlich konkretisierten Handlungsbefugnisse Ermessensspielräume eröffnen. 3. Auslegung der B e f u g n i s n o r m Diese Auslegungsfrage wirft ein Problem auf, das wiederum auf dem Unterschied zwischen dem Verwaltungsrecht und dem Aktienrecht beruht. Die Kriterien des Verwaltungsrechts für die Ermittlung von Einschätzungsprärogativen führen im Gesellschaftsrecht nicht weiter. Denn letztlich wird jede in einem Unternehmen

74

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

getroffene Entscheidung unter Unsicherheit und aufgrund subjektiver Vorstellungen über die Handlungsvoraussetzungen getroffen. 45 Die Kriterien des Verwaltungsrechts für die Ermittlung von Ermessensspielräumen passen ebenfalls nicht. Gesetzliche Vorgaben fehlen im Aktienrecht, ein Bereitstellen von Mitteln durch einen übergeordneten Dritten ist im Aktienrecht nicht denkbar, und die Verteilungsprobleme im Leistungsbereich entsprechen nicht den typischen Problemen der Entscheidungsträger in Unternehmen. Daher müssen im Gesellschaftsrecht eigenständige Kriterien entwickelt werden, um ermitteln zu können, ob dem Vorstand/Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume zuzubilligen sind. Sie müssen zum einen an der besonderen Eigenart der Einschätzungsbegriffe und des Ermessens und insbesondere den daraus resultierenden Erkenntnis- und Kontrollproblemen ausgerichtet sein. Sie müssen zum anderen dem Regelungsgegenstand des Aktiengesetzes Rechnung tragen. Im Gesellschaftsrecht können Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume nicht der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit dienen, wie es im Verwaltungsrecht der Fall ist. 46 Ihr Zweck kann nur die erfolgreiche Entwicklung des Unternehmens sein, die sich am Unternehmensgegenstand und den in der Satzung zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen orientieren muß. 4 7

a) Das Kriterium der unternehmerischen

Entscheidung

Die gesellschaftsrechtliche Wissenschaft und Praxis stellt auf das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung ab. Was darunter zu verstehen sein soll, ist jedoch noch nicht geklärt. Die Bundesregierung führt zu § 9 3 Abs. 1 Satz 2 A k t G idF. von Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 aus, die Regelung gehe von der Differenzierung zwischen fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidungen einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten andererseits (Treuepflichten; Informationspflichten; sonstige allgemeine Gesetzes- und Satzungsverstöße) aus und ein Verstoß gegen diese letztere Pflichtengruppe sei von der Bestimmung nicht erfaßt. Die unternehmerische Entscheidung stehe im Gegensatz zur rechtlich gebundenen Entscheidung; für illegales Verhalten gebe es keinen „sicheren Hafen". Die unternehmerischen Entscheidungen seien infolge ihrer Zukunftsbezogenheit durch Prognosen und nicht justiziable Einschätzungen geprägt, und dies unterscheide sie von der Beachtung gesetzlicher, satzungsmäßiger oder anstellungsvertraglicher Pflichten ohne Beurteilungs- oder Ermessensspielraum. 48

Mutter, Entscheidungen, S.8ff., lOf. Siehe dazu nur Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 12, 31. 47 Abeltshauser, Leitungshaftung, S.32f.; Semler, Überwachung, S.8ff. 48 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 und - bis auf den mittleren Satz nahezu wortgleich - Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RefE U M A G 1/2004, wo es allerdings zusätzlich hieß, 45

46

A.

Ansatzpunkt

75

Der mittlere Satz war im Referentenentwurf noch nicht enthalten. Mit ihm soll (wohl) dem gegen die Abgrenzung erhobenen Einwand begegnet werden, eine verbotene Kartellabsprache sei zum einen zukunftsbezogen sowie durch Prognosen wie Einschätzungen geprägt und stelle zum anderen einen Gesetzesverstoß dar.49 Der Bundesrat hat diesen Einwand in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf vom 18. Februar 2005 aufrechterhalten. Auch verbotene Kartellabsprachen seien unternehmerisches Handeln, und Gesetzes- und Satzungsverstöße müßten deshalb ausdrücklich ausgenommen werden. Er hat die folgende Formulierung vorgeschlagen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung Recht und Gesetz, die Bestimmungen der Satzung und rechtswirksame Beschlüsse von Gesellschaftsorganen beachtet sowie auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft gehandelt hat." 50 Die Bundesregierung hat diesen Vorschlag am 9. März 2005 zurückgewiesen. Die Formulierung des Bundesrates bringe keine Verbesserung und schneide die weitere Rechtsentwicklung ab.51 Einen weiteren Einwand läßt die Bundesregierung gänzlich unberücksichtigt: Mit dem Vorliegen einer gesetzlichen, satzungsmäßigen oder anstellungsvertraglichen Pflicht scheidet ein unternehmerischer Handlungsspielraum noch nicht aus,52 und das gleiche gilt für Treupflichtverletzungen. 53 Dies wird durch die Diskussion um die Angemessenheit der Vorstandsvergütung nach § 87 AktG im Mannesmann-Verfahren überdeutlich belegt. 54 Weitgehende Zustimmung findet demgegenüber die These, bei gesellschaftsund kapitalmarktrechtlichen Informationspflichten bestünden keine unterneh-

es gehe allein um die Verletzung von Sorgfaltspflichten bei der Geschäftsführung, soweit es sich dabei um unternehmerische Entscheidungen handele. 49 Schneider DB 2005, S. 707, 710 mit dem zutreffenden Hinweis, daß es nicht in der Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft und ihrer Organe liegen könne, ob sie wertorientierte Rechtsnormen beachten oder nicht; Thümmel DB 2004, S. 471,472; Paefgen A G 2004, S.245,251. Siehe dazu aber auch Fleischer ZIP 2005, S. 141, 148f., 149ff., der Ausnahmen von der strengen Rechtsbindung im Innenverhältnis für möglich hält. 50 BR-Drucksache 3/05 (Beschluß) [Volltext auch abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/ Volltext vom 30. März 2005], 51 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (BR-Drs. 3/05 (Beschluß)) [Volltext abrufbar unter http://www.rws-verlag.de/Volltext vom 30. März 2005], 52 So zutreffend Roth, Ermessen, S.103ff. und BB 2004, S.1066, 1068 sowie Fleischer ZIP 2004, S.685, 690. 53 So zutreffend wohl Thümmel DB 2004, S. 471,472 unter Hinweis auf § 88 AktG (siehe dazu Fleischer A G 2005, S. 336,345: „Erteilung oder Versagung der Einwilligung im Belieben des Aufsichtsrats"); a. A. Fleischer ZIP 2004, S. 685, 690. 54 Brauer/Dreier N Z G 2005, S. 57, 58ff.; Thüsing ZGR 2003, S. 457,469ff., 485ff.; Hüffer BB 2003, Beilage Nr. 7, S. 11 ff.; Wollburg ZIP 2004, S. 646,649ff.; Liehers/Hoefs ZIP 2004, S. 97,99f., 100f.; Schünemann, Organuntreue, S.49ff.; Brauer N Z G 2004, S.502, 503ff.; Lutter ZIP 2003, S. 737, 739f., 740. Siehe zur strafrechtlichen Seite nur Schünemann, Organuntreue, S. 42ff.

76

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

merischen Handlungsspielräume. 55 Dasselbe gilt für den Ausgangspunkt. In der Literatur wird die Auffassung geteilt, daß eine unternehmerische Entscheidung vorliegt, wenn eine Entscheidung von nicht steuerbaren und nicht vorhersehbaren externen Umständen abhängt und die Entscheidungsfindung ein in die Zukunft gerichteter komplexer Vorgang ist (mangelnde Prognostizierbarkeit und Zukunftsorientierung). 56 Diese Betrachtungsweise wird häufig dahin ergänzt, bei einer unternehmerischen Entscheidung seien Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen. 57 Der Bundesgerichtshof betont ganz in diesem Sinne, eine unternehmerische Tätigkeit sei ohne das bewußte Eingehen geschäftlicher Risiken und die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen schlechterdings nicht denkbar. 58 Ausgehend von diesem Ansatz, bleibt das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung allerdings außerhalb eines Kernbereichs (schlagwortartig etwa mit Wahrnehmung der freien unternehmerischer Initative bezeichnet 59 ) unscharf.60 Dies hat sich eindrucksvoll an der ganz unterschiedlichen Einordnung der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder gezeigt. 61 Den Stand von Wissenschaft und Praxis beschreibt Walter G. Paefgen vor diesem Hintergrund zutreffend wie folgt: Der Begriff der unternehmerischen Entscheidung ergebe sich aus seiner Gegensätzlichkeit zur rechtlich gebundenen Entscheidung, und es sei die Aufgabe der Rechtsprechung, Verwaltungspflichten mit unternehmerischem Ermessen und rechtlich strikt definierte Pflichtenbindungen voneinander abzugrenzen. 62 Dieser Befund wird dadurch belegt, daß auch die Betriebswirtschaftslehre Probleme mit der Definition der unternehmerischen Entscheidung hat63 und der Be55 Schneider DB 2005, S. 707, 710; Fleischer ZIP 2004, S. 685, 690 (mit Hinweis auf mögliche Ausnahmen) und BKR 2003, S.608, 612; Baums ZHR 167 (2003), S. 139,175 (unter der Voraussetzung, daß die Organaußenhaftung auf Fälle vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Falschinformation beschränkt wird). 56 Schneider DB 2005, S.707, 710; Heermann AG 1998, S.201, 203; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157, 1158f.; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1133; kritisch Paefgen AG 2004, S.245, 251 und Thümmel DB 2004, S.471, 472. 57 Fleischer ZIP 2004, S. 685, 685; Kock/Dinkel NZG 2004, S. 441, 442f., 443; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1133. 58 BGH ZIP 1997, S. 883, 885f. - ARAG/Garmenbeck. 59 Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S.1157, 1159. 60 Fleischer ZIP 2004, S. 685, 690 Fn. 74 mit Blick auf die Wahrnehmung von Organisationsund Uberwachungspflichten. 61 Siehe dazu etwa: Heermann AG 1998, S. 201,203ff.; Horn ZIP 1997, S. 1129,1136f.; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 109f.; Dreher ZHR 158 (1994), S.614, 637ff. 62 Paefgen AG 2004, S.245, 251. 63 Theisen, Unternehmensführung, S. 43, der darauf hinweist, daß in bedeutendem Umfang die unternehmerische Entscheidung als kennzeichnende Funktion der Unternehmensführung Verwendung findet, damit jedoch nur eine Problemverlagerung von der Definitionsbedürftigkeit unternehmerischer Handlungen auf den zu bestimmenden Gehalt unternehmerischer Entscheidungen vorgenommen wird.

A.

Ansatzpunkt

77

griff der Führungsentscheidung in Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre schillernd bleibt. Einigkeit herrscht nur darüber, daß die Unternehmensführung die Unternehmensleitung und die Unternehmensüberwachung umfaßt.64 Während in der Rechtswissenschaft mit den Führungsentscheidungen zumeist die unter qualitativen Gesichtspunkten nicht delegierbaren Entscheidungen des Vorstands erfaßt werden,65 legt die Betriebswirtschaftslehre diesem Begriff ein ihrem jeweiligen Verständnis der Unternehmensführung entsprechenden Inhalt zugrunde. So wird als Unternehmensführung etwa „die Gesamtheit der Individuen, Institutionen und Funktionen, welche in einem sozialen, offenen Prozeß die zielentsprechende Gestaltung der wirtschaftlichen Veranstaltung Unternehmung verantwortlich initiieren, koordinieren und steuern," verstanden, wobei „die einzelnen Aktivitäten aus den Teilprozessen Planung, Realisation und Überwachung abgeleitet werden" und womit die Aufgaben des Vorstands und der ihm nachgeordneten Fachinstanzen und Stäbe erfaßt werden.66 Bei diesem Ansatz geht es darum, einen Kreis „echter" Führungsentscheidungen zu bestimmen, die der Vorstand nicht auf nachgelagerte Führungsebenen delegieren darf.67 Mit Unternehmensführung werden aber auch die nicht delegierbaren Aufgaben des Vorstands und die Aufgaben von Aufsichtsrat und Abschlußprüfer erfaßt. Der Vorstand habe die nicht delegierbare „Zuständigkeit für die unternehmungsbezogenen Rahmenhandlungen", wobei „der substantielle Schwerpunktwenn man die Handlungen insgesamt in Entscheidungs-, Realisations- und Kontrollhandlungen ausdifferenziert - nach heutigem Verständnis bei den Entscheidungen" liege. Dem Vorstand oblägen „damit - innerhalb der durch Zuständigkeiten anderer Gremien gezogenen Grenzen - namentlich die oberen Grundlagenbeschlüsse in der Unternehmung, die über die Folgehandlungen auf den nachgelagerten Hierarchieebenen (qua Detailentscheidungen oder Realisationshandlungen) umzusetzen sind." Bei diesem Ansatz werden mit den Führungsentscheidungen die von den genannten Führungsorganen zu treffenden (nicht delegierbaren) Entscheidungen erfaßt.68 Dieses Wirrwarr wird bei Hans-Joachim Mertens besonders deutlich, der von einer „juristischen Eingrenzung der Führungsentscheidungen" spricht,69 aber

Abeltshauser, Leitungshaftung, S.28ff. Semler, Überwachung, S.lOf., 11 f., 13ff., 17ff., 61ff., 66ff.; Mutter, Entscheidungen, S. 15ff., 32ff.; Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn.4f., der betont, daß diese Abgrenzungsfrage „weniger im Verhältnis der Organe zueinander von Bedeutung" ist, weil die gesamte Geschäftsführung/Leitung zwingend dem Vorstand obliege und die anderen Organe daran nur nach Maßgabe des Gesetzes beteiligt werden könnten. 66 Theisen, Unternehmensführung, S.44, 49ff. 67 Potthoff, Geschäftsführung, S.16. 68 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 2ff., 5ff., 17f., S.27, 43ff., 51ff. 6 9 Kölner Kommentar, §76 Rdn. 5. 64 65

78

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands

und des

Aufsichtsrats

auch bei Thomas E. Abeltshauser,70 der unter Bezug auf Johannes Semler71 darauf hinweist, daß das Tagesgeschäft im Schrifttum nicht immer als originäre unternehmerische Funktion bezeichnet wird. b) Der betriebswirtschaftlich

absicherbare

Befund

Dennoch wird mit dem Kriterium der unternehmerischen Entscheidung der richtige Weg gewiesen. Es bleibt die betriebswirtschaftlich abgesicherte Erkenntnis, daß die typischen Problemstellungen des Managements wie etwa Entscheidungen über Akquisitionen neuer Tochtergesellschaften, tiefgreifende Reorganisationen oder strategische Kurswechsel durch eine Vielzahl vernetzter Einflußfaktoren, die Zukunftsbezogenheit wie zeitliche Reichweite ihrer Konsequenzen und die zumeist auftretenden Zielkonflikte gekennzeichnet sind (unabsehbare Problemkomponenten, mangelnde Isolierbarkeit des Problems, unklare Problemstruktur, unbekannte Problemvariable und unbekannte Verknüpfung der Problemvariablen, ungewiße Erwartungen, mehrdeutige Prognosen, unwägbare Risiken und Chancen, subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzungen, Konfliktgehalt). Sie sind durch ein hohes Maß an Komplexität und Unstrukturiertheit gekennzeichnet. Aufgrund dieser prinzipiellen Eigenschaften können die Einsichten in die Zusammenhänge derart unstrukturierter Problemstellungen zwangsläufig nur unvollkommen sein. Schon aufgrund der unabdingbaren Selektion der als relevant erachteten Einflußfaktoren, der erforderlichen Prognosen ihrer wahrscheinlichen Entwicklung und der zu treffenden Zielgewichtungen kommen mehrere Lösungen in Betracht. Diese Komplexität unstrukturierter Managementprobleme verhindert, daß eine eindeutig richtige und vollständig exakte Lösung zwingend abgeleitet werden kann. Es verbleibt vielmehr stets ein mehr oder weniger großes Maß an Unsicherheit über die Richtigkeit der gewählten Lösung. Bereits aus diesem Grund müssen Soll-Vorstellungen über eine erfolgversprechende Arbeit des Vorstands und seine Kontrolle durch den Aufsichtsrat an Erkenntnisgrenzen stoßen. Zudem sind die heute vorliegenden Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen den Modalitäten des Prozesses der Unternehmensführung und den Prozeßergebnissen äußerst lückenhaft. Auffassungen über die Modalitäten des Prozesses der Unternehmensführung können daher keine Richtigkeitsgarantie übernehmen. Dieser Befund läßt nur einen Schluß zu: Steht das Management einem Problem gegenüber, das nicht nur unstrukturierter und komplexer Natur ist, sondern sich auch wegen eines „schwankenden Erkenntnisfundaments" und „unvollständiger Problemeinsichten" einer eindeutig richtigen Lösung entzieht (im folgenden unstrukturiertes hochkomplexes Problem), so sind

70 71

Leitungshaftung, S . 3 2 f . Überwachung, S. 12.

A.

Ansatzpunkt

79

der einfordbaren Entscheidungsqualität inhärente Grenzen gesetzt. 72 Die unabweisbare Konsequenz lautet, daß diese Grenzen dann auch dem Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 9 3 A k t G oder durch den Aufsichtsrat im Sinne der § § 1 1 6 , 9 3 A k t G gesetzt sein müssen.

c)

Operationalisierung

Diese Erkenntnis führt jedoch noch nicht zu operationalen Kriterien für die Auslegung aktienrechtlicher Befugnisnormen dahin, ob dem Vorstand/Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume zuzubilligen sind. Sie muß erst auf die Struktur der aktienrechtlichen Befugnisnormen bezogen werden. Die Betriebswirtschaftslehre führt auch hier weiter. Steht das Management einem unstrukturierten hochkomplexen Problem gegenüber, wird der Entscheidungsprozeß in drei Phasen untergliedert. In einem ersten Schritt soll das Entscheidungsproblem identifiziert und analysiert werden; der Entscheidungsgegenstand und die Umweltsituation, unter der die Entscheidung zu treffen ist, sollen beschrieben werden. In einem zweiten Schritt sollen Lösungsalternativen entwikkelt und aufgestellt werden. In einem dritten Schritt sollen die Lösungsalternativen bewertet und soll eine Lösungsalternative abschließend ausgewählt werden. 73 Die Parallele zu konditional formulierten Rechtsnormen mit Handlungsvoraussetzungen und Handlungsbefugnissen, die Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume eröffnen, drängt sich geradezu auf. Vor diesem Hintergrund erweist sich die betriebswirtschaftlich abgesicherte Erkenntnis, daß das Management bei einer typischen Problemstellung einem unstrukturierten hochkomplexen Problem gegenübersteht, als unscharf. Genau besehen steht das Management in diesen Fällen sowohl bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung als auch bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis einer ganzen Reihe von unstrukturierten hochkomplexen Problemen gegenüber.

aa)

Handlungsbedarf

Die Analyse des Handlungsbedarfs erfordert die Einschätzung einer ganzen Reihe unstrukturierter hochkomplexer Probleme. Die Beurteilung der „betriebswirtschaftlichen Gebotenheit/Sinnhaftigkeit" 74 einer Akquisition neuer Tochtergesellschaften, einer tiefgreifenden Reorganisation oder eines strategischen Kurswechsels ist durch die Prüfung und Würdigung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher 72 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1,5ff. und S. 27,31 f., 32ff.; vgl. auch Mutter, Entscheidungen, S.4ff., 15ff., 23ff. 73 Von Werder/Feld R I W 1996, S.481, 490ff. und Mutter, Entscheidungen, S. 6ff., 8ff. 74 Vgl. zu dieser Formulierung Kessler A G 1993, S.252, 269f. und A G 1995, S.61, 65, 74, 75.

80

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten geprägt. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie überwiegend - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen nicht vollständig absehbar oder bekannt sind. Die Prüfung und Würdigung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte findet im Rahmen der Evaluation der Änderung und der Evaluation der Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie und im Rahmen der Ermittlung der überlegenen Alternative statt. Die Würdigung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte kann in beiden Fällen nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im Unternehmen und - schon aufgrund der unabdingbaren Selektion sowie der aufzulösenden Zielkonflikte - nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Die Analyse der Handlungsbedarfs kann wegen der zwangsläufig unvollkommenen Einsicht in die Zusammenhänge einer derartigen Problemstellung nicht zu einem vollständig exakten (zwingend abgeleiteten und einzig richtigen) Ergebnis führen. 7 5 Die Prüfung der vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte bezieht sich insbesondere auf Chancen und Risiken, A u f w a n d und Ertrag, Folgen für Marktstellung und Wettbewerbsposition sowie für Finanzkraft und Lage des Unternehmens und Konflikte zwischen primär unternehmensbezogenen Interessen und den Interessen der Anteilseigner. Sie sind - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar (oder bekannt). Die Prüfung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte verlangt daher die Einschätzung zahlreicher unstrukturierter hochkomplexer Probleme. Dem Vorstand sind insoweit zahlreiche Einschätzungsprärogativen zuzuerkennen (Einschätzungsprärogativen). Die Evaluation der Änderung wie der Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie besteht in der Bewertung und Gewichtung der für und gegen die Änderung bzw. Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie sprechenden Gesichtspunkte und der abschließenden Entschließung darüber, ob die Änderung bzw. Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie dem Unternehmenswohl dient. Beide Evaluationen sind durch die Würdigung der vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte geprägt. Diese Würdigung kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im Unternehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Jede der beiden Evaluationen verlangt die Einschätzung eines unstrukturierten hoch75 Siehe dazu: Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 6f. und S. 27, 33; von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 493; Heermann ZIP 1998, S.761, 764f.; Semler, Überwachung, S. llOff., 117f.

A.

Ansatzpunkt

81

komplexen Problems. D e m Vorstand sind insoweit zwei Einschätzungsprärogativen zuzuerkennen (Evaluationseinschätzungsprärogativen). D i e Ermittlung der überlegenen Alternative besteht in der Bewertung und G e wichtung der für und gegen die Änderung wie die Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie sprechenden Gesichtspunkte im Verhältnis dieser Alternativen zueinander und der abschließenden Entschließung darüber, o b die Änderung oder die Beibehaltung der bisherigen Beteiligungsstruktur, Organisation oder Strategie dem Unternehmenswohl am besten dient. Sie ist ebenfalls durch die Würdigung der vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte geprägt. Diese Würdigung kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im U n t e r nehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. D i e Ermittlung der überlegenen Alternative verlangt die Einschätzung eines unstrukturierten h o c h k o m plexen Problems. D e m Vorstand ist insoweit eine Einschätzungsprärogative zuzuerkennen (Auswahleinschätzungsprärogative). D i e Analyse des Handlungsbedarfs ist damit weit schwieriger als im Planungsrecht, weil die Beurteilung der materiellen Planrechtfertigung überwiegend klar strukturierte (vorhersehbare und isolierbare) Probleme mit klar strukturierten (vorhersehbaren und isolierbaren) Konsequenzen aufwirft; eine Parallele liegt lediglich darin, daß die materielle Planrechtfertigung insoweit Einschätzungsprärogativen gewährt, als sie auf Prognosen über künftige Entwicklungen aufbaut. 7 6 bb)

Handlungsprogramm

D i e Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms erfordert die Bewältigung einer ganzen Reihe unstrukturierter hochkomplexer Probleme. D i e Regelung einer A k quisition neuer Tochtergesellschaften, einer tiefgreifenden Reorganisation oder eines strategischen Kurswechsels ist durch die Prüfung und Würdigung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie v o n Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten geprägt. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie überwiegend - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar oder bekannt sind. D i e Prüfung und Würdigung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte findet im R a h m e n der Generierung und Evaluation der einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel und im R a h m e n der Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen Maßnahmenbündels statt. D i e W ü r d i gung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte kann in allen Fällen

76

Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 36.

82

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im U n ternehmen und - schon aufgrund der unabdingbaren Selektion sowie der aufzulösenden Zielkonflikte - nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung u n d einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Die E n t w i c k lung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende A u s wahl eines Handlungsprogramms kann wegen der zwangsläufig u n v o l l k o m m e nen Einsicht in die Zusammenhänge einer derartigen Problemstellung nicht zu einem vollständig exakten (zwingend abgeleiteten und einzig richtigen) Ergebnis führen. Die Prüfung der vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte bezieht sich insbesondere auf Chancen und Risiken, A u f w a n d u n d Ertrag, Folgen für Marktstellung und Wettbewerbsposition sowie für Finanzkraft und Lage des Unternehmens und Konflikte zwischen primär unternehmensbezogenen Interessen und den Interessen der Anteilseigner. Sie sind - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar (oder bekannt). Die Prüfung der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Zielkonflikte verlangt daher die Einschätzung zahlreicher unstrukturierter hochkomplexer Probleme. Dem Vorstand sind insoweit zahlreiche Einschätzungsprärogativen zuzuerkennen (Ermessensprärogativen). Die Generierung und Evaluation der einzelnen infragekommenden M a ß n a h men/Maßnahmenbündel besteht in der Bewertung und Gewichtung der für u n d gegen die einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel sprechenden Gesichtspunkte und der abschließenden Entschließung darüber, ob die einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel dem Unternehmenswohl dienen. Sie ist durch die W ü r d i g u n g der vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte geprägt. Diese W ü r d i g u n g kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im U n ternehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Die Generierung und Evaluation der einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel verlangt die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems. Dem Vorstand sind insoweit mehrere Ermessensspielräume zuzuerkennen (Generierungs- und Evaluationsermessensspielräume). Die Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen M a ß n a h m e n b ü n dels besteht in der Bewertung und Gewichtung der für und gegen die einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel sprechenden Gesichtspunkte im Verhältnis der einzelnen infragekommenden Maßnahmen/Maßnahmenbündel zueinander und der abschließenden Entschließung darüber, welche Maßnahme/welches Maßnahmenbündel dem Unternehmenswohl am besten dient. Sie ist ebenfalls durch die W ü r d i g u n g der vernetzten Einflußfaktoren und

A.

Ansatzpunkt

83

ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie der Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und der Zielkonflikte geprägt. Diese Würdigung kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im Unternehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Die Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen Maßnahmenbündels verlangt die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems. Dem Vorstand ist insoweit ein Ermessensspielraum zuzuerkennen (Auswahlermessensspielraum). Die Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms ist damit weit schwieriger als im Planungsrecht. Dort müssen nur diejenigen privaten und öffentlichen Belange geprüft und gewürdigt werden, die nach der jeweiligen Ermessensvorschrift zu berücksichtigen sind. Diese Belange sind nicht nur in einem förmlichen Verfahren festzustellen, sie können in aller Regel auch mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Eine Parallele liegt lediglich darin, daß das Planungsermessen nach überwiegender Ansicht „gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Prognosespielräume" eröffnet, soweit es auf Prognosen über künftige Entwicklungen aufbaut („planungsspezifische Prognosen"). Die Begründung lautet, daß die „Berücksichtigung, Beurteilung, Abwägung und Wertung von zum Teil gleichlaufenden und/oder zum Teil gegenläufigen Belangen mit wesentlichem Bezug auch auf künftige Entwicklungen" für Planungen typisch ist. Die Kontrolle der planungsspezifischen Prognosen wird allerdings den Regeln über die Kontrolle von Einschätzungsprärogativen unterworfen. Es komme darauf an, ob „die Behörde bei ihrer Prognose von zutreffenden Abgrenzungen, Daten, Werten und Zahlen usw. ausgegangen ist, alle erreichbaren Daten berücksichtigt hat, sich einer wissenschaftlich vertretbaren Methode bedient und ihre Entscheidung in einer der Materie angemessenen und methodisch einwandfreien Weise erarbeitet hat" („sorgfältig erstellte, realistische Prognosen"). 7 7 4. Rechts vergleich Das Management hat mithin in typischen Problemsituationen bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung eine ganze Reihe unstrukturierter hochkomplexer Probleme einzuschätzen und bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis eine ganze Reihe unstrukturierter hochkomplexer Probleme zu bewältigen. Deshalb sind ihm im Rahmen der Handlungsvoraussetzung und im Rahmen der Handlungsbefugnis entsprechende Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume zuzuerkennen. Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Schlußfolgerung unausweislich: Wie im Verwaltungsrecht ist es denkbar, daß mehrere Handlungsvoraussetzungen ge77

Kopp/Schenke,

VwGO, § 114 Rdn. 34, 34b, 36a, 37, 37a.

84

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

geben sind, die zudem nicht alle und/oder nur im Hinblick auf bestimmte Faktoren Einschätzungsprärogativen einräumen, und/oder daß eine Handlungsbefugnis gegeben ist, die nur im Hinblick auf bestimmte Fragen Ermessensspielräume eröffnet. Mit Blick auf die Handlungsvoraussetzungen und die Handlungsbefugnis sind unstrukturierte hochkomplexe Probleme und klar strukturierte (vorhersehbare und isolierbare) Probleme mit klar strukturierten (vorhersehbaren und isolierbaren) Konsequenzen beliebig kombinierbar. Eine aktienrechtliche Befugnisnorm kann theoretisch umfassende Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume eröffnen. Sie kann aber auch nur in begrenztem Ausmaß Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume eröffnen. Dies belegt auch die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder. Denn der Bundesgerichtshof hat den dieser Entscheidung des Aufsichtsrats zugrundeliegenden §93 AktG nicht nur in mehrere Handlungsvoraussetzungen und eine Handlungsbefugnis aufgespalten, sondern auch dem Aufsichtsrat „allenfalls einen begrenzten Beurteilungsspielraum" und „in engen Grenzen ein Entscheidungsermessen" zugebilligt. 78 Die entscheidende und betriebswirtschaftlich abgesicherte Erkenntnis lautet mithin, daß der einfordbaren Entscheidungsqualität und damit auch dem Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des §93 AktG oder durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116,93 AktG inhärente Grenzen gesetzt sind, wenn der Vorstand/Aufsichtsrat bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen (Analyse des Handlungsbedarfs) und der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis (Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms) zumindest einem unstrukturierten hochkomplexen Problem gegenübersteht. Die Lage ist in diesen Fällen die gleiche wie im Verwaltungsrecht im Hinblick auf die besondere Eigenart der Einschätzungsbegriffe und des Ermessens: Informationsdefizite und Erkenntnisprobleme 79 führen dazu, daß die zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 AktG insbesondere berufenen Aufsichtsräte/Aktionäre (und damit auch die von ihnen in Anspruch genommenen Gerichte) die Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats in einem Kernbereich weder aufgrund eigener Sachkenntnis noch durch Heranziehung von Sachverständigen oder andere Beweismittel selbständig nachzuvollziehen, deshalb nicht zu widerlegen und also auch nicht zu überprüfen vermögen und daher an sachlogische und damit rechtslogische und letztlich funktionale Grenzen stoßen. Die Uberprüfung einer Entscheidung des 78 79

B G H ZIP 1997, S. 883, 886f. - ARAG/Garmenbeck. Eisenberg Der Konzern 2004, S. 386, 393; Schneider DB 2005, S. 707, 710.

A.

Ansatzpunkt

85

Vorstands/Aufsichtsrats kann wie die Überprüfung einer Einschätzung/Ermessensausübung der Verwaltung Erkenntnisprobleme aufwerfen, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist, und zwar mit der Konsequenz, daß die Entscheidung nicht überprüft, sondern nur ersetzt werden kann. Dies ist nicht die Aufgabe der zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 A k t G insbesondere berufenen Aufsichtsräte/Aktionäre. Sie sind mit diesen Kontrollrechten nicht zur originären Rechtsanwendung, sondern nur zur reagierenden Rechtskontrolle berufen. 80 Die der nach Art. 9 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich geschützten Verbandsautonomie immanente Pflicht zur Selbstkontrolle macht es nicht erforderlich, daß in den Fällen, in denen mehrere rechtlich vertretbare Entscheidungen existieren, die Auswahl letztverbindlich durch die zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung i m S i n n e d e s § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 9 3 A k t G insbesondere berufenen Aufsichtsräte/Aktionäre getroffen wird. Es würde vielmehr die verfassungsrechtlich vorgegebene Funktionentrennung zwischen Selbstverwaltung und Selbstkontrolle verletzen, müßten die Aufsichtsräte/Aktionäre es in diesen Grenzfällen im Lichte des Vorwurfs einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des § 93 AktG/der § § 1 1 6 , 9 3 A k t G nicht hinnehmen, daß der Vorstand/Aufsichtsrat eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, auch wenn sie selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätten/treffen würden. Die von den Aufsichtsräten/Aktionären (und den von ihnen in Anspruch genommenen Gerichten) zu klärende Frage kann dann nur lauten, ob der Vorstand/Aufsichtsrat eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird. D a dem Vorstand/Aufsichtsrat in diesen Fällen Entscheidungsfreiräume zustehen, hängt der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G davon ab, ob der Vorstand/Aufsichtsrat die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler vermieden hat und/oder vermeiden wird. Diese Betrachtungsweise liegt wenn auch nicht konzeptionell, so doch im Ergebnis auf der Linie von Wissenschaft und Praxis. So führt der Bundesgerichtshof aus: „Eine Kapitalerhöhung mit Sacheinlage ... braucht sich nicht bei rückblikkender Betrachtung als eine zur Erhaltung der Gesellschaft unbedingt gebotene, allein mögliche und darum absolut richtige Maßnahme zu erweisen. Abgesehen davon, daß sich eine solche Feststellung mit völliger Sicherheit kaum jemals treffen läßt, kann es nicht Aufgabe der Gerichte sein, die eigene wirtschaftliche Beurteilung nachträglich an die Stelle einer in freier unternehmerischer Verantwor-

80 Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Aufsichtsräte/Aktionäre auch bei einer pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG/durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§ 116,93 A k t G eingreifen dürfen. So kann der Aufsichtsrat einen sonstigen wichtigen Grund im Sinne des § 84 Abs. 3 A k t G geltend machen und können die Aktionäre nach § 103 A k t G Aufsichtsratsmitglieder auch aus anderen Gründen abberufen.

86

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

tung beschlossenen, sachlich abgewogenen Entscheidung zu setzen." 81 In der Literatur wird zudem auf die Problematik des „verzerrten Rückblicks" (hindsight bias) hingewiesen. Die Gerichte müssen die angegriffenen Entscheidungen ex ante beurteilen, tun dies jedoch in Kenntnis der mittlerweile eingetretenen Tatsachen. In der psychologischen Entscheidungsforschung hat sich herausgestellt, daß Menschen rückblickend die Möglichkeiten erheblich überschätzen, Ergebnisse ex ante vorauszusehen. Sie sehen das, was geschehen ist, als das an, was zwangsläufig geschehen mußte. Das Wissen um das Geschehene läßt im Nachhinein die Umstände, die auf den später tatsächlich eingetretenen Verlauf hingedeutet haben, bedeutsamer erscheinen als die Umstände, die auf einen anderen Verlauf hingewiesen haben. Die Figur des unternehmerischen Ermessens schütze davor, daß der Richter im Hinblick auf eine ex ante pflichtgemäße Entscheidung zu dem Fehlurteil verleitet werde, die Entscheidung sei pflichtwidrig gewesen. 82 5. Ergebnis Nach alledem ist durch Auslegung der einer Entscheidung zugrundeliegenden Befugnisnorm zu ermitteln, ob (und inwieweit) dem Vorstand/Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume zuzubilligen sind. Die entscheidende Frage lautet dabei, ob der Vorstand/Aufsichtsrat bei der Bestimmung der (für diesen Entscheidungstyp inhaltlich konkretisierten) Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen (Analyse des Handlungsbedarfs) zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen hat und/ oder bei der Wahrnehmung der (für diesen Entscheidungstyp inhaltlich konkretisierten) Handlungsbefugnis (Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms) zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen hat. Diese Auslegung zielt auf die Feststellung, ob es (insoweit) keine eindeutig richtige, sondern nur eine plausible und realistische Beurteilung der Erforderlichkeit/Gebotenheit eines Vorhabens (Handlungsrechtfertigung) und/oder ob es keine eindeutig richtige, sondern nur eine erfolgversprechende und sachgemäße Entschließung über das „ob" und „wie" der Realisierung des Vorhabens (Handlungsentschluß/ Handlungsinhalt) gibt. Bei der Frage nach Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats stellt sich mit Blick auf die Wahrnehmung des Überwachungsauftrags des § 111 Abs. 1 AktG allerdings ein besonderes Problem. Es beruht auf dem kongruenten Charakter der Überwachung. Jede Überwachung setzt einen Überwachungsgegenstand vor-

BGH BGHZ 71, S.40, 49f. - Kali + Salz. Fleischer ZIP 2004, S.685, 686; Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 393f.; Schneider 2005, S. 707, 708f. 81 82

DB

A.

Ansatzpunkt

87

aus. 83 Der Überwachungsauftrag des §111 Abs.l AktG bezieht sich auf die zu überwachenden Handlungen des Vorstands. Im Hinblick auf die Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats lautet die kritische Frage, ob die dem Vorstand zuzubilligenden Entscheidungsfreiräume dazu führen, daß dem Aufsichtsrat bei der Überwachung dieser Entscheidungen des Vorstands ebenfalls Entscheidungsfreiräume zuerkannt werden müssen. Dieser Befund macht deutlich, daß die Frage nach Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats nicht unabhängig von der Frage nach Entscheidungsfreiräumen des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats und von der Bestimmung der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG beantwortet werden kann.

83

Siehe dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 27,50 und Theisen, Unternehmensführung, S.5ff.,39ff„ 54ff.

B. Vorstand Der Aufsichtsrat hat nach den §§111 Abs. 1, 116, 93 Abs. 1 AktG die Geschäftsführung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu überwachen, und der Vorstand hat nach den §§76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG die Gesellschaft unter eigener Verantwortung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu leiten. Der Wortlaut dieser Vorschriften wirft die Frage auf, ob die Begriffe Geschäftsführung und Leitung trotz unterschiedlicher Wortwahl inhaltlich übereinstimmen, 1 ob die Leitung nur einen Ausschnitt der Geschäftsführung darstellt 2 oder ob die Geschäftsführung nur ein Ausschnitt der Leitung ist.3 Auch wenn im Schrifttum zu dieser Frage unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, 4 soll sie an dieser Stelle nicht vertieft werden. Es wird vielmehr davon ausgegangen, daß das Gesetz mit dem Leitungsauftrag des § 76 Abs. 1 AktG nichts anderes erfassen will als die Geschäftsführungsaufgabe im Sinne des Uberwachungsauftrags des § 111 Abs. 1 AktG. 5 Unabhängig von dem Auslegungsstreit herrscht breite Einigkeit darüber, daß der Aufsichtsrat nicht alles, was im Unternehmen geschieht oder nicht geschieht, 6 und erst recht nicht in allen Einzelheiten 7 zu überwachen hat. Der Überwachungsbereich des Aufsichtsrats ist ausgehend von dem Aufgabenbereich, der dem Vorstand nach § 76 Abs. 1 AktG zugewiesen ist, unter Rückgriff auf die Berichtspflichten des Vorstands und des Abschlußprüfers sowie die Informationsbeschaffungsrechte des Aufsichtsrats zu bestimmen. Alles das, aber auch nur das, was der Vorstand zumindest auf Verlangen des Aufsichtsrats (§§ 90 Abs. 1, 90 Abs. 3,170 Abs. 1 und Abs. 2, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG 8 ; unternehmens1

Semler, Überwachung, S. 8. Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn. 12; Mutter, Entscheidungen, S.32; zustimmend Abeltshauser, Leitungshaftung, S.28f., anders dann aber auf S.29f., 32f., wo er die Leitung wohl mit der Geschäftsführung gleichsetzt. 3 Theisen, Unternehmensführung, S.48. 4 Vgl. nur die Darstellung und die Nachweise bei Semler, Überwachung, S. 5 ff. und Mutter, Entscheidungen, S.30ff. sowie Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn. 4. 5 Semler, Überwachung, S. 8; vgl. auch Theisen, Unternehmensführung, S. 47. 6 Semler, Überwachung, S. 61; vgl. auch Mutter, Entscheidungen, S.31. 7 Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn. 12. 8 Die dem § 170 Abs. 1 AktG zugrundeliegenden Vorschriften über den Abschluß und den Lagebericht standen im Zentrum der Reformbemühungen. Hervorzuheben sind an dieser Stelle nur die Risikoorientierung in Lagebericht und Anhang (Art. 2 Nr. 3 und Nr. 5 KonTraG 4/1998 und Art. 1 Nr. 9 und Nr. 19 bzw. Nr. 5 und Nr. 18 BilReG 12/2004), die Internationalisierung des 1

B. Vorstand

89

interne Informationsordnung) und was der Abschlußprüfer dem Aufsichtsrat zu berichten hat (§ 321 H G B 9 ) sowie was der Aufsichtsrat vermittels pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Informationsbeschaffungsrechte ( § § 1 0 9 Abs. 1 Satz 2, 111 A b s . 2 Satz 1 und Satz 2 , 1 7 1 Abs. 1 Satz 2, 314 A b s . 4 A k t G 1 0 ) erfahren kann und aufgrund seines informellen Informationsnetzes tatsächlich erfährt, m u ß der Aufsichtsrat auch überwachen. 1 1 Dies gilt unabhängig davon, o b und inwieweit der Vorstand die im konkreten Fall fragliche M a ß n a h m e selbst vorgenommen hat oder zur Erledigung auf die nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen delegiert hat, denn die Berichtspflicht und die Verantwortung liegen in jedem Fall beim Vorstand. 1 2 Konzernabschlusses durch §292a HGB (Art. 1 Nr.4 KapAEG 4/1998; Art. 1 Nr. 10 KapCoRiLiG 2/2000; aufgehoben durch Art.l Nr. 11 BilReG 12/2004) und §315 a HGB (eingeführt durch Art. 1 Nr. 20 BilReG 12/2004), die Erweiterung des Konzernabschlusses durch Ergänzung des §297 Abs. 1 HGB (Art.2 Nr.4 KonTraG 4/1998; Art.2 Nr.4 TransPuG 7/2002; Art. 1 Nr. 15 BilReG 12/2004) und die Möglichkeit, statt des Jahresabschlusses einen nach Maßgabe des § 315a HGB aufgestellten und mit einem dem Bestätigungsvermerk entsprechenden Vermerk versehenen Einzelabschluß offenzulegen (Art.l Nr.28 und 29 BilReG 12/2004). §170 Abs.l Satz 2 AktG ist durch das Bilanzrechtsreformgesetz dementsprechend erneut (Art. 1 Nr. 24a KonTraG 4/1998 und Art. 1 Nr. 17 TransPuG 7/2002) geändert worden; Art.4 Nr.2 BilReG 12/2004. 9 Siehe dazu auch Ziff. 7.2.3 des Deutschen Kodex. § 321 HGB stand im Zentrum der Reformbemühungen. Er wurde durch das Kontroll- und Transparenzgesetz neu gefaßt; Art. 2 Nr. 9 KonTraG 4/1998. Durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz wurden §321 Abs. 1 Satz 3 und Abs.2 Satz 1 HGB geändert, die Aufgliederungs- und Erläuterungspflicht nach §321 Abs.2 HGB konkretisiert und in §321 Abs.2 HGB die Verpflichtung aufgenommen, auch über Beanstandungen zu berichten, die nicht zur Einschränkung oder Versagung des Bestätigungsvermerks geführt haben, aber für die Überwachung von Bedeutung sind; Art. 2 Nr. 21 TransPuG 7/2002. Durch das Bilanzrechtsreformgesetz ist §321 Abs.2 Satz 3 HGB erneut geändert und §321 Abs. 3 HGB dahin erweitert worden, daß auch auf die angewandten Rechnungslegungsund Prüfungsgrundsätze einzugehen ist; Art 1 Nr. 25 BilReG 12/2004. Zudem ist er durch § 321a HGB ergänzt worden, der eine Offenlegung der Prüfungsberichts in besonderen Fällen gegenüber Gläubigern und Gesellschaftern vorsieht und dem Abschlußprüfer die Erläuterung des Prüfungsberichts ihnen gegenüber gestattet; Art 1 Nr. 26 BilReG 12/2004. 10 § 171 ist durch das Bilanzrechtsreformgesetz ein neuer Absatz 4 angefügt worden: „Die Absätze 1 bis 3 gelten auch hinsichtlich eines Einzelabschlusses nach § 325 Abs. 2a des Handelsgesetzbuchs. Der Vorstand darf den in Satz 1 genannten Abschluß erst nach dessen Billigung durch den Aufsichtsrat offenlegen"; Art.4 Nr.3 BilReG 12/2004. 11 Siehe zu § 90 AktG Semler, Überwachung, S. 61 ff., 66ff.; zu den §§ 90,111 Abs. 2 Satz 1,170 Abs.l Satz 1, 314 Abs.l Satz 1 AktG und dem informellen Informationssystem Mutter, Entscheidungen, S. 37ff.; zu § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG und zur Abschlußprüfung Roth AG 2004, S. 1, 7f., 8; zur Informationsordnung Dreher, Corporate Governance, S.33, 52ff. und Ziff. 3.4 des Deutschen Kodex sowie Ziff. II.2.2 und II.2.3 des Berliner Kodex. Siehe zu dem gesamten Problemkreis auch Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 12. 12 Semler, Überwachung, S. 17ff., 66ff.; Mutter, Entscheidungen, S. 33ff. Der Streit, ob und inwieweit der Aufsichtsrat einzelne Vorstandsmitglieder, leitende Angestellte oder sonstige Mitarbeiter überwachen darf oder muß (siehe dazu jüngst Roth AG 2004, S. 1,2, 5f., 8f., 9f.), soll hier nicht vertieft werden. Es wird davon ausgegangen, daß diese Frage zu verneinen ist, weil dem Aufsichtsrat insoweit vor allem die Grundlagen für eine Überwachung fehlen. Im Falle der Delegation bezieht sich die Berichtspflicht (zunächst) auf die konkrete Maßnahme. Die Verantwortung des Vorstands beruht aber nicht auf der Zurechnung von Fehlern der einzelnen Vorstands-

90

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

I. Die Führungsaufgabe

Aufsichtsrats

des Vorstands

Den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Uberwachungsbereichs des Aufsichtsrats bildet der Aufgabenbereich, der dem Vorstand nach § 7 6 Abs. 1 A k t G zugewiesen ist, und damit die Führungsaufgabe des Vorstands. 13 In den Aufgabenbereich des Vorstands fallen damit alle Maßnahmen, grundlegende Vorhaben und laufende Tagesgeschäfte, die zur erfolgreichen, am Unternehmensgegenstand und den in der Satzung zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen orientierten Entwicklung des Unternehmens notwendig sind, soweit sie nicht aufgrund der gesetzlichen Kompetenzordnung dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung zugewiesen sind. 14 Das ist unabhängig davon, ob und inwieweit der Vorstand diese Maßnahmen selbst vornimmt und vornehmen muß oder zur Erledigung auf die nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen delegiert und delegieren darf. 15 Im Fall eines größeren, komplexen und arbeitsteilig organisierten Unternehmens muß der Vorstand allerdings diejenigen zentralen Leitungs- und Uberwachungsaufgaben selbst wahrnehmen, die dem Vorstand eines solchen Unternehmens nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnis normalerweise und typischerweise obliegen: Der Vorstand muß durch Festlegung der unternehmensinternen Rahmendaten die Richtung der Unternehmensaktivitäten vorgeben und das U n ternehmen in juristischer und betriebswirtschaftlicher Hinsicht so organisieren, daß die Entwicklung und die unternehmensinterne Umsetzung seiner Vorgaben unterstützt werden, insbesondere ein internes Steuerungs- und Überwachungssystem einrichten (strategische und unternehmensorganisatorische Entscheidungen des Vorstands). E r muß die gesetzten unternehmensinternen Rahmendaten selbst durch einzelfallbezogene Festlegungen ausfüllen, wenn und soweit das betreffende operative Problem im Zuge des laufenden Tagesgeschäfts nicht steuermitglieder, leitenden Angestellten oder sonstigen Mitarbeiter, sondern auf seinen eigenen - zumeist organisatorischen - Versäumnissen, die diese Fehler ermöglicht haben. Daher muß der Aufsichtsrat einen besonderen Bericht nach § 90 Abs. 3 AktG anfordern, um festzustellen, ob der Vorstand die ihm insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat, und um gegebenenfalls eine Mängelbeseitigung zu erreichen; siehe dazu nur Semler und Mutter aaO. 13 Siehe dazu jüngst Fleischer ZIP 2003, S. 1, 1 ff., 3, 4ff. 14 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 32f.; Semler, Überwachung, S. 8ff., 13ff. Die Zielentscheidungen des Vorstands spielen in der rechtswissenschaftlichen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle. Sie beziehen sich auf das Formalziel des Unternehmens (den Zweck der Gesellschaft), etwa Gewinnerzielung, und nicht auf das Sachziel des Unternehmens (Unternehmensgegenstand), etwa Herstellung und Vertrieb von Kraftfahrzeugen, mit dessen Hilfe das Formalziel erreicht werden soll; vgl. dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 44ff. Im übrigen ist das Formalziel typischerweise die langfristige Wertschöpfung und nachhaltige Steigerung des Unternehmenswerts; vgl. dazu Ziff. 1.2 des Berliner Kodex und Ziff. I des Frankfurter Kodex. Die Konkretisierung dieses Unternehmensziels durch den Vorstand fällt in den Bereich der strategischen Entscheidungen, da sie „durch die Festlegung der grundlegenden Strategien zur Zielerreichung" erfolgt, siehe dazu Ziff. III.2.2 des Berliner Kodex. 15 Siehe dazu jüngst Fleischer ZIP 2003, S. 1, 1 ff., 3, 7ff.

B. Vorstand

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bar ist (operative Entscheidungen des Vorstands). D e r Vorstand muß weiter die Vorbereitung und Ausführung der von ihm getroffenen Entscheidungen durch die Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen (insbesondere die konkretisierenden Planungs- und Detailentscheidungen) und ihren Erfolg überwachen. Dasselbe gilt für die unternehmensorganisatorischen und operativen Entscheidungen der Funktionsträger auf den nachgelagerten F ü h rungs-/Hierarchieebenen sowie ihre Vorbereitung, ihre Ausführung und ihren Erfolg. E r m u ß dazu insbesondere das interne Steuerungs- und Überwachungssystem einsetzen und Stichprobenkontrollen durchführen, um die Funktionsfähigkeit des Systems und die Verläßlichkeit der Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen zu kontrollieren. 1 6 D e r Vorstand muß zudem seine eigene Tätigkeit so organisieren, daß er die genannten Aufgaben optimal wahrnehmen und mit dem Aufsichtsrat effizient zusammenarbeiten kann (selbstorganisatorische Entscheidungen des Vorstands). D e r Vorstand m u ß den Erfolg dieser Entscheidungen und die eigenständige Tätigkeit der Vorstandsausschüsse überwachen. Jedes Vorstandsmitglied m u ß die Tätigkeit der ihm zugeordneten Stabsstellen und der jeweils anderen Ressortleiter sowie der ihnen zugeordneten Stabsstellen überwachen. 1 7 D e r Vorstand soll schließlich regelmäßig eine Selbstevaluation durchführen. 1. Strategische E n t s c h e i d u n g e n D e r Vorstand m u ß mit den strategischen Entscheidungen die groben M a ß n a h menkategorien vorgeben, aus denen im operativen Tagesgeschäft die zielbezogenen Detailhandlungen abzuleiten sind. Die Geschäftsfeldstrategie legt fest, auf welchen Geschäftsfeldern das Unternehmen tätig werden soll. Sie werden jeweils durch die Art der angebotenen Problemlösungen und des anvisierten Käufersegments definiert. D i e Geostrategie bestimmt die Standorte und die räumliche Reichweite der Unternehmensaktivitäten. E s geht um die Entscheidung, welche der geschäftsfeldstrategisch vorgezeichneten Aufgaben (etwa Produktions- und Absatzaufgaben) in welchen Regionen bzw. an welchen Standorten anzusiedeln sind. D i e Wettbewerbsstrategien heben die besonderen Stärken hervor, mit denen sich das U n t e r n e h m e n auf dem jeweiligen Geschäftsfeld profilieren will (etwa relativ günstige Kostensituation oder ausgeprägte Kundennähe). Funktionalstrate-

16 Vgl. dazu: Ziff. III.2 des Berliner Kodex; von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 43 ff.; Theisen, Unternehmensführung, S.49ff., 56ff.; Potthoff, Geschäftsführung, S. 15f., 71 ff., 155ff.; Götz AG 1995, S.337, 338f.; Semler, Überwachung, S. 17ff., 66ff.; Mutter, Entscheidungen, S.33ff.; Fleischer ZIP 2003, S. 1, 5f. 17 Vgl. dazu: Ziff. III.3.2-3.5 des Berliner Kodex; von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 60ff.; Potthoff, Geschäftsführung, S. 14,41 ff., 48ff.; Götz AG 1995, S. 337,338f.; Mertens, Kölner Kommentar, §77 Rdn. 12ff., 15ff., 39f.

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2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

gien legen die Grundlinien der operativen Entscheidungen entlang der wesentlichen Teilfunktionen eines Unternehmens fest. 18 Zu den strategischen Entscheidungen gehören mithin insbesondere Entscheidungen über Zielkonzeption und Geschäftspolitik (insbesondere über Investitions-, Forschungs-, Entwicklungs-, Beschaffungs-, Produktions- und Lieferprogramme, über Produktionsstätten und Vertriebswege, über Finanzierung und Personalwesen sowie Verwaltung, über Akquisitionen oder Veräußerungen von Tochtergesellschaften, über den Einsatz eigener Mitarbeiter oder die Inanspruchnahme von Fremdleistungen bei notwendigen Erweiterungen, über Rationalisierungsmaßnahmen sowie über langfristige und umfangreiche Liefer- und Abnahmeverträge). 19 2. Operative Entscheidungen Der Vorstand muß mit den operativen Entscheidungen Probleme im Zuge des laufenden Tagesgeschäfts regeln, die nicht vorhersehbar sind und aufgrund ihres Konfliktgehalts den Funktionsträgern auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchiebenen nicht überlassen werden können. Dazu zählen insbesondere Entscheidungen über die Besetzung wichtiger Führungspositionen oder Koordinationsentscheidungen zur Abstimmung interdependenter Aktivitäten verschiedener Unternehmensbereiche. Die operativen Entscheidungen der Funktionsträger auf den nachgelagerten Hierarchieebenen betreffen dagegen die gewöhnliche Wahrnehmung des laufenden Tagesgeschäfts, insbesondere die übliche Abwicklung der Güter-, Leistungs- und Geldströme im Unternehmen. 2 0 3. Unternehmensorganisatorische Entscheidungen Der Vorstand muß mit den unternehmensorganisatorischen Entscheidungen das Unternehmen in juristischer und betriebswirtschaftlicher Hinsicht so organisieren, daß die Entwicklung und die unternehmensinterne Umsetzung seiner Vorgaben unterstützt werden. E r muß die gesellschafts- und konzernrechtlichen Merkmale bestimmen und die Aufbau- und Ablauforganisation festlegen, um die Kompetenzen und Kommunikationsbeziehungen der Organisationseinheiten sowie die raum-zeitliche Abfolge der Arbeitsprozesse zu regeln (etwa Aufgabenund Abteilungsgliederung, Leitungssystem und Führungsmodell). 21 E r muß eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur schaffen und dazu InformationssyVon Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 46f. Diese Entscheidungen werden auch als strukturbestimmende Entscheidungen bezeichnet: Potthoff, Geschäftsführung, S. 16, 155ff.; Semler, Überwachung, S. 44; Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn.4f. 20 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 49f.; Semler, Überwachung, S. 13. 21 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 27, 48f.; Potthoff, Geschäftsführung, S. 94ff. 18

19

B.

Vorstand

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steme einrichten und weiterentwickeln, insbesondere ein Planungssystem und ein internes Steuerungs- und Uberwachungssystem (einschließlich Rechnungswesen, interner Kontrolle, Innenrevision, Risikomanagement und Controlling). 22 Die unternehmensorganisatorischen Entscheidungen der auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen tätigen Funktionsträger betreffen dagegen die gewöhnlichen Fragen der festgelegten Aufbau- und Ablauforganisation und der eingerichteten Informationssysteme, die sich im Zuge der üblichen Arbeitsabläufe stellen. 4. Selbstorganisatorische Entscheidungen Der Vorstand muß schließlich mit den selbstorganisatorischen Entscheidungen die Voraussetzungen für die Wahrnehmung seiner Aufgaben schaffen, insbesondere die innere Ordnung des Vorstands und die Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat regeln. Er muß über die Ressortgliederung und die Befugnisse der Ressortleiter, die Einrichtung und Zuordnung von Stabsstellen sowie die Bildung und Besetzung von Vorstandsausschüssen entscheiden (selbstorganisatorische Entscheidungen des Vorstands). Der Vorstand regelt (zumeist in einem Teil der Geschäftsordnung oder in einem Anhang zur Geschäftsordnung) die horizontale Aufgabenverteilung nach technischen und kaufmännischen Funktionsbereichen und/oder Objekten (Produkte, Produktgruppen, Käufergruppen und/oder Regionen) und das Zusammenwirken der für Funktionsbereiche und der für Geschäftsbereiche zuständigen Vorstandsmitglieder. Er legt fest, ob die einzelnen Vorstandsmitglieder in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen eigene Entscheidungsbefugnisse außerhalb des Gesamtorgans (bereichsbezogene Entscheidungsbefugnisse) haben sollen (Ressortgliederung; Geschäftsverteilungsplan). Der Vorstand regelt (zumeist in einem Teil der Geschäftsordnung oder in einem Anhang zur Geschäftsordnung), ob und inwieweit er der Entlastung durch Stabsstellen bedarf, um Entscheidungen informatorisch und beratend vorzubereiten oder zu konkretisieren und auszuführen (ausführen zu lassen). Die gegebenenfalls einzurichtenden Stabsstellen müssen im Rahmen der Ressortverteilung zugeordnet und gegliedert werden (persönliche Stäbe, etwa Assistenten der Vorstandsmitglieder, und/oder Fachstäbe, etwa für Planung oder Betriebswirtschaft). Dabei ist anzumerken, daß Fachstäbe, die typische Querschnittsaufgaben erfüllen (etwa Organisation, Recht, Innenrevision und Controlling), auch für Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen tätig sind und in zentrale und nachgelagerte Stabsstellen untergliedert werden müssen. 23 22 Vgl. dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 49, 51 und Potthoff, Geschäftsführung, S.73ff., 12 8 ff. 23 Vgl. dazu: Ziff. III.3.2-3.5 des Berliner Kodex; von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 60ff.; Potthoff, Geschäftsführung, S.14, 41ff., 48ff., 68; Götz A G 1995, S.337, 338f.; Mertens, Kölner Kommentar, § 7 7 Rdn. 12ff., 15ff., 39f.

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2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

5. Internes Steuerungs- und U b e r w a c h u n g s s y s t e m Unter den zentralen Leitungs- und Überwachungsaufgaben haben die sich um das interne Steuerungs- und Uberwachungssystem und insbesondere das Risikomanagement rankenden Aufgaben in der Diskussion um die Verbesserung der Arbeit von Vorständen und Aufsichtsräten im Zuge des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich eine besondere Bedeutung gehabt (vgl. §91 Abs. 2 A k t G , §§317 Abs. 4, 321 Abs. 4 H G B ) . Diese Informationssysteme erfordern unternehmensorganisatorische Entscheidungen des Vorstands, soweit die Einrichtung und Weiterentwicklung der Systeme betroffen ist, und selbstorganisatorische Entscheidungen des Vorstands, soweit es um ihre Zuordnung im Rahmen der Ressortverteilung geht. Die dem Vorstand zur Verfügung gestellten Informationen sind nicht nur Grundlage der Unternehmensplanung und Unternehmenssteuerung, sondern auch Grundlage der Erfolgskontrolle, dienen mithin sowohl der Leitung als auch der Überwachung durch den Vorstand. 24 Die interne Kontrolle muß gewährleisten, daß alle Vorgänge erfaßt und überprüft, die gewonnenen Informationen aufbereitet und den zuständigen Verantwortlichen zugeleitet werden; dazu gehört auch die sorgfältige Auswahl, Anleitung und Beaufsichtigung derjenigen Personen, die die Kontrollaufgaben wahrnehmen. Soweit die interne Kontrolle auf das Rechnungswesen bezogen ist, fällt sie in die Verantwortung des Finanzvorstands, soweit sie auf die übrigen Funktionen, die im Unternehmen ausgeführt werden, bezogen ist, fällt sie in die Verantwortung der für die jeweiligen zugehörigen Ressorts zuständigen Vorstandsmitglieder. Jedes Vorstandsmitglied trägt mithin die Verantwortung dafür, daß in seinem Ressort eine leistungsfähige interne Kontrolle besteht; es hat die ihm unterstellten Mitarbeiter mit Blick auf die Kontrollaufgaben zu instruieren und zu überwachen. Dabei folgt allerdings aus der Gesamtverantwortung des Vorstands, daß sich jedes Vorstandsmitglied auch davon überzeugen muß, daß in den Nachbarressorts leistungsfähige interne Kontrollen bestehen, die Führungspositionen in diesem Bereich kompetent besetzt sind und die internen Kontrollen unbeeinflußt und unbehindert arbeiten können. 2 5

24 Vgl. dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 49, 51 und Potthoff Geschäftsführung, S. 73ff., 128ff. der auf S. 73f. darauf hinweist, daß das Rechnungswesen im Idealfall eine getreue quantitative und wertmäßige Abbildung des Unternehmens ist. Die Dokumentationsrechnung diene dazu, alle benötigten Informationen zu sammeln, zu ordnen und aufzubereiten (Buchführung und Jahresabschlußrechnung, Kosten- und Erlösrechnung), die Planungsrechnung der betrieblichen Steuerung durch Vorgabe von Zielgrößen, die Erfolgsrechnung der Kontrolle und die Kontrollrechnung der Analyse von Soll-Ist-Abweichungen zwecks künftiger Gestaltung von Zielvorgaben. 25 O L G Köln A G 2001, S.363, 364; Götz A G 1995, S.337, 338, 339; Lück D B 1998, S.8, 10; Potthoff, Geschäftsführung, S. 128ff.; Mertens, Kölner Kommentar, §77 Rdn.20.

B.

Vorstand

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Das Risikomanagement muß eine systematische Identifikation, Analyse, Bewertung und Steuerung der unternehmerischen Risiken aufgrund einer Risikostrategie gewährleisten. Da Risiken grundsätzlich in allen Unternehmensbereichen auftreten können, müssen sämtliche betrieblichen Prozesse und Funktionen einschließlich aller Hierarchiestufen und Stabsfunktionen als Risikofelder erfaßt werden. Aufgrund des engen Sachzusammenhangs zwischen Risikofeldern und Ressortzuständigkeiten (etwa zwischen Kreditmanagement und Kreditrisikomanagement) fällt das Risikomanagement insoweit in die Verantwortung jedes für ein Ressort zuständigen Vorstandsmitglieds, als es um die ressortzugehörigen Risikofelder geht. Jedes Vorstandsmitglied trägt mithin die Verantwortung dafür, daß in seinem Ressort ein leistungsfähiges Risikomanagement einschließlich der darauf bezogenen internen Kontrolle besteht; es hat die ihm unterstellten Mitarbeiter mit Blick auf die Risikomanagement- und Kontrollaufgaben zu instruieren und zu überwachen. Jedes Vorstandsmitglied muß sich überdies davon überzeugen, daß in jedem Nachbarressort ein leistungsfähiges Risikomanagement einschließlich der darauf bezogenen internen Kontrolle besteht, die Führungspositionen in diesem Bereich kompetent besetzt sind und das Risikomanagement einschließlich der darauf bezogenen internen Kontrolle unbeeinflußt und unbehindert arbeiten kann. 26 Die Innenrevision ist für die ordnungsorientierte Überwachung zuständig. Zu ihren Aufgaben zählen Prüfungen im Bereich des Finanz- und Rechnungswesens (Financial Auditing), Prüfungen im organisatorischen Bereich (Operational Auditing), Prüfungen der Managementleistungen (Management Auditing) und insbesondere Systemprüfungen der Planungs- und (sonstigen) Informationssysteme, aber auch Beratung, Begutachtung und Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen (Internal Consulting). Die Innenrevision ist eine selbständige Stabsabteilung mit eigenem Vorstand, weil sie unabhängig sein muß. Die anderen Vorstandsmitglieder müssen sich über die Prüfungsschwerpunkte und Prüfungsergebnisse der Innenrevision informieren und sich davon überzeugen, daß eine leistungsfähige Innenrevision besteht, die Führungspositionen in diesem Bereich kompetent besetzt sind und die Innenrevision unbeeinflußt und unbehindert arbeiten kann. 27 Das Controlling ist für die zielorientierte Koordinierung der Planung und Kontrolle mit der Informationsversorgung zwecks sachgerechter und zielorientierter Unternehmensplanung und Unternehmenssteuerung zuständig. Es sorgt für einen zeitnahen und zuverlässigen Fluß von aufbereiteten Informationen über alle Geschäftsvorfälle mit Darstellung ihrer ergebnismäßigen und finanzwirt26 Vgl. dazu: Ziff. 7f. des I D W PS 340; L G Berlin A G 2002, S. 682, 683f. - H y p o t h e k e n b a n k u n d dazu Preußner/Zimmermann A G 2002, S . 6 5 7 , 6 6 1 f.; O L G Köln A G 2001, S. 363,364; Mertens, Kölner Kommentar, § 7 7 R d n . 2 0 . 27 Götz A G 1995, S.337, 338; Pottboff, Geschäftsführung, S.128ff.; Lück D B 1998, S.8, 10; Mertens, Kölner Kommentar, § 77 Rdn. 20.

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2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

schaftlichen Auswirkungen zu den Entscheidungsträgern, damit sie das Unternehmen zielorientiert an Umweltänderungen anpassen und die dazu erforderlichen Steuerungsmaßnahmen treffen können. Das Controlling ist wie die Innenrevision eine selbständige Stabsabteilung mit eigenem Vorstand, weil es ebenfalls unabhängig sein muß. Die anderen Vorstandsmitglieder müssen sich davon überzeugen, daß ein leistungsfähiges Controlling besteht, die Führungspositionen in diesem Bereich kompetent besetzt sind, die Controllingabteilung unbeeinflußt und unbehindert arbeiten kann und die relevanten Daten vollständig, zuverlässig, zeitnah und managementgerecht aufbereitet werden. 28

II. Der Überwachungsbereich

des

Aufsichtsrats

Ausgehend von dem Aufgabenbereich, der dem Vorstand nach § 76 Abs. 1 AktG zugewiesen ist, wird der Überwachungsbereich des Aufsichtsrats unter Rückgriff auf die Berichtspflichten des Vorstands und des Abschlußprüfers sowie die Informationsbeschaffungsrechte des Aufsichtsrats bestimmt. 1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des §90 AktG Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG ist über die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung (insbesondere die Finanz-, Investitions- und Personalplanung) zu berichten, wobei auf Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung von früher berichteten Zielen unter Angabe von Gründen einzugehen ist. Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 AktG ist über die Rentabilität der Gesellschaft und insbesondere die Rentabilität des Eigenkapitals, den Gang der Geschäfte und insbesondere den Umsatz sowie die Lage der Gesellschaft, nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG über Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sein können, zu berichten. Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 AktG erstrecken sich diese Berichtspflichten auch auf Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen, wenn die Gesellschaft ein Mutterunternehmen im Sinne von §290 HGB ist. Nach §90 Abs. 1 Satz 3 AktG ist aus sonstigen wichtigen Anlässen, insbesondere über dem Vorstand bekanntgewordene geschäftliche Vorgänge bei verbundenen Unternehmen, die erheblichen Einfluß auf die Lage der Gesellschaft haben können, zu berichten; es handelt sich dabei um nach § 90 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AktG nicht berichtspflichtige Vorgänge.29 28 Götz AG 1995, S.337, 338, 347; Lück BB 1998, S.8,10f.; Potthoff Geschäftsführung, S.76, 129; Mertens, Kölner Kommentar, §77 Rdn.20. 29 §90 AktG hat im Zentrum der Reformbemühungen gestanden. Durch das Kontroll- und Transparenzgesetz wurde der Terminus „künftige Geschäftsführung" durch den Terminus „Unternehmensplanung" ersetzt und mit dem Klammerzusatz konkretisiert; Art. 1 Nr. 8 KonTraG

B.

Vorstand

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D e r Ü b e r w a c h u n g s b e r e i c h des A u f s i c h t s r a t s e r f a ß t d e m n a c h die u n t e r q u a l i t a t i v e n G e s i c h t s p u n k t e n n i c h t d e l e g i e r b a r e n A u f g a b e n des V o r s t a n d s . D a z u z ä h l e n die g r u n d l e g e n d e n E n t s c h e i d u n g e n ü b e r Z i e l k o n z e p t i o n , O r g a n i s a t i o n ,

Füh-

rungsgrundsätze,

For-

Geschäftspolitik

(insbesondere

über

Investitions-,

schungs-, Entwicklungs-, Beschaffungs-, Produktions- und

Lieferprogramme,

über Produktionsstätten und Vertriebswege, über Finanzierung und Personalwesen sowie Verwaltung, über Akquisitionen oder Veräußerungen v o n Tochterges e l l s c h a f t e n , ü b e r d e n E i n s a t z e i g e n e r M i t a r b e i t e r o d e r die I n a n s p r u c h n a h m e v o n Fremdleistungen bei notwendigen Erweiterungen, über Rationalisierungsmaßn a h m e n sowie ü b e r langfristige u n d umfangreiche Liefer- u n d A b n a h m e v e r t r ä g e ) u n d ü b e r die B e s e t z u n g d e r d e m V o r s t a n d u n m i t t e l b a r n a c h g e o r d n e t e n rungs-/Hierarchieebene

s o w i e die s o n s t i g e n E n t s c h e i d u n g e n m i t

Füh-

besonderer

T r a g w e i t e f ü r die V e r m ö g e n s - , F i n a n z - , E r t r a g s - u n d B e s c h ä f t i g u n g s l a g e o d e r die m i t t e l - o d e r l a n g f r i s t i g e E n t w i c k l u n g des U n t e r n e h m e n s . 3 0 4/1998. Diese Neuregelung sollte klarstellenden Charakter haben und die besondere Bedeutung der Aufsichtsratstätigkeit hinsichtlich der Unternehmensplanung unterstreichen; Begründung zu Art. 1 Nr. 6 RegE KonTraG 11/1997. Siehe dazu die Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins, wonach es keine gesetzliche Pflicht des Vorstands gibt, eine Mehrjahresplanung oder gar eine ausgearbeitete langfristige strategische Planung auszuarbeiten und dem Aufsichtsrat vorzulegen; ZIP 1997, S. 163, 164. Durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz wurde aufgenommen, daß auch auf Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung von früher berichteten Zielen unter Angabe von Gründen einzugehen ist (§90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG), die Regelberichterstattung nach §90 Abs. 1 Satz 1 AktG wurde bei Mutterunternehmen (§290 Abs. 1 und Abs. 2 H G B ) auf Tochterunternehmen und Gemeinschaftsunternehmen (§310 Abs. 1 H G B ) erstreckt (§90 Abs. 1 Satz 2 AktG), es wurde geregelt, daß die Berichte nach § 9 0 Abs. 1 und Abs. 3 AktG möglichst rechtzeitig und mit Ausnahme des Berichts nach § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG in der Regel schriftlich zu erstatten sind (§90 Abs. 4 Satz 2 AktG), das in den §§90 Abs. 3 Satz 2, 110 Abs. 2 AktG enthaltene Erfordernis, daß sich ein weiteres Aufsichtsratsmitglied dem Berichts- bzw. Einberufungsbegehren anschließen muß, wurde gestrichen; Art. 1 Nr. 5, 8a TransPuG 7/2002 und dazu Begründung zu Art. 1 Nr. 5, 8a RegE TransPuG 2/2002 sowie Kommissionsbericht Rdn.24, 21, 25f., 27, 30f. 30 Semler, Überwachung, S.lOf., 11 f., 13ff., 43ff., 17ff., 66ff. und insbesondere S.61ff., wonach mit §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1-3 AktG die Unternehmensplanung, die Unternehmenskoordinierung (Organisation und Abstimmung) und die Unternehmenskontrolle, mit § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 A k t G auch Geschäfte mit besonderer wirtschaftlicher Tragweite für das Unternehmen und mit § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG auch Änderungen in der Besetzung der dem Vorstand unmittelbar nachgeordneten Führungs-/Hierarchieebene erfaßt werden. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, Änderungen in der Selbstorganisation des Vorstands ebenfalls dem §90 Abs. 1 Satz 3 AktG zuzuordnen; vgl. auch Mertens, Kölner Kommentar, § 90 Rdn. 39, § 111 Rdn. 12, der ernsthafte Störungen der Zusammenarbeit im Vorstand der Berichtspflicht des § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG unterwerfen will, und der betont, der Aufsichtsrat müsse sich davon überzeugen, daß die Vorstandsmitglieder sachgerecht zusammenarbeiten. Denkbar ist allerdings auch ein Umkehrschluß: Wenn der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung für den Vorstand erlassen darf, muß er erst recht eine vom Vorstand erlassene Geschäftsordnung überwachen dürfen. Wenn der Aufsichtsrat auf die Zusammensetzung des Vorstands einwirken darf, muß er erst recht auf die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder einwirken dürfen. Dies hätte zur Konsequenz, daß der Vorstand die von ihm erlassene Geschäftsordnung dem Aufsichtsrat vorlegen muß, damit dieser seine Rechte wahrnehmen kann. Siehe zu den nicht delegierbaren Aufgaben des Vor-

98

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Die nicht delegierbaren Aufgaben des Vorstands werden ausgehend von der Führungsaufgabe des Vorstands nach funktionalen Kriterien und nach Erheblichkeitsgesichtspunkten bestimmt: Zu den in der Betriebswirtschaftslehre hervorgehobenen Funktionen der Unternehmensführung zählen die Unternehmensplanung (Zielsetzung und mittel-/langfristige Festsetzung der Unternehmenspolitik), die unternehmerische Koordinierung (Organisation, Abstimmung und Kontrolle der mit Führungsaufgaben ausgestatteten Teilbereiche des Unternehmens) und die Besetzung von Führungsstellen im Unternehmen. 3 1 Zu den in der Rechtswissenschaft hervorgehobenen Entscheidungen von besonderer wirtschaftlicher Tragweite für das Unternehmen zählen diejenigen Entscheidungen, die nach ihrem Umfang oder Risiko von hoher Bedeutung für die Vermögens-, Finanz-, Ertrags- und Beschäftigungslage sind oder die aufgrund ihrer andauernden Gestaltungswirkung das Unternehmen oder einen Teil des Unternehmens so prägen, daß durch diese Ausrichtung die mittel- oder langfristige Entwicklung des Unternehmens vorgezeichnet wird. 3 2 Die nicht delegierbaren Entscheidungen des Vorstands können, aber müssen nicht Entscheidungen sein, mit denen unstrukturierte hochkomplexe Probleme gelöst werden. Sie werden nicht unter diesem Blickwinkel, sondern im Lichte der Führungsaufgabe des Vorstands unter qualitativen Gesichtspunkten bestimmt. 3 3 Sie betreffen zwar einerseits die in der Betriebswirtschaftslehre hervorgehobenen Aufgaben der Unternehmensführung (wenn auch lediglich insoweit, als sie dem Vorstand durch die gesetzliche Kompetenzordnung zugewiesen sind) und damit stands auch: Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn. 4 f.; Mutter, Entscheidungen, S. 15ff., 32ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.9, 29, 32f.; Potthoff, Geschäftsführung, S. 16, 155ff.; Fleischer ZIP 2003, S . 1 , 6 , 8f. 31 Mertens, Kölner Kommentar, § 76 Rdn. 5; Semler, Überwachung, S. 10f., 13ff.; Mutter, Entscheidungen, S. 15ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.29, 32f., der auf S. 10, 30, 34f. kritisch daraufhin weist, daß dieses Kriterium auch auf bestimmte Aufsichtsrats- und Hauptversammlungskompetenzen zutrifft; Fleischer ZIP 2003, S. 1, 4. 32 Mutter, Entscheidungen, S.20f.; vgl. auch Mertens, Kölner Kommentar, § 7 6 Rdn. 5 und Semler, Überwachung, S. 11 f., 43ff.; kritisch Abeltshauser, Leitungshaftung, S.29, der darauf hinweist, daß dieses Kriterium auch auf bestimmte Aufsichtsrats- und Hauptversammlungskompetenzen zutrifft. 33 Mutter, Entscheidungen, S. 14f., 27, der auf S.27 betont, daß wesentliche Kennzeichen der „unternehmerischen Entscheidung" im Sinne „einer Auswahl einer unternehmerischen Handlungsmöglichkeit von besonderer wirtschaftlicher Tragweite aus mehreren Handlungsalternativen" die (nur) regelmäßige Notwendigkeit zur Entscheidung unter Unsicherheit, die (nur) vielfache Ausrichtung auf die Zukunft sowie die (nur) häufig hohe Komplexität seien; Semler, Überwachung, S. 10ff., 13ff., 43ff., der auf S. 43ff. mit Blick auf „unternehmerische Entscheidungen" zwischen Struktur- und Initiativentscheidungen (Änderung der Unternehmensstruktur und selbständiges unternehmerisches Agieren) einerseits, die stets nicht delegierbare Entscheidungen des Vorstands sein sollen, und schlichten Ablauf- und Anpassungsentscheidungen (Rahmenund Einzelentscheidungen zur Abwicklung des laufenden Geschäfts und Reagieren auf veränderte äußere Umstände) andererseits, die nur im Ausnahmefall nicht delegierbare Entscheidungen des Vorstands sein sollen, unterscheidet; vgl. dazu auch Mertens, Kölner Kommentar, § 76 Rdn. 5.

B.

Vorstand

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auch unstrukturierte hochkomplexe Probleme. Sie erfassen andererseits Aufgaben, die von besonderer wirtschaftlicher Tragweite für das Unternehmen und dem Vorstand durch die gesetzliche Kompetenzordnung zugewiesen sind, und damit auch klar strukturierte Probleme. 2. Delegierbare Aufgaben des Vorstands im Lichte des §90 A k t G Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG ist über Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sein können, nach § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG aus sonstigen wichtigen Anlässen, insbesondere über dem Vorstand bekanntgewordene geschäftliche Vorgänge bei verbundenen Unternehmen, die erheblichen Einfluß auf die Lage der Gesellschaft haben können, zu berichten. Nach §90 Abs. 3 AktG ist auf Verlangen des Aufsichtsrats über Angelegenheiten der Gesellschaft, ihre Beziehungen zu verbundenen Unternehmen und geschäftliche Vorgänge bei verbundenen Unternehmen, die erheblichen Einfluß auf die Lage der Gesellschaft haben können, und damit über nach § 90 Abs. 1 AktG nicht berichtspflichtige Vorgänge zu berichten. Der Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats umfaßt demnach auch einen Ausschnitt aus den unter qualitativen Gesichtspunkten delegierbaren Aufgaben des Vorstands. Dazu zählen die gewöhnliche Wahrnehmung des laufenden Tagesgeschäfts, insbesondere die übliche Abwicklung der Güter-, Leistungs- und Geldströme im Unternehmen, die gewöhnlichen Fragen der festgelegten Aufbau- und Ablauforganisation und der eingerichteten Informationssysteme, die sich im Zuge der üblichen Arbeitsabläufe stellen, sowie die Vorbereitung und Ausführung der nicht delegierbaren Entscheidungen des Vorstands. 34 Die delegierbaren Aufgaben des Vorstands werden ausgehend von dem Inhalt der Führungsaufgabe des Vorstands und unter negativer Abgrenzung von den nicht delegierbaren Aufgaben des Vorstands bestimmt: Es zählen alle Maßnahmen dazu, die die folgenden beiden Voraussetzungen erfüllen: Sie sind zur erfolgreichen, am Unternehmensgegenstand und den in der Satzung zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen orientierten Entwicklung des Unternehmens notwendig und nicht durch die gesetzliche Kompetenzordnung dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung zugewiesen. 35 Sie sind keine nicht delegierbaren Aufgaben des Vorstands, weil sie weder zu den in der Betriebswirtschaftslehre hervorgehobenen Funktionen der Unternehmensführung noch zu den in der 34 Semler, Überwachung, S. 10f., 11 f., 13ff., 43ff., 17ff., 66ff. und insbesondere S.61ff., wonach mit § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG auch Geschäfte mit Bedeutung für Liquidität oder Rentabilität, aber ohne besondere wirtschaftliche Tragweite für das Unternehmen sowie mit § 90 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 AktG auch bzw. nur sonstige Vorgänge ohne besondere wirtschaftliche Tragweite für das Unternehmen erfaßt werden. Siehe zu den delegierbaren Aufgaben des Vorstands auch: Mertens, Kölner Kommentar, § 76 Rdn. 5; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 29, 32f.; Fleischer ZIP 2003, S. 1, 6, 8f. 35 Abeltshauser, Leitungshaftung, S.32f.; Semler, Überwachung, S. 8ff., 13ff.

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2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Rechtswissenschaft hervorgehobenen Entscheidungen von besonderer wirtschaftlicher Tragweite für das Unternehmen gehören. Die delegierbaren Entscheidungen des Vorstands können, aber müssen nicht Entscheidungen sein, mit denen unstrukturierte hochkomplexe Probleme gelöst werden. Denn sie werden nicht unter diesem Blickwinkel, sondern im Lichte der Führungsaufgabe des Vorstands unter qualitativen Gesichtspunkten bestimmt. 3 6 Sie betreffen einerseits die in der Betriebswirtschaftslehre nicht hervorgehobenen Aufgaben der Unternehmensführung, soweit sie dem Vorstand durch die gesetzliche Kompetenzordnung zugewiesen sind, und damit auch unstrukturierte hochkomplexe Probleme. Sie erfassen andererseits Aufgaben, die ohne besondere wirtschaftliche Tragweite für das Unternehmen und dem Vorstands durch die gesetzliche Kompetenzordnung zugewiesen sind, und damit auch klar strukturierte Probleme. 3. Aufgaben des Vorstands im Lichte ergänzender Berichtspflichten Die unternehmensinterne Informationsordnung, die Vorlagepflichten des Vorstands nach den §§ 170 Abs. 1 und Abs.2, 314 Abs. 1 Satz 1 A k t G und des A b schlußprüfers nach §321 H G B und die Informationsbeschaffungsrechte des Aufsichtsrats nach den §§ 109 Abs. 1 Satz 2, 111 A b s . 2 Satz 1 und Satz 2, 171 Abs. 1 Satz 2, 314 A b s . 4 A k t G ergänzen das Berichtssystem des § 9 0 Abs. 1 und Abs.3 AktG.37 Die unternehmensinterne Informationsordnung dient nicht nur dazu, die Informationsversorgung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 3 A k t G auszugestalten und Einzelheiten der Informationsversorgung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 3 A k t G festzuschreiben. Der Aufsichtsrat konkretisiert mit dem Erlaß einer Informationsordnung auch den über die gesetzliche Regelinformation hinausgehenden unternehmensspezifischen Informationsbedarf. Auch wenn dieser weitgehend von den Umständen des Einzelfalls abhängt, dürften doch die Daten zur Unternehmensplanung und Soll/Ist- und Früher/Jetzt-Vergleichsberichte zu bestimmten U n ternehmensdaten sowie Zwischeninformationen über wichtige Unternehmenskennzahlen typischerweise zu den regelmäßigen und standardisierbaren relevanten Informationen zählen. Die rechtliche Zulässigkeit der Informationsordnung 36 Mutter, Entscheidungen, S.14f., 27; Semler, Überwachung, S. 10ff., 13ff., 43ff., der auf S. 43ff. mit Blick auf „unternehmerische Entscheidungen" zwischen Struktur- und Initiativentscheidungen (Änderung der Unternehmensstruktur und selbständiges unternehmerisches Agieren) einerseits, die niemals delegierbare Entscheidungen des Vorstands sein sollen, und schlichten Ablauf- und Anpassungsentscheidungen (Rahmen- und Einzelentscheidungen zur Abwicklung des laufenden Geschäfts und Reagieren auf veränderte äußere Umstände) andererseits, die regelmäßig delegierbare Entscheidungen des Vorstands sein sollen, unterscheidet; vgl. dazu auch Mertens, Kölner Kommentar, § 76 Rdn. 5 37 Dreher, Corporate Governance, S.33, 51 f., 52f., 55f.; Mutter, Entscheidungen, S.38f., 51 f., 52f., 53ff.

B. Vorstand

101

folgt daraus, daß das Gesetz mit dem Berichtssystem des § 90 Abs. 1 und Abs. 3 AktG nur Mindestanforderungen regelt. Wegen des sich im Zeitablauf ändernden unternehmensspezifischen Informationsbedarfs empfiehlt es sich, die Informationsordnung nicht in die Satzung, sondern in eine vom Aufsichtsrat nach § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG für den Vorstand erlassene Geschäftsordnung aufzunehmen. Dieses Vorgehen ist von dem Recht des Aufsichtsrats gedeckt, nicht nur das Zusammenwirken des Vorstands, sondern auch die Zusammenarbeit des Vorstands mit dem Aufsichtsrat zu gestalten.38 Die Vorlagepflichten des Vorstands nach den §§170 Abs.l und Abs.2, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG und des Abschlußprüfers nach den §321 HGB sowie die Informationsbeschaffungsrechte des Aufsichtsrats nach den §§171 Abs.l Satz 2, 314 Abs.4 AktG ergänzen die Berichtspflichten des Vorstands nach §90 Abs.l Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 AktG und nach § 90 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 AktG. Der Abschluß (Jahresabschluß, Konzernabschluß, Einzelabschluß), der Lagebericht, der Gewinnverwendungsvorschlag und der Abhängigkeitsbericht des Vorstands sowie der Prüfungsbericht des Abschlußprüfers dokumentieren die Wahrnehmung der Führungsaufgabe durch den Vorstand im Berichtsjahr.39 Die Informationsbeschaffungsrechte des Aufsichtsrats nach den §§ 109 Abs. 1 Satz 2,111 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 AktG, insbesondere das Recht, einen Wirtschaftsprüfer als Sachverständigen zur Beratung über einzelne Geschäftsvorgänge beizuziehen oder mit der Prüfung eines bestimmten Geschäftsvorgangs zu beauftragen, stellen die Funktionsfähigkeit des Berichtssystems des § 90 Abs. 1 und Abs. 3 AktG sicher. Nach der Konzeption des Gesetzes übt der Aufsichtsrat seine Überwachung grundsätzlich aufgrund der ihm vom Vorstand vermittelten Informationen aus. Das Recht, aus konkretem Anlaß unabhängig vom Vorstand Informationen über Geschäftsvorgänge zu erlangen, kompensiert die Gefahr, daß der Vorstand die dem Aufsichtsrat zufließenden Informationen einseitig steuert. Die Informationsbeschaffungsrechte eröffnen dem Aufsichtsrat die Möglichkeit, die Informationen des Vorstands auf ihre Richtigkeit und/oder Plausibilität zu überprüfen. Sie setzen zugleich den Vorstand unter faktischen Druck, den Aufsichtsrat wahrheitsgemäß und umfassend zu unterrichten. 40

III. Die Entscheidungsfreiräume Überwachungsbereich des

des Vorstands im Aufsichtsrats

Betrachtet man den Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats, so stehen im Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats nicht nur Leitungs-, sondern auch UberwaDreher, Corporate Governance, S.33, 52ff. Mertens, Kölner Kommentar, §90 Rdn. 35; Mutter, Entscheidungen, S. 51. 40 Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 42; Mutter, Entscheidungen, S. 39, 52f.; vgl. auch Dreher, Corporate Governance, S.33, 51 f., 55f. und Roth AG 2004, S. 1, 7ff. 38 39

102

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

chungsfreiräume des Vorstands in Frage. D e r Vorstand ist im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats zunächst etwa für die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 A k t G ) und damit für die strategischen Entscheidungen und für die grundlegenden unternehmensorganisatorischen Entscheidungen zuständig. E s k o m m e n die Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von besonderer Bedeutung sein können und die einem Zustimmungsvorbehalt unterliegen (§§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 , 1 1 1 Abs. 4 Satz 2 A k t G ) , hinzu und damit insbesondere die grundlegenden operativen Entscheidungen. 4 1 D e r Vorstand ist außerdem für die Rentabilität der Gesellschaft, insbesondere die Rentabilität des Eigenkapitals, für den Gang der Geschäfte, insbesondere den U m s a t z , für die Lage der Gesellschaft und für die sonstigen Geschäftsverhältnisse (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Nr. 3, Satz 3, Abs. 3 A k t G ) sowie für die Erstellung des Abschlusses, des Lageberichts, des

Gewinnverwendungsvorschlags

und des Abhängigkeitsberichts

(§§170

Abs. 1 und A b s . 2 , 314 A b s . l Satz 1 A k t G ; § § 1 7 1 A b s . l und A b s . 4 , 314 A b s . 2 Satz 1 und A b s . 4 A k t G ; § § 1 7 1 A b s . 2 Satz 3 und Satz 5 sowie A b s . 4 , 3 1 4 A b s . 2 Satz 2 A k t G ; § § 1 7 1 A b s . 2 Satz 4 und Satz 5 sowie A b s . 3 Satz 3 und A b s . 4 , 314 A b s . 3 A k t G 4 2 ; § 3 2 1 A b s . l bis A b s . 3 und A b s . 5 Satz 2 H G B ) verantwortlich. Darin spiegeln sich der Erfolg der von ihm getroffenen Entscheidungen und der konkretisierenden Planungs- und Detailentscheidungen sowie der sonstigen E n t scheidungen der Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen. 4 3 D e r Vorstand m u ß schließlich ein internes Steuerungs- und Ü b e r w a 41 Vgl. Mutter, Entscheidungen, S.48,131, der mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG betont, daß die strategische Unternehmensplanung wesentlicher Teil der Unternehmensführungsaufgabe des Vorstands ist; Mertens, Kölner Kommentar, §90 Rdn. 33, betont mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG, die beabsichtigte Geschäftspolitik umfasse die unternehmensstrategische Konzeption des Vorstands und die Grundzüge der operativen Umsetzung dieser Konzeption. 42 Vorlagepflicht nach § 170 Abs. 1 AktG, Prüfungspflicht nach § 171 Abs. 1 AktG, Stellungnahme- und Einwendungspflicht nach §171 Abs.2 AktG sind durch das Bilanzrechtsreformgesetz auf den Einzelabschluß nach §325 Abs. 2a H G B erstreckt worden (§170 Abs. 1 Satz 2, 171 Abs.4 AktG); Art.4 Nr.2 und Nr.3 BilReG 12/2004. 43 Semler, Überwachung, S.84ff., 145, führt mit Blick auf §90 Abs.l Satz 1 Nr.2 AktG aus, der Vorstand sei verpflichtet, den Aufsichtsrat über nachhaltig verlustbringende Geschäftszweige und deren Entwicklung zu unterrichten. Der Aufsichtsrat könne nur noch nachträglich feststellen, welcher Erfolg dem Unternehmen beschieden gewesen sei, die Ergebnisse der Geschäftspolitik aber nicht mehr beeinflussen. Er könne lediglich Folgerungen für den Jahresabschluß ziehen und über Maßnahmen zur Verbesserung der zukünftigen Rentabilität nachdenken. Er betont mit Blick auf § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AktG, der Vorstand müsse insbesondere über bestimmte Standziffern (Auftragsbestand, Vorräte, Forderungen, kurzfristige Bankschulden usw.) berichten; Mertens, Kölner Kommentar, §90 Rdn.35ff., führt mit Blick auf §90 Abs.l Satz 1 Nr.2 AktG aus, der Rentabilitätsbericht habe alle maßgeblichen Rentabilitätskennziffern zum Inhalt, außer der Eigenkapitalrendite also auch den cash flow, die Umsatzrentabilität und die Gesamtkapitalrendite. Er betont mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AktG, es sei insbesondere ein detailliertes Bild des Geschäftsganges (Inland, Ausland, Sparten, Produktgruppen) und der Umsatzentwicklung zu vermitteln, auf die Marktlage einzugehen sowie auf wichtige Besonderheiten des

B.

Vorstand

103

chungssystem einrichten, aufrechterhalten, weiterentwickeln und überwachen (vgl. § 91 Abs. 2 AktG, § 321 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 2 HGB) und auf der Grundlage der zur Verfügung gestellten Informationen die Unternehmensaktivitäten planen und steuern sowie die Erfolgskontrolle vornehmen. 44 Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage nach dem Vorliegen von Entscheidungsfreiräumen des Vorstands im Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats. Die entscheidende Frage lautet, ob die Auslegung des den hier interessierenden Entscheidungen zugrundeliegenden §76 Abs.l AktG ergibt, daß der Vorstand bei der Bestimmung der (für die einzelnen Entscheidungstypen inhaltlich konkretisierten) Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen hat und/oder daß der Vorstand bei der Wahrnehmung der (für die einzelnen Entscheidungstypen inhaltlich konkretisierten) Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen hat. 1. Nicht delegierbare Aufgaben des Vorstands Betrachtet man zunächst die nicht delegierbaren Aufgaben des Vorstands, so erfüllen die dabei zu treffenden Entscheidungen alle die genannten Voraussetzungen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Analyse des Handlungsbedarfs als auch im Hinblick auf die Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms. Dies liegt an der Eigenart dieser Entscheidungen 45 und zeigt sich besonders deutlich an den Zielen, die mit diesen Entscheidungen verfolgt werden. Geschäftsverlaufs und auf außergewöhnliche Risiken für die weitere Entwicklung hinzuweisen. Er nennt mit Blick auf § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG als Beispiele etwa eine erhebliche Betriebsstörung, eine Gefährdung größerer Außenstände und ernsthafte Störungen der Zusammenarbeit im Vorstand. 44 Siehe zur Überwachung durch Vorstand und Aufsichtsrat nur Götz A G 1995, S.337, 338, 347f. In der Betriebswirtschaftslehre wird zu den hervorgehobenen Funktionen der Unternehmensführung mit der unternehmerischen Koordinierung die Organisation, Abstimmung und Kontrolle der mit Führungsaufgaben ausgestatteten Teilbereiche des Unternehmens gezählt (Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn.5; Semler, Überwachung, S. 10f., 13ff.; Mutter, Entscheidungen, S. 15ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 32f.). Dazu ist an dieser Stelle anzumerken, daß sich die Überwachungsaufgabe des Vorstands nicht nur auf die delegierten Führungsaufgaben erstreckt, sondern auch auf die nicht delegierbaren Führungsaufgaben, und zwar etwa im Rahmen des Controllings auf die Unternehmensplanung und im Rahmen des Management Auditings auf die Managementleistungen; so richtig Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 33, der von „Selbst-Überwachung von Grundlagenentscheidungen und unternehmenspolitischen Konzepten" spricht, und von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 50f., der die „sachlogischen Kontrollaufgaben der Unternehmungsleitung, die die eigenen Entscheidungen des Top-Managements zum Gegenstand haben," und die „verhaltensbedingten Überwachungsmaßnahmen," die „den Bereich der delegierten Handlungen" betreffen, unterscheidet. 45 Roth, Ermessen, S. 77ff. will im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit auf das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung verzichten - und das vor diesem Hintergrund auch nicht ganz zu Unrecht.

104

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Die strategischen Entscheidungen des Vorstands sollen die erfolgreiche, am Unternehmensgegenstand und den in der Satzung zum Ausdruck k o m m e n d e n Zielvorstellungen orientierte Entwicklung des Unternehmens sicherstellen. Sie sollen zugleich bei möglichst geringem Aufwand einen möglichst hohen Ertrag gewährleisten und in der gegebenen geschäftlichen Situation im Verhältnis zu anderen Entscheidungsmöglichkeiten den größtmöglichen Erfolg versprechen, w o bei das geschäftliche Ergebnis, die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der nötigen Mittel, die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung und das Ausmaß möglicher R i siken zu berücksichtigen sind. 4 6 D i e unternehmensorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands sollen zur optimalen Leistungsfähigkeit des Unternehmens beitragen, indem sie ein möglichst ausgeglichenes Verhältnis von Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit des Unternehmens (der Eigenschaft, auf gleichartige oder ähnliche Vorgänge standardisiert und auf andere Vorgänge flexibel zu reagieren) erreichen, und zwar bei möglichst geringem Mitteleinsatz. 4 7 Sie sollen zugleich möglichst weitgehend sicherstellen, daß überall die Vorgaben beachtet, die Ergebnisse an den angestrebten Zielen gemessen und alle das Vermögen schützenden Maßnahmen getroffen werden, und zwar ebenfalls bei möglichst geringem Mitteleinsatz. 4 8 D i e operativen Entscheidungen des Vorstands dienen der Lösung nicht vorhersehbarer Probleme im Zuge des laufenden Tagesgeschäfts mit h o h e m Konfliktgehalt. Sie sollen in der gegebenen geschäftlichen Situation im Verhältnis zu anderen Entscheidungsmöglichkeiten den größtmöglichen Erfolg versprechen, wobei das geschäftliche Ergebnis, die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der nötigen Mittel, die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung und das Ausmaß möglicher Risiken zu berücksichtigen sind. Die selbstorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands sollen zur optimalen Funktionsfähigkeit des Vorstands beitragen, indem sie eine Organisation schaffen, die gemessen an der G r ö ß e und dem Z w e c k des Unternehmens und den K o m p e t e n z e n und der Haltung der Vorstandsmitglieder möglichst funktional

2. D e l e g i e r b a r e A u f g a b e n des Vorstands Betrachtet man dagegen die Aufgaben, die der Vorstand zwar nicht selbst wahrnehmen, über die er aber berichten muß, so ist zu differenzieren. N u r die konkretisierenden Planungs- und Detailentscheidungen 5 0 und die Entscheidungen über

46 47 48 49 50

Vgl. Semler, Überwachung, S.23ff., 110f., l l l f . Potthoff, Geschäftsführung, S.94ff. Potthoff, Geschäftsführung, S. 128ff. Potthoff; Geschäftsführung, S.41ff., 48ff. Siehe dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 43ff.

B. Vorstand

105

die Bilanzpolitik und die Gewinnverwendung 51 , nicht aber die gewöhnlichen operativen und unternehmensorganisatorischen Entscheidungen erfüllen die genannten Voraussetzungen, und zwar im Hinblick auf die Analyse des Handlungsbedarfs und im Hinblick auf die Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms. Dies liegt an der Eigenart dieser Entscheidungen 52 und zeigt sich besonders deutlich an den Zielen, die mit diesen Entscheidungen verfolgt werden. Die konkretisierenden Planungsentscheidungen sind den strategischen und unternehmensorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands, die konkretisierenden Detailentscheidungen der Ausführung der strategischen und unternehmensorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands vorgeschaltet, und sie teilen daher ihre Eigenarten. 53 Bei den Entscheidungen über die Bilanzpolitik und die Gewinnverwendung spielen auch steuerliche Erwägungen und die künftige Unternehmensplanung eine entscheidende Rolle. 5 4 Demgegenüber erfordern die gewöhnlichen operativen und unternehmensorganisatorischen Entscheidungen, die die Wahrnehmung des laufenden Tagesgeschäfts betreffen und sich im Zuge der üblichen Arbeitsabläufe stellen, typischerweise die Bewältigung klar strukturierter Aufgaben. Denn diese Entscheidungen sind aus den Vorgaben abzuleiten, die der Vorstand mit seinen strategischen und unternehmensorganisatorischen Entscheidungen gegeben hat. 55 3. Ergebnis Die Auslegung des den hier interessierenden Entscheidungen zugrundeliegenden § 7 6 Abs. 1 A k t G ergibt, daß dem Vorstand jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Entscheidungstypen Leitungs- und Überwachungsfreiräume zustehen. Es ist der Vorstand, der die ihm mit § 76 Abs. 1 A k t G abverlangten Leitungs- und Überwachungsentscheidungen - soweit die festgestellten Leitungs- und Überwachungsfreiräume reichen - kraft eigener verbandsrechtlicher Legitimation zu treffen hat, und zwar mit der Konsequenz, daß insoweit der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne des § 93 A k t G ausgeschlossen ist.

Siehe dazu Mutter, Entscheidungen, S. 147ff. Roth, Ermessen, S. 77ff. will im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit auf das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung verzichten - und das vor diesem Hintergrund auch nicht ganz zu Unrecht. 53 Vgl. von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 43 und Mutter, Entscheidungen, S. 18. 54 Vgl. Mutter, Entscheidungen, S. 147ff. 55 Siehe zu diesen Vorstandsentscheidungen von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 27,43f., 46f. („Richtungs- und Infrastrukturentscheidungen") und auch Semler, Überwachung, S.44 („ablaufbestimmende Entscheidungen"). 51 52

C. Aufsichtsrat Die Frage nach Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats setzt nicht nur voraus, daß die Entscheidungsfreiräume des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats bestimmt werden. Vielmehr muß auch die damit kongruente Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund des § 111 Abs. 1 A k t G konkretisiert werden. Der Auftrag, die Geschäftsführung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu überwachen (§§111 A b s . l , 116, 93 AktG), wirft dabei zwei zentrale Fragen auf. Es geht darum, was unter Überwachung zu verstehen ist und - daran anknüpfend - ob alle dem Aufsichtsrat im einzelnen zugewiesenen Aufgaben dazu dienen, Überwachungsfunktionen im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G wahrzunehmen.

I. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats aufgrund §111 Abs.l AktG

des

Mit Blick auf den Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G stellt sich mithin zunächst das Problem, wie der Überwachungsbegriff zu konkretisieren ist. Dies wirft die vieldiskutierte Frage auf, wie sich die Begriffe Überwachung, Kontrolle, Prüfung und Beratung zueinander verhalten, und insbesondere, ob sie inhaltlich übereinstimmen, im Verhältnis zueinander ein Mehr oder Weniger oder etwas Verschiedenes beinhalten. 1. Ü b e r w a c h u n g , Kontrolle, Prüfung und Beratung Dieses Problem könnte nur terminologischer Art zu sein. Denn auf den ersten Blick scheint es lediglich darum zu gehen, wie die Begriffe Überwachung, K o n trolle, Prüfung und Beratung interpretiert werden. Mit den Begriffen Überwachung, Prüfung und Kontrolle werden in der Betriebswirtschaftslehre spezifische Überwachungsfunktionen beschrieben. K o n trolle ist die prozeßabhängige und Prüfung die prozeßunabhängige Überwachung. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob der Überwachungsträger in den Arbeitsablauf integriert und auch für den überwachten Prozeß (und nicht nur für die Überwachung) verantwortlich ist und deshalb festgestellte Mängel selbst beseitigen darf. Controlling ist die zielorientierte Koordinierung der Planung

C.

Aufsichtsrat

107

und Kontrolle mit der Informationsversorgung zwecks Unternehmenssteuerung. 1 Der Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG läßt sich mit diesem Verständnis nur schwer erfassen. Die Frage, ob und gegebenenfalls in welchen Fällen der Aufsichtsrat in den Arbeitsablauf integriert und für den überwachten Prozeß verantwortlich ist, ist angesichts der gesetzlichen Kompetenzordnung und der Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats schwer zu beantworten. Auf der einen Seite sind die Aufgabenbereiche von Vorstand und Aufsichtsrat klar getrennt und übt der Aufsichtsrat seine Überwachung gerade deshalb grundsätzlich nur aufgrund der ihm vom Vorstand vermittelten Informationen aus. Daher befremdet die Vorstellung, er sei in die das zu überwachende Verhalten betreffenden Arbeitsabläufe integriert. Auf der anderen Seite verfügt der Aufsichtsrat jedoch über Einwirkungsmöglichkeiten, so daß der Schluß naheliegt, er sei nicht nur für die Überwachung, sondern auch für die überwachte Führung verantwortlich. Daß der Aufsichtsrat Koordinierungsaufgaben wie eine Controllingabteilung wahrnimmt, ist auf den zweiten Blick weniger abwegig als es auf den ersten Blick scheint. Denn bei dem Aufsichtsrat laufen Informationen über die Unternehmensplanung (§90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG), einzelne Vorhaben (§§90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4,111 Abs. 4 Satz 2 AktG), die Geschäftsergebnisse (§§90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3, Satz 3 und Abs. 3 AktG, §§ 170 Abs. 1 und Abs. 2,314 Abs. 1 Satz 1 AktG; §§171 Abs. 1 und Abs.4, 314 Abs.2 Satz 1 und Abs.4 AktG; §§171 Abs. 2 Satz 3 und Satz 5 sowie Abs. 4,314 Abs. 2 Satz 2 AktG; §§171 Abs. 2 Satz 4 und Satz 5 sowie Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4,314 Abs. 3 AktG; § 321 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 H G B ) und das interne Steuerungs- und Überwachungssystem (§321 Abs.4 und Abs.5 Satz 2 H G B ) zusammen, er gestaltet seine Informationsversorgung selbst, und er entscheidet aufgrund der erlangten Informationen über den Einsatz seiner Einwirkungsmöglichkeiten. Letztlich können diese Fragen jedoch dahinstehen. Kontrolle, Prüfung und Controlling sind lediglich spezifische Mittel, derer sich der Vorstand bedient, um die Abläufe und Vorgänge im Unternehmen zu überwachen. 2 Daher scheint es auch mit Blick auf die Aufgabenzuweisung des § 111 Abs. 1 AktG jedenfalls zulässig und sachgerecht, den - auch vom Gesetzgeber gewählten - Oberbegriff der Überwachung zu übernehmen. Die Begriffe Überwachung und Beratung können dann weder inhaltlich übereinstimmen noch im Verhältnis zueinander ein Mehr oder Weniger beschreiben. Sie beinhalten vielmehr etwas Verschiedenes. Während sich die Überwachung auf die Tätigkeiten des Vorstands im Überwachungsbereich des Aufsichtsrats bezieht, erstreckt sich die Beratung auf die Tätigkeiten des Vorstands außerhalb des 1 Götz A G 1995, S.337, 338; Lück DB 1998, S.8, 10f.; Dichtl/Issing, Wirtschaftslexikon, S. 1862f., 1067, 1542, 351f.; Theisen, Unternehmensführung, S.5ff., 7ff., 10ff., 14ff., 57ff. 2 Lück DB 1998, S.8, 10; Theisen, U n t e r n e h m e n s f ü h r u n g , S.5ff., 7ff., 10ff., 14ff., 57ff.

108

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Überwachungsbereichs des Aufsichtsrats. Eine Beratung ist gegeben, wenn der Aufsichtsrat mit Blick auf Tätigkeiten des Vorstands außerhalb des Ü b e r w a chungsbereichs Anregungen gibt, und zwar aus eigener Initiative oder Erfahrung heraus. D e r Vorstand darf dieses Verhalten des Aufsichtsrats als unverbindlichen Rat eines sachverständigen Dritten werten und braucht es nicht als Einwirkung des ihn überwachenden Organs anzusehen. 3 2. Ü b e r w a c h u n g beabsichtigter, laufender u n d a b g e s c h l o s s e n e r V o r g ä n g e A u f den zweiten Blick liegt der Diskussion, wie sich die Begriffe Ü b e r w a c h u n g , Kontrolle, Prüfung und Beratung zueinander verhalten, allerdings mehr als ein terminologisches Problem zugrunde. E s ist die Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge, die als Beratung 4 beschrieben wird, und die Ü b e r w a c h u n g abgeschlossener Vorgänge, die als nachträgliche Kontrolle 5 bezeichnet wird. D a hinter steckt ein Unterschied zwischen der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge und der Ü b e r w a c h u n g abgeschlossener Vorgänge, der durch die unterschiedlichen Interpretationen der Begriffe Überwachung, Kontrolle, Prüfung und Beratung mehr verdeckt als aufgedeckt wird. In den Überwachungsbereich des Aufsichtsrats fallen etwa die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung ( § 9 0 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 A k t G ) sowie die Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von besonderer Bedeutung sein können, und die einem Zustimmungsvorbehalt unterliegenden Geschäfte (§§ 90 Abs. 1 Satz 1 N r . 4, 111 Abs. 4 Satz 2 A k t G ) . Dabei handelt es sich um beabsichtigte Vorgänge, weil die Entscheidungen des Vorstands entweder noch nicht getroffen sind, sondern erst geplant werden (anstehende Entscheidungen - Planungsphase), oder zwar bereits getroffen sind, sich aber n o c h nicht in Ausführung befinden (getroffene Entscheidungen - Festlegungsphase). 6 In den Überwachungsbereich des A u f 3 Vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 141 f., 142f., 150f., 152f. und Mutter, Entscheidungen, S. 41 ff., der - anders als hier - die Beratung als „Mittel zukunftsorientierter Überwachung" (S.43) bzw. als „kontrollierende Begleitung der unternehmerischen Planung des Vorstands" (S. 108) ansieht. Er betont, daß die so verstandene Beratung die Leitungskompetenz des Vorstands unangetastet lassen und sich im Aufgabenfeld des Aufsichtsrats bewegen muß (S. 44) und daß der Aufsichtsrat sich zur Einschätzung der Planungen des Vorstands über die unternehmerische Zukunftsgestaltung des Unternehmens eigene Gedanken machen, aber nicht losgelöst von allen Planungen des Vorstands eine eigene unternehmerische Konzeption äußern darf (S. 44ff.). 4 Mutter., Entscheidungen, S.43, 27f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.35. 5 Siehe dazu Semler, Überwachung, S. 144. 6 Vgl. Mutter, Entscheidungen, S.40ff., 130ff., der auf S.49 bezüglich §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG meint, dieser sehe eine Information des Aufsichtsrats vor Vornahme eines bestimmten Geschäfts vor und stehe damit „funktional in einer Mittellage zwischen der vergangenheits- oder bestenfalls gegenwartsbetonten Orientierung auf die derzeitige wirtschaftliche Lage der Unternehmung entsprechend § 90 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 und 3 AktG und der nachhaltig zukunftsorientierten Beratung des Vorstands aufgrund §§111 Abs.l, 90 Abs.l Satz 1 Ziff. 1 AktG"; Semler, Überwachung, S. 145, der mit Blick auf § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AktG betont, daß es sich

C.

Aufsichtsrat

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sichtsrats fallen außerdem die Rentabilität der Gesellschaft, insbesondere die Rentabilität des Eigenkapitals, der Gang der Geschäfte, insbesondere der Umsatz, die Lage der Gesellschaft und die sonstigen Geschäftsverhältnisse (§90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Nr. 3, Satz 3, Abs. 3 AktG) sowie der Abschluß, der Lagebericht, der Gewinnverwendungsvorschlag und der Abhängigkeitsbericht (§§170 Abs. 1 und Abs.2, 314 Abs.l Satz 1 AktG; §§171 Abs.l und Abs.4, 314 Abs.2 Satz 1 und Abs.4 AktG; §§171 Abs.2 Satz 3 und Satz 5 sowie Abs.4, 314 Abs.2 Satz 2 AktG; §§171 Abs.2 Satz 4 und Satz 5 sowie Abs.3 Satz 3 und Abs.4, 314 Abs. 3 AktG; § 321 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 HGB). Dem liegen laufende und abgeschlossene Vorgänge zugrunde, weil die Entscheidungen getroffen sind und sich (bereits und noch) in Ausführung befinden (in Ausführung befindliche Entscheidungen - Realisationsphase) oder umgesetzt worden sind (umgesetzte Entscheidungen - Evaluationsphase). 7 In den Überwachungsbereich des Aufsichtsrats fällt schließlich die Frage, ob der Vorstand ein internes Steuerungs- und Überwachungssystem eingerichtet hat, aufrechterhält, weiterentwickelt und überwacht (vgl. §91 Abs.2 AktG, §321 Abs.4 und Abs.5 Satz 2 HGB) und auf der Grundlage der zur Verfügung gestellten Informationen plant, steuert und die Erfolgskontrolle vornimmt. Davon sind beabsichtigte, laufende und abgeschlossene Vorgänge betroffen. Der Aufsichtsrat behandelt mithin anstehende Entscheidungen und nimmt Einfluß auf laufende (und gegebenenfalls zugleich auf nachfolgende) Entscheidungsprozesse. Er beurteilt getroffene Entscheidungen und führt Änderungen der Entscheidungen oder der Einzelheiten ihrer Ausführung herbei (und nimmt gegebenenfalls zugleich Einfluß auf nachfolgende Entscheidungsprozesse). Er befaßt sich mit in Ausführung befindlichen Entscheidungen und führt Änderungen der Entscheidungen oder der Einzelheiten ihrer Ausführung herbei (und nimmt gegebenenfalls zugleich Einfluß auf nachfolgende Entscheidungsprozesdabei um „Vorgänge, Rechtsgeschäfte und Maßnahmen handelt, die geplant sind und vorbereitet werden"; Mertens, Kölner Kommentar, §90 Rdn.37, führt mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG aus, diese Berichte müsse der Vorstand möglichst so rechtzeitig erstatten, daß der Aufsichtsrat vor der Vornahme solcher Geschäfte Stellung nehmen kann, oder unverzüglich nachtragen, wenn die Entscheidung keinen Aufschub dulde. 7 Vgl. Mutter, Entscheidungen, S. 48f., 136f., der mit Blick auf § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2-3 AktG ausführt, diese Berichte dienten vor allem der „Prüfung früherer unternehmerischer Aktivitäten des Vorstands ausweislich der erkennbaren wirtschaftlichen Verfassung der Unternehmung," so daß durch sie der „vergangenheits- oder bestenfalls gegenwartsorientierte Part der Uberwachungsaufgabe des Aufsichtsrats skizziert" werde, bzw. betont, diese Berichte dienten der „Überwachung der derzeitigen wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft," wobei diese „bedingt durch die Anknüpfung an die aktuellen Unternehmensdaten wie Umsatz, Liquidität oder U m satz- bzw. Eigenkapitalrenditen vergangenheitsorientiert" sei, weil „diese Daten lediglich das Spiegelbild früheren unternehmerischen Verhaltens des Vorstands sind"; Semler, Überwachung, S. 145, der mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG ausführt, daß es sich dabei um „Vorgänge, Rechtsgeschäfte und Maßnahmen handelt, die abgeschlossen sind und in der Vergangenheit liegen", und mit Blick auf §90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AktG wohl meint, daß es sich dabei um „Vorgänge, Rechtsgeschäfte und Maßnahmen handelt, die bereits eingeleitet sind, aber noch andauern".

110

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

se). Der Aufsichtsrat betrachtet umgesetzte Entscheidungen, übt daran Kritik und verhängt Sanktionen (und zieht daraus gegebenenfalls Folgerungen für die Zukunft). 8 a) Überwachung beabsichtigter und laufender

Vorgänge

Für die Antwort auf die Frage, ob der Aufsichtsrat im Rahmen der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge mit Blick auf eine zu überwachende anstehende, getroffene oder in Ausführung befindliche Entscheidung des Vorstands die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 AktG erfüllt hat, spielt zunächst einmal notwendigerweise die Frage eine Rolle, ob der Aufsichtsrat davon ausgehen durfte, daß der Vorstand mit der Entscheidung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG (nicht) erfüllt hatte und/oder erfüllen würde. Stand dem Vorstand bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zu und durfte der Aufsichtsrat annehmen, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hatte/treffen würde, so könnte es des weiteren entscheidend darauf ankommen, ob der Aufsichtsrat zu dem Schluß kommen durfte, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung (nicht) getroffen hätte/treffen würde. Es steht außer Streit, daß der Aufsichtsrat in diesen Fällen nicht nur dann berechtigt ist, auf den Vorstand einzuwirken, wenn er davon ausgehen darf, daß der Vorstand keine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, sondern auch dann, wenn er zu dem Schluß kommen darf, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde. Der Aufsichtsrat steht in beiden Fällen (zumindest auch) vor der Frage, ob er etwas unternehmen darf, soll oder muß und was er gegebenenfalls unternehmen darf, soll oder muß, um den Vorstand zu veranlassen, die anstehende Entscheidung nicht oder anders zu treffen bzw. die getroffene oder in Ausführung befindliche Entscheidung (oder die Einzelheiten ihrer Ausführung) zu ändern und mit Blick auf die einer Entscheidung nachfolgenden Entscheidungsprozesse von der bisherigen Strategie abzuweichen. In beiden Fällen ist der Aufsichtsrat berechtigt, etwa eine Stellungnahme abzugeben, einen Zustimmungsvorbehalt (ad hoc für ein Einzelgeschäft und vorausschauend für „bestimmte Arten von Geschäften") anzuordnen und/oder auszuüben (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG) und/oder auf die Zusammensetzung, die Befugnisse und das Zusammenwirken des Vorstands einzuwirken (§84 Abs. 1 und Abs. 3 AktG, §77 Abs.l Satz 2 iVm. §77 Abs. 2 Satz 1 AktG, §78 Abs. 3 Satz 2 AktG, §77 Abs. 2 Satz 1 AktG). 9

8

Semler, Ü b e r w a c h u n g , S. 81 ff., 144ff.; siehe auch Theisen, U n t e r n e h m e n s f ü h r u n g , S.66. Semler, Ü b e r w a c h u n g , S. 150f., 147f., 148f., U l f . , 112ff., 124ff.; vgl. auch Mutter, Entscheidungen, S.44ff. 9

C.

Aufsichtsrat

111

b) Überwachung abgeschlossener Vorgänge Für die Antwort auf die Frage, ob der Aufsichtsrat im Rahmen der Überwachung abgeschlossener Vorgänge mit Blick auf eine umgesetzte Entscheidung des Vorstands die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 AktG erfüllt hat, spielt zunächst einmal notwendigerweise die Frage eine Rolle, ob der Aufsichtsrat in der Rückschau davon ausgehen durfte, daß der Vorstand mit der Entscheidung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG (nicht) erfüllt hatte. Stand dem Vorstand bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zu und durfte der Aufsichtsrat in der Rückschau annehmen, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hatte, so könnte es des weiteren entscheidend darauf ankommen, ob der Aufsichtsrat in der Rückschau zu dem Schluß kommen durfte, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung (nicht) getroffen hätte. Denn es steht außer Streit, daß der Aufsichtsrat in diesen Fällen nicht nur dann berechtigt ist, auf den Vorstand einzuwirken, wenn er in der Rückschau davon ausgehen darf, daß der Vorstand keine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat, sondern auch dann, wenn er in der Rückschau zu dem Schluß kommen darf, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte. In beiden Fällen dient die Einwirkung (zumindest auch) dem Ziel, aus der Entscheidung des Vorstands Folgerungen für die Zukunft zu ziehen: Der Aufsichtsrat steht in beiden Fällen (zumindest auch) vor der Frage, ob er etwas unternehmen darf, soll oder muß und was er gegebenenfalls unternehmen darf, soll oder muß, um den Vorstand zu veranlassen, mit Blick auf die der Entscheidung nachfolgenden Entscheidungsprozesse von der bisherigen Strategie abzuweichen. In beiden Fällen ist der Aufsichtsrat berechtigt, etwa eine Stellungnahme abzugeben, einen Zustimmungsvorbehalt für „bestimmte Arten von Geschäften" anzuordnen (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG) und/oder auf die Zusammensetzung, die Befugnisse und das Zusammenwirken des Vorstands einzuwirken (§ 84 Abs. 1 und Abs. 3 AktG, § 77 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 78 Abs. 3 Satz 2 AktG, § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG). Im ersten Fall steht der Aufsichtsrat (gegebenenfalls) vor der Frage, ob er gegen den Vorstand einen Schadensersatzanspruch geltend machen darf, soll oder muß, damit die der Gesellschaft durch die Entscheidung des Vorstands (gegebenenfalls) zugefügte Vermögenseinbuße ausgeglichen wird. 10 3. Ergebnis Die Entscheidungsprozesse des Aufsichtsrats sind im Rahmen der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge und im Rahmen der Überwachung abgeschlossener Vorgänge mithin weitestgehend, wenn auch nicht vollständig iden10

Vgl. Semler, Überwachung, S. 150f., 147f., 148f., Ulf., 112ff., 124ff.

112

2. Teil: Die Entscbeidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

tisch. In beiden Fällen ist die Ü b e r w a c h u n g grundsätzlich (zumindest auch) zukunftsorientiert, weil es (jedenfalls vorrangig) um die Optimierung der U n t e r nehmensführung durch den Vorstand geht (und daneben gegebenenfalls um die Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand). 1 1 D e r A u f sichtsrat steht immer (zumindest auch) vor der Frage, ob er etwas unternehmen darf, soll oder muß und was er gegebenenfalls unternehmen darf, soll oder m u ß , um den Vorstand zu veranlassen, von der zu überwachenden Handlung u n d / o d e r von künftigen derartigen Handlungen Abstand zu nehmen. D e r einzige U n t e r schied zwischen der Ü b e r w a c h u n g beabsichtigter und laufender Vorgänge und der Ü b e r w a c h u n g abgeschlossener Vorgänge ist, daß der Aufsichtsrat nur im zweiten Fall (gegebenenfalls) vor der Frage steht, o b er gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder einen Schadensersatzanspruch ( § 9 3 A k t G ) geltend machen darf, soll oder muß. In diesem Fall ist die Überwachung in der Tat rückwärtsgerichtet, weil es nur (und zwar ausschließlich) um den nachträglichen A u s gleich der Konsequenzen der bereits vergangenen Unternehmensführung durch den Vorstand geht. 1 2

II. Die sonstigen Aufgaben

des Aufsichtsrats

M i t Blick auf den Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G stellt sich weiter das Problem, o b alle v o m Gesetz dem Aufsichtsrat im einzelnen zugewiesenen Aufgaben dazu dienen, Überwachungsfunktionen im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G wahrzunehmen, oder o b nicht einige dieser Aufgaben dazu dienen, Leitungsfunktionen oder sonstige Überwachungsfunktionen wahrzunehmen. I m Zentrum dieses Problemkreises stehen die Aufgaben des Aufsichtsrats, - über die personelle Zusammensetzung des Vorstands, die Befugnisse und das Zusammenwirken, die Anstellungsverträge und die Bezüge der Vorstandsmitglieder, die Befreiung der Vorstandsmitglieder v o m Wettbewerbsverbot und die Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder zu entscheiden (Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern - § 8 4 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3, 105 Abs. 2 A k t G ; Regelung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse der Vorstandsmitglieder - § 7 7 A b s . l Satz 2 iVm. § 7 7 Abs. 2 Satz 1 A k t G , § 7 8 Abs. 3 Satz 2 A k t G ; Erlaß einer Geschäftsordnung für das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder - § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G ; Abschluß und Kündigung der Anstellungsverträge der Vorstandsmitglieder sowie Gewährleistung angemessener Gesamtbezüge der Vorstandsmitglieder - § § 8 4 A b s . l Satz 5 und Abs. 3 Satz 5, 87 A k t G ; Befreiung der Vorstandsmitglieder v o m Wettbewerbsverbot und Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder - §§ 88, 89 A k t G ) ,

11 12

Vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 148f. und Mutter, Entscheidungen, S. 78ff. Siehe dazu Semler, Überwachung, S. 149.

C.

Aufsichtsrat

113

- Zustimmungsvorbehalte für die Vornahme bestimmter Arten von Geschäften anzuordnen und auszuüben sowie ad hoc Zustimmungsvorbehalte für die Vornahme von Einzelgeschäften anzuordnen und auszuüben (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG), - eine Hauptversammlung einzuberufen (§111 Abs. 3 AktG) sowie - am Abschluß, am Lagebericht, am Gewinnverwendungsvorschlag und am Abhängigkeitsbericht mitzuwirken (§§170 Abs.l und Abs.2, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG; §§171 Abs.l und Abs.4, 314 Abs.2 Satz 1 und Abs.4 AktG; §§171 Abs. 2 Satz 3 und Satz 5 sowie Abs. 4,314 Abs. 2 Satz 2 AktG; §§171 Abs. 2 Satz 4 und Satz 5 sowie Abs.3 Satz 3 und Abs.4, 314 Abs.3 AktG; §321 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 HGB). 13 Es geht aber auch um die Aufgabe des Aufsichtsrats, seine Zusammenarbeit mit dem Vorstand und seine eigene Tätigkeit so zu organisieren, daß er die ihm vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben optimal ausüben kann. Er muß im Verhältnis zum Vorstand insbesondere eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur schaffen und zu diesem Zweck vor allem eine unternehmensinterne Informationsordnung erlassen, in der er die Informationsversorgung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 3 AktG ausgestaltet und im einzelnen festzuschreibt und den über die gesetzliche Regelinformation hinausgehenden unternehmensspezifischen Informationsbedarf konkretisiert (§ 77 Abs. 2 Satz 1 AktG). Er muß die „innere Ordnung des Aufsichtsrats" regeln (§§ 107-110, 115,124 Abs. 3 AktG), insbesondere Ausschüsse bilden und besetzen (§§ 107 Abs.3,171 Abs.2 Satz 2 AktG), über die Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder entscheiden (§115 AktG) und Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern an die Hauptversammlung unterbreiten (§ 124 Abs.3 AktG). Der Aufsichtsrat muß schließlich nicht nur den Erfolg dieser Entscheidungen, sondern auch die eigenständige Tätigkeit der Ausschüsse (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG) und die Ausführung seiner Beschlüsse durch den Vorstand (vgl. §107 Abs. 3 Satz 1 AktG) überwachen. Er soll eine Selbstevaluation durchführen, und er muß der Hauptversammlung berichten, „in welcher Art und in welchem Umfang er die Geschäftsführung geprüft hat" (§171 Abs.2 Satz 2 AktG). 1. Überwachung und Leitung Hinter der Frage, ob alle vom Gesetz dem Aufsichtsrat im einzelnen zugewiesenen Aufgaben dazu dienen, Überwachungsfunktionen im Sinne des § 111 Abs. 1 AktG wahrzunehmen, oder ob nicht einige dieser Aufgaben dazu dienen, Leitungsfunktionen oder sonstige Überwachungsfunktionen wahrzunehmen, scheint auf den ersten Blick ebenfalls nur ein terminologisches Problem zu stekken. Denn zunächst geht es darum, ob der Überwachungsbegriff im Sinne des 13

Siehe zu diesem Problemkreis Abeltshauser,

Leitungshaftung, S. 10, 28ff., 34ff.

114

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

§111 A b s . l A k t G weit oder eng zu interpretieren ist. Dabei lautet die entscheidende Frage, ob vom gesetzlichen Leitbild des Aufsichtsrats als Organ zur Uberwachung des Vorstands, dem keine Leitungsaufgaben (oder sonstigen Überwachungsaufgaben) zukommen sollen (vgl. § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG), oder vom Leitungs- oder Überwachungscharakter der dem Aufsichtsrat vom Gesetz im einzelnen zugewiesenen Aufgaben auszugehen ist. Vergegenwärtigt man sich den kongruenten Charakter der Überwachung durch den Aufsichtsrat, so kann eine vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesene Aufgabe nur dann (stets oder im Einzelfall) Überwachungscharakter haben, wenn der Aufsichtsrat mit der konkreten Wahrnehmung der Aufgabe (stets oder im Einzelfall) eine einen Unternehmensführungsprozeß begleitende Funktion ausübt oder sich von dem Erfolg einer Entscheidung überzeugt. Eine vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesene Aufgabe hat mithin (stets oder im Einzelfall) Leitungscharakter, wenn der Aufsichtsrat mit der konkreten Wahrnehmung (stets oder im Einzelfall) weder eine einen Unternehmensführungsprozeß begleitende Funktion ausübt noch sich von dem Erfolg einer Entscheidung überzeugt. Eine vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesene Aufgabe hat demgemäß (stets oder im Einzelfall) Überwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G , wenn der Aufsichtsrat mit der Wahrnehmung (stets oder im Einzelfall) eine einen Unternehmensführungsprozeß des Vorstands begleitende Funktion ausübt oder sich von dem Erfolg einer Entscheidung des Vorstands überzeugt. 14 Eine vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesene Aufgabe hat auch dann (stets oder im Einzelfall) Überwachungscharakter, allerdings nicht im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G , wenn der Aufsichtsrat mit der konkreten Wahrnehmung (stets oder im Einzelfall) eine einen Unternehmensführungsprozeß des Aufsichtsrats oder eines seiner Ausschüsse begleitende Funktion ausübt oder sich von dem Erfolg einer eigenen Entscheidung überzeugt. 2. E i n o r d n u n g der Aufgaben Die Aufgaben des Aufsichtsrats, über die personelle Zusammensetzung des Vorstands, die Befugnisse und das Zusammenwirken, die Anstellungsverträge und 14 Demgegenüber kann es nicht auf die „Einwirkungsintensität" und damit darauf ankommen, ob der Aufsichtsrat eine abweichende Auffassung auch dann durchsetzen darf, wenn der Vorstand „die Grenzen kaufmännischen Ermessens" nicht überschreitet; so aber die übliche Differenzierung zwischen der Wahrnehmung von „Uberwachungsfunktionen" und „Mitentscheidungs- und somit Leitungsfunktionen" (vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 55 ff., 117ff. und Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 25 ff.). Denn „selbst wenn bestimmte Maßnahmen dieser Art nur im Zusammenwirken mit anderen Organen vorgenommen werden können, verbleiben wesentliche unternehmerische Funktionen unabdingbar beim Vorstand (Initiativrecht und Ausführung)... die Leitungsfunktionen auch in diesem Falle in seinen Händen"; so zutreffend Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 32f., 34f. Siehe dazu auch Mutter, Entscheidungen, S. 116ff., 44ff., der von einer „Verschiebung der Problemdiskussion" spricht.

C.

Aufsichtsrat

115

die Bezüge der Vorstandsmitglieder, die Befreiung der Vorstandsmitglieder vom Wettbewerbsverbot und die Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder zu entscheiden, Zustimmungsvorbehalte für die Vornahme bestimmter Arten von G e schäften anzuordnen und eine Hauptversammlung einzuberufen, haben im Einzelfall entweder Leitungscharakter oder Überwachungscharakter im Sinne des §111 Abs. 1 A k t G . D e r Aufsichtsrat kann über diese Maßnahmen im Hinblick auf zu überwachende Handlungen des Vorstands befinden und sie damit als Einwirkungsmöglichkeiten zu Überwachungszwecken nutzen. Der Aufsichtsrat kann über diese Maßnahmen aber auch unabhängig von zu überwachenden Handlungen entscheiden und sie damit als reine Gestaltungsmittel im Hinblick auf die Förderung der Unternehmensaktivitäten einsetzen. Diese Entscheidungen entsprechen den Personalentscheidungen sowie den strategischen, unternehmensorganisatorischen und operativen Entscheidungen des Vorstands. Hier wie dort geht es um die Besetzung von Führungsstellen im Unternehmen, und über §111 Abs. 3 A k t G (Erörterung von Fragen der Geschäftsführung 15 ) und §111 Abs. 4 Satz 2 A k t G (Recht zur „Mitentscheidung" 1 6 ) kann der Aufsichtsrat auf die strategischen, unternehmensorganistorischen und operativen Entscheidungen des Vorstands Einfluß nehmen. Die Aufgaben des Aufsichtsrats, Zustimmungsvorbehalte für die Vornahme bestimmter Arten von Geschäften auszuüben sowie ad hoc Zustimmungsvorbehalte für die Vornahme von Einzelgeschäften anzuordnen und auszuüben und am Abschluß, am Lagebericht, am Gewinnverwendungsvorschlag und am Abhängigkeitsbericht mitzuwirken, haben stets Überwachungscharakter im Sinne des §111 Abs. 1 A k t G . Sie setzen immer eine zu überwachende Handlung des Vorstands voraus, nämlich ein in den Anwendungsbereich des Zustimmungsvorbehalts fallendes Geschäft bzw. die gesetzlich vorgeschriebenen Vorlageberichte. Die Aufgabe des Aufsichtsrats, seine Zusammenarbeit mit dem Vorstand und seine eigene Tätigkeit so zu organisieren, daß er die ihm vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben optimal ausüben kann, hat stets Leitungscharakter. Sie knüpft nie an eine zu überwachende Handlung des Vorstands an. Es handelt sich um eine ausschließlich auf die Aufsichtsratstätigkeit bezogene Gestaltungsaufgabe. Diese Entscheidungen gleichen den selbstorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands, durch die er insbesondere die innere Ordnung des Vorstands (vor allem die Ressortgliederung und die Vorstandsausschüsse) und die Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat regelt. Es besteht aber auch eine Parallele zu den unternehmensorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands, durch die er den Funktionsträgern auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen eigenständige Entscheidungsbereiche zuweist und eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur schafft. 15 16

Siehe dazu Mutter, Entscheidungen, S. 92. Siehe dazu Semler, Überwachung, S. 120ff., 128ff.

116

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Die Aufgabe des Aufsichtsrats, die Ausführung seiner Beschlüsse durch den Vorstand zu überwachen, hat stets Uberwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G . Sie setzt immer eine zu überwachende Handlung des Vorstands voraus, nämlich die Ausführung bzw. Nichtausführung des Aufsichtsratsbeschlusses durch den Vorstand. Die im Rahmen dieser Aufgabe zu treffenden Entscheidungen des Aufsichtsrats entsprechen den Uberwachungsaufgaben des Vorstands, die an die strategischen, unternehmensorganisatorischen und operativen Entscheidungen des Vorstands anknüpfen, die durch die Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen vorbereitet und ausgeführt werden. Der Vorstand muß die Vorbereitung und Ausführung seiner Entscheidungen durch die Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen überwachen. Die Aufgaben des Aufsichtsrats, nicht nur den Erfolg der Entscheidungen, mit denen er seine Zusammenarbeit mit dem Vorstand und seine eigene Tätigkeit organisiert, sondern auch die eigenständige Tätigkeit der Ausschüsse zu überwachen, eine Selbstevaluation durchzuführen und der Hauptversammlung zu berichten, haben stets Uberwachungscharakter, allerdings nicht im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G . Sie setzen stets zu überwachende Handlungen voraus, und zwar die eigenen Entscheidungen und Aktivitäten des Aufsichtsrats, die Tätigkeit der Ausschüsse und die Prüfungstätigkeit des Aufsichtsrats. Die damit zu treffenden Entscheidungen ähneln zunächst den an die selbstorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands anknüpfenden Uberwachungsaufgaben des Vorstands. D e r Vorstand muß den Erfolg der von ihm getroffenen selbstorganisatorischen Entscheidungen, durch die er insbesondere die innere Ordnung des Vorstands (vor allem die Ressortgliederung und die Vorstandsausschüsse) und die Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrats geregelt hat, und die eigenständige Tätigkeit der Vorstandsausschüsse ebenso überwachen wie jedes Vorstandsmitglied die für die anderen Ressorts zuständigen Vorstandsmitglieder. Es liegt zugleich eine Parallele zu den Überwachungsaufgaben des Vorstands vor, die an die unternehmensorganisatorischen Entscheidungen des Vorstands anknüpfen, durch die die den Funktionsträgern auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen eigenständige Entscheidungsbereiche zugewiesen werden und durch die eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur geschaffen wird. Der Vorstand muß den Erfolg dieser Entscheidungen ebenso überwachen wie die eigenständige Tätigkeit der Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen. Schließlich soll auch der Vorstand regelmäßig eine Selbstevaluation durchführen. 3. Ergebnis Auf den zweiten Blick liegt allerdings auch der sich um den Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G rankenden Diskussion, ob alle vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesenen Rechte dazu dienen, Uberwachungsfunktionen im Sinne

C.

117

Aufsichtsrat

des § 111 Abs. 1 A k t G wahrzunehmen, oder ob nicht einige dieser Rechte dazu dienen, Leitungsfunktionen oder sonstige Überwachungsfunktionen wahrzunehmen, nicht nur ein terminologisches Problem zugrunde. Es besteht ein Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Uberwachungsfunktionen im Sinne des §111 Abs. 1 A k t G und der Wahrnehmung von Leitungsfunktionen und sonstigen Überwachungsfunktionen durch den Aufsichtsrat. Für die Frage, ob der Aufsichtsrat im Einzelfall die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 A k t G erfüllt hat, kann nur dann, wenn der Aufsichtsrat eine Überwachungsfunktion im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G wahrnimmt, die Frage eine Rolle spielen, ob er davon ausgehen durfte, daß der Vorstand mit der zu überwachenden Entscheidung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G (nicht) erfüllt hatte und/oder erfüllen würde. Dasselbe gilt für die Frage, ob der Aufsichtsrat zu dem Schluß kommen durfte, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung (nicht) getroffen hätte/treffen würde, wenn dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zustand und der Aufsichtsrat annehmen durfte, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hatte/treffen würde. Oder anders gewendet, bei der Frage, ob der Aufsichtsrat im Einzelfall die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 A k t G erfüllt, können nur dann, wenn der Aufsichtsrat eine Leitungsfunktion oder eine sonstige Überwachungsfunktion wahrnimmt, ausschließlich dieselben Fragen eine Rolle spielen wie bei der Frage, ob der Vorstand im Einzelfall die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G erfüllt, wenn er eine Leitungs- oder Überwachungsfunktion wahrnimmt. 1 7

III.

Die Entscheidungsfreiräume

des Aufsichtsrats

Betrachtet man den Aufgabenbereich des Aufsichtsrats, so stehen nicht nur auf dem Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G fußende Überwachungsfreiräume, sondern darüberhinaus Leitungsfreiräume und auf anderen vom Gesetz dem Aufsichtsrat zugewiesenen Aufgaben aufbauende Überwachungsfreiräume in Frage. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage nach dem Vorliegen von Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats. Die entscheidende Frage lautet, ob die Auslegung der einer Entscheidung des Aufsichtsrats zugrundeliegenden Befugnisnorm ergibt, daß er bei der Bestimmung der (gegebenenfalls für einzelne Entscheidungstypen

inhaltlich

konkretisierten)

Handlungsvoraussetzung/

Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen hat und/oder daß er bei der Wahrnehmung der (gegebenenfalls für einzelne Entscheidungstypen inhaltlich konkretisierten) Handlungsbe17

So auch Abeltshauser,

Leitungshaftung, S. 38.

118

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

fugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes P r o b l e m zu bewältigen hat. D a b e i gebietet der festgestellte Unterschied zwischen dem Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G und den Leitungsaufgaben und den sonstigen Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrat eine jeweils gesonderte Behandlung. 1. D i e E n t s c h e i d u n g s f r e i r ä u m e im R a h m e n der U b e r w a c h u n g s a u f g a b e aufgrund des § 111 A b s . 1 A k t G Die besonderen Probleme, die der Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G aufwirft, beruhen auf dem kongruenten Charakter der Ü b e r w a c h u n g durch den Aufsichtsrat. D i e Ü b e r w a c h u n g durch den Aufsichtsrat setzt ein schlichtes U n terlassen (völlige Untätigkeit), eine rein tatsächliche (beabsichtigte, laufende oder abgeschlossene) Vorbereitungs- oder Realisationshandlung oder eine Entscheidung des Vorstands voraus. I m letzten Fall kann es sich um eine anstehende E n t scheidung (Planungsphase), eine getroffene Entscheidung (Festlegungsphase), eine in Ausführung befindliche Entscheidung (Realisationsphase) oder eine umgesetzte Entscheidung (Evaluationsphase) handeln. 1 8 F ü r die A n t w o r t auf die Frage, ob der Aufsichtsrat mit B l i c k auf eine zu überwachende Handlung des Vorstands die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 1 1 6 , 9 3 erfüllt hat, spielt zunächst einmal notwendigerweise die Frage eine Rolle, ob der Aufsichtsrat davon ausgehen durfte, daß der Vorstand mit der Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G (nicht) erfüllt hatte und/oder erfüllen würde. Diese Frage läßt sich noch präzisieren: Durfte der Aufsichtsrat davon ausgehen, und zwar, je nachdem, o b dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zustand oder nicht, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung (nicht) getroffen hatte/treffen würde oder daß der Vorstand „die rechtlich einzig richtige H a n d l u n g " 1 9 (nicht) vorgenommen hatte/vornehmen würde? Stand dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zu und durfte der Aufsichtsrat annehmen, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hatte/treffen würde, so könnte es des weiteren entscheidend darauf ankommen, o b der Aufsichtsrat zu dem Schluß k o m m e n durfte, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung (nicht) getroffen hätte/treffen würde. Ist die zu überwachende Handlung des Vorstands dagegen ein schlichtes U n terlassen oder eine rein tatsächliche Vorbereitungs- oder Realisationshandlung oder eine Entscheidung, bei der dem Vorstand kein Entscheidungsfreiraum zusteht, so kann sich die Frage des „so besser nicht, aber vielleicht s o " nicht stellen. D a n n geht es allein darum, o b der Vorstand mit dem schlichten Unterlassen, der

18 19

Vgl. von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 43ff. und Semler, Überwachung, S. 75f. Vgl. die Formulierung von Alexy JZ 1986, S. 701, 714.

C.

Aufsichtsrat

119

rein tatsächlichen Vorbereitungs- oder Realisationshandlung bzw. der Entscheidung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG erfüllt hat oder erfüllen wird. Im Falle des schlichten Unterlassens geht es lediglich um die Frage, ob der Vorstand etwas hätte tun müssen/tun müßte. Im Falle der rein tatsächlichen Vorbereitungs- oder Realisationshandlung ist ausschließlich zu klären, ob der Vorstand die Handlung so wie vorgenommen/vorzunehmen beabsichtigt auch tatsächlich vornehmen durfte/darf. 20 Im Falle der Entscheidung, bei der dem Vorstand kein Entscheidungsfreiraum zusteht, stellt sich nur die Frage, ob der Vorstand diese Entscheidung so wie getroffen/zu treffen beabsichtigt auch tatsächlich treffen durfte/darf. Der Aufsichtsrat ist in diesen Fällen allein dann berechtigt, auf den Vorstand einzuwirken, wenn er davon ausgehen darf, daß der Vorstand mit dem schlichten Unterlassen, der rein tatsächlichen Vorbereitungsoder Realisationshandlung bzw. der Entscheidung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG verletzt hat oder verletzen wird. Vor diesem Hintergrund muß nicht nur geklärt werden, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zukommen, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird und ob dem Aufsichtsrat Ermessensspielräume hinsichtlich des „ob" und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand zustehen. Steht dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zu, so stellen sich besondere Fragen: Stehen dem Aufsichtsrat mit Blick auf die Frage, ob der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, Einschätzungsprärogativen zu? Wenn der Aufsichtsrat davon ausgehen darf, ist er dann zu der Prüfung verpflichtet, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde? Sind dem Auf sichtsrat im Rahmen dieser Prüfung Einschätzungsprärogativen zuzubilligen, womit die dem Vorstand zuzubilligenden Entscheidungsfreiräume dazu führen würden, daß auch dem Aufsichtsrat Entscheidungsfreiräume zuerkannt werden müssen? Die Frage nach Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats im Rahmen der Uberwachungsaufgabe aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG muß mithin bei den folgenden Punkten ansetzen: - Kommen dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zu, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird? - Kommen dem Aufsichtsrat, wenn dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht und der Aufsichtsrat annehmen darf, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entschei20 Anders liegt es bei einer konkretisierenden Planungs- oder Detailentscheidung, wo es auch um die Frage geht, ob die Auswahl einer anderen rein tatsächlichen Vorbereitungs- oder Realisationshandlung besser gewesen wäre/sein würde.

120

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

dung getroffen hat/treffen wird, und unter der Voraussetzung, daß der Aufsichtsrat dann zu der Prüfung verpflichtet ist, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde, Einschätzungsprärogativen mit Blick auf diese Frage zu? - Kommen dem Aufsichtsrat Ermessensspielräume mit Blick auf die Frage zu, ob und gegebenenfalls wie auf den Vorstand einzuwirken ist? a) Die Erkenntnis einer Pflichtverletzung

des Vorstands

Die Antwort auf die Frage, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zukommen, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird, entscheidet im Verhältnis zu den zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116,93 AktG insbesondere berufenen Aktionären (und damit auch im Verhältnis zu den von ihnen in Anspruch genommenen Gerichten) über die Kontrolldichte und damit über die Reichweite der verbandsinternen Kontrollrechte. Die entscheidende Frage lautet, ob es für die Erfüllung der dem Aufsichtsrat im Hinblick auf den Uberwachungsauftrag des §111 Abs. 1 AktG obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 AktG darauf ankommt, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird (insoweit positive Kontrolle der Entscheidung des Aufsichtsrats). Es könnte alternativ darauf ankommen, ob der Aufsichtsrat die sich mit dieser Prüfung stellenden Fragen eingeschätzt hat/einschätzen wird und dabei im Lichte der dann angenommenen eingeschränkten materiell-rechtlichen Uberprüfbarkeit dieser Einschätzungen „rechtlich vertretbare und in diesem Sinne rechtlich richtige Einschätzungen" 21 (im folgenden rechtlich vertretbare Einschätzungen) vorgenommen hat/vornehmen wird (insoweit negative Kontrolle der Entscheidung des Aufsichtsrats). Die Tragweite dieser Frage zeigt sich besonders deutlich in dem Fall, in dem die zu überwachende Handlung des Vorstands eine Entscheidung ist und dem Vorstand bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht. Kommen dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zu, ob der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, so liegen gestufte Entscheidungsfreiräume vor: Der Vorstand verfügt über einen (ersten) Entscheidungsfreiraum, und die Prüfung, ob der Vorstand sich im Rahmen dieses Entscheidungsfreiraums bewegt hat und/oder bewegen wird, fällt in einen (zweiten) Entscheidungsfreiraum des Aufsichtsrats. 21 Vgl. die Formulierungen vonAlexy JZ 1986, S.701, 714 und Kopp/Schenke, Rdn. la sowie Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 54 und Wolff/Bachof/Stober, recht I, §31 Rdn. 18.

V w G O , §114 Verwaltungs-

C.

aa) Die AR AG-Entscheidung

des

Aufsichtsrat

121

Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof führt zu diesem Fragenkreis aus: „Die Entscheidung des Aufsichtsrats, ob ein Vorstandsmitglied wegen Verletzung seiner Geschäftsführungspflichten auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden soll, erfordert zunächst die Feststellung des zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht sowie eine Analyse des Prozeßrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung. Bei seiner Beurteilung, ob der festgestellte Sachverhalt den Vorwurf eines schuldhaft pflichtwidrigen Vorstandsverhaltens rechtfertigt, hat der Aufsichtsrat zu berücksichtigen, daß dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte des Gesellschaftsunternehmens ein weiter Handlungsspielraum zukommen muß, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar i s t . . . Eine ,Entscheidungsprärogative', die zur Beschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit führt, kann der Aufsichtsrat für diesen Teil seiner Entscheidung ... nicht in Anspruch nehmen. Bei der Prüfung des Bestehens und der Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs steht dem Aufsichtsrat keine andere Aufgabe zu als jedem anderen, der in eigener oder fremder Sache ein Urteil über das Bestehen eines Anspruchs und die Aussichten einer gerichtlichen Geltendmachung desselben abzugeben hat. Die Haltbarkeit und Richtigkeit seiner Beurteilung der Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Anspruchsverfolgung sind im Streitfall vor Gericht grundsätzlich voll nachprüfbar, da es bis hierher nicht um Fragen des Handlungs-, sondern allein des Erkenntnisbereichs geht, für die allenfalls die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht kommen kann ... Führt eine solche sorgfältig und sachgerecht von dem Aufsichtsrat vorgenommene Prozeßrisikoanalyse zu dem Ergebnis, daß der Gesellschaft voraussichtlich - Gewißheit kann nach Lage der Dinge insoweit nicht verlangt werden - Schadensersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder zustehen, kann sich ... auf der nächsten Stufe die Frage stellen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs und damit einer Wiedergutmachung des der Gesellschaft zugefügten Schadens absehen kann." 2 2 Der Bundesgerichtshof gibt dem Aufsichtsrat eine dreistufige Prüfung auf. Zuerst hat der Aufsichtsrat eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen (Bestehen des Schadensersatzanspruchs; Feststellung des zum Schadensersatz verpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht). Des weiteren hat der Aufsichtsrat die Erfolgsaussichten einer Klage zu prüfen und dabei insbesondere etwaige Beweisschwierigkeiten und die Beitreibbarkeit der Klagesumme in Rechnung zu stellen (Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs: Analyse des Prozeßrisikos und Abschätzung der Beitreibbarkeit der Forderung). Schließlich hat er über die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs zu befinden (Verfolgung 22

BGH ZIP 1997, S.883, 885f. - ARAG/Garmenbeck.

122

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

des Schadensersatzanspruchs).23 Die Frage, ob und inwieweit dem Aufsichtsrat im jeweiligen Prüfungsabschnitt Entscheidungsfreiräume zustehen, wird kontrovers beurteilt. 24 Hier interessiert nur der erste Prüfungsabschnitt. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird ganz überwiegend dahin verstanden, daß dem Aufsichtsrat mit Blick auf das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs und damit das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 AktG keine Einschätzungsprärogativen zukommen sollen.25 So führt Peter Kindler aus: „In grundsätzlicher Hinsicht erläuterungsbedürftig ist hier zunächst die vom Senat unterstrichene volle gerichtliche Nachprüfbarkeit der,Haltbarkeit und Richtigkeit' der gesamten Erfolgschancenprüfung. Dabei bewegt sich der Aufsichtsrat... im kognitiven Bereich. Dort gibt es ... nur zutreffende und unzutreffende Erkenntnisse. Insoweit hat der" Bundesgerichtshof den Aufsichtsrat „lediglich zu der Prüfung aufgefordert, ob der Vorstand bei der zu beurteilenden Maßnahme die Grenzen des Leitungsermessens eingehalten hat oder nicht. Definiert der Aufsichtsrat hierbei die Ermessensgrenzen des Vorstands fehlerhaft und verneint er auf der Grundlage dieses fehlerhaften Prüfungsmaßstabs eine Pflichtverletzung durch den Vorstand, so liegt seinerseits ein Pflichtverstoß durch den Aufsichtsrat vor." 26 Dieses Verständnis befremdet, wenn man sich die Formulierungen des Bundesgerichtshofs anschaut. Er spricht von einer nur „grundsätzlich vollen Nachprüfbarkeit" und von einer „Gewißheit," die nicht verlangt werden könne. Daher erwägt er die „Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums." Vor diesem Hintergrund muß sich der Schluß geradezu aufdrängen, daß der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat - wenn auch nur ausnahmsweise und lediglich in begrenztem Ausmaß - Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zuerkennen will, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird. Dies 23 Horn ZIP 1997, S. 1129,1138; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1123; Henze BB 2000, S.209, 215; vgl. auch Heermann AG 1998, S.201, 203ff. und Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,112ff. 24 Roth, Ermessen, S. 121ff.; Horn ZIP 1997, S.1129, 1136ff., 1138f.; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1123f.; Heermann AG 1998, S.201, 203ff.; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,109ff.; Dreher ZHR 158 (1994), S.614, 618ff., 637ff.; Lutter ZIP 1995, S.441, 441 f.; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157, 1158ff.; Nirk, Festschrift für Boujong, S.402ff., 404f., 406ff.; Fischer BB 1996, S. 225,226f., 227f. Die Diskussion hat an einer Problemverschiebung gelitten: Es wurde darüber gestritten, ob und inwieweit eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats vorliege und dem Aufsichtsrat deshalb Entscheidungsfreiräume zustünden; siehe dazu nur: Dreher ZHR 158 (1994), S.614, 618ff., 637ff.; Lutter ZIP 1995, S.441, 441f.; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S.1157, 1158ff.; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1137; Nirk, Festschrift für Boujong, S.402ff., 404f., 406ff.; Fischer BB 1996, S.225, 226f., 227f. Es ist Heermann AG 1998, S.201, 203, der zutreffend darauf hinweist, daß das Ergebnis dann „freilich von der eigenen Grenzziehung bei der unternehmerischen Tätigkeit abhängt." 25 Horn ZIP 1997, S. 1129, 1138; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123; Heermann AG 1998, S.201, 203; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 109, 112f. 26 Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 112f.

C.

Aufsichtsrat

123

erscheint auf den ersten Blick auch überzeugend, weil es Fälle gibt, „in denen sich die Prüfungsstufen a) und b) (Tatbestandsfeststellung und Prüfung der Erfolgsaussichten eines Klageverfahrens) zum einen nicht idealtypisch auseinanderhalten lassen und zum anderen den Aufsichtsrat vor schwerwiegende Probleme stellen werden." 2 7 bb) Die richtige

Fragestellung

Die Ausgangsfrage lautet, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick darauf zukommen, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G erfüllt hat und/oder erfüllen wird. Man kann es auch anders formulieren: Gibt es nur „zutreffende oder unzutreffende Erkenntnisse" 2 8 und damit nur „richtige und unrichtige" oder auch „haltbare" Erkenntnisse 29 über die „Grenzen, in denen sich ein vom Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß" 3 0 ? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob der Gesetzgeber den Aufsichtsrat mit der Prüfung des Vorliegens einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G dazu verpflichtet, (jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Entscheidungstypen) bei der Bestimmung einer Handlungsvoraussetzung zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen. cc) Der richtige Ansatz Eine Überlegung scheint dafür zu sprechen, diese Frage zu bejahen. Die Frage, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G erfüllt hat und/oder erfüllen wird, wird häufig schwierig zu beantworten sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Vorstand bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einschätzen mußte/muß und/oder bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem bewältigen mußte/muß. Der Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G könnte dem Aufsichtsrat aus diesem Grund Einschätzungsprärogativen verleihen. Dieser Schluß ist jedoch nicht überzeugend. Es besteht nämlich ein entscheidender Unterschied zwischen dem Handeln des Vorstands und der Prüfung des Vorliegens einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G durch den Aufsichtsrat. Der Erkenntnisakt des Aufsichtsrats zeichnet sich 27 28 29 30

Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123. So die Formulierung von Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 112. Vgl. die Formulierungen des B G H ZIP 1997, S. 883, 887 - ARAG/Garmenbeck. B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck

124

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

durch die Konkretisierung und Wahrnehmung der ihm aufgrund des § 111 Abs. 1 A k t G mit dieser Prüfung obliegenden Aufgabe aus. Die Prüfungsaufgabe ist durch die Interpretation des § 111 Abs. 1 A k t G zu konkretisieren, und dies führt zu dem Ergebnis, daß dem Aufsichtsrat keine andere Prüfung abverlangt wird als jedem anderen, der ein Urteil über das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des §93 A k t G abzugeben hat. 31 Die Konkretisierung und Wahrnehmung dieser Prüfungsaufgabe besteht darin, die Prüfungskriterien zu bestimmen und im Einzelfall anzuwenden. (1) Konkretisierung

der

Aufgabe

Die Frage, aufgrund welcher Kriterien das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des §93 A k t G zu prüfen ist, ist eine reine Rechtsfrage, die keiner Einschätzungsprärogative unterliegen kann. Die Interpretation des Uberwachungsauftrags des § 111 Abs. 1 A k t G ist weder die Aufgabe des Vorstands noch die Aufgabe des Aufsichtsrats, sondern die Aufgabe der Gerichte. 32 Daran ändert auch der Befund nichts, daß zahlreiche Entscheidungen des Vorstands wegen der zwangsläufig unvollkommenen Einsicht in die Zusammenhänge unstrukturierter Managementprobleme und der daraus folgenden „uneinlösbaren Richtigkeitsgewähr" 33 nicht unter „dem Ideal objektiver Richtigkeit" 3 4 stehen können. Der einfordbaren Entscheidungsqualität und damit auch dem Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G sind in der Tat inhärente Grenzen gesetzt. 35 Die Frage, aufgrund welcher Kriterien das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G zu prüfen ist, ist jedoch identisch mit der Frage, welche Rechtspflichten dem Vorstand aufgrund des § 93 A k t G obliegen. Gerade in dem Fall, in dem die Interpretation der einer konkreten Entscheidung zugrundeliegenden Befugnisnorm (etwa des § 76 Abs. 1 AktG) ergibt, daß dem Vorstand aus den soeben genannten Gründen zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, werden die dem Vorstand insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG in der Weise konkretisiert, daß (nur) die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler bestimmt werden (negative Kontrolle). (2) Wahrnehmung

der

Aufgabe

Die Anwendung der Kriterien, aufgrund derer das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G zu prüfen ist, mag häufig 31 32 33 34 35

Vgl. B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. Vgl. dazu nur Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.9. So die Formulierungen von von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 6, 7. Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 6. Vgl. die Formulierung von von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 27, 32.

C. Aufsichtsrat

125

schwierig sein. Sie erfordert aber selbst dann keine Einschätzung unstrukturierter hochkomplexer Probleme. Sie besteht vielmehr in der Anwendung gesicherter rechtlicher Maßstäbe. 3 6 Es sind weder Abschätzungen von zukünftigen E n t w i c k lungen, Risiken, wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen und/oder gesamtwirtschaftlichen/politischen Tendenzen noch - wie bei prüfungs- oder dienstrechtlichen Bewertungen - persönliche Eindrücke oder Erfahrungen erforderlich, die die Zubilligung von Einschätzungsprärogativen rechtfertigen könnten. 3 7 D a ß die Anwendung der Kriterien, aufgrund derer das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G zu prüfen ist, nicht dieselben Unwägbarkeiten birgt wie (häufig) das Handeln des Vorstands, zeigt sich gerade im Fall der negativen Kontrolle. D e r Vorstand mag seinerseits bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen gehabt haben/haben und/oder bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen gehabt haben/haben. D e r Aufsichtsrat ist jedoch nicht in derselben Lage: E r muß lediglich prüfen, ob der Vorstand die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G eingehalten hat und/oder einhalten wird und damit eine rechtlich vertretbare E n t scheidung getroffen hat/treffen wird. Das bedeutet, er muß nur prüfen, o b der Vorstand, soweit ihm bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler vermieden hat und/ oder vermeiden wird. Diese Frage kann ihrerseits keine Erkenntnisprobleme (mehr) aufwerfen, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist. 38 D a h e r ist das Vorliegen der rechtlich relevanten Entscheidungsfehler rechtlich voll nachprüfbar. D e r beste Beleg dafür ist, daß die U . S . amerikanischen Gerichte bei der Ü b e r prüfung von „business decisions" 3 9 (und die Verwaltungsgerichte bei der Ü b e r prüfung von Planungsentscheidungen 4 0 ) auch in schwierigen Fällen keine Probleme mit der Prüfung haben, ob die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler vorliegen. Dies zeigt eindrucksvoll, daß die Gerichte zwar nicht die Entscheidung, wohl aber das Vorliegen der rechtlich relevanten Entscheidungsfehler zu prüfen vermögen, ohne dabei an ihre G r e n z e n zu stoßen. D i e negative K o n t r o l l e einer Entscheidung birgt nicht dieselben Unwägbarkeiten wie die Entscheidung selbst.

36 Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.18 und Kopp/Schenke, VwGO, §114Rdn.la, 23, 24. 37 Vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.20, 21f. und Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn.23, 24, 24a, 25, 30ff., 34ff., 37ff., 38. 38 Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.29, 54. 39 Siehe dazu von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 490ff. iVm. 483ff. zur Frage des informed judgement. 40 Siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. 34ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung.

126

dd)

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Rechtsvergleich

A n dieser Stelle ist wiederum ein B l i c k ins Verwaltungsrecht lehrreich. D a ß die Anwendung der Kriterien, aufgrund derer das Vorliegen einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G zu prüfen ist, schwierig sein kann, rechtfertigt für sich genommen nicht die Zubilligung einer Einschätzungsprärogative. D e r Umstand, daß „die jeder Rechtsanwendung obliegende Verkopplung von Lebenssachverhalt und Rechtsfolge ... ein menschliches E r k e n nen, Urteilen, Bewerten und Schließen, das Irrtümern und Fehlern ausgesetzt ist," erfordert, das um so problematischer ist, „je verwickelter der Sachverhalt oder je ferner er dem im Tatbestand typisierten Sachverhalt ist und je unklarer der gesetzliche Tatbestand oder auch die Rechtsfolge ist," läßt noch nicht den Schluß zu, dem Entscheidungsträger k o m m e eine Einschätzungsprärogative zu. D e n n allein aus diesem G r u n d bestehe noch keine Entscheidungsfreiheit, und zwar „weder hinsichtlich der Tatsachenfeststellung noch hinsichtlich der Inhaltsbestimmung des Rechtssatzes noch hinsichtlich der Subsumtion." 4 1 So kann die Beurteilung der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit erhebliche Schwierigkeiten bereiten, aber sie unterliegt nach herrschender Ansicht keiner Einschätzungsprärogative, sondern wirft lediglich schlichte Rechtsanwendungsprobleme auf. 42 D i e Prüfung des Vorliegens einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G und gerade die Prüfung, o b der Vorstand, soweit ihm bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler vermieden hat und/oder vermeiden wird, wirft keine anderen Probleme auf als die Beurteilung der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit. Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, dem Aufsichtsrat insoweit E i n schätzungsprärogativen zuzubilligen. Das an sich naheliegende Verständnis der Entscheidung des Bundesgerichtshofs, für die Prüfung des Vorliegens einer (drohenden) Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G könne „die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht k o m m e n " , 4 3 ist vor diesem Hintergrund nicht überzeugend. 4 4

ee)

Ergebnis

D e r Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G verlangt dem Aufsichtsrat mit der Prüfung, o b der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G erfüllt hat und/oder erfüllen wird, keine Einschätzung zumindest eines unstrukturierten hochkomplexen P r o blems ab. D e r Aufsichtsrat hat lediglich die Fragen zu klären, welche R e c h t s Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.6. Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.28; Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.29; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 11. 43 B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 44 Wie hier Kindler 2 H R 162 (1998), S. 101, 112f. 41 42

C.

Aufsichtsrat

127

pflichten dem Vorstand aufgrund des § 93 AktG obliegen und ob der Vorstand diese Rechtspflichten eingehalten hat und/oder einhalten wird. Die dem Vorstand obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG müssen in ihrer Eigenschaft als Haftungsmaßstab rechtlich voll nachprüfbar sein. Die unabweisbare Konsequenz lautet, daß der Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG dem Aufsichtsrat mit einer Prüfungsaufgabe, die im Lichte von Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG konkretisiert wird, keine Einschätzungsprärogativen verleiht. In dogmatischer Hinsicht lautet der Befund wie folgt: Die Konkretisierung einer dem Aufsichtsrat aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Prüfungsaufgabe im Lichte der dem Vorstand obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG dient einer positiven Kontrolle des Aufsichtsrats: Die Prüfung des Aufsichtsrats, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird, ist rechtlich voll nachprüfbar. Sie dient zugleich in bestimmten Fällen einer negativen Kontrolle des Vorstands: Die Konkretisierung einer dem Aufsichtsrat aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Prüfungsaufgabe im Lichte der dem Vorstand obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG kann Entscheidungsfreiräume des Vorstands sichern und begrenzen. Die Frage, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zukommen, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG erfüllt hat und/oder erfüllen wird, ist nach alledem zu verneinen.

b) Die Erkenntnis einer besseren

Entscheidung

Steht dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zu und darf der Aufsichtsrat annehmen, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, stellt sich ein besonderes Problem: Ist der Aufsichtsrat zu der Prüfung verpflichtet, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde? Wenn dies zu bejahen ist, kommen dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf diese Frage zu?

aa)

Prüfungspflicht

Der Aufsichtsrat ist unter den genannten Voraussetzungen zu der Prüfung verpflichtet, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde. Dies läßt sich daraus folgern, daß einige der vom Gesetz dem Aufsichtsrat ausdrücklich zugewiesenen Aufgaben mit Uberwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 AktG diese Prüfung verlangen. Die Abberufung aus einem sonstigen Grund nach § 84 Abs. 3 AktG k a n n - v o r behaltlich der Wichtigkeit des sonstigen Grundes - auf eine abweichende, aber

128

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

rechtlich gleichwertige Ansicht des Aufsichtsrats darüber gestützt werden, wie die künftige Entwicklung des Unternehmens erfolgreich gestaltet werden soll.45 Die Verweigerung einer nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG erforderlichen Zustimmung kann mit abweichenden, aber rechtlich gleichwertigen „rein unternehmerischen Vorstellungen" bzw. „reinen Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsüberlegungen" des Aufsichtsrats begründet werden.46 Der Aufsichtsrat muß zunächst einmal in den gesetzlich geregelten Fällen - prüfen, ob er selbst aufgrund abweichender, aber rechtlich gleichwertiger Ansichten zur künftigen Entwicklung des Unternehmens bzw. „reiner Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsüberlegungen" anders handeln würde als der Vorstand. In diesen Regelungen kommt zum Ausdruck, daß nach der gesetzgeberischen Konzeption auch der Aufsichtsrat für das Unternehmen verantwortlich ist und deshalb auch selbständig überlegen muß, wie das Unternehmen am besten zum Erfolg geführt werden kann und welche Entscheidungen im Hinblick auf dieses Ziel die besten sind. Vor diesem Hintergrund drängt es sich geradezu auf, daß der Aufsichtsrat nicht nur in den gesetzlich geregelten Fällen, sondern in allen Fällen zu prüfen hat, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde. Johannes Semler führt mithin zu recht aus: „Wenn der Aufsichtsrat bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit oder der Zweckmäßigkeit zum Ergebnis kommt, daß der Vorstand mit seinem Vorhaben innerhalb vertretbaren Ermessens bleibt, er selbst aber anders handeln würde, der Aufsichtsrat also zu anderen Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsüberlegungen kommt als der Vorstand, sind dafür andere entscheidungserhebliche Tatsachen oder eine andere Gewichtung der Tatsachen bedeutsam." Der Aufsichtsrat dürfe „die von ihm gesehenen entscheidungserheblichen Momente nicht für sich behalten", und ein Schweigen sei stets als „positive Wertung, als Ubereinstimmung mit der Auffassung des Vorstands" anzusehen. Der Aufsichtsrat sei verpflichtet, „dem Vorstand das Ergebnis seiner Wertung mitzuteilen". Denn „aus der gemeinsamen Verantwortung beider Verwaltungsorgane gegenüber dem Unternehmen" sei zu folgern, „daß jedes Organ die pflichtmäßige Aufgabenerfüllung des anderen Organs unterstützen muß". 47 bb)

Einschätzungsprärogativen

Die Antwort auf die Frage, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf die Frage zukommen, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde, entscheidet im 45 Semler, Überwachung, S. 149; Mutter, Entscheidungen, S. 78 ff.; Mertens, Kölner Kommentar, §84 Rdn. 103. 46 Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 85 und Semler, Überwachung, S. 115f., 120ff. 47 Überwachung, S.115f., siehe auchS.150f., 147f., 148f., U l f . , 112ff., 124ff. und noch deutlicher Überwachungsaufgabe, S. 96, wo er darauf hinweist, für den Aufsichtsrat sei diese Stellungnahme Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe, bei der er den §§ 116, 93 AktG unterliege.

C. Aufsichtsrat

129

Verhältnis zu den zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116,93 AktG insbesondere berufenen A k tionären (und damit auch im Verhältnis zu den von ihnen in Anspruch genommenen Gerichten) ebenfalls über die Kontrolldichte und damit über die Reichweite der verbandsinternen Kontrollrechte. Allerdings ist sie leichter zu beantworten. Für die Erfüllung der dem Aufsichtsrat im Hinblick auf den Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 AktG kommt es darauf an, ob er die mit der Prüfung, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde, verbundenen Fragen eingeschätzt hat/einschätzen wird und dabei rechtlich vertretbare Einschätzungen vorgenommen hat/vornehmen wird (insoweit negative Kontrolle der Entscheidung des Aufsichtsrats). Der Gesetzgeber verpflichtet den Aufsichtsrat mit der Erkenntnis einer besseren Entscheidung in den Fällen, in denen dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht und in denen der Aufsichtsrat annehmen darf, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, dazu, bei der Bestimmung einer Handlungsvoraussetzung (Analyse des Handlungsbedarfs) zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen. In diesem Prüfungsschritt ist der Aufsichtsrat in derselben Lage wie es der Vorstand war/ist: Der Vorstand mußte/muß bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einschätzen und/oder bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem bewältigen. Der Aufsichtsrat, der annehmen darf, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird und deshalb zu prüfen hat, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde, steht nun denselben Fragen gegenüber wie der Vorstand. Er kommt gar nicht umhin, wie der Vorstand das (die) bei der Analyse des Handlungsbedarfs auftretende(n) unstrukturierte(n) hochkomplexe(n) Problem(e) einzuschätzen und/oder sich eine eigene Ansicht dazu zu bilden, wie das (die) bei der Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und der abschließenden Auswahl eines Handlungsprogramms auftretende(n) unstrukturierte(n) hochkomplexe(n) Problem(e) zu bewältigen ist (sind). Die Konsequenz liegt auf der Hand: In diesem Prüfungsschritt führen die dem Vorstand zuzubilligenden Entscheidungsfreiräume dazu, daß auch dem Aufsichtsrat Entscheidungsfreiräume zuerkannt werden müssen. Der Grund dafür ist, daß es hier um die Fälle geht, in denen mehrere rechtlich vertretbare Entscheidungen existieren. Der Aufsichtsrat vermag die Auswahl unter diesen Entscheidungen durch den Vorstand zwar nicht zu überprüfen und stößt daher an seine Grenzen. Er muß die Entscheidung des Vorstands in diesen Fällen jedoch in dem beschriebenen Sinne an sich ziehen, weil er die Aufgaben-

130

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Wahrnehmung durch den Vorstands nicht nur auf eine Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 93 A k t G zu überprüfen hat. Das gleiche gilt für die zur Kontrolle des Aufsichtsrats insbesondere berufenen Aktionäre: Sie vermögen die Auswahl unter diesen Entscheidungen durch den Aufsichtsrat nicht zu überprüfen und stoßen deshalb an ihre Grenzen. Sie können die Entscheidung des Aufsichtsrats in diesen Fällen jedoch an sich ziehen und die Aufsichtsratsmitglieder abberufen (§103 AktG). Sie haben die Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat nicht nur auf eine Pflichtwidrigkeit im Sinne der §§116, 93 A k t G zu überprüfen. Hier zeigt sich mithin die Dualität der Überwachung: Die Entscheidung kann nicht nur überprüft, sondern auch ersetzt werden; es gibt einen Bereich pflichtgemäßer/pflichtwidriger Aufgabenwahrnehmung im Sinne der § § 9 3 , 116 A k t G und einen Bereich einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung. Soweit der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G erhoben wird, müssen die Aufsichtsräte (und die von ihnen in Anspruch genommenen Gerichte) es hinnehmen, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird. Soweit der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116, 93 A k t G erhoben wird, müssen die Aktionäre (und die von ihnen in Anspruch genommenen Gerichte) es hinnehmen, daß der Aufsichtsrat die mit der Prüfung, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde, verbundenen Fragen eingeschätzt hat/einschätzen wird und dabei rechtlich vertretbare Einschätzungen vorgenommen hat/vornehmen wird. Da dem Vorstand und dem Aufsichtsrat in diesen Fällen Entscheidungsfreiräume zustehen, ist der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne der § § 9 3 , 116 A k t G nicht gerechtfertigt, wenn der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler vermieden hat und/oder vermeiden wird. Vor diesem Hintergrund werden auch die dogmatischen Konsequenzen deutlich: Die dem Aufsichtsrat in diesem Prüfungsschritt aufgrund des Uberwachungsauftrags des § 111 Abs. 1 A k t G obliegende Aufgabe wird nicht im Lichte der dem Vorstand obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G konkretisiert. Die Frage nach einer positiven oder negativen Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat kann sich hier nicht stellen. Die positive wie die negative Kontrolle knüpft an Rechtspflichten an. In diesem Prüfungsschritt geht es aber nicht um den Bereich der pflichtgemäßen/pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G , sondern um den Bereich der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand. Dieser Befund hat wichtige Folgen für die Konkretisierung der den Vorständen/Aufsichtsräten in diesen Fällen obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r §§116, 93 A k t G . Die Kriterien für die Erkenntnis einer besseren

C. Aufsichtsrat

131

Entscheidung durch den Aufsichtsrat können grundsätzlich keine anderen sein als die Kriterien für die zugrundeliegende Entscheidung des Vorstands. D i e der Prüfung einer insoweit pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den A u f sichtsrat im Sinne der § § 1 1 6 , 93 A k t G zugrunde zu legenden Kriterien können grundsätzlich keine anderen sein als die der Prüfung einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G zugrunde zu legenden Kriterien. D i e den Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 1 1 6 , 93 A k t G können grundsätzlich keine anderen sein als die den Vorständen obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G . D e r Vorwurf einer insoweit pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der § § 1 1 6 , 93 A k t G kann grundsätzlich nur auf die Umstände gestützt werden, auf die auch der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G gestützt werden könnte. M i t Blick auf die Erkenntnis einer besseren Entscheidung durch den Aufsichtsrat müssen die den Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 1 1 6 , 93 A k t G im Lichte der den Vorständen obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G bestimmt werden.

cc) Ergebnis D i e Fragen, ob der Aufsichtsrat, wenn dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht und wenn der A u f sichtsrat annehmen darf, daß der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, zu der Prüfung verpflichtet ist, o b er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/ treffen würde, und, wenn dies zu bejahen ist, ob dem Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen mit Blick auf diese Frage zukommen, sind nach alledem zu bejahen.

c) Die Einwirkung auf den Vorstand D i e A n t w o r t auf die Frage, ob dem Aufsichtsrat Ermessensspielräume mit Blick auf die Frage zukommen, ob und gegebenenfalls wie auf den Vorstand einzuwirken ist, läßt sich nur beantworten, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchen Fällen der Aufsichtsrat vor dieser Frage steht und welche Einwirkungsmöglichkeiten ihm in diesen Fällen zur Verfügung stehen.

aa) Einwirkungsfälle

und

Einwirkungsmöglichkeiten

D e r Aufsichtsrat steht in zwei Fällen vor der Frage des „ o b " und „wie" der E i n wirkung auf den Vorstand. Im ersten Fall ist eine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G gegeben. Dieser Fall liegt vor, wenn der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G verletzt hat und/oder verletzten wird

132

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

(Vorliegen einer eingetretenen/drohenden Pflichtverletzung des Vorstands). I m zweiten Fall ist eine bloße Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand gegeben (Erkenntnis einer besseren Entscheidung durch den Aufsichtsrat). Dieser Fall liegt vor, wenn dem Vorstand bei der zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht und er eine rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hat/treffen wird, der Aufsichtsrat aber zu dem Ergebnis gelangt und gelangen darf, daß er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung getroffen hätte/treffen würde. D e m Aufsichtsrat stehen in beiden Fällen grundsätzlich dieselben E i n w i r kungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dies ergibt sich für die R e c h t e zur A n o r d nung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten ( § 1 1 1 Abs. 4 Satz 2 A k t G ) und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung ( § § 1 7 0 Abs. 1 und A b s . 2 , 314 Abs. 1 Satz 1 A k t G ; § § 1 7 1 Abs. 1 und A b s . 4 , 3 1 4 A b s . 2 Satz 1 und A b s . 4 A k t G ; § § 1 7 1 A b s . 2 Satz 3 und Satz 5 sowie A b s . 4 , 314 Abs. 2 Satz 2 A k t G ; §§ 171 Abs. 2 Satz 4 und Satz 5 sowie Abs. 3 Satz 3 und A b s . 4, 314 Abs. 3 A k t G ; § 321 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 H G B ) bereits aus dem R e c h t des Aufsichtsrats zur Mitentscheidung. 4 8 Dasselbe gilt aber auch für das Beanstandungsrecht (Recht zur bloßen Stellungnahme), das Geschäftsführungsund Vertretungsrecht (Recht zur Änderung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse der Vorstandsmitglieder - § 77 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 77 A b s . 2 Satz 1 A k t G , § 78 Abs. 3 Satz 2 A k t G ) , das Geschäftsordnungsrecht (Recht zur A n d e -

48 Vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 57, 119ff., 128ff. Siehe zur Anordnung und Ausübung von ad hoc Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme von Einzelgeschäften nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG: BGH BGHZ 124, S. 111, 127 - Vereinte Krankenversicherung; Henze BB 2005, S. 165,167 und BB 2000, S.209, 215; Boujong AG 1995, S.203, 206. Im Hinblick auf die Anordnungspflicht auch im Rahmen der Zweckmäßigkeits- und Wirtschaftlichkeitskontrolle ist anzumerken, daß die meisten Zweckmäßigkeitsfehler (Maßnahme bezogen auf den angestrebten Zweck ungeeignet, nicht erforderlich oder unangemessen; Maßnahme damit zwecklos, zweckwidrig oder unzweckmäßig) Rechtsfehler sind. In diesen Fällen droht eine Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 AktG, die der Aufsichtsrat durch Anordnung und Ausübung von ad hoc Zustimmungsvorbehalten nach § 111 Abs.4 Satz 2 AktG verhindern muß, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht (so wohl auch Boujong AG 1995, S.203, 206). Davon zu trennen ist die Frage, ob der Aufsichtsrat zur Anordnung und Ausübung von ad hoc Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme von Einzelgeschäften nach §111 Abs.4 Satz 2 AktG berechtigt ist, wenn keine Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des §93 AktG vorliegt, er jedoch anders handeln würde als der Vorstand. Diese Frage ist zu bejahen, und zwar nicht nur für einzelne Geschäfte „von außerordentlicher Bedeutung" (so aber Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn.65) oder „in gravierenden Fällen" (so aber Henze BB 2000, S.209, 215). Wenn der Aufsichtsrat ein ganzes Geschäftsfeld von seiner Zustimmung abhängig machen darf, muß er dies auch für ein einzelnes davon umfaßtes Geschäft können, und wenn der Vorstand ein einzelnes Geschäft für so bedeutend hält, daß er selbst entscheidet, muß dies die Überwachung durch den Aufsichtsrat nach sich ziehen (so zutreffend auch Mutter, Entscheidungen, S. 63f.).

C.

Aufsichtsrat

133

rung der Geschäftsordnung des Vorstands - § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG), das Vergütungsrecht (Recht zur Änderung der Grundsätze für die Gewährleistung angemessener Gesamtbezüge der Vorstandsmitglieder - § 87 AktG), das Vorteilsrecht (Recht zur Änderung der Grundsätze für die Befreiung der Vorstandsmitglieder vom Wettbewerbsverbot und für die Gewährung von Krediten an Vorstandsmitglieder - §§ 88, 89 AktG), das Nicht-Wiederwahlrecht (Recht zur Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern - § 84 Abs. 1 AktG), das Abberufungsrecht (Recht zur Abberufung von Vorstandsmitgliedern - §84 Abs. 3 AktG) und das Einberufungsrecht (Recht zur Einberufung einer Hauptversammlung - § 111 Abs. 3 AktG). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut (§ 84 Abs. 3 AktG: Ein solcher Grund ist namentlich grobe Pflichtverletzung, Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung oder Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung) und/oder aus dem Sinn und Zweck der Vorschriften. 49 Das einzige Recht, daß dem Aufsichtsrat ausschließlich im Fall einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG zur Verfügung steht, ist das Recht zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder (§ 93 AktG). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage des „ob" und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand im Fall einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG und im Fall einer bloßen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand grundsätzlich in gleicher Weise. Dieses Ergebnis kann auch gar nicht überraschen. Es entspricht dem bereits gewonnenen Befund, daß die Entscheidungsprozesse des Aufsichtsrats im Rahmen der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge und im Rahmen der Überwachung abgeschlossener Vorgänge nahezu identisch sind. Die Überwachung ist grundsätzlich (zumindest auch) zukunftsorientiert, weil es (jedenfalls vorrangig) um die Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand geht (und daneben gegebenenfalls um die Sanktionierung der Unternehmensführung). Der Aufsichtsrat steht deshalb immer (zumindest auch) vor der Frage, ob er etwas unternehmen darf, soll oder muß und was er gegebenenfalls unternehmen darf, soll oder muß, um den Vorstand zu veranlassen, eine zu überwachende anstehende Entscheidung nicht oder anders zu treffen, eine zu überwachende getroffene oder in Ausführung befindliche Entscheidung (oder die Einzelheiten ihrer Ausführung) zu ändern und/oder mit Blick auf die einer Entscheidung nachfolgenden Entscheidungsprozesse von der bisherigen Strategie abzuweichen. Er

4 9 Vgl. dazu Semler, Ü b e r w a c h u n g , S.112ff., 117f., 150f., 147f., 148f. Siehe zu § 1 1 1 A b s . 3 A k t G nur Semler, Ü b e r w a c h u n g , S. 126 Fn. 342 und Mutter, Entscheidungen, S. 90ff. Siehe zu § 8 4 Abs. 1 A k t G nur Henze BB 2000, S.209, 212f. Siehe zu § 8 4 A b s . 3 A k t G nur Mutter, Entscheidungen, S. 79f.

134

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

steht daneben gegebenenfalls vor der Frage, ob er die zu überwachende Handlung ahnden soll. Der einzige Unterschied hinsichtlich des „ob" und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand im Fall einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG und im Fall einer bloßen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand ist derselbe, der als einziger zwischen der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge und der Überwachung abgeschlossener Vorgänge besteht: Nur bei Vorliegen einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG und im Rahmen der Überwachung abgeschlossener Vorgänge steht der Aufsichtsrat (gegebenenfalls) vor der Frage, ob er gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder einen Schadensersatzanspruch (§ 93 AktG) geltend machen darf, soll oder muß, damit die der Gesellschaft durch den Vorstand (gegebenenfalls) zugefügte Vermögenseinbuße ausgeglichen wird. Die Eigenart dieses Falles liegt darin, daß es nicht (zumindest auch) um die zukunftsorientierte Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand, sondern nur (und zwar ausschließlich) um die repressive Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand.

bb)

Ermessensspielräume

Betrachtet man nun die Frage, ob dem Aufsichtsrat Ermessensspielräume mit Blick auf die Frage zukommen, ob und gegebenenfalls wie auf den Vorstand einzuwirken ist, so ist im Ausgangspunkt zwischen dem Entschließungsermessen („ob" der Einwirkung auf den Vorstand) und dem Auswahlermessen („wie" der Einwirkung auf den Vorstand) zu unterscheiden.

(1)

Entschließungsermessen?

Ein Entschließungsermessen kann dem Aufsichtsrat nicht zuerkannt werden. Im Fall einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG ist der Aufsichtsrat ebenso zum Eingreifen verpflichtet wie im Fall einer bloßen Meinungsverschiedenheit mit dem Vorstand im Bereich der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand. Die Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat erfolgt nicht um ihrer selbst willen und kann sich nicht in bloßen Feststellungen erschöpfen. Die dem Aufsichtsrat eingeräumten umfangreichen Befugnisse zur Einwirkung auf den Vorstand sollen sicherstellen, daß er aufgrund der Ergebnisse seiner Prüfung einschreiten kann, wenn er mit der Auffassung des Vorstands nicht übereinstimmt. Der Aufsichtsrat ist der Sachwalter der Aktionärsinteressen, die ihrerseits angesichts ihrer geringen Einwirkungsmöglichkeiten nur begrenzt zur Überwachung des Vorstands in der Lage sind. Daher muß der Auf-

C.

Aufsichtsrat

135

sichtsrat aufgrund der Ergebnisse seiner Prüfung einschreiten, wenn er mit der Auffassung des Vorstands nicht übereinstimmt. 50 Dies sollte im Fall einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG an sich selbstverständlich sein, geht es hier doch um die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände in der Aktiengesellschaft. 51 Dem entspricht es, daß der Bundesgerichtshof entschieden hat, der Aufsichtsrat müsse einen ad hoc Zustimmungsvorbehalt anordnen und ausüben, wenn er eine gesetzwidrige Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands nur noch auf diese Weise verhindern könne, 52 und der Aufsichtsrat dürfe von der Geltendmachung voraussichtlich begründeter Schadensersatzansprüche gegen einen pflichtwidrig handelnden Vorstand nur ausnahmsweise absehen, weil das Unternehmenswohl grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlange. 53 Diese Entscheidungen haben weitgehend Zustimmung gefunden. 54 Im Fall einer bloßen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand kann nichts anderes gelten. Wie Johannes Semler zutreffend ausführt, ist die Stellungnahme des Aufsichtsrats „Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe, bei der er den Bestimmungen der §§116, 93 Abs. 1 unterliegt". 55 Es liegt dann auf der Hand, daß der Aufsichtsrat es in den Fällen, in denen ihm das Gesetz weitere Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, nicht bei dieser Stellungnahme belassen darf, wenn er den Vorstand nicht von seiner Auffassung zu überzeugen vermag. Im Bereich der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand liegt sogar der Schwerpunkt der Überwachung beabsichtigter und laufender Vorgänge. Ganz in diesem Sinne hat der Bundesgerichtshof betont, daß die Überwachung der „grundsätzlichen Fragen der künftigen Geschäftspolitik" eine „ständige Diskussion mit dem Vorstand ... über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung" erfordert. 56 Er ist damit auf Zustimmung gestoßen. 57

50

Vgl. Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 110 und Semler, Überwachung, S. 112 ff. Vgl. Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 110. 52 B G H B G H Z 124, S. 111, 127 - Vereinte Krankenversicherung. 53 B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 54 Siehe zu B G H B G H Z 124, S. 111, 127 - Vereinte Krankenversicherung etwa Henze BB 2000, S.209, 215 und Boujong A G 1995, S.203, 206; siehe zu B G H ZIP 1997, S.883, 886 ARAG/Garmenbeck etwa Henze BB 2001, S.53, 60 und BB 2000, S.209, 215f. sowie Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 113 und Heermann A G 1998, S.201, 206ff. 55 Semler, Uberwachungsaufgabe, S. 96. 56 B G H B G H Z 114, S. 127, 129f. - Beratungsurteil. 57 Henze BB 2000, S.209, 214 und BB 2001, S.53, 59; Boujong A G 1995, S.203, 204f. 51

136

(2)

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Auswahlermessen?

Ein Auswahlermessen scheint dem Aufsichtsrat schon deshalb zuerkannt werden zu müssen, weil die Einwirkungsmöglichkeiten, die dem Aufsichtsrat zur Verfügung stehen, ein sehr differenziertes Bild abgeben. (a) Heterogenität

der

Einwirkungsmöglichkeiten

Die Einwirkungsmöglichkeiten sind von unterschiedlicher Einwirkungsintensität. Sie reicht von der bloßen Stellungnahme über den Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder (§77 Abs. 1 Satz 2 iVm. §77 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 78 Abs. 3 Satz 2 AktG; § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG), die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder (§§ 87, 88, 89 AktG), die Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG), die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung (§§170 Abs. 1 und Abs.2, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG; §§ 171 Abs. 1 und Abs. 4, 314 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG; §§ 171 Abs. 2 Satz 3 und Satz 5 sowie Abs. 4, 314 Abs. 2 Satz 2 AktG; §§171 Abs. 2 Satz 4 und Satz 5 sowie Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4,314 Abs. 3 AktG; § 321 Abs. 1 bis Abs. 3 und Abs. 5 Satz 2 HGB) und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder (§ 93 AktG) bis hin zur schlichten Nicht-Wiederwahl (§ 84 Abs. 1 AktG) und Abberufung von Vorstandsmitgliedern (§ 84 Abs. 3 AktG) sowie zur Einberufung einer Hauptversammlung (§111 Abs. 3 AktG). 58 Die Einwirkungsmöglichkeiten unterscheiden sich weiter im Ansatzpunkt. Die bloße Stellungnahme, die Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden, 59 sind handlungsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. Der Aufsichtsrat greift damit unmittelbar auf das Handeln des Vorstands zu. Er wirkt nur auf das Handeln des Vorstands ein, also weder auf den Vorstand als Organ noch auf die Vorstände als Personen. Die Ausübung dieser Rechte ist deshalb nie eine Sanktion gegen die handelnden Vorstandsmitglieder. Der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die schlichte Nicht-Wiederwahl und Abberufung von Vorstandsmitgliedern sowie die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach §77 Abs. 2 Satz 1 AktG überträgt, oder einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach §84 Abs. 3 Satz 2

58 59

Vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 124ff., 148f. Siehe dazu nur Mutter, Entscheidungen, S. 92.

C.

Aufsichtsrat

137

A k t G herbeizuführen, 60 sind organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. D e r Aufsichtsrat greift damit nur (zumindest auch) mittelbar auf das Handeln des Vorstands zu. E r wirkt auf den Vorstand als Organ ein, um (zumindest auch) auf das Handeln des Vorstands einzuwirken. Die Ausübung dieser Rechte ist zugleich eine Sanktion gegen die handelnden Vorstandsmitglieder. 61 Die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder sind personenbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. Der Aufsichtsrat greift damit - jedoch allein im ersten Fall - nur (zumindest auch) mittelbar auf das Handeln des Vorstands zu. E r wirkt auf die Vorstände als Personen ein, um - allerdings nur im ersten Fall - (zumindest auch) auf das Handeln des Vorstands einzuwirken. Die Ausübung dieser Rechte ist - im ersten Fall auch, zweiten Fall ausschließlich - eine Sanktion gegen das betreffende Vorstandsmitglied. Die Einwirkungsmöglichkeiten unterscheiden sich damit auch in der Zielrichtung. Bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder geht es ausschließlich um die repressive Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand. Die bloße Stellungnahme, die Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden, dienen ausschließlich der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand. Der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die schlichte Nicht-Wiederwahl und Abberufung von Vorstandsmitgliedern sowie die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G überträgt, oder einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 A k t G herbeizuführen, und die N e u regelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder dienen (vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand und (daneben) der repressiven Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand. Die Einwirkungsmöglichkeiten unterscheiden sich schließlich im Anwendungsbereich. Sie knüpfen zum Teil an spezielle Maßnahmen des Vorstands an, zum Teil aber auch an qualifizierte Erfordernisse. Die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung setzt eben diese voraus. Die Abberufung von Vorstandsmitgliedern ist nur möglich, wenn ein wichtiger Grund vorliegt, und zwar namentlich grobe Pflichtverletzung, Unfähigkeit zur ordnungsmäßi60 61

Siehe dazu nur Mutter, Entscheidungen, S. 91 f. Vgl. dazu Semler, Überwachung, S. 148f. und Mutter, Entscheidungen, S. 78ff.

138

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

gen Geschäftsführung oder Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung, es sei denn, daß das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden ist. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder ist nur möglich, wenn der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist (Analyse des Prozeßrisikos und Abschätzung der Beitreibbarkeit der Forderung). 6 2 Beide Einwirkungsmöglichkeiten setzen - wie auch die Einberufung einer Hauptversammlung (wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert) - voraus, daß die berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen, ermittelt (Feststellung der für und gegen eine Abberufung/Inanspruchnahme/Einberufung sprechenden Gesichtspunkte) und gegeneinander abgewogen werden (Bewertung und Gewichtung der für und gegen eine Abberufung/Inanspruchnahme/Einberufung sprechenden Gesichtspunkte und abschließende Entschließung darüber, ob die Abberufung/Inanspruchnahme/Einberufung dem Unternehmenswohl dient). 63 Demgegenüber stellen sich die bloße Stellungnahme, der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder, die Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern als allgemeine Eingriffsmöglichkeiten dar. Sie knüpfen weder an spezielle Maßnahmen des Vorstands noch an qualifizierte Erfordernisse an, sondern stehen dem Aufsichtsrat unabhängig davon zur Verfügung, welcher Art die zu überwachende Handlung des Vorstands

6 2 B G H ZIP 1997, S.883, 886 - ARAG/Garmenbeck; Henze B B 2000, S.209, 215; Kindler Z H R 162 (1998), S. 101,112f.; Heermann A G 1998, S. 201,203ff.; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, \\2y,Hom ZIP 1997, S.1129, 1138. 6 3 Siehe zu §93 A k t G nur B G H ZIP 1997, S. 883, 886f. - ARAG/Garmenbeck und Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 113f. sowie Heermann A G 1998, S. 201,208. Siehe zu §84 Abs. 3 AktG nur Mertens, Kölner Kommentar, § 84 Rein. 104 und auch Rdn. 107. Siehe zu § 111 Abs. 3 AktG nur Meyer-Landrut, Großkommentar, § 111 Anm. 13. 6 4 Vgl. dazu Semler, Überwachung, S.112ff., 120ff., 124ff., 148f. In dem Recht zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG) wird hier eine allgemeine (einfache) Eingriffsmöglichkeit gesehen, obwohl es an „bestimmte Arten von Geschäften" anknüpft, so daß auf den ersten Blick alles für das Vorliegen einer an spezielle Maßnahmen des Vorstands anknüpfenden Eingriffsmöglichkeit spricht. Eine solche formale Betrachtung wird der Weite des Anwendungsbereichs des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG nicht gerecht. Sie zeigt sich nicht nur darin, daß viele, wenn nicht sogar die meisten zu überwachenden Handlungen des Vorstands Geschäfte im Sinne des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sind; siehe dazu Mutter, Entscheidungen, S.59f. und Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 61. Es kommt hinzu, daß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG das Recht zur Anordnung und Ausübung von ad hoc Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme von Einzelgeschäften umfaßt. Der beste Beleg ist jedoch, daß in der Literatur um die Einengung des Anwendungsbereichs des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG gerungen wird, und zwar mit der Begründung, daß „dem Aufsichtsrat andernfalls in zu starkem Maße ermöglicht würde, Einfluß auf die Geschäftsführung zu nehmen" und „die Einräumung zu umfassender Zustimmungsvorbehalte dem Vorstand die eigenverantwortliche Leitung der Gesellschaft unmöglich mache";

C. Aufsichtsrat (b)

139

Rechtsvergleich

Vor diesem Hintergrund läßt sich ein Auswahlermessen des Aufsichtsrats nicht so einfach verneinen wie im Verwaltungsrecht ein Auswahlermessen der Fachaufsichtsbehörden. D i e Einwirkungsmöglichkeiten der Fachaufsichtsbehörden stehen in einem gesetzlich geregelten Verhältnis zueinander und unterscheiden sich typischerweise nur in der Einwirkungsintensität. D a h e r zwingt bereits der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dazu, zunächst das jeweils mildere Mittel zu ergreifen und erst, wenn es nicht wirkt, das nächst härtere Mittel einzusetzen. G a n z typisch dafür ist das Eingriffsinstrumentarium der Kommunalaufsicht, das zunächst von der Beanstandung nach § 1 2 3 sh G O , durch die eine M a ß n a h m e der K o m m u n e suspendiert und sie zu ihrer Aufhebung verpflichtet wird, über die Anordnung nach § 124 sh G O , durch die die K o m m u n e zu einem bestimmten Verwaltungshandeln angehalten wird, wenn sie ihre Aufgaben oder Pflichten nicht erfüllt, und die Ersatzvornahme nach § 125 sh G O , durch die die A n o r d nung nach § 124 sh G O auf Kosten der K o m m u n e durchgeführt wird, wenn sie ihr nicht nachgekommen ist, reicht (handlungsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten). Erst als letztes Mittel k o m m t die kommissarische Organverwaltung nach § 127 sh G O in Betracht: Ein O r g a n der K o m m u n e wird durch einen Beamten der Kommunalaufsichtsbehörde abgelöst, wenn und solange der ordnungsgemäße Gang der Verwaltung der Gemeinde es erfordert und die Befugnisse der K o m m u nalaufsichtsbehörde nach den §§ 1 2 2 - 1 2 5 s h G O nicht ausreichen (organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeit). Dieser Ansatz läßt sich nicht einmal auf das Verhältnis der qualifizierten und allgemeinen Eingriffsmöglichkeiten zueinander übertragen, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen. D e r Aufsichtsrat darf nicht nur auf das Handeln des Vorstands einwirken, indem er Maßnahmen des Vorstands beanstandet/unterbindet und zur Erörterung der Maßnahmen des Vorstands die Hauptversammlung einberuft (handlungsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten). E r ist außerdem befugt, gegebenenfalls unter Einschaltung der Hauptversammlung, die Zusammensetzung des Vorstands zu ändern, in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder einzugreifen (organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten) sowie die Vergütung und die geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder neu zu regeln (personenbezogene Einwirkungsmöglichkeiten). D e r Aufsichtsrat kann daher sehr wohl vor der Frage stehen, ob er diejenigen handlungs-, organisations- und personenbezogenen Einwirkungsmöglichkeiten nebeneinander ergreifen soll, die im konkreten Fall geeignet sind, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt. Es mag etwa in so Semler, Überwachung, S. 128ff. und - ganz ähnlich - Mutter, Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn. 66ff.

Entscheidungen, S.59f. sowie

140

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Betracht k o m m e n , eine zu überwachende Handlung des Vorstands durch A n o r d nung und/oder Ausübung eines Zustimmungsvorbehalts zu unterbinden, die Z u sammensetzung des Vorstands zu ändern, in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder einzugreifen sowie die Vergütung und die geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder anders zu regeln. Ein klares Stufenverhältnis, wie es für die Einwirkungsmöglichkeiten der Fachaufsichtsbehörden typisch ist, läßt sich daher weder auf die G e b o t e der Sachlogik noch auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen; vielmehr k o m m t eine K u mulation der Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats in Betracht. Dieser Befund wird noch erhärtet, wenn man die Mitwirkung bei der gesetzlichen U n ternehmensberichterstattung und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder hinzunimmt. Wenn diese Einwirkungsmöglichkeiten in Betracht kommen, stellt sich typischerweise die Frage nach weiteren Konsequenzen für den Vorstand. Dieses Ergebnis kann nicht überraschen. D i e Fachaufsichtsbehörden dürfen grundsätzlich nur auf das nach außen gerichtete Handeln der Ausgangsbehörden einwirken und gegebenenfalls die Entscheidungen der Ausgangsbehörden an sich ziehen. Sie müssen aber die Personal- und Organisationshoheit der Ausgangsbehörden respektieren. Dies beruht im R a h m e n der Kommunalaufsicht auf der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 G G . Dagegen ist der Aufsichtsrat nicht allein dazu berufen, unmittelbar auf das Handeln des Vorstands zuzugreifen und wenn auch nur in bestimmten Fällen - die Entscheidungen des Vorstands an sich zu ziehen. E r hat auch das Recht, auf den Vorstand als O r g a n oder die Vorstände als Personen einzuwirken. Dieses R e c h t ist Ausfluß der Pflicht zur Selbstkontrolle, die der nach Art. 9 G G verfassungsrechtlich geschützten Verbandsautonomie immanent ist.

(c) Spezifische

Fragen

D i e Frage, ob dem Aufsichtsrat, wenn er in einem konkreten Fall mehrere E i n wirkungsmöglichkeiten ergreifen könnte, ein Auswahlermessen zusteht, soweit das Gesetz das Ergreifen einer dieser Einwirkungsmöglichkeiten nicht zwingend vorsieht (nach § 111 Abs. 3 A k t G hat der Aufsichtsrat eine Hauptversammlung einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert), wird zudem durch zwei vorgelagerte P r o b l e m e und ein nachgelagertes P r o b l e m kompliziert. Im R a h m e n der Abberufung von Vorstandsmitgliedern und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder stellt sich das Problem, ob dem Aufsichtsrat Ermessensprärogativen mit Blick auf die A n n a h m e bestimmter qualifizierter Erfordernisse z u k o m m e n . E s geht zum einen um die Frage, ob ein wichtiger G r u n d vorliegt und o b der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist. Es geht zum anderen - wie auch im R a h m e n der Einberufung einer Hauptversammlung - um die Frage, welche berücksichti-

C.

Aufsichtsrat

141

gungsfähigen Umstände für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen. Es kann sich hier nur um Ermessensprärogativen (und keine Einschätzungsprärogativen) handeln, weil die Annahme der genannten qualifizierten Erfordernisse die Frage des „ob" und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand betrifft. Das Problem, ob die qualifizierten Erfordernisse gegeben sind, stellt sich zum einen erst dann, wenn der Vorstand als das zu überwachende Organ die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG verletzt hat und/oder verletzen wird oder wenn eine bloße Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand vorliegt und damit der Einwirkungsfall eingetreten ist. Es stellt sich zum anderen vor der Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen (Evaluation der Einwirkungsmöglichkeit). Im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern, der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder und der Einberufung einer Hauptversammlung stellt sich das weitere Problem, ob dem Aufsichtsrat in bestimmten Fällen ein Evaluationsermessen mit Blick auf ein weiteres qualifiziertes Erfordernis zukommt. Es sind die Fälle, in denen der Aufsichtsrat davon ausgehen darf, daß ein wichtiger Grund vorliegt bzw. der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und/oder berücksichtigungsfähige Umstände für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen. Es geht um die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen (Evaluation der Einwirkungsmöglichkeit). Es kann sich hier nur um ein Evaluationsermessen handeln, weil die Abwägung die Frage des „ob" und „wie" der Einwirkung auf den Vorstand betrifft. Die Abwägungsfrage stellt sich erst dann, wenn der Vorstand als das zu überwachende Organ die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG verletzt hat und/oder verletzen wird oder wenn eine bloße Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat im Bereich der einer Uberprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand vorliegt und damit der Einwirkungsfall eingetreten ist. Es stellt sich zudem erst nach der Ermittlung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen (Ermessensprärogative), jedoch vor der abschließenden Entschließung über die zu ergreifende Einwirkungsmöglichkeit/ergreif enden Einwirkungsmöglichkeiten (mögliches Auswahlermessen). Im Rahmen bestimmter Einwirkungsmöglichkeiten kann sich schließlich die Frage nach einem Ausgestaltungsermessen des Aufsichtsrats stellen. Dies betrifft nicht die bloße Stellungnahme, den Eingriff in die Befugnisse oder das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmens-

142

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Berichterstattung, die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern und Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung. Sind diese Einwirkungsmöglichkeiten im konkreten Fall geeignet, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt, steht auch Art, Umfang und Inhalt der infragekommenden Maßnahme fest. Dagegen eröffnen die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder wesensnotwendig Ermessensprärogativen und Auswahlermessensspielräume hinsichtlich ihrer Ausgestaltung im konkreten Fall. Diese Frage soll hier nicht vertieft werden. Die Frage nach einem Ausgestaltungsermessen des Aufsichtsrats stellt sich zudem, wenn die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder im Raum steht. Der Aufsichtsrat kann vor dem Problem stehen, ob er den Schadensersatzanspruch ganz oder teilweise einklagt, etwa weil das Kostenrisiko hoch ist; 65 diese Frage wird im Rahmen des Evaluationsermessens behandelt. (d)

Problemeingrenzung

Die Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats wirft nach alledem vier Fragen auf: - Lassen sich die Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats ähnlich dem Eingriffsinstrumentarium der Fachaufsichtsbehörden in ein Handlungsprogramm umsetzen? - Stehen dem Aufsichtsrat im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder Ermessensprärogativen mit Blick darauf zu, ob ein wichtiger Grund vorliegt bzw. der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und - wie auch im Rahmen der qualifizierten Einwirkungsmöglichkeit der Einberufung einer Hauptversammlung - welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen? - Stehen dem Aufsichtsrat im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern, der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder und der Einberufung einer Hauptversammlung mit Blick auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Inanspruchnahme/Einberufung sprechen, Ermessensspielräume zu? - Steht dem Aufsichtsrat, wenn er in einem konkreten Fall mehrere Einwirkungsmöglichkeiten ergreifen könnte, ein Auswahlermessen zu, soweit das Gesetz das Ergreifen einer dieser Einwirkungsmöglichkeiten nicht zwingend vorsieht? 65

Siehe dazu Heermann

AG 1998, S.201, 208.

C.

(aa) Das Handlungsprogramm

des

Aufsichtsrat

143

Aufsichtsrats

Legt man die bereits genannten Kriterien der Einwirkungsintensität, der Zielrichtung, des Ansatzpunkts und des Anwendungsbereichs zugrunde, so läßt sich ein Handlungsprogramm für den Aufsichtsrat entwickeln.

(a) Sanktionierung

der

Unternehmensführung

Mit Blick auf die Zielrichtung ist zwischen den Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen (und daneben gegebenenfalls der repressiven Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand), und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder, die nur (und zwar ausschließlich) der repressiven Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dient, zu unterscheiden. Die Zielalternativität führt dazu, daß die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder einen eigenständigen Problemkreis darstellt. Die Frage, ob der Aufsichtsrat gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder einen Schadensersatzanspruch geltend machen darf, soll oder muß, stellt sich zwar nur bei Vorliegen einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG und nur im Rahmen der Überwachung abgeschlossener Vorgänge, dann aber stets als Frage nach dem Ergreifen einer kumulativen Einwirkungsmöglichkeit. Der Aufsichtsrat steht in diesen Fällen nicht nur vor der Frage, ob er die Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des §93 AktG durch eine Schadensersatzklage ahnden soll. Er sieht sich stets zugleich dem Problem gegenüber, welche Folgerungen aus der Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 AktG für die Zukunft zu ziehen sind. Das ist die Frage, ob er auch Einwirkungsmöglichkeiten ergreifen soll, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen. Die Antwort auf die erste Frage wird in keiner Weise durch die Antwort auf die zweite Frage determiniert. Im Hinblick auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder stellt sich mithin stets (nur) die Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats.

(ß) Optimierung

der

Unternehmensführung

Die Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen (und daneben gegebenenfalls der repressiven Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand), lassen sich in ein gestuftes Handlungsprogramm umsetzen, das dem Eingriffsinstrumentarium der Fachaufsichtsbehörden im Ansatz gleicht, aber auf den unterschiedlichen Stufen ein Auswahlermessen eröffnen könnte.

144

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Der Ausgangspunkt ist - wie im Verwaltungsrecht - die unterschiedliche Einwirkungsintensität der Einwirkungsmöglichkeiten. Die Abweichungen gegenüber dem Verwaltungsrecht ergeben sich aus den unterschiedlichen Ansatzpunkten und Anwendungsbereichen der Einwirkungsmöglichkeiten.

(i) Erste

Einwirkungsstufe

In einem ersten Schritt hat der Aufsichtsrat von seinem Beanstandungsrecht Gebrauch zu machen. Die bloße Stellungnahme ist die mildeste Einwirkungsmöglichkeit. Der Aufsichtsrat teilt dem Vorstand nur das Ergebnis seiner Prüfung mit, zieht daraus aber (noch) keine Konsequenzen für den Vorstand. Es bleibt (zunächst) dem Vorstand überlassen, ob und gegebenenfalls wie er Abhilfe schafft. Die bloße Stellungnahme gefährdet die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat nicht. Es steht noch nicht die Frage im Raum, wer seine Ansicht gegen den Willen des anderen durchsetzen darf. Es wird lediglich der Weg dafür frei gemacht, über die unterschiedliche Sicht des Problems zu sprechen und zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.

(ii) Zweite

Einwirkungsstufe

Kann keine Verständigung erzielt werden, kommen in einem zweiten Schritt der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder sowie die - sich aufgrund ihres unterschiedlichen Anwendungsbereichs wechselseitig ausschließenden - Rechte zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung in Betracht. Dies sind etwa gleich schwere Einwirkungsmöglichkeiten, weil sie weder die Zusammensetzung des Vorstands antasten noch die Hauptversammlung in den Konflikt zwischen Vorstand und Aufsichtsrat hineinziehen. Allerdings setzen sie unterschiedlich an. Der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder ist eine organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeit. Die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder ist eine personenbezogene Einwirkungsmöglichkeit. Die Rechte zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung sind handlungsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund kommt auf dieser Stufe eine Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats mit gleicher Einwirkungsintensität und damit ein Auswahlermessen des Aufsichtsrats in Betracht. Soweit die Rechte zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung reichen, kann der Aufsichtsrat vor der Frage stehen, ob er nicht nur sein Recht zur Mitentscheidung aus-

C.

Aufsichtsrat

145

üben, sondern auch diejenige(n) organisations- und personenbezogene(n) Einwirkungsmöglichkeit(en) ergreifen soll, die im konkreten Fall geeignet ist (sind), (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt. Soweit der Anwendungsbereich der Rechte zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung verlassen ist, kann der Aufsichtsrat vor der Frage stehen, ob er diejenigen organisations- und personenbezogenen Einwirkungsmöglichkeiten nebeneinander einsetzen soll, die im konkreten Fall geeignet sind, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt. (iii) Dritte

Einwirkungsstufe

Stehen die Rechte zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten und zur Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung aufgrund ihres Anwendungsbereichs im konkreten Fall nicht zur Verfügung und sind der Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken und die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder im konkreten Fall nicht geeignet, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt, so bleiben dem Aufsichtsrat in einem dritten Schritt nur noch die Einwirkungsmöglichkeiten der schlichten Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern, der Abberufung von Vorstandsmitgliedern und der Einberufung einer Hauptversammlung. Die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern kommt allerdings erst nach Ablauf der Amtszeit des betreffenden Vorstandsmitglieds/der betreffenden Vorstandsmitglieder in Betracht. Die Einberufung einer Hauptversammlung ist wie die Abberufung eines Vorstandsmitglieds an qualifizierte Erfordernisse gebunden. Daher scheint das auf dieser Stufe verbleibende Eingriffsinstrumentarium nicht sehr effizient. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Denn in den meisten Fällen ist der Aufsichtsrat darauf nicht angewiesen. Der Anwendungsbereich des Rechts zur Anordnung und/oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten ist so weit, daß der Aufsichtsrat seine Ansicht zumeist durchsetzen kann, und zwar wegen der weiten Interpretation des Begriffs der Geschäfte und der Anerkennung des Rechts zur Anordnung und Ausübung von ad hoc Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme von Einzelgeschäften. Der Aufsichtsrat gelangt nur in den Fällen schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten mit dem Vorstand über die Unternehmenspolitik und insbesondere in dem Fall von nicht beseitigbaren Meinungsverschiedenheiten über die grundsätzlichen Fragen der künftigen Unternehmenspolitik auf die dritte Einwirkungsstufe. Denn die Unternehmenspolitik und die Unternehmensplanung können als solche - anders als ein einzelner Planungsakt wie das jährliche

146

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Budget - keinem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden.66 In diesen Fällen genügt es auch nicht mehr, vermittels der Rechte zur Mitentscheidung daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von einzelnen Planungsakten und sonstigen auf der Unternehmenspolitik des Vorstands beruhenden Maßnahmen Abstand nimmt. Ein solches Vorgehen würde nur zu einer nicht endenden Kette von Streitereien mit dem Vorstand um die einzelnen Planungsakte und Maßnahmen führen. Schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über die Unternehmenspolitik zwischen Vorstand und Aufsichtsrat lassen eine übereinstimmende Beurteilung einzelner geschäftspolitischer Maßnahmen nicht mehr zu.67 In diesen Fällen genügen auch ein Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken und eine Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder nicht mehr. Der Aufsichtsrat kann schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über die Unternehmenspolitik mit dem Vorstand nicht auf diese Weise beheben. Die Lage ähnelt der im qualifiziert faktischen Konzern, in dem sich keine Einzelweisungen im Sinne der §§311 ff. AktG mehr feststellen lassen, so daß die an den Einzelfall anknüpfende Ausgleichspflicht versagen und nach anderen Lösungsmöglichkeiten gesucht werden muß. 68 Die dritte Einwirkungsstufe zeichnet sich mithin dadurch aus, daß schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über die Unternehmenspolitik vorliegen und damit die Entwicklung des Unternehmens gefährdet ist.69 Die Einwirkungsmöglichkeiten der zweiten Stufe sind nicht mehr geeignet, das (jedenfalls vorrangige) Ziel der zukunftsgerichteten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand zu erreichen. In diesem kritischen Fall steht der Aufsichtsrat (zumindest auch) vor der Frage, ob er etwas unternehmen darf, soll oder muß und was er gegebenenfalls unternehmen darf, soll oder muß, um den Vorstand zu veranlassen, von der Unternehmenspolitik und insbesondere der Unternehmensplanung Abstand zu nehmen. Die Änderung der Unternehmenspolitik und insbesondere der Unternehmensplanung des Vorstands läßt sich nur durch einen Eingriff in die Zusammensetzung des Vorstands und ein Einschalten der Hauptversammlung erreichen. Es geht - wie Johannes Semler formuliert - darum, „die Funktionsfähigkeit des Zusammenwirkens von Vorstand und Aufsichtsrat wiederherzustellen, sei es dadurch, daß die Geschäftspolitik des Vorstands sachlich oder personell geändert wird, sei es dadurch, daß der Aufsichtsrat zurücktritt." 70 Vor diesem Hintergrund erweist sich das auf dieser Stufe zur Verfügung stehende Eingriffsinstrumentarium als sehr effizient. Nur der Eingriff in die Zusammensetzung des Vorstands und das Einschalten der Hauptversammlung sind ge66 Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn 61, 68; siehe dazu auch Mutter, Entscheidungen, S.47f., 63. 67 Semler, Überwachung, S. 123. 68 Siehe dazu nur Emmerich/Habersack, Konzernrecht, Anh. II §318 Rdn. 5, 7 ff. 69 Semler, Überwachung, S. 123. 70 Semler, Überwachung, S. 123.

C. Aufsichtsrat

147

eignet, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß die Unternehmenspolitik des Vorstands und insbesondere die Unternehmensplanung des Vorstands geändert wird, 7 1 und genau diese Einwirkungsmöglichkeiten stellt das Gesetz dem A u f sichtsrat zur Verfügung. D i e schlichte Nicht-Wiederwahl und Abberufung von Vorstandsmitgliedern erlauben es dem Aufsichtsrat, die Zusammensetzung des Vorstands zu ändern, und die Einberufung einer Hauptversammlung eröffnet dem Aufsichtsrat die Möglichkeit, die Hauptversammlung in den Konflikt hineinzuziehen und dadurch seiner Position im Verhältnis zum Vorstand mehr G e wicht zu verschaffen. Kein Handlungsbedarf

für eine sofortige Abberufung.

D i e schlichte N i c h t - W i e -

derwahl von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung herbeizuführen, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G überträgt, oder die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden, sind auf der dritten Einwirkungsstufe die beiden milderen E i n wirkungsmöglichkeiten. Die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern k o m m t in B e tracht, wenn der Aufsichtsrat davon überzeugt ist, der Vorstand agiere glücklos, und deshalb schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat über die Unternehmenspolitik bestehen. 7 2 Sie setzt aber keinen Handlungsbedarf für eine sofortige Abberufung des Vorstands voraus. D e r Aufsichtsrat greift in die Zusammensetzung des Vorstands ein, u m zumindest langfristig personelle Konsequenzen daraus zu ziehen, daß er davon überzeugt ist, es mangle dem Vorstand an fortune, und der betreffende Vorstand scheidet/die betreffenden Vorstände scheiden (erst) nach Ablauf ihrer Amtszeit aus. D i e Einberufung einer Hauptversammlung setzt in den genannten Fällen ebenfalls schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat über die Unternehmenspolitik voraus, aber keinen H a n d lungsbedarf für eine sofortige Abberufung des Vorstands. D e r Aufsichtsrat zieht die Hauptversammlung in den Konflikt mit dem Vorstand hinein, um in das Z u sammenwirken des Vorstands eingreifen zu können oder um einen Ansatzpunkt zur Konfliktlösung zu finden. D i e schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern ist zwar anders als die Einberufung einer Hauptversammlung nicht an qualifizierte Erfordernisse gebunden. Die beiden Einwirkungsmöglichkeiten erweisen sich aber als gleichermaßen schwerwiegend. D i e schlichte N i c h t - W i e derwahl von Vorstandsmitgliedern ist ein Eingriff in die Zusammensetzung des Vorstands, und das Einschalten der Hauptversammlung mit den genannten Zielen läßt für den Fall, daß die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Vorstand 71 72

Vgl. Semler, Überwachung, S. 123. Siehe dazu nur Henze BB 2000, S.209, 212f.

148

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

und Aufsichtsrat auf diese Weise nicht wiederhergestellt wird, einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG in greifbare Nähe rücken. Die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit den genannten Zielen setzen allerdings unterschiedlich an. Die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden, ist eine handlungsbezogene Einwirkungsmöglichkeit. Die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung herbeizuführen, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG überträgt, sind organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund kommt auch auf dieser Stufe eine Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats mit gleicher Einwirkungsintensität und damit ein Auswahlermessen des Aufsichtsrats in Betracht. Der Aufsichtsrat kann vor der Frage stehen, ob er eine Hauptversammlung nicht nur mit dem Ziel, eine Satzungsänderung herbeizuführen, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG überträgt, sondern auch mit dem Ziel einberufen soll, die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden, und ob er überdies die schlichte NichtWiederwahl dieses Vorstands/dieser Vorstände beschließen soll, wenn alle diese Einwirkungsmöglichkeiten im konkreten Fall geeignet sind, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß die Unternehmenspolitik des Vorstands und insbesondere die Unternehmensplanung des Vorstands geändert wird. Handlungsbedarf für eine sofortige Abberufung. Die Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach §84 Abs. 3 Satz 2 AktG herbeizuführen, sind die schwerwiegendsten Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats. Sie setzen nicht nur schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat über die Unternehmenspolitik voraus, sondern auch einen Handlungsbedarf für eine sofortige Abberufung des Vorstands. Es wird in die Zusammensetzung des Vorstands eingegriffen, um - im Falle des § 84 Abs. 3 AktG - sofort personelle Konsequenzen aus nicht beseitigbaren Meinungsverschiedenheiten mit dem Vorstand in grundsätzlichen Fragen der künftigen Unternehmenspolitik zu ziehen und um - im Falle des § 111 Abs. 3 AktG - sofort personelle Konsequenzen aus der gemeinsamen Uberzeugung von Aufsichtsrat und Hauptversammlung zu ziehen, der Vorstand agiere glücklos. 73 Beide Einwirkungsmöglichkeiten knüpfen an qualifizierte Erfordernisse an und 73 Siehe zu §84 Abs. 3 AktG nur Mertens, Kölner Kommentar, §84 Rdn. 105 und zu §111 Abs. 3 AktG nur Mutter, Entscheidungen, S.90ff.

C. Aufsichtsrat

149

sind von gleicher Eingriffsqualität, weil sie Eingriffe in die Zusammensetzung des Vorstands darstellen. Sie setzen damit auch in gleicher Weise an; es handelt sich um organisationsbezogene Einwirkungsmöglichkeiten. D e r einzige Unterschied besteht darin, daß ein Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung auch dann möglich ist, wenn der Aufsichtsrat die Voraussetzungen für die Annahme eines wichtigen Grundes im Sinne des § 84 Abs. 3 A k t G nicht dartun kann. D e r Vertrauensentzug setzt nicht voraus, daß bereits nicht beseitigbare Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und dem A u f sichtsrat in grundsätzlichen Fragen der künftigen Unternehmenspolitik vorliegen, es genügt vielmehr, daß der Aufsichtsrat und vor allem die Hauptversammlung von der mangelnden fortune des Vorstands überzeugt sind. E s ist jedoch das Gesetz, das diese Fälle in § 84 Abs. 3 A k t G gleichstellt, und zwar zu recht, weil das Eingreifen der Hauptversammlung im Verhältnis zum Vorstand besonderes G e wicht hat. Vor diesem Hintergrund scheint eine Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats mit gleicher Einwirkungsintensität und damit ein A u s wahlermessen des Aufsichtsrats auf dieser Stufe nicht in Betracht zu k o m m e n . Dieser Eindruck täuscht jedoch. D e r Aufsichtsrat kann vor der Frage stehen, ob er sowohl das Vorliegen eines wichtigen Grundes geltend machen als auch eine Hauptversammlung einberufen soll, um einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 A k t G herbeizuführen, wenn beides im konkreten Fall geeignet ist, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß die Unternehmenspolitik des Vorstands und insbesondere die Unternehmensplanung des Vorstands geändert wird. D e n n der Aufsichtsrat m u ß dartun, daß aufgrund nicht beseitigbarer Meinungsverschiedenheiten mit dem Vorstand in grundsätzlichen Fragen der künftigen Unternehmenspolitik ein wichtiger G r u n d im Sinne des § 84 Abs. 3 A k t G gegeben ist, wenn er Vorstandsmitglieder abberufen will. E r kann seine Erfolgsaussichten - gerade bei Gericht - erheblich verbessern, wenn er das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 8 4 Abs. 3 A k t G auch auf einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 A k t G zu stützen vermag.

(X) Ergebnis D i e Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats stellt sich zum einen unter dem Gesichtspunkt der Zielalternativität im H i n b l i c k auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder. Sie stellt sich zum anderen unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Ansatzpunkte der Einwirkungsmöglichkeiten im R a h m e n des gestuften Handlungsprogramms, weil auf der zweiten und dritten Stufe eine Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats mit gleicher Einwirkungsintensität in Betracht k o m m t .

150

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

(bb) Ermessensprärogativen

des

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Aufsichtsrats?

Im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder stellt sich das Problem, ob dem Aufsichtsrat Ermessensprärogativen mit Blick auf die Annahme bestimmter qualifizierter Erfordernisse zukommen. Es geht zum einen um die Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt und ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist. Es geht zum anderen - wie auch im Rahmen der Einberufung einer Hauptversammlung - um die Frage, welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen. Diese Fragen sollen hier ausgehend von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder geklärt werden. 74 (et) Die ARAG-Entscheidung

des

Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof führt zu diesem Fragenkreis aus: „Die Entscheidung des Aufsichtsrats, ob ein Vorstandsmitglied wegen Verletzung seiner Geschäftsführungspflichten auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden soll, erfordert ... eine Analyse des Prozeßrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung ... Eine ,Entscheidungsprärogative', die zur Beschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit führt, kann der Aufsichtsrat für diesen Teil seiner Entscheidung entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht in Anspruch nehmen. Bei der Prüfung ... der Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs steht dem Aufsichtsrat keine andere Aufgabe zu als jedem anderen, der in eigener oder fremder Sache ein Urteil über ... die Aussichten einer gerichtlichen Geltendmachung desselben abzugeben hat. Die Haltbarkeit und Richtigkeit seiner Beurteilung der Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Anspruchsverfolgung sind im Streitfall vor Gericht grundsätzlich voll nachprüfbar, da es bis hierher nicht um Fragen des Handlungs-, sondern allein des Erkenntnisbereichs geht, für die allenfalls die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht kommen kann ... Führt eine solche sorgfältig und sachgerecht von dem Aufsichtsrat vorgenommene Prozeßrisikoanalyse zu dem Ergebnis, daß der Gesellschaft voraussichtlich Gewißheit kann nach Lage der Dinge insoweit nicht verlangt werden - Schadensersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder zustehen, kann sich ... auf der nächsten Stufe die Frage stellen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs ... absehen kann ... Dieses Ermessen kann aber erst dann einsetzen, wenn die gegeneinander abzuwägenden Umstände festgestellt worden sind ... fehlen Feststellungen dazu, ob gewichtige Gründe des Unternehmens74 Die Frage, ob ein „überprüfungsfreier Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrats in der Frage, ob ein wichtiger Grund gegeben ist, besteht", wird ganz überwiegend verneint; siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §84 Rdn. 104, 125.

C. Aufsichtsrat

151

wohls vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche absehen will." 75 Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird zum Teil dahin verstanden, daß dem Aufsichtsrat mit Blick auf die Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs keine Entscheidungsfreiräume zukommen. So führt Peter Kindler aus: „In grundsätzlicher Hinsicht erläuterungsbedürftig ist hier zunächst die vom Senat unterstrichene volle gerichtliche Nachprüfbarkeit der ,Haltbarkeit und Richtigkeit' der gesamten Erfolgschancenprüfung. Dabei bewegt sich der Aufsichtsrat ...im kognitiven Bereich. Dort gibt es keine Handlungsalternativen, sondern nur zutreffende und unzutreffende Erkenntnisse. Insoweit hat der BGH dem Aufsichtsrat keinerlei unternehmerisches Ermessen zugestanden, sondern ihn lediglich zu der Prüfung aufgefordert." 76 Vorherrschend ist jedoch das Verständnis, daß dem Aufsichtsrat insoweit begrenzte Entscheidungsfreiräume zustehen.77 So meint Peter W. Heermann, es handele sich „bei der Bestimmung des entsprechenden Prozeßrisikos und der Chancen einer erfolgreichen Forderungsdurchsetzung um eine Prognoseentscheidung, die im Einzelfall durchaus einen (unternehmerischen) Ermessensspielraum zu eröffnen vermag." Er verweist darauf, daß Eindeutigkeit und Beweisbarkeit eines umstrittenen Sachverhalts in Frage stehen können oder die Position offen sein mag, die die Rechtsprechung hinsichtlich einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage einnehmen wird. 78 In gleicher Weise wird die Entscheidung des Bundesgerichtshofs dahin verstanden, daß der Aufsichtsrat mit Blick auf die Prüfung des Vorliegens der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, begrenzte Entscheidungsfreiräume hat.79 Die Annahme, der Bundesgerichtshof wolle dem Aufsichtsrat mit Blick auf die Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs begrenzte Entscheidungsfreiräume zugestehen, liegt nahe. Der Bundesgerichtshof spricht von der Haltbarkeit der Beurteilung des Aufsichtsrats, von einer nur grundsätzlich vollen Nachprüfbarkeit und von einer Gewißheit, die nicht verlangt werden könne. Er erwägt ausdrücklich die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums. Vor diesem Hintergrund muß sich der Schluß geradezu aufdrängen, daß der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat - wenn auch nur ausnahmsweise und in begrenztem Ausmaß - Entscheidungsfreiräume mit Blick auf die Frage zuerkennen will, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist. Das erscheint auf den ersten Blick auch überzeugend. Es gibt Fälle, „in denen sich die Prüfungsstufen a) und b) (TatbeBGH ZIP 1997, S. 883, 885ff. - ARAG/Garmenbeck. Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 112f. 77 Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123,1123f.; Heermann AG 1998, S.201, 203, 206; Henze BB 2000, S.209, 215. 78 Heermann AG 1998, S.201, 206. 79 Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 113f.; Heermann AG 1998, S.201, 208. 75

76

152

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

standsfeststellung und Prüfung der Erfolgsaussichten eines Klageverfahrens) zum einen nicht idealtypisch auseinanderhalten lassen und zum anderen den Aufsichtsrat vor schwerwiegende Probleme stellen werden." 8 0 Es gibt auch Fälle, „in denen man über die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens dem Grunde nach trefflich streiten kann" 8 1 und „die Erfolgsaussichten der gerichtlichen Anspruchsverfolgung ... schon" angesichts „der unterschiedlichen Einschätzung der zahlreichen relevanten Rechtsfragen durch die damit befaßten Gutachter ... als durchaus zweifelhaft zu qualifizieren" sind." 82 Dagegen ist die Annahme, der Bundesgerichtshof wolle dem Aufsichtsrat mit Blick auf das Vorliegen der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, begrenzte Entscheidungsfreiräume zugestehen, schwer nachzuvollziehen. Der Bundesgerichtshof trennt zwischen der Ermittlung dieser Umstände und der Abwägung dieser U m stände. Er betont, das Ermessen des Aufsichtsrats könne erst dann einsetzen, wenn die gegeneinander abzuwägenden Umstände festgestellt worden seien. An anderer Stelle führt er aus, das Berufungsgericht hätte Feststellungen dazu treffen müssen, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche absehen will. Vor diesem Hintergrund muß sich eigentlich der Schluß aufdrängen, daß der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat keine Entscheidungsfreiräume mit Blick auf die Frage zuerkennen will, welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen. Dies gilt um so mehr, als der Bundesgerichtshof mit dem zweigliedrigen Ansatz, daß die berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, festgestellt und abgewogen werden müssen, etwas aufgreift, was nach dem Verwaltungsrecht für Ermessensentscheidungen typisch ist. So werden - etwa im Planungsrecht - zwei Fragen sauber getrennt. Es geht zum einen darum, ob „die Behörde ... alle die für ihre Entscheidung maßgeblichen wesentlichen Gesichtspunkte, Belange, Interessen usw. rechtlich zutreffend und vollständig erkannt und ordnungsgemäß, rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt, ermittelt und festgestellt hat." Es geht zum anderen darum, ob „die Behörde alle betroffenen Belange berücksichtigt, in die Abwägung eingestellt und gewürdigt hat, das Gewicht und die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange nicht verkannt hat, sondern sachgerecht angesetzt hat, alle betroffenen öffentlichen und privaten Belange miteinander und gegeneinander unter Beachtung auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abgewogen und den Ausgleich nicht in einer Weise vorgenommen hat, die zur ob80 81 82

Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123. Fischer BB 1996, S.225, 228. Grooterhorst ZIP 1999, S.1117, 1124; siehe dazu auch Heermann

AG 1998, S.201, 203.

C.

Aufsichtsrat

153

jektiven Gewichtigkeit der Belange außer Verhältnis steht." 83 Die Zusammenstellung des Abwägungsmaterials gilt grundsätzlich als rechtlich voll nachprüfbar; eine Ausnahme wird nur für die dabei zu erstellenden planungsspezifischen Prognosen anerkannt. Die Abwägung selbst wird dagegen nur im Lichte der genannten Kriterien als rechtlich nachprüfbar angesehen. 84 Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs lassen in diesem Licht nur eine Schlußfolgerung zu. Es soll rechtlich voll nachprüfbar sein, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung eröffnen. In der Terminologie des Verwaltungsrechts ist das die Frage, ob der Aufsichtsrat die für und gegen eine Inanspruchnahme sprechenden Gesichtspunkte „rechtlich zutreffend und vollständig erkannt und ordnungsgemäß, rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt, ermittelt und festgestellt" hat. Dagegen soll rechtlich nur eingeschränkt nachprüfbar sein, ob der Aufsichtsrat ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche absehen will. Das ist in der Terminologie des Verwaltungsrechts die eigentliche Abwägung und damit die Bewertung und Gewichtung und der Ausgleich der für und gegen eine Inanspruchnahme sprechenden Gesichtspunkte.

(ß) Die richtige

Fragestellung

Die Ausgangsfrage lautet, ob dem Aufsichtsrat Ermessensprärogativen mit Blick darauf zukommen, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob der Gesetzgeber den Aufsichtsrat mit der Prüfung der Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs und des Vorliegens der berücksichtigungsfähigen Umstände dazu verpflichtet, bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis jeweils ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen. Die Evaluation einer Maßnahme kann auf der Prüfung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung, von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und/oder von Zielkonflikten aufbauen, die überwiegend - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar oder bekannt sind. Die Entschließung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder erfordert eine Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, und damit eine Evaluation. Sie baut auf der Prüfung der Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs und des Vorliegens der berücksichtigungsfähigen Umstände auf. Die Prüfung der Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs könnte durch die Kopp, VwGO, 10. Auflage 1994, §114 Rdn.35. Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 35f. sowie - zu den planungsspezifischen Prognosen Rdn.34, 34b, 36a, 37, 37a. 83

84

154

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Prüfung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen E n t w i c k lung geprägt sein, die überwiegend - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar oder bekannt sind. Die Prüfung des Vorliegens der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, könnte durch die Prüfung von K o n sequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht geprägt sein, die überwiegend für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - nicht vollständig absehbar oder bekannt sind. Diese Prüfungen könnten dem Aufsichtsrat die Einschätzung unstrukturierter hochkomplexer Probleme abverlangen, und zwar mit der K o n sequenz, daß dem Aufsichtsrat insoweit Ermessensprärogativen zuzuerkennen wären. Sie würden den im Verwaltungsrecht im R a h m e n des Planungsermessens anerkannten Prognosespielräumen - den planungsspezifischen Prognosen - entsprechen.

(%) Der richtige Ansatz Eine Überlegung scheint dafür zu sprechen, diese Fragen zu bejahen. D i e Fragen, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, werden häufig schwierig zu beantworten sein. So liegt es insbesondere dann, wenn - im ersten Fall - eine umstrittene Tatsachen- und/oder Rechtslage gegeben ist und wenn - im zweiten Fall - negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit und eine Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas 8 5 und damit indirekte wie schwer kalkulierbare Effekte 8 6 zu besorgen sind. D e r Ü b e r w a chungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G iVm. § 93 A k t G , der dem Aufsichtsrat die Prüfungen abverlangt, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, könnte dem Aufsichtsrat aus diesem G r u n d mit Blick auf diese Prüfungen Ermessensprärogativen verleihen. Dieser Schluß ist jedoch nicht überzeugend. D e r Bundesgerichtshof gibt in diesem Zusammenhang einen wichtigen und zutreffenden Hinweis, wenn er betont, bei der Prüfung der Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs stehe dem Aufsichtsrat keine andere Aufgabe zu als jedem anderen, der in eigener oder fremder Sache ein Urteil über die Aussichten einer gerichtlichen Geltendmachung eines Anspruchs abzugeben habe. D e r Erkenntnisakt des Aufsichtsrats zeichnet sich durch die Konkretisierung und Wahrnehmung der ihm aufgrund des § 1 1 1 Abs. 1 A k t G iVm. § 93 A k t G mit den Prüfungen, o b der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, obliegenden Aufgaben 85 86

B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. Heermann AG 1998, S.201, 209.

C.

Aufsichtsrat

155

aus. Diese Prüfungsaufgaben sind durch die Interpretation des § 111 Abs. 1 AktG iVm. § 93 AktG zu konkretisieren. Dies führt zu dem Ergebnis, daß die dem Aufsichtsrat obliegende Prüfungsaufgabe im ersten Fall dem einem Anwalt aufgrund des §675 BGB obliegenden Auftrag zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens entspricht 87 und im zweiten Fall im Lichte der aus § 111 Abs. 1 AktG abzuleitenden Bindung des Aufsichtsrats an das Unternehmenswohl konkretisiert werden kann. 88 Die Konkretisierung und Wahrnehmung dieser Prüfungsaufgaben besteht darin, die Prüfungskriterien zu bestimmen und im Einzelfall anzuwenden. (i) Konkretisierung

der Aufgaben

Die Fragen, aufgrund welcher Kriterien zu prüfen ist, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, sind reine Rechtsfragen, die keiner Einschätzungsprärogative unterliegen können. Sie sind identisch mit den Fragen, welche Rechtspflichten dem Anwalt bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des §276 BGB obliegen und welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind. Es gibt eine gefestigte Rechtsprechung zu der Frage, welche Rechtspflichten dem Anwalt bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des § 276 BGB obliegen. Der Anwalt hat im Interesse seines Mandanten den sichersten Weg zu wählen, und zwar insbesondere dann, wenn die Rechtslage streitig oder unklar ist. Er muß über die für die Beurteilung des Falles erforderlichen Rechtskenntnisse verfügen, den Palandt einsehen, sich grundsätzlich an den Ergebnissen der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientieren, auch wenn sie in der Literatur umstritten sind und eine Änderung der Rechtsprechung nicht auszuschließen ist, eine sich abzeichnende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung berücksichtigen, den Mandanten umfassend und eindringlich belehren, wenn er oder der Mandant einer von der obergerichtlichen Rechtsprechung oder der herrschenden Meinung abweichenden Rechtsansicht folgen will. Er muß die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung sorgfältig prüfen und den Mandanten über das Ausmaß des Prozeßrisikos informieren, insbesondere im Falle eines Beweisrisikos oder einer zweifelhaften Rechtslage, und nachdrücklich darauf hinweisen, wenn es sicher oder in hohem Maße wahrscheinlich ist, daß der Mandant den Prozeß verlieren wird. Dagegen ist der Anwalt für eine nicht abseh-

87

So zutreffend Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 113. So zutreffend B G H ZIP 1997, S.883, 886 - ARAG/Garmenbeck und Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 113. 88

156

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

bare Änderung der Rechtsprechung nicht verantwortlich, und auch eine positive Vorhersage des Prozeßausgangs wird nicht von ihm verlangt. 89 Es gibt eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind. Der Bundesgerichtshof hat in der ARAG-Entscheidung ausgeführt, das Unternehmenswohl verlange grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens, und als Gegengründe könnten Gesichtspunkte wie negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, die Behinderung der Vorstandsarbeit, die Beeinträchtigung des Betriebsklimas, die Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds und das Ausmaß der mit der Beitreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen Bedeutung erlangen.90 Diese Rechtsprechung hat allerdings in der Literatur Widerspruch erfahren. Die Ansicht des Bundesgerichtshofs, negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, eine Behinderung der Vorstandsarbeit und eine Beeinträchtigung des Betriebsklimas könnten die Nichtverfolgung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigen, wird als nicht operational kritisiert. Exemplarisch sei hier Peter W. Heermann zitiert: „Fast scheint es, als böten selbst die begrenzten und hier als maßgeblich erachteten Kriterien einem Aufsichtsrat stets eine Rechtfertigung, von der Durchsetzung etwaiger Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder abzusehen. Ist es überhaupt vorstellbar, daß eine gerichtliche Geltendmachung von Innenhaftungsansprüchen ohne zumindest potentiell schädigende Wirkungen für das Image der Gesellschaft bleibt? Ist es nicht naheliegend, daß die Geschäftstätigkeit der übrigen Vorstandsmitglieder dadurch beeinträchtigt wird, daß sie entweder selbst bei der Sachverhaltsermittlung durch den Aufsichtsrat in das Verfahren hineingezogen werden oder sie sich aus Furcht vor persönlicher Haftung zukünftig bei riskanten unternehmerischen Entscheidungen eher defensiv verhalten? Vielmehr scheint es, als würde die Durchsetzung von Innenhaftungsansprüchen sich stets belastend auf die Arbeitsfähigkeit und Motivation des Vorstands auswirken. Und wenn die genannten Effekte gleichwohl einmal nicht eintreten sollten, so ließen sich doch leicht entsprechende, vordergründig plausible Behauptungen aufstellen."91 Die Ansicht des Bundesgerichtshofs, auch andere Gründe als die Wahrung des Unternehmenswohls 92 könnten die Nichtverfolgung des SchadensersatzanHeinrichs, Palandt, §276 Rdn.41f., 43f. BGH ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 91 Heermann AG 1998, S.201 (siehe dazu auch S.208). 92 Der Gesichtspunkt des Unternehmenswohls wird in der Literatur grundsätzlich anerkannt; siehe dazu nur Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 113f. und Heermann AG 1998, S.201, 207f., 208ff. 89

90

C. Aufsichtsrat

157

spruchs rechtfertigen, etwa die Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds oder das Ausmaß der mit der Beitreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen, 9 3 wird zum Teil abgelehnt. Exemplarisch sei hier Peter

Kindler

zitiert: „Widerspruch verdient weiter die Andeutung, auch

,andere Gesichtspunkte' als das Unternehmenswohl, und zwar G r ü n d e in der Person des ersatzpflichtig gewordenen Vorstandsmitglieds ^einschneidende F o l gen') vermöchten eine Absehung von Verfolgung zu rechtfertigen. Zu einer solchen ,Gnadenentscheidung' besitzt der Aufsichtsrat - als Sachwalter der A k t i o närsinteressen - kein Mandat. Dies folgt schon aus § 93 Abs. 4 Satz 2 und 3 A k t G . Zudem sind auch kaum Fälle vorstellbar, in denen ein Vorstandsmitglied bei Überschreitung des ohnehin denkbar weit gefaßten Leitungsermessens ,erlaßwürdig' sein k ö n n t e . " 9 4 Welche Ansicht man auch immer zu der Frage vertritt, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte der § 93 A k t G berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind, „eine exakte qualitative und quantitative Bewertung der möglichst genau zu umschreibenden drohenden Nachteile wird selten durchzuführen und deshalb auch nicht zu fordern sein, vielmehr wird regelmäßig eine plausible Darlegung der maßgeblichen U m s t ä n d e genugen.

«95

(ii) Wahrnehmung

der

Aufgaben

D i e Anwendung der Kriterien, aufgrund derer zu prüfen ist, o b der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen U m s t ä n d e für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, mag häufig schwierig sein. Sie erfordert aber selbst dann keine Einschätzungen unstrukturierter hochkomplexer Probleme. Sie besteht in der Anwendung gesicherter rechtlicher Maßstäbe, so daß die Zubilligung von Ermessensprärogativen nicht gerechtfertigt ist. D e r Aufsichtsrat muß lediglich die Rechtspflichten, die dem Anwalt bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des § 2 7 6 B G B obliegen, einhalten und beachten, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 9 3 A k t G berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind. D i e Einhaltung der Rechtspflichten, die dem Anwalt bei der Prüfung der E r folgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des § 2 7 6 B G B obliegen, erfordert keine Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung im Sinne einer planungsspezifischen Prognose. Dies gilt gerade auch für die Beurteilung, ob es sicher oder in hohem M a ß e wahrscheinlich ist, daß der Mandant den P r o z e ß verlie-

93

94

B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 114; ebenso Heermann

Horn ZIP 1997, S. 1129, 1138. 95

Vgl. dazu Heermann

A G 1998, S.201, 208, 209.

A G 1998, S.201, 207f.; zweifelnd

158

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

ren wird, und damit für die Beurteilung von Beweisrisiken oder zweifelhaften Rechtslagen. Der Anwalt ist für eine nicht absehbare Änderung der Rechtsprechung nicht verantwortlich, und auch eine positive Vorhersage des Prozeßausgangs wird ihm nicht aufgegeben. 96 Eine Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung im Sinne einer planungsspezifischen Prognose wird vom Anwalt mithin gar nicht verlangt, und zwar mit der Konsequenz, daß die Frage nach der Einhaltung der Rechtspflichten, die dem Anwalt bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des § 276 BGB obliegen, keine Erkenntnisprobleme aufwerfen kann, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist. Daher ist die Einhaltung dieser Rechtspflichten rechtlich voll nachprüfbar. Der beste Beleg dafür ist, daß die Gerichte auch in schwierigen Fällen keine Probleme mit der Frage haben, ob die Anwaltspflichten im Sinne des §276 BGB eingehalten worden sind. Denn dies zeigt eindrucksvoll, daß die Gerichte eine Beurteilung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens durch einen Anwalt zu überprüfen vermögen, ohne dabei an ihre Grenzen zu stoßen. Daß der Aufsichtsrat beachten muß, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte der § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind, erfordert ebenfalls keine Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung im Sinne einer planungsspezifischen Prognose. Dies gilt gerade auch für die Beurteilung, ob die vom Bundesgerichtshof in der A R A G Entscheidung genannten Gesichtspunkte - negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit, Beeinträchtigung des Betriebsklimas, Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds und Ausmaß der mit der Beitreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen - vorliegen. Welche Ansicht man auch immer zu der Frage vertritt, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des §93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind, eine exakte Vorhersage des Ausmaßes der indirekten und schwer kalkulierbaren Effekte in qualitativer und quantitativer Hinsicht wird dem Aufsichtsrat nicht aufgegeben. Eine Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung im Sinne einer planungsspezifischen Prognose wird vom Aufsichtsrat mithin gar nicht verlangt, und zwar mit der Konsequenz, daß die Frage, ob der Aufsichtsrat beachtet hat, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind, keine Erkenntnisprobleme aufwerfen kann, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist. Daher ist diese Frage rechtlich voll nachprüfbar. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der Bundesgerichtshof hat erkennen lassen, daß er keine Schwierigkeit darin sieht, zu überprüfen, ob der Aufsichtsrat beachtet hat, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden 96

Heinrichs,

Palandt, §276 Rdn.41f., 43 f.

C.

Aufsichtsrat

159

Gründe im Lichte des § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind. Er betont, das Ermessen könne erst dann einsetzen, wenn die gegeneinander abzuwägenden Umstände festgestellt worden seien, und rügt, es fehlten Feststellungen dazu, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls vorlägen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen würden, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche absehen wolle. Der Bundesgerichtshof meint mithin, eine Beurteilung des Vorliegens der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, durch den Aufsichtsrat aufgrund eigener Sachkenntnis oder durch Heranziehung von Sachverständigen überprüfen zu können, ohne dabei an seine Grenzen zu stoßen. Nach alledem ist die Auffassung des Bundesgerichtshofs, im Hinblick auf die Prüfung der Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs könne die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht kommen, weit weniger überzeugend als seine Ansicht, das Vorliegen der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, sei rechtlich voll nachprüfbar. 97 (b) Ergebnis Der Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG iVm. § 93 AktG verlangt dem Aufsichtsrat mit den Prüfungen, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, keine Einschätzungen unstrukturierter hochkomplexer Probleme ab. Der Aufsichtsrat hat lediglich die Fragen zu klären, welche Rechtspflichten dem Anwalt bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens aufgrund des § 276 BGB obliegen und welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 93 AktG berücksichtigungsfähig und berücksichtigungsbedürftig sind, und sich an die ihm danach obliegenden Rechtspflichten zu halten. Die dem Aufsichtsrat obliegenden Rechtspflichten müssen in ihrer Eigenschaft als Haftungsmaßstab rechtlich voll nachprüfbar sein. Die unabweisbare Konsequenz lautet, daß der Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG dem Aufsichtsrat mit einer Prüfungsaufgabe, die im Lichte von Rechtspflichten im Sinne der §§116, 276 BGB bzw. der §§116, 93 AktG konkretisiert wird, keine Einschätzungsprärogative verleiht. Die Frage, ob dem Aufsichtsrat Ermessensprärogativen mit Blick auf die Fragen zukommen, ob der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, ist nach alledem zu verneinen. Da mit Blick auf die Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptver97

Im ersten Punkt wie hier Kindler Z H R 162 (1998), S. 101,112f. Im zweiten Punkt anders als hier Kindler Z H R 162(1998), S. 101, 112f. und Heermann A G 1998, S. 201,203ff.

160

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Sammlung nichts anderes gelten kann, stehen dem Aufsichtsrat auch keine Ermessensprärogativen mit Blick darauf zu, ob ein wichtiger Grund vorliegt und/oder welche berücksichtigungsfähigen Umstände für und gegen eine Abberufung bzw. Einberufung sprechen.

(cc) Evaluationsermessen

des Aufsichtsrats?

Im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern, der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder und der Einberufung einer Hauptversammlung stellt sich das weitere Problem, ob dem Aufsichtsrat in bestimmten Fällen ein Evaluationsermessen mit Blick auf ein weiteres qualifiziertes Erfordernis zukommt. Es sind die Fälle, in denen der Aufsichtsrat davon ausgehen darf, daß ein wichtiger Grund vorliegt bzw. der Schadensersatzanspruch durchsetzbar ist und/oder berücksichtigungsfähige Umstände für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen. Es geht um die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung/Verfolgung/Einberufung sprechen (Evaluation der Einwirkungsmöglichkeit). Diese Frage soll hier ausgehend von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder geklärt werden. 98

(a) Die ARAG-Entscheidung

des

Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof führt zu diesem Fragenkreis aus: Es „kann sich ... die Frage stellen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs und damit einer Wiedergutmachung des der Gesellschaft zugefügten Schadens absehen k a n n . . . D a diese Entscheidung allein dem Unternehmenswohl verpflichtet ist, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangt, wird der Aufsichtsrat von der Geltendmachung voraussichtlich begründeter Schadensersatzansprüche gegen einen pflichtwidrig handelnden Vorstand nur dann ausnahmsweise absehen dürfen, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen. Diese Voraussetzung wird im allgemeinen nur dann erfüllt sein, wenn die Gesellschaftsinteressen und -belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind ... Die vorstehenden Überlegungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Verfolgung der Schadensersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muß. Hinge-

98 Die Frage, ob „der Aufsichtsrat ein Ermessen in der Frage" hat, „ob er das Vorstandsmitglied bei gegebenem wichtigen Grund abberuft", wird ganz überwiegend bejaht; siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, § 84 Rdn. 104 und auch Rdn. 107.

C.

Aufsichtsrat

161

gen bedarf es gewichtiger Gegengründe und einer besonderen Rechtfertigung, von einer - voraussichtlich - aussichtsreichen Anspruchsverfolgung ... abzusehen; sie muß die Ausnahme darstellen... N u r in diesen engen Grenzen kann dem Aufsichtsrat... ein Entscheidungsermessen für die Frage zuzubilligen sein, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des U n ternehmenswohls ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadensersatzanspruches absehen möchte ... Ferner fehlen Feststellungen dazu, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadensersatzansprüche absehen will." 9 9 Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird ganz überwiegend dahin verstanden, daß dem Aufsichtsrat mit Blick auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, ein „Ausnahmeermessen" zukommen soll. 1 0 0 Dieses Verständnis liegt nahe, wenn man sich die Formulierungen des Bundesgerichtshofs anschaut. Er betont den Ausnahmecharakter der Nichtverfolgung des Schadensersatzanspruchs. Er hebt hervor, das Entscheidungsermessen könne nur in engen Grenzen für die Frage zuzubilligen sein, ob der Aufsichtsrat trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs absehen möchte. Vor diesem Hintergrund muß sich der Schluß geradezu aufdrängen, daß der Bundesgerichtshof dem Aufsichtsrat einen begrenzten Ermessensspielraum mit Blick auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, zuerkennen will. Dies gilt um so mehr, als der Bundesgerichtshof genau das beschreibt, was im Verwaltungsrecht als regelreduziertes Ermessen bezeichnet wird. E r hebt hervor, die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sei die Regel und von der Anspruchsverfolgung dürfe nur bei Vorliegen gewichtiger Gegengründe und einer besonderen Rechtfertigung abgesehen werden. Er betont, daß das Vorliegen der gewichtigen Gründe des Unternehmenswohls dem Aufsichtsrat die Ermessensentscheidung darüber eröffne, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs absehen wolle.

B G H ZIP 1997, S. 883, 886f. - ARAG/Garmenbeck. Horn ZIP 1997, S. 1129, 1138; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1123; Heermann A G 1998, S.201, 203, 206ff.; Kindler Z H R 162 (1998), S. 101, 109, 113f.; Henze B B 2000, S.209, 215f.; anders noch Dreher Z H R 158 (1994), S. 614,637ff. und Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 37 iVm. § 93 Rdn. 51 mit dem ergänzenden Hinweis, das Verschulden müsse bei einer Nichtverfolgung um so eher ausgeschlossen sein, je begründeter die Befürchtung ist, bei einer Verfolgung selbst mit in die Haftung genommen zu werden, denn „Selbstaufopferung kann das Recht nun einmal nicht verlangen." 99

100

162

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Ein regelreduziertes Ermessen wird angenommen, wenn nach dem maßgeblichen Fachrecht für den Regelfall eine bestimmte Entscheidung gewollt ist und davon nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Es geht um atypische Fällen, in denen besondere berücksichtigungsfähige Gründe für das Abgehen von der N o r m sprechen und deshalb die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht gefordert wird. Es zeichnet sich dadurch aus, daß eine Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht erforderlich ist, wenn es bereits an einem ermesseneröffenden Ausnahmefall fehlt; Ermessenserwägungen sind mithin nur unter diesen besonderen Voraussetzungen anzustellen. So darf etwa von einem Erlaß wegen unbilliger Härte (§ 135 Abs. 5 Satz 1 BauGB: „Im Einzelfall kann die Gemeinde auch von der Erhebung des Erschließungsbeitrages ganz oder teilweise absehen, wenn dies im öffentlichen Interesse oder zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist.") nur ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn dies trotz der unbilligen Härte wegen besonderer berücksichtigungsfähiger Gründe gerechtfertigt ist.101 Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs lassen sich in diesem Licht eigentlich nur in dem folgenden Sinne verstehen: Von der für den Regelfall vorgesehenen Rechtsfolge darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, und zwar dann, wenn dies trotz der für die regelmäßige Rechtsfolge sprechenden Gesichtspunkte wegen besonderer berücksichtigungsfähiger Gründe gerechtfertigt ist. Die für den Regelfall vorgesehene Rechtsfolge ist die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs (§135 Abs. 5 Satz 1 BauGB: der Erlaß). Die für die regelmäßige Rechtsfolge sprechenden Gesichtspunkte ergeben sich aus dem Vorliegen der gesetzlichen Normanforderungen sowie dem Sinn und Zweck der Regelreduzierung. Die Normanforderungen sind hier erfüllt, wenn ein schlüssiger und durchsetzbarer Schadensersatzanspruch vorliegt. Der Sinn und Zweck der Regelreduzierung läßt sich dahin beschreiben, daß die Verfolgung eines solchen Schadensersatzanspruchs der Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens und damit regelmäßig auch dem Unternehmenswohl dient (§ 135 Abs. 5 Satz 1 BauGB: Vorliegen einer unbilligen Härte - Erlaß wegen unbilliger Härte dient der Einzelfallgerechtigkeit und damit regelmäßig auch den Planungszielen). Die Rechtfertigung der Abweichung wegen besonderer berücksichtigungsfähiger Gründe setzt voraus, daß der Sinn und Zweck der Regelreduzierung im Einzelfall nicht greift. Dies ist hier der Fall, wenn die Verfolgung eines schlüssigen und durchsetzbaren Schadensersatzanspruchs zwar der Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens dient, aber damit aufgrund atypischer Umstände nicht zugleich dem Unternehmenswohl (§135 Abs. 5 Satz 1 BauGB: Erlaß wegen unbilliger Härte dient zwar der Einzelfallgerechtigkeit, aber damit aufgrund atypischer Umstände nicht zugleich den Planungszielen).

101

Kopp/Schenke,

V w G O , §114 Rdn.21, 21b

C.

Aufsichtsrat

163

In der Terminologie des Verwaltungsrechts würden die Ausführungen des Bundesgerichtshofs mithin lauten: Im Regelfall ist die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs gewollt, und davon darf nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden, und zwar in den Fällen, in denen überwiegende oder gewichtige Gründe für das Abweichen vom Regelfall sprechen. In diesen Ausnahmefällen ist dem Aufsichtsrat ein Entscheidungsermessen zuzubilligen. (ß) Die richtige Fragestellung Die Ausgangsfrage lautet, ob dem Aufsichtsrat ein Evaluationsermessen mit Blick auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände zukommt, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob der Gesetzgeber den Aufsichtsrat mit dieser Abwägung dazu verpflichtet, bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen. Die Evaluation einer Maßnahme kann durch die Würdigung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten geprägt sein. Eine solche Würdigung kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im Unternehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen. Die Entschließung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder (§ 93 AktG) erfordert eine Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, und damit eine Evaluation. Diese Abwägung könnte durch die Würdigung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten geprägt sein, die zwar nicht - für sich genommen und in ihren Wechselwirkungen - unabsehbar oder unbekannt sind, die aber dennoch dazu führen, daß die Evaluation nicht zu einem vollständig exakten (zwingend abgeleiteten und einzig richtigen) Ergebnis führen kann. Die Abwägung der Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, könnte dem Aufsichtsrat die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems abverlangen, und zwar mit der Konsequenz, daß dem Aufsichtsrat insoweit ein Ermessensspielraum zuzuerkennen wäre. (x) Der richtige Ansatz Der Erkenntnisakt des Aufsichtsrats zeichnet sich durch die Konkretisierung und Wahrnehmung der dem Aufsichtsrat aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG iVm. § 93 AktG mit der Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, obliegenden Aufgabe aus. Diese Abwägungsaufgabe ist durch die Interpretation des §111

164

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Abs. 1 A k t G iVm. § 93 A k t G zu konkretisieren. Dies führt zu dem Ergebnis, daß sie im Lichte der aus § 111 Abs. 1 A k t G abzuleitenden Bindung des Aufsichtsrats an das Unternehmenswohl konkretisiert werden kann. D i e Konkretisierung und Wahrnehmung der Abwägungsaufgabe besteht darin, die Kriterien zu bestimmen, aufgrund derer die für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden (nach § 93 A k t G berücksichtigungsfähigen und berücksichtigungsbedürftigen) G r ü n d e im Lichte des § 111 Abs. 1 A k t G gegeneinander abzuwägen sind, und diese A b w ä gungskriterien im Einzelfall anzuwenden. 1 0 2 (i) Konkretisierung

der

Aufgabe

D i e Frage, aufgrund welcher Kriterien die für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 111 Abs. 1 A k t G gegeneinander abzuwägen sind, ist eine reine Rechtsfrage, die keinem Ermessensspielraum unterliegen kann. Allerdings hat der Bundesgerichtshof diese Frage in der A R A G - E n t s c h e i d u n g nicht geklärt. E r betont lediglich das Regel-Ausnahme-Verhältnis und schließt jede schematische Lösung aus: Wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen, ist nicht nur die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs ermessensfehlerfrei. D e r Bundesgerichtshof erkennt dem Aufsichtsrat das Entscheidungsermessen gerade im Hinblick darauf zu, o b er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls ausnahmsweise von der D u r c h setzung des Schadensersatzanspruchs absehen möchte. Dies wird am deutlichsten in der Formulierung, daß das Vorliegen der gewichtigen G r ü n d e des U n t e r n e h menswohls dem Aufsichtsrat die Ermessensentscheidung darüber eröffne, o b er ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs

absehen

wolle. Diese Interpretation entspricht der Rechtslage im Verwaltungsrecht im H i n b l i c k auf das regelreduzierte Ermessen. 1 0 3 Daher wird in der Literatur ausdrücklich angemerkt, daß auf dem Weg zu einer ermessensfehlerfreien Entscheidung des Aufsichtsrats neben dem in der Diskussion einseitig in den Vordergrund gerückten, letztendlich aber zu kurz greifenden Regel-Ausnahme-Verhältnis ergänzende Standards gefunden werden müßten, die als Leitlinien bei der sachgerechten Gewichtung der Vermögensinteressen der Gesellschaft und dem auf unternehmensbezogene Aspekte gestützten E r m e s sensspielraum des Aufsichtsrats dienten. 1 0 4 Vor diesem Hintergrund schlägt W. Heermann

Peter

vor: J e erfolgversprechender die Geltendmachung des Schadenser-

satzanspruchs oder je schwerer der dem Vorstand vorgeworfene Verstoß sei, um so gravierender und stichhaltiger müßten die Gegengründe sein. 1 0 5 D e r Rechtfer-

102 103 104 105

Heermann AG 1998, S.201, 208, 208f. Siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn.21, 21b Heermann AG 1998, S.201, 208. Heermann AG 1998, S.201, 207, 208.

C. Aufsichtsrat

165

tigungsbedarf sei bei einem Verstoß gegen die Gebote der Unparteilichkeit oder der ausreichenden Information und bei einem rechtswidrigen Handeln des Vorstands besonders hoch.106 Die Höhe des erlittenen Schadens im Verhältnis zur Ertragslage und Finanzkraft der Gesellschaft sei dagegen nur bedingt aussagekräftig. Auf der einen Seite blieben die jeweiligen Umstände der Schadensentstehung unberücksichtigt und würden Vorstände umsatzstarker und wirtschaftlich gesunder Unternehmen in ungerechtfertigter Weise bevorzugt. Auf der anderen Seite stiegen mit der absoluten Schadenshöhe im Hinblick auf das zu erwartende Publikumsinteresse und das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit die Anforderungen an die Überzeugungskraft und Nachweisbarkeit der Gegengründe.107 Mit zunehmender Schadenshöhe wachse die Wahrscheinlichkeit, daß ein öffentlich ausgetragener Schadensersatzprozeß mehr negative als positive mittelbare Auswirkungen nach sich ziehe.108 Hans-Joachim Mertens hat bereits im Jahr 1988 ausgeführt, es wäre gänzlich kontraproduktiv, Vorstände, die insgesamt mit Glück, Geschick und Erfolg agierten, wegen einzelner Unsorgfältigkeiten in Haftungsprozesse zu verwickeln und sich damit ihrer Dienste zu berauben.109 Welche Ansicht man auch immer zu der Frage vertritt, aufgrund welcher Kriterien die für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 111 Abs. 1 AktG gegeneinander abzuwägen sind, es führt nichts an der Erkenntnis vorbei, daß sich nur Abwägungsgrundsätze (Richtlinien, an denen sich eine sachgemäße Abwägung ausrichten muß) formulieren lassen. (ii) Wahrnehmung der Aufgabe Die Anwendung der Kriterien, aufgrund derer die für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden Gründe im Lichte des § 111 Abs. 1 AktG gegeneinander abzuwägen sind, verlangt mithin von dem Aufsichtsrat, die Abwägungsgrundsätze zu beachten, die im Lichte der ihm aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Bindung an das Unternehmenswohl insoweit gelten. Sie erfordert die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems: Dem Aufsichtsrat wird eine typische Ermessensausübung abverlangt. Die Einhaltung von bloßen Abwägungsgrundsätzen ist rechtlich nicht voll nachprüfbar. Die Uberprüfung einer Abwägung, die nur mit Abwägungsgrundsätzen konkretisiert zu werden vermag, kann Erkenntnisprobleme aufwerfen, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist, und zwar mit der Konsequenz, daß die Abwägung nicht überprüft, sondern nur ersetzt werden kann. Es ist rechtlich nur eingeschränkt nachprüfbar, ob der Aufsichtsrat die Abwägungsgrundsätze beachtet hat, die im Lichte der ihm aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Bindung an das Unternehmenswohl Heermann AG 1998, S.201, 208. Heermann AG 1998, S.201, 208, 209. 108 Heermann AG 1998, S.201, 209; siehe dazu auch Mertens, Rdn.37. 109 Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn.37. 106

107

Kölner Kommentar, §111

166

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

für die Abwägung der für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden G r ü n d e gelten. D e r Bundesgerichtshof hat dem Aufsichtsrat zu recht ein Entscheidungsermessen für die Frage zugebilligt, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs absehen möchte.

(ö)

Rechtsvergleich

A n dieser Stelle ist wiederum ein Blick ins Verwaltungsrecht lehrreich. D i e Regelung von Abwägungsgrundsätzen als gesetzlichen Richtlinien, an denen sich eine sachgemäße Ermessensausübung ausrichten muß, gilt als gesetzgeberisches M i t tel zur Steigerung der Kontrolldichte bei Ermessensentscheidungen. Das G e r i c h t darf sie zwar nicht selbst anwenden, muß aber prüfen, ob die Verwaltung die E r messensrichtlinien ermessensfehlerfrei angewendet hat. Das klassische Beispiel sind die Planungsleitsätze, etwa das G e b o t gerechter Abwägung aller von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange oder der Grundsatz der K o n flikt" und Problembewältigung. 1 1 0

(e) Ergebnis D e r Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 A k t G iVm. § 93 A k t G verlangt dem Aufsichtsrat mit der Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems ab. D e r Aufsichtsrat hat die Frage zu klären, welche Abwägungsgrundsätze im Lichte der aus § 111 A b s . 1 A k t G abzuleitenden Bindung des Aufsichtsrats an das U n t e r n e h m e n s w o h l insoweit gelten, und diese Abwägungsgrundsätze zu beachten. D i e Abwägungsgrundsätze entsprechen jedoch nicht den dem Aufsichtsrat bei dieser Abwägung obliegenden Rechtspflichten im Sinne der § § 1 1 6 , 93 A k t G und müssen anders als diese in ihrer Eigenschaft als Haftungsmaßstab nicht rechtlich voll nachprüfbar sein. Die unabweisbare K o n s e q u e n z lautet, daß der Überwachungsauftrag des § 1 1 1 A b s . l A k t G dem Aufsichtsrat mit einer Abwägungsaufgabe, die nicht im Lichte von Rechtspflichten im Sinne der §§ 1 1 6 , 9 3 A k t G , sondern durch die Festlegung von bloßen Abwägungsgrundsätzen im Lichte der ihm aufgrund des § 111 Abs. 1 A k t G obliegenden Bindung an das Unternehmenswohl

konkretisiert

wird, einen Entscheidungsfreiraum verleiht. D i e Frage, o b dem Aufsichtsrat mit B l i c k auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechen, ein Evaluationsermessen z u k o m m t , ist nach alledem zu bejahen. D a mit Blick auf die Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die E i n b e r u fung einer Hauptversammlung nichts anderes gelten kann, sind dem Aufsichtsrat 110

Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn.46, 36, 42.

C.

Aufsichtsrat

16 7

auch mit Blick auf die Abwägung der berücksichtigungsfähigen Umstände, die für und gegen eine Abberufung bzw. Einberufung sprechen, Evaluationsermessensspielräume zuzuerkennen. (dd) Auswahlermessen

des

Aufsichtsratsf

Schließlich stellt sich die Frage, ob dem Aufsichtsrat, wenn er in einem konkreten Fall mehrere Einwirkungsmöglichkeiten ergreifen könnte, ein Auswahlermessen zusteht, soweit das Gesetz das Ergreifen einer dieser Einwirkungsmöglichkeiten nicht zwingend vorsieht. (a) Die problematischen

Fallkonstellationen

Die Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats stellt sich zum einen unter dem Gesichtspunkt der Zielalternativität. Dabei geht es um das Verhältnis der Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen, zu der Einwirkungsmöglichkeit, die nur (und zwar ausschließlich) der repressiven Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dient, der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder. Die Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats stellt sich zum anderen unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Ansatzpunkte der Einwirkungsmöglichkeiten im Rahmen des gestuften Handlungsprogramms und damit im Hinblick auf die Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen. Auf der zweiten und dritten Stufe kommt eine Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats mit gleicher Einwirkungsintensität in Betracht. Dies betrifft auf der zweiten Stufe den Eingriff in die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder, die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder, die Anordnung und/ oder Ausübung von Zustimmungsvorbehalten bzw. die Mitwirkung bei der gesetzlichen Unternehmensberichterstattung. Auf der dritten Stufe geht es zum einen um die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung herbeizuführen, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G überträgt, oder die Ansicht der Aktionäre über einzelne Fragen der Geschäftsführung zu erkunden. Auf der dritten Stufe geht es zum anderen um die Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 A k t G herbeizuführen. Die Fallkonstellationen der dritten Stufe sind allerdings zum Teil gesetzlich geregelt: Die Eingriffsmöglichkeit nach § 111 Abs. 3 A k t G kann der Aufsichtsrat in einem konkre-

168

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

ten Fall nur ergreifen, w e n n das Wohl der Gesellschaft es fordert. Da das Gesetz das Ergreifen dieser Einwirkungsmöglichkeit dann aber zwingend vorsieht (der Aufsichtsrat hat eine Hauptversammlung einzuberufen), kann sich die Frage eines Auswahlermessens nur auf das Ergreifen weiterer Einwirkungsmöglichkeiten beziehen. (ß) Die richtige

Fragestellung

Die A n t w o r t auf die Frage nach einem Auswahlermessen des Aufsichtsrats hängt davon ab, ob der Gesetzgeber den Aufsichtsrat mit der Entschließung über das „wie" der Einwirkung auf den Vorstand insoweit dazu verpflichtet, bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen. Die Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen M a ß n a h m e n b ü n dels kann durch die W ü r d i g u n g von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer w a h r scheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten geprägt sein. Eine solche W ü r d i g u n g kann nicht unabhängig von einer Berücksichtigung anderer Problemstellungen im Unternehmen und nicht ohne eine Bewertung und Gewichtung und einen Ausgleich der Einflußfaktoren, Konsequenzen und Ziele erfolgen und damit nicht zu einem vollständig exakten (zwingend abgeleiteten und einzig richtigen) Ergebnis führen. Die Entschließung über das „wie" der Einwirkung auf den Vorstand könnte eine solche Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen M a ß n a h menbündels erfordern. Sie w ü r d e dem Aufsichtsrat dann die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems abverlangen, und zwar mit der Konsequenz, daß dem Aufsichtsrat insoweit ein Ermessensspielraum zuzuerkennen wäre (Auswahlermessen). (x) Der richtige

Ansatz

So liegen die Dinge hier allerdings nicht. Die Entschließung über das „wie" der Einwirkung auf den Vorstand verlangt von dem Aufsichtsrat keine Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen Maßnahmenbündels. Die Frage, ob die Ermittlung der überlegenen Maßnahme/des überlegenen M a ß n a h m e n b ü n dels dem Aufsichtsrat die Bewältigung eines unstrukturierten hochkomplexen Problems abverlangt, kann sich deshalb gar nicht stellen. Der Grund dafür ist, daß in den Fällen, in denen der Aufsichtsrat mehrere Einwirkungsmöglichkeiten ergreifen könnte, die einzelnen infragekommenden Maßnahmen alle in gleicher Weise und zudem gerade in ihrer Kumulation dem Unternehmenswohl dienen. Daher muß der Aufsichtsrat sie alle ergreifen, und die unabweisbare Konsequenz lautet, daß dem Aufsichtsrat kein Auswahlermessen zuzubilligen ist. Dies w i r d besonders deutlich im Rahmen des abgestuften Einwirkungsinstrumentariums und damit im Hinblick auf die Einwirkungsmöglichkeiten, die (je-

C.

Aufsichtsrat

169

denfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen. Der Aufsichtsrat kann in den aufgezeigten Fällen jede Einwirkungsmöglichkeit nur unter zwei Voraussetzungen ergreifen. Die Einwirkungsmöglichkeit muß zunächst im konkreten Fall geeignet sein, (zumindest auch) daraufhin zu wirken, daß der Vorstand von der konkret zu überwachenden Handlung und/oder von künftigen derartigen Handlungen Abstand nimmt. Sie muß konkret geeignet sein, (jedenfalls vorrangig) die zukunftsorientierte Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand zu erreichen (Überwachungsziel). Die Einwirkungsmöglichkeit muß außerdem im konkreten Fall dem Unternehmenswohl dienen, sei es, daß das Gesetz diese Prüfung vermittels qualifizierter Erfordernisse gesondert verlangt, 111 sei es, daß das Gesetz dies unterstellt, weil es diese Prüfung nicht gesondert verlangt und damit auch nicht erlaubt. Der entscheidende Gesichtspunkt ist nun, daß die jeweils in Betracht kommenden Einwirkungsmöglichkeiten als Maßnahmenbündel das Uberwachungsziel am besten erreichen und damit gerade in ihrer Kumulation dem Unternehmenswohl dienen. Denn die handlungs-, organisations- und personenbezogenen Einwirkungsmöglichkeiten setzen nicht nur im Verhältnis zueinander unterschiedlich an, indem sie auf das Handeln des Vorstands, den Vorstand als Organ oder die Vorstände als Personen einwirken. Die organisationsbezogenen Einwirkungsmöglichkeiten setzen, soweit sie nebeneinander in Betracht kommen, überwiegend auch im Verhältnis zueinander unterschiedlich an. So geht es auf der zweiten Stufe um einen Eingriff in die Befugnisse und in das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder und auf der dritten Stufe um einen Eingriff in die Zusammensetzung des Vorstands (die schlichte Nicht-Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern) und in das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder (Einberufung einer Hauptversammlung mit dem Ziel, eine Satzungsänderung herbeizuführen, die dem Aufsichtsrat den Erlaß der Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G überträgt). Dasselbe gilt für die personenbezogenen Einwirkungsmöglichkeiten. So geht es auf der zweiten Stufe um die Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder. Es ist kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum sich der Aufsichtsrat darauf beschränken dürfen soll, nur einen oder nur einige Ansatzpunkte zu wählen, um (jedenfalls vorrangig) die zukunftsorientierte Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand zu erreichen, wenn gerade die Kumulation der Ansatzpunkte am besten dazu geeignet ist, das Uberwachungsziel zu verwirklichen und dem Unternehmenswohl zu dienen.

111 §§84 Abs. 3,111 Abs. 3 AktG: Feststellung sowie Bewertung und Gewichtung der für und gegen eine Abberufung/Einberufung sprechenden Gesichtspunkte und abschließende Entschließung darüber, ob die Abberufung/Einberufung dem Unternehmenswohl dient.

170

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Dasselbe Bild zeigt sich unter dem Gesichtspunkt der Zielalternativität mit Blick auf das Verhältnis der soeben behandelten Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der U n t e r n e h m e n s führung durch den Vorstand dienen, zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder. D e r Aufsichtsrat kann auch diese Einwirkungsmöglichkeit nur unter zwei Voraussetzungen ergreifen. D i e Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs muß zunächst im konkreten Fall geeignet sein, einen nachträglichen Ausgleich der Konsequenzen der bereits vergangenen Unternehmensführung durch den Vorstand herbeizuführen. 1 1 2 Sie m u ß konkret geeignet sein, die repressive Sanktionierung der U n ternehmensführung durch den Vorstand zu erreichen (Überwachungsziel). D i e Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs m u ß außerdem im konkreten Fall dem Unternehmenswohl dienen, weil das Gesetz diese Prüfung vermittels qualifizierter Erfordernisse gesondert verlangt. 1 1 3 D e r entscheidende Gesichtspunkt ist nun wiederum, daß die Einwirkungsmöglichkeiten, die (jedenfalls vorrangig) der zukunftsorientierten Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand dienen, und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder als Maßnahmenbündel das Uberwachungsziel am besten erreichen und damit gerade in ihrer Kumulation dem Unternehmenswohl dienen. Wenn eine pflichtwidrige Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 A k t G gegeben ist, steht der Aufsichtsrat nicht nur vor den Frage, ob er die Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G durch eine Schadensersatzklage ahnden soll, sondern auch vor der Frage, welche Folgerungen er aus der Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 93 A k t G für die Zukunft ziehen soll. E s ist kein vernünftiger G r u n d ersichtlich, warum sich der Aufsichtsrat auf das eine oder das andere beschränken dürfen soll. E r muß sich sowohl um die zukunftsgerichtete Optimierung als auch um die repressive Sanktionierung der Unternehmensführung durch den Vorstand bemühen, weil ein solches Vorgehen am besten dazu geeignet ist, das Uberwachungsziel zu verwirklichen und dem Unternehmenswohl zu dienen. (ö)

Ergebnis

D i e Frage, ob dem Aufsichtsrat, wenn er in einem konkreten Fall mehrere E i n wirkungsmöglichkeiten ergreifen könnte, ein Auswahlermessen zusteht, soweit das Gesetz das Ergreifen einer dieser Einwirkungsmöglichkeiten nicht zwingend vorsieht, ist nach alledem zu verneinen.

D e r Schadensersatzanspruch muß durchsetzbar sein. D i e Evaluation muß ergeben, daß die Verfolgung des Schadensersatzanspruchs dem U n ternehmenswohl dient. 112

113

C.

Aufsichtsrat

171

2. Die Entscheidungsfreiräume im R a h m e n der sonstigen A u f g a b e n Dem Aufsichtsrat obliegt nicht nur der Überwachungsauftrag des §111 A b s . l AktG, sondern ihm obliegen darüberhinaus Leitungsaufgaben und auf anderen vom Gesetz dem Aufsichtsrat im einzelnen zugewiesenen Aufgaben aufbauende Überwachungsaufgaben. Vor diesem Hintergrund stellt sich ebenfalls die Frage nach dem Vorliegen von Entscheidungsfreiräumen des Aufsichtsrats. Die entscheidende Frage lautet, ob die Auslegung der den hier interessierenden Entscheidungen zugrundeliegenden Befugnisnormen ergibt, daß der Aufsichtsrat bei der Bestimmung der (gegebenenfalls für einzelne Entscheidungstypen inhaltlich konkretisierten) Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen hat und/oder daß der Aufsichtsrat bei der Wahrnehmung der (gegebenenfalls für einzelne Entscheidungstypen inhaltlich konkretisierten) Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen hat. Die Leitungsentscheidungen und die nicht auf dem Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG beruhenden Überwachungsentscheidungen erfüllen die genannten Voraussetzungen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Analyse des Handlungsbedarfs als auch im Hinblick auf die Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms. Dies liegt an der Eigenart dieser Entscheidungen 114 und zeigt sich besonders deutlich an den Zielen, die mit diesen Entscheidungen verfolgt werden.

a)

Personalentscheidungen

Die Entscheidungen des Aufsichtsrats über die personelle Zusammensetzung des Vorstands (Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern - §§ 84 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3, 105 Abs. 2 AktG) ohne Überwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 AktG sind Leitungsentscheidungen. Sie dienen dem Aufsichtsrat dazu, bereits vorausschauend eine optimale Unternehmensführung zu gewährleisten, unternehmenspolitische Akzente zu setzen und in einem gewissen Rahmen die zukünftige Unternehmenspolitik zu bestimmen. 115 Sie zeichnen sich insbesondere dadurch aus, daß der Aufsichtsrat im Lichte des Unternehmenswohls über die Erforderlichkeit einer Bestellung oder Abberufung befinden muß. Er muß dann konkrete Bewerber finden, indem er den Kreis der infragekommenden Personen umfassend sichtet, ohne daß unverhältnismäßig viel Zeit und Geld auf114 Roth, Ermessen, S. 77ff. will im Hinblick auf die Vorstandstätigkeit auf das Kriterium der „unternehmerischen Entscheidung" verzichten - und das vor diesem Hintergrund (hier bezogen auf die den Aufgaben des Vorstands gleichenden sonstigen Aufgaben des Aufsichtsrats) auch nicht ganz zu Unrecht. 115 Krieger, Personalentscheidungen, S. 1. Siehe dazu auch Ziff. II.1.1 des Berliner Kodex.

172

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

gewandt wird, Entscheidungen in die Länge gezogen werden und besonders qualifizierte Bewerber abgeschreckt werden. Er muß neue Vorstandsmitglieder auswählen, ohne daß sich die abstrakten Anforderungen an einen optimalen Bewerber mit dem Anspruch objektiver Richtigkeit als rechtlich geboten formulieren lassen. Die Fragen, ob eine bestimmte Person die allgemeinen Eigenschaften und Fähigkeiten einer Führungskraft erfüllt und wie sie im konkreten Fall zu gewichten sind und ob andere Eigenschaften im Lichte der konkreten Unternehmenspolitik erforderlich oder auch nur nützlich sind, kann nicht objektiv und eindeutig beurteilt werden. 116 b) Sonstige

Vorstandsentscheidungen

Die Entscheidungen über die Befugnisse und das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder (Regelung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse der Vorstandsmitglieder - §77 Abs. 1 Satz 2 iVm. §77 Abs. 2 Satz 1 AktG, §78 Abs. 3 Satz 2 AktG; Erlaß einer Geschäftsordnung für das Zusammenwirken der Vorstandsmitglieder - § 77 Abs. 2 Satz 1 A k t G ) ohne Uberwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G sind Leitungsentscheidungen. Sie sollen zur optimalen Funktionsfähigkeit des Vorstand beitragen, indem sie eine Organisation schaffen, die gemessen an der Größe und dem Zweck des Unternehmens und den Kompetenzen und der Haltung der Vorstandsmitglieder möglichst funktional ist. 117 Die Entscheidungen über die Anstellungsverträge und die Bezüge der Vorstandsmitglieder und über die Befreiung der Vorstandsmitglieder vom Wettbewerbsverbot und die Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder (Abschluß und Kündigung der Anstellungsverträge der Vorstandsmitglieder sowie Gewährleistung angemessener Gesamtbezüge der Vorstandsmitglieder - §§ 84 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 5, 87 AktG; Befreiung der Vorstandsmitglieder vom Wettbewerbsverbot und Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder - §§ 88, 89 A k t G ) ohne Uberwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 A k t G sind ebenfalls Leitungsentscheidungen. Sie sollen sich an den individuellen Leistungen der Vorstandsmitglieder orientieren, sicherstellen, daß die Vorstandsmitglieder ihre Arbeitskraft voll und ganz in den Dienst der Gesellschaft stellen, und eine Selbstbereicherung der Vorstandsmitglieder unterbinden. 118

116 Krieger, Personalentscheidungen, S.lOf., 24f., 32ff., 129ff.; siehe dazu auch Mutter, Entscheidungen, S.68ff., 78ff., 83, 154f. und Ziff. II.l. des Berliner Kodex. 117 Potthoff, Geschäftsführung, S.41 ff., 48ff.; siehe dazu auch Mutter, Entscheidungen, S. 65ff., 88ff., 153f., 158f. und Ziff. III.3 des Berliner Kodex. 118 Krieger, Personalentscheidungen, S. 164ff.; siehe dazu auch Mutter, Entscheidungen, S. 83ff., 156ff. und Ziff. III.6.1 des Berliner Kodex.

C.

c) Mitwirkungs-

und

Aufsichtsrat

173

Initiativentscheidungen

Die Entscheidungen des Aufsichtsrats über die Anordnung von Zustimmungsvorbehalten für die Vornahme bestimmter Arten von Geschäften (§111 Abs. 4 Satz 2 AktG) und über die Einberufung einer Hauptversammlung (§111 Abs. 3 AktG) ohne Uberwachungscharakter im Sinne des § 111 Abs. 1 AktG sind Leitungsentscheidungen. Sie sollen die erfolgreiche, am Unternehmensgegenstand und den in der Satzung zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen orientierte Entwicklung des Unternehmens sicherstellen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß der Aufsichtsrat zwar an den strategischen, unternehmensorganisatorischen und operativen Entscheidungen des Vorstands und der Hauptversammlung mitwirken bzw. sie initiieren kann, aber keinen zu starken Einfluß auf die Unternehmensführung erlangen darf. 119 d) Selbstorganisatorische

Entscheidungen

Die Entscheidungen des Aufsichtsrats darüber, wie er seine Zusammenarbeit mit dem Vorstand und seine eigene Tätigkeit so organisieren will, daß er die ihm vom Gesetz im einzelnen zugewiesenen Aufgaben optimal ausüben kann, sind Leitungsentscheidungen. Es geht darum, im Verhältnis zum Vorstand insbesondere eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur zu schaffen und vor allem die Informationsversorgung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 3 AktG auszugestalten und im einzelnen festzuschreiben sowie den über die gesetzliche Regelinformation hinausgehenden unternehmensspezifischen Informationsbedarf zu konkretisieren (unternehmensinterne Informationsordnung - § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG). Es geht auch darum, wie die innere Ordnung des Aufsichtsrats geregelt werden soll (§§107-110, 115, 124 Abs. 3 AktG) und insbesondere, ob Ausschüsse gebildet und wie sie gegebenenfalls besetzt werden sollen (§§ 107 Abs. 3,171 Abs. 2 Satz 2 AktG) sowie ob und zu welchen Bedingungen Kredite an Aufsichtsratsmitglieder gewährt werden sollen (§115 AktG). In diesen Bereich fällt auch die Aufgabe, Vorschläge zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern an die Hauptversammlung auszuarbeiten (§124 Abs. 3 AktG). Die selbstorganisatorischen Entscheidungen sollen zur optimalen Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats beitragen, indem sie eine Organisation schaffen, die gemessen an der Größe und dem Zweck des Unternehmens und den Kompetenzen und der Haltung der Aufsichtsratsmitglieder möglichst funktional ist.120

119

Siehe zu §111 Abs.4 Satz 2 AktG nur Semler, Überwachung, S.128ff. und Mutter, Entscheidungen, S.58ff. Siehe zu § 111 Abs. 3 AktG nur Semler, Überwachung, S. 126 Fn.342 und Mutter, Entscheidungen, S. 92. 120 Vgl. dazu Potthoff, Geschäftsführung, S.41ff., 48ff. Siehe dazu auch Ziff. IV.3, IV.4 und IV.5 des Berliner Kodex.

174

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

e) Überwachungsaufgaben

des Vorstands und des Aufsichtsrats

außerhalb des §111 Abs. 1 AktG

Die Entscheidungen des Aufsichtsrats darüber, wie er den Erfolg der Entscheidungen, mit denen er seine Zusammenarbeit mit dem Vorstand und seine eigene Tätigkeit so organisiert, daß er die ihm vom Gesetz im einzelnen zugewiesenen Aufgaben optimal ausüben kann, und die eigenständige Tätigkeit der Ausschüsse überwacht (vgl. §107 Abs. 3 Satz 3 AktG), sind Überwachungsentscheidungen, die nicht auf dem Überwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG beruhen. In diesen Bereich fällt auch die Aufgabe des Aufsichtsrats, der Hauptversammlung zu berichten, in welcher Art und in welchem Umfang er die Geschäftsführung geprüft hat (§171 Abs. 2 Satz 2 AktG). Sie sollen zur optimalen Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats beitragen, indem sie ein Überwachungssystem schaffen, das sicherstellt, daß die organisationsbezogenen Vorgaben des Aufsichtsrats eingehalten werden und daß die Organisation des Aufsichtsrats gemessen an den funktionalen Anforderungen optimal ist.121 f ) Ergebnis Die Auslegung der den Leitungsentscheidungen und den nicht auf dem Uberwachungsauftrag des § 111 Abs. 1 AktG beruhenden Überwachungsentscheidungen zugrundeliegenden Befugnisnormen ergibt, daß dem Aufsichtsrat im Hinblick auf alle Entscheidungstypen Leitungs- und Überwachungsfreiräume zustehen. Es ist der Aufsichtsrat, der die ihm mit diesen Befugnisnormen abverlangten Leitungs- und Überwachungsentscheidungen - soweit die festgestellten Leitungsund Überwachungsfreiräume reichen - kraft eigener verbandsrechtlicher Legitimation zu treffen hat, und zwar mit der Konsequenz, daß insoweit der Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung im Sinne der §§116, 93 AktG ausgeschlossen ist.

121

Vgl. dazu Potthoff, Geschäftsführung, S.41ff., 48ff. Siehe dazu auch Ziff. II.2 und II.3 des Berliner Kodex.

D. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Frage, bei welchen Entscheidungen der Vorstand und der Aufsichtsrat über welche Entscheidungsfreiräume verfügen, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den Aufgabenzuweisungen (§§ 76, 111 Abs. 1 A k t G ) und der pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung (§§93, 116 AktG). 1 2. Im Verwaltungsrecht dient die normative Ermächtigungslehre dazu, im Rahmen des Konzeptes der negativen Kontrolle die Voraussetzungen für die Annahme von Entscheidungsfreiräumen zu präzisieren und damit zugleich ihre Legitimationsgrundlage zu erfassen. An diesen Ansatz kann im Gesellschaftsrecht angeknüpft werden, um sachlogische Kriterien für die Bestimmung von Entscheidungsfreiräumen der Unternehmensführung zu bilden. 2 3. Nach der normativen Ermächtigungslehre kann es der Gesetzgeber der Verwaltung vermittels der Normierung von Einschätzungsbegriffen und Ermessensspielräumen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise aufgeben, offene N o r m e n kraft eigener verfassungsrechtlicher Legitimation zu konkretisieren. Die besondere Eigenart der Einschätzungsbegriffe und des Ermessens besteht in der begrenzten Widerlegbarkeit und Uberprüfbarkeit der Einschätzungen und Ermessensausübungen. Es sind Erkenntnisprobleme, die dazu führen, daß zweifelhaft bleibt, was richtig ist, und zwar mit der Konsequenz, daß die Entscheidung nicht überprüft, sondern nur ersetzt werden kann. Darin liegt die Legitimation der Entscheidungsfreiräume, die in ihrer Konsequenz eine Zuweisung der Letztentscheidungskompetenz an den Entscheidungsträger beinhalten. 3 4. Es ist eine betriebswirtschaftlich abgesicherte Erkenntnis, daß die Unternehmensführung einem Problem gegenüberstehen kann, das nicht nur unstrukturierter und komplexer Natur ist, sondern sich auch wegen eines schwankenden E r kenntnisfundaments und unvollständiger Problemeinsichten einer eindeutig richtigen Lösung entzieht (sogenanntes unstrukturiertes hochkomplexes Problem). In diesem Fall sind der einfordbaren Entscheidungsqualität und damit auch dem Vorwurf einer pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 9 3 A k t G oder durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116, 93 A k t G inhärente Grenzen gesetzt. 4 1 2 3 4

Siehe Siehe Siehe Siehe

dazu dazu dazu dazu

S.6ff.,37ff., 51 ff. S. 60f., 70f. S. 61 ff. S. 78f.

176

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

5. Die aktienrechtlichen Befugnisnormen lassen sich in Handlungsvoraussetzungen (Beurteilung der Erforderlichkeit/Gebotenheit eines Vorhabens - Handlungsbedarf) und Handlungsbefugnisse (Entschließung über das „ob" und „wie" der Realisierung des Vorhabens - Handlungsentschluß) gliedern. Es liegen dann konditional formulierte Rechtsnormen vor, die Einschätzungsprärogativen und Ermessensspielräume eröffnen können. 5 6. Zahlreiche aktienrechtliche Normen und insbesondere die beiden zentralen Normen des § 76 Abs. 1 AktG und des § 111 Abs. 1 AktG sind sehr unbestimmt. Daher müssen im Wege der inhaltsbezogenen Typisierung die Fallgruppen der von ihnen erfaßten Entscheidungen bestimmt werden, damit - bezogen auf bestimmte Entscheidungstypen - die Handlungsvoraussetzungen und die Handlungsbefugnisse konkretisiert werden können. 6 7. Es ist durch Auslegung der einer Entscheidung zugrundeliegenden Befugnisnorm zu ermitteln, ob dem Vorstand/Aufsichtsrat Einschätzungsprärogativen und/oder Ermessensspielräume zuzubilligen sind. Die entscheidende Frage lautet, ob der Vorstand/Aufsichtsrat bei der Bestimmung der (für diesen Entscheidungstyp konkretisierten) Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen hat und/oder bei der Wahrnehmung der (für diesen Entscheidungstyp konkretisierten) Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem zu bewältigen hat. 7 8. Der Gesetzgeber weist dem Vorstand mit der Führungsaufgabe nach §76 Abs. 1 AktG im Uberwachungsbereich des Aufsichtsrats (nur) im Hinblick auf bestimmte Entscheidungen Leitungs- und Uberwachungsfreiräume zu. Er ordnet dem Aufsichtsrat mit den Leitungsaufgaben (§§84 Abs. 1 bis Abs. 3, 105 Abs. 2, §§ 77 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 77 Abs. 2 Satz 1, 78 Abs. 3 Satz 2, 77 Abs. 2 Satz 1 AktG; §§84 Abs.l Satz 5 und Abs. 3 Satz 5, 87, 88, 89 AktG; §§111 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 2 AktG; Informationsordnung nach §77 Abs. 2 Satz 1 AktG und Selbstorganisation nach den §§107 bis 110, 115, 124 Abs. 3 AktG) und mit der Überwachung der eigenen Entscheidungen und der Ausschüsse im Hinblick auf alle Entscheidungen Leitungs- und Uberwachungsfreiräume zu. Der Vorstand und der Aufsichtsrat verfügen insoweit über vergleichbare Entscheidungsfreiräume. 8 9. Der Gesetzgeber weist dem Aufsichtsrat mit der Überwachungsaufgabe des §111 Abs. 1 AktG (nur) im Hinblick auf bestimmte im Rahmen der Uberwachungsentscheidung vorzunehmende Prüfungsschritte Entscheidungsfreiräume zu.

5 6 7 8

Siehe Siehe Siehe Siehe

dazu dazu dazu dazu

S. 71 ff. S. 73. S.73ff.,83ff.,86f. S.88ff., 112ff., 117f., 171ff.

177

D. Zusammenfassung der Ergebnisse

a) Die Analyse des Handlungsbedarfs verlangt von dem Aufsichtsrat die Prüfung, ob der Vorstand mit der zu überwachenden Handlung die ihm obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G erfüllt hat und/oder erfüllen wird (Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands). D e m Aufsichtsrat stehen insoweit keine Einschätzungsprärogativen zu. Diese Prüfung birgt nicht dieselben Unwägbarkeiten wie gegebenenfalls die zu überwachende Entscheidung des Vorstands. Der Vorstand mag seinerseits bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem einzuschätzen haben und/oder bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes

hochkomplexes

Problem

zu

bewältigen haben. Der Aufsichtsrat ist jedoch nicht in derselben Lage: Wenn dem Vorstand ein Entscheidungsfreiraum zusteht und deshalb nur eine negative K o n trolle stattfindet, muß der Aufsichtsrat lediglich prüfen, ob der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung trifft. Diese Frage kann keine Erkenntnisprobleme, sondern allenfalls Rechtsanwendungsprobleme aufwerfen. 9 b) Die Analyse des Handlungsbedarfs verlangt von dem Aufsichtsrat in den Fällen, in denen dem Vorstand bei einer zu überwachenden Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht und der Vorstand eine rechtlich vertretbare Entscheidung trifft, die Prüfung, ob er selbst eine andere, aber gleichermaßen rechtlich vertretbare Entscheidung treffen würde (Erkenntnis einer besseren Entscheidung). D e m Aufsichtsrat stehen insoweit Einschätzungsprärogativen zu. Diese Prüfung birgt dieselben Unwägbarkeiten wie die zu überwachende Entscheidung des Vorstands. Der Vorstand muß bei der Bestimmung der Handlungsvoraussetzung/Handlungsvoraussetzungen

zumindest

ein

unstrukturiertes

hochkomplexes Problem einschätzen und/oder bei der Wahrnehmung der Handlungsbefugnis zumindest ein unstrukturiertes hochkomplexes Problem bewältigen. Der Aufsichtsrat ist in derselben Lage: E r kommt gar nicht umhin, wie der Vorstand jedes bei der Analyse des Handlungsbedarfs auftretende unstrukturierte hochkomplexe Problem einzuschätzen und/oder sich eine eigene Ansicht dazu zu bilden, wie jedes im Rahmen des Handlungsentschlusses auftretende unstrukturierte hochkomplexe Problem zu bewältigen ist. D e r Aufsichtsrat steht vor denselben Erkenntnisproblemen wie der Vorstand. 1 0 c) Die Entschließung über das „ob" der Einwirkung auf den Vorstand eröffnet kein Entschließungsermessen. Aus der Funktion des Aufsichtsrats als Sachwalter der Aktionärsinteressen ist zu folgern, daß der Aufsichtsrat nicht nur einschreiten kann, sondern auch muß, wenn ein Einwirkungsfall gegeben ist (Vorliegen einer Pflichtverletzung des Vorstands oder Erkenntnis einer besseren Entscheidung). 1 1

Siehe dazu S.106ff., 117f., 118ff., 120ff. Siehe dazu S. 106ff., 117f., 118ff., 127ff. 11 Siehe dazu S. 106ff., 117f., 118ff., 131 ff., 134f.

9

10

178

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

d) Die Entschließung über das „wie" der Einwirkung auf den Vorstand eröffnet kein Auswahlermessen. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats lassen sich in ein Handlungsprogramm umsetzen. Es beinhaltet unter dem Gesichtspunkt der Optimierung der Unternehmensführung durch den Vorstand ein gestuftes Einwirkungsinstrumentarium. D e r Ausgangspunkt ist wie im Verwaltungsrecht die unterschiedliche Einwirkungsintensität der Einwirkungsmöglichkeiten. Die Abweichungen gegenüber dem Verwaltungsrecht ergeben sich aus der Heterogenität der Einwirkungsmöglichkeiten (Einwirkung auf Handlungen des Vorstands, auf den Vorstand als Organ und auf die Vorstände als Personen; A n knüpfen an spezielle Maßnahmen des Vorstands). Das Handlungsprogramm eröffnet auf mehreren Einwirkungsstufen die Möglichkeit einer Kumulation von Einwirkungsmöglichkeiten mit gleicher Einwirkungsintensität. Die Frage eines Auswahlermessens und damit die Frage nach der überlegenen Maßnahme stellt sich in diesen Fällen jedoch nicht. Die jeweils fraglichen Einwirkungsmöglichkeiten dienen gerade in ihrer Kumulation dem Uberwachungszweck und damit dem Unternehmenswohl. Der Aufsichtsrat darf sich auch nicht darauf beschränken, eine Pflichtverletzung des Vorstands im Sinne des § 9 3 A k t G durch eine Schadensersatzklage zu ahnden, wenn er daneben Einwirkungsmöglichkeiten im Rahmen des gestuften Einwirkungsinstrumentariums ergreifen kann, um aus der Pflichtverletzung die erforderlichen Folgerungen für die zukünftige Arbeit des Vorstands zu ziehen. 1 2 e) Die Entschließung über das „wie" der Einwirkung auf den Vorstand verlangt von dem Aufsichtsrat vor der abschließenden Entscheidung in bestimmten Fällen besondere Prüfungen. Im Rahmen der Abberufung von Vorstandsmitgliedern ( § 8 4 Abs. 3 A k t G ) muß er beurteilen, ob ein wichtiger Grund vorliegt. Im Rahmen der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder (§ 93 A k t G ) muß er beurteilen, ob der Anspruch durchsetzbar ist. In beiden Fällen und bei der Einberufung einer Hauptversammlung (§111 Abs. 3 A k t G ) muß er die Umstände ermitteln und abwägen, die für und gegen eine Abberufung des Vorstands, eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs bzw. eine Einberufung einer Hauptversammlung sprechen, um festzustellen, ob das Ergreifen der Einwirkungsmöglichkeit dem Unternehmenswohl dient. Bei der Neuregelung der Vergütung und der geldwerten Sondervorteile der Vorstandsmitglieder (§§87, 88, 89 A k t G ) muß der Aufsichtsrat den Inhalt der Maßnahme festlegen. 13 Entscheidungsfreiräume kommen dem Aufsichtsrat nur im Hinblick auf die nach den § § 8 4 Abs. 3, 93, 111 Abs. 3 A k t G erforderlichen Abwägungen und auf die nach den § § 8 7 , 88, 89 erforderliche Ausgestaltung der Maßnahmen zu. D e m Aufsichtsrat werden nur in diesen Fällen typische Ermessenserwägungen abver12 13

Siehe dazu S. 106ff., 117f., 118ff., 131ff., 136ff., 139f., 142f., 143ff., 167ff. Siehe dazu S. 106ff., 117f., 118ff., 131ff., 140ff., 142f., 150ff., 160ff.

D. Zusammenfassung

der Ergebnisse

179

langt. Im übrigen hat der Aufsichtsrat - etwa mit Blick auf § 93 AktG - nur die Rechtspflichten einzuhalten, die einem Anwalt nach gefestigter Rechtsprechung bei der Prüfung der Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens obliegen, und zu beachten, welche für und gegen eine Rechtsverfolgung sprechenden U m stände nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zu berücksichtigen sind. Eine Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung im Sinne einer planungsspezifischen Prognose wird dabei nicht verlangt: Eine Vorhersage des Prozeßausgangs wird ebensowenig gefordert wie eine exakte qualitative und quantitative Vorhersage der indirekten und schwer kalkulierbaren Effekte der Rechtsverfolgung. Der Aufsichtsrat steht nicht vor Erkenntnisproblemen, sondern vor Rechtsanwendungsproblemen. 14 f) Im Ergebnis stehen dem Aufsichtsrat im Rahmen der Überwachung nach § 111 Abs. 1 AktG nur bei der Erkenntnis einer besseren Entscheidung und der Evaluation und Ausgestaltung bestimmter Einwirkungsmöglichkeiten Entscheidungsfreiräume zu, die denen des Vorstands vergleichbar sind. 10. In dogmatischer Hinsicht ergibt sich das folgende Gesamtbild: Die Konkretisierung einer dem Aufsichtsrat aufgrund des §111 Abs.l AktG obliegenden Prüfungsaufgabe im Lichte der Rechtspflichten des Vorstands im Sinne des § 93 AktG (Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands) und im Lichte von Rechtspflichten im Sinne der §§116 AktG, 276 BGB bzw. §§116, 93 AktG (Prüfung der Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs und des Vorliegens der für und gegen eine Verfolgung des Schadensersatzanspruchs sprechenden U m stände) dient einer positiven Kontrolle des Aufsichtsrats: Diese Prüfungen des Aufsichtsrats sind rechtlich voll nachprüfbar. Sie kann in bestimmten Fällen zugleich einer negativen Kontrolle des Vorstands dienen: Die Konkretisierung der dem Aufsichtsrat obliegenden Prüfungsaufgabe im Lichte der Rechtspflichten des Vorstands im Sinne des §93 AktG kann Entscheidungsfreiräume des Vorstands sichern und begrenzen (Erkenntnis einer Pflichtverletzung des Vorstands). 15 Die Konkretisierung einer dem Aufsichtsrat aufgrund des Überwachungsauftrags des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Prüfungsaufgabe im Lichte der einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben nicht zugänglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand (Erkenntnis einer besseren Entscheidung) oder durch Festlegung von bloßen Abwägungsgrundsätzen im Lichte der ihm aufgrund des § 111 Abs. 1 AktG obliegenden Bindung an das Unternehmenswohl (Evaluation der Verfolgung des Schadensersatzanspruchs) dient dagegen einer negativen Kontrolle des Aufsichtsrats: Diese Prüfungen des Aufsichtsrats sind rechtlich nur eingeschränkt nachprüfbar. Die bei diesen Prüfungen einzuhalten-

14 15

Siehe dazu S.lOóff., 117f., 118ff., 131ff., 140ff., 142f., 150ff., 160ff. Siehe dazu S. 124f., 126f., 157ff., 159f.

180

2. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

den Rechtspflichten im Sinne der §§116,93 AktG sichern und begrenzen die Entscheidungsfreiräume des Aufsichtsrats. 16 11. Da Vorstand und Aufsichtsrat über vergleichbare Entscheidungsfreiräume verfügen, können die vom Aufsichtsrat insoweit einzuhaltenden Rechtspflichten im Sinne der §§116, 93 AktG grundsätzlich keine anderen sein als die vom Vorstand insoweit einzuhaltenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG. Die Kriterien, die der Prüfung einer insoweit pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Aufsichtsrat im Sinne der §§116, 93 AktG zugrunde zu legen sind, müssen grundsätzlich dieselben sein wie die Kriterien, die der Prüfung einer insoweit pflichtwidrigen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand im Sinne des § 93 AktG zugrunde zu legen sind. Der Vorschlag der Bundesregierung, die Grenzen des unternehmerischen Ermessens in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 (in Verbindung mit § 116 Satz 2 AktG) für Vorstand und Aufsichtsrat einheitlich anzulegen, ist vom Ansatz her richtig.

16

Siehe dazu S.128ff., 165f., 166f.

3. Teil

Die Reichweite der Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats

A. Ansatzpunkt In den Fällen, in denen die Interpretation der einer konkreten Entscheidung zugrundeliegenden Befugnisnorm (insbesondere der § § 7 6 Abs. 1 , 1 1 1 Abs. 1 A k t G ) ergibt, daß dem Vorstand/Aufsichtsrat bei dieser Entscheidung zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, stellt sich die Frage nach der Reichweite der E n t scheidungsfreiräume. Diese Frage zielt auf die Konkretisierung der den Vorständen/Aufsichtsräten insoweit obliegenden Rechtspflichten im Sinne des

§93

AktG/der § § 1 1 6 , 93 A k t G . Zur Lösung dieser Frage trägt die gesellschaftsrechtliche Rechtsprechung und Literatur bislang wenig bei. Vor der A R A G - E n t s c h e i d u n g des Bundesgerichtshofs beschränkte man sich auf die „Auflistung einzelner haftungsbegründender Aspekte." 1 Bis heute wird darauf verzichtet, die seit jeher genannten Entscheidungskritierien der „Rechtmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Z w e c k m ä ß i g k e i t " hinreichend zu präzisieren. 2 Diejenigen, die in der A R A G - R e c h t s p r e c h u n g des Bundesgerichtshofs eine Ü b e r n a h m e der U . S . amerikanischen business judgment rule sehen, haben erst damit begonnen, die Reichweite der - aufgrund der jeweils zugrundegelegten Kriterien - angenommenen Entscheidungsfreiräume zu bestimmen. 3 Es k o m m t erschwerend hinzu, daß die gesellschaftsrechtliche R e c h t sprechung und Literatur ein ungeordnetes Bild vermittelt. Es wird ganz überwiegend - und dies zumeist nur ergebnisorientiert - an Einzelfragen angeknüpft und erörtert, ob der Vorstand/Aufsichtsrat diese oder jene konkrete M a ß n a h m e ergreifen darf, soll oder muß. 4 E s geht etwa um die Konzernbildung und K o n z e r n führung, 5 die A b w e h r oder Herbeiführung von Übernahmen, 6 Schmiergelder So zutreffend Heermann AG 1998, S.201, 204. Siehe nur die Darstellung bei Semler, Überwachung, S. 106ff. 3 Roth, Ermessen, S.44f., 74ff., 107ff.; Paefgen, Entscheidungen, S. 171 ff.; Heermann AG 1998, S.201, 208f. und ZIP 1998, S.761, 762f., 763f. 4 Dies wird besonders deutlich bei Kessler AG 1995, S. 61, 66. 5 Dabei steht im deutschen Gesellschaftsrecht die Frage der Vorstandskompetenz unter dem Blickwinkel etwaiger Mitwirkungsrechte der Hauptversammlung im Vordergrund; siehe dazu nur Kessler AG 1995, S. 61,66ff. sowie BGH BB 2004, S. 1182ff. - Gelatine und dazu Bungert BB 2004, S. 1345 ff. 6 Diese Diskussion ist durch das Inkrafttreten des Wertpapiererwerbs- und Ubernahmegesetzes zum 1. Januar 2002 (BGBl. 2001 I S. 3822ff.) und insbesondere durch die §§27,33 dieses Gesetzes (Stellungnahme des Vorstands und Aufsichtsrats der Zielgesellschaft; Handlungen des Vorstands der Zielgesellschaft - eingeschränkte Neutralitätspflicht des Vorstands während des Ubernahmeverfahrens und Vorratsermächtigung durch die Hauptversammlung vor dem Uber1

2

A. Ansatzpunkt

183

und Spenden, 7 Geschäfte zwischen dem U n t e r n e h m e n / K o n z e r n u n t e r n e h m e n einerseits und Vorstandsmitgliedern/Aufsichtsratsmitgliedern, ihnen nahestehenden Personen/Unternehmen andererseits, 8 Kompensationsleistungen für und N u t z u n g von Gesellschaftsresourcen durch Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, 9 die Bildung von Rücklagen, 1 0 die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder ( § 9 3 A k t G ) 1 1 und - zumeist kasuistisch 1 2 - um die Geschäftstätigkeit. 1 3 E s fehlt an „systembilnahmeverfahren) entschärft worden (vgl. auch Ziff. 3.7 des Deutschen Kodex). Siehe dazu: Bayer ZGR 2002, S. 588ff.; Hirte ZGR 2002, S. 623 ff.; Hopt ZGR 2002, S. 333ff. Siehe zur vorangegangenen Diskussion: LG Düsseldorf AG 2000, S. 233 ff. - Mannesmann/Vodafone und dazu Krause AG 2000, S.217ff.; Merkt ZHR 165 (2001), S.224ff.; Maier-Reimer ZHR 165 (2001), S.258ff.; Becker ZHR165 {2QQl),$.2%0ii.-,Baudisch/Götz A G 2 0 0 1 , S . 2 5 1 f f . ; ß r c W A G 1999, S. 481 ff.; Wolf AG 1998, S.212ff.; Barthelmeß/Braun AG 2000, S.172ff.; Thümmel DB 2000, S.461ff.; Hopt ZHR 161 (1997), S.368ff.; Kallmeyer ZHR 161 (1997), S.435ff.; Weisgerber ZHR 161 (1997), S.421 ff.; Wirth/Weiler DB 1998, S. 117ff.; Schuster EuZW 1997, S.237ff.; Michalski AG 1997, S. 152ff.; Schander BB 1997, S. 1801ff.; Schilling BB 1997, S. 1909ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.335ff., 412ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 102ff., 230ff. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 111 ff., 292ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht); Bungert AG 1994, S. 297ff. und Trockels AG 1990, S.139, 142, 142ff. sowie Frank/Moreland RIW 1989, S.761, 761ff. und von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 481, 483ff. (nur zum U.S. amerikanischen Recht). 7 Siehe dazu: BGH AG 2002, S.347ff. und dazu Laub AG 2002, S.308ff.; Kessler AG 1995, S. 120,126,131 f.; Fleischer ZIP 2005, S. 141 ff. und AG 2001, S. 171 ff.; Mertens AG 2000, S. 157ff. und Philipp AG 2000, S.62ff. sowie Roth, Ermessen, S. l l l f . (insbesondere zur Entschädigung von Zwangsarbeitern); Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 75ff., 195ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 8 Siehe dazu: Ziff. 4.3.4 des Deutschen Kodex; Ziff. II.4.C und III.4.C des Frankfurter Kodex; Ziff. III.5.2 und IV.6.2 des Berliner Kodex; Roth, Ermessen, S.60f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.274ff., 336ff., 317ff., 381 ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 9 Siehe dazu: Ziff. 4.2.2,4.2.3 und 5.4.7 des Deutschen Kodex; Ziff. II.3 und Ill.l.d des Frankfurter Kodex; Ziff. III.6.1-6.3 und IV.7.1-7.3 des Berliner Kodex; Hoffmann-Becking ZHR 169 (2005), S. 155ff.; Kramarsch ZHR 169 (2005), S.112ff.; BGH BB 2004, S.621ff. - MobilCom; OLG Schleswig NZG 2003, S. 176ff. - MobilCom; Hoff WM. 2003, S. 910ff.; Peltzer NZG 2004, S. 509ff.; Paefgen WM 2004, S. 1169ff.; Wiechers DB 2003, S.595ff.; Vetter AG 2004, S.234ff.; Richter BB 2004, S. 949ff.; Meyer/Ludwig ZIP 2004, S. 940ff.; Martens ZHR 169 (2005), S. 124ff.; Käppiinger/Käppiinger WM 2004, S.712ff.; Kiethe BB 2003, S.1573ff. und WM 2004, S.458ff.; Brauer/Dreier NZG 2005, S.57ff.; Liebers/Hoefs ZIP 2004, S.97ff.; Lutter ZIP 2003, S.737ff.; Brauer NZG 2004, S.502ff.; Wollburg ZIP 2004, S.646ff.; Hüffer BB 2003, Beilage 7, S. 11 ff.; Thüsing ZGR 2003, S.457ff.; Theisen RWZ 2001, S.157, 160ff.; Heermann ZIP 1998, S.761, 763f.; Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn.62ff.; Roth, Ermessen, S.59f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.285ff., 345ff., 293ff., 353f., 357ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 10 Siehe dazu: Kessler AG 1995, S.61, 73 und Abeltshauser, Leitungshaftung, S.69ff., 179ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 11 Siehe dazu: Roth, Ermessen, S.119ff.; Heermann AG 1998, S.201ff.; Kindler ZHR 162 (1998), S. lOlff.; Horn ZIP 1997, S. 1129,1136ff.; Henze BB 2001, S. 53, 59f. und BB 2000, S.209, 215f.; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117,1123f.; Dreher ZHR 158 (1994), S. 614{{.-,Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, S. 1157ff; Fischer BB 1996, S. 225ff.; Nirk, Festschrift Boujong, S. 393ff.; Rittner EWiR §116 1/95; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 235. 12 Siehe dazu Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 169f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.266f. 13 Siehe dazu: OLG Düsseldorf ZIP 1997, S.27ff. - ARAG/Garmenbeck (ungesicherte Vor-

184

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

dender Grundlagenarbeit" 14 und damit an einem geschlossenen und tragfähigen Lösungskonzept. 15 Demgegenüber hat das Verwaltungsrecht ein Lösungskonzept entwickelt. Dabei dient eine komplexe Entscheidungsfehlerlehre dazu, die Entscheidungsfreiräume zu sichern und zu begrenzen und die insoweit maßgeblichen Rechtspflichten zu konkretisieren. An diesen Ansatz kann im Gesellschaftsrecht angeknüpft werden, um sachlogische Kriterien für die Reichweite von Entscheidungsfreiräumen der Unternehmensführung zu bilden.

I. Die verwaltungsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

Die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre knüpft an die - nach Fehlergegenstand und Fehlerfolgen - strikte Trennung zwischen dem formellen Verwaltungsverfahrensrecht und dem materiellen Verwaltungsrecht an. 16 1. Die Bedeutung des Verwaltungsverfahrensrechts Der Einhaltung des Verwaltungsverfahrensrechts kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn der Verwaltung Entscheidungsfreiräume zustehen. Es wird betont, der Gesetzgeber habe, wenn er in verfassungsrechtlich zulässiger Weise einen Verwaltungsspielraum eröffnen wolle, „im Interesse eines effektiven Grundrechtsgewährung ... für eine angemessene Verfahrensgestaltung zu sorgen, damit Beurteilungsfehler möglichst vorbeugend vermieden" würden. 17 Es wird von einer „mittelbaren Ermessens- und Beurteilungskontrolle durch Kontrolle des Verwaltungsverfahrens" sowie von einer „Nachprüfung der Einhaltung von Verfahrensbestimmungen" als einem „gewissen Ersatz für die fehlende Möglichkeit unmittelbarer Kontrolle" gesprochen. 18 schaltdarlehen); LG Stuttgart A G 2000, S.237ff. (nachteilige Vertragsgestaltung); LG Bielefeld ZIP 2000, S.20ff. - Balsam (existenzgefährdende Geschäftspraktiken); B G H ZIP 2001, S. 1874, 1876f. - Bremer Vulkan (konzerninterner Liquiditätsverbund); Kiethe W M 2003, S. 861 ff.; Witte/Hrubesch BB 2004, S. 725 ff.; Semler, Überwachung, S. 23 ff., 31 ff., 106ff., 118; Heermann ZIP 1998, S. 761,762f., 763ff.; Roth, Ermessen, S. 125ff,;Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 60ff., 71ff., 162ff., 190ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht mit den sich daraus ergebenden Modifizierungen) und insbesondere die Rechtsprechungsübersicht auf S. 149, 163ff., 190ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.242ff. und insbesondere die Rechtsprechungsübersicht auf S.232ff., 249f., 251 ff. 14 Dreher Z H R 158 (1994), S.614, 631. 15 Siehe dazu auch Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 169f. und auch S. 182,193f., 199f. sowie Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.267f., aber auch Roth, Ermessen, S. 74ff., 107ff. und Paefgen, Entscheidungen, S.171ff. sowie Heermann A G 1998, S.201, 208f. und ZIP 1998, S.761, 762f., 763f. 16 Alexy JZ 1986, S.701, 706f. 17 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.24. 18 Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn.47.

A. Ansatzpunkt

185

D i e verfahrensrechtlichen Anforderungen bestehen darin, daß die Verwaltung eine den rechtlichen und insbesondere auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage zur Verfügung haben und das vorgeschriebene und/oder nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen gebotene Verfahren, jedenfalls soweit es den Interessen des Betroffenen zu dienen bestimmt ist, einhalten muß. Dies gilt insbesondere für das Erfordernis der U n p a r teilichkeit der zur Entscheidung berufenen Amtsträger ( § § 2 0 , 21 V w V f G ) sowie für die Verpflichtung zur Anhörung der Beteiligten ( § 2 8 V w V f G ) und zur B e gründung der Entscheidung ( § 3 9 V w V f G ) . 1 9 D i e Begründung ist bei Verwaltungsakten, denen Einschätzungsprärogativen bzw. Ermessensspielräume zugrundeliegen, sowohl unter formell verwaltungsverfahrensrechtlichen als auch unter materiell-rechtlichen Aspekten relevant. Das Fehlen einer Begründung oder das Vorliegen einer Begründung, in der wesentliche Erwägungen keinen Ausdruck finden (unvollständige Begründung), führt (vorbehaltlich einer Heilung nach den § § 4 5 V w V f G , 73 A b s . l Satz 1, 79 Abs. 1 Nr. 1 V w G O ) zur formellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes. Das Vorliegen einer zwar formell ausreichenden (den §§ 39 V w V f G , 73 Abs. 3 Satz 1 V w G O genügenden), aber inhaltlich unrichtigen Begründung führt dagegen (vorbehaltlich einer Ersetzung fehlerhafter durch fehlerfreie Erwägungen aufgrund eines zulässigen Nachschiebens von Gründen) zur materiellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes. In der Praxis lassen sich allerdings häufig die Fälle einer formell fehlerhaften Begründung nicht von den Fällen einer materiell fehlerhaften Begründung unterscheiden. Dementsprechend lassen sich auch die Fälle des Nachholens der Begründung und die Fälle des Nachschiebens von Gründen nur schwer voneinander trennen. D a h e r wird das Fehlen einer den § § 3 9 V w V f G , 73 Abs. 3 Satz 1 V w G O genügenden Begründung als ein Indiz für eine fehlerhafte Einschätzung bzw. Ermessensausübung angesehen, und zwar insbesondere dann, wenn die Gründe sonst nicht ersichtlich sind und die Verwaltung ihre G r ü n d e nachträglich nicht offenlegt. 2 0

19 Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.la, 11, 15, 30, 47f.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.26, 47 sprechen von formellen Vorbeurteilungs-/Vorermessensfehlern. 20 Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.48, 51, §113 Rdn.60f. (insbesondere Fn.89), 63, 70, 71; Alexy JZ 1986, S. 701, 706 (insbesondere Fn. 73). Zur Unbeachtlichkeit aufgrund einer nachträglichen Heilung im weiteren Verlauf des Verfahrens nach § 45 VwVfG oder durch eine Widerspruchsentscheidung nach den §§73 Abs. 1 Satz 1, 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO siehe Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.6a, §113 Rdn. 59, 60ff., aufgrund eines Nachschiebens von Gründen siehe Kopp/Schenke, VwGO, §113 Rdn.62ff., aufgrund einer Umdeutung des Verwaltungsaktes gemäß § 47 VwVfG siehe Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rdn. 79 (und insbesondere zu § 114 Satz 2 VwGO siehe Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 49ff.).

186

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

2. D i e Grundannahmen der Entscheidungsfehlerlehre Die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre entwickelt die rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und die rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) auf der Grundlage mehrerer Annahmen. a)

Trennungsprinzip

Die erste Annahme lautet, daß die einer konkreten Entscheidung zugrundeliegende Befugnisnorm in ihre Handlungsvoraussetzung(en) und ihre Handlungsbefugnis aufzuspalten ist und „beide Seiten je nach ihren eigenen Regeln zu beurteilen sind." 2 1 Dies hat zur Konsequenz, daß in den Fällen, in denen Rechtsnormen sowohl Einschätzungsprärogativen als auch Ermessensspielräume eröffnen, die Einschätzungen und die Ermessensausübungen jeweils für sich genommen zu überprüfen sind. Mit Blick auf jede einzelne Einschätzung bzw. Ermessensausübung ist zu prüfen, ob die Verwaltung eine rechtlich vertretbare Einschätzung bzw. Ermessensausübung vorgenommen hat/vornehmen wird. Nach dem Konzept der negativen Kontrolle ist die rechtliche Freiheit hinsichtlich der Wahl des Ergebnisses mit der Pflicht verbunden, es in einem rechtlich fehlerfreien Vorgang zu gewinnen. Daher ist mit Blick auf jede einzelne Einschätzung bzw. Ermessensausübung zu prüfen, ob die Verwaltung „ein rechtlich mögliches Ergebnis auf rechtlich zulässige Weise" gewonnen hat und/oder gewinnen wird, oder anders gewendet, die rechtlich

21 Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn.48; so auch Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn.33. Allerdings kann sich die Einschätzung in den Fällen, in denen eine Norm auf der Tatbestandsseite eine Einschätzungsprärogative und auf der Rechtsfolgenseite einen Ermessensspielraum aufweist („kombinierter Tatbestand"), auf die Ermessensausübung auswirken. Die Einschätzungsprärogative kann in Wahrheit dem Ermessensspielraum zuzurechnen sein, weil sie Inhalt und Grenzen des Ermessensspielraums bestimmt (und gleichsam von ihm aufgesogen wird). Es können auch bereits bei der Einschätzung alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein, die für die Ermessensausübung maßgeblich wären, so daß für die Ermessensausübung nichts mehr übrig bleibt (Ermessensschwund); siehe dazu Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 49f. Diese Fälle sind streng zu unterscheiden von den Fällen, in denen ein Ermessensspielraum auf einer Ermessensprärogative aufbaut und sich daher die Ermessensausübung an der Einschätzung zu orientieren hat. So liegt etwa die Einstellung und Auswahl von Beamtenbewerbern im Ermessen, das sich aber an der Einschätzung der Eignung, Befähigung und Leistung der Bewerber zu orientieren hat (unechte Kopplung); siehe dazu Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn.48 und zum Planungsermessen Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 34, 34b, 36a, 37, 37a. Vergleichbar ist die Lage, wenn voll nachprüfbare unbestimmte Gesetzesbegriffe auf Einschätzungen aufbauen (Faktorenlehre); siehe etwa zum dienstlichen Bedürfnis für die Versetzung Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 20 und Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 48, sowie zur materiellen Planrechtfertigung Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 36, und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 20.

A.

Ansatzpunkt

187

relevanten Ergebnis- und Vorgangsfehler vermieden hat und/oder vermeiden wird. 2 2

b)

Fehleridentität

Die zweite Annahme ist, daß es keine rechtlich relevanten Entscheidungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) gibt, die bei Ermessensausübungen, nicht aber bei Einschätzungen vorkommen können. „Was die Möglichkeit des Vorkommens der Fehler betrifft," bestehe „eine nahezu vollständige Fehleridentität." 23

c)

Anknüpfungspunkt

Die dritte Annahme lautet, daß die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) an die einzelnen Schritte der Rechtsanwendung im Falle eines Einschätzungsbegriffs bzw. einer Ermessensermächtigung anknüpfen. Der Vorgang der Normanwendung stellt sich wie folgt dar: In einem ersten Schritt muß der Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. der Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung durch Auslegung und Interpretation bestimmt werden. Der Typenbereich des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensbereich ist unabhängig vom konkreten Einzelfall festzustellen und insbesondere (negativ) abstrakt auslegend abzugrenzen. In einem zweiten Schritt müssen die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte vollständig und zutreffend festgestellt werden. In einem dritten Schritt erfolgt die Subsumtion bzw. die Setzung der Rechtsfolge. Die Subsumtion besteht in einer unter wertender Abwägung der festgestellten relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte gewonnenen Gesamtbewertung des gegebenen Lebenssachverhalts im Lichte des durch Auslegung und Interpretation ermittelten Sinngehalts des Einschätzungsbegriffs. Die Setzung der Rechtsfolge geschieht aufgrund einer wertenden Abwägung der angesichts der festgestellten relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte für und gegen die infragekommenden Verhaltensweisen sprechenden Gründe (und insbesondere aller betroffenen öffentlichen und privaten Belange) im Lichte des durch Auslegung und Interpretation ermittelten Sinn und Zwecks der Ermessensermächtigung. 24

AlexyJZ 1986, S. 701, 714. Alexy JZ 1986, S. 701,713f.; siehe dazu auch Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 3,5,23,31b, 34, 39ff. und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.63 („weitgehend identische Fehlertypologie") und Verwaltungsrecht I, 10. Auflage 1994, §31 Rdn.45 („Die Typologie der Ermessensfehler entspricht strukturell grundsätzlich der Systematik der Beurteilungsfehler"). 24 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.9f., 14f., 46ff. 22 23

188 d) Zwei

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Fehlerquellen

D i e daraus zu ziehende Konsequenz lautet, daß das Verwaltungsgericht zwar berechtigt ist, die G r e n z e n des Typenbereichs des Einschätzungsbegriffs bzw. des Ermessensbereichs in eigener Verantwortung (negativ) abstrakt auslegend abzustecken, aber die im Typenbereich des Einschätzungsbegriffs verbleibende E i n schätzung bzw. die im Ermessensbereich verbleibende

Ermessensausübung

durch die Verwaltung nur eingeschränkt überprüfen darf. Das Verwaltungsgericht hat die G r e n z e n des Typenbereichs des Einschätzungsbegriffs bzw. des Ermessensbereichs in eigener Verantwortung (negativ) abstrakt auslegend abzustecken, weil die Interpretation des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung wie jede Auslegung eine Rechtsfrage ist und deshalb darauf abzielt, den Inhalt des abstrakten objektiven Rechts zu konkretisieren. Das Verwaltungsgericht hat daher zu prüfen, ob die Verwaltung den gesetzlich gezogenen äußeren Rahmen des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung und damit die Grenzen des Einschätzungsbegriffs bzw. der E r messensermächtigung überschritten hat oder überschreiten wird (Überschreitung). 2 5 Es darf keine Einschätzung bzw. Ermessensausübung vorliegen, die durch den Einschätzungsbegriff bzw. die Ermessensermächtigung in keinem Fall gedeckt ist (abstrakter Verhaltensfehler). 2 6 Dagegen darf das Verwaltungsgericht die im Typenbereich des Einschätzungsbegriffs verbleibende Einschätzung bzw. die im Ermessensbereich verbleibende Ermessensausübung durch die Verwaltung nur insoweit überprüfen, als es nicht an diejenigen sachlogischen und damit rechtslogischen und letztlich funktionalen G r e n z e n stößt, die sich aus der besonderen Eigenart der Einschätzungsbegriffe bzw. der Ermessensermächtigungen ergeben. 2 7 D a h e r ist die gerichtliche K o n trolle der Subsumtion bzw. der Setzung der Rechtsfolge im konkreten Einzelfall darauf beschränkt, o b die Verwaltung die rechtlich gezogenen inneren Schranken des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung verletzt hat und/ oder verletzen wird und damit von dem Einschätzungsbegriff bzw. der E r m e s sensermächtigung „nicht im Sinne des Gesetzes, dh. der im einzelnen G e s e t z und in der Rechtsordnung insgesamt zum Ausdruck k o m m e n d e n Zwecksetzungen" 2 8 Gebrauch gemacht hat und/oder Gebrauch machen wird (Fallgruppen des

25 Wolff/Bacbof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 9,14f., 26, 40, 45, 46 und Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. la, 3,4, 7,30,39ff.; siehe auch Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rdn. 20,23. 26 Wolff/Bacbof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 46; zudiAlexy JZ 1986, S.701, 702 bezeichnet „die abstrakt/konkret-Dichotomie" als „wichtig und weiterführend." 27 Siehe dazu Wolff/Bacbof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 15f., 18, 24, 44 und Kopp/ Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 24 und - zum Ermessen - Rdn. 22 („freie Wahl zwischen allen sachlich geeigneten, praktikablen und zweckmäßigen Lösungen") sowie Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 5f., 17, 29, 54. 28 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 8.

A. Ansatzpunkt

189

Fehlgebrauchs). 2 9 E s darf keine Einschätzung bzw. Ermessensausübung vorliegen, die durch den Einschätzungsbegriff bzw. die Ermessensermächtigung zwar „unter anderen Umständen oder aus anderen Gründen, nicht aber unter den tatsächlich vorliegenden Umständen, auf G r u n d der tatsächlich angestellten E r w ä gungen oder der tatsächlichen M o t i v e " gedeckt wäre (konkrete Verhaltensfehler). 3 0 Diese Differenzierung zwischen Uberschreitung/abstraktem Verhaltensfehler und Fehlgebrauch/konkreten Verhaltensfehler wird auf die gesetzlich normierte „Zweck- und G r e n z e n f o r m e l " 3 1 gestützt. §114 VwGO: „Soweit die Verwaltung ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsaktes rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist." §40 VwVfG: „Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten ." §73 sh LVerwG: „Die Behörde entscheidet, soweit Rechtsvorschriften nicht bestimmen, daß oder in welcher Weise sie tätig zu werden hat, im Rahmen der ihr erteilten Ermächtigung nach sachlichen Gesichtspunkten unter Abwägung der öffentlichen Belange und der Interessen des einzelnen über die von ihr zu treffenden Maßnahmen (pflichtgemäßes Ermessen). Die Maßnahme darf nicht zu einer Beeinträchtigung des einzelnen oder der Allgemeinheit führen, die zu dem beabsichtigten Erfolg in einem offenbaren Mißverhältnis steht. Die Behörde hat unter mehreren zulässigen und geeigneten Maßnahmen tunlichst diejenigen anzuwenden, die die Allgemeinheit und den einzelnen am wenigsten beeinträchtigen." 3. D i e „ F e h l e r l i s t e " D i e Frage, welche und wieviele rechtlich relevante Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevante Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) es gibt und wie sie zu systematisieren und insbesondere der gesetzgeberischen Z w e c k - und Grenzenformel zuzuordnen sind, bereitet der Verwaltungswissenschaft erhebliche Schwierigkeiten. 3 2 „Worauf man stößt, ist ein terminologischer Wirrwarr und ein Uberangebot an oft schwer zu durchschauenden Definitionen und Klassifikationen" 3 3 und auf

„Systematisierungsversu-

29 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.Hf., 24, 27ff., 40, 44f., 47ff.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 114 Rdn. la, 3, 4f., 8ff., 30, 39ff.; siehe auch Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 21ff. 30 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 49. 31 So die Formulierung von Alexy JZ 1986, S. 701, 701; siehe dazu auch Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.45. 32 Siehe dazu nur die Analyse von Alexy ]X 1986, S.701, 701ff. 33 Alexy JZ 1986, S.701, 701.

190

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

c h e " , 3 4 in denen „für die Ermessensfehlerlehre fundamentale Unterscheidungen wie die zwischen Ergebnis- und Vorgangsfehlern ... keine systematisch bedeutsame R o l l e " spielen. 3 5 In der Sache ist man sich jedoch über die rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler trotz aller terminologischer, klassifikatorischer und systematischer Unterschiede weitgehend einig („Fehlerliste" 3 6 ).

a) Interpretations-

und

Feststellungsfehler

Einige rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler sind reine Interpretations- und Feststellungsfehler. Sie beruhen darauf, daß sich die Einschätzungsprärogative bzw. der Ermessensspielraum weder auf die Auslegung und I n terpretation des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung n o c h auf die vollständige und zutreffende Feststellung der relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte bezieht. D a h e r m u ß rechtlich voll nachprüfbar sein, o b die Verwaltung den Einschätzungsbegriff bzw. die Ermessensermächtigung nach Vorliegen und Reichweite sowie Sinngehalt bzw. nach Sinn und Z w e c k richtig erkannt hat und o b die Verwaltung den Sachverhalt rechtlich zutreffend und vollständig erkannt sowie ordnungsgemäß ermittelt und festgestellt hat. Diese Prüfung zielt darauf festzustellen, ob die Verwaltung „überhaupt eine Abwägung der nach dem Z w e c k der Ermächtigung zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Belange vorgenommen hat, sich bei ihrer Entscheidung, insbesondere bei der dabei vorzunehmenden Abwägung, an den dafür maßgeblichen rechtlichen R a h m e n gehalten hat, alle die für ihre Entscheidung maßgeblichen wesentlichen Gesichtspunkte, Belange, Interessen usw. rechtlich zutreffend und vollständig erkannt und ordnungsgemäß, rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt, ermittelt und festgestellt h a t " 3 7 . 3 8

aa) Vorliegen des Einschätzungsbegriffs

bzw. der

Ermessensermächtigung

Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn der Verwaltung gar nicht bewußt gewesen ist, daß ihr eine Einschätzungsprärogative bzw. ein Ermessensspielraum zusteht und sie eine Abwägung vorzunehmen hat, oder wenn sie aus anderen Gründen die ihr vorbehaltene und aufgegebene A b w ä gung nicht vorgenommen hat. Dies ist etwa der Fall, wenn sie „das Vorliegen des ermessensbegründenden Tatbestandes zu U n r e c h t verneint oder sich zu U n r e c h t für gebunden h ä l t " 3 9 (Ausfall - N i c h t v o r n a h m e einer vorzunehmenden A b w ä AlexyjT. 1986, S.701, 701. Alexy }2 1986, S.701, 705. 36 Alexy ]Z 1986, S.701, 705. 37 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 35. 38 Siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 9, 17, 26f., 40, 45, 46ff. 39 Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. 14 sprechen von Ermessensnichtgebrauch; siehe auch Rdn. 35 für den Planungsspielraum. 34 35

A.

191

Ansatzpunkt

gung). Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt ebenfalls vor, wenn die Verwaltung - vice versa - irrigerweise eine Einschätzungsprärogative bzw. einen Ermessensspielraum angenommen hat oder wenn sie aus anderen Gründen eine Abwägung vorgenommen hat, die ihr weder vorbehalten noch aufgegeben war. Dies ist etwa der Fall, wenn sie das Vorliegen des ermessensbegründenden Tatbestandes zu Unrecht bejaht oder sich zu Unrecht für nicht gebunden gehalten hat (Anmaßung - Vornahme einer nicht vorzunehmenden Abwägung). 40 bb) Reichweite des Einschätzungsbegriffs

bzw. der

Ermessensermächtigung

Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn sich die Verwaltung über die gesetzliche Reichweite der Einschätzungsprärogative bzw. des Ermessensspielraums geirrt hat. Dies ist der Fall, wenn sie die gesetzliche Reichweite der Einschätzungsprärogative bzw. des Ermessensspielraums unterschätzt hat - etwa aufgrund der Annahme einer in Wahrheit nicht bestehenden Beschränkung der Einschätzungsprärogative bzw. des Ermessensspielraums; typisch ist eine Anwendung nichtiger Rechtsvorschriften und rechtswidriger Verwaltungsvorschriften (Unterschreitung - Unterschätzen der Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung). Dies ist auch der Fall, wenn sie die gesetzliche Reichweite der Einschätzungsprärogative bzw. des Ermessensspielraums überdehnt hat - etwa aufgrund des Ubersehens einer in Wahrheit tatsächlich bestehenden Beschränkung der Einschätzungsprärogative bzw. des Ermessensspielraums; typisch ist eine Nichtbeachtung des Verhältnismäßig-

40 Alexy J Z 1986, S.701, 702 F n . 9 ; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 3 1 R d n . 2 7 , 47, 48, 62. Es ist nach hier vertretener Ansicht unrichtig, einen Ermessensfehler anzunehmen, wenn die Verwaltung zu Unrecht das Vorliegen des Tatbestands bejaht (Anmaßung) oder verneint (Ausfall) und deshalb eine Abwägung vorgenommen hat, die ihr weder vorbehalten noch aufgegeben war, oder die ihr vorbehaltene und aufgegebene Abwägung nicht vorgenommen hat. In diesen Fällen ist ein Tatbestandsfehler gegeben, und zwar mit der Konsequenz, daß sich die Frage nach einer rechtmäßigen Ermessensausübung nicht mehr stellt kann. Vor diesem Hintergrund wirkt es eher gekünstelt, neben dem Tatbestandsfehler auch noch einen Ermessensfehler anzunehmen: Daß die Ermessensausübung rechtswidrig ist, wenn der Tatbestand fehlerhaft subsumiert worden ist, ist eine eher schlichte Erkenntnis und hat auch im Hinblick auf die Frage der Rechtswidrigkeit der Entscheidung keine über den Tatbestandsfehler hinausgehenden Konsequenzen. Es kommt erschwerend hinzu, daß in der verwaltungsrechtlichen Literatur eine gewisse Unsicherheit über die systematische Erfassung des Falles, in dem die Verwaltung zu Unrecht das Vorliegen des Tatbestands verneint, besteht (er wird auch als Überschreitung eingeordnet) und der problematische Fall, in dem die Verwaltung das Vorliegen des Tatbestandes lediglich fehlerhaft bejaht (etwa eine fehlerhafte Gefahrenbeurteilung vornimmt) und deshalb eine fehlerhafte Abwägung vornimmt (zur Beseitigung der fehlerhaft beurteilten Gefahr), kaum Beachtung findet. Auch dieser Befund spricht dafür, auf diese Ermessensfehler von vornherein zu verzichten. Siehe zu diesem Problemkreis Alexy J Z 1986, S.701, 702 (insbesondere F n . 9 ) und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 3 1 R d n . 4 7 , 62, die einmal von „materiellen Vorermessensfehlern" - was die Sache sehr gut trifft - und einmal von „Abwägungsüberschreitung" sprechen.

192

J. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

keitsgrundsatzes 4 1 (Überschreitung - Überdehnung der Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung). 4 2 cc) Sinngehalt

des Einschätzungsbegriffs

bzw. Sinn und Zweck

der

Ermessensermächtigung Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung den Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. den Sinn und Z w e c k der Ermessensermächtigung verkannt hat. Darunter ist nicht nur „der engere Z w e c k der isoliert betrachteten Vorschriften zu verstehen ..., in der die E r m ä c h t i gung ... enthalten ist." Es sind vielmehr „im R a h m e n des primären Z w e c k s der E r m ä c h t i g u n g . . . alle der Gesamtheit der Sätze des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts ... für die in Frage stehende Entscheidung zu entnehmenden Z w e k k e " zu berücksichtigen, „vor allem auch die sich aus den Wertentscheidungen des Verfassungsrechts, insbesondere auch aus den Grundrechten für die gesamte Rechtsordnung ergebenden Z w e c k e " 4 3 (Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung - Verkennung des Sinngehalts des E i n schätzungsbegriffs bzw. des Sinn und Zwecks der Ermessensermächtigung). 4 4 dd)

Sachverhalt

Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte und damit den relevanten Sachverhalt nicht zutreffend oder nicht vollständig ermittelt hat. Dies ist der Fall, wenn die Verwaltung „von unzutreffenden, in Wahrheit nicht gegebenen, unvollständigen oder falsch gedeuteten tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen" (Tatsachen und Rechtsprinzipien) ausgeht. 4 5 Eine gängige Formulierung lautet, daß die Verwaltung nicht „alle die für ihre Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte, Belange, Interessen usw. rechtlich zutreffend und vollständig erkannt und ordnungsgemäß, rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt, ermittelt und festgestellt" hat 4 6 (Unvollständigkeit der E r 41 Alexy JZ 1986, S.701, 702, merkt zutreffend an, daß die „Grundrechte und Grundsätze wie der der Verhältnismäßigkeit... als ,objektive Schranken des Ermessens' im Rahmen der Ermessensüberschreitung und als zu beachtende Gesichtspunkte im Rahmen des Ermessensfehlgebrauchs eine zweifach ergänzende Rolle spielen" sollen und daß der „dadurch bewirkte Problemschub ... durch bloße Ergänzungen der herkömmlichen Fehlerdogmatik kaum adäquat aufgefangen werden" kann; siehe dazu auch Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn.23. 42 Alexy JZ 1986, S. 701,708,709; Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 7,14,30,39ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.26f., 46, 48, 62. 43 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 8f.; siehe dazu auch Alexy JZ 1986, S. 701, 709f. 44 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 30 benennen diesen rechtlich relevanten Einschätzungsfehler nicht; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 26 nehmen für die Verkennung des anzuwendenden Begriffs eine Überschreitung an. 45 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 12. 46 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 35.

A.

Ansatzpunkt

193

k e n n t n i s g r u n d l a g e - u n z u t r e f f e n d e o d e r u n v o l l s t ä n d i g e E r m i t t l u n g der r e l e v a n ten Gesichtspunkte).47

b)

Abwägungsfehler

D i e ü b r i g e n r e c h t l i c h r e l e v a n t e n E i n s c h ä t z u n g s - b z w . E r m e s s e n s f e h l e r sind A b w ä g u n g s f e h l e r . Sie k n ü p f e n daran an, d a ß sich die E i n s c h ä t z u n g s p r ä r o g a t i v e b z w . der E r m e s s e n s s p i e l r a u m auf die S u b s u m t i o n b z w . auf die S e t z u n g der R e c h t s f o l g e i m k o n k r e t e n E i n z e l f a l l b e z i e h t . D i e e n t s c h e i d e n d e F r a g e lautet, w e l c h e r e c h t l i c h e n M a ß s t ä b e f ü r eine E i n s c h ä t z u n g b z w . E r m e s s e n s a u s ü b u n g gelten, w i e i h r e B e r ü c k s i c h t i g u n g im R a h m e n d e r A b w ä g u n g ü b e r p r ü f t w e r d e n k a n n ( u n d soll) u n d w e l c h e r e c h t l i c h r e l e v a n t e n E i n s c h ä t z u n g s - b z w . E r m e s s e n s f e h l e r sich auf dieser G r u n d l a g e ableiten lassen. D e n A n s a t z p u n k t f ü r die A n t w o r t auf diese F r a g e liefert die E r k e n n t n i s , d a ß die V e r w a l t u n g d e n n a c h V o r l i e g e n u n d R e i c h w e i t e s o w i e S i n n g e h a l t r i c h t i g v e r s t a n d e n e n E i n s c h ä t z u n g s b e g r i f f b z w . die n a c h V o r l i e g e n u n d R e i c h w e i t e s o w i e S i n n u n d Z w e c k richtig v e r s t a n d e n e E r m e s s e n s e r m ä c h t i g u n g auf den r e c h t l i c h zutreffenden und vollständig erkannten sowie ordnungsgemäß ermittelten und festgestellten S a c h v e r h a l t a n w e n d e n u n d d a b e i a l l g e m e i n g ü l t i g e W e r t u n g s g r u n d sätze des h ö h e r r a n g i g e n R e c h t s , etwaige b e s o n d e r e W e r t u n g s g r u n d s ä t z e des einf a c h e n R e c h t s u n d i n s b e s o n d e r e das V e r b o t u n s a c h g e m ä ß e r o d e r u n s a c h l i c h e r Erwägungen

s o w i e das V e r b o t u n s a c h l i c h e r B e w e g g r ü n d e 4 8

berücksichtigen

47 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 12, 15, 30, 35 benennen diesen rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler nicht; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 26, 47, 62 nehmen für Tatsachen einen Vorbeurteilungs-/Vorermessens-/Vorplanungsfehler an. 48 Der Terminus „Verbot sonst unsachgemäßer Erwägungen" ist wenig weiterführend, wenn nicht sogar irreführend. Das Verbot, in der Abwägung sachbezogene (durch den Gesetzeszweck gedeckte) Gesichtspunkte außer acht zulassen oder sachfremde (nicht durch den Gesetzeszweck gedeckte) bzw. unsachliche (auf rechtlich nicht zu billigenden Beweggründen beruhende) Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ist Bestandteil des Gebotes gerechter Abwägung. Dasselbe gilt für das Verbot, unsachgemäße (durch den Gesetzeszweck nicht gerechtfertigte) Erwägungen oder unsachliche (auf rechtlich nicht zu billigenden Beweggründen beruhende) Erwägungen anzustellen. Vgl. dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 12,13,30 und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 31 Rdn. 28. Dagegen beruht das - umstrittene - Verbot, bei unsachlichen Beweggründen überhaupt eine Abwägung vorzunehmen, auf der Annahme, bei unsachlichen Beweggründen sei das Vorliegen einer sachgemäßen Abwägung ausgeschlossen; vgl. dazu Kopp/ Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 15. Es geht mithin einmal um die „äußere Seite des Abwägungsvorgangs" im Sinne der objektiv in die Abwägung einzustellenden Belange und einmal um die „innere Seite des Abwägungs Vorgangs" im Sinne der der Abwägung zugrundliegenden Beweggründe; siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 15 Fn. 31 und BVerwG BVerwGE 64, S. 33,38. Vgl. dazu 3.uc\i Alexy J Z 1986, S. 701, 703, 704, 708, 712, der auf S. 704 von „einer vieldeutigen, aber in der Ermessensfehlerlehre gängigen dritten Dichotomie, der objektiv/subjektiv Dichotomie", spricht und auf S. 712 davon ausgeht, wenn „Gesichtspunkten, die die Entscheidung nicht beeinflussen dürfen, ... Einfluß auf das Ergebnis eingeräumt" werde, liege entweder ein inhaltlicher Verstoß gegen eine Rechtsregel oder eine Fehlgewichtung, also eine Abwägungsdisproportionalität vor."

194

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

muß. 4 9 Zu den Wertungsgrandsätzen zählen das Gleichbehandlungsgebot bzw. Willkürverbot, 50 der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz der Systemgerechtigkeit, der Grundsatz der Zumutbarkeit, die Grundsätze von Treu und Glauben und des Vertrauensschutzes sowie sonstige allgemeine Rechtsgrundsätze (Verbot des venire contra factum proprium, Gebot der Folgenbeseitigung, Kopplungsverbot) und von den Gerichten für bestimmte Bereiche entwikkelte Rechtsgrundsätze (Prüfungen: Chancengleichheit, Fairneß, Sachlichkeit, 51 allgemeine Prüfungs- und Bewertungsgrundsätze; Zulassungsverfahren: Auswahl nach Priorität oder „bekannt - bewährt"; Planungsrecht: Gebot gerechter Abwägung aller von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange, Grundsatz der Konflikt- und Problembewältigung). 52 Vor diesem Hintergrund knüpfen die zugehörigen rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler daran an, daß die Aussage der Wertungsgrundsätze durch Auslegung und Interpretation bestimmt und im Rahmen der Abwägung berücksichtigt sowie das Verbot unsachlicher Beweggründe beachtet werden muß. aa) Vorliegen und Aussage der

Wertungsgrundsätze

Da sich die Einschätzungsprärogative bzw. der Ermessensspielraum nicht auf die Auslegung und Interpretation des Wertungsgrundsatzes bezieht, muß zunächst rechtlich voll nachprüfbar sein, ob die Verwaltung den Wertungsgrundsatz nach Vorliegen und Aussage richtig erkannt hat. Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung einen im Einzelfall relevanten Wertungsgrundsatz in der Abwägung gar nicht berücksichtigt hat (Verkennung der Wertungsgrundsätze - Nichtberücksichtigung eines Wertungs49 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 10,15, 2 4 , 2 7 i L , 40, 44ff.; Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. la, 4, 7ff., 15, 30f., 39ff. 5 0 „Willkür im objektiven Sinn"; vgl. dazu Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 15, 41. 51 Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 15,44 lassen offen, ob die Befangenheit ein mißbilligtes subjektives Motiv oder die Verletzung dieses Wertungsgrundsatzes ist; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.28f. nehmen letzteres an. 52 Siehe dazu Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 8f., 39ff. und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 28f., 50ff. Zu den Maßstäben, an denen sich die Entscheidungsfindung auszurichten hat, zählen außerdem die beurteilungs- bzw. ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften und die ständigen Verwaltungsgebräuche. Sie binden dadurch, daß die Verwaltung und die Gerichte den Art. 3 G G beachten müssen, der alle Differenzierungen ohne sachlichen Grund verbietet. Diese Grundsätze gelten nicht für Verwaltungsvorschriften, die für die Auslegung voll nachprüfbarer unbestimmter Gesetzesbegriffe gelten und zumeist für technische Bereiche von Sachverständigen erarbeitet worden sind. Das Verwaltungsgericht kann ihnen aber wegen ihrer sachverständigen Aussagekraft eine besondere Indizwirkung bei der eigenen Entscheidungsfindung zuerkennen. Siehe dazu Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn. 10a, 41 f. (Fn. 159: „technische Richtlinien als ,antizipierte' Verwaltungspraxis ... ,indizielle' Bedeutung technischer Richtlinien für eine sachverständige Beurteilung") und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 41, 50.

A. Ansatzpunkt

195

grundsatzes). 5 3 Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung die rechtliche Aussage eines Wertungsgrundsatzes verkannt und deshalb in der Abwägung nicht zutreffend berücksichtigt hat (Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze - Verkennung der rechtlichen Aussage eines Wertungsgrundsatzes). bb)

Verbot

unsachlicher

Beweggründe

Unsachliche Beweggründe schließen „grundsätzlich die A n n a h m e " aus, „daß der betroffene Verwaltungsakt auf der gebotenen sachgemäßen Abwägung des F ü r und Wider aller für die Entscheidung einschlägigen Gesichtspunkte beruht." 5 4 Es handelt sich mithin um eine der Abwägung vorgelagerte Frage, die von der Einschätzungsprärogative bzw. dem Ermessensspielraum nicht erfaßt wird. D a h e r muß es rechtlich voll nachprüfbar sein, o b die Verwaltung gegen das Verbot unsachlicher Beweggründe verstoßen hat. Ein rechtlich relevanter Einschätzungsbzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung trotz unsachlicher Beweggründe (rechtlich nicht zu billigender subjektiver Motive, innerer Vorstellungen oder Haltungen wie etwa böser Absicht, „Willkür im subjektiven S i n n " 5 5 , Eigensüchtigkeit, Freundnützigkeit, Schikane, Laune, Sympathie, Antipathie, Befangenheit, Parteilichkeit) eine Abwägung vorgenommen hat. 5 6 cc) Berücksichtigung

der

Wertungsgrundsätze

D i e Berücksichtigung der Wertungsgrundsätze im R a h m e n der Abwägung ist zwar nur begrenzt überprüfbar, aber es kann immerhin festgestellt werden, (i) o b die im Lichte der Wertungsgrundsätze relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) berücksichtigt, in die Abwägung eingestellt und gewürdigt worden sind (Verbot, sachbezogene Gesichtspunkte außer acht zu lassen oder sachfremde/unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen), 5 7 (ii) ob 53 Führt ein Sachverhaltsirrtum zu einer Nichtberücksichtigung des Gebots gerechter Abwägung aller von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange, so liegt (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage vor (Bsp.: Verwaltung hat die durch das Planungsvorhaben Betroffenen völlig übersehen). 54 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 15. 55 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 15. 56 Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. 15, 44 benennen diesen rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler nicht und lassen offen, ob die Befangenheit ein mißbilligtes subjektives Motiv oder die Verletzung eines Wertungsgrundsatzes (Gebot der Sachlichkeit) ist; Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31Rdn. 53, 28f. sprechen von Ermessensunschlüssigkeit/ Ermessenswillkür und nehmen im Falle der Befangenheit die Verletzung eines Wertungsgrundsatzes (Gebot der Sachlichkeit) an; Alexy]Z 1986, S.701, 703, 704, 708. 57 Alexy J Z 1986, S.701, 712 spricht von Defizit und Uberhang („Nichtberücksichtigung des zu Berücksichtigenden" und „Berücksichtigung des Nichtzuberücksichtigenden"); Kopp/ Schenke, VwGO, §114 Rdn. 12, 30, 35 benennen diesen rechtlich relevanten Einschätzungs-

196

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

den relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten (allen und nur diesen) das Gewicht und die Bedeutung zugemessen worden ist, die ihnen nach den Wertungsgrundsätzen (dem Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) zukommen, (iii) ob die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) miteinander und gegeneinander auch im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) abgewogen und der Ausgleich zwischen ihnen nicht in einer Weise vorgenommen worden ist, der zu ihrer objektiven Gewichtigkeit außer Verhältnis steht, 58 und (iv) ob es erkannt worden ist, daß die Aussage eines Wertungsgrundsatzes in dem fraglichen Einzelfall eindeutig vorrangig gewesen ist und zu einem ganz bestimmten Ergebnis gezwungen hat. 59 Das BVerwG hat dazu ausgeführt: „Das Gebot gerechter Abwägung ist verletzt, wenn eine sachgerechte Abwägung überhaupt nicht stattfindet. Es ist verletzt, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß. Es ist ferner verletzt, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gleichgewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot jedoch nicht verletzt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet." 60 An anderer Stelle stellt es darauf ab, „daß - erstens - eine Abwägung überhaupt stattfindet, bzw. Ermessensfehler nicht; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.27, 53, 62 nehmen für nicht berücksichtigte Gesichtspunkte ein Beurteilungsdefizit/eine Ermessensunschlüssigkeit, beim Planungsermessen für nicht berücksichtigte Gesichtspunkte ein Abwägungsdefizit und für das Einbringen planfremder Ziele und Belange einen Abwägungsüberschuß an. 58 Siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 13,30,35f., 46, die vom Gebot gerechter Abwägung sprechen, aber die einzelnen rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler nicht benennen; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.28f., 49f., 62 sprechen von Beurteilungsmißbrauch und von Ermessensmißbrauch sowie von Abwägungsfehleinschätzung und Abwägungsdisproportionalität; Alexy JZ 1986, S. 701, 712 spricht von Gewichtungsfehlern und insbesondere von Abwägungsdisproportionalität. 59 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 6, 31b, 35 sprechen von Reduktion auf Null; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 29, 56 sprechen von Beurteilungsreduzierung auf Null und von Ermessensreduzierung auf Null. Eine Ermessensreduzierung wird etwa angenommen, wenn der Tatbestand in besonders intensiver Weise erfüllt ist (besonderes Ausmaß der Gefahr für besonders wichtige Rechtsgüter) - siehe dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 6 und Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.56 sowie Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 24 - oder wenn eine Norm eine Einschätzungsprärogative und einen Ermessensspielraum aufweist und bereits bei der Einschätzung alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, die auch für die Ermessensausübung maßgeblich wären, weil dann keine Gesichtspunkte mehr denkbar sind, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden (Ermessensschwund) - siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.38 und Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 49. 60

BVerwG BVerwGE 45, S.309, 314f.

A.

Ansatzpunkt

197

daß - zweitens - in die Abwägung an Belangen eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß, und daß - drittens - weder die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange verkannt noch der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht ... Die ... Gewichtung der von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange i s t . . . ein wesentliches Element der planerischen Gestaltungsfreiheit und als solches der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogen." 6 1 Daher ist nach gängiger Formulierung rechtlich voll nachprüfbar, ob die Verwaltung „alle betroffenen Belange berücksichtigt, in die Abwägung eingestellt und gewürdigt hat, das Gewicht und die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange nicht verkannt hat, sondern sachgerecht angesetzt hat, alle betroffenen öffentlichen und privaten Belange miteinander und gegeneinander unter Beachtung auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abgewogen und den Ausgleich nicht in einer Weise vorgenommen hat, die zur objektiven Gewichtigkeit der Belange außer Verhältnis steht", und es erkannt hat, wenn „das Planungsermessen ... angesichts der besonderen Umstände des Falles ausnahmsweise auf Null reduziert ist." 6 2 (1) Berücksichtigung

der relevanten

Gesichtspunkte

Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Erssensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung nicht alle oder nicht nur die im Lichte der Wertungsgrundsätze relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte berücksichtigt, in die A b wägung eingestellt und gewürdigt hat (sachbezogene Gesichtspunkte außer acht gelassen oder sachfremde/unsachliche Gesichtspunkte berücksichtigt hat). Dies ist der Fall, wenn sie „Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art, die nach Sinn und Zweck des zu vollziehenden Gesetzes oder aufgrund anderer Rechtsvorschriften oder allgemeiner Rechtsgrundsätze dabei keine Rolle spielen können oder dürfen," berücksichtigt oder „umgekehrt Gesichtspunkte ..., die zu berücksichtigen wären", außer acht gelassen hat 63 (Abwägungsdefizit - Nichtberücksichtigung relevanter Gesichtspunkte bzw. Abwägungsüberhang - Berücksichtigung nicht relevanter Gesichtspunkte). 6 4 BVerwG BVerwGE 48, S. 56, 63f. Kopp, V w G O , 10. Auflage 1994, §114 Rdn.35. 63 Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 12. 64 Führt ein unsachlicher Beweggrund zu einem Abwägungsüberhang, so liegt (auch oder ausschließlich) dieser rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler vor. An dieser Stelle zeigt sich der Zusammenhang zwischen dem Verbot unsachlicher Beweggründe und dem Verbot, unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die unsachlichen Beweggründe können zur Berücksichtigung unsachlicher Gesichtspunkte führen. Führt ein Sachverhalts- oder Rechtsirrtum zu einem Abwägungsdefizit, so liegt (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der UnVollständigkeit der Erkenntnisgrundlage (Bsp.: Gebot gerechter Abwägung: Verwaltung hat die durch das Planungsvorhaben Betroffenen nicht 61 62

198 (2)

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume Gewicht

und

Bedeutung

der relevanten

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Gesichtspunkte

E i n r e c h t l i c h r e l e v a n t e r E i n s c h ä t z u n g s - b z w . E r m e s s e n s f e h l e r liegt v o r , w e n n d i e V e r w a l t u n g es v e r s ä u m t h a t , d e n r e l e v a n t e n t a t s ä c h l i c h e n u n d r e c h t l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e n (allen u n d n u r d i e s e n ) das G e w i c h t u n d die B e d e u t u n g z u z u m e s s e n , die i h n e n n a c h d e n W e r t u n g s g r u n d s ä t z e n ( d e m V e r b o t u n s a c h g e m ä ß e r u n d unsachlicher Erwägungen) z u k o m m e n (Abwägungsdisproportionalität -

Ver-

kennung von G e w i c h t und Bedeutung der relevanten Gesichtspunkte).65 (3)

Bewertung,

Gewichtung

und Ausgleich

der relevanten

Gesichtspunkte

E i n r e c h t l i c h r e l e v a n t e r E i n s c h ä t z u n g s - b z w . E r m e s s e n s f e h l e r liegt v o r , w e n n die V e r w a l t u n g es v e r s ä u m t h a t , die r e l e v a n t e n t a t s ä c h l i c h e n u n d r e c h t l i c h e n

Ge-

s i c h t s p u n k t e n (alle u n d n u r d i e s e ) m i t e i n a n d e r u n d g e g e n e i n a n d e r a u c h i m L i c h t e der W e r t u n g s g r u n d s ä t z e (des V e r b o t s u n s a c h g e m ä ß e r u n d u n s a c h l i c h e r E r w ä g u n g e n ) a b z u w i e g e n u n d d e n A u s g l e i c h z w i s c h e n i h n e n in e i n e r W e i s e v o r z u n e h m e n , der zu ihrer o b j e k t i v e n G e w i c h t i g k e i t nicht außer Verhältnis steht ( A b w ä gungsfehlgewichtung - unverhältnismäßiger Ausgleich der relevanten Gesichtspunkte).66 oder nicht vollständig festgestellt, ihre Entfernung zum Planungsvorhaben und/oder die Windrichtung falsch beurteilt und deshalb bestimmte Belange gar nicht berücksichtigt) oder (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze vor (Bsp: Verwaltung hat das Gebot gerechter Abwägung übersehen oder fehlinterpretiert und deshalb bestimmte Belange nicht berücksichtigt). 6 5 Im Rahmen dieser Fehlerkategorie geht es vorrangig um die normierten und allgemein anerkannten Wertungsgrundsätze; siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 62. Führt ein Abwägungsdefizit oder ein Abwägungsüberhang (auch aufgrund eines unsachlichen Beweggrundes) zu einer Abwägungsdisproportionalität, so liegt (auch oder ausschließlich) dieser (und liegen gegebenenfalls ihnen zugrundeliegende) rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler vor. An dieser Stelle zeigt sich der Zusammenhang zwischen dem Verbot, sachbezogene Gesichtspunkte außer acht zu lassen oder sachfremde bzw. unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, und dem Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen sowie in letzter Konsequenz dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Die Berücksichtigung sachfremder Gesichtspunkte wie die Nichtberücksichtigung sachbezogener Gesichtspunkte kann zu unsachgemäßen Erwägungen und die Berücksichtigung unsachlicher Gesichtspunkte kann zu unsachlichen Erwägungen und in letzter Konsequenz auch zu einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führen, etwa bei einer Versammlungsauflösung mit dem Ziel, eine bestimmte Meinungsäußerung zu behindern (vgl. Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn. 13 Fn. 28) oder den Veranstalter aus persönlichen Gründen zu schikanieren. Führt ein Rechtsirrtum zu einer Abwägungsdisproportionalität, so liegt (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze vor (Bsp.: Verwaltung hat das Gebot gerechter Abwägung übersehen oder etwa im Hinblick auf die Gleichwertigkeit der öffentlichen und privaten Belange fehlinterpretiert und deshalb bestimmten Belangen nicht das Gewicht und die Bedeutung zugemessen, die ihnen zukommen, etwa die Interessen von betroffenen Anwohnern vernachlässigt, weil es wenige an der Zahl waren). 66

Im Rahmen dieser Fehlerkategorie geht es vorrangig um die verfassungsrechtlichen Wer-

A.

(4) Vorrang der Aussage eines

Ansatzpunkt

199

Wertungsgrundsatzes

Ein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler liegt vor, wenn die Verwaltung es nicht erkannt hat, daß die Aussage eines Wertungsgrundsatzes in dem fraglichen Einzelfall eindeutig vorrangig gewesen ist und deshalb zu einem ganz bestimmten, von der Verwaltung nicht gewählten Ergebnis gezwungen hat (Übersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses). 67 4. Ein „Systematisierungsversuch" Eine systematische Betrachtung der rechtlich relevanten Einschätzungs-/Ermessenfehler muß an die „für die Ermessensfehlerlehre fundamentale Unterscheidung ... zwischen Ergebnis- und Vorgangsfehlern" 68 anknüpfen.

tungsgrundsätze wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 62. Führt ein Abwägungsdefizit oder ein Abwägungsüberhang (auch aufgrund eines unsachlichen Beweggrundes) zu einer Abwägungsfehlgewichtung, so liegt (auch oder ausschließlich) dieser (und liegen gegebenenfalls ihnen zugrundeliegende) rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler vor. An dieser Stelle zeigt sich wiederum der Zusammenhang zwischen dem Verbot, sachbezogene Gesichtspunkte außer acht zu lassen oder sachfremde bzw. unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, und dem Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen sowie in letzter Konsequenz dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Führt ein Rechtsirrtum zu einer Abwägungsfehlgewichtung, so liegt (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze und (oder) der Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung und (oder) der Überschreitung vor (Bsp.: Verwaltung hat das Gebot gerechter Abwägung übersehen oder im Hinblick auf die Relevanz von Grundrechten fehlinterpretiert und eine Planungsvariante gewählt, die zu einem unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff führt). 67 Im Rahmen dieser Fehlerkategorie geht es vorrangig um die verfassungsrechtlichen Wertungsgrundsätze wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 62. Führt ein Abwägungsdefizit oder ein Abwägungsüberhang (auch aufgrund eines unsachlichen Beweggrundes) zum Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses, so liegt (auch oder ausschließlich) dieser (und liegen gegebenenfalls ihnen zugrundeliegende) rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler vor. An dieser Stelle zeigt sich wiederum der Zusammenhang zwischen dem Verbot, sachbezogene Gesichtspunkte außer acht zu lassen oder sachfremde bzw. unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, und dem Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen sowie in letzter Konsequenz dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Führt ein Rechtsirrtum zum Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses so liegt (auch oder ausschließlich) der rechtlich relevante Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler der Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze und (oder) der Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung und (oder) der Uberschreitung vor (Verwaltung hat das Gebot gerechter Abwägung übersehen oder im Hinblick auf die Relevanz von Grundrechten fehlinterpretiert und deshalb nicht die einzige Planungsvariante gewählt, die nicht zu einem unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff führt). 68

Alexy JZ 1986, S. 701, 705.

200

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

a) Inhaltliche und strukturelle

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Fehler

Die Differenzierung zwischen Ergebnis- und Vorgangsfehlern hat ihren deutlichsten Ausdruck im Planungsrecht gefunden. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen dem „Planen als Vorgang" und dem „Plan als Produkt", dem „Abwägen von Belangen" und dem „inhaltlichen Abgewogensein eines Plans", dem „Abwägungsvorgang" und dem „Abwägungsergebnis". 69 Sie trennt damit zwischen den sich im Plan niederschlagenden und damit äußerlich beweisbaren Festsetzungen und der anhand der Planungsakten und Sitzungsmitschriften zu ermittelnden Durchführung des Planungsverfahrens (siehe auch §214 Abs.3 Satz 2 BauGB). Ein Ergebnisfehler liegt vor, wenn das Ergebnis der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel der Tenor der Entscheidung) seinem Inhalt nach gegen geltendes Recht verstößt. Ein Vorgangsfehler ist ein Fehler des zum Ergebnis der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel des zum Tenor der Entscheidung) führenden Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozesses. Ein Vorgangsfehler ist nicht unmittelbar auf den Inhalt des Ergebnisses der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel auf den Tenor der Entscheidung) bezogen, sondern auf die Gewinnung des Ergebnisses der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel des Tenors der Entscheidung). Die Differenzierung zwischen den Ergebnis- und Vorgangsfehlern knüpft daran an, daß das Ergebnis fehlerfrei, der Vorgang aber fehlerhaft sein kann. Ein Ergebnis ist erst dann fehlerhaft, wenn alle denkbaren Begründungen fehlerhaft sind, es also nicht begründbar ist. Dagegen ist eine Begründung schon dann fehlerhaft, wenn diese eine Begründung unter einem Fehler leidet, das Ergebnis also durch sie nicht fehlerfrei begründet wird. Die Fehlerhaftigkeit der Begründung impliziert nicht die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses, weil es für das Ergebnis trotz vorliegender fehlerhafter Begründung eine oder mehrere fehlerfreie Begründungen geben kann. Dagegen impliziert die Fehlerfreiheit der Begründung die Fehlerfreiheit des Ergebnisses, weil nicht alle denkbaren Begründungen fehlerhaft sind, wenn es eine fehlerfreie Begründung gibt, und weil es ein fehlerhaftes Ergebnis mit einer auf dieses Ergebnis bezogenen fehlerfreien Begründung nicht geben kann. Die Konsequenz lautet, daß eine positiv verlaufene Ergebniskontrolle die Vorgangskontrolle nicht überflüssig macht, wohl aber eine positiv verlaufene Vorgangskontrolle die Ergebniskontrolle. 70 Innerhalb der Klasse der Vorgangsfehler lassen sich zwar die Begründungsfehler und die Motivationsfehler unterscheiden. Ein Begründungsfehler bezieht sich auf die nach außen getretene Begründung - der Entscheidungsgrund ist sprachlich formuliert und in diesem Sinne aktuell oder potentiell zur Kenntnis gegeben; es handelt sich um einen Fehler des als Argument Geäußerten. Ein Motivations69 70

BVerwG BVerwGE 45, S.309, 312f. Alexy JZ 1986, S.701, 707ff., 713.

A. Ansatzpunkt

201

fehler bezieht sich auf den inneren Vorgang der Motivation - der Entscheidungsgrund ist Bestandteil des Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozesses; es handelt sich um einen Fehler des Gedachten und Gewollten. D i e Motivationsfehler als solche sind aber nur von theoretischem Interesse. Zwischen den Begründungs- und Motivationsfehlern besteht, was die Art der möglichen Fehler angeht, nämlich eine vollständige Fehleridentität. Motivationsfehler können als Begründungsfehler auftreten, Begründungsfehler können Motivationsfehler zum A u s druck bringen. D a h e r können die Motivationsfehler vollständig auf der E b e n e der Begründungsfehler behandelt werden. Das liegt auch deshalb nahe, weil die in der Begründung objektivierten Gründe leichter zugänglich sind und vorbehaltlich gegenteiliger Anhaltspunkte davon ausgegangen werden kann, daß die M o t i vation der Begründung entspricht. D i e Motivationsfehler sind mithin nicht als solche, sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Nichtübereinstimmung von Motivation und Begründung von systematischem Interesse. 7 1 D i e Differenzierung zwischen (inhaltlichen) Ergebnisfehlern,

inhaltlichen

Vorgangsfehlern und strukturellen Vorgangsfehlern knüpft daran, daß einige Vorgangsfehler notwendig zu einem (inhaltlich) fehlerhaften Ergebnis führen, andere dagegen nicht. Ein (inhaltlicher) Ergebnisfehler liegt vor, wenn das Ergebnis seinem Inhalt nach gegen geltendes R e c h t verstößt; ein Ergebnisfehler ist immer ein inhaltlicher Fehler. Ein inhaltlicher Vorgangsfehler ist gegeben, wenn die B e gründung ihrem Inhalt nach so beschaffen ist, daß sie nur ein seinem Inhalt nach gegen geltendes R e c h t verstoßendes Ergebnis tragen kann, oder anders gewendet, wenn ein Vorgangsfehler den Charakter eines Ergebnisfehlers annehmen kann. Strukturelle Vorgangsfehler betreffen nicht den Inhalt des Ergebnisses oder der Begründung, sondern haften der F o r m des zum Ergebnis führenden Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozesses an. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie bereits per definitionem mit einem Ergebnis einhergehen, das ein mögliches E r gebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist (strukturelle Fehler zweiter Stufe), oder zumindest aufgrund ihrer Eigenart mit einem Ergebnis einhergehen können, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist. Sie k ö n n e n zwar zusammen mit einem inhaltlich fehlerhaften Ergebnis und/oder einer inhaltlich fehlerhaften Begründung auftreten und dies auch verursacht oder mitverursacht haben (unechte strukturelle Fehler erster Stufe), aber zwischen ihnen und den inhaltlichen Fehlern besteht keine notwendige Verbindung. Sie schließen es nicht aus, daß man sich für eines von mehreren möglichen Ergebnissen mit einer inhaltlich feh-

71 AlexyJZ1986, S. 701,707ff., 713,714 nimmt vier Fälle der Nichtübereinstimmung von Motivation und Begründung an: Die Begründung kann fehlerhaft, die Motivation aber fehlerfrei sein, die Begründung und die Motivation können trotz Nichtübereinstimmung fehlerhaft sein, die Begründung kann fehlerfrei, die Motivation aber fehlerhaft sein, die Begründung und die Motivation können trotz Nichtübereinstimmung fehlerfrei sein; siehe zum Vorwand auch Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 53, die von Ermessensunschlüssigkeit sprechen.

202

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

lerfreien Begründung und damit inhaltlich fehlerfrei entscheidet (echte strukturelle Fehler erster Stufe).72 aa) Ergebnisfehler

und inhaltliche

Vorgangsfehler

Der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler ist die Überschreitung. Die Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung (Verkennung des Sinngehalts des Einschätzungsbegriffs bzw. des Sinn und Zwecks der Ermessensermächtigung - reine Interpretationsfehler), die Verkennung der Wertungsgrundsätze (Nichtberücksichtigung eines Wertungsgrundsatzes - Abwägungsfehler), die Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze (Verkennung der rechtlichen Aussage eines Wertungsgrundsatzes - Abwägungsfehler), die Abwägungsdisproportionalität (Verkennung von Gewicht und Bedeutung der relevanten Gesichtspunkte - Abwägungsfehler), die Abwägungsfehlgewichtung (unverhältnismäßiger Ausgleich der relevanten Gesichtspunkte - Abwägungsfehler) und das Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses (Abwägungsfehler) sind dagegen (inhaltliche) Ergebnisfehler/inhaltliche Vorgangsfehler. Sind die Wertungsgrundsätze im Ergebnis nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden oder die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) im Ergebnis im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) in ihrem Gewicht oder ihrer Bedeutung verkannt oder gemessen an ihrer objektiven Gewichtigkeit in unverhältnismäßiger Weise ausgeglichen worden (inhaltlicher Ergebnisfehler), ist das Ergebnis dieser Abwägung (inhaltlich) fehlerhaft. Sind die Wertungsgrundsätze in der Abwägung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden oder die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) in der Abwägung im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) in ihrem Gewicht oder ihrer Bedeutung verkannt oder gemessen an ihrer objektiven Gewichtigkeit in unverhältnismäßiger Weise ausgeglichen worden (inhaltlicher Vorgangsfehler), ist - vorbehaltlich eines strukturellen Vorgangsfehlers zweiter Stufe (Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis) - notwendig das Ergebnis dieser Abwägung (inhaltlich) fehlerhaft.73 bb) Strukturelle

Vorgangsfehler

erster Stufe

Als strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe sind der Ausfall (Nichtvornahme einer vorzunehmenden Abwägung - reiner Interpretationsfehler), die Unterschreitung (Unterschätzen der Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der ErmesVgl. AlexyjZ 1986, S.701, 708, 709, 711, 711 f., 713, 714. Vgl. AlexyjZ 1986, S.701, 712, 713 und - zur Überschreitung - S.702, 703. 709, 711. Das Verbot unsachlicher Beweggründe führt nicht zu einem Gewichtungsfehler. Es entspricht dem Fall, in dem die Begründung fehlerfrei, die Motivation aber fehlerhaft ist und damit ein struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe vorliegt (Vorwand; S. 708). 72

73

A.

Ansatzpunkt

203

sensermächtigung - reiner Interpretationsfehler), die Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage (unzutreffende oder unvollständige Ermittlung der relevanten Gesichtspunkte - reiner Feststellungsfehler), das Abwägungsdefizit (Nichtberücksichtigung relevanter Gesichtspunkte - Abwägungsfehler) und der Abwägungsüberhang (Berücksichtigung nicht relevanter Gesichtspunkte - Abwägungsfehler) anzusehen. Es kann ein (inhaltlich) fehlerfreies Ergebnis mit einer inhaltlich fehlerfreien Begründung getroffen werden, auch wenn sich der Entscheidungsträger irrtümlich für gebunden/eingeschränkt hält oder nicht alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zutreffend festgestellt/nicht alle oder nicht nur die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte gewürdigt (sachbezogene Gesichtspunkte außer acht gelassen oder sachfremde/unsachliche Gesichtspunkte berücksichtigt) hat. 74 Wenn dies der Fall ist (und damit ein echter struktureller Fehler erster Stufe gegeben ist), verstößt das Ergebnis dieses Vorgangs nicht dem Inhalt nach gegen geltendes Recht. cc) Strukturelle Vorgangsfehler zweiter Stufe Als strukturelle Vorgangsfehler zweiter Stufe sind das Mißverhältnis von Motivation und Begründung (fehlerhafte Motivation bei fehlerfreier Begründung und fehlerfreiem Ergebnis/Vorwand) und das Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) anzusehen. 75 In diesen 7 4 Vgl. Alexy]Z 1986, S.701, 708, 709, 711f., 712, der als strukturelle Fehler erster Stufe die Unterschreitung (S. 708, 709, 711 f., 714), den Abwägungsausfall (S. 712) und das Abwägungsdefizit (S. 712) ansieht, weil sich die „Behörde... für eines von mehreren zulässigen Ergebnissen mit einer inhaltlich fehlerfreien Begründung" entscheiden kann, auch „wenn sie sich irrtümlich für gebunden hält", weil die Behörde ... wissen und dartun kann, daß sie zur Ermessensbetätigung berechtigt ist, aber dennoch, etwa in ausschließlicher Orientierung an einem für sie schlagenden Grund, auf eine Abwägung verzichten" und „das Ergebnis trotz dieses Vorgangsfehlers wegen des Gewichts des von der Behörde allein beachteten Grundes ein mögliches Ergebnis einer fehlerfreien Abwägung sein kann", und weil „einerseits aus einem bloßen Erwägen und Erörtern nicht schon die im Ergebnis richtige Abwägung folgt und andererseits ein fehlerfreies Ergebnis getroffen werden kann, ohne daß zu berücksichtigende Gesichtspunkte tatsächlich erwogen und erörtert wurden" (S. 712), nicht aber den Abwägungsüberhang (S. 712 - „Die bloße Tatsache, daß Gesichtspunkte, die die Entscheidung nicht beeinflussen dürfen, erwogen und erörtert werden, macht die Abwägung noch nicht fehlerhaft. Sie können erwogen, erörtert und als gänzlich unbeachtlich zurückgewiesen werden. Wird ihnen aber Einfluß auf das Ergebnis eingeräumt, so liegt entweder ein inhaltlicher Verstoß gegen eine Rechtsregel oder eine Fehlgewichtung, also eine Abwägungsdisproportionalität vor"). Die Anmaßung ist kein rechtlich relevanter Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler; siehe dazu bereits oben S. 191 Fn. 40. 7 5 Vgl. Alexy J Z 1986, S.701, 708, 712, 713, 714, der sechs strukturelle Fehler zweiter Stufe anerkennt, und zwar vier bezogen auf die Nichtübereinstimmung von Motivation und Begründung und zwei bezogen auf die Nichtübereinstimmung von Vorgang und Ergebnis, aber selbst einräumt, daß in den Fällen, in denen die Begründung fehlerhaft, die Motivation aber fehlerfrei ist, und in denen die Begründung und die Motivation trotz Nichtübereinstimmung fehlerhaft sind, auf die fehlerhafte Begründung abzustellen ist, weil „eine fehlerhafte Begründung stets zur Rechtswidrigkeit des Gesamtaktes führt" (S. 708). Was den Fall angeht, in dem Begründung und

204

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Fällen verstößt das Ergebnis des Vorgangs bereits per definitionem nicht dem Inhalt nach gegen geltendes Recht. b) „Spezifische

Ermessensfehler"

Die Differenzierung zwischen (inhaltlichen) Ergebnisfehlern, inhaltlichen Vorgangsfehlern und strukturellen Vorgangsfehlern führt zu der Erkenntnis, daß allein die strukturellen Vorgangsfehler „spezifische Ermessensfehler" sind. Sie treten ausschließlich als Vorgangsfehler auf. Sie können nicht den Charakter von Ergebnisfehlern annehmen und deshalb nur bei Verwaltungsakten, denen Einschätzungsprärogativen/Ermessensspielräume zugrundeliegen, zur materiellen Rechtswidrigkeit des Gesamtaktes führen. 76 c) Zuordnung

zur „ Zweck-

und

Grenzenformel"

Die Differenzierung zwischen (inhaltlichen) Ergebnisfehlern, inhaltlichen Vorgangsfehlern und strukturellen Vorgangsfehlern erlaubt eine Einordnung der Fehlerkategorien in die gesetzgeberische Zweck- und Grenzenformel. aa)

„Grenzen"

Ist das charakteristische Element des abstrakten Verhaltensfehlers (Überschreitung), daß die Einschätzung bzw. Ermessensausübung den gesetzlich gezogenen äußeren Rahmen des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung überschritten hat oder überschreiten wird, so ist die Überschreitung als die Überdehnung der Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung und als der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler erfaßt. Ergebnis fehlerhaft sind, aber nicht an denselben Fehlern leiden (Nichtübereinstimmung bei Fehlerhaftigkeit), kann nichts anderes gelten; außerdem kann es eine „fehlerhaftes Ergebnis mit einer auf dieses Ergebnis bezogenen fehlerfreien Begründung nicht geben" und liegt „bei fehlerfreier Begründung eines fehlerfreien Ergebnisses ... stets eine Ubereinstimmung" vor (S.712). Der Fall, in dem Begründung und Motivation trotz Nichtübereinstimmung fehlerfrei sind (Nichtübereinstimmung bei Fehlerlosigkeit), dürfte kein praktische Relevanz haben und soll deshalb hier vernachlässigt werden. Übrig bleiben damit nur die fehlerhafte Begründung eines fehlerfreien Ergebnisses (S. 712) und der Fall, in dem die Begründung fehlerfrei, die Motivation aber fehlerhaft ist (Vorwand; S. 708). Dem entspricht die hier vorgenommene Differenzierung zwischen dem Verbot, sachbezogene Gesichtspunkte außer acht zu lassen oder sachfremde bzw. unsachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, und dem Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen einerseits und dem Verbot unsachlicher Beweggründe andererseits. Die ersten beiden Verbote führen zu strukturellen Vorgangsfehlern erster Stufe bzw. (inhaltlichen) Ergebnisfehlern/inhaltlichen Vorgangsfehlern. Das Verbot unsachlicher Beweggründe führt als Vorwand dagegen zu einem strukturellen Vorgangsfehler zweiter Stufe. Auch A/exy ]Z 1986, S. 701, 712, geht davon aus, wenn „Gesichtspunkten, die die Entscheidung nicht beeinflussen dürfen,... Einfluß auf das Ergebnis eingeräumt" werde, liege entweder ein inhaltlicher Verstoß gegen eine Rechtsregel oder eine Fehlgewichtung, also eine Abwägungsdisproportionalität vor." 76 Alexy J Z 1986, S.701, 711, 713, 713f., 714ff.

A.

bb)

Ansatzpunkt

205

„Zweck"

Das charakteristische Element der konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) ist, daß die Einschätzung bzw. Ermessensausübung durch den Einschätzungsbegriff bzw. die Ermessensermächtigung „zwar unter anderen Umständen oder aus anderen Gründen, nicht aber unter den tatsächlich vorhandenen Umständen, auf Grund der tatsächlich angestellten Erwägungen oder der tatsächlichen Motive" gedeckt wäre.77 (1) „unter anderen

Umständen"

Mit dem Kriterium „unter anderen Umständen, nicht aber unter den tatsächlich vorhandenen Umständen" lassen sich zunächst die Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung und die Gewichtungsfehler (Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze, Abwägungsdisproportionalität und -fehlgewichtung, Übersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses) erfassen, soweit sie als (inhaltliche) Ergebnisfehler und damit - wegen der Grund-Relation - auch als auf diese (inhaltlichen) Ergebnisfehler bezogene inhaltliche Vorgangsfehler (kongruente Begründungsfehler) auftreten.78 Sind der Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. der Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung im Ergebnis und in der auf dieses Ergebnis bezogenen Abwägung verkannt worden oder sind die Wertungsgrundsätze im Ergebnis und in der auf dieses Ergebnis bezogenen Abwägung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden oder sind die relevanten tatsächlichen und rechtlichen GeWolff/Bacbof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.49. Vgl. dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.49 („Ein Ermessensgebrauch ist unter den gegebenen Umständen objektiv unzulässig, wenn Verfassungs- und sonstige Rechtsgrundsätze, wie Freiheitsrechte, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit oder Wertentscheidungen verletzt werden ... Der Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit ist verletzt, wenn das Ermessen eine zwar abstrakt zulässige, im konkreten Falle aber nicht nur unzweckmäßige, sondern ungeeignete, nicht erforderliche oder unangemessen Rechtsfolge gewährt hat... Die sich aus dem Sinn und Zweck des anzuwendenden Gesetzes und der Verfassung ergebenden Wertentscheidungen werden z.B. dann verkannt, wenn das Abwägungsgebot verletzt wird.") sowie Alexy J Z 1986, S. 701,703 („Dies dürfte so zu verstehen sein, daß es das Ergebnis der Ermessensbetätigung ist, das die genannten Prinzipien verletzt... Das Ergebnis einer Ermessensausübung kann nicht nur deshalb rechtswidrig sein, weil es vom Wortlaut der ermessensgewährenden Norm nicht gedeckt ist. Neben dem abstrakten Ergebnis- bzw. objektiven Fehler gibt es den konkreten Ergebnis- bzw. objektiven Fehler, der dann vorliegt, wenn das Ergebnis sich zwar im Spielraum der ermessensgewährenden Norm hält, wegen der gegebenen Umstände aber gegen andere Normen, insbesondere gegen Verfassungsprinzipien, verstößt."), S. 709 („... Definition der Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses durch den Begriff der mangelnden Begründbarkeit... Dereren Richtigkeit zeigt sich daran, daß ein Ergebnis, das gegen geltendes Recht verstößt, nicht begründbar ist. Ihre Fruchtbarkeit liegt darin, daß sie erlaubt, sämtliche Ergebnisfehler als Begründungsfehler zu formulieren.") und S. 712 („Zwischen dem Ergebnis und dem Vorgang besteht kein Verhältnis der Entsprechung oder der Parallelität, sondern eine Relation der Stützung oder des Grundes. Diese Grund-Relation hat zur Folge, daß es ein fehlerhaftes Ergebnis mit einer auf dieses Ergebnis bezogenen fehlerfreien Begründung nicht geben kann."). 77

78

206

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

sichtspunkte (alle und nur diese) im Ergebnis und in der auf dieses Ergebnis bezogenen Abwägung im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) in ihrem Gewicht oder ihrer Bedeutung verkannt oder gemessen an ihrer objektiven Gewichtigkeit in unverhältnismäßiger Weise ausgeglichen worden, so liegen im konkreten Fall ein Ergebnis und eine auf dieses Ergebnis bezogene Begründung mit einem gegen geltendes Recht verstoßendem Inhalt vor. Sie könnten jedoch im Falle anderer tatsächlicher und/oder rechtlicher Gesichtspunkte im Lichte der Wertungsgrundsätze sehr wohl gerechtfertigt sein. Dies wird an einem Beispiel deutlich: Hat die Verwaltung bei der Planung einer Industrieanlage/einer Bundesautobahn im Ergebnis und in der auf dieses Ergebnis bezogenen Abwägung die Interessen von Anwohnern vernachlässigt, indem sie (i) ein Ziel verfolgt hat, das im konkreten Fall dem Sinn und Zweck der Ermächtigung nicht entspricht, (ii) das Gebot der Abwägung öffentlicher und privater Belange, den Grundsatz der Konflikt- und Problembewältigung, das Optimierungsgebot verletzt hat, (iii) einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff in Kauf genommen hat oder (iv) unsachgemäße/unsachliche Erwägungen angestellt hat, so könnten das Ergebnis und die auf dieses Ergebnis bezogene Begründung ihrer Planung im Falle anderer tatsächlicher und/oder rechtlicher Gesichtspunkte im Lichte der Wertungsgrundsätze gerechtfertigt sein. Dies ist der Fall, wenn das verfolgte Ziel aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls dem Sinn und Zweck der Ermächtigung entspricht oder wenn keine Anwohner oder keine schutzbedürftigen Anwohner (keine relevanten Auswirkungen infolge tatsächlicher Umstände oder ausreichender Schutzvorkehrungen) oder keine schutzwürdigen Anwohner (keine Wohngebiete/keine „schweren und unerträglichen" Situationsänderungen) vorhanden sind oder wenn sich die Erwägungen aufgrund besonderer Umstände als sachgemäß/sachlich darstellen. Mit dem Kriterium „unter anderen Umständen, nicht aber unter den tatsächlich vorhandenen Umständen" lassen sich auch der Ausfall, die Unterschreitung, die Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage, das Abwägungsdefizit und der Abwägungsüberhang einordnen, soweit sie als induzierende unechte strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe auftreten. Sie müssen mit einem von ihnen verursachten oder mitverursachten (inhaltlich) fehlerhaften Ergebnis und damit - wegen der Grund- Relation - mit einer von ihnen verursachten oder mitverursachten auf dieses Ergebnis bezogenen inhaltlich fehlerhaften Begründung einhergehen. In diesem Fall liegt zugleich eine Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung oder ein Gewichtungsfehler vor, und zwar sowohl als (inhaltlicher) Ergebnisfehler als auch - wegen der Grund-Relation - als auf diesen (inhaltlichen) Ergebnisfehler bezogener inhaltlicher Vorgangsfehler (kongruenter Begründungsfehler).79 79

Alexy J Z 1986, S.701, 708, 709, 711, 711 f.

A.

Ansatzpunkt

207

Der entscheidende Punkt dieser Fallgruppe ist letztlich, daß das Ergebnis im konkreten Fall nicht begründbar ist und deshalb - wegen der Grund-Relation auch durch die im konkreten Fall vorliegende auf dieses Ergebnis bezogene Begründung nicht fehlerfrei begründet wird. (2) „aus anderen

Gründen"

Mit dem Kriterium „aus anderen Gründen, nicht aber auf Grund der tatsächlich angestellten Erwägungen" lassen sich zunächst der Ausfall, die Unterschreitung, die Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage, das Abwägungsdefizit und der Abwägungsüberhang erfassen, soweit sie als echte strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe auftreten. Dies ist der Fall, wenn sie mit einem (inhaltlich) fehlerfreien Ergebnis und einer auf dieses Ergebnis bezogenen inhaltlich fehlerfreien Begründung einhergehen. 80 Wird ein (inhaltlich) fehlerfreies Ergebnis mit einer inhaltlich fehlerfreien Begründung getroffen, obwohl sich der Entscheidungsträger irrtümlich für gebunden/eingeschränkt hält oder nicht alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zutreffend festgestellt/nicht alle oder nicht nur die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte gewürdigt (sachbezogene Gesichtspunkte außer acht gelassen oder sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigt) hat, 81 so liegt im konkreten Fall eine Begründung vor, die trotz eines strukturellen Vorgangsfehlers erster Stufe inhaltlich fehlerfrei ist und mit einem Ergebnis einhergeht, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist. Hier läßt sich auch das Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis als struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe einordnen, der per definitionem (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) mit einem Ergebnis einhergeht, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist. 82 Damit werden zugleich die Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung sowie die Gewichtungsfehler erfaßt, soweit sie als inhaltliche Vorgangsfehler mit einem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis einhergehen (reine Begründungsfehler). 83 Alexy J Z 1986, S.701, 708, 709, 711, 711 f. Alexy J Z 1986, S.701, 708, 709, 711 f., 712. 82 Alexy J Z 1986, S.701, 708, 712, 714. 83 Vgl. dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.51, 53 („Ein Ermessensgebrauch ist subjektiv unzulässig, wenn ... die ihm zugrundeliegenden Erwägungen ihn nicht rechtfertigen... Ermessenserwägungen rechtfertigen eine Entscheidung nicht, wenn die gegen sie sprechenden Gründe unberücksichtigt oder unsachgemäß gewürdigt worden sind, wenn insbesondere aus zutreffenden Gründen unrichtige Folgerungen gezogen worden sind ...") sowie Alexy J Z 1986, S. 701, 703 („Wesentlich schwerer zu durchschauen ist die Wolff/Bachofsche Kategorie der konkreten subjektiven Fehler ... Mit dieser Formel wird höchst Unterschiedliches zusammengefaßt. Das Spektrum reicht von ... über die fehlerhafte Begründung und den Vorwand ... Damit sind zwar die Fehlertatbestände weitgehend erfaßt, von einer Systematisierung kann aber kaum die Rede sein. Immerhin ist aber deutlich, daß es bei den konkreten subjektiven 80

81

208

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Wird ein (inhaltlich) fehlerfreies Ergebnis mit einer inhaltlich fehlerhaften Begründung getroffen, weil der Entscheidungsträger den Sinngehalt des Einschätzungsbegriffs bzw. den Sinn und Zweck der Ermessensermächtigung zwar in der Abwägung, nicht aber im Ergebnis verkannt hat oder die Wertungsgrundsätze zwar in der Abwägung, nicht aber im Ergebnis nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt hat oder die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) zwar in der Abwägung, nicht aber im Ergebnis im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) in ihrem Gewicht oder ihrer Bedeutung verkannt oder gemessen an ihrer objektiven Gewichtigkeit in unverhältnismäßiger Weise ausgeglichen hat, so liegt im konkreten Fall eine Begründung mit einem gegen geltendes Recht verstoßendem Inhalt vor, die mit einem Ergebnis einhergeht, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist. Es ist ein Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis als struktureller Vorgangsfehlers zweiter Stufe (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) gegeben. Dies wird wiederum an einem Beispiel deutlich: Hat die Verwaltung bei der Planung einer Industrieanlage/einer Bundesautobahn zwar in der Abwägung, nicht aber im Ergebnis die Interessen von Anwohnern vernachlässigt, indem sie (i) ein Ziel verfolgt hat, das im konkreten Fall dem Sinn und Zweck der Ermächtigung nicht entspricht, (ii) das Gebot der Abwägung öffentlicher und privater Belange, den Grundsatz der Konflikt- und Problembewältigung, das Optimierungsgebot verletzt hat, (iii) einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff in Kauf genommen hat oder (iv) unsachgemäße/unsachliche Erwägungen angestellt hat, so kann das Ergebnis aufgrund der im konkreten Fall relevanten tatsächlichen und/oder rechtlichen Gesichtspunkte im Lichte der Wertungsgrundsätze gerechtfertigt werden, obwohl die Begründung aufgrund der im konkreten Fall relevanten tatsächlichen und/oder rechtlichen Gesichtspunkte im Lichte der Wertungsgrundsätze nicht zu rechtfertigen ist. Denn das Ergebnis könnte auf eine Begründung gestützt werden, mit der im konkreten Fall ein Ziel verfolgt wird, das dem Sinn und Zweck der Ermächtigung entspricht, oder die keine Anwohner oder keine schutzbedürftigen Anwohner (keine relevanten Auswirkungen infolge tatsächlicher Umstände oder ausreichender Schutzvorkehrungen) oder keine schutzwürdigen Anwohner (keine Wohngebiete/keine „schweren und unerträgFehlern im wesentlichen um Vorgangs- und nicht um Ergebnisfehler geht.") und S. 709 („Der für das Verhältnis von Ergebnis- und Begründungsfehlern entscheidende Punkt ist, daß das Ergebnis richtig, die Begründung aber falsch sein kann. Dies erklärt sich daraus, daß ein Ergebnis erst dann fehlerhaft wird, wenn alle denkbaren Begründungen fehlerhaft sind, es also nicht begründbar ist, während eine Begründung schon dann fehlerhaft ist, wenn sie, d.h. diese eine Begründung, unter einem Fehler leidet, das Ergebnis also durch sie nicht fehlerfrei begründet wird. Damit ist deutlich, weshalb die Fehlerhaftigkeit der Begründung noch nicht die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses impliziert. Es kann für das Ergebnis trotz vorliegender fehlerhafter Begründung eine oder mehrere fehlerfrei Begründungen geben. Nur dann, wenn sämtliche möglichen Begründungen fehlerhaft sind, ist auch das Ergebnis fehlerhaft.").

A.

Ansatzpunkt

209

liehen" Situationsänderungen) in ihren rechtlich geschützten Interessen verletzt oder die nur sachgemäße/sachliche Erwägungen beinhaltet. M i t dem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis als strukturellem Vorgangsfehler zweiter Stufe werden schließlich auch der Ausfall, die Unterschreitung, die Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage, das Abwägungsdefizit und der A b wägungsüberhang erfaßt, soweit sie als nicht-induzierende unechte strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe auftreten. Dies ist der Fall, wenn sie mit einer von ihnen verursachten oder mitverursachten inhaltlich fehlerhaften Begründung und einem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis einhergehen. In diesem Fall liegt zugleich eine Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung oder ein Gewichtungsfehler als inhaltlicher Vorgangsfehler vor. 84 D e r entscheidende Punkt dieser Fallgruppe ist, daß das Ergebnis lediglich durch die vorliegende Begründung nicht fehlerfrei begründet wird, oder anders gewendet, daß es für das Ergebnis trotz vorliegender fehlerhafter Begründung eine oder mehrere fehlerfreie Begründungen gibt. 8 5 (3) „ nicht aufgrund

der tatsächlichen

Motive"

M i t dem Kriterium „nicht aber auf G r u n d der tatsächlichen M o t i v e " wird das Mißverhältnis von Motivation und Begründung als struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe erfaßt und damit die fehlerhafte Motivation bei fehlerfreier Begründung und fehlerfreiem Ergebnis (Vorwand). 8 6 Wird ein (inhaltlich) fehlerfreies Ergebnis mit einer auf dieses Ergebnis bezogenen inhaltlich fehlerfreien Begründung getroffen, weil sich der Entscheidungsträger zwar in der Motivation, aber weder in der Abwägung noch im Ergebnis von rechtlich nicht zu billigenden subjektiven Motiven, inneren Vorstellungen oder

Alexy J Z 1986, S.701, 708, 709, 711, 711 f., 712. Alexy J Z 1986, S.701, 709. 86 Vgl. dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.51, 53 („Ein Ermessensgebrauch ist subjektiv unzulässig, wenn ... die ihm zugrundeliegenden Erwägungen ihn nicht rechtfertigen ... Ermessenserwägungen rechtfertigen eine Entscheidung nicht, wenn ... die angeblichen Gründe gar nur Vorwände sind (Ermessensunschlüssigkeit). Mißbräuchlich ist endlich eine Entscheidung, deren Motive rechtlich nicht zu billigen sind, weil sie z.B. selbstsüchtig, nur freundnützig, schikanös oder sonstwie unsachlich sind (Ermessenswillkür).") sowie Alexy J Z 1986, S.701,703 („Wesentlich schwerer zu durchschauen ist die Wolff/Bachofsche Kategorie der konkreten subjektiven Fehler... Mit dieser Formel wird höchst Unterschiedliches zusammengefaßt. Das Spektrum reicht von ... über die fehlerhafte Begründung und den Vorwand bis zum Motivationsfehler, etwa dem schikanösen Handeln. Damit sind zwar die Fehlertatbestände weitgehend erfaßt, von einer Systematisierung kann aber kaum die Rede sein. Immerhin ist aber deutlich, daß es bei den konkreten subjektiven Fehlern im wesentlichen um Vorgangs- und nicht um Ergebnisfehler geht.") und S. 708, 708f. („Die These der Fehleridentität impliziert, daß eine Motivation dann und nur dann fehlerhaft ist, wenn sie als Begründung fehlerhaft wäre. Dies bedeutet, daß der Inhalt der Motivationsfehler vollständig auf der Ebene der Begründungsfehler behandelt werden kann ... Von systematischem Interesse sind die Motivationsfehler daher nur unter dem Gesichtspunkt der Nichtübereinstimmung von Begründung und Motivation."). 84 85

210

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Haltungen hat leiten lassen, so liegen im konkreten Fall ein Ergebnis und eine auf dieses Ergebnis bezogene Begründung vor, die ihrem Inhalt nach nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Sie gehen jedoch mit einer Motivation einher, die von der Rechtsordnung mißbilligt wird. Es liegt ein Mißverhältnis von Motivation und Begründung als struktureller Vorgangsfehlers zweiter Stufe vor (fehlerhafte M o tivation bei fehlerfreier Begründung und fehlerfreiem Ergebnis/Vorwand). Dies wird wiederum an einem Beispiel deutlich: Hat die Verwaltung bei der Planung einer Industrieanlage/einer Bundesautobahn weder noch im Ergebnis

in der

Abwägung

die Interessen von Anwohnern vernachlässigt, dabei aber aus

unsachlichen Beweggründen heraus gehandelt, so sind das Ergebnis und die auf dieses Ergebnis bezogene Begründung aufgrund der im konkreten Fall relevanten tatsächlichen und/oder rechtlichen Gesichtspunkte im Lichte der Wertungsgrundsätze gerechtfertigt, obwohl die Motivation nicht zu rechtfertigen ist. Das Ergebnis und die auf dieses Ergebnis bezogene Begründung könnten im konkreten Fall von einer Motivation begleitet werden, in der sachliche Beweggründe zum Ausdruck kommen. Der entscheidende Punkt dieser Fallgruppe ist, daß das Ergebnis im konkreten Fall nicht nur begründbar ist, sondern auch durch die im konkreten Fall vorliegende auf dieses Ergebnis bezogene Begründung fehlerfrei begründet wird. Es wird lediglich die zugrundeliegende Motivation von der Rechtsordnung mißbilligt. Das Ergebnis und die im konkreten Fall vorliegende auf dieses Ergebnis bezogene Begründung wären bei rechtlich zu billigender Motivation rechtlich nicht zu beanstanden.

II. Das Konzept einer gesellschaftsrechtlichen

Entscheidungsfehlerlehre

Uberträgt man die Grundannahmen der verwaltungsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre in das Gesellschaftsrecht, so haben die zur Kontrolle der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch den Vorstand/Aufsichtsrat im Sinne des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G insbesondere berufenen Aufsichtsräte/Aktionäre (und damit auch die von ihnen in Anspruch genommenen Gerichte) zwei Fragen zu prüfen: Hat der Vorstand/Aufsichtsrat mit seiner Einschätzung bzw. Ermessensausübung den gesetzlich gezogenen äußeren Rahmen der Einschätzungsbzw. Ermessensermächtigung und damit die Grenzen der Einschätzungs- bzw. Ermessensermächtigung überschritten, oder wird er dies tun (Überschreitung)? Hat der Vorstand/Aufsichtsrat mit seiner Einschätzung bzw. Ermessensausübung die rechtlich gezogenen inneren Schranken der Einschätzungs- bzw. Ermessensermächtigung verletzt und damit von der Einschätzungs- bzw. Ermessensermächtigung nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht, und/oder wird er dies tun (Fallgruppen des Fehlgebrauchs)? Diese Prüfung zielt auf die Frage, ob die Einschätzung bzw. Ermessensausübung des Vorstands/Aufsichtsrats

A.

Ansatzpunkt

211

durch die Einschätzungs- bzw. Ermessensermächtigung in keinem Fall gedeckt ist (abstrakter Verhaltensfehler) oder zwar unter anderen Umständen oder aus anderen Gründen, nicht aber unter den tatsächlich vorhandenen Umständen, auf Grund der tatsächlich angestellten Erwägungen oder der tatsächlichen Motive gedeckt wäre (konkrete Verhaltensfehler). 1. Grundlegung Die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre entwickelt den abstrakten Verhaltensfehler (Überschreitung) und die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) auf eine bestimmte Weise. Es knüpft an den zu bestimmenden Sinn und Zweck des Gesetzes 87 und damit insbesondere an normierte, allgemein anerkannte sowie verfassungsrechtliche Beurteilungs- bzw. Ermessensgrenzen und Wertungsgrundsätze 88 sowie an die - nach Fehlergegenstand und Fehlerfolgen - strikte Trennung zwischen dem formellen Verwaltungsverfahrensrecht und dem materiellen Verwaltungsrecht an. Dieser Ansatz läßt sich nicht in das Gesellschaftsrecht übertragen. Im Gesellschaftsrecht können die für das Verwaltungsrecht typischen Probleme nicht auftreten. Denn sie ranken sich um die Bestimmung des Sinn und Zwecks der Ermächtigung im Lichte des Sinn und Zwecks des Gesetzes und damit der „der Gesamtheit der Sätze des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts ... für die in Frage stehende Entscheidung zu entnehmenden Zwecke" 89 . 90 Im Gesellschaftsrecht stellen sich lediglich Probleme der Zweckpräzisierung, nicht aber Probleme der Zweckbestimmung. Der Zweck der einer konkreten Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats zugrundeliegenden Befugnisnorm ist „ausschließlich" bzw. „allein" das „Unternehmenswohl". 91 Es kommt erschwerend hinzu, daß es im Gesellschaftsrecht kaum normierte oder allgemein anerkannte Beurteilungsbzw. Ermessensgrenzen und Wertungsgrundsätze gibt.92

87 Überschreitung infolge einer Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung, Fehleinschätzung der Norm, Handeln aus unsachlichen Beweggründen. 88 Überschreitung infolge einer Verkennung/Fehleinschätzung normierter, allgemein anerkannter oder verfassungsrechtlicher Beurteilungs-/Ermessensgrenzen, Verkennung/Fehleinschätzung normierter, allgemein anerkannter oder verfassungsrechtlicher Wertungsgrundsätze, Abwägungsdisproportionalität/Abwägungsfehlgewichtung/Übersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses, Abwägungsdisproportionalität/Abwägungsfehlgewichtung/Übersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses infolge einer Verkennung/Fehleinschätzung normierter, allgemein anerkannter oder verfassungsrechtlicher Wertungsgrundsätze. 89 Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 8 f. 90 Siehe dazu nm Alexy JZ 1986, S.701, 709f. 91 Siehe dazu nur B G H ZIP 1997, S. 883, 886 - ARAG/Garmenbeck. 92 Siehe dazu Abeltshauser, Leitungshaftung, S.169f., 182, 193f., 199f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.267f., aber auch Roth, Ermessen, S. 74ff., 107ff. und Paefgen, Entscheidungen, S. 171ff. sowie Heermann A G 1998, S.201, 208f. und ZIP 1998, S.761, 762f., 763f.

212

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Das Gesellschaftsrecht kennt auch keine dem Verwaltungsrecht vergleichbare Trennung zwischen formellem Verfahrensrecht und materiellem Recht nach Fehlergegenstand und Fehlerfolgen. Im Hinblick auf §108 AktG werden lediglich Beschlußmängel aufgelistet: „Beschlußunfähigkeit, Kompetenzüberschreitung, gesetzwidrig zusammengesetzter Aufsichtsrat" („kompetentielle Mängel"); „Nichterreichung der erforderlichen Mehrheit und Teilnahme Unbefugter an der Abstimmung" unter der Voraussetzung, daß ohne die nichtige Stimmabgabe/die Stimme des Unbefugten „das Beschlußergebnis nicht zustande gekommen wäre" („Gültigkeitsvoraussetzungen der Stimmabgabe"); Verstöße „gegen solche Regeln, die sich auf die Einberufung, den Sitzungsablauf und die Art und Weise der Abstimmung beziehen," unter der Voraussetzung einer „Auswirkung auf das Beschlußergebnis oder Beeinträchtigung von Teilnahmerechten eines Aufsichtsratsmitglieds" und Verstöße „dem Inhalt nach gegen das Gesetz oder die Satzung" oder „die Grenzen pflichtgemäßer Ermessensausübung" („Verfahrensfehler"). Es wird zudem mit Blick auf die Folgen „bei kompetentiellen und inhaltlichen Mängeln" betont, der „Gedanke, daß Verstöße gegen solche Regeln, die zur Disposition der Aufsichtsratsmitglieder stehen, nicht nichtig, sondern nur vernichtbar sind," sei „auch auf inhaltliche Mängel anwendbar." Daher solle der Fall, in dem „ein Aufsichtsratsausschuß ohne Verletzung seiner gesetzlichen Kompetenzgrenzen den ihm vom Plenum erteilten Auftrag überschreitet" ebenso „dem Bereich vernichtbarer Beschlüsse zugerechnet werden" wie die „Besetzung eines Aufsichtsratsausschusses unter ungenügender Beachtung des Diskriminierungsschutzes der Arbeitnehmerseite." 93 Das Gesellschaftsrecht bietet im Lichte des Verwaltungsrechts mithin ein ungeordnetes Bild. Dabei ist auch augenfällig, daß nur von Beschlußmängeln (und nicht von Entscheidungsfehlern) gesprochen wird. Dabei führen Beschlußmängel zur Fehlerhaftigkeit des Beschlusses und, da der Aufsichtsrat durch Beschluß entscheidet, 94 konsequenterweise auch zur Fehlerhaftigkeit der durch den Beschluß getroffenen Entscheidungen. Im Gesellschaftsrecht stehen bislang ganz andere Fragen im Vordergrund, und zwar, ob und wie zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit zu unterscheiden ist und wer auf welche Weise innerhalb welcher Fristen die Fehlerhaftigkeit geltend machen kann. 95 Vor diesem Hintergrund muß ein eigenständiger gesellschaftsrechtlicher Ansatz entwickelt werden, um den abstrakten Verhaltensfehler (Überschreitung) als den einzigen reinen (inhaltlichen) Ergebnisfehler zu typisieren und zu konkretiMertens, Kölner Kommentar, § 108 Rdn. 68ff., 72ff., 82ff. Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §108 Rdn. 6ff. 95 Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §108 Rdn. 68, 88ff. und - zur Ansicht des BGH ZIP 1997, S. 883,885 - ARAG/Garmenbeck, „daß der Aufsichtsrat der Beklagten zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstandsvorsitzenden verpflichtet ist und die Aufsichtsratsbeschlüsse..., mit denen das abgelehnt worden ist, daher nichtig sind" - insbesondere Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,114ff. 93

94

A.

Ansatzpunkt

213

sieren und die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) zu typisieren und die davon erfaßten (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und strukturellen Vorgangsfehler zu bestimmen und - mit Ausnahme der nicht konkretisierungsbedürftigen strukturellen Vorgangsfehler zweiter Stufe - zu konkretisieren. E r läßt sich entwickeln, indem man die Erkenntnisse aus dem Corporate Governance Prozeß heranzieht: Die Betriebswirtschaftslehre und das U . S . amerikanische Gesellschaftsrecht haben sachlogische Kriterien für die Sicherung und Begrenzung der Entscheidungsfreiräume der Unternehmensführung entwickelt. Die spektakulären Unternehmenskrisen und die Diskussion um Corporate Governance Standards liefern wertvolle Hinweise darauf, wie die Entscheidungsfreiräume des Vorstands und des Aufsichtsrats begrenzt werden können und müssen. Die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung nach § 53 H G r G sowie die Entwicklung der Unternehmensberichterstattung und ihrer externen Prüfung in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten geben in ergiebiger Weise insbesondere darüber Aufschluß, welche Informationen es ermöglichen, die Unternehmensführung risiko-, problem- und zukunftsorientiert zu gestalten und zu überwachen. Die Übertragung der Grundannahmen der verwaltungsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre in das Gesellschaftsrecht hat zur Konsequenz, daß es strukturelle Vorgangsfehler gibt. Sie begründen auch dann die Pflichtwidrigkeit der auf den zugehörigen Einschätzungen bzw. Ermessensausübungen beruhenden Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G , 9 6 wenn es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G zu demselben Entscheidungstenor gekommen wäre. 97 Diese Konsequenz ist gerechtfertigt. § 46 V w V f G schließt in diesen Fällen in Konsequenz des Grundsatzes „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est" nur den Beseitigungsanspruch aus, stellt nach heute herrschender Meinung aber nicht die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infrage (siehe auch § 59 Abs. 2 96 Und damit in aller Regel auch - bei Schuldfähigkeit der pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieder/ Aufsichtsratsmitglieder - die Annahme, daß die pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieder/Aufsichtsratsmitglieder schuldhaft gehandelt haben; siehe zum Verschulden als Haftungsvoraussetzung nach § 93 AktG/§§ 116, 93 AktG nur Mertens, Kölner Kommentar, § 93 Rdn.7, 98 f., 101 f. und §116 Rdn.7, 57. 97 Dies entspricht allerdings der vorherrschenden Ansicht im Gesellschaftsrecht zu den Beschlußmängeln im Rahmen des § 108 AktG insoweit nicht, als Verstöße gegen die „Gültigkeitsvoraussetzungen der Stimmabgabe" nur dann zur Fehlerhaftigkeit des Beschlusses führen sollen, wenn ohne die nichtige Stimmabgabe/die Stimme des Unbefugten „das Beschlußergebnis nicht zustandegekommen wäre", und Verstöße „gegen solche Regeln, die sich auf die Einberufung, den Sitzungsablauf und die Art und Weise der Abstimmung beziehen", nur dann zur Fehlerhaftigkeit des Beschlusses führen sollen, wenn dadurch ein „Aufsichtsratsmitglied behindert worden" oder „eine Auswirkung auf das Beschlußergebnis anzunehmen ist"; siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, § 108 Rdn. 69, 74, 76, 77 mit weiteren Nachweisen. Die hier angesprochene Frage wird immerhin von Roth, Ermessen, S. 134, gestreift.

214

J. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Nr. 2 VwVfG). Dem Betroffenen verbleibt - bei bestehendem Rechtsschutzinteresse - die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 V w G O feststellen zu lassen. 98 Im Gesellschaftsrecht besteht ebenfalls ein Bedürfnis dafür, daß der Vorstand/Aufsichtsrat in diesen Fällen nach §256 Z P O bei berechtigtem Interesse - insbesondere bei Wiederholungsgefahr - eine Klage auf Feststellung der Pflichtwidrigkeit der Entscheidung des Aufsichtsrats/Vorstands im Sinne der §§116, 93 AktG/des §93 A k t G erheben kann. Ein umfassender Rechtsschutz im Hinblick auf fehlerhafte Vorstands-/Aufsichtsratsbeschlüsse (und damit auf im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 A k t G pflichtwidrige Entscheidungen) besteht aus Beschlußmängelklagen (Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen), Vornahmeklagen, Abwehrklagen (Unterlassungs- und Folgenbeseitigungsklagen) und Schadensersatzklagen. Die Argumente, die dagegen vorgebracht werden," können - wie die Untersuchung von Michael Becker eindrucksvoll belegt 100 - nicht überzeugen. Es geht nicht darum, „daß das in der Sache unzuständige Organ - also der Aufsichtsrat in Geschäftsführungsfragen, der Vorstand in der Frage, wie der Aufsichtsrat seine Kontrollaufgabe wahrzunehmen hat - mit gerichtlicher Hilfe das Verhalten des anderen Organs festlegt." 101 Es ist vielmehr festzuhalten, daß es zur „Leitung gehört ..., daß der Vorstand rechtswidrigen Beschlüssen anderer Organe entgegentritt". Die „oberste Amtspflichts des Aufsichtsrats" ist „die Überwachung der Geschäftsführung, die sich auch in Beschlüssen niederschlagen kann". 1 0 2 „In dem Maße, in dem die Kompetenzen des Vorstands zunehmen" und die Verantwortung des Aufsichtsrat wächst, erhöht sich „das Interesse an einer befriedigenden Bewältigung von Beschlußfehlern". 103 Dabei ist „Bezugspunkt einer gerichtlichen Nachprüfung nicht das Beschlußergebnis und seine Zweckmäßigkeit, sondern die Vereinbarkeit" des Beschlusses „mit Gesetz, Satzung und untersatzungsmäßigen Rechtsnormen, wie etwa einer Geschäftsordnung" und damit die „Rechtmäßigkeitsaufsicht". 104 Erst die - angemessen auszugestaltenden 105 - Vornahme- und Abwehrklagen runden „den Rechtsschutz gegen fehlerhafte Beschlüsse" ab und führen damit zu einem „effektiven Rechtsschutz". 1 0 6

Kopp/Schenke, V w G O , § 113 Rdn. 55, § 114 Rdn. 36b, § 42 Rdn. 32. Siehe etwa Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 190ff., 193f. und § 108 Rdn.95. 100 Becker, Verwaltungskontrolle, S.485ff., 599ff., 649f. 101 Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 191. 102 Becker, Verwaltungskontrolle, S.495, 504. 103 Vgl. Becker, Verwaltungskontrolle, S.500. 104 Becker, Verwaltungskontrolle, S. 492,505,506,509, merkt auf S. 492 zutreffend an, daß ein Urteil, das feststellt, daß die Abberufung eines Vorstandsmitglieds unwirksam gewesen ist, Inzident den Aufsichtsratsbeschluß aufhebt oder seine Nichtigkeit feststellt, und verweist auf S. 507f. auf die Entlastungs- und die Berichterstattungsklage. 105 Siehe dazu insbesondere Becker, Verwaltungskontrolle, S.485ff., 598ff., 647ff., 701 ff. 106 Vgl. Becker, Verwaltungskontrolle, S.613, 649f. zur Folgenbeseitigung (mit zahlreichen 98

99

A. Ansatzpunkt

215

U n t e r dem Gesichtspunkt der Konsequenzen stellt sich im Gesellschaftsrecht ein ganz anderes Problem. Die Tragweite der gesellschaftsrechlichen Entscheidungsfehlerlehre hängt entscheidend davon ab, unter welchen Voraussetzungen welche rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) dazu führen, daß Schadensersatzansprüche gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder/Aufsichtsratsmitglieder ( § 9 3 A k t G / § § 116, 93 A k t G ) begründet sind. Diese Frage hat im Verwaltungsrecht angesichts des umfassenden Primärrechtsschutzes gegen Entscheidungen (Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungsund Unterlassungsklagen) und ihre Folgen (Fortsetzungsfeststellungs- und U n terlassungs-/Beseitigungsklagen) nicht dieselbe Bedeutung. Es k o m m t hinzu, daß im Hinblick auf den Sekundärrechtsschutz und insbesondere auf die Regelung des § 839 B G B sowie das ungeschriebene Staatshaftungsrecht ganz andere Fragen im Vordergrund stehen. Daher muß auch insoweit ein eigenständiger gesellschaftsrechtlicher Ansatz entwickelt werden. Dies soll aufgrund einer Folgenbetrachtung und in Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Auswirkungslehre (§§ 46 V w V f G , 214 Abs. 3 B a u G B ) und die zivilrechtlichen Grundsätze der Schadenszurechnung geschehen. Vor diesem Hintergrund sollen nun zunächst die beiden Grundfragen der gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre geklärt werden. E s sollen der abstrakte Verhaltensfehler (Überschreitung) als der einzige reine (inhaltliche) E r gebnisfehler typisiert und die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) typisiert und die davon erfaßten (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und strukturellen Vorgangsfehler bestimmt werden. E s soll zudem die Frage geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen welche rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) dazu führen, daß Schadensersatzansprüche gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder/ Aufsichtsratsmitglieder (§ 93 A k t G / § § 1 1 6 , 9 3 A k t G ) begründet sind. D i e Fehlerkategorien und die Fehlerfolgen erlauben es dann, die Tragweite der hier entwikkelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre zu bestimmen und im Lichte der U . S . amerikanischen Rechtsprechung noch einmal kritisch zu würdigen und damit auch abzusichern. I m Anschluß daran sollen der abstrakte Verhaltensfehler (Überschreitung) als der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler und die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) und damit die (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und die strukturellen Vorgangsfehler erster Stufe k o n kretisiert werden. Darin liegt die Ausformung des Konzepts der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre. Beispielen, S . 6 1 4 , und dem Hinweis, auf den daraus resultierenden Vollstreckungsdruck könne nicht verzichtet werden, S. 616).

216

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

2. Fehlerkategorien Das eine Grundproblem der gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre besteht darin, den abstrakten Verhaltensfehler (Überschreitung) als den einzigen reinen (inhaltlichen) Ergebnisfehler zu typisieren und die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) zu typisieren und die davon erfaßten (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und strukturellen Vorgangsfehler zu bestimmen.

a) Typisierung des abstrakten Verhaltensfehlers und der konkreten Verhaltensfehler Die Typisierung des abstrakten Verhaltensfehlers (Überschreitung) und der konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) fällt im Lichte der bisher gewonnenen Erkenntnisse leicht. Der abstrakte Verhaltensfehler als der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler zeichnet sich dadurch aus, daß das Ergebnis der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel der Entscheidungstenor) durch die Einschätzungs- bzw. Ermessensermächtigung (und damit durch die diese Einschätzungsprärogative bzw. diesen Ermessensspielraum einräumende Befugnisnorm) im Lichte des Unternehmenswohls, präzisiert durch die normierten und die bereits anerkannten gesetzlich abgeleiteten Vorgaben, aber auch durch die darüberhinaus als sachlogisch gesetzlich abzuleitenden Vorgaben in keinem Fall gedeckt ist. Die Grundlage der sachlogischen Vorgaben bilden insbesondere Erkenntnisse aus der Betriebswirtschaftslehre, dem U.S. amerikanischen Gesellschaftsrecht, den spektakulären Unternehmenskrisen und Unternehmensskandalen sowie der Diskussion um Corporate Governance Standards. Die konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) und die davon erfaßten (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und strukturellen Vorgangsfehler zeichnen sich dadurch aus, daß das Ergebnis der Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel der Entscheidungstenor) und/oder der zum Ergebnis (und damit in der Regel zum Entscheidungstenor) führende Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozeß (der Vorgang der Einschätzung bzw. Ermessensausübung) durch die Einschätzungsbzw. Ermessensermächtigung (und damit durch die diese Einschätzungsprärogative bzw. diesen Ermessensspielraum einräumende Befugnisnorm) im Lichte des Unternehmenswohls, präzisiert durch die normierten und die bereits anerkannten gesetzlich abgeleiteten Vorgaben, aber auch durch die darüberhinaus als sachlogisch gesetzlich abzuleitenden Vorgaben lediglich im konkreten Fall nicht gedeckt ist/sind, aber in einem anderen Fall hätte/hätten gedeckt sein können oder im konkreten Fall hätte/hätten gedeckt sein können. Die Grundlage der sachlogischen Vorgaben bilden insbesondere Erkenntnisse aus der Betriebswirtschafts-

217

A. Ansatzpunkt

lehre, dem U . S . amerikanischen Gesellschaftsrecht, den spektakulären U n t e r n e h menskrisen und Unternehmensskandalen, der Diskussion um C o r p o r a t e G o v e r nance Standards, der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung nach § 5 3 H G r G sowie der Entwicklung der Unternehmensberichterstattung und ihrer externen Prüfung in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. 1 0 7 Dabei ist zur Typisierung der konkreten Verhaltensfehler (Fallgruppen des Fehlgebrauchs) und der davon erfaßten (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler und strukturellen Vorgangsfehler folgendes anzumerken. Mit der ersten Alternative werden die (inhaltlichen) Ergebnisfehler erfaßt, die wegen der G r u n d - R e l a t i o n - mit auf diese (inhaltlichen) Ergebnisfehler b e z o genen inhaltlichen Vorgangsfehlern einhergehen (kongruente inhaltliche Vorgangsfehler), auch verursacht durch (induzierende unechte) strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe. Das sind damit die Fälle, in denen

im konkreten Fall fehlerhaft

Ergebnis

und

Vorgang

sind und nicht fehlerfrei hätten sein können. Mit der

zweiten Alternative werden zum einen die (echten) strukturellen Vorgangsfehler erster Stufe erfaßt, die nicht mit einem (inhaltlichen) Ergebnisfehler und nicht mit einem auf dieses Ergebnis bezogenen inhaltlichen Vorgangsfehler einhergehen. E s wird zum anderen das Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis als struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe erfaßt. Dies ergreift die inhaltlichen Vorgangsfehler, die mit einem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis einhergehen (reine inhaltliche Vorgangsfehler), auch verursacht durch (nicht-induzierende unechte) strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe. Es wird schließlich der Vorwand als struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe erfaßt. Das sind damit die Fälle, in dem

im konkreten Fall das Ergebnis fehlerfrei ist und der Vorgang zwar fehlerhaft aber fehlerfrei hätte sein können. b) Bestimmung der konkreten

ist,

Verhaltensfehler

D i e Bestimmung der konkreten Verhaltensfehler und damit der (inhaltlichen) E r gebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler sowie der strukturellen Vorgangsfehler liegt dagegen nicht auf der Hand. Auszugehen ist von den verwaltungsrechtlichen Fehlerkategorien.

107 D i e letzten beiden Erkenntnisquellen können nur im Rahmen der konkreten Verhaltensfehler von N u t z e n sein, weil sie insbesondere für die Frage relevant sind, welche Informationen es ermöglichen, die Unternehmensführung risiko-, problem- und zukunftsorientiert zu gestalten und zu überwachen, und damit ein Sachzusammenhang nur zu bestimmten strukturellen und (inhaltlichen) Ergebnisfehlern/inhaltlichen Vorgangsfehlern besteht, und zwar - in der T e r m i n o logie des Verwaltungsrechts - zu dem Abwägungsdefizit/dem Abwägungsüberhang/der U n vollständigkeit der Erkenntnisgrundlage und den von ihnen indizierten Gewichtungsfehlern (Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen).

218

aa)

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Abwägungsmangel

Mit Blick auf die (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler stellt sich die Frage, ob die gesellschaftsrechtlichen Fehlerkategorien den verwaltungsrechtlichen Fehlerkategorien (Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung, grundsätze,

Verkennung/Fehleinschätzung

der

Wertungs-

Abwägungsdisproportionalität/Abwägungsfehlgewichtung/Uber-

sehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses, Vorliegen unsachlicher Beweggründe) in ihrem Differenzierungsgrad nachgebildet werden sollen. Denn sie resultieren aus dem Problemschub, den die verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre durch die erforderliche Bestimmung des Sinn und Zwecks der Ermächtigung im Lichte des Sinn und Zwecks des Gesetzes und insbesondere durch die Einbeziehung verfassungsrechtlicher Wertungsgrundsätze erleidet. 1 0 8 Wie bereits dargelegt, können im Gesellschaftsrecht lediglich Probleme der Zweckpräzisierung, nicht aber Probleme der Zweckbestimmung auftreten. Daher kann es eine Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung/der Wertungsgrundsätze und damit eine Fehlinterpretation der Norm/der Wertungsgrundsätze im Sinne des verwaltungsrechtlichen Verständnisses im Gesellschaftsrecht nicht geben. Denkbar ist lediglich eine Fehlinterpretation des Zwecks der einer konkreten Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats zugrundeliegenden Befugnisnorm (Zweckverkehrung: Verfolgung eines anderen Zwecks als des Unternehmenswohls 1 0 9 ) oder eine Fehlinterpretation eines bei einer konkreten Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats zu berücksichtigenden Wertungsgrundsatzes im klassischen zivilrechtlichen Sinne. Die erste Alternative dürfte nur von geringer praktischer Relevanz sein. Die zweite Alternative ist nur von theoretischem Wert, weil sie bereits im Verwaltungsrecht in der Abwägungsdisproportionalität/der Abwägungsfehlgewichtung/dem Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses infolge einer Fehleinschätzung normierter, allgemein anerkannter oder verfassungsrechtlicher Wertungsgrundsätze aufgeht. Eine Differenzierung zwischen normierten und allgemein anerkannten Wertungsgrundsätzen einerseits und verfassungsrechtlichen Wertungsgrundsätzen andererseits macht im Gesellschaftsrecht zudem keinen Sinn. Das Verwaltungsrecht knüpft mit der Verkennung normierter und allgemein

anerkannter

Wertungsgrundsätze und der Abwägungsdisproportionalität an normierte und allgemein anerkannte Wertungsgrundsätze an. Die Verkennung verfassungsrechtlicher Wertungsgrundsätze und die Abwägungsfehlgewichtung sowie das Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses finden ihre Grundlage daVglAlexy J Z 1986, S.701, 702. Siehe zur Ermessensverkehrung als Verfolgung eines sachlich falschen Zwecks als eines Zwecks, der dem des ermächtigenden Gesetzes nicht entspricht, und insbesondere zur Verfolgung fiskalischer Interessen Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.52 („Polizeibefehl zu fiskalischen Zwecken"). 108

109

A. Ansatzpunkt

219

gegen insbesondere in den Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 1 1 0 E i n e solche Differenzierung k o m m t im Gesellschaftsrecht nicht in B e tracht. Eine Differenzierung zwischen Wertungsgrundsätzen wie dem Willkürverbot und dem G e b o t der Sachlichkeit einerseits und von der Rechtsordnung mißbilligten subjektiven Motiven, inneren Vorstellungen und Haltungen andererseits 1 1 1 ist im Gesellschaftsrecht auch wenig sinnvoll. Sie ist - wie gesehen - bereits im Verwaltungsrecht nicht überzeugend. Das Verbot, in der Abwägung sachbezogene (durch den Gesetzeszweck gedeckte) Gesichtspunkte außer acht zulassen oder sachfremde (nicht durch den Gesetzeszweck gedeckte) bzw. unsachliche (auf rechtlich nicht zu billigenden Beweggründen beruhende) Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ist Bestandteil des Gebotes gerechter Abwägung. Es führt nach hier vertretener Auffassung zu strukturellen Vorgangsfehlern erster Stufe. Das Verbot, unsachgemäße (durch den Gesetzeszweck nicht gerechtfertigte) oder unsachliche (auf rechtlich nicht zu billigenden Beweggründen beruhende) E r w ä gungen anzustellen, ist ebenfalls Bestandteil des G e b o t s gerechter Abwägung. E s führt nach hier vertretener Auffassung zu Gewichtungsfehlern. Das Verbot, bei unsachlichen Beweggründen eine Abwägung vorzunehmen, führt nach hier vertretener Auffassung zu einem strukturellen Vorgangsfehler zweiter Stufe (Mißverhältnis von Motivation und Begründung). Gerade in den im Lichte des Verbots unsachlicher Beweggründe neuralgischen Fallkonstellationen ( K o m p e n sationsleistungen für und N u t z u n g von Gesellschaftsressourcen durch Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder sowie Spenden) liegt typischerweise kein Vorwand, sondern eine Überschreitung oder ein Gewichtungsfehler vor, so daß sie sich besser (auch) über die Herausbildung dieser Fehlerkategorien erfassen lassen. In letzter Konsequenz geht es bei allen (inhaltlichen) Ergebnisfehlern/inhaltlichen Vorgangsfehlern um die Bewertung, die Gewichtung und den Ausgleich der relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (aller und nur dieser) im Lichte der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen). Vor diesem Hintergrund ist es im Gesellschaftsrecht völlig ausreichend, in Parallele zur Verkennung der Wertungsgrundsätze, zur Abwägungsdisproportionalität, zur Abwägungsfehlgewichtung und zum Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses im Verwaltungsrecht nur eine einzige Fehlerkategorie anzunehmen, den Abwägungsmangel. 1 1 2 D e r Abwägungsmangel soll auch den Fall erfassen, in dem die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht oder nicht vollständig zutrefSiehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.62 Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn.13, 15, 30, 41, 44; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.28f., 53. 112 Siehe - mit anderem Verständnis - zum Ermessensmangel Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 48. 110 111

220

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

fend bestimmt worden sind und deshalb die Bewertung, die Gewichtung und der Ausgleich der relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte im Lichte der objektiven Umstände und des Verbots unsachgemäßer Erwägungen nicht gerechtfertigt ist. 1 1 3 D e r Abwägungsmangel soll schließlich den Fall erfassen, in dem „eine engagierte Auseinandersetzung mit den jeweils anstehenden Leitungs- und U b e r w a chungsfragen" bzw. eine „ausführliche und ausgewogene E r ö r t e r u n g " , die „die Expertise der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder" ausschöpft, 1 1 4 nicht stattfindet. Das gleiche gilt für den Fall, in dem „Managemententscheidungen" nicht durch eine „systematische Ausschöpfung des Standes des zugänglichen Wissens analytisch ... vorbereitet" und insbesondere nicht „über eine Globalbegründung hinaus argumentativ gestützt' ' werden 1 1 5 . 1 1 6 In diesem Fall ist die Bewertung, die Gewichtung und der Ausgleich der relevanten tatsächlichen und rechtlichen G e sichtspunkte im Lichte ihres Rationalgehaltes nicht gerechtfertigt. 1 1 7 D i e E i n b e ziehung dieser Fallgruppe ist aus zwei Gründen geboten. Z u m einen entspricht es der ganz herrschenden Auffassung in der Management- und Betriebswirtschaftslehre, daß gut vorbereitete Problemlösungen im Durchschnitt erfolgsträchtiger sind als rein intuitive Entwicklungen von Entschlußideen. Sie setzen jedoch E i n sichten in die fraglichen Problemzusammenhänge und Analysen zur Entscheidungsfundierung voraus. 1 1 8 Z u m anderen führt allein die Verbesserung der Informationsströme nicht zu einer entscheidenden Verbesserung der Aufgabenwahrnehmung. E s k o m m t vor allem auf die sachgerechte N u t z u n g dieser O r d n u n g und damit auf die Informationsaufnahme, die Informationsverarbeitung und die Informationsumsetzung an. 1 1 9 Ein Abwägungsmangel liegt mithin vor, wenn die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen worden sind, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher E r w ä gungen) und/oder ihres Rationalgehaltes gerechtfertigt werden kann. 113 Die Frage, ob diese Konstellation im Verwaltungsrecht von den Gewichtungsfehlern erfaßt wird, ist nicht ganz klar; siehe etwa Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 12f., 35f., und Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn. 47, 62. Nach hier vertretener Auffassung ist das zwingend. Denn die Unvollständigkeit ist wie das Defizit ein struktureller Vorgangsfehler, der einen inhaltlichen Fehler verursachen kann und können muß. Dies kann nur ein Gewichtungsfehler sein, der den durch ein Abwägungsdefizit implizierten Gewichtungsfehlern (unsachgemäße Erwägungen) entspricht. 1 , 4 Ziff. II.4.1 des Berliner Kodex. 115 Von Werder zfbf Sonderheft 36/96, S.27, 53, 58. 116 Siehe dazu von Werder zfbf Sonderheft 36/96, S. 27, 51 ff. und DB 1995, S. 2177,2181 ff. sowie von Werder/Feld RIW 1996, S. 481,489, 490ff. und Ziff. II.3.2, II.4, III.4.2, III.4.3 des Berliner Kodex. 117 Von Werder zfbf Sonderheft 36/96, S.27, 53ff. 118 Von Werder zfbf Sonderheft 36/96, S.27, 52f. 119 Dreher, Corporate Governance, S.33, 56f. (siehe auch S.37f., 42f.).

A. Ansatzpunkt

bb)

221

Abwägungsunschlüssigkeit

Mit Blick auf die strukturellen Vorgangsfehler stellt sich zunächst die Frage, ob die gesellschaftsrechtlichen Fehlerkategorien den verwaltungsrechtlichen Fehlerkategorien der strukturellen Vorgangsfehler erster Stufe (Ausfall, Unterschreitung, Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage, Abwägungsdefizit, Abwägungsüberhang) in ihrem Differenzierungsgrad nachgebildet werden sollen. Nicht einmal in der verwaltungsrechtlichen Literatur wird sauber zwischen dem Ausfall und der Unterschreitung und zwischen der Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage und dem Abwägungsdefizit getrennt. 120 Es kommt erschwerend hinzu, daß der Ausfall (Nichtvornahme einer vorzunehmenden Abwägung), die Unterschreitung (Unterschätzen der Reichweite des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung), die Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage (unzutreffende oder unvollständige Ermittlung der relevanten Gesichtspunkte), das Abwägungsdefizit (Nichtberücksichtigung relevanter Gesichtspunkte) und der Abwägungsüberhang (Berücksichtigung nicht relevanter Gesichtspunkte) in letzter Konsequenz alle dazu führen, daß nicht gewürdigt wird, was gewürdigt werden muß. 121 Daher ist es im Gesellschaftsrecht völlig ausreichend, in Parallele zum Ausfall, zur Unterschreitung, zur Unvollständigkeit der Erkenntnisgrundlage, zum Abwägungsdefizit und zum Abwägungsüberhang nur eine einzige Fehlerkategorie anzunehmen, die Abwägungsunschlüssigkeit. 1 2 2 Eine Abwägungsunschlüssigkeit liegt vor, wenn die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht, nicht vollständig oder nicht ausschließlich gewürdigt werden oder zwar gewürdigt werden, aber zuvor nicht oder nicht vollständig zutreffend bestimmt worden sind (sachbezogene Gesichtspunkte nicht berücksichtigt; sachbezogene Gesichtspunkte zwar berücksichtigt, aber nicht zutreffend erkannt; sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigt).

cc)

Abwägungsmißorganisation

Des weiteren stellt sich die Frage, ob im Gesellschaftsrecht zusätzliche Fehlerkategorien gebildet werden müssen. Dies betrifft zunächst die strukturellen Vorgangsfehler erster Stufe. Denn im Verwaltungsrecht wird (auch) mit den strukturellen Vorgangsfehlern erster Stufe an die - nach Fehlergegenstand und Fehlerfolgen - strikte Trennung zwischen dem formellen Verwaltungsverfahrensrecht und dem materiellen Verwaltungsrecht angeknüpft, was dem Gesellschaftsrecht fremd ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob neben der Abwägungs-

120 Siehe dazu Alexy JZ 1986, S.701, 709, 711 f., 713 sowie S.712 und Kopp/Schenke, VwGO, §114 Rdn. 14 („Beide Varianten werden häufig gleichgesetzt") sowie Rdn. 12, 35. 121 Vgl. zu dieser Formulierung Alexy JZ 1986, S.701, 711. 122 Siehe - mit etwas anderem Verständnis - zur Ermessensunschlüssigkeit Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.53.

222

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

unschlüssigkeit im Gesellschaftsrecht weitere Fehlerkategorien anzuerkennen sind. Diese Frage ist zu bejahen. E s entspricht zwar der ganz herrschenden Meinung im Gesellschaftsrecht, daß die Geschäftsführung 1 2 3 des Vorstands ordnungsmäßig sein muß, während die unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands rechtmäßig, wirtschaftlich und zweckmäßig sein müssen. 1 2 4 Dementsprechend wird das Kriterium der Ordnungsmäßigkeit nicht auf die Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats bezogen, und zwar mit der Konsequenz, daß der A u f sichtsrat lediglich „ganz allgemein" die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung überwachen muß. 1 2 5 Dabei wird nicht übersehen, daß die mangelnde O r d nungsmäßigkeit eine der Ursachen ist, „die häufig zu unternehmerischen F e h l entscheidungen f ü h r e n . " 1 2 6 G e h t man einmal von der Definition der Ordnungsmäßigkeit in dem am 14. F e bruar 2 0 0 0 verabschiedeten I D W PS 720 (Fragenkatalog zur Prüfung der O r d nungsmäßigkeit der Geschäftsführung und der wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 53 H G r G ) aus, so geht es dabei u m die Zusammensetzung und Selbstorganisation des Vorstands und des Aufsichtsrats („Geschäftsführungsorganisation"), das Instrumentarium des Vorstands („Geschäftsführungsinstrumentarium") und das Zusammenwirken des Vorstands mit dem Aufsichtsrat sowie die Vorbereitung und Ü b e r w a c h u n g von grundlegenden Entscheidungen des Vorstands zur Geschäftspolitik („Geschäftsführungstätigkeit"). 1 2 7 Vor diesem Hintergrund ist der entscheidende Gesichtspunkt, daß die Zusammensetzung, die Selbstorganisation und die Instrumentarien einerseits und die Entscheidungsfindung und gerade auch die Entscheidungsfundierung andererseits nicht beziehungs- und zusammenhangslos nebeneinander stehen. Vielmehr haben die Entscheidungsfindung und vor allem die kognitive Basis der Entscheidung

(Entscheidungsgrundlagen/Entscheidungsfundierung)

organisatorische

Voraussetzungen (Entscheidungsorganisation). D i e Entscheidungsorganisation hat nachhaltigen Einfluß auf die Qualität der Entscheidungsfundierung und der Entscheidungsfindung 1 2 8 und damit in letzter Konsequenz auch auf die Qualität der Entscheidung. 1 2 9 M a n kann es auch etwas pointierter formulieren: J e k o m p e tenter das O r g a n zusammengesetzt ist, je effektiver es den Sachverstand seiner Mitglieder einsetzt und je effektiver seine informationellen Instrumentarien sind,

123 124 125 126 127 128

346. 129

346.

Siehe zur Problematik des Begriffs der Geschäftsführung nur Semler, Überwachung, S. 5ff. Siehe exemplarisch die Darstellung bei Semler, Überwachung, S. 108ff. Siehe dazu Semler, Überwachung, S. 107f. und Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 12. So ausdrücklich Semler, Überwachung, S. 108. Ziff. 16ff. des IDW PS 720. Vgl. dazu von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 489 und auch Kaiser DB 2005, S.345, 345, Vgl. dazu von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 493 und auch Kaiser DB 2005, S.345, 345,

A.

223

Ansatzpunkt

um so besser werden die Entscheidungsfundierung und die Entscheidungsfindung und damit in letzter Konsequenz auch seine Entscheidungen sein. Der beste Beleg für diese These ist der Umstand, daß die Berliner Bankgesellschaft und die Philipp Holzmann A G nach weit verbreiteter Ansicht gerade deshalb in Schwierigkeiten geraten sind, weil kein effizientes oder sogar gar kein Risikomanagementsystem vorhanden war. Es hätte die Informationen liefern können, auf deren Grundlage die risikobehafteten Entscheidungen nicht getroffen worden wären oder rechtzeitig Entscheidungen zur Risikosteuerung hätten getroffen werden können. 1 3 0 Ein weiteres Argument, aus diesem Befund Konsequenzen zu ziehen, folgt aus dem Verwaltungsrecht. Das formelle Verwaltungsverfahrensrecht soll gerade auch sicherstellen, daß die Entscheidung auf der Grundlage aller Informationen über die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte getroffen wird. Dies wird im Planungsrecht besonders deutlich. Das Planfeststellungsverfahren beginnt mit einem Verwaltungsakt (Eröffnung des Planfeststellungsverfahrens) und endet mit einem Verwaltungsakt

(Planfeststellungsbe-

schluß) und beinhaltet ein umfassendes formalisiertes Anhörungsverfahren, das (auch) sicherstellen soll, daß die Planfeststellungsbehörde alle entscheidungsrelevanten Informationen erhält. Das Planfeststellungsverfahren ist ein informationelles Instrumentarium im oben beschriebenen Sinne. Vor diesem Hintergrund ist im Gesellschaftsrecht unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Fehler erster Stufe neben der Abwägungsunschlüssigkeit eine weitere Fehlerkategorie anzuerkennen, die Abwägungsmißorganisation. 131 Es handelt sich um einen strukturellen Vorgangsfehler, weil er nicht den Inhalt des Ergebnisses oder der Begründung betrifft, sondern der Form des zum Ergebnis führenden Gedanken-, Willens- und Argumentationsprozesses anhaftet. E r ist ein struktureller Vorgangsfehler erster Stufe, weil er aufgrund seiner Eigenart mit einem Ergebnis einhergehen kann, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist. Das Bedürfnis dafür, diesen strukturellen Fehler anzuerkennen, folgt auch daraus, daß es gerade die strukturellen Vorgangsfehler sind, die zu einer Haftung für proper decisions that turn out badly führen können und sollen, deren Vermeidung vice versa aber auch sicherstellen kann und soll, daß nur für bad decisions gehaftet wird. 132 Sie gleichen den Umstand aus, daß im Rahmen der negativen 130 Siehe dazu einerseits L G Berlin A G 2002, S. 682, 682ff. und dazu Preußner/Zimmermann A G 2002, S. 657, 657ff. sowie andererseits Hansen A G 2002, S. R 162. 131 Vgl. dazu die Ansätze von Kiethe WM 2003, S. 861, 865 („... setzt die Feststellung, daß sich die Eingehung eines riskanten Kreditgeschäfts noch innerhalb der Grenzen des haftungsfreien unternehmerischen Ermessens bewegt, neben der Verantwortbarkeit des eingegangenen Risikos weiter voraus, daß der angestellten Risikoprognose ausreichende Informationen zugrundeliegen, die Organisationspflichten durch die Einrichtung und Überwachung eines ordnungsgemäßen Risikocontrollings bzw. -managements gewahrt sind.") und - ähnlich -von Witte/Hrubesch B B 2004, S. 725, 730f. 132 Siehe zu dieser Terminologie und diesem Konzept Eisenberg, business judgment rule,

224

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Kontrolle die K o n t r o l l k o m p e t e n z im H i n b l i c k auf das Ergebnis einer Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel im H i n b l i c k auf den Ten o r der Entscheidung) begrenzt ist. Sie sind nicht nur Ausdruck des Umstandes, daß im R a h m e n der negativen Kontrolle die Kontrolle der materiellen R e c h t m ä ßigkeit des Gesamtaktes auf den zum Ergebnis (und damit in der Regel z u m Tenor der Entscheidung) führenden Vorgang der Einschätzung bzw. Ermessensausübung erstreckt wird. Sie bringen auch die Konsequenzen am deutlichsten zum Ausdruck, weil sie selbst dann die Pflichtwidrigkeit der auf den zugehörigen E i n schätzungen bzw. Ermessensausübungen beruhenden Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G begründen, wenn sie mit einer Begründung und einem Entscheidungstenor einhergehen, die (inhaltlich) fehlerlos sind. D i e Rechtfertigung dafür liegt letztlich darin, daß die beschränkte gerichtliche Uberprüfbarkeit des Entscheidungstenors

(mit der

Konsequenz einer Haftung nur für bad decisions, nicht für proper decisions that turn out badly) durch eine gerichtliche Überprüfung des Entscheidungsprozesses (mit der K o n s e q u e n z einer Haftung für proper decisions that turn out badly) kompensiert und legitimiert wird. Vor diesem Hintergrund kann die Erkenntnis, daß die Entscheidungsorganisation die Qualität der Entscheidung nachhaltig beeinflußt, nicht folgenlos bleiben. Sie m u ß vielmehr dazu führen, daß die K o m p e n sation und Legitimation der beschränkten gerichtlichen Uberprüfbarkeit des Entscheidungstenors durch eine Verstärkung der gerichtlichen U b e r p r ü f u n g des Entscheidungsprozesses unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungsorganisation verstärkt wird. E i n e Abwägungsmißorganisation liegt vor, wenn im H i n b l i c k auf die Zusammensetzung, die Selbstorganisation und das Instrumentarium des O r g a n s , dem die Abwägung aufgegeben ist, die organisatorischen Voraussetzungen der A b w ä gung nicht gegeben sind. dd) Mißverhältnis

zwischen

Ergebnis

und

Vorgang

D i e Frage, o b im Gesellschaftsrecht zusätzliche Fehlerkategorien gebildet werden müssen, betrifft auch die strukturellen Vorgangsfehler zweiter Stufe. D e n n im Verwaltungsrecht werden die strukturellen Vorgangsfehler zweiter Stufe vor dem Hintergrund der einzelnen Abwägung (Einschätzungsprärogative bzw. E r messensspielraum) gebildet. 1 3 3 D a b e i wird durchaus anerkannt, daß sich die E r messensausübung in den Fällen, in denen ein Ermessensspielraum auf einer E r messensprärogative aufbaut, an dem Einschätzungsergebnis zu orientieren hat. 1 3 4

S.43ff. und Der Konzern 2004, S. 386,392 („Unterscheidung zwischen schlechten Entscheidungen und vernünftigen Entscheidungen mit schlechtem Ausgang"). 133

Alexy JZ 1986, S.701, 708, 712, 713.

So liegt etwa die Einstellung und Auswahl von Beamtenbewerbern im Ermessen, das sich aber an der Einschätzung der Eignung, Befähigung und Leistung der Bewerber zu orientieren hat 134

A.

Ansatzpunkt

225

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob neben dem Mißverhältnis von Motivation und Begründung (fehlerhafte Motivation bei fehlerfreier Begründung und fehlerfreiem Ergebnis/Vorwand) und dem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) im Gesellschaftsrecht weitere Fehlerkategorien anzuerkennen sind. Diese Frage ist zu bejahen. Denn das, was im Verwaltungsrecht mit der Ermessensausübung, die sich an einem Einschätzungsergebnis zu orientieren hat, eher die Ausnahme ist, ist im Gesellschaftsrecht in den hier interessierenden Fällen die Regel: D e m Vorstand und dem Aufsichtsrat stehen typischerweise eine ganze Reihe von Entscheidungsfreiräumen zu. Bei den typischen Managemententscheidungen des Vorstands erfordert die Analyse des Handlungsbedarfs die Einschätzung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten, die Evaluation der Änderung und Beibehaltung des bisherigen Zustandes und die Ermittlung der überlegenen Alternative. Die Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und die abschließende Auswahl eines Handlungsprogramms erfordert die Einschätzung von vernetzten Einflußfaktoren und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung sowie von Konsequenzen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht und Zielkonflikten, die Generierung und Evaluation der einzelnen infragekommenden Maßnahmen oder Maßnahmenbündel und die Ermittlung der überlegenden Maßnahme oder des überlegenen Maßnahmenbündels. Dem Aufsichtsrat stehen bei der Wahrnehmung der Uberwachungsaufgabe aufgrund des § 111 Abs. 1 A k t G im Rahmen seiner Analyse des Handlungsbedarfs unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis einer besseren Entscheidung dieselben Entscheidungsfreiräume wie dem Vorstand und im Rahmen seiner Bewertung von Handlungsprogrammen und abschließenden Auswahl eines Handlungsprogramms im Hinblick auf die Evaluation/Ausgestaltung bestimmter einzelner infragekommender Maßnahmen Entscheidungsfreiräume zu. Bei der Wahrnehmung der sonstigen Aufgaben sind ihm den Entscheidungsfreiräumen des Vorstands vergleichbare Entscheidungsfreiräume zuzubilligen. Der innere Zusammenhang zwischen Einschätzung, Evaluation und Auswahl liegt in den Fällen, in denen Einschätzungs-, Evaluations- und Auswahlfreiräume gegeben sind, auf der Hand: 1 3 5 Leidet die Einschätzung (etwa der Risiken einer Option) an einem (inhaltlichen) Ergebnisfehler (Abwägungsmangel), so leidet bei folgerichtigem Vorgehen - die nachfolgende Evaluation (dieser Option) an einem strukturellen Vorgangsfehler (Abwägungsunschlüssigkeit). Denn sachbezogene Gesichtspunkte werden zwar berücksichtigt, sind aber nicht zutreffend er-

(unechte Kopplung); siehe dazu Maurer, Verwaltungsrecht, §7 Rdn. 48 und zum Planungsermessen Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn. 34, 34b, 36b, 37, 37a. 135 Vgl. dazu von Werder/Feld R I W 1996, S.481, 493.

226

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

kannt worden (das Ausmaß der Risiken). Sie leidet dann auch - vorbehaltlich eines echten strukturellen Fehlers erster Stufe - an einem dadurch verursachten oder mitverursachten inhaltlichen Vorgangsfehler (Abwägungsmangel) und vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte B e gründung bei fehlerfreiem Ergebnis) - an einem dadurch verursachten (inhaltlichen) Ergebnisfehler (Abwägungsmangel). D e n n die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (die Chancen und Risiken dieser O p t i o n ) werden nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) und/oder ihres Rationalgehalts zu rechtfertigen ist. Dies setzt sich nun fort: D i e nachfolgende Auswahl (unter den O p t i o n e n ) leidet bei folgerichtigem Vorgehen - an einem strukturellen Vorgangsfehler ( A b w ä gungsunschlüssigkeit). D e n n sachbezogene Gesichtspunkte werden zwar berücksichtigt, sind aber nicht zutreffend erkannt worden (es wird ein fehlerhaftes Evaluationsergebnis gewürdigt). Sie leidet dann auch - vorbehaltlich eines echten strukturellen Fehlers erster Stufe - an einem dadurch verursachten oder mitverursachten inhaltlichen Vorgangsfehler (Abwägungsmangel) und - vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) - an einem dadurch verursachten (inhaltlichen) Ergebnisfehler (Abwägungsmangel). D e n n die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (etwa die Chancen und Risiken der O p t i o n e n im Verhältnis zueinander) werden nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) und/oder ihres Rationalgehaltes zu rechtfertigen ist. 1 3 6 D i e entscheidende K o n s e q u e n z lautet, daß die auf eine an einem (inhaltlichen) Ergebnisfehler (Überschreitung/Zweckverkehrung/Abwägungsmangel)

leiden-

de (erste) Abwägung folgende (zweite) Abwägung - bei folgerichtigem Vorgehen - an einem strukturellen Vorgangsfehler (Abwägungsunschlüssigkeit) leidet, weil das vorangegangene Abwägungsergebnis zwar berücksichtigt wird, aber nicht zutreffend erkannt worden ist. Infolgedessen liegt auch - vorbehaltlich eines echten strukturellen Fehlers erster Stufe - ein dadurch verursachter oder mitverursachter inhaltlicher Vorgangsfehler (Abwägungsmangel) und - vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei feh-

1 3 6 Betrifft dies die Analyse des Handlungsbedarfs, so liegt ein Auswahlergebnis (abschließende Entschließung darüber, welche O p t i o n dem Unternehmenswohl am besten dient, ist nicht zu rechtfertigen) vor, auf dessen Grundlage sich die Frage, o b die im Rahmen der Entwicklung und Bewertung von Handlungsprogrammen und der abschließenden Auswahl eines Handlungsprogramms bestehenden Ermessensspielräume (Ermessensprärogativen, Evaluationsermessensspielräume und Auswahlermessensspielraum) pflichtgemäß im Sinne des § 9 3 A k t G wahrgen o m m e n worden sind, nicht mehr stellt. D i e Anmaßung ist nach hier vertretener Auffassung kein rechtlich relevanter Einschätzungs-/Ermessensfehler; siehe dazu S. 191 F n . 4 0 .

A.

Ansatzpunkt

227

lerfreiem Ergebnis) - ein dadurch verursachter (inhaltlicher) Ergebnisfehler (Abwägungsmangel) vor. Da in diesem Fall (auch) diese (zweite) Abwägung an einem (inhaltlichen) Ergebnisfehler (Abwägungsmangel) leidet, gilt dasselbe - unter den genannten Voraussetzungen - für die dieser Abwägung nachfolgende (dritte) A b wägung. Vor diesem Hintergrund ist ein weiterer struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe anzuerkennen, der an das aufeinander aufbauende Verhältnis einander nachfolgender Abwägungen anknüpft: Bei folgerichtigem Vorgehen geht das fehlerhafte Ergebnis der vorangegangenen Abwägung in den Vorgang der nachfolgenden Abwägung ein und führt zu einer Abwägungsunschlüssigkeit und - vorbehaltlich eines echten strukturellen Fehlers erster Stufe - zu einem dadurch verursachten oder mitverursachten Abwägungsmangel als inhaltlichem Vorgangsfehler und - vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) - zu einem Abwägungsmangel als einem dadurch verursachten (inhaltlichen) Ergebnisfehler. Wenn trotz des fehlerhaften Ergebnisses der vorangegangenen Abwägung der Vorgang der nachfolgenden Abwägung strukturell fehlerfrei ist (keine Abwägungsunschlüssigkeit), so liegt ein struktureller Vorgangsfehler zweiter Stufe vor, der dem Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis) ähnelt: Ein übergreifendes Mißverhältnis von Ergebnis und Vorgang (fehlerfreie Begründung bei vorangegangenem fehlerhaftem Ergebnis). Es zeichnet sich dadurch aus, daß es per definitionem mit einem nachfolgendem strukturell fehlerfreien Vorgang und damit - vorbehaltlich etwaiger (inhaltlicher) Ergebnisfehler - auch mit einem nachfolgenden Ergebnis einhergeht, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist.

ee) Ergebnis Nach alledem sind - neben dem abstrakten Verhaltensfehler (Überschreitung) als dem einzigen reinen (inhaltlichen) Ergebnisfehler - als konkrete Verhaltensfehler zwei (inhaltliche) Ergebnisfehler/inhaltliche Vorgangsfehler, - die Zweckverkehrung - der Zweck der einer konkreten Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats zugrundeliegenden Befugnisnorm wird fehlinterpretiert (Verfolgung eines anderen Zwecks als des Unternehmenswohls), und - der Abwägungsmangel - die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) werden nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) und/oder ihres Rationalgehaltes gerechtfertigt werden kann, zwei strukturelle Vorgangsfehler erster Stufe, - die Abwägungsmißorganisation - im Hinblick auf die Zusammensetzung, die Selbstorganisation und das Instrumentarium des Organs, dem die Abwägung

228

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

aufgegeben ist, sind die organisatorischen Voraussetzungen der Abwägung nicht gegeben, und - die Abwägungsunschlüssigkeit - die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte werden nicht, nicht vollständig oder nicht ausschließlich gewürdigt oder werden zwar gewürdigt, sind aber zuvor nicht oder nicht vollständig zutreffend bestimmt worden (sachbezogene Gesichtspunkte nicht berücksichtigt; sachbezogene Gesichtspunkte zwar berücksichtigt, aber nicht zutreffend erkannt; sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigt), und drei strukturelle Vorgangsfehler zweiter Stufe, - das Mißverhältnis von Motivation und Begründung (fehlerhafte Motivation bei fehlerfreier Begründung und fehlerfreiem Ergebnis/Vorwand), - das Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis (fehlerhafte Begründung bei fehlerfreiem Ergebnis), und - das Mißverhältnis von Ergebnis und Vorgang (fehlerfreie Begründung bei vorangegangenem fehlerhaftem Ergebnis) und damit insgesamt acht Fehlerkategorien anzuerkennen. 3. Fehlerfolgen Das zweite Grundproblem der gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre besteht darin, die Voraussetzungen zu klären, unter denen welche rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) dazu führen, daß Schadensersatzansprüche gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder/Aufsichtsratsmitglieder (§93 A k t G / § § 1 1 6 , 93 A k t G ) begründet sind. Im Lichte der Folgenbetrachtung verkürzt die übliche Formulierung, es komme darauf an, ob der fragliche Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 A k t G eingetreten wäre, 1 3 7 das Problem. 1 3 8 Die aufgeworfene Frage wirft nämlich eine ganze Reihe von Problemen auf. Der Grund dafür ist, daß (i) der Zusammenhang zwischen dem/den rechtlich relevanten Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler(n) und der auf der/den zugehörigen Einschätzung(en) bzw. Ermessensausübung(en) beruhenden Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats und (ii) der Zusammenhang zwischen der auf der/den zugehörigen Einschätzung(en) bzw. Ermessensausübung(en) beruhenden Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats und dem fraglichen Schaden zu berücksichtigen ist. Auf dieser Grundlage lassen sich drei verschiedene Einwände des Vorstands/Auf sichtsrats gegen die Haftung ableiten, die mit ganz unterschiedlichen Problemen behaftet sind.

137 138

Siehe nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 101, 106 und §116 Rdn.60. Siehe dazu in Ansätzen auch Roth, Ermessen, S. 137, 137f.

A. a)

Ansatzpunkt

229

Fehlerkausalität

Aus dem Zusammenhang zwischen dem/den rechtlich relevanten Einschätzungsbzw. Ermessensfehler(n) und der auf der/den zugehörigen Einschätzung(en) bzw. Ermessensausübung(en) beruhenden Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats kann der Einwand abgeleitet werden, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gek o m m e n wäre. aa)

Voraussetzungen

D a b e i stellt sich zunächst die Frage, auf welche rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) dieser Einwand gestützt werden kann. D i e A n t w o r t lautet, daß er nur bei den strukturellen Vorgangsfehlern in Betracht k o m m t , die mit einem Entscheidungstenor einhergehen, der als solches (inhaltlich) fehlerlos ist. 1 3 9 D e r (inhaltliche) Ergebnisfehler (Überschreitung) und die (inhaltlichen) E r gebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler (Zweckverkehrung und Abwägungsmangel) zeichnen sich per definitionem dadurch aus, daß das Ergebnis seinem I n halt nach gegen geltendes R e c h t verstößt bzw. daß die Vorgangsfehler - vorbehaltlich eines strukturellen Fehlers zweiter Stufe (Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis) - den Charakter von Ergebnisfehlern annehmen. In diesen Fällen verstößt - vorbehaltlich bestimmter weiterer echter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe (Abwägungsunschlüssigkeit) und zweiter Stufe (Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis; übergreifendes Mißverhältnis von Ergebnis und Vorgang) - auch der Entscheidungstenor seinem Inhalt nach gegen geltendes R e c h t . 1 4 0 D a n n ist es völlig ausgeschlossen, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre. Dies wird an dem zentralen (inhaltlichen) Ergebnisfehler/inhaltlichen Vorgangsfehler, dem Abwägungsmangel, besonders deutlich: Sind die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) in der

Abwägung

nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen worden, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) und/oder ihres Rationalgehaltes gerechtfertigt werden kann (inhaltlicher Vorgangsfehler), so ist - vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis - notwendig das Ergebnis dieser Abwägung 139 Siehe dazu in Ansätzen auch Roth, Ermessen, S. 137,137f., der zwischen „inhaltlich fehlerhaften Entscheidungen" und „bloßen Verfahrensfehlern" unterscheidet. 140 Vgl. Alexy JZ 1986, S.701, 711, 712, 713, 714.

230

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

(inhaltlich) fehlerhaft. Sind die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte (alle und nur diese) im Ergebnis nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen worden, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze (des Verbots unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen) und/ oder ihres Rationalgehaltes gerechtfertigt werden kann (inhaltlicher Ergebnisfehler), so ist das Ergebnis dieser Abwägung (inhaltlich) fehlerhaft. In beiden Fällen sind dann - vorbehaltlich eines übergreifenden Mißverhältnisses von Ergebnis und Vorgang - notwendig der Vorgang der nachfolgenden Abwägung strukturell fehlerhaft und - vorbehaltlich einer echten strukturellen Fehlers erster Stufe notwendig der Vorgang der nachfolgenden Abwägung inhaltlich fehlerhaft und vorbehaltlich eines Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis - notwendig das Ergebnis der nachfolgenden Abwägung (inhaltlich) fehlerhaft. Infolgedessen ist unter den genannten Voraussetzungen - auch das Ergebnis jeder gegebenenfalls weiter nachfolgenden Abwägung und damit in letzter Konsequenz der Entscheidungstenor (inhaltlich) fehlerhaft. 141 Ganz anders sieht es im Hinblick auf die strukturellen Vorgangsfehler aus. Sie zeichnen sich zum Teil dadurch aus, daß sie bereits per definitionem mit einem Ergebnis einhergehen, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist (Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis und Mißverhältnis von Motivation und Begründung). Zum Teil ziehen sie zumindest per definitionem einen nachfolgenden strukturell fehlerfreien Vorgang nach sich und damit - vorbehaltlich etwaiger (inhaltlicher) Ergebnisfehler - ein nachfolgendes Ergebnis, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist (übergreifendes Mißverhältnis von Ergebnis und Vorgang). Die übrigen können zumindest aufgrund ihrer Eigenart mit einem Ergebnis einhergehen, das ein mögliches Ergebnis eines fehlerfreien Vorgangs ist (Abwägungsunschlüssigkeit und Abwägungsmißorganisation). Dies wird etwa an der Abwägungsunschlüssigkeit deutlich: Es kann ein (inhaltlich) fehlerfreies Ergebnis mit einer inhaltlich fehlerfreien Begründung getroffen werden, auch wenn die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht, nicht vollständig oder nicht ausschließlich gewürdigt worden sind oder zwar gewürdigt worden sind, aber zuvor nicht oder nicht vollständig zutreffend bestimmt worden waren (sachbezogene Gesichtspunkte nicht berücksichtigt; sachbezogene Gesichtspunkte zwar berücksichtigt, aber nicht zutreffend erkannt; sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigt). 142 Wenn dies der Fall ist (und damit ein echter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe gegeben ist), verstoßen das Ergebnis dieser Abwägung und - vorbehaltlich etwaiger nachfolgender (inhaltlicher) Ergebnisfehler/inhaltlicher Vorgangsfehler und unechter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe - notwendig das Ergebnis jeder gegebenenfalls nachfolgenden Abwägung und damit in letzter Konsequenz der Entscheidungstenor 141 142

V%\.Alexy]Z 1986, S.701, 712, 713. Vgl. Alexy J Z 1986, S.701, 708, 709, 711 f., 712.

A.

Ansatzpunkt

231

nicht dem Inhalt nach gegen geltendes Recht. Die unabweisbare Konsequenz lautet, daß es dann auch nicht von vornherein ausgeschlossen ist, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre. bb)

Reichweite

Des weiteren stellt sich die Frage, wie die Anforderungen an den Einwand zu bestimmen sind, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre. 143 Man kann den Einwand eng fassen und den Nachweis verlangen, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Auf sichtsrats im Sinne des §93 AktG/ der §§116, 93 AktG sicher zu demselben/unmöglich zu einem anderen Entscheidungstenor (und damit auch sicher zu demselben/unmöglich zu keinem oder einem anderen Schaden) gekommen wäre. Denkbar ist jedoch auch, ihn weit zu fassen und lediglich den Nachweis zu verlangen, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Auf sichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG möglicherweise zu demselben/nicht zwingend zu einem anderen Entscheidungstenor (und damit auch möglicherweise zu demselben/nicht zwingend zu keinem oder einem anderen Schaden) gekommen wäre. 144 Da der Einwand nur in Betracht kommt, wenn ein struktureller Vorgangsfehler vorliegt, der mit einem Entscheidungstenor einhergeht, der als solches (inhaltlich) fehlerlos ist, ist der Nachweis nur im zweiten Fall bereits damit erbracht, daß diese Umstände dargelegt und bewiesen werden. Dann steht nämlich fest, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/des Auf sichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zwar nicht sicher, wohl aber möglicherweise zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch möglicherweise zu demselben Schaden) gekommen wäre. Die entscheidende Frage lautet mithin, ob mehr darzulegen und zu beweisen ist: Ist nachzuweisen, daß ein struktureller Vorgangsfehler nicht nur keinen (inhaltlich) fehlerhaften Entscheidungstenor, sondern auch den konkreten Entscheidungstenor nicht verursacht oder mitverursacht hat? An dieser Stelle ist wiederum ein Blick in das Verwaltungsrecht lehrreich. Denn die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, dem zumindest eine Einschätzungsprärogative und/oder ein Ermessensspielraum zugrundeliegt, kann unter bestimmten Voraussetzungen nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter eiDiese Frage w i r d immerhin von Roth, Ermessen, S. 134, gestreift. Diese Frage w i r d von Roth, Ermessen, S. 137, 137f. gesehen und dahin beantwortet, der Vorstand könne sich nicht pauschal darauf berufen, daß seine Entscheidung sachlich vom unternehmerischen Ermessen gedeckt sei und er die Entscheidung auch unter Beachtung aller zu Rate zu ziehenden Informationen so und nicht anders getroffen hätte, u n d es k o m m e darauf an, ob das Gericht nach seinem eigenen Ermessen eine zumindest ähnliche Entscheidung getroffen hätte. 143

144

232

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

nem rechtlich relevanten Verfahrens- oder Vorgangsfehler („Mängel der Sachverhaltsfeststellung, des Verfahrens, der Abwägung und Wertung" 145 ) 146 zustandegekommen ist. Dies ist der Fall, wenn der rechtlich relevante Verfahrensfehler nach §46 VwVfG (oder nach entsprechenden Vorschriften) „offensichtlich ... die Entscheidung in der Sache nicht beeinflußt hat." Dasselbe gilt, wenn sich der rechtlich relevante Vorgangsfehler seiner Art nach oder aus anderen Gründen (etwa im Fall einer Reduktion auf Null) oder nach dem in §46 VwVfG zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsatz (oder nach entsprechenden Vorschriften) nicht auf den Verwaltungsakt auswirken konnte bzw. nicht ausgewirkt hat. 147 §46 VwVfG lautet: „Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustandegekommen ist, wenn offensichtlich ist, daß die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflußt hat." In §214 Abs. 3 Satz 2 BauGB heißt es: „Mängel im Abwägungsvorgang sind nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluß gewesen sind." §46 VwVfG geht grundsätzlich davon aus, daß der rechtlich relevante Verfahrensfehler „die Entscheidung in der Sache ... beeinflußt hat." 148 Deshalb entfällt der Beseitigungsanspruch nur dann, wenn es angesichts der besonderen Umstände des Falles ausgeschlossen ist, daß die Verwaltung bei fehlerfreiem Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. 149 §46 VwVfG erfaßt zwar keine 145

Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn.31a. In der verwaltungsrechtlichen Literatur wird keine Eingrenzung der Vorgangsfehler auf die strukturellen Vorgangsfehler vorgenommen; siehe dazu nur Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.62 und Kopp/Schenke, V w G O , §114 Rdn.6a, 18, 31a, §113 Rdn.58. Es wird zwar durchaus erkannt, daß die zentralen strukturellen Vorgangsfehler (Ausfall/Unterschreitung, Unvollständigkeit/Abwägungsdefizit) das Abwägungsergebnis beeinflußt haben können und daß die Gewichtungsfehler (Verkennung/Fehleinschätzung der Wertungsgrundsätze, Abwägungsdisproportionalität, Abwägungsfehlgewichtung, Ubersehen des einzig richtigen Abwägungsergebnisses) - vorbehaltlich eines etwaigen Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis - stets von Einfluß auf das Abwägungsergebnis sind. Daraus wird aber nicht die Konsequenz gezogen, daß bei den Gewichtungsfehlern - vorbehaltlich eines etwaigen Mißverhältnisses von Vorgang und Ergebnis - notwendig auch ein (inhaltlicher) Ergebnisfehler gegeben ist und sich deshalb die Frage stellt, ob die §§46 VwVfG, 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB in diesen Fällen von vornherein nicht anwendbar sind, weil sich die Frage nach der Auswirkung gar nicht stellt. 146

147 Kopp/Schenke, V w G O , § 113 Rdn. 55ff., § 114 Rdn. la, 6a, 18, 31a. Zur Unbeachtlichkeit aufgrund einer nachträglichen Heilung im weiteren Verlauf des Verfahrens nach §45 VwVfG oder durch eine Widerspruchsentscheidung nach den §§ 73 Abs. 1 Satz 1, 79 Abs. 1 Nr. 1 V w G O siehe Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 6a, §113 Rdn. 59, 60ff., aufgrund eines Nachschiebens von Gründen siehe Kopp/Schenke, V w G O , § 113 Rdn. 62ff., aufgrund einer Umdeutung des Verwaltungsaktes gemäß § 47 VwVfG siehe Kopp/Schenke, V w G O , § 113 Rdn. 79 (und insbesondere zu § 114 Satz 2 V w G O siehe Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 49ff.). 148 Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 6a. 149 Vgl. Kopp/Schenke, V w G O , § 113 Rdn. 56 („Der Begriff der Offensichtlichkeit verlangt, daß die fehlende Kausalität klar erkennbar ist, gleichsam ,ins Auge springt' und für die fehlende Kausalität tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlt es am Vorliegen einer offensichtlich feh-

A.

Ansatzpunkt

233

Verstöße gegen materielles Recht, aber wenn sich ein rechtlich relevanter Vorgangsfehler nicht auf den Verwaltungsakt auswirken konnte bzw. nicht ausgewirkt hat, kann sich aus dem G r a n d s a t z „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est" ein Ausschluß des Beseitigungsanspruchs ergeben. 1 5 0 In diesem Fall wird ebenfalls grundsätzlich davon ausgegangen, daß sich der rechtlich relevante Vorgangsfehler auf den Verwaltungsakt ausgewirkt hat. 151 D a h e r entfällt der Beseitigungsanspruch wiederum nur dann, wenn es angesichts der besonderen U m s t ä n de des Falles ausgeschlossen ist, daß die Verwaltung bei fehlerfreiem Vorgang zu einem anderen Ergebnis hätte k o m m e n können. 1 5 2 Dies ist etwa der Fall, wenn sie ihre Entscheidung auf mehrere Ermessenserwägungen gestützt hat, von denen einzelne fehlerhaft sind, aber zum Ausdruck gebracht hat, daß bereits jede einzelne der Ermessenserwägungen sie dazu veranlaßt hat, so zu entscheiden, und damit jede einzelne der Ermessenserwägungen bereits allein tragend gewesen ist. 1 5 3 Diese Frage wird im Planungsrecht ( § § 2 1 4 Abs. 3 Satz 2 B a u G B , 75 Abs. l a Satz 1 V w V f G ) im Ergebnis ähnlich gesehen. Wenn sich ein rechtlich relevanter Vorgangsfehler nicht auf das Ergebnis auswirken konnte bzw. nicht ausgewirkt hat, kann die Nichtigkeitsfeststellung ausgeschlossen sein. D a b e i wird zwar grundsätzlich davon ausgegangen, daß sich der rechtlich relevante Vorgangsfehler nicht auf das Ergebnis ausgewirkt hat („gesetzliche Vermutung der Unerheblichkeit"), 1 5 4 aber von der Rechtsprechung eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen: D e r Begriff der Offensichtlichkeit wird ebenso extensiv („äußerlich erkennbar") verstanden wie der Begriff der Einflußnahme („möglicher E i n fluß"). Dies hat zur Folge, daß die Nichtigkeitsfeststellung bereits dann eröffnet ist, wenn lediglich die konkrete Möglichkeit nachgewiesen werden kann, daß die lenden Kausalität, bestehen diesbezüglich insbesondere nur Zweifel, wird der Anspruch auf Beseitigung des Verwaltungsaktes durch §46 VwVfG jedoch nicht eingeschränkt.") und §114 Rdn. 6a, 18, 31a. 150 Kopp/Schenke, VwGO, §113 Rdn. 58. 151 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 6a. 152 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 18 (siehe auch § 114 Fn. 15 - „Das Übersehen eines richtigen Lösungsansatzes bei einer Prüfung ist unerheblich, wenn eine Nachkorrektur für die Prüfungsbewertung insgesamt zu keinem anderen Ergebnis führt." - und § 114 Fn. 123 - „Es genügt bei einer Prüfung, daß die Prüfer bei einer nochmaligen Beurteilung im Ergebnis zur gleichen Bewertung kommen." - sowie § 113 Rdn. 58 - Aufhebung, wenn „nicht auszuschließen ist", daß der Verwaltungsakt nicht erlassen worden wäre). 153 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 6a. 154 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 6a, 36b (Auch diese Normen betreffen nicht „die Frage der Rechtmäßigkeit des Planungsakts, sondern nur die Fehlerfolgen des Rechtswidrigkeit", so „daß, soweit eine verfassungskonforme Interpretation noch Differenzierungen zwischen den Fällen,offensichtlicher Abwägungsmängel' und ,einfacher Abwägungsmängel' zuläßt,... jedenfalls bei berechtigtem Interesse eine Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Planfestellungsbeschlusses nicht a limine ausgeschlossen ist. Soweit offensichtliche Mängel bei der Abwägung in einem Planfeststellungsbeschluß feststellbar sind, die aber auf dessen Ergebnis keinen Einfluß haben, muß auf jeden Fall bei berechtigtem Interesse eine Klage auf Festellung der Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses analog § 113 Abs. 1 Satz 4 zulässig sein, was insbesondere bei Wiederholungsgefahr bedeutsam werden kann."; siehe dazu auch §42 Rdn. 32).

234

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Verwaltung bei fehlerfreiem Vorgang zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. So formuliert das Bundesverwaltungsgericht: „Zieht man in Betracht, daß die Planungsmotive und Planungsvorstellungen der einzelnen Ratsmitglieder sich ohnehin einer verläßlichen Aufklärung entziehen ..., so wird der Sinn des Begriffs eines offensichtlichen Mangels im Abwägungsvorgang deutlich: Unverändert bleibt alles das beachtlich, was zur äußeren Seite des Abwägungsvorgangs derart gehört, daß es auf objektiv erfaßbaren Sachumständen beruht. Fehler und Irrtümer, die z.B. die Zusammenstellung und Aufbereitung des Materials, die Erkenntnis und die Einstellung aller Belange in die Abwägung oder die Gewichtung der Belange betreffen und die sich etwa aus Akten, Protokollen ... ergeben, sind offensichtlich ... Was dagegen zur inneren Seite des Abwägungsvorgangs gehört, was also die Motive, die etwa fehlenden oder irrigen Vorstellungen der an der Abstimmung beteiligten Mitglieder des Planungsträgers betrifft, gehört ... zu den nicht offensichtlichen Mängeln... Würde man den positiven Nachweis verlangen, daß gerade wegen eines Fehlers so und nicht anders geplant worden ist, so ließe sich kaum ein Fall feststellen, in dem der offensichtliche Abwägungsmangel auf das Abwägungsergebnis von Einfluß gewesen ist. Im Ergebnis würden dann Mängel im AbwägungsVorgang kaum jemals erheblich sein... Eine auf den Zweck der Vorschrift ausgerichtete Interpretation führt deshalb zu dem Ergebnis, daß ein Mangel im Abwägungsvorgang schon dann auf das Abwägungsergebnis von Einfluß gewesen ist, wenn die Möglichkeit besteht, daß ohne den Mangel anders geplant worden wäre ... Eine solche konkrete Möglichkeit besteht immer dann, wenn sich anhand der Planungsunterlagen oder sonst erkennbarer oder naheliegender Umstände die Möglichkeit abzeichnet, daß der Mangel im Abwägungsvorgang von Einfluß auf das Abwägungsergebnis gewesen sein kann .,." 1 5 5 Vor diesem Hintergrund läßt sich die entscheidende Frage konkretisieren: Muß nachgewiesen werden, daß ein struktureller Vorgangsfehler nicht nur keinen (inhaltlich) fehlerhaften Entscheidungstenor, sondern auch den konkreten Entscheidungstenor nicht verursacht oder mitverursacht hat und sich damit im Sinne des Verwaltungsrechts auf den Entscheidungstenor nicht auswirken konnte bzw. ausgewirkt hat bzw. ohne Einfluß auf den Entscheidungstenor gewesen ist ? Dann ginge der Einwand bereits dann fehl, wenn es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 AktG möglicherweise zu einem anderen/nicht zwingend zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch möglicherweise zu keinem oder einem anderen/nicht zwingend zu demselben Schaden) gekommen wäre.156 155 BVerwG BVerwGE 64, S.33, 38ff.; siehe dazu Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn.6a („daß die Möglichkeit einer anderen Entscheidung in concreto positiv nachzuweisen ist") und §42 Rdn. 32 („wenn nach den Umständen des Einzelfalls die konkrete Möglichkeit eines solchen Einflusses bestand"). 156 Und nicht erst dann, wenn es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats

A.

Ansatzpunkt

235

Im Gesellschaftsrecht besteht - entsprechend der Lage im Verwaltungsrecht ein Bedürfnis dafür, den Einwand, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre, zu begrenzen. Angesichts der beschränkten gerichtlichen Uberprüfbarkeit von Entscheidungen, bei denen dem Vorstand/Aufsichtsrat zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, ist es geboten, die übrigen - neben der Pflichtwidrigkeit des Vorstands im Sinne des §93 AktG/des Aufsichtsrats im Sinne der §§116, 93 AktG - bestehenden Haftungsvoraussetzungen eng zu fassen. Darin liegt ein gewisser Ausgleich für die negative Kontrolle dieser Entscheidungen, oder anders gewendet, für die fehlende Möglichkeit einer positiven Kontrolle dieser Entscheidungen. Man kann es auch etwas pointierter formulieren: Wenn die Entscheidung nur beschränkt gerichtlich kontrollierbar ist, dann dürfen im Wege der Interpretation der weiteren Haftungsvoraussetzungen nicht noch zusätzliche Haftungsfreiräume für Vorstände und Aufsichtsräte eröffnet werden. Dem entspricht im Ergebnis die vorherrschende Ansicht im Gesellschaftsrecht: Die bloße Möglichkeit, das der fragliche Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG eingetreten wäre, soll die Vorstände/Aufsichtsräte nicht entlasten können. 157 Das pflichtwidrige Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG soll in aller Regel die Annahme begründen, daß die pflichtwidrig handelnden Vorstandsmitglieder/Aufsichtsratsmitglieder schuldhaft gehandelt haben. 158 Eine solche Interpretation macht die negative Kontrolle der Entscheidungen, bei denen dem Vorstand/Aufsichtsrat zumindest ein Entscheidungsfreiraum zusteht, im Ergebnis effizienter. Vorstände/Auf sichtsräte werden mangels zusätzlicher Haftungsfreiräume nachhaltig zur Vermeidung der rechtlich relevanten Einschätzungsfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) und rechtlich relevanten Ermessensfehler (Ergebnis- und Vorgangsfehler) angehalten. Das Wesen der negativen Kontrolle spricht ebenfalls dafür, den Einwand, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116,93 AktG zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre, eng zu fassen. Die strukturellen Vorgangsfehler, die mit einem Entscheidungstenor einhergehen können, der als solches (inhaltlich) fehlerlos ist, verkörpern den Ansatz der Vorgangskontrolle am deutlichsten: Sie und nur sie sind die spezifischen Einschätzungs- bzw. Ermessensfehler, im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG sicher zu einem anderen/unmöglich zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch sicher zu keinem oder einem anderen/unmöglich zu demselben Schaden) gekommen wäre. 157 Siehe nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn.23 („hypothetische Schadensverursachung durch rechtmäßiges Alternativverhalten") und § 116 Rdn.60. 158 Siehe nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn.7, 98f., lOlf. und §116 Rdn.7, 57.

236

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

und (auch) sie begründen die Pflichtwidrigkeit der auf den zugehörigen Einschätzungen bzw. Ermessensausübungen beruhenden Entscheidungen des Vorstands/ Aufsichtsrats im Sinne des § 93 AktG/der §§116 AktG. Diese Wertung würde geradezu konterkariert, wenn diese Entscheidungen dann nicht auch in der Regel zum Schadensersatz führen würden. Das wäre der Fall, wenn man den Einwand, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch zu demselben Schaden) gekommen wäre, bereits dann zuließe, wenn dargelegt und bewiesen wird, daß ein struktureller Vorgangsfehler vorliegt, der mit einem Entscheidungstenor einhergeht, der als solches (inhaltlich) fehlerlos ist. b)

Entscheidungskausalität

Schlägt der Einwand fehl, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/ Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG sicher zu demselben Entscheidungstenor (und damit auch sicher zu demselben Schaden) gekommen wäre, weil ein struktureller Vorgangsfehler zwar keinen (inhaltlich) fehlerhaften Entscheidungstenor, wohl aber den konkreten Entscheidungstenor verursacht oder mitverursacht hat, oder kommt dieser Einwand nicht in Betracht, weil kein struktureller Vorgangsfehler vorliegt, der mit einem Entscheidungstenor einhergeht, der als solches (inhaltlich) fehlerlos ist, stellt sich die Frage nach weiteren Einwänden. Aus dem Zusammenhang zwischen der auf der/den zugehörigen Einschätzung(en)/Ermessensausübung(en) beruhenden Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats und dem fraglichen Schaden können zwei Einwände abgeleitet werden. Der erste Einwand lautet, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/ Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zwar nicht sicher zu demselben Entscheidungstenor (und damit zu der pflichtwidrigen Entscheidung im Sinne des § 93 AktG/der §§116,93 AktG) gekommen wäre, aber ein vergleichbarer Schaden entstanden wäre. Es wird geltend gemacht, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 93 AktG/der §§116,93 AktG zwar möglicherweise zu einem oder mehreren anderen Entscheidungstenor(en) gekommen wäre, der/die aber zu einem vergleichbaren Schaden/zu vergleichbaren Schäden geführt hätte/hätten („alternativer Schaden"). 159 Der zweite Einwand lautet, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zwar nicht si159 Vgl. Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn.23 („hypothetische Schadensverursachung durch rechtmäßiges Alternatiwerhalten"), 101,106 und § 116 Rdn. 60. Siehe dazu auch Roth, Ermessen, S. 138, der ausführt, der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens sei uneingeschränkt anwendbar, wenn der Vorstand eine informierte unternehmerische Entscheidung getroffen habe, greife bei Verfahrensfehlern aber nur durch, wenn das Gericht nach seinem eigenen Ermessen eine zumindest ähnliche Entscheidung getroffen hätte.

A.

Ansatzpunkt

237

eher zu demselben Entscheidungstenor (und damit zu der pflichtwidrigen Entscheidung im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG) gekommen wäre, aber der fragliche Schaden der pflichtwidrigen Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG aufgrund außerordentlicher Umstände nicht zugerechnet werden könne. Es wird geltend gemacht, daß es bei pflichtgemäßem Verhalten des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG zwar möglicherweise zu einem oder mehreren anderen Entscheidungstenor(en) gekommen wäre, dies aber irrelevant sei, weil der fragliche Schaden aufgrund außergewöhnlicher Umstände eingetreten sei („atypischer Schaden"). 160 Im Hinblick auf diese Einwände lautet die entscheidende Frage, unter welchen Voraussetzungen davon auszugehen ist, daß es gerade die pflichtwidrige Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG gewesen ist, die den fraglichen Schaden herbeigeführt hat. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein spezifisch gesellschaftsrechtliches Problem. Es geht vielmehr um allgemeine zivilrechtliche Fragen der Schadenszurechnung. Der erste Einwand zielt auf die Folgen möglicher pflichtgemäßer Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116,93 AktG unter dem Gesichtspunkt des rechtmäßigen Alternativverhaltens. 161 Der zweite Einwand zielt auf die außerordentlichen Umstände des durch die pflichtwidrige Entscheidung des Vorstands/Auf sichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG verursachten Schadenseintritts unter dem Gesichtspunkt der adäquaten Kausalität, des Schutzzwecks der Norm und der hypothetischen Schadensursachen. 162 Diese Fragen sollen hier nicht vertieft werden. 4. Ein Vergleich mit der U.S. amerikanischen business judgment rule Im Hinblick auf die Konkretisierung der den directors und officers und der den Vorständen und Aufsichtsräten bei unternehmerischen Entscheidungen obliegenden Rechtspflichten hat eine Angleichung der sich um die Corporate Governance rankenden Problemkreise stattgefunden. Sie hat inzwischen durch das Eingreifen von Rechtsprechung und Gesetzgebung einen gewissen Abschluß gefunden. Die ARAG-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist als Übernahme der U.S. amerikanischen business judgment rule interpretiert worden. 163 §93 Abs. 1 160 Vgl. Mertens, Kölner Kommentar, 93 Rdn.23 („Adäquanztheorie) und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.178f. („... ob und wie bestimmte Schäden bei komplexeren Kausalketten ... zugerechnet werden können ..."). 161 Siehe dazu nur Heinrichs, Palandt, Vorbem v §249 Rdn.65, 105 ff. 162 Siehe dazu nur Heinrichs, Palandt, Vorbem v §249 Rdn.58ff., 62ff., 66ff., 96ff. 163 Schneider DB 2005, S.707, 707; Thümmel DB 2004, S.471, 471; Paefgen A G 2004, S.245, 247; Kock/Dinkel NZG 2004, S. 441,443; Fleischer ZIP 2004, S. 685,686; Kiethe W M 2003, S. 861, 864; Witte/Hruhesch BB 2004, S. 725, 728; Kinzl DB 2004, S. 1653, 1653; Luttermann BB 2001, S.2433, 2436; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 107; Henze BB 2005, S. 165, 166 und BB 2001,

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 „entspricht Vorbildern der business judgment rule aus dem angelsächsischen Rechtskreis und findet Parallelen in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung des B G H (Urteil vom 21. April 1997, B G H Z 135, 244 ,ARAG/Garmenbeck')." 1 6 4 Vor diesem Hintergrund soll die hier entwickelte gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre im Hinblick auf Abweichungen wie Ubereinstimmungen mit der U.S. amerikanischen Rechtsprechung kritisch gewürdigt und abgesichert werden. a) Die U.S. amerikanische

Rechtsprechung

Im U.S. amerikanischen Recht wird zwischen den standards of conduct (Verhaltensmaßstäben) und den standards of review (Kontrollmaßstäben) unterschieden. Sie sind in der Regel identisch, fallen aber gerade und insbesondere im Gesellschaftsrecht auseinander. Die beiden wichtigsten standards of conduct für directors und officers sind die duty of care (disinterested conduct) und die duty of loyalty (self-interested conduct). Im Hinblick auf die duty of care ist vorrangig die business judgment rule und nachrangig der entire (intrinsic) fairness test 165 der einschlägige standard of review. Im Hinblick auf die duty of loyalty ist vorrangig der entire (intrinsic) fairness test und nachrangig der fraud/waste/gift test, der disinterested ratification test bzw. der just and reasonable test 166 der einschlägige standard of review.167

S.53, 57 sowie BB 2000, S.209, 215; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123; Heermann AG 1998, S.201, 204; Horn ZIP 1997, S. 1129, 1134. 164 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004. 165 Siehe dazu an dieser Stelle nur Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 176f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35ff., 167f., 168 ff. 166 Siehe dazu an dieser Stelle nur Abeltshauser, Leitungshaftung, S.276ff., 281 ff., 290ff., 306ff., 315ff., 319ff. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.54f., 66ff., 68f., 167f., 168ff., 175 ff. 167 Eisenberg, business judgment rule, S.35f., 38f. und Der Konzern 2004, S.387, 387f., 389ff. Siehe dazu auch: CRLC, Business Judgment Rule, S. 8; Paefgen AG 2004, S. 245,248,248f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 13ff., 17f., 31 f.; Roth, Ermessen, S. 37f. Siehe zu der Frage, ob die business judgment rule auch für officers gilt, CRLC, Business Judgment Rule, S. 17f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 97f., und zu der Frage, ob im Rahmen der duty of care und der business judgment rule zwischen inside directors und outside directors und ob im Rahmen der duty of care zwischen den Leitungs- und Uberwachungsaufgaben der directors zu differenzieren ist, nur Eisenberg Der Konzern 2004, S. 387, 390ff., 396ff. sowie Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 13, 18f., 33f., 45ff., 97 und - insbesondere zu der Differenzierung zwischen dem personal business affairs Standard (Leitungsaufgaben) und dem reasonable care Standard (Uberwachungsaufgaben) - Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 24, 55f., 69, 73, 75, 111 ff., 130f.

A.

Ansatzpunkt

239

Standard of Careful Conduct (especially Right of Inquiry and Reliance) §8.30 (§8.42) Revised Model Business Corporation Act 1998 (a) Each member of the board of directors (officer with discretionary authority), when discharging the duties of a director (an officer with discretionary authority) shall act (1) in good faith, and (2) in a manner the director (officer with discretionary authority) reasonably believes to be in the best interest of the corporation. (b) The members of a board of directors or a committee of the board (officers with discretionary authority), when becoming informed in connection with their decisionmaking function oder devoting attention to their oversight function, shall discharge their duties with the care that a person in a like position would reasonably believe appropriate under similiar circumstances. 168 § 4.01 ALI Principles of Corporate Governance 1994 (a) A director or officer has a duty to the corporation to perform the director's or officer's functions in good faith, in a manner that he or she reasonably believes to be in the best interests of the corporation, and with the care that an ordinarily prudent person would reasonably be expected to exercise in a like position and under similiar circumstances. This Subsection (a) is subject to provisions of Subsection (c) - the business judgment rule - where applicable. (1) The duty in Subsection (a) includes the obligation to make, or cause to be made, an inquiry when, but only when, the circumstances would alert a reasonable director or officer to the need therefore. The extent of such inquiry shall be such as the director or officer reasonably believes to be necessary. (2) In performing any of his or her functions (including oversight functions), a director or officer is entitled to rely on materials and persons in accordance with §§4.02 and 4.03 (reliance on directors, officers, employees, experts, other persons, and committes of the board). 169 §309 California Corporations

Code

(a) A director shall perform the duties of a director, including duties as a member of any committee of the board upon which the director may serve, in good faith, in a manner such director believes to be in the best interests of the corporation and its shareholders and with such care, including reasonable inquiry, as an ordinarily prudent person in a like position would use under similiar circumstances. (b) In performing the duties of a director, a director shall be entitled to rely on information, opinions, reports or statements, including financial statements and other financial data, in each case prepared or presented by any of the following: 168 Siehe dazu Eisenberg Der Konzern 2004, S. 387, 388f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 15,18,24. Siehe zu dem right of reliance nach dem Revised Model Business Corporation Act nur Buxbaum, Corporate Governance, S. 65,77 und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 93 sowie von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 491 f. 169 Siehe dazu Eisenberg, business judgment rule, S. 38 und zu dem right of reliance nach den ALI Principles of Corporate Governance nur Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.93.

240

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

(1) One or more officers or employees of the corporation whom the director believes to be reliable and competent in the matters presented. (2) Counsel, independent accountants or other persons as to matters which the director believes to be within such person's professional or expert competence. (3) A committee of the board upon which the director does not serve, as to matters within its designated authority, which committee the director believes to merit confidence, so long as, in any such case, the director acts in good faith, after reasonable inquiry when the need therefore is indicated by the circumstances and without knowledge that would cause such reliance to be unwarranted. 170 Business Judgment Rule § 8.31 Revised

Model Business Corporation

Act 1998

(a) Ein director ist seiner Gesellschaft oder ihren Aktionären gegenüber nicht für die Entscheidung, eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen, oder für die Unterlassung einer Handlung haftbar, wenn nicht die die Haftung behauptende Partei im Verfahren nachweist, daß ... (2) das in Frage stehende Verhalten nicht in gutem Glauben vorgenommen wurde, oder eine Entscheidung war, - von welcher der director vernünftigerweise nicht annehmen konnte, daß sie im besten Interesse der Gesellschaft liegt, oder - hinsichtlich welcher der director nicht in einem Maße informiert war, das er vernünftigerweise als angemessen angesehen hat, oder - welche aufgrund von familiären, finanziellen oder geschäftlichen Beziehungen des directors zu einer anderen Person, die ein wesentliches Interesse an dem fraglichen Verhalten hat, oder aufgrund einer fehlenden Unabhängigkeit des directors aufgrund einer Beherrschung oder Kontrolle durch eine derartige Person nicht unvoreingenommen war, sofern vernünftigerweise anzunehmen ist, daß diese Beziehung oder diese Beherrschung oder Kontrolle die Meinungsbildung des directors hinsichtlich des fraglichen Verhaltens in einer für die Gesellschaft ungünstigen Weise beeinflußt hat, und der director diese Annahme nicht durch den Nachweis widerlegt, daß er vernünftigerweise davon ausgehen konnte, daß das fragliche Verhalten im besten Interesse der Gesellschaft lag, oder - welche durch einen finanziellen Vorteil, der dem director nicht zustand, oder durch eine sonstige Verletzung der Verpflichtung des directors, sich der Gesellschaft und ihren Aktionären gegenüber fair zu verhalten, sofern diese nach dem jeweils geltenden Recht gerichtlich durchsetzbar ist, beeinflußt worden ist. 171 54.01

ALI Principles of Corporate

Governance

1994

(c) A director or officer who makes a business judgment in good faith fulfills his duty of care if - he is not interested in the subject of his business judgment, - he ist informed with respect to the subject of his business jugment to the extent he reasonably believes to be appropriate under the circumstances, and

Siehe dazu Eisenberg, business judgment rule, S.49f. Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.24ff., der unter Rückgriff auf die Begründung hervorhebt, daß diese Vorschrift „keine vollständige Formulierung der business judgment rule darstellen soll, ihre wesentlichen Elemente aber wiedergibt." 170 171

A. Ansatzpunkt

241

- he rationally believes that the business judgment is in the best interests of the corporation. 172 §320

California

Corporation

Code (Proposal

1998)

(a) A director of a corporation who makes a business judgment is deemed to have satisfied Section 309 if all of the following conditions are satisfied: - The director acts in good faith. - The director is not interested (Section 321) in the subject of the business jugment. - The director is informed with respect to the subject of the business judment to the extent the director believes is appropriate, and that belief is reasonable, under the circumstances. - The director believes that the business judgment is in the best interests of the corporation and its shareholders, and that belief is rational. (b) A person challenging the conduct of a director as a breach of Section 309 has the burden of proving - that the director failed to satisfy the requirements of subdivision (a), and - if that burden is sustained, that the director failed to satisfy the requirements of Section 309, and - in a damage action against the director based on the director's failure to satisfy the requirements of Section 309, that the failure was the proximate cause of damage suffered by the corporation or its shareholders. 173

aa) Prozessuale

Funktionen

der business judgment

rule

U m die prozessualen Funktionen der business judgment rule zu beschreiben, wird die business judgment rule oft als Vermutung bezeichnet. 1 7 4 Die prozessualen Funktionen der business judgment rule liegen jedoch zunächst in einer Regelung der Darlegungs- und Beweislast. 1 7 5 Es ist grundsätzlich zuerst 1 7 6 der Kläger, der etwas darlegen und beweisen muß, und zwar in der Regel 172 Siehe dazu Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 445f. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 26f., der den Anlaß der Kritik hervorhebt, nämlich den Umstand, „daß das American Law Institute die prozessualen Wirkungen der business judgment rule und die Beweislastverteilung, die durch sie vorgenommen wird, nicht hinreichend beachtet hat." 173 CRLC, Business Judgment Rule, S.21f. 174 CRLC, Business Judgment Rule, S.22; Paefgen AG 2004, S.245, 256; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35; Trockels AG 1990, S. 139, 141; Kronstein/Hawkins RIW 1983, S. 249,252; Frank/Moreland RIW 1989, S. 761, 763; Bangert AG 1994, S.297, 301; von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482. 175 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff.; Paefgen AG 2004, S.245, 256f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.33, 35ff., 167ff.; Bungen AG 1994, S.297, 301; Heermann AG 1998, S.201, 205; Mutter, Entscheidungen, S.215. 176 Nach dem Unocal Standard - intermediate Standard (Anwendung der business judgment rule auf Verteidigungsmaßnahmen gegen Ubernahmeversuche) müssen zunächst die directors darlegen und beweisen, daß sie vernünftige Gründe für die Annahme hatten, die Geschäftspolitik, der wirtschaftliche Kurs und die Effektivität der Gesellschaft seien gefährdet bzw. die Gesellschaft und die Aktionäre in ihrer Gesamtheit seien bedroht, und daß die beschlossenen Verteidigungsmaßnahmen im Verhältnis zu der drohenden Gefahr angemessen waren, bevor die business judgment rule eingreift und sich die Darlegungs- und Beweislast auf den Kläger verlagert. Siehe zu diesem Problemkreis nur: CRLC, Business Judgment Rule, S. 16f., 23; Paefgen AG 2004,

242

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

(zur demand rule sogleich), daß die Voraussetzungen der business judgment rule nicht erfüllt sind, 1 7 7 es also am good faith, am disinterested judgment, am informed judgment und/oder am rational business purpose fehlt. Es genügt allerdings, daß er auf den ersten Anschein das Fehlen des good faith plausibel macht und/ oder erhebliche Zweifel am disinterested judgment und/oder am informed judgment aufkommen läßt. 1 7 8 Gelingt es dem Kläger, darzulegen und zu beweisen, daß die Voraussetzungen der business judgment rule nicht erfüllt sind, so verlagert sich nach überwiegender Ansicht die Darlegungs- und Beweislast auf die Beklagten. 1 7 9 Sie müssen nun darlegen und beweisen, daß ihre Entscheidung dem entire (intrinsic) fairness test genügt und im Falle eines interested judgment gegebenenfalls zudem dem fraud/waste/gift test, dem disinterested ratification test und dem just and reasonable test standhält. 1 8 0 N a c h der demand rule ist der klagewillige Aktionär allerdings erst dann klageberechtigt, wenn (i) er zuvor den board of directors aufgefordert hat, die gewünschte Abhilfemaßnahme (erforderlichenfalls auch die Klageerhebung) selbst vorzunehmen, und die daraufhin ergehende A n t w o r t des board of directors (ins-

S. 245,259f.; Bungen AG 1994, S. 297,302f., 304; Trockels AG 1990, S. 139,143; Frank/Moreland RIW1989, S.7b\,76iii.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 105ff., 123f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 117ff. Nach dem Revlon Mode - level playing field rule (Anwendung der business judgment rule auf Verteidigungsmaßnahmen, sobald die Übernahme als solche feststeht) handeln die directors pflichtgemäß, wenn sie (1) sorgfältig und wachsam die angestrebte Transaktion kritisch prüfen, und zwar insbesondere, ob die Bedingungen der angestrebten Transaktion den den Aktionären der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Gesamtwert beeinträchtigen, andere Angebote behindern oder ermutigen, im Lichte der Treuepflichten der directors durchsetzbare vertragliche Verpflichtungen darstellen und die Verpflichtungen der directors der Gesellschaft, den höchsten unter den gegebenen Umständen erzielbaren Wert für die Aktionäre der Gesellschaft sicherzustellen, fördern oder behindern, (2) in gutem Glauben handeln, (3) sorgfältig alle wesentlichen und vernünftigerweise verfügbaren Informationen sammeln und verwenden, insbesondere solche, die für den Vergleich der Angebote bzw. einer potentiellen weiteren Alternative im Hinblick auf die Realisierung des bestmöglichen Wertes für die Aktionäre notwendig sind, (4) aktiv und gutgläubig auf dieses Ziel gerichtet sowohl mit dem angestrebten Partner als auch mit den Dritten verhandeln. Siehe zu diesem Problemkreis nur: CRLC, Business Judgment Rule, S. 16f., 23; Paefgen AG 2004, S. 245,260; Bungert AG 1994, S.297,303f., 305,306f.; Trockels AG 1990, S. 139, 143f.; Frank/Moreland RIW 1989, S. 761, 766f., 767ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 111 Fn.235, 123f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 123ff. 177 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff.; Paefgen AG 2004, S.245, 256; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.33, 35,167; Trockels AG 1990, S. 139,141,142; Kronstein/Hawkins RIW 1983, S. 249,252; Frank/Moreland RIW 1989, S. 761,763; Bungert KG 1994, S. 297,301; von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482. 178 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff., 120. 179 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff.; Paefgen AG 2004, S.245, 256; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35ff., 167ff.; Trockels AG 1990, S. 139, 142; Frank/Moreland RIW 1989, S.761, 763; Bungert AG 1994, S.297, 304, 309; Heermann AG 1998, S.201, 205; Mutter, Entscheidungen, S. 215f.; a.A. CRLC, Business Judgment Rule, S. 22, 15f. 180 Siehe dazu an dieser Stelle nur Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 176f. und S. 276ff., 281 ff., 290ff., 306ff., 315ff., 319ff. sowie Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35ff., 167f., 168ff. und S. 54f., 66ff., 68f., 167f., 168ff., 175ff.

A.

Ansatzpunkt

243

besondere die Ablehnung der gewünschten Abhilfemaßnahme) unrechtmäßig ist oder (ii) eine solche Aufforderung vergeblich wäre und damit entbehrlich ist. Das eine wie das andere muß der klagewillige Aktionär gegebenenfalls gerichtlich klären lassen. In beiden Fällen greift die business judgment rule ein. Macht der klagewillige Aktionär die Unrechtmäßigkeit der Antwort des board of directors geltend, muß er in Delaware darlegen und beweisen, daß „berechtigte Zweifel" daran bestehen, daß die Antwort der im Hinblick auf die Antwort als unabhängig und unbefangen geltenden directors „ansonsten das Ergebnis der zulässigen Ausübung unternehmerischer Beurteilung ist." Dahinter steht die Überlegung, daß der klagewillige Aktionär mit der Aufforderung zugesteht, daß keine gegen die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der directors (zum Zeitpunkt der Antwort) und damit für die Vergeblichkeit der Aufforderung sprechenden Umstände vorliegen. Es wird davon ausgegangen, daß von den directors (zum Zeitpunkt der Antwort) eine unvoreingenommene Antwort erwartet werden kann, weil sie kein Eigeninteresse an der angegriffenen Maßnahme hatten und weil sie bei der angegriffenen Maßnahme sorgfältig vorgegangen sind. Macht der klagewillige Aktionär die Vergeblichkeit der Aufforderung geltend, muß er in Delaware darlegen und beweisen, daß „berechtigte Zweifel" daran bestehen, daß die directors im Hinblick auf die angegriffene Maßnahme „unbefangen und unabhängig und daß das angefochtene Rechtsgeschäft ansonsten das Ergebnis der zulässigen Ausübung unternehmerischer Beurteilung ist." Dahinter steht die Überlegung, daß die directors im Falle fehlender Unbefangenheit und Unabhängigkeit (zum Zeitpunkt der Antwort) geneigt sein könnten, die gewünschte Abhilfemaßnahmen abzulehnen. Es wird davon ausgegangen, daß von den directors (zum Zeitpunkt der Antwort) keine unvoreingenommene Antwort erwartet werden kann, wenn sie ein Eigeninteresse an der angegriffenen Maßnahme hatten und/oder wenn sie bei der angegriffenen Maßnahme unsorgfältig vorgegangen sind.181 Vor diesem Hintergrund läßt sich die business judgment rule als eine Vermutung pflichtwidrigen Verhaltens verstehen, die durch die Darlegungen und Beweise des Klägers ausgelöst wird und durch die Darlegungen und Beweise der Beklagten widerlegt werden kann.182 Die business judgment rule nur deshalb als eine Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens anzusehen, weil es der Kläger ist, der

181 Siehe zu diesem Problemkreis und insbesondere zu der Rechtslage in anderen Staaten und den Special Litigation Committees (Ausschuß des board of directors, der ausschließlich mit nicht an der angegriffenen Maßnahme beteiligten directors besetzt ist) und zur Modifizierung der business judgment rule im Rahmen der Uberprüfung der Antwort eines solchen Ausschusses nur Coffee, Corporate Governance, S.180ff., 187ff., 190, 190ff., 192ff., 195ff., 198 und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.137f., 138ff., 142ff., 148f. Siehe dazu auch §148 Abs. 1 Satz 2 Nr.2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 15 RegE U M A G 11/2004, wonach die Klage der Aktionärsminderheit nur zugelassen werden kann, wenn sie „die Gesellschaft unter Setzung einer angemessenen Frist vergeblich aufgefordert haben, selbst Klage zu erheben." 182 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132ff.

244

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

darlegen und beweisen muß, daß ihre Voraussetzungen nicht erfüllt sind, 1 8 3 ist dagegen wenig überzeugend. D e n n es entspricht allgemeinen Grundsätzen, daß der Kläger die ihm günstigen U m s t ä n d e darlegen und beweisen muß. 1 8 4 D i e prozessualen F u n k t i o n e n der business judgment rule sind indes nicht auf eine Regelung der Darlegungs- und Beweislast beschränkt. 1 8 5 Gelingt es dem Kläger nämlich nicht, darzulegen und zu beweisen, daß die Voraussetzungen der business judgment rule nicht erfüllt sind, so wird die Klage ohne weitere gerichtliche Überprüfung der Entscheidung abgewiesen (safe harbour). 1 8 6 D e r Kläger wird insbesondere nicht mit dem Vortrag gehört, es habe eine Pflichtverletzung vorgelegen, o b w o h l die Voraussetzungen der business judgment rule erfüllt gewesen seien. Vor diesem Hintergrund läßt sich die business judgment rule auch als unwiderlegliche Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens ansehen. 1 8 7 bb) Materiell-rechtliche

Voraussetzungen

der business judgment

rule

In materiell-rechtlicher Hinsicht werden zumeist - und insbesondere von dem Comittee on C o r p o r a t e Laws der American Bar Association (Revised M o d e l B u siness C o r p o r a t i o n A c t 1998), dem American L a w Institute (Principles o f C o r p o rate Governance 1994) und der California L a w Revision C o m m i s s i o n (Proposal California Corporations C o d e 1998) - als Elemente der business judgment rule das business judgment, der good faith, das disinterested judgment, das informed judgment und der rational business purpose genannt. 1 8 8 183 Trockels AG 1990, S. 139,141 Kronstein/Hawkins RIW1983, S. 249,252; Frank/Moreland RIW 1989, S.761, 763; Bungert AG 1994, S.297, 301; von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482; Mutter, Entscheidungen, S.215. 184 CRLC, Business Judgment Rule, S. 15f. 185 Vgl. dazu: Bungert AG 1994, S.297, 301; Heermann AG 1998, S.201, 205; Mutter, Entscheidungen, S.215. 186 CRLC, Business Judgment Rule, S.23; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 131 \Paefgen AG 2004, S.245,256; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35,167f.; Kronstein/Hawkins RIW 1983, S. 249, 252; Frank/Moreland RIW 1989, S. 761, 763; Bungert AG 1994, S. 297, 301; von Werder/ Feld RIW 1996, S.481, 482; Heermann AG 1998, S.201, 205; Mutter, Entscheidungen, S.208. 187 Vgl. dazu: CRLC, Business Judgment Rule, S. 15£.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.35; Mutter, Entscheidungen, S.215. 188 Eisenberg, business judgment rule, S.40ff. und Der Konzern 2004, S.386, 390, 391 ££.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 45ff.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446f. So wohl auch Bungert AG 1994, S.297, 301 und Heermann AG 1998, S.201,205;™« Werder/Feld RIW 1996, S.481,482 und Trockels KG 1990, S. 139,141 sowie Mutter, Entscheidungen, S. 211 ff., die allerdings von due care und nicht von informed judgment sprechen, damit aber dasselbe meinen, und die von no abuse of discretion und nicht von rational business purpose sprechen, was aber inhaltsgleich ist (siehe dazu Trockels AG 1990, S. 139, 142 und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.43f.); Paefgen AG 2004, S.245, 251, 25Iff. und Kronstein/ Hawkins RIW 1983, S.249,252, die allerdings von process due care bzw. due care und nicht von informed judgment sprechen, damit jedoch dasselbe meinen. Siehe auch Frank/Moreland, RIW 1989, S. 761, 763, die auf den rational business purpose verzichten und ausschließlich auf den good faith abstellen, worin aber kein Unterschied im Sinne eines ausschließlich subjektiven Maßstabes liegt, weil - so zutreffend Eisenberg, business judgment rule, S.4If. und Oltmanns, Ge-

A. Ansatzpunkt (1) business

245

judgment

Ein business judgment ist eine „Handlung oder Unterlassung, die auf einem bewußten und unternehmerische Belange betreffenden Entscheidungsprozeß ber u h t " . 1 8 9 Damit werden die Maßnahmen in dem eigentlichen Aufgabenbereich des board of directors nicht erfaßt, nämlich die Überwachung der Wahrnehmung von Managementaufgaben durch die officers und die Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/Hierarchieebenen einschließlich der Einrichtung und Weiterentwicklung der zugehörigen Informationssysteme und insbesondere des internen Uberwachungssystems. Außerdem werden das schlichte Unterlassen und die rein tatsächlichen Vorbereitungs- und Realisationshandlungen aus dem Anwendungsbereich der business judgment rule ausgegrenzt. 1 9 0 Es überrascht nicht, daß Kritik an der generellen Ausgrenzung der Uberwachungsaufgaben des board of directors geübt wird und die Gerichte diese Einschränkung der business judgment rule durch eine großzügige Interpretation des dann geltenden Haftungsmaßstabs (negligence - ordinarily prudent person reasonably in a like position under similiar circumstances) ausgleichen. 191 (2) good

faith

D e r good faith umfaßt alle Aspekte der Ehrenhaftigkeit und Integrität. 1 9 2 Daran fehlt es etwa, wenn ein director mit Schädigungsabsicht handelt 1 9 3 oder weiß, daß schäftsleiterhaftung, S.43f., 102f. - ein fehlender rational business purpose ein Indiz für einen fehlenden good faith ist. 189 Von "Werder/Feld RIW 1996, S.481,482. Siehe dazu auch Eisenberg, business judgment rule, S. 40 und Der Konzern 2004, S. 386,390; Kock/Dinkel NZG 2004, S. 441,446 und Paefgen AG 2004, S.245, 251. Siehe zu der Problematik und der Erforderlichkeit dieses Merkmals insbesondere Roth, Ermessen, S. 75ff., 77ff. 190 Siehe dazu: Eisenberg Der Konzern 2004, S. 386, 390, 390ff., 396ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.33f., 45f., 49f.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446; Paefgen AG 2004, S.245, 251. Siehe auch: Eisenberg, business judgment rule, S.40; Trockels AG 1990, S. 139,141; Mutter, Entscheidungen, S.211; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.88f., 89ff., 115f., 119,130f., 221ff.,der allerdings hinsichtlich der Einrichtung und Weiterentwicklung der Informationssysteme unklar bleibt (siehe einerseits S. 88f., 89f. und andererseits S. 119,225). Das ist nachvollziehbar, weil die Einrichtung und Weiterentwicklung der Informationssysteme zwar unternehmensorganisatorische Entscheidungen erfordert, was für die Anwendung der business judgment rule spricht, aber auch der Überwachung der officers und der Funktionsträger auf den nachgelagerten Führungs-/ Hierarchieebenen dient, was gegen die Anwendung der business judgment rule spricht (siehe zu den Funktionen der Informationssysteme nur von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 49, 51 und Potthoff, Geschäftsführung, S.73ff., 128ff.). 191 Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 397f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.46ff., 49f.; Roth, Ermessen, S. 76f. 192 Trockels AG 1990, S. 139, 142. Dieses Element wird zum Teil der duty of care (Kronstein/ Hawkins RIW 1983, S.249, 25If.) und zum Teil der duty of loyalty zugeordnet (Bungert AG 1994, S. 297, 300; Paefgen, Entscheidungen, S. 167; so wohl auch Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132 und Trockels AG 1990, S. 139, 142). 193 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 133.

246

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

das fragliche business judgment gegen ein Gesetz verstößt, 194 oder wenn das fragliche business judgment so abwegig ist, daß es nur aufgrund zweifelhafter Motive getroffen worden sein kann. 195 Die praktische Relevanz des good faith liegt vor allem darin, daß unredliches Handeln von satzungsmäßigen Haftungsbegrenzungs- und Freistellungsklauseln nicht erfaßt wird. 196 Die besondere Brisanz dieses Ausnahmetatbestands folgt daraus, daß die Gerichte von drei fiduciary duties ausgehen (duty of care, duty of loyalty und duty of acting in good faith) und bei bestimmten Verletzungen der duty of care die Annahme eines acting in good faith ausschließen. Nach dieser Rechtsprechung überschneidet sich die duty of acting in good faith mit der duty of care.197 (J) disinterested

judgment

Ein disinterested judgment ist nur gegeben, wenn die directors unabhängig und unbefangen sind, oder anders gewendet, keine Eigeninteressen an dem fraglichen business judgment haben. 198 Dieses Element der business judgment rule wird allerdings nicht der duty of care, sondern der duty of loyalty zugeordnet. 199 Es finde seine Rechtfertigung darin, daß der Schutz der business judgment rule in diesen Fällen nicht gerechtfertigt sein soll: Das Gericht könne sich nicht darauf verlassen, daß ausschließlich der Sachverstand der directors für das fragliche business judgment ausschlaggebend gewesen sei.200 Vielmehr begründe die fehlende Unbefangenheit und/oder Unabhängigkeit der directors erhebliche Zweifel daran, daß das fragliche business judgment im besten Interesse der Gesellschaft gelegen habe.201

194 Eisenberg, business judgment rule, S.40. Sehr anschaulich das Beispiel von Greenhow, The statutory business judgment rule, S. 46: „A director may not have a material personal interest, may have been fully informed and rationally believed the judgment was in the best interests of the company but the decision was to engage in tax evasion." 195 Kock/Dinkel NZG 2004, S. 441, 447; vgl. auch Eisenberg, business judgment rule, S.42. 196 Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 401; Paefgen AG 2004, S.245, 256. 197 Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 401. 198 Eisenberg, business judgment rule, S.40 und Der Konzern 2004, S.386, 390; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 50f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 132; Eisenberg, business judgment rule, S.40 und Der Konzern 2004, S.390; Paefgen, Entscheidungen, S. 158ff. und AG 2004, S.245,252f.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446; Trockels AG 1990, S. 139,141f.; Mutter, Entscheidungen, S.211f.; Bungert AG 1994, S.297, 301. 199 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 52; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 74f., 281,290f.; Paefgen, Entscheidungen, S. 159 und AG 2004, S.245, 252; Bungert AG 1994, S.297, 300; Trokkels AG 1990, S.139, 141 f. 200 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 51. 201 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.51; Trockels AG 1990, S. 139, 141f.

A.

Ansatzpunkt

247

Disinterested Directors §1.23

ALI Principles of Corporate

Governance

1994

A director is interested in a transaction or conduct in any of the following circumstances: (1) The director or an associate of the director is a party to the transaction or conduct. (2) The director has a business, financial, or familiar relationship with a party to the transaction or conduct, and that relationship would reasonably be expected to affect the director's judgment with respect to the transaction or conduct in a manner adverse to the corporation. (3) The director, an associate of the director, or a person with whom the director has a business, financial, or familiar relationship, has a material pecuniary interest in the transaction or conduct (other than usual and customary directors' fees and benefits) and that interest and (if present) that relationship would reasonably be expected to affect the director's judgment with respect to the transaction or conduct in a manner adverse to the corporation. (4) The director is subject to a controlling influence by a party to the transaction or conduct or by a person who has a pecuniary interest in the transaction or conduct, and the controlling influence could reasonably be expected to affect the director's judgment with respect to the transaction or conduct in a manner adverse to the corporation. 20 §321 California

Corporation

Code (Proposal

1998)

(a) For the purpose of Section 320, a director is interested' in a transaction or conduct that is the subject of a business jugment only if any of the following conditions is satisfied: (1) The director, or an associate of the director, is a party to the transaction or conduct. (2) The director, or an associate of the director has a material economic interest in the transaction or conduct (other than usual and customary directors' fees and benefits) of which the director knows or should be aware, that would reasonably be expected to affect the director's jugment in a manner adverse to the corporation or its shareholders. (3) The director is subject to controlling influence by a party to the transaction or conduct (other than the corporation) or by a person who has a material economic interest in the transaction or conduct of which the director knows or should be aware, and that controlling influence would reasonably be expected to affect the director's judgment with respect to the transaction or conduct in a manner adverse to the corporation or its shareholders. (b) As used in this section,,associate' means any of the following persons: (1) The spouse of the director; a child, grandchild, parent, sibling, uncle, aunt, nephew, niece, step-child, stepparent, or step-sibling of the director, including adoptive relationships, and the spouse of such a person; a mother-in-law, father-in-law, brother-in-law, or sister-inlaw of the director; a person, other than a domestic employee, having the same home as the director, and a trust or estate of which the director or a person designated in this paragraph is a substantial beneficiary. (2) A trust, estate, incompetent, conservatee, or minor of which the director is a fiduciary. (3) A person with respect to whom the director has a business or economic relationship except a person described in paragraph (1) or (2), but if and only if the relationship would reasonably be expected to affect the director's judgment with respect to the transaction or conduct in question in a manner adverse to the corporation or its shareholders. (c) Nothing in this section limits the authority of the court to determine whether and to

202

Siehe dazu CRLC, Business Judgment Rule, S. 12f., 27.

248

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

what extent a director is ,interested' in the subject of a business judgment in the following circumstances: (1) Where the challenge to the business judgment seeks injunctive or other relief, other than damages, for conduct alleged to be an unreasonable response to an unsolicited tender offer. (2) Where the conduct challenged is a board or committee request for dismissal of a derivative action as not in the best interests of the corporation. 203

Dabei herrscht weitgehend Einigkeit darüber, wann es an einem disinterested judgment fehlt. Dies ist der Fall, wenn ein director oder eine Person, zu der ein director geschäftliche, finanzielle/wirtschaftliche oder familiäre Beziehungen hat, Partei des von der Entscheidung betroffenen Geschäfts ist. Dies ist auch der Fall, wenn ein director oder eine Person, zu der ein director geschäftliche, finanzielle/ wirtschaftliche oder familiäre Beziehungen hat, ein erhebliches finanzielles/wirtschaftliches Interesse an dem von der Entscheidung betroffenen Geschäft hat. Dies ist schließlich der Fall, wenn ein director durch eine Partei des von der Entscheidung betroffenen Geschäfts oder eine Person, die ein erhebliches finanzielles/wirtschaftliches Interesse an dem von der Entscheidung betroffenen Geschäft hat, beherrscht wird. 204 Als Fallgruppen werden In-sich-Geschäfte der Gesellschaft mit den directors und den ihnen verbundenen oder sie beherrschenden Dritten, 205 die Festsetzung der eigenen Gehälter durch die directors, 206 die Ausnutzung der Organstellung durch die directors für eigene Zwecke oder für die Zwecke der ihnen verbundenen oder sie beherrschenden Dritten einschließlich der Wahrnehmung von Geschäftschancen der Gesellschaft sowie Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot genannt. 207 Unklar ist dagegen, wer außer den Personen, zu denen directors geschäftliche, finanzielle/wirtschaftliche oder familiäre Beziehungen haben, als associate anzusehen ist. Diese Frage ist von erheblicher praktischer Relevanz: Ist jemand als associate zu qualifizieren, ist die Annahme eines disinterested judgment ausgeschlossen, wenn er Partei des von der Entscheidung betroffenen Geschäfts ist oder ein erhebliches finanzielles/wirtschaftliches Interesse an dem von der Entscheidung betroffenen Geschäft hat. 208 Noch ungewisser ist, ob directors als interested anzusehen sind, wenn das business judgment eine Verteidigungsmaßnahme gegen einen Übernahmeversuch oder eine Aufforderung eines Aktionärs, im CRLC, Business Judgment Rule, 1998, S.26f. Siehe nur § 1.23 ALI Principles of Corporate Governance und §321 (a) California Corporation Code (Proposal 1998) sowie Aheltshauser, Leitungshaftung, S.272ff. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.50ff. 205 Siehe dazu und insbesondere zu den Geschäften zwischen der Gesellschaft und einer Gesellschaft, in der ein director als director oder officer tätig oder an der er beteiligt ist, sowie zu Geschäften zwischen der Gesellschaft und einem sie beherrschenden Gesellschafter Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.52, 53ff., 60ff. und Aheltshauser, Leitungshaftung, S.274ff., 317ff., 321ff. 206 Siehe dazu Aheltshauser, Leitungshaftung, S.285ff. 2 0 7 Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.58ff. und Aheltshauser, Leitungshaftung, S.293ff., 298ff., 312ff., 326ff., 328ff. 208 Siehe nur §321 (b) (2) California Corporation Code (Proposal 1998). 203

204

A. Ansatzpunkt

249

H i n b l i c k auf die angegriffene Maßnahme eine Abhilfemaßnahme zu ergreifen, betrifft. 2 0 9 In beiden Fällen sind die directors gewissermaßen „Richter in eigener Sache." Es stellt sich die Frage, o b von ihnen ein unvorgenommenes business judgment erwartet werden kann, wenn es um das eigene Überleben geht 2 1 0 oder wenn sie die angegriffene Maßnahme selbst getroffen haben. 2 1 1 (4) informed

judgment

Ein informed judgment liegt vor, wenn das business judgment auf der Grundlage angemessener Information über die entscheidungsrelevanten U m s t ä n d e getroffen wird. 2 1 2 Dieses Erfordernis beinhaltet nicht nur Anforderungen an das Ausmaß der I n formationen, sondern auch an die Vorbereitungs- und Sitzungszeiten, die Qualität und die Quellen der Informationen sowie die Bewertung der Informationen. 2 1 3 E i n e kurzfristige Anberaumung der Sitzung des board of directors läßt das Vorliegen eines informed judgment fragwürdig erscheinen. Sie begründet Zweifel an einer hinreichenden Vorbereitung der directors, und zwar insbesondere dann, wenn vorab keine schriftlichen Unterlagen verteilt worden sind oder der Entscheidungsgegenstand nicht mitgeteilt worden ist. 2 1 4 E i n e hastige D u r c h f ü h rung und kurze D a u e r der Sitzung lassen das Vorliegen eines informed judgment fragwürdig erscheinen. Sie begründen Zweifel daran, daß die directors über ausreichende Informationen verfügen und insbesondere die Möglichkeit zur U b e r prüfung von Informationen und zur Inanspruchnahme weiterer oder unabhängiger Beratung haben. Dies gilt vor allem dann, wenn die Sitzung des board of directors als Telefon- oder Videokonferenz abgehalten wird. 2 1 5 Das Vorliegen eines informed judgment hängt letztlich davon ab, o b sich die directors anhand aller wesentlichen Informationen, die ihnen in zumutbarem R a h men zur Verfügung stehen, mit dem Gegenstand des business judgments auseinandersetzen. Dies ist nur der Fall, wenn die directors die wesentlichen InformaCRLC, Business Judgment Rule, S. 16f., 23, 28. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 109ff., 111 ff.; Bungert AG 1994, S.297, 302f.; Trokkels AG 1990, S.139, 142; Mutter, Entscheidungen, S.212; Frank/Moreland RIW 1989, S.761, 763. 211 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 109ff., 133f., 137f., 138ff., 142ff., 149f. 212 Eisenberg, business judgment rule, S.40 und Der Konzern 2004, S.386, 390, 394ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 70ff., 72ff., 79ff.; Abeltsbauser, Leitungshaftung, S.79ff., 132; Paefgen, Entscheidungen, S. 154ff. und AG 2004, S.245, 253ff. (auch zu der Diskussion, ob das Kriterium überflüssig ist - abstention doctrine); Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446f.; Heermann AG 1998, S.201,205; Trockels AG 1990, S. 139,142;Bungert AG 1994, S.297,301;Mutter, Entscheidungen, S.212f. 213 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 489f., 490ff.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446f.; Paefgen, Entscheidungen, S. 154ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.89ff.; Mutter, Entscheidungen, S.212f. 214 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 489; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.90f. 215 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 489f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.90. 209 210

250

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

tionen, die ihnen in zumutbarem R a h m e n zur Verfügung stehen, zusammentragen, aufnehmen, überprüfen, bewerten und diskutieren. Die directors müssen den Gegenstand des business judgments gründlich untersuchen, Lösungsalternativen in einem gut fundierten und abwägenden P r o z e ß entwickeln und bewerten und schließlich die - gemessen an den gewonnenen Erkenntnissen - überlegene Lösungsalternative abschließend auswählen. E s geht im K e r n um ein informiertes und aktives Verhalten der directors. Gerade mit B l i c k auf die damit geforderte Kommunikationsintensität kann es negativ ins G e w i c h t fallen, wenn die Sitzung des board of directors als Telefon- oder Videokonferenz abgehalten wird. I m übrigen stellen die Gerichte durchaus in Rechnung, daß business jugments häufig unter Zeitdruck getroffen werde müssen. Sie gehen davon aus, daß die Angemessenheit der Information über die entscheidungsrelevanten Umstände im Lichte der verfügbaren Zeit zu beurteilen ist, hinterfragen aber die Einschätzung der Dringlichkeit durch die directors und lassen Zeitdruck nicht als Rechtfertigung gelten, wenn der Verzicht auf elementare Informationen ein unkalkulierbares R i siko begründet. 2 1 6 U n t e r dem Gesichtspunkt der Informationsbeschaffung k o m m t dem right of reliance eine herausragende Bedeutung zu. Ein director darf sich unter der Voraussetzung des good faith und des reasonable belief auf Informationen von Rechtsberatern, Wirtschaftsprüfern und sonstigen Fachleuten verlassen, wenn sie sorgfältig ausgewählt worden sind und der director berechtigterweise davon ausgeht, daß sie über einschlägiges Expertenwissen verfügen. U n t e r denselben Voraussetzungen darf er sich auf Informationen von officers und sonstigen A n g e stellten verlassen, wenn er berechtigterweise davon ausgeht, daß sie zuverlässig sind und über einschlägige Sachkompetenz verfügen. Dasselbe gilt für I n f o r m a tionen von Ausschüssen des board of directors, wenn und soweit der director berechtigterweise davon ausgeht, daß das Vertrauen in diesen Ausschuß berechtigt ist. 2 1 7 Dies gilt allerdings nur unter der weiteren Voraussetzung, daß der director sich mit den Informationen so weit auseinandersetzt, daß er ihre Tragweite für die Entscheidung beurteilen kann. D e r director m u ß sich davon überzeugen, daß die Informationen auf fundierten Fakten und Argumenten sowie auf allen relevanten Umständen beruhen und dem Entscheidungsgegenstand angemessen sind. E r m u ß die Informationen hinterfragen, inhaltlich nachvollziehen, mit den übrigen directors diskutieren und gegebenenfalls eine unabhängige Beratung einholen. Gerade die intensive Auseinandersetzung mit Dritten, die über einschlägigen Sachverstand verfügen, spricht für das Vorliegen eines informed judgment. Das Vertrauen auf die Qualifikation und die Erfahrung des Dritten genügt also 2,6 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482, 489f., 490ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.91f.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446, 447. 217 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 490f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.79ff., 117f., 135f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.92ff.; Buxbaum, Corporate Governance, S. 65, 76ff.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 447.

A. Ansatzpunkt

251

nicht. 2 1 8 D e r Delaware Supreme C o u r t bringt es wie folgt auf den Punkt: G u t e r Glaube ist gestattet, blindes Vertrauen nicht. 2 1 9 D i e Gerichte haben zumeist sehr detailliert dazu Stellung genommen, ob in den ihnen unterbreiteten Einzelfällen die business judgments der board of directors auf der Grundlage angemessener Information über die entscheidungsrelevanten Umstände getroffen worden sind. Verallgemeinerungsfähige Aussagen darüber, wie die Anforderungen an das Ausmaß der Informationen, die Vorbereitungs- und Sitzungszeiten, die Qualität und die Quellen der Informationen sowie die Bewertung der Informationen positiv zu konkretisieren sind, haben die Gerichte jedoch nicht gemacht. 2 2 0 G e w i ß ist lediglich, daß die Gerichte insoweit keine überzogenen Vorstellungen entwickelt haben. 2 2 1 Dies zeigt sich etwa daran, daß die Gerichte es im Falle einer Ü b e r n a h me als ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines informed judgment ansehen, wenn zur Frage des angemessenen Ubernahmepreises die Meinung eines Investmentbankers eingeholt wird. 2 2 2 Zudem richten sich A r t und U m f a n g der einzuholenden Informationen nach dem reasonable belief test, der den directors einige Spielräume läßt. D i e Bestimmung der einzuholenden Informationen nach Maßgabe der Bedeutung der E n t scheidung für das U n t e r n e h m e n (Transaktionsbezug), des zeitlichen Rahmens, der für die Informationsbeschaffung zur Verfügung steht (Zeitbezug), der Kosten der Informationsbeschaffung (Kostenbezug), der Geschäftslage des U n t e r n e h mens (Unternehmensbezug), des Verkehrskreises, dem das U n t e r n e h m e n angehört (Verkehrskreisbezug), und des Unternehmensinteresses 2 2 3 genießt möglicherweise sogar als business judgment ihrerseits den Schutz der business judgment rule. 2 2 4 D i e Zubilligung der Spielräume zeigt sich etwa daran, daß die Gerichte im Falle einer Ü b e r n a h m e das Vorliegen eines informed judgment nicht als fragwürdig ansehen, wenn zur Frage des angemessenen Übernahmepreises 218 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 491f.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.79ff., 117f., 135f.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 92ff. 219 Siehe zu dieser Leitentscheidung (Smith v. Van Gorkom): Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.156ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.79ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 71, 72ff.; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 447. 220 Kock/Dinkel NZG 2004, S. 441,446f.; von Werder/Feld RIW 1996, S. 481,489,493 mit instruktiven Beispielen aus der Rechtsprechung auf den S.485, 487, 487f., 488. 221 Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 86, der betont, daß das Urteil Smith v. Van Gorkom nicht zu einer Flut von Schadensersatzklagen geführt hat. 222 Von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 491. 223 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 83. Siehe dazu auch Greenhow, The statutory business judgment rule, S.47: „A director should be informed about the business reasons for the transaction, the impact of the transaction on the shareholders, employees, customers and other constituencies, management's view as to the price and factors affecting the price including forecasts and the fairness of the transaction." 224 Siehe dazu: Eisenberg Der Konzern 2004, S. 386, 395f.; Greenhow, The statutory business judgment rule, S.47; von Werder/Feld RIW 1996, S.481,490; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.95.

252

J. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

nicht die Meinung eines Investmentbankers eingeholt wird, sofern die notwendigen Informationen von den - oft besser informierten - officers und sonstigen A n gestellten erlangt werden können. 2 2 5 D i e Gerichte haben aber immerhin Orientierungshilfen dafür gegeben, wie die Anforderungen an das A u s m a ß der Informationen, die Vorbereitungs- und Sitzungszeiten, die Qualität und die Quellen der Informationen sowie die B e w e r tung der Informationen negativ zu konkretisieren sind. Sie haben sehr klar gemacht, unter welchen Voraussetzungen diese Anforderungen auf keinem Fall erfüllt sind, weil der board of directors sich nicht hinreichend mit dem Gegenstand des business judgments befaßt hat. 2 2 6 Dies zeigt sich etwa daran, daß die Gerichte im Falle einer Ü b e r n a h m e das Fehlen eines informed judgment annehmen, wenn der Fusionsvorschlag und insbesondere die H ö h e des vorgeschlagenen U b e r n a h mepreises ohne jede Überlegung akzeptiert werden. 2 2 7 (5) rational business

purpose

Ein rational business purpose fehlt, wenn sich das business judgment nicht mit der Verfolgung von irgendeinem nachvollziehbaren Geschäftszweck begründen läßt (cannot be attributed to any rational business purpose). 2 2 8 E s handelt sich hier um das gesellschaftsrechtliche Pendant zum perverse j u r y test. 2 2 9 In diesem Zusammenhang m u ß man den - in den Übersetzungen ins Deutsche häufig verwischten 2 3 0 - Unterschied zwischen rational und reasonable ernst nehmen. E s wird nämlich zwischen the reasonableness of the decision-making process und the reasonableness o f the decision streng getrennt: Bei der Überprüfung der reasonableness o f the decision-making process gilt der reasonable belief test und bei

Von Werder/Feld RIW 1996, S. 481, 491. Siehe dazu von Werder/Feld RIW 1996, S. 481,493 und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 95, der vom Unterschreiten absoluter Mindesterfordernisse spricht. 227 Siehe dazu die zahlreichen instruktiven Beipiele aus der Rechtsprechung bei von Werder/ Feld RIW 1996, S.481, 483f. 484, 485, 485f., 486f. 228 Eisenberg, business judgment rule, S.40ff. und Der Konzern 2004, S.386, 390ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 102f.; Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 132f.; Paefgen, Entscheidungen, S. 165f. und AG 2004, S. 245,255; Kock/Dinkel~NZG 2004, S. 441,447; Luttermann BB 2001, S.2433, 2436. Vgl. auch Mutter, Entscheidungen, S.214 und Bungert AG 1990, S. 139, 142. 229 Greenhow, The statutory business judgment rule, S. 48. 230 Siehe etwa Mutter, Entscheidungen, S.214f., der von reasonableness spricht, und Kronstein/Hawkins RIW 1983, S. 249,252, die von vernünftigerweise sprechen, sowie Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 25, der im Hinblick auf des informed judgment und den rational business purpose von vernünftigerweise spricht. Heermann AG 1998, S.201, 205 kommt der Sache viel näher; er spricht von vernunftwidrig und von einer pauschalen, an allgemeinen Vernunftmaßstäben sowie am Unternehmensinteresse auszurichtenden Schlüssigkeitsprüfung zur Ausschaltung ebenso krasser wie evidenter Fehlentscheidungen. Dasselbe gilt für Kindler ZHR 162 (1998), S. 101,107, der von der Einhaltung der Grenzen zur schieren Unvernunft spricht. 225

226

A.

Ansatzpunkt

253

der Überprüfung der reasonableness of the decision der um vieles großzügigere rational business purpose test. So führt Melvin Aron Eisenberg aus: „Despite the apparently demanding quality of the standard of careful conduct, in practice the standard of review of disinterested conduct by directors or officers is often significantly less stringent, especially when the substance or quality of a decision - that is, the reasonableness of the decision, as opposed to the reasonableness of the decision-making process that has been used - is called into question. In such cases, a much less demanding standard of review may apply, under the business judgment rule. The business judgment rule consists of four conditions and a special standard of review that is applicable, if the four conditions are satisfied, in suits that are based on the substance or quality of a decision a director or officer has made ... then the substance or quality of the director's or officer's decision will be reviewed, not under the standard of careful conduct to determine whether the decision was prudent or reasonable, but under a much more limited standard." 231 Ganz ähnlich heißt es bei der California Law Revision Commission: „The rationality standard is relatively easy to satisfy - conduct that may be imprudent or unreasonable is not necessarily irrational... The rationality standard allows a wider range of discretion than a reasonableness standard would impose; it gives the director a safe harbour from liability for a business judgment that might not be reasonable, so long as it is not so removed from the realm of reason when made that liability should be incurred ... The rationality standard of subdivision (a) (4) is drawn from ALI Principles of Corporate Governance Section 4.01 (c). The ALI's comment to Section 4.01 notes: This standard is intended to provide directors and officers with a wide ambit of discretion. It is recognized that the word Rational', which is widely used by the courts, has a close etymological tie to the word reasonable' and that, at times, the words have been used almost interchangeably. But a sharp distinction is being drawn between the words here. The phrase ,rationally believes' is intended to permit a significantly wider range of discretion than the term Reasonable', and to give a director or officer a safe harbour from liability for business judgments that might arguably fall outside the term Reasonable' but are not so removed from the realm of reason when made that liability should be incurred." 232 Dies zeigt sich am deutlichsten an den Fallgruppen. Es geht zum einen um decisions that cannot be coherently explained:233 „For example, in Selheimer v. Manganese Corp. of America, managers poured a corporations's funds into the development of a single plant even though they knew the plant could not be operated 231

Eisenberg, business judgment rule, S.40. Vgl. auch Eisenberg Der Konzern 2004, S. 386,

390. 232

CRLC, Business Judgment Rule, 1998, S. 14, 24f., 25. Eisenberg, business judgment rule, S. 42f. und Der Konzern 2004, S. 386,391; CRLC, Business Judgment Rule, S. 14. 233

254

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

profitably because of various factors, including lack of a railroad siding and proper store areas. The court imposed liability, because the managers' conduct defied explanation; in fact, the defendants have failed to give any satisfactory explanation or advance any justification for the expenditures." 2 3 4 Es geht weiter um decisions that waste the corporation's assets. 2 3 5 Dabei geht es häufig u m Fälle, in denen überhöhte Gehälter der directors infragestehen 2 3 6 oder in denen Tochtergesellschaften weit unter Wert (etwa 4 0 % ) verkauft werden: 2 3 7 „I take it that so long as the inadequacy of price may reasonably be referred to as an honest exercise of sound judgment, it cannot be denominated as fraudulent. When the price proposed to be accepted is so far below what is found to be a fair one that it can be explained only on the theory of fraud, or a reckless indifference to the rights of others interested, it would seem that it should not be allowed to stand." 2 3 8 Es geht schließlich um decisions that have no direct or indirect benefit for the corporation, 2 3 9 weil sie Zielen dienen, die nicht im Interesse der Gesellschaft liegen. 2 4 0 Dabei wird unter dem Interesse der Gesellschaft nicht nur die Gewinnmaximierung (direct benefit test) verstanden, sondern auch der langfristige Bestand und die Rentabilität des Unternehmen unter Berücksichtigung der Belange ver-

234 Eisenberg, business judgment rule, S. 42f. und Der Konzern 2004, S.386,391; siehe zu diesem Fall auch Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 71 f. Sehr instruktiv auch die von Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 106, angeführte Fallgruppe der Geschäfte, mit denen die Gesellschaft unter keinen Umständen einen Gewinn machen kann, etwa weil „sie Wertpapiere erwirbt und dem Verkäufer gestattet, diese innerhalb von sechs Monaten zum selben Preis zurückzukaufen." 235 Eisenberg, business judgment rule, S. 42; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 104ff.; Aheltshauser, Leitungshaftung, S.71ff., 79; Mutter, Entscheidungen, S.215; Trockels AG 1990, S. 139, 142. 236 Thüsing ZGR 2003, S.457, 463, der auf S.504f. darauf hinweist, daß U.S. amerikanische Gerichte nachträgliche Anerkennungsprämien gebilligt haben, das Schriftum dem aber kritisch gegenübersteht und einen unzulässigen waste of corporate assets annimmt, und die Diskussion um die Höhe von Abfindungen dazu geführt hat, daß Zahlungen, die anläßlich des Wechsels der Kontrolle der Gesellschaft gezahlt werden und die höher sind als das Dreifache der durchschnittlichen Jahresbezüge innerhalb der letzten fünf Jahre, als excess parachute payments die Steuerlast der Gesellschaft nicht mindern (Deficit Reduction Act von 1984); Brauer NZG 2004, S. 502, 505 mit dem Hinweis, daß in jüngerer Zeit verschiedene Gerichte in Delaware bei Vergütungen von einem waste of corporate assets ausgegangen sind, wenn kein Mensch mit gesundem Geschäftsführungssinn annehmen könne, daß das, was die Gesellschaft bekommen habe, dem gleichwertig sei, was sie dafür bezahlt habe, die „Schmerzgrenze" der Gerichte aber „außerordentlich hoch" sei - so habe im Fall Walt Disney Michael Ovitz eine Abfindung von über $ 140 Mio. erhalten, obwohl er nach vierzehn Monaten wegen unzulänglicher Geschäftsführung abberufen worden sei, ohne daß das Gericht einen waste of corporate assets angenommen habe. 237 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 104ff.; Aheltshauser, Leitungshaftung, S.98f.; Trokkels AG 1990, S.139, 142. 238 Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 104f. 239 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 106f.; Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 69f., 75ff., 79, 133; Frank/Moreland RIW 1989, S.761, 763. 240 Frank/Moreland RIW 1989, S. 761, 763.

A.

255

Ansatzpunkt

s c h i e d e n s t e r m i t d e m U n t e r n e h m e n v e r b u n d e n e r I n t e r e s s e n t r ä g e r (indirect b e n e fit test). 2 4 1 cc) Materiell-rechtliche judgment

Konsequenzen

des Nichteingreifens

der

business

rule

D e r entire (intrinsic) f a i r n e s s test k o m m t i n s b e s o n d e r e d a n n z u r A n w e n d u n g , w e n n es an e i n e m d i s i n t e r e s t e d j u d g m e n t u n d / o d e r an e i n e m i n f o r m e d j u d g m e n t f e h l t . 2 4 2 E r b e i n h a l t e t z w e i K r i t e r i e n , d a s fair d e a l i n g u n d d e n fair price. Sie s t e h e n nicht isoliert n e b e n e i n a n d e r , s o n d e r n e r g e b e n ein G e s a m t b i l d d e r f a i r n e s s . D a b e i ist v o n b e s o n d e r e r B e d e u t u n g , d a ß ein m a n g e l n d e s fair d e a l i n g als ein I n d i z f ü r ein e n m a n g e l n d e n fair p r i c e a n g e s e h e n w i r d . 2 4 3 D a s K r i t e r i u m d e s fair d e a l i n g b e z i e h t s i c h - w i e d a s K r i t e r i u m d e s i n f o r m e d j u d g m e n t - auf the r e a s o n a b l e n e s s of the d e c i s i o n - m a k i n g p r o c e s s u n d spielt in d e n F ä l l e n d e s i n t e r e s t e d j u d g m e n t eine b e s o n d e r e R o l l e : D i e i n t e r e s t e d d i r e c t o r s m ü s s e n ihre E i g e n i n t e r e s s e n u n d die z u g e h ö r i g e n r e l e v a n t e n I n f o r m a t i o n e n o f f e n b a r e n , u n d sie d ü r f e n d i e E n t s c h e i d u n g nicht z u i h r e n G u n s t e n b e e i n f l u s 244

sen. D a s K r i t e r i u m d e s fair p r i c e b e z i e h t sich - w i e d a s K r i t e r i u m d e s rational b u s i n e s s p u r p o s e - auf the r e a s o n a b l e n e s s of the d e c i s i o n u n d spielt in d e n F ä l l e n d e s i n t e r e s t e d j u d g m e n t u n d d e s u n i n f o r m e d j u d g m e n t eine R o l l e . I n d e n F ä l l e n d e s i n t e r e s t e d j u d g m e n t w i r d g e p r ü f t , o b eine „ u n a n g e m e s s e n e B e n a c h t e i l i g u n g d e r G e s e l l s c h a f t " 2 4 5 v o r l i e g t . D a b e i w i r d i m H i n b l i c k auf I n - s i c h - G e s c h ä f t e , K o m 241 Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 69f., 75ff., 79, 133; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 106f.; Fleischer A G 2001, S. 171, 174, 175, 177. Sehr instruktiv sind die bei Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 107 angeführten Urteilsgründe mit Blick auf die Entscheidung des board of directors eines Baseball Teams, mit Rücksicht auf die Nachbarschaft keine Beleuchtungsanlage aufzustellen und keine Abendspiele zu veranstalten. Das Gericht führte aus, es sei nicht dargetan, daß die Sorge um die Nachbarschaft nicht im langfristigen Interesse der Gesellschaft liege, denn es sei denkbar, daß die Besucher ausblieben oder der Grundstückswert fiele. Das Gericht betonte überdies zum einen, daß es die Entscheidung nicht als richtig bezeichnen würde, sondern hinnehmen müsse, und zum anderen, daß es auf die abweichende Praxis der anderen Baseball Teams nicht ankomme, da es auch für verlustbringende Unternehmen keine Verpflichtung gebe, die Praxis erfolgreicher Unternehmen zu übernehmen. 242

Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 167 weist zutreffend daraufhin, daß sich in den Fällen des fehlenden rational business purpose die Frage nach der fairness der angegriffenen Maßnahme nicht mehr ernsthaft stellt; dasselbe dürfte in den Fällen des fehlenden good faith gelten. Siehe zum entire (intrinsic) fairness test auch: Eisenberg Der Konzern 2004, S. 386,391 f.; Kock/Dinkel N Z G 2004, S.441, 447; Paefgen A G 2004, S.245, 249. 243 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 169, 172, 174. 244 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 169. In den Fällen des uninformed judgment kann ein fair dealing gegeben sein, wenn andere Umstände - etwa harte Preisverhandlungen mit dem Vertragspartner - für ein fair dealing sprechen und den Mangel des uninformierten und/oder passiven decisionmaking durch die directors überwiegen; vgl. dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 171 f., 172 f. 245 So die Formulierung von Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.68.

256

J. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

pensationsleistungen und Nutzungen von Gesellschaftsressourcen auf die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung und dabei auch auf einen Vergleichstest abgestellt. 246 Es wird allerdings eingeräumt, daß „diese Kriterien relativ unbestimmt sind". 2 4 7 In den Fällen des uninformed judgment kommt es auf die Bedeutung des business judgments für das Unternehmen (Transaktionsbezug), die Geschäftslage des Unternehmens (Unternehmensbezug) und den Verkehrskreis, dem das Unternehmen angehört (Verkehrskreisbezug), an. 2 4 8 Dabei ist allerdings festzustellen, daß die Grenzen zwischen dem fehlenden rational business purpose (waste of corporation's assets) und dem fehlenden fair price häufig fließend sind, 2 4 9 und zwar insbesondere bei der Überprüfung von Risikogeschäften, vom Rückererwerb eigener Aktien/Anteile, von Gewinnausschüttungen und Vermögenverlagerungen sowie von Spenden. 2 5 0 Es kommt erschwerend hinzu, daß letztlich die Uberzeugungskraft der Argumente der Parteien den Ausgang des entire (intrinsic) fairness tests bestimmt. 2 5 1 Dies zeigt sich etwa daran, daß im Rahmen von Unternehmensverkäufen zwar marktübliche Bedingungen und Preise vereinbart werden müssen, aber jede Bewertungsmethode angewendet werden darf, die in Finanzkreisen akzeptiert wird. 2 5 2 N u r unter den speziellen Voraussetzungen, daß es an einem disinterested judgment fehlt und der entire (intrinsic) fairness test fehlschlägt, folgen weitere Prüfungsschritte. Zunächst kommt der fraud/waste/gift test zur Anwendung. Es wird geprüft, ob ein Fall von fraud (Betrug), waste of corporations's assets (Verschwendung) oder gift (Geschenk) vorliegt. Ist dies der Fall, ist die Prüfung zuende und der Pflichtverstoß steht fest. Andernfalls kommt nunmehr der disinterested ratification test zum Zuge. Es wird geprüft, ob eine Zustimmung durch disinterested directors oder shareholders gegeben ist. Ist dies der Fall, ist die Prüfung zuende und es liegt kein Pflichtverstoß vor. Andernfalls kommt schließlich der

246 Aheltshauser, Leitungshaftung, S.281f., 344, 290ff., 346f., 357f., 360, 318, 384, 387f. Siehe zu den Fällen, in denen überhöhte Vergütungen infragestehen, auch Brauer N Z G 2004, S. 502, 505: „Die Gerichte gehen davon aus, daß die Vergütung nicht in einem unangemessenen (excessive) oder unvernünftigen (unreasonable) Verhältnis zu den geleisteten Diensten und zur Einkommenssituation der Gesellschaft stehen darf." 2 4 7 So die Formulierung von Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 358 (siehe auch S. 352, 378f.). 248 Aheltshauser, Leitungshaftung, S.62, 68f., 91f., l l l f . , 172f., 1 7 7 , 1 8 2 , 1 8 9 , 1 9 4 , 2 0 0 f . , 219f. 2 4 9 Dies wird auch an den Ubersetzungsversuchen ins Deutsche deutlich. So spricht Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.68, 104f., 168, 172 im Hinblick auf den rational business purpose von Irrationalität und im Hinblick auf den fair price von Angemessenheit und Aheltshauser, Leitungshaftung, S.68f., 79, 273, 276, 281 f. im Hinblick auf den rational business purpose von Angemessenheit und im Hinblick auf den fair price von Fairness. 2 5 0 Dies belegt besonders deutlich die Darstellung bei Aheltshauser, Leitungshaftung, S.60ff./169ff., 63ff./176f., 69ff./182f. und 187ff., 75ff./197 und 200. 2 5 1 So ausdrücklich Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 175. 252 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.36, 168f., 169, 172, 173f.

A. Ansatzpunkt

257

just and reasonable test zur Anwendung. E s wird geprüft, o b die angegriffene M a ß n a h m e just and reasonable ist. 2 5 3 Hinter dem der just and reasonable test steckt erkennbar die Logik, daß etwa ein In-sich-Geschäft, dessen „Konditionen der Gesellschaft gegenüber" nicht „hinreichend fair" 2 5 4 sind, trotzdem „ausgewogen" 2 5 5 sein kann und dann hinzunehmen ist, es sei denn, es liegt ein Fall von fraud (Betrug), waste of corporations's assets (Verschwendung) oder gift (Geschenk) vor. 2 5 6 Die erste These ist nicht leicht nachzuvollziehen, weil sich das Kriterium des just and reasonable - wie die Kriterien des rational business purpose und des fair price - auf the reasonableness o f the decision bezieht und gerade im Verhältnis zum Kriterium des fair price A b grenzungsschwierigkeiten aufwirft. 2 5 7 D i e zweite These ist insoweit konsequent, als hier der Gedanke des besonders schweren Falls wiederkehrt, wie er auch im Verhältnis des fehlenden good faith und des fehlenden rational business purpose (waste o f corporation's assets/no direct or indirect benefit for the Corporation) einerseits zu dem fehlenden fair price andererseits zum Ausdruck k o m m t .

b) Die Vorzüge der gesellschaftsrechtlichen

Entscheidungsfehlerlehre

D i e hier entwickelte gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre weist zwar einige grundsätzliche Ubereinstimmungen mit der U . S . amerikanischen R e c h t sprechung auf, aber es bestehen erhebliche Abweichungen im Detail. D i e E n t scheidungsfreiräume werden stärker begrenzt, die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler härter sanktioniert, und es wird auf eine Ausdifferenzierung verschiedener Kontrollmaßstäbe verzichtet. D i e Konsequenz ist eine strengere und stringentere Haftung als nach der U . S . amerikanischen Rechtsprechung.

aa) Unterschiede im Konzept I m H i n b l i c k auf das K o n z e p t liegt nur eine grundsätzliche Übereinstimmung vor. D i e U . S . amerikanische Rechtsprechung geht ebenfalls von dem K o n z e p t der negativen Kontrolle aus, zieht daraus jedoch nicht dieselben Konsequenzen. 253 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.54f., 66ff., 68f., 168ff., 175ff. und Abeltshauser, Leitungshaftung, S.276ff., 281ff., 292f., 308ff., 320f.; vgl. auch Paefgen, Entscheidungen, S. 162ff. 254 So die Formulierung von Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 273. 255 So die Formulierung von Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 69. 256 In der Literatur bleibt häufig die Frage offen, warum eine ratification by shareholder vote nur im Falle einer fehlenden disinterestedness in Frage kommen soll; siehe dazu - völlig unkritisch -Abeltshauser, Leitungshaftung, S.276ff. und Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 54f., 69 einerseits und S. 175ff. andererseits, aber auch Paefgen AG 2004, S.245, 253, 254f., 261. 257 Dies klingt bei Abeltshauser, Leitungshaftung, S.319f. an und wird auch an den Ubersetzungsversuchen ins Deutsche deutlich. So spricht Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 68f., 104f., 168,172 im Hinblick auf den rational business purpose von Irrationalität, im Hinblick auf den fair price von Angemessenheit und im Hinblick auf den „just and reasonable" test von Ausgewogenheit.

258 (1)

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Rechtsvergleich

Im U.S. amerikanischen Recht wird zwischen the reasonableness of the decisionmaking process und the reasonableness of the decisión unterschieden. Im Anwendungsbereich der business judgment rule gilt im ersten Fall als rechtlicher Kontrollmaßstab der strengere reasonable belief test und im zweiten Fall der großzügigere rational business purpose test. Dies entspricht dem Ansatz der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre, die Kontrollkompetenz im Hinblick auf das Ergebnis einer Einschätzung bzw. Ermessensausübung (und damit in der Regel im Hinblick auf den Tenor der Entscheidung) zu begrenzen und auf den Vorgang der Einschätzung bzw. Ermessensausübung zu erstrecken. Die Gemeinsamkeit im konzeptionellen Ansatz besteht mithin darin, daß die beschränkte gerichtliche Uberprüfung des Entscheidungstenors durch eine gerichtliche Uberprüfung des Entscheidungsprozesses kompensiert und damit auch legitimiert wird. Die U.S. amerikanische Rechtsprechung geht jedoch nicht von einer Pflichtverletzung aus, wenn die Voraussetzungen der business judgment rule nicht erfüllt sind, sondern ermittelt sie in einem zweiten Prüfungsschritt aufgrund des entire (intrinsic) fairness tests. Dies entspricht nicht den Konsequenzen der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre. Danach führen die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler stets ohne weitere Prüfung zur Pflichtwidrigkeit der auf den zugehörigen Einschätzungen bzw. Ermessensausübungen beruhenden Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG und grundsätzlich auch zur Haftung. 258 Da nicht nur ein fehlerhafter Entscheidungstenor, sondern auch ein fehlerhafter Entscheidungsprozeß die Pflichtwidrigkeit der Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats und in der Regel die Haftung begründet, sind die haftungsrechtlichen Konsequenzen der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre mithin deutlich strenger. (2)

Würdigung

Die strengeren haftungsrechtlichen Konsequenzen rechtfertigen sich letztlich daraus, daß die Verschärfung des Kontrollmaßstabes ohne Sinn wäre, würden Vorstände und Aufsichtsräte zur Einhaltung der ihnen damit obliegenden Rechtspflichten im Sinne der §§93, 116 AktG nicht auch durch effektive Sanktionsmöglichkeiten angehalten. Dies ist auch in dogmatischer Hinsicht konsequent: Ist eine Entscheidung des Vorstands/Aufsichtsrats nur beschränkt gerichtlich kontrollierbar, so müssen die begrenzten rechtlichen Anforderungen auch durchgesetzt werden. Es dürfen keine zusätzlichen Haftungsfreiräume eröffnet werden. Die hier entwickelte gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre 258

Zu den Enthaftungsgründen siehe oben S.228ff.

A.

Ansatzpunkt

259

macht gewissermaßen ernst mit dem U.S. amerikanischen Ansatz, daß directors und officers nur für bad decisions, nicht aber für proper decisions that turn out badly haften sollen. Denn sie begründet nicht nur Haftungsfreiräume, sondern auch damit korrespondierende Haftungsrisiken. bb) Unterschiede in den

Fehlerkategorien

Im Hinblick auf die Fehlerkategorien liegt ebenfalls nur eine grundsätzliche Ubereinstimmung vor. Die U.S. amerikanische Rechtsprechung nimmt ähnliche Fehlerkategorien an, bleibt jedoch im Konkretisierungsgrad hinter der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre zurück. (1)

Rechtsvergleich

Die Abwägungsunschlüssigkeit, die Abwägungsmißorganisation und der Abwägungsmangel weisen Parallelen zu dem informed judgment im Rahmen der business judgment rule und zu dem ähnlich gelagerten fair dealing im Rahmen des entire (intrinsic) fairness tests auf. Sie beinhalten nach der U.S. amerikanischen Rechtsprechung Anforderungen an das Ausmaß der Informationen, die Vorbereitungs- und Sitzungszeiten, die Qualität und die Quellen der Informationen sowie die Bewertung der Informationen. Die Abwägungsunschlüssigkeit liegt vor, wenn die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht, nicht vollständig oder nicht ausschließlich gewürdigt werden oder zwar gewürdigt werden, aber zuvor nicht oder nicht vollständig zutreffend bestimmt worden sind. Sie bezieht sich damit ebenfalls auf das erforderliche Ausmaß und die erforderliche Qualität der Informationen. Der Abwägungsmangel liegt vor, wenn die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht in einer Weise bewertet, gewichtet und ausgeglichen worden sind, die im Lichte der objektiven Umstände, der Wertungsgrundsätze und/oder ihres Rationalgehaltes gerechtfertigt werden kann. Sie erfaßt unter dem Gesichtspunkt des Rationalgehalts das Erfordernis, daß die wesentlichen Informationen, die in zumutbarem Rahmen zur Verfügung stehen, aufgenommen, überprüft, bewertet und diskutiert werden. Dies entspricht dem U.S. amerikanischen Erfordernis, den Gegenstand des business judgments gründlich zu untersuchen, Lösungsalternativen in einem gut fundierten und abwägenden Prozeß zu entwickeln und zu bewerten und die gemessen an den gewonnenen Erkenntnissen überlegene Lösungsalternative auszuwählen. Die Abwägungsmißorganisation liegt vor, wenn im Hinblick auf die Zusammensetzung, die Selbstorganisation und das Instrumentarium des Organs, dem die Abwägung aufgegeben ist, die organisatorischen Voraussetzungen der Abwägung nicht gegeben sind. Sie beruht auf der Erkenntnis, daß die Entscheidungsorganisation die Qualität der Entscheidung nachhaltig beeinflußt. Dieser Ansatz kommt auch in dem informed judgment zum Ausdruck. Denn nur kompetenten

260

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

directors ist das geforderte informierte und aktive Verhalten möglich. Die Frage der Vorbereitungs- und Sitzungszeiten betrifft die organisatorischen Voraussetzungen der Entscheidungsfundierung und der Entscheidungsfindung. 259 Unter dem Gesichtspunkt der Informationsbeschaffung werden vermittels des right of reliance (auch) die Informationssysteme/Informationsordnungen und damit die informationellen Instrumentarien in bezug genommen. 2 6 0 Die Abweichungen werden deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die U.S. amerikanischen Gerichte die Anforderungen an das Ausmaß der Informationen, die Vorbereitungs- und Sitzungszeiten, die Qualität und die Quellen der Informationen sowie die Bewertung der Informationen nicht positiv konkretisiert haben und die Frage, ob ein director ausreichende Informationen eingeholt hat und/oder sich auf Informationen Dritter hat verlassen dürfen, nicht für voll nachprüfbar halten (reasonable belief test/business judgment rule). Wie schon an der Definition der Abwägungsunschlüssigkeit, der Abwägungsmißorganisation und des Abwägungsmangels und der Herausbildung mehrerer Fehlerkategorien erkennbar wird, sind die Anforderungen der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre präziser und darüberhinaus voll nachprüfbar und damit auch höher. Die Überschreitung, die Zweckverkehrung und der Abwägungsmangel weisen Parallelen zum rational business purpose im Rahmen der business judgment rule auf. Die Überschreitung als Überdehnung der Befugnisnorm und die Zweckverkehrung als Verfolgung eines anderen Zwecks als des Unternehmenswohls erfassen die Fälle, in denen decisions that have no direct or indirect benefit for the Corporation angenommen werden. Die Überschreitung und der Abwägungsmangel erfassen die Fälle, in denen decisions that cannot be coherently explained or that waste the corporation's assets angenommen werden. Wie schon an der Definition der Überschreitung, der Zweckverkehrung und des Abwägungsmangels und der Ausdifferenzierung mehrerer Fehlerkategorien erkennbar wird, sind die Anforderungen der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre präziser - und damit auch höher. Im Lichte des Rechtsvergleichs liegen sie eher auf der Linie des fair price im Rahmen des entire (intrinsic) fairness tests. (2)

Würdigung

Die im Verhältnis zur U.S. amerikanischen business judgment rule deutlich erhöhte Kontrolldichte der hier entwickelten gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre rechtfertigt sich aus der Steuerungsfunktion der Organhaftung heraus. Die rechtlich relevanten Entscheidungsfehler müssen so konkretisiert werden, daß sie in optimaler Weise dazu beitragen, Vorstände und Aufsichtsräte Von Werder/Feld R I W 1996, S.481, 489. Vgl. dazu von Werder/Feld R I W 1996, S.481, 491 und Aheltshauser, S. 135. 259

260

Leitungshaftung,

A. Ansatzpunkt

261

dahin zu motivieren, verantwortlich und mit dem Ziel einer langfristigen Wertschöpfung und nachhaltigen Steigerung des Unternehmenswerts zu handeln. Das können sie nur, wenn sie den Vorständen und Aufsichtsräten hinreichende A n haltspunkte für eine effiziente Aufgabenwahrnehmung geben, ohne sie durch unübersehbare Haftungsrisiken in ihrem Engagement zu behindern. D i e hier entwickelte Entscheidungsfehlerlehre vermag dies anders als die U . S . amerikanischer business judgment rule zu leisten. Ihre Anforderungen an den Entscheidungsprozeß und den Entscheidungstenor sind konkreter und damit für Vorstände wie Aufsichtsräte „greifbarer". Zugleich beschränken sie sich auf das, „was einer Überprüfung an Rechtsmaßstäben zugänglich ist" 2 6 1 und verwirklichen damit das von der U . S . amerikanischen Rechtsprechung verfolgte Anliegen, einem risk-averse decisionmaking vorzubeugen. 2 6 2 D i e im Verhältnis zur U . S . amerikanischen business judgment rule deutlich erhöhte Kontrolldichte ist auch in dogmatischer Hinsicht konsequent: Es wird nur die betriebswirtschaftlich absicherbare beschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit der Entscheidung respektiert, oder anders gewendet, was im H i n b l i c k auf den Entscheidungstenor und den Entscheidungsprozeß gerichtlich überprüfbar ist, wird auch überprüft. cc) Unterschiede

im

Kontrollmaßstab

D e r zentrale Unterschied liegt allerdings darin, daß die hier entwickelte gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre die U . S . amerikanische Differenzierung zwischen dem informed judgment und dem rational business purpose einerseits (business judgment rule) und dem fair dealing und dem fair price andererseits (entire (intrinsic) fairness test) nicht übernimmt. E s wird nur ein einziger K o n trollmaßstab zugrundegelegt. D e r G r u n d dafür ist, daß das differenzierende K o n z e p t schon im U . S . amerikanischen R e c h t nicht völlig überzeugt und in das deutsche R e c h t bereits vor diesem Hintergrund, aber auch aus anderen Ü b e r l e gungen heraus nicht übernommen werden sollte. (1) Abgrenzungs-

und

Legitimationsprobleme

I m U . S . amerikanischen Recht sind unterschiedlich weite rechtliche K o n t r o l l maßstäbe und Haftungsfreiräume gewollt. 2 6 3 Es wird zwischen dem informed

So die Formulierung von Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.25. CRLC, Business Judgment Rule, S. 8f.; Eisenberg, business judgment rule, S. 43ff. und Der Konzern 2004, S.386, 392ff., 394; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.21ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 131; Trockels AG 1990, S. 139, 140; von Werder/Feld RIW 1996, S.481, 482. 263 So wird etwa geltend gemacht, daß ein großzügiger rechtlicher Kontrollmaßstab bei der Uberprüfung der reasonableness of the decision im Falle eines interested judgments nicht gerechtfertigt sei; vgl. dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 51 und Trockels AG 1990, S. 139, 141 f. 261 262

262

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

judgment und dem rational business purpose einerseits (business judgment rule) und dem fair dealing und dem fair price andererseits (entire (intrinsic) fairness test) differenziert. D i e Gerichte begründen den der business judgment rule innewohnenden juridical self restraint damit, daß sie die reasonableness of business decisions im übrigen - apart from the rational business purpose test - nicht besser beurteilen könnten als die dazu berufenen directors und officers (institutional incompetence). Sie ziehen daraus den Schluß, daß sie ihre Urteile über die reasonableness o f business decisions an die Stelle der Urteile der directors und officers setzen würden, wenn sie mit Blick auf die reasonableness o f business decisions nicht nur den rational business purpose test durchführen würden (second guess decisions). 2 6 4 D i e Problematik der Differenzierung zwischen den beiden unterschiedlich weiten Kontrollmaßstäben zeigt sich vor diesem Hintergrund bereits daran, daß die Gerichte den juridical self restraint (business judgment rule) in der Praxis nicht durchhalten. D i e G r e n z e n zwischen dem fehlenden rational business purpose (waste of corporation's assets) und dem fehlenden fair price sind fließend. So k o m m t in vielen Fällen eines informed disinterested business judgments bei der Uberprüfung der reasonableness of the decision statt des rational business purpose tests (in der dargelegten Interpretation) der entire (intrinsic) fairness test (im Gewand des rational business purpose tests) zur Anwendung. I m Fall eines (informed or uninformed) interested business judgments und im Fall eines uninformed disinterested judgments k o m m t der entire (intrinsic) fairness test zwar ausdrücklich zur Anwendung, führt aber - entgegen einer unter deutschen G e sellschaftsrechtlern weit verbreiteten Auffassung - nicht zu einer vollinhaltlichen Überprüfung der reasonableness of the decision. 2 6 5 I m H i n b l i c k auf ein interested judgment sind die Kriterien unbestimmt (und, was den nachgelagerten just and reasonable test angeht, höchst zweifelhaft). I m H i n b l i c k auf ein uninformed judgment entscheidet letztlich die Uberzeugungskraft der Argumente der Parteien über den Ausgang des entire (intrinsic) fairness tests.

264 Siehe dazu: Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.22; Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 130f.; Mutter, Entscheidungen, S.208; Trockels AG 1990, S. 139, 140; von Werder/Feld RIW 1996, S. 481, 482. 265 Siehe zum Meinungsstand: Paefgen, Entscheidungen, S. 168f. („umfassende gerichtliche Uberprüfung sowohl des Entscheidungsverfahrens einschließlich der Entscheidungsgrundlagen und der vom board verwendeten Informationen wie auch des Entscheidungsergebnisses in allen seinen unternehmerischen Aspekten") und S. 185 („volle gerichtliche Uberprüfung") und AG 2004, S. 245, 249 („umfassende gerichtliche Uberprüfung der Entscheidung, was die Umstände ihres Zustandekommens, vor allem aber auch die Vereinbarkeit ihres Ergebnisses und ihrer Auswirkungen mit dem Interesse der Gesellschaft und ihrer Aktionäre beinhaltet"); Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 172,183 („weitergehende richterliche Inhaltskontrolle") und S. 177,182,189, 194,201 („inhaltliche Uberprüfung"); Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 167 („genaue inhaltliche Uberprüfung").

A. Ansatzpunkt

263

Dieser Befund belegt aber nicht nur erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen dem rational business purpose und dem fair price. 2 6 6 E r wirft auch ein Schlaglicht auf das sachlogische Problem der Differenzierung zwischen den beiden unterschiedlich weiten Kontrollmaßstäben. D i e Gerichte lassen sich letztlich nicht davon leiten, o b bei der Uberprüfung der reasonableness of the decision ein großzügiger rechtlicher Kontrollmaßstab (der rational business purpose test) oder ein strenger rechtlicher Kontrollmaßstab (der entire (intrinsic) fairness test) zur Anwendung k o m m e n soll. D e r der business judgment rule innewohnende juridical self restraint und damit der rational business purpose test (in der dargelegten Interpretation) ist mithin keine sachlogische K o n s e q u e n z einer business decision 2 6 7 und entspricht daher auch keiner inhärenten G r e n z e , die der einfordbaren Entscheidungsqualität gesetzt ist. Bei der Überprüfung der reasonableness of the decision kann ein strengerer rechtlicher Kontrollmaßstab als der rational business purpose test (in der dargelegten Interpretation) zugrundegelegt werden, ohne daß das Urteil der directors und officers über die reasonableness o f business decisions bereits ersetzt (und nicht mehr nur überprüft) würde. 2 6 8 Es sei nur angemerkt, daß gerade wegen der ganz erheblichen Probleme bei der Interpretation der business judgment rule (in funktioneller und inhaltlicher H i n sicht) und - auch daraus resultierend - bei der Konkretisierung des entire (intrinsic) fairness tests die Kodifizierungsbemühungen des C o m m i t t e e on Corporate Laws der American B a r Association (Revised Model Business Corporation A c t 1998) unvollständig gewesen sind, die Kodifizierungsbemühungen des American L a w Institute (Principles of C o r p o r a t e Governance 1994) umstritten geblieben sind 2 6 9 und die Kodifizierungsbemühungen der California L a w Revision C o m i s sion (Recommendation - Business Judgment Rule 1 9 9 3 - 1 9 9 8 ) bislang zu keinen Ergebnissen geführt haben. 2 7 0

266 Die gleichen Abgrenzungsprobleme zeigen sich auch bei dem Versuch von Roth, Ermessen, S. 97ff., 103 ff., zwischen „spezialgesetzlich geregeltem Ermessen" (das typische Fälle der duty of loyalty und damit des entire (intrinsic) fairness tests erfaßt; siehe dazu S. 58ff.) und „unternehmerischem Ermessen" (das typische Fälle der duty of care und damit der business judgment rule erfaßt; siehe dazu S.74ff.) und daran anknüpfend zwischen den Kontrollmaßstäben der „Unvertretbarkeit" („offenkundig und eindeutig unrichtig"; so S.306) und der „Unverantwortlichkeit" („fehlende kaufmännische Rechtfertigung offensichtlich"; so S. 99f.) zu unterscheiden, weil dies unscharf bleibt, wie die Ausführungen auf den S. 121 ff., 123 ff. besonders deutlich belegen. Siehe dazu auch Roth BB 2004, S. 1066, 1068. 267 Ganz in diesem Sinne meint auch Trockels AG 1990, S. 139,140, es sei zweifelhaft, ob sich das Ziel der Nichteinmischung in Geschäftsentscheidungen erreichen lasse, denn auch zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs der business judgment rule müßten sich die Gerichte intensiv mit wirtschaftlichen und geschäftspolitischen Fragestellungen beschäftigen. 268 Siehe dazu: Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.22; Abeltsbauser, Leitungshaftung, S. 130f.; Mutter, Entscheidungen, S.208; Trockels AG 1990, S. 139, 140; von Werder/Feld. R I W 1996, S.481, 482. 269 Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.23ff., 28ff. 270 CLRC, Business Judgment Rule, S. 16, 23, 26, 28.

264

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

(2) Funktion

der

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

Aktionärsklage

Es gibt nicht viele Urteile, in denen die Frage des rational business purpose eine entscheidende Rolle gespielt hat 271 und in denen es dann auch noch um die „Bewertung allgemein betriebswirtschaftlicher Führungsentscheidungen" 272 oder „regulärer unternehmerischer Entscheidungen ... wie die Einführung eines neuen Produktes oder die Eröffnung eines neuen Werkes" 2 7 3 gegangen ist. 274 Es gibt auch nicht viele Urteile, in denen der entire (intrinsic) fairness test zur Anwendung gekommen ist, ohne daß ein interested judgment vorgelegen hat, und in denen es dann um etwas anderes als die Bewertung eines Unternehmensverkauf ge275

gangen ist. Dafür gibt es einen Grund: Die Aktionärsklage wird im Hinblick auf ihre Erfolgschancen gewöhnlich nur wegen außerordentlichen oder irregulären business decisions oder wegen möglicher Verletzungen der duty of loyalty, die nicht in den Anwendungsbereich der business judgment rule fallen (kein business judgment oder kein disinterested judgment), erhoben. 2 7 6 Die besonderen Erfolgschancen dieser Klagegründe beruhen auf den unterschiedlichen rechtlichen Kontrollmaßstäben: Im Hinblick auf die duty of care (disinterested conduct) gilt vorrangig der großzügige rechtliche Kontrollmaßstab der business judgment rule mit der Konsequenz grundsätzlich geringerer Erfolgschancen. Im Hinblick auf die duty of loyalty (self-interested conduct) gilt dagegen vorrangig der strenge rechtliche Kontrollmaßstab des entire (intrinsic) fairness tests mit der Konsequenz grundsätzlich höherer Erfolgschancen. Dies ist kein Zufall. Die Aktionärsklage dient in funktionaler Hinsicht vor allem der Durchsetzung der duty of loyalty. Dahinter steht die Uberzeugung, daß die duty of loyalty ohne gerichtliche Überprüfung praktisch undurchsetzbar wäre, während zur Durchsetzung der duty of care die Kräfte des Marktes im allge271 So ausdrücklich Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 103. Siehe dazu auch Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 103ff., der von „Irrationalität" und „Verfolgung gesellschaftszweckfremder Interessen" spricht, sowie Aheltshauser, Leitungshaftung, S.60ff., 169ff., 63ff., 176f., 69ff., 182f., 187ff. sowie S. 71ff., 192ff., 75ff., 196ff., der von „Unternehmensinteresse und Verhältnismäßigkeit" und (ausschließlich oder ergänzend) von „waste of corporation's assets" spricht.

So die Formulierung von Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 193. So die Formulierung von Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 179. 2 7 4 Siehe dazu Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 179 und Aheltshauser, Leitungshaftung, S.71ff„ 192 ff. 2 7 5 So ausdrücklich Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 174. In diesen Fällen wurde regelmäßig nicht um das Vorliegen eines informed judgment, sondern um das Vorliegen eines rational business purpose gestritten (siehe dazu Aheltshauser, Leitungshaftung, S.60ff., 63ff., 69ff., 71 ff., 75ff.), und zwar mit der Konsequenz, daß der entire (intrinsic) fairness test nicht ergänzend eingreifen kann, weil die Klage entweder ohne weitere Uberprüfung der Entscheidung abgewiesen wird (safe harbour) oder weil die Frage nach der Fairneß der angegriffenen Maßnahme nicht mehr ernsthaft gestellt werden kann (Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 167). 272

273

276 Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 179 und Aheltshauser, Leitungshaftung, S. 60ff., 63ff., 69ff„ 71 ff., 75ff„ 98ff„ 102ff. und S.274ff„ 285ff„ 293ff., 298ff., 312ff„ 317ff.

A.

Ansatzpunkt

265

meinen wirksamer seien; die duty of loyalty ist historisch gesehen immer einer schärferen gerichtlichen Uberprüfung unterworfen gewesen.277 Dieser Dualismus ist durch den Sarbanes-Oxley Act 7/2002 noch verstärkt worden. Zur Vermeidung von Interessenkonflikten ist die direkte und indirekte Vergabe von Krediten an directors, executive officers und vergleichbare Funktionsträger nunmehr mit Ausnahme von bestimmten üblichen Verbraucher- und Bankkrediten schlicht verboten (Section 402 SOA). 2 7 8 Eine höhere Kontrolldichte in den Fällen, in denen nach U.S. amerikanischem Recht ein Verstoß gegen die duty of loyalty in Rede steht, ist im deutschen Recht nicht geboten. Denn typischen Interessenkonflikten wird durch Zuständigkeitsregeln vorgebeugt. Dies erfolgt im Hinblick auf In-sich-Geschäfte, Kompensationsleistungen und Nutzungen von Gesellschaftsressourcen durch die §§78 Abs. 1 AktG, 112 AktG, 181 B G B iVm. einer Gestattung des Aufsichtsrats nach § 78 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 AktG analog (oder einem Einwilligungsvorbehalt des Aufsichtsrats nach §89 Abs. 3 und Abs. 4 AktG) und durch die §§84, 87, 88, 89 AktG. 2 7 9 Eine Übernahme der U.S. amerikanischen Rechtsprechung zur höheren Kontrolldichte bei möglichen Verstößen gegen die duty of loyalty als bei möglichen Verstößen gegen die duty of care ist mithin mangels vergleichbarer Ausgangs- und Gefährdungslage nicht gerechtfertigt. 280

277 Coffee, Corporate Governance, S. 165,200ff. In diesem Zusammenhang spielt die demand rule in Verbindung mit den Special Litigation Committees eine besondere Rolle. Hier spiegeln sich zum einen die unterschiedlichen rechtlichen Kontrollmaßstäbe: Denn angesichts der sich aus der Aufforderung ergebenden Nachteile (Geltung des board of directors als disinterested zum Zeitpunkt der Antwort sowie im übrigen Anwendung der business judgment rule auf die Antwort) richten die Kläger zumeist keine Aufforderung an den board of directors, sondern machen die Vergeblichkeit der Aufforderung (wegen fehlender disinterestedness des board of directors zur Zeit der Antwort) geltend; siehe dazu Coffee, Corporate Governance, S. 165,187. Hier zeigt sich zum anderen der Unterschied zwischen Theorie und Praxis: „Die richterliche Verweisung auf das Sonderausschußverfahren unterhöhlt jeden wirksamen prozessualen Rechtsbehelf gegen Insichgeschäfte. Wie gravierend die Verletzung der Treuepflicht auch ist, für von fähigen Rechtsanwälten unterstützte Beklagte ist es anscheinend möglich, einen Sonderausschuß einzusetzen (der erforderlichenfalls mit neu ernannten directors besetzt wird, wobei zwischen diesen und den Beklagten kein leicht erkennbares Beziehungsgeflecht besteht) und die letztendlich günstige Entscheidung des Ausschusses abzuwarten"; Coffee, Corporate Governance, S. 165, 201. 2 7 8 Siehe dazu: Hütten/Stromann B B 2003, S. 2223,2227; Block B K R 2003, S. 774,787; Donald W M 2003, S. 705, 710; Kersting ZIP 2003, S.233, 235. 279 Abeltshauser, Leitungshaftung, S.337f., 340ff., 345ff., 351f., 353f., 357ff. (wobei er allerdings übersieht, daß § 87 A k t G auch „Nebenleistungen jeder Art" erfaßt); siehe dazu auch Paefgen, Entscheidungen, S. 192ff. („Kompetenzbeschränkung") und S.200ff. („Stimmverbote") sowie Rdn.264 des Kommissionsberichts. 280 Paefgen, Entscheidungen, S. 192ff., 217, sieht dieses Problem, will aber bei der U.S. amerikanischen Lösung bleiben und dies durch eine „restriktive Handhabung des Kompetenzentzuges und des Stimmrechtsausschlusses" (S.206f.) erreichen, und zwar mit der Begründung, die „damit verbundenen Konzessionen an die Präzision der Rechtsanwendung" („Ausmaß der judiziellen Kontrolldichte") sei „der Art von Gefährdung der Rechtssicherheit vorzuziehen, die sich aus weitherzigen Analogien zu den gesetzlichen Regeln" ergebe (S.217).

266

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

(3) Verschärfung

der business judgment

des Vorstands und des Aufsichtsrats rule

Das U . S . amerikanische Recht gibt mit dem Hinweis auf die F u n k t i o n der A k t i o närsklage einen G r u n d dafür an, daß die reasonableness o f the decision im Falle eines informed disinterested business judgments nur auf der Grundlage des rational business purpose tests (in der dargelegten Interpretation) überprüft wird, o b wohl sie auch auf der Grundlage des entire (intrinsic) fairness tests und damit wie die möglichen Verletzungen der duty of loyalty und insbesondere wie ein informed interested business judgment überprüft werden könnte. Dies rechtfertigt jedoch nicht die Absenkung der Kontrolldichte auf ein so geringes M a ß wie es die U . S . amerikanische business judgment rule bislang beinhaltet. Das belegen die jüngsten Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. M a n ist zu der Erkenntnis gelangt, daß der rational business purpose test (in der dargelegten Interpretation) in Verbindung mit dem right of reliance den directors und officers einen übermäßigen Schutz vor Haftung gewährt, 2 8 1 und hat daraus erste Konsequenzen gezogen. E s gibt zwar vereinzelte Stimmen, die Kontrolldichte der U . S . amerikanischen business judgment rule abzusenken. So wird gefordert, die business judgment rule im Sinne einer abstention doctrine zu verstehen und auf die Anforderung des informed judgment zu verzichten 2 8 2 oder von dem Erfordernis eines rational business purpose abzusehen. 2 8 3 Dies entspricht jedoch nicht dem überwiegenden Trend in Schrifftum und Rechtsprechung. 2 8 4 D i e Gerichte in Delaware haben eindeutig eine andere Richtung eingeschlagen, und zwar mit der Konsequenz, daß die Diskussion eingesetzt hat whether the business judgment rule is still alive. D i e Gerichte scheinen business judgments künftig eingehender prüfen und die H a f tung der directors ausweiten zu wollen. E s wird angenommen, daß die Gerichte den geänderten rechtlichen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen nach den Skandalen um E n r o n und W o r l d c o m Rechnung tragen. 2 8 5 Diese E n t wicklung zeigt sich etwa an den Fällen Walt D i s n e y C o m p a n y und Oracle. Bei der Walt D i s n e y C o m p a n y wurde der erfolglose president nach nur vierzehnmonatiger Amtszeit v o m board o f directors mit einer Abfindung im Wert von 140 M i o . U . S . Dollar verabschiedet. D e r Delaware Chancery C o u r t gab dem Antrag der directors auf Abweisung der Schadensersatzklage statt. E r prüfte eine Verletzung der duty of care, weil der board of directors möglicherweise keine nähere Prüfung vornahm und alle Einzelheiten dem president und dem C E O überließ, und eine Verletzung der duty of acting in good faith, weil bewußte oder absichtliche Gleichgültigkeit eines directors gegenüber seiner Pflicht, gewissenhaft

281 282 283 284 285

Hess, Corporate Governance, S. 9,17f.; Buxbaum, Corporate Governance, S. 65, 76ff. Siehe dazu Paefgen AG 2004, S.245, 254. Siehe dazu Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 391 f. Paefgen AG 2004, S.245, 254; Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 391 f. Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 445.

267

A. Ansatzpunkt

und mit der erforderlichen Sorgfalt zu handeln, kein ehrliches und redliches Verhalten im Interesse der Gesellschaft sei. D a m i t wäre sowohl die satzungsmäßige Haftungsfreistellung als auch der Schutz durch die business judgment rule entfallen. 2 8 6 I m U . S . amerikanischen Schrifftum wird die Auffassung vertreten, daß das Gericht vor dem Enron-Skandal in diese Prüfung nicht eingestiegen wäre. 2 8 7 D e r Delaware C h a n c e r y C o u r t wies in dem Verfahren Oracle den Antrag eines Special Litigation C o m m i t t e e auf Klageabweisung zurück. E r nahm an, daß der Ausschuß nicht unabhängig gewesen sei, weil zwei Ausschußmitglieder an der Universität lehrten, der drei der vier beklagten directors hohe Beträge gespendet hatten oder als Professoren angehörten. E r hat damit das Erfordernis des disinterested judgments enger als bisher interpretiert und auf diese Weise den Weg zu einer intensiveren Prüfung von business judgments freigemacht. 2 8 8 In dieses Bild paßt auch ein weiterer Befund. D i e Einschränkung der Klagemöglichkeiten bei Wertpapierbetrug in der Mitte der 90er J a h r e hat möglicherweise den Weg zu den Führungs- und Rechnungslegungsskandalen

Enron,

W o r l d C o m , Adelphia und X e r o x geebnet. Damals war eine Begrenzung von offensichtlich unbegründeten Klagen und exzessiven Schadensersatzforderungen gegen Emittenten und Abschlußprüfer das erklärte Ziel. D e r Supreme C o u r t sah im J a h r 1994 bei bloßer Beihilfe zum Wertpapierbetrug nach § 10 Abs. (b) Securities Exchange A c t of 1934 keinen Klagegrund mehr, und der Private Securities L i tigation R e f o r m A c t o f 1995 schloß eine Privatklage gegen Abschlußprüfer oder andere Marktteilnehmer bei bloßer Beihilfe aus. Daraufhin setzte die größte B ö r senhausse der U . S . amerikanischen Geschichte ein. D i e Folgen sind bekannt, das Ergebnis auch: M i t dem Sarbanes-Oxley A c t 7/2002 wurde gerade die Haftung des C E O und des C F O verstärkt. 2 8 9 Vor diesem Hintergrund liegt die hier entwickelte gesellschaftsrechtliche E n t scheidungsfehlerlehre sogar auf der Linie der U . S . amerikanischen Rechtsprechung. Eine strengere und stringentere Haftung ist auch in den Vereinigten Staaten das erklärte Ziel.

286 Siehe dazu: Eisenberg Der Konzern 2004, S.386, 401 f., 402ff.; Kock/Dinkel N Z G 2004, S.441, 445; Paefgen AG 2004, S.245, 254; FAZ 11. August 2005. 287 Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 445. 288 Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 446. 289 Donald WM 2003, S.705, 705f., 707f.; siehe zur Haftung auch Block BKR 2003, S.774, 776f., 777.

B. Die gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre Das aufgezeigte K o n z e p t einer gesellschaftsrechtlichen Entscheidungsfehlerlehre bedarf der Ausformung. D a b e i lautet die entscheidende Frage, wie die U b e r schreitung als der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler (abstrakter Verhaltensfehler) und der Abwägungsmangel als der praktisch relevante (inhaltliche) Ergebnisfehler/inhaltliche Vorgangsfehler (konkreter Verhaltensfehler) sowie die Abwägungsmißorganisation und die Abwägungsunschlüssigkeit als die strukturellen Vorgangsfehler erster Stufe (konkrete Verhaltensfehler) zu konkretisieren sind. Zwischen der Abwägungsmißorganisation, der Abwägungsunschlüssigkeit und dem Abwägungsmangel besteht ein spezifischer Zusammenhang, der für die Konkretisierung der konkreten Verhaltensfehler bedeutsam ist. D i e Abwägungsmißorganisation kann eine Abwägungsunschlüssigkeit verursachen oder mitverursachen. D e n n nicht existente oder nicht effektive informationelle Instrumentarien können dazu führen, daß die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nicht, nicht vollständig oder nicht ausschließlich gewürdigt werden oder zwar gewürdigt werden, aber zuvor nicht oder nicht vollständig zutreffend bestimmt worden sind (unechter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe). Dies ist nicht zwingend. A u f der einen Seite stellen auch effektive informationelle Instrumentarien nicht notwendig sicher, daß die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte vollständig und zutreffend bestimmt gewürdigt werden. A u f der anderen Seite schließen I n k o m p e t e n z oder ineffiziente Selbstorganisation es nicht aus, daß die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte vollständig und zutreffend bestimmt gewürdigt werden (echter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe). 1 D i e Abwägungsunschlüssigkeit kann ihrerseits einen Abwägungsmangel verursachen oder mitverursachen. D i e Berücksichtigung sachfremder bzw. unsachlicher Gesichtspunkte kann zu unsachgemäßen bzw. unsachlichen Erwägungen, und die Nichtberücksichtigung sachbezogener Gesichtspunkte kann zu unsachgemäßen Erwägungen führen. Die Berücksichtigung nicht zutreffend bestimmter sachbezogener Gesichtspunkte kann eine im Lichte der objektiven Umstände 1 Siehe dazu von Werder/Feld R I W 1996, S.481, 489 („strenggenommen nicht vollkommen unabhängig voneinander") und Alexy J Z 1986, S. 701, 712, der darauf hinweist, daß der „Abwägungsausfall ... häufig zusammen mit der Ermessensunterschreitung" auftritt, „aber mit dieser nicht identisch" ist.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

269

und des Verbots unsachgemäßer Erwägungen nicht zu rechtfertigende Abwägung nach sich ziehen (unechter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe). Dies ist ebenfalls nicht zwingend. Die „Gesichtspunkte, die die Entscheidung nicht beeinflussen dürfen,... können erwogen, erörtert und als gänzlich unbeachtlich zurückgewiesen werden." Zudem kann es an einem Abwägungsmangel fehlen, obwohl „zu berücksichtigende Gesichtspunkte tatsächlich" nicht „erwogen und erörtert wurden" (echter struktureller Vorgangsfehler erster Stufe). 2 Dieser Zusammenhang hat eine wichtige Konsequenz für die Konkretisierung der konkreten Verhaltensfehler: Das Verbot unsachgemäßer und unsachlicher E r wägungen ist ein Wertungsgrundsatz, der die Richtlinien flankiert, an denen sich eine sachgemäße Einschätzung bzw. Ermessensausübung ausrichten muß (Abwägungsgrundsätze). Es ist demzufolge in negativer Abgrenzung zu ihnen zu konkretisieren. Das Verbot unsachgemäßer und unsachlicher Erwägungen o d e r vice versa - die Abwägungsgrundsätze ist/sind im Hinblick auf die Abwägungsunschlüssigkeit der Maßstab dafür, was als sachfremder, sachbezogener und unsachlicher Gesichtspunkt anzusehen ist. Die Antwort auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Hinblick auf den Abwägungsmangel eine im Lichte der objektiven Umstände und des Verbots unsachgemäßer Erwägungen nicht zu rechtfertigende Abwägung vorliegt und im Hinblick auf die Abwägungsunschlüssigkeit die sachbezogenen Gesichtspunkte nicht zutreffend bestimmt worden sind, hängt ihrerseits von den Anforderungen ab, die den Schluß erlauben, daß der Vorstand/Aufsichtsrat die sachbezogenen Gesichtspunkte „rechtlich zutreffend ... erkannt und ordnungsgemäß, rechtlich und tatsächlich zutreffend bestimmt, ermittelt und festgestellt hat." 3 Diese Anforderungen zielen (auch) auf die Leistungsfähigkeit der informationellen Instrumentarien und damit auf die Anforderungen, die das Vorliegen einer Abwägungsmißorganisation ausschließen. Vor diesem Hintergrund soll der Abwägungsmangel wegen seiner Rückwirkung auf die beiden strukturellen Vorgangsfehler vor diesen und aufgrund seiner Verwandtschaft mit der Überschreitung (es handelt sich bei beiden um inhaltliche Fehler) gemeinsam mit dieser konkretisiert werden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Herausbildung von Abwägungsgrundsätzen und die Ausformung des Rationalgebots gelegt. Die Abwägungsmißorganisation und die Abwägungsunschlüssigkeit sollen wegen der zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkung, die über die informationellen Instrumentarien vermittelt wird, gemeinsam und gerade im Lichte dieser besonderen Beziehung konkretisiert werden. Da dies unter Rückgriff auf Erkenntnisse aus der Betriebswirtschaftslehre und dem U . S . amerikanischen Gesellschaftsrecht, aus den spektakulären Unternehmenskrisen und Unternehmensskandalen und der Diskussion um Corporate G o 2 3

Alexy]Z 1986, S. 701, 712. So die Formulierung von Kopp/Schenke,

V w G O , § 114 Rdn. 35.

270

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

vernance Standards sowie aus der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung nach § 53 H G r G sowie der Entwicklung der Unternehmensberichterstattung und ihrer externen Prüfung in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten geschehen soll, stellt sich zuvor allerdings noch ein methodisches Problem. Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf Erkenntnisse des U.S. amerikanischen Gesellschaftsrechts wird nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden können. Die ARAG-Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird als Übernahme der U.S. amerikanischen business judgment rule verstanden.4 Die Bundesregierung lehnt sich mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG idF. von Art. 1 Nr. 1 RegE U M A G 11/2004 ausdrücklich an die „business judgment rule aus dem angelsächsischen Rechtskreis" an.5 Eine Reihe von Monographien zielt auf die Herausbildung einer deutschen business judgment rule.6 Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf Erkenntnisse aus den spektakulären Unternehmenskrisen und Unternehmensskandalen, aus der Diskussion um Corporate Governance Standards sowie aus dem Bereich der Unternehmensberichterstattung und ihrer externen Prüfung (unter Einschluß der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung nach §53 H G r G und der U.S. amerikanischen Rechtsentwicklung) läßt sich ebenfalls nicht mehr mit guten Gründen infragestellen. Es ist der Gesetzgeber, der die Verbesserung der Überwachung durch den Aufsichtsrat im Zusammenwirken mit dem Abschlußprüfer in den Vordergrund seiner Bemühungen gerückt hat.7 Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre wird nicht grundsätzlich bezweifelt; so ist etwa weitgehend anerkannt, daß der Vorstand das Unternehmen „unter Berücksichtigung gesicherter und praktisch bewährter betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse" zu führen hat. 8 Ein solcher Rückgriff wurde und wird von der Rechtswissenschaft allerdings kaum ernsthaft in Betracht gezogen, und dies, obwohl sich heute niemand mehr der Frage nach dem Verhältnis zwischen den im Deutschen Kodex ausgeformten (nicht die Gesetzesnormen rekapitulierenden) Corporate Governance Standards (im folgenden echte Corporate Governance Standards) und den Gesetzesnormen verschließen kann. Dabei ist die neuralgische Frage die nach der Relevanz der echten Corporate Governance Standards für die Interpretation der den Vorständen/Auf4 Paefgen AG 2004, S.245, 247; Fleischer ZIP 2004, S.685, 686; Kock/Dinkel NZG 2004, S.441, 443; Kiethe WM 2003, S.861, 864; Witte/Hruhesch BB 2004, S.725, 728; Roth BB 2004, S. 1066, 1066; Luttermann BB 2001, S.2433, 2436; Kindler ZHR 162 (1998), S. 101, 107; Henze BB 2005, S. 165, 166 und BB 2001, S.53, 57 sowie BB 2000, S.209, 215; Grooterhorst ZIP 1999, S. 1117, 1123; Heermann AG 1998, S.201, 204; Horn ZIP 1997, S.1129, 1134. 5 Begründung zu Art. 1 Nr. 1 RegE UMAG 11/2004. 6 Paefgen, Entscheidungen, S. 171 ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 161 ff.; Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S.230ff., 277ff.; Roth, Ermessen, S.74ff., 107ff. 7 Siehe dazu oben S.34f. 8 Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 45.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

271

sichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G . 9 Dagegen ist eine andere Frage inzwischen geklärt: E s liegt eine Pflichtverletzung des Vorstands/Aufsichtsrats im Sinne des § 93 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 9 3 A k t G vor, wenn der Vorstand/Aufsichtsrat gegen einen in einer Geschäftsordnung, in einem Vertrag, in der Satzung oder durch tatsächlich geübte Praxis für ihn verbindlich gemachten und umgesetzten 1 0 C o r p o r a t e Governance Standard verstößt. 1 1 Es ist jedoch die Relevanzfrage, die für die Konkretisierung der Ü b e r schreitung und des Abwägungsmangels sowie der Abwägungsmißorganisation und der Abwägungsunschlüssigkeit entscheidend ist. Sie ist daher zuvor zu klären.

I. Die Relevanz des Deutschen Kodex D i e Frage nach der Relevanz der echten C o r p o r a t e Governance Standards für die Interpretation der R e c h t s n o r m e n und insbesondere der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G stellt sich vor dem Hintergrund eines schwierigen Verhältnisses zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre. 1. R e c h t s w i s s e n s c h a f t u n d B e t r i e b s w i r t s c h a f t s l e h r e Das Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre zeichnet sich dadurch aus, daß es in der Rechtswissenschaft bislang nur einen zögerlichen Rückgriff auf Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre gibt, während sich die Betriebswirtschaftslehre bereits seit langem eingehend mit dem Aktienrecht beschäftigt, damit aber nur wenig G e h ö r gefunden hat. a) Zögerliche

Herausbildung

von

Rechtspflichten

N u r wenige betriebswirtschaftliche Erkenntnisse haben Eingang in die R e c h t s wissenschaft gefunden und zur Herausbildung von Rechtspflichten geführt. So ist im R a h m e n der Interpretation des § 7 6 A b s . l A k t G die betriebswirtschaftliche Erkenntnis übernommen worden, daß der Vorstand die U n t e r n e h mensplanung (Zielsetzung sowie mittel- und langfristige Festsetzung der U n t e r nehmenspolitik), die unternehmerische Koordinierung (Organisation, A b s t i m mung und Kontrolle der mit Führungsaufgaben ausgestatteten Teilbereiche des

Siehe zum aktuellen Diskussionsstand nur Seidel ZIP 2004, S. 285, 290. So Rdn. 17 des Kommissionsberichts. 11 Borges ZGR 2003, S.508, 527f.; Ulmer ZHR 166 (2002), S.150, 168ff.; Seiht AG 2002, S.249, 254ff.; Lutter ZHR 166 (2002), S.523ff. und ZGR 2001, S.224, 236; Schiessl AG 2002, S.593, 595. 9

10

272

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Unternehmens) und die Besetzung von Führungsstellen im Unternehmen 12 nicht delegieren darf.13 Die Forderung, der Vorstand müsse Produktion, Absatz, Investitionen, Liquidität und Erträge planen, ist inzwischen ebenso weitgehend als Rechtspflicht anerkannt wie das Erfordernis, der Aufsichtsrat müsse sich über diese Planungen unterrichten, sie darauf überprüfen, ob sie der Situation des Unternehmens angemessen seien, und das Fehlen einer für Kontrollzwecke ausreichenden strategischen Planung rügen.14 Die Forderung, der Vorstand müsse ein internes Steuerungs- und Überwachungssystem einrichten, aufrechterhalten, weiterentwickeln und überwachen und auf der Grundlage der zur Verfügung gestellten Informationen das Unternehmen steuern und die Erfolgskontrolle vornehmen, 15 hat sogar zum Teil Eingang in das Gesetz gefunden (§91 Abs. 2 AktG, §§317 Abs.4, 321 Abs.4, 321 Abs.5 Satz 2 HGB). Sie ist damit als Rechtspflicht anerkannt worden, die als spezielle Ausprägung des § 93 AktG zu qualifizieren ist. 16 Sucht man nach dem Grund für diese zögerliche Herausbildung von Rechtspflichten unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Betriebwirtschaftslehre, so gelangt man zu der Erkenntnis, daß es sich in all diesen Fällen - in Anlehnung an einen Gedanken von Manuel René Theisen - nicht nur um „betriebswirtschaftlich Wünschenswertes bzw. Effizientes", sondern vor allem um „interdisziplinär Plausibles" handelt.17 So hat doch auch - in Anlehnung an einen Gedanken von Peter Hommelhoff und Martin Schwab - „der Jurist ... zumindest rudimentäre Vorstellungen davon, wie man ein Unternehmen führen oder doch zumindest, wie man es jedenfalls nicht führen soll." 18 b) Zögerliche Rezeption Unternehmensführung

von Grundsätzen

ordnungsgemäßer

Ganz im Gegensatz dazu steht der Befund, daß in der Betriebswirtschaftslehre seit nahezu vierzig Jahren über Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung (Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung und Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensüberwachung) diskutiert wird. Die Zielsetzung ist seit jeher gewesen, im Rahmen der jeweils geltenden Rechtsvorschriften für eine aus betriebswirtschaftlicher Sicht effiziente Leitung und Überwachung deut-

12 Mertens, Kölner Kommentar, § 76 Rdn. 5; Semler, Überwachung, S. 1 Of.; Mutter, Entscheidungen, S. 15ff.; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.29, 32f. 13 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149,162f. 14 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 164f. 15 Siehe dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 48f., 51 und Potthoff Geschäftsführung, S.73ff., 94ff., 128ff. sowie Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 164. 16 Siehe dazu Kiethe WM 2003, S. 861, 862 und Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 7. 17 Theisen RWZ 2001, S. 157, 165. 18 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 160.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

273

scher Unternehmen und Konzerne zu sorgen. 19 Es sollte „eine vernünftige Eingrenzung und praktikable Konkretisierung" der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG/der §§116,93 AktG erreicht werden. 20 Man wollte und will „zur Steigerung der Führungsqualität" und „zur gelegentlich gebotenen Sanktionierung grober Fehlverhaltensweisen von Führungsorganen bzw. ihren Mitgliedern" beitragen. 21 Exemplarisch sei hier Axel von Werder zitiert: „... kann eine Entwicklung von Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung ... als sowohl durchführbar als auch wichtig angesehen werden. Zunächst erscheinen derartige Grundsätze durchaus geeignet, als Orientierungsleitlinien für die Führungsorgane zu dienen und tendenziell zu einer Qualitätsverbesserung der Unternehmensführung beizutragen. Ferner kann den existierenden Rechtsnormen für die Aufgaben und Pflichten der Führungsorgane nur dann rechtstatsächlich größere Geltung und Steuerungskraft verschafft werden, wenn die anzuwendende Sorgfalt und die zu tragende Verantwortung genauer als bisher konkretisiert werden. Andernfalls läßt sich das gesetzte Recht einschließlich der Haftungsvorschriften für Fälle grober Pflichtverletzungen nicht überzeugend zur Anwendung bringen. Für eine Konkretisierung der Aufgaben- und Pflichtenstellungen aber bietet sich gerade die Aufstellung von Führungsgrundsätzen an, die die gesetzlich verankerten Generalklauseln (überwiegend) außerhalb des Gesetzestextes ausfüllen." 22 Dabei lassen sich sogar einige Parallelen zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre feststellen. Sie gründen wohl darin, daß - um eine Formulierung von Axel von Werder aufzugreifen - einige aktienrechtliche Prinzipien aus betriebswirtschaftlicher Sicht als überzeugend angesehen worden sind. 23 So zählt zu den Organisationsgrundsätzen nicht nur der Grundsatz der mehrköpfigen Unternehmensleitung, sondern auch der Grundsatz der arbeitsteiligen Unternehmensleitung. Danach müssen die Aufgaben dauerhaft den einzelnen Vorstandsmitgliedern zugewiesen werden. Es kommt der Grundsatz der kollegialen Unternehmensleitung hinzu, wonach die Vorstandsmitglieder im Kern gleichberechtigt sein müssen und insbesondere keine Weisungsbeziehungen eingerichtet werden dürfen. Hierher gehört schließlich der Grundsatz der mehrdimensionalen Gliederung. Danach sind im Regelfall nur Modelle der horizontalen Arbeitsteilung zulässig, die mehrere Gliederungskriterien (insbesondere Merkmale der Funktionen, Produkte und Märkte des Unternehmens) verwenden und Zuständigkeitsbereiche für unterschiedliche Dimensionen der Aufgabe des Vor-

19

Theisen RWZ 2001, S. 157, 164; von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 32ff. Von Werder/Maly/Pohle DB 1998, S. 1 1 9 3 , 1 1 9 3 ; siehe dazu auch von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 9f. und S.27, 31f. und Theisen, Unternehmensführung, S.238ff. 21 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 9. 22 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 9f. 23 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 64. 20

274

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

stands bilden (etwa für bestimmte F u n k t i o n e n und bestimmte Produktgruppen oder für bestimmte Produkte und bestimmte Regionen). 2 4 Diese Grundsätze finden sich im Gesetz oder in der Interpretation des geltenden Rechts. N a c h § 76 Abs. 2 Satz 2 A k t G hat der Vorstand bei Gesellschaften mit einem Grundkapital von mehr als 3 M i o . E u r o vorbehaltlich einer anders lautenden Satzungsregelung aus mindestens zwei Personen zu bestehen. N a c h § 7 7 Abs. 1 Satz 2 A k t G kann weder die Satzung n o c h die Geschäftsordnung bestimmen, daß ein Vorstandsmitglied/mehrere Vorstandsmitglieder

Meinungsver-

schiedenheiten gegen die Mehrheit der Vorstandsmitglieder entscheiden k a n n / können. Aufgrund des § 77 Abs. 2 A k t G kann der Vorstand eine Geschäftsordnung erlassen. Es entspricht der ganz herrschenden Ansicht, daß der Vorstand berechtigt ist, in einem Teil der Geschäftsordnung oder in einem Anhang zur G e schäftsordnung die horizontale Aufgabenverteilung nach Funktionsbereichen und/oder Geschäftsbereichen zu regeln. D a b e i kann auch das Zusammenwirken der für Funktionsbereiche und der für Geschäftsbereiche zuständigen Vorstandsmitglieder festgelegt und bestimmt werden, o b die einzelnen Vorstandsmitglieder bereichsbezogene Entscheidungsbefugnisse haben sollen. 2 5 I m R a h m e n der I n terpretation des § 93 A k t G wird unter dem Gesichtspunkt der „Pflicht zur sorgfältigen Wahrnehmung der O r g a n f u n k t i o n e n " die Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit und die Aufsichtspflicht bei Geschäftsverteilung betont. 2 6 Zu den Personalgrundsätzen zählen nicht nur der Grundsatz der adäquaten Qualifikation der Vorstandsmitglieder, sondern auch der Grundsatz der vorrangigen Auswahl der Vorstandsmitglieder durch den Aufsichtsrat, der Einflußnahmen des Vorstands zuläßt, soweit sie nicht zu einer faktischen K o o p t a t i o n erstarken. 2 7 Dies entspricht der Interpretation des geltenden Rechts. Gerade auch im H i n b l i c k auf § 93 A k t G wird betont, die Vorstandsmitglieder hätten für die F ä higkeiten und Kenntnisse einzustehen, die für die Erfüllung der ihnen obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G erforderlich sind. 2 8 N a c h § 8 4 Abs. 1 A k t G obliegt dem Aufsichtsrat - und nur ihm - die Besetzung des Vorstands. N a c h überwiegender Ansicht ist eine sachliche Stellungnahme des Vorstands lediglich bei der Meinungsbildung des Aufsichtsrats zu berücksichtigen, und zwar, weil sie nicht zu einer Vorstandsbesetzung durch K o o p t a t i o n führen darf. 2 9 D i e Ansätze der Betriebswirtschaftslehre zur Konkretisierung der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G wurden und werden von der Rechtswissenschaft ganz überwie-

24 25 26 27 28 29

Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 60f. Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §77 Rdn. 12ff., 15ff., 39f. Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 43, 54. Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 64f. Siehe dazu nur Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 99. Siehe dazu nur Mutter, Entscheidungen, S. 68ff.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

275

gend „eindrucksvoll und nachhaltig ignoriert". 30 Exemplarisch sei hier Hans-Joachim Mertens zitiert: „Lassen Sie mich ... meine Genugtuung darüber bekunden, daß Phantome wie ,Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung, Unternehmenskontrolle und Informationsversorgung', die sich in der Köpfen der Betriebswirte als angeblich wissenschaftlich fundierte und zur Anwendung parate Regelungssysteme schon fest eingenistet haben und dabei sind - sei es mit Hilfe, sei es unter Umgehung des Gesetzgebers - , ein rechtsnormatives Dasein zu erschleichen, nirgendwo in bezug genommen werden."31 Daran ändert auch der Befund nichts, daß von der Rechtswissenschaft im Rahmen der Interpretation des §93 AktG auf die „Regeln sorgfältiger Unternehmensleitung" bezug genommen wird.32 Denn darunter wird keinesfalls das verstanden, was in der Betriebswirtschaftslehre unter den Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensleitung diskutiert wird. Es handelt sich bei den „Regeln sorgfältiger Unternehmensleitung" vielmehr um „eher vage Auslegungsskizzen der erforderlichen Sorgfalt," in denen die Inhalte der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung „allenfalls rudimentär angedeutet" werden.33 Es sind in der Terminologie der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensleitung Vorstellungen über die Aufgabeninhalte der Unternehmensführung,34 die allerdings in ihrer Praktikabilität und Konkretheit weit hinter den Aufgabengrundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensleitung zurückbleiben. Dies erhellt bereits ein kurzer Vergleich. In der Rechtswissenschaft wird unter dem Gesichtspunkt der „Regeln sorgfältiger Unternehmensleitung" verlangt, die Vorstandsmitglieder hätten das Unternehmen unter Berücksichtigung gesicherter und praktisch bewährter betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse und unter Beachtung aller maßgeblichen Rechtsvorschriften zu leiten. Sie müßten sich stets ein genaues Bild von der Lage des Unternehmens, insbesondere seiner Rentabilität und Liquidität, dem Gang der Geschäfte, der Umsatzentwicklung, der Marktstellung und der Konkurrenzfähigkeit seines Angebots machen. Sie hätten sich über alle unternehmenspolitisch relevanten wirtschaftlichen und politischen Umstände zu orientieren und die grundlegenden Fragen der Unternehmenspolitik, insbesondere der Organisation des Unternehmens, der Investitions-, der Finanz- und der Personalpolitik zu entscheiden. Es sei ihre Aufgabe, für die Funktionsfähigkeit der Unternehmenspla30 Theisen RWZ 2001, S. 157,164. Der beste Beleg dafür ist der Umstand, daß die (thematisch einschlägigen) rechtswissenschaftlichen Monographien der letzten Jahre fast ausnahmslos allenfalls ein - in rechtlicher Hinsicht beziehungsloses - Nebeneinander von Sorgfaltspflicht und betriebswirtschaftlichen Grundsätzen annehmen; siehe dazu etwa Roth, Ermessen, S. 93 und wohl auch Paefgen, Entscheidungen, S.4f., anders aber Mutter, Entscheidungen, S.227ff. 31 Mertens, A G Sonderheft 1997, S. 70, 72; vgl. auch Mertens, Kölner Kommentar, §111 Rdn. 30 und Semler, Überwachung, S. 54f. 32 Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 45ff. 33 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 29. 34 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 43.

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

nung, der internen Revision und der Zusammenarbeit mit den betriebswirtschaftlichen Gremien zu sorgen und den internen Informationsfluß so zu organisieren, daß ihnen Fehlentwicklungen nicht verborgen blieben. Sie müßten Risiken sorgfältig einschätzen und nach Möglichkeit minimieren. 3 5 In der Betriebswirtschaftslehre werden unter den Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensleitung dagegen nicht nur Aufgabengrundsätze verstanden, die die Inhalte der Aufgabenstellung der Unternehmensleitung detailliert beschreiben, sondern auch - unter anderem - Handlungsgrundsätze, die sich auf die Art der Erfüllung dieser Aufgaben beziehen. 3 6 Zu den Aufgabengrundsätzen zählt zunächst der Grundsatz der Strategiefestlegung. D e r Vorstand m u ß insbesondere entscheiden, auf welchen Geschäftsfeldern das U n t e r n e h m e n tätig werden soll (Geschäftsfeldstrategie), welche der damit vorgezeichneten Aufgaben in welchen Regionen bzw. an welchen L o k a t i o nen anzusiedeln sind (Geostrategie), mit welchen Stärken sich das U n t e r n e h m e n auf dem jeweiligen Geschäftsfeld gegenüber den Mitbewerbern profilieren will (Wettbewerbsstrategien), und wie die Grundlinien der operativen Entscheidungen entlang der wesentlichen Teilfunktionen des Unternehmens aussehen sollen (Funktionalstrategien). 3 7 E s k o m m t der Grundsatz der Etablierung einer I n frastruktur hinzu. Danach hat der Vorstand insbesondere die gesellschafts- und konzernrechtlichen Merkmale und die Aufbau- und Ablauforganisation (etwa Aufgaben- und Abteilungsgliederung, Leitungssystem und Führungsmodell) festzulegen, eine leistungsfähige informationelle Infrastruktur zu schaffen und Informationssysteme einzurichten. 3 8 Hierher gehört schließlich der Grundsatz der notwendigen Einzelentscheidungen. Danach hat der Vorstand diejenigen Probleme im Zuge des laufenden Tagesgeschäfts zu regeln, die unvorhersehbar sind und einen hohen Konfliktgehalt aufweisen. 3 9 Zu den Handlungsgrundsätzen gehört insbesondere der Grundsatz der R a t i o nalität, wonach die Entscheidungen fundiert werden und damit objektiv nachvollziehbar sein müssen. Dieser Grundsatz führt zu der Forderung, daß Entscheidungen detailbegründet sein müssen. Globale Konsequenzaussagen über M a ß nahmenwirkungen müssen - wenn auch ohne vollständige Ausschöpfung des zugänglichen Wissens - begründet werden (Grundsatz der Detailbegründung). D a bei dürfen sie nicht einseitig zugunsten der empfohlenen Maßnahme untermauert werden. Vielmehr müssen ihre Chancen und Risiken vorurteilsfrei ausgeglichen

Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn.45f., 48. Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 34, 43, 51. 37 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 46f. 38 Vgl. dazu von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 27,48f., 51 und Potthoff S. 73ff., 94ff., 128 ff. 39 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 49f. 35 36

Geschäftsführung,

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

277

(wenn möglich im Vergleich zu anderen infragekommenden Maßnahmen) dargelegt werden. 4 0 2. D e u t s c h e r K o d e x und A k t i e n g e s e t z Vor dem Hintergrund dieses schwierigen Verhältnisses zwischen Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre stellt sich die Frage nach der Relevanz der echten C o r p o r a t e Governance Standards für die Interpretation der R e c h t s n o r men und insbesondere der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 AktG/der § § 1 1 6 , 93 A k t G .

a) Methodischer

Ansatz

Es ist das Verdienst von Peter Hommelhoff

und Martin

Schwab,

sich als erste mit

der Frage beschäftigt zu haben, welche Relevanz (ausgeformte und subsumtionsfähige) Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung für die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 AktG/der § § 1 1 6 , 93 A k t G haben könnten. 4 1 Sie halten eine Rezeption des sich in Grundsätzen ordnungsgemäßer U n t e r nehmensführung manifestierenden betriebswirtschaftlichen Sachverstandes über die Heranziehung der Rechtsfigur des antezipierten Sachverständigengutachtens für möglich. Dies k o m m e aber nur in Betracht, wenn die Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung von einem hochkarätig besetzten Gremium, in dem sämtliche einschlägige Fachdisziplinen vertreten seien und Interessenbindungen einzelner Gremienmitglieder neutralisiert würden, unter Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Anforderungen (insbesondere der Begründungsund Dokumentationspflicht und der Einräumung einer Gelegenheit zur Stellungnahme für die Betroffenen) aufgestellt würden. 4 2 Dieses Ergebnis begründen sie wie folgt: Indem der Betriebswirt den Satz aufstelle, der Vorstand einer Aktiengesellschaft habe seine Produkt-, Absatz-, Finanz-, Liquiditäts-, Investitions- und E r tragsplanung für das laufende oder das nächste Geschäftsjahr in F o r m eines Zahlenwerks vorzulegen, impliziere er eine bestimmte Auffassung. E r sage damit, ein solches Verhalten sei einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend, Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 51 ff. Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 151 f.; später hat dann insbesondere Theisen RWZ 2001, S. 157, 163 darauf hingewiesen, daß das Verhältnis zwischen den Gesetzesnormen und ihrer Interpretation einerseits und den Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung geklärt werden müsse. Dies ist bislang - soweit ersichdich - nur ansatzweise geschehen; siehe dazu im Hinblick auf den Deutschen Kodex: Seidel ZIP 2004, S. 285,290f.; Borges ZGR 2003, S.508, 514ff.; Lutter ZHR 166 (2002), S.523, 542; Ulmer ZHR 166 (2002), S. 150, 166ff.; Seibt AG 2002, S.249, 250f. 42 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 154ff., 156ff., 166ff., 171ff. 40

41

278

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

u m das Unternehmen davor zu bewahren, sich mit unrealistischen Unternehmenszielen zu übernehmen und Risiken einzugehen, deren Eintritt das Unternehmen finanziell nicht verkraften könne. Diese Wertung sei zunächst eine sachverständige, da sie auf Erkenntnissen der Betriebswirtschaftslehre beruhe. Sie enthalte aber auch eine Komponente, die über den Rahmen fachspezifischer Deduktion hinausgehe, nämlich eine Stellungnahme zu der Frage, ob das Unternehmen bei Befolgung dieser Regel hinreichend geschützt sei („Wie sicher ist sicher genug?"). Diese Stellungnahme sei keine sachverständige, sondern eine juristische. Diese „juristische" Risikobewertung dürfe nicht unbesehen von den Betriebswirten übernommen werden. Es müsse vielmehr dem demokratisch legitimierten staatlichen Rechtsanwender vorbehalten bleiben, das aus betriebswirtschaftlicher Sicht für erforderlich und ausreichend angesehene unternehmerische Verhalten aus rechtlicher Sicht nicht als erforderlich bzw. nicht als ausreichend anzusehen. Die Interpretation der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G könne ergeben, daß das Recht eine Optimierung der Unternehmensleitung, wie sie die Betriebswirtschaftslehre anstrebe, gar nicht z u m Maßstab für das rechtlich Gebotene erhebe. Das Recht könne dem Vorstand bzw. Aufsichtsrat einen weniger streng begrenzten Spielraum unternehmerischen Ermessens einräumen. U m gekehrt könne der Jurist zu dem Ergebnis kommen, die von den Betriebswerten gestellten Anforderungen seien zu wenig streng und in rechtlicher Hinsicht müsse mehr gefordert werden. Die dargelegte spezifisch juristische Komponente, die in jeder Bewertung unternehmerischen Verhaltens als ordnungsgemäß oder nicht ordnungsgemäß liege, sei dem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich. Daher müsse die Idee des antizipierten Sachverständigengutachtens im Hinblick auf ihren Stellenwert im Prozeß der richterlichen Entscheidungsfindung neu definiert werden. Als Sachverständigenaussage dürfe der Richter nicht den von den Betriebswirten aufgestellten Sollenssatz als solchen übernehmen, sondern lediglich die in ihm z u m Ausdruck kommende betriebswirtschaftliche Erkenntnisgrundlage. Der Betriebswirt könne dem Juristen nicht sagen, was die rechtlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unternehmensführung sind. Er könne lediglich zur U n t e r stützung der Entscheidungsfindung vermitteln, w a s aus betriebswirtschaftlicher Sicht als erforderlich (bzw. ausreichend) angesehen w i r d und w a r u m es als erforderlich (bzw. ausreichend) angesehen w i r d . Die fachspezifische Begründung der von den Betriebswirten aufgestellten Anforderungen (im Sinne einer auf Plausibilität überprüfbaren und nachvollziehbaren Begründung mit spezifisch betriebswirtschaftlicher Argumentation) müsse der Jurist kennen, u m beurteilen zu können, ob die Verhaltensgebote auch aus rechtlicher Sicht als unbedingt z w i n g e n d (bzw. darüber hinausgehende M a ß n a h m e n unternehmerischer Vorsicht als entbehrlich) anzusehen seien. J e unabweisbarer die ökonomischen Erwägungen bei der Statuierung von Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung seien, desto näher liege es für den Juristen, die betriebswirtschaftliche Bewertung

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

279

unverändert in eine rechtliche zu transformieren. In jedem Fall aber bleibe es dabei: Ein rechtlich verbindlicher Grundsatz ordnungsgemäßer Unternehmensführung existiere erst dann, wenn der Richter in Auslegung und Anwendung der § § 9 3 , 116 A k t G einen solchen anerkannt habe. 4 3

b)

Ausstrahlungswirkung

D i e Ausstrahlungswirkung der echten Corporate Governance Standards auf die Interpretation der Rechtsnormen und insbesondere der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 AktG/der § § 1 1 6 , 93 A k t G folgt aus der Intention und der faktischen Wirkung des Deutschen Kodex. E s gibt zwar kein Kollisionsproblem zwischen den Gesetzesnormen und den echten Corporate Governance Standards; 4 4 es liegt aber in der Intention des Deutschen Kodex, im R a h m e n der jeweils geltenden Rechtsvorschriften für eine effiziente Leitung und Überwachung zu sorgen. 4 5 Dieser Ansatz lag bereits dem Berliner K o d e x zugrunde und fand dort seinen deutlichsten Ausdruck: Soweit es sich bei den C o r p o r a t e Governance Standards nicht um gesetzesrekapitulierende Bestimmungen handele, sei zwischen gesetzesausfüllenden und gesetzesergänzenden Regelungen zu unterscheiden. D i e ersteren würden zur zweckmäßigen Ausfüllung von O p t i o n e n Stellung nehmen, die gesetzlich offenstünden. Zu denken sei etwa an einen C o r p o r a t e Governance Standard des Inhalts, daß der Vorstand einer (größeren) Aktiengesellschaft mehrköpfig auszugestalten sei; nach den geltenden Rechtsvorschriften sei auch ein Einmannvorstand zulässig. D i e letzteren würden sich auf Gestaltungsfelder erstrecken, für die das R e c h t keine (hinreichenden) Vorgaben mache. Dies betreffe 43 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149,168 ff., 171 f. weisen zu Recht daraufhin, daß das Baurecht dem staatlichen Rechtsanwender vorschreibt, die „juristische" Risikobewertung und damit die Auffassung des Technikers zu übernehmen, das Restrisiko sei hinnehmbar, wenn die Landesbauordnungen die Errichtung nach den „allgemein anerkannten Regeln der Baukunst" vorschreiben und auf diese Weise den staatlichen Rechtsanwender auf Regeln festlegen, die von Technikern erarbeitet und mit der Uberzeugung angewendet werden, diese gewährleisteten eine ausreichende Sicherheit. Vgl. dazu auch Borges Z G R 2003, S. 508, 517f., 519f., der die Empfehlungen der Kodices als Fachnormen wie DIN-Normen einordnet und ihnen eine tatsächliche Wirkung für die Konkretisierung gesetzlicher Anforderungen aufgrund einer Indizwirkung für die Verkehrsanschauung oder einer überzeugenden Argumentation zuerkennen will. Seiht A G 2002, S. 249, 250f. will den Empfehlungen der Kodices nur dann Einfluß auf die Auslegung ausfüllungsbedürftiger Blankettnormen zugestehen, wenn sie in der Praxis ganz überwiegend befolgt werden. Lutter Z H R 1 6 6 (2002), S.523,542 erwartet, daß die Anerkennung des Kodex eine gewisse Indizwirkung für sorgfaltsgemäßes Organverhalten entfaltet. Seidel ZIP 2004, S. 285,290 meint, aufgrund der Akzeptanz der Kodex-Empfehlungen durch die Praxis und der besonderen Autorität der Bundesregierung, der sie zuzurechnen seien, könnten sie gar nicht unberücksichtigt bleiben, wenn im Einzelfall generalklauselartige gesetzliche Anforderungen zu konkretisieren seien.

44 45

Theisen RWZ 2001, S. 157, 163. Theisen RWZ 2001, S. 157, 164; von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 32ff.

280

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

insbesondere die Modalitäten der Vorstandsarbeit, die im Aktiengesetz nur sehr rudimentär geregelt seien. 4 6 Einen ganz ähnlichen Eindruck vermitteln die Formulierungen im A b s c h l u ß bericht der Regierungskommission. D o r t heißt es, der Deutsche K o d e x k ö n n e eine „gesetzesunterstützende W i r k u n g " entfalten und werde „gesetzesergänzende R e g e l n " enthalten. 4 7 Das gleiche gilt für den Deutschen K o d e x selbst: I n der Präambel wird klargestellt, daß der Deutsche K o d e x drei Arten von Regelungen enthält. E s gibt Empfehlungen, von denen abgewichen werden kann, was dann aber offenzulegen ist (sprachlich gekennzeichnet durch „soll"). Es gibt Anregungen, von denen ohne Offenlegung abgewichen werden kann (sprachlich gekennzeichnet durch „sollte" oder „kann"). E s gibt Bestimmungen, die als geltendes G e s e t zesrecht zu beachten sind (sprachlich nicht so gekennzeichnet). D i e E m p f e h l u n gen und Anregungen werden als „optionale Bestimmungen" und „gesetzesergänzende Regelungen" begriffen. 4 8 D i e Diskussion über echte Corporate Governance Standards hatte von Anfang an diese Zielrichtung. Sie sollte nicht - u m eine Formulierung von Marcus

Lutter

aufzugreifen - auf eine bloße „Zusammenstellung von Sollens-Sätzen ... auf der G r e n z e zwischen der Evokation geltenden Rechts und S o f t - L a w " 4 9 hinauslaufen. Sie sollte vielmehr zu „handhabbaren Beurteilungsmaßstäben" mit Blick auf „die Aufforderung des Vorstands zur sorgfältigen Unternehmensleitung" im Sinne des § 9 3 A k t G führen. 5 0 So hat dann auch der Gesetzgeber dem Deutschen K o d e x zwar „einen besonderen N a c h d r u c k durch die Pflicht zu einer Entsprechenserklärung" verschafft, 5 1 aber auf „gesetzliche Sanktionen bei N i c h t - E r f ü l l u n g " 5 2 verzichtet. D e r D e u t sche K o d e x dient der Entwicklung allgemeingültiger Corporate Governance R e geln, 5 3 und zwar in den Bereichen, in denen es schwerfällt, „allgemein akzeptierte Corporate Governance Regeln auf A n h i e b zu finden." 5 4 D e r Gesetzgeber hat sich mit den echten Corporate Governance Standards von seiner Regelungsverantwortung in den Bereichen entlastet, in denen sich die C o r p o r a t e Governance R e geln im Wettbewerb der Märkte, U n t e r n e h m e n und Rechtsordnungen n o c h entwickeln und es infolgedessen sinnvoll erscheint, schnelle und flexible Anpassun-

Von Werder, German Code of Corporate Governance, S. 6. Rdn. 7, 8, 14, 17 des Kommissionsberichts. 48 Von Werder, Kodex-Kommentar, Präambel Rdn. 96, 97. 49 Lutter ZGR 2001, S. 224, 225. 50 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S.27, 31; siehe auch von Werder/Maly/Pohle DB 1998, S. 1193, 1193. 51 Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002. 52 So die Formulierung der Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin nach FAZ.NET vom 26. Februar 2002 „Ein Kodex für Spitzenmanager". 53 Hommelhoff ZGR 2001, S.238, 265. 54 Lutter ZGR 2001, S.224, 233. 46

47

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

281

gen der Corporate Governance Regeln an diese Entwicklungen zu ermöglichen.55 Es führt auch nichts an der Erkenntnis vorbei, daß sich - um eine Formulierung von Peter Hommelhoff aufzugreifen - „für prospektive Modernisierung, und zwar in Einzelpunkten immer wieder und in voraussichtlich kürzeren Zeitabständen ... ein mit vielfältigen Aufgaben belegter Gesetzgeber schwerlich sensibilisieren und zur Tat gewinnen" läßt.56 Die Kodexkommission will die sich auf nationaler und internationaler Ebene ständig fortentwickelnden echten Corporate Governance Standards denn auch zum Anlaß nehmen, mindestens einmal im Jahr zusammenzutreten, um die erforderlichen Anpassungen des Deutschen Kodex an die jüngsten nationalen und internationalen Entwicklungen vorzunehmen.57 Der Gesetzgeber hat mithin aus gutem Grund davon abgesehen, eine dem § 342 Abs. 2 H G B entsprechende Regelung zu treffen, aufgrund derer die Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds vermutet würde, soweit die im Bundesanzeiger elektronisch bekannt gemachten echten Corporate Governance Standards der Kodexkommission beachtet worden wären. Er hat damit aber auch darauf verzichtet, dem staatlichen Rechtsanwender vorzuschreiben, im Hinblick auf die Interpretation der §§93, 116 AktG die „juristische" Risikobewertung der Kodexkommission zu übernehmen. Gerade deshalb stellt sich jedoch das von Peter Hommelhoff und Martin Schwab benannte Problem, ob die echten Corporate Governance Standards als rechtlich verbindlich zu qualifizieren sind, weil sie in Auslegung und Anwendung der §§ 93,116 AktG nunmehr als Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds anzuerkennen sind:58 Die Corporate Governance Standards spiegeln den jeweiligen Erkenntnisstand der mit Experten und Vertretern der betroffenen Wirtschafts55 Vgl. dazu Lutter Z G R 2001, S.224, 227 und Hommelhoff Z G R 2001, S.238, 242f., 244f., 253f., 255f., 258, 256. Er weist ausdrücklich daraufhin, daß der Gesetzgeber keinesfalls aus Gründen der Überlastung oder gar wegen erwiesenen Versagens gehalten sei, seine Regelungsverantwortung für Corporate Governance zu reduzieren, und daß den börsennotierten Aktiengesellschaften insbesondere auch im Gesetz - etwa mit der neuen Kategorie der Anregungsnormen (so zur Einrichtung von Aufsichtsratsausschüssen nach §171 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AktG) - mehr Regelungsverantwortung zugewiesen werden könne. Im Kern gehe es vielmehr darum, einen Freiraum für eine schnelle, unaufwendige und flexible Modernisierung der Corporate Governance zu eröffnen, sobald dies im Wettbewerb der Märkte, Unternehmen und Rechtsordnungen notwendig werde (S. 242f., 244f.). Dies sei aber nicht zulässig, soweit die Einzelfragen (etwa zur Absicherung der Prüferunabhängigkeit) nach den deutschen Erfahrungen von so großem rechtspolitischen Gewicht seien, daß sie der Gesetzgeber in Händen behalten sollte, oder soweit es um Ausprägungen der mitgliedschaftlichen Mitverwaltungsrechte jedes einzelnen Aktionärs gehe, die Teil des gesetzlichen Individual- und Minderheitenschutzes und nicht bloß Kennzeichen praktischer Vernunft seien (S.260, 261).

Hommelhoff Z G R 2001, S.238, 245. Ausführungen von Cramme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001. Dies entspricht einer Anregung der Regierungskommission; Rdn. 17 des Kommissionsberichts. 58 Siehe dazu Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 172. 56

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

kreise besetzten Regierungskommission dazu wieder, was z u m Standard guter Unternehmensleitung und Unternehmensüberwachung gehört („Regeln von der Wirtschaft für die W i r t s c h a f t " 5 9 ) . 6 0 D i e Rechtswissenschaft k ö n n t e die durch den Deutschen K o d e x angestrebte Entwicklung allgemeingültiger C o r p o r a t e G o v e r nance Regeln konstruktiv dadurch begleiten, daß sie Stellung zu der Frage bezieht, ob das von der Kodexkommission für erforderlich und ausreichend angesehene unternehmerische Verhalten auch im Lichte der § § 9 3 , 116 A k t G einerseits als erforderlich, andererseits als ausreichend anzusehen ist. 6 1 Dafür, daß zumindest die Rechtsprechung dies tun wird, spricht vor allem die faktische Wirkung des Deutschen Kodex. E r trägt zur Veränderung der Praxis in den U n t e r n e h m e n bei, 6 2 und zwar nicht zuletzt, weil er auf D r u c k der Kapitalmärkte eine gewisse faktische Zwangswirkung entfaltet. 6 3 D i e Rechtsprechung kann sich dieser Entwicklung nicht verschließen. 6 4 D i e Erfahrungen aus anderen Ländern belegen, daß die C o r p o r a t e Governance Kodices in dieser Weise wirken: Einige C o r p o r a t e Governance Standards finden sich bereits in Gesetzen wieder, und andere C o r p o r a t e Governance Standards werden mittlerweile von der R e c h t sprechung zur Interpretation des geltenden Rechts herangezogen. 6 5 Es spricht nichts dafür, daß die Entwicklung in Deutschland anders verlaufen wird. 6 6 Erste Ansätze sind auch schon erkennbar. So hat das O L G Schleswig jüngst ausgeführt, die gesetzliche Anerkennung des Deutschen K o d e x durch § 161 A k t G müsse auf die Interpretation anderer Vorschriften des Aktienrechts zurückwirken. I m L i c h te des Deutschen K o d e x verweise die Nichterwähnung von Aufsichtsratsmitgliedern als Begünstigten von Aktienoptionsprogrammen in § 192 Abs. 2 N r . 3 A k t G nicht auf eine generelle aktienrechtliche Ablehnung von Aktienoptionsprogrammen zugunsten von Aufsichtsratsmitgliedern hin. 6 7 59 So die Formulierung von Cromme nach FAZ.NET vom 26. Februar 2002 „Ein Kodex für Spitzenmanager". 60 Rdn. 5 des Kommissionsberichts. 61 Siehe dazu Hommelhoff/Schwah zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 168ff., 171 f. 62 Von Werder/Talaulicar/Kolat DB 2003, S. 1857, 1863. Siehe zur Akzeptanz des Deutschen Kodex: Von Werder/Talaulicar DB 2005, S.841, 842ff.; von Werder/Talaulicar/Kolat DB 2004, S. 1377, 1378ff.; Oser/Orth/Wader BB 2004, S.1121, 1122ff.; von Werder/Talaulicar/Kolat DB 2003, S. 1857, 1858ff.; Oser/Orth/Wader DB 2003, S.1337ff.; Ihrig/Wagner BB 2003, S.1625, 1626ff. 63 Seidel ZIP 2004, S. 285,290; Lutter ZHR 166 (2002), S. 523, 535; Seiht AG 2002, S. 249,255; zweifelnd Borges ZGR 2003, S.508, 537f. 64 Vgl. dazu die Stellungnahme des DAV zum Fragenkatalog der Regierungskommission Corporate Governance unter I. 1. a) auf S. 3: „Die Unternehmen würden faktisch gezwungen, den halbamtlichen Kodex anzuerkennen, und die Gerichte würden ihn zur Konkretisierung der gesetzlichen Sorgfaltspflichten der Organe heranziehen. Im Ergebnis würde der Kodex zu einer verdeckten Ausweitung des zwingenden Rechts führen." 65 Siehe dazu Wymeersch ZGR 2001, S.294, 315. 66 Seidel ZIP 2004, S.285, 290; Hommelhoff ZHR 166 (2002), S. 150, 166f.; Seiht AG 2002, S.249, 250f.; Schiessl AG 2002, S.593, 595. 67 OLG Schleswig NZG 2003, 176, 179 - MobilCom.

B. Die gesellschaftsrechtliche c)

Entscheidungsfehlerlehre

283

Rezeptionsprobleme

Allerdings steht die Rechtswissenschaft vor ganz erheblichen Problemen, wenn sie die echten Corporate Governance Standards zur Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G heranziehen will. Diese P r o b l e m e gründen in der Zielsetzung, der Regelungstechnik und der defizitären Substantiierung des Deutschen K o d e x . aa)

Zielsetzung

D i e Zielsetzung des Deutschen K o d e x wirft dabei n o c h die geringsten P r o b l e m e auf. Das erklärte Ziel der K o d e x k o m m i s s i o n war es, „den Standort Deutschland für internationale und nationale Investoren attraktiver" zu „machen, i n d e m . . . die wesentlichen - vor allem internationalen - Kritikpunkte an der deutschen U n t e r nehmensverfassung und -führung aufgegriffen und einer Lösung zugeführt" werden. Diese Kritikpunkte waren: „Mangelhafte Ausrichtung auf Aktionärsinteressen, duale Unternehmensverfassung mit Vorstand und Aufsichtsrat, mangelnde Transparenz deutscher Unternehmensführung, mangelnde Unabhängigkeit deutscher Aufsichtsräte und eingeschränkte Unabhängigkeit des Abschlußprüfers." 6 8 U m eine stärkere Ausrichtung auf die Aktionärsinteressen zu erreichen, sollte den Aktionären die Wahrnehmung ihrer R e c h t e und insbesondere die Stimmrechtsausübung erleichtert werden (Ziff. 2.3.3, 2.3.4 des Deutschen Kodex). I m H i n b l i c k auf die duale Unternehmensverfassung sollte die Entwicklung unterstützt werden, daß sich das duale System und das B o a r d - oder Verwaltungsratssystem aufeinander zu bewegten. D a z u sollte die Zusammenarbeit von Vorstand und Aufsichtsrat und insbesondere die offene und intensive Diskussion von U n ternehmensfragen im Aufsichtsrat und im Austausch zwischen Vorstand und Aufsichtsrat gefördert werden (Ziff. 3 . 1 - 3 . 1 0 , 5.1.1 des Deutschen Kodex). U m eine höhere Transparenz deutscher Unternehmensführung zu erreichen, sollten das U n t e r n e h m e n und die Unternehmensführung sowie die Vergütungen und Leistungsüberprüfungen den Anlegern transparent gemacht werden (Ziff. 7.1.17.1.5, 6.4-6.6 4 . 2 . 2 ^ . 2 . 4 , 5.4.7 des Deutschen K o d e x ) . 6 9 U m die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats zu sichern, sollte erreicht werden, daß dem Aufsichtsrat nicht mehr als zwei ehemalige Vorstandsmitglieder angehören (und der Wechsel in einen Vorsitz nicht die Regel ist) und Aufsichtsratsmitglieder keine Organfunktionen oder Beratungsaufgaben bei wesentlichen Wettbewerbern des U n t e r n e h m e n ausüben. Zudem sollte die Unabhängigkeit der J a h resabschlußprüfung durch den Aufsichtsrat gestärkt werden (Ziff. 5.4.2, 5.4.4, 5.3.2 des Deutschen Kodex). I m H i n b l i c k auf Interessenkonflikte und die U n a b -

68 Ausführungen von Cromme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001. 69 Siehe dazu die Ausführungen von Cromme aaO.

284

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

hängigkeit des Abschlußprüfers sollte auf das Prinzip von Transparenz und O f fenlegung gesetzt werden (Ziff. 4.3.4, 5.5.2, 7.2.1 des Deutschen K o d e x ) . 7 0 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß der Deutsche K o d e x primär eine Kapitalmarktfunktion hat. Sie gründet darin, daß die Analyse der jeweiligen C o r porate Governance der einzelnen U n t e r n e h m e n durch die institutionellen Investoren angesichts der wachsenden Vielfalt der Anlagewerte nicht mehr unternehmensindividuell erfolgen kann. D a h e r greifen die institutionellen Investoren zunehmend auf standardisierte nationale Corporate Governance Kodices zurück, u m die Corporate Governance der einzelnen U n t e r n e h m e n zu analysieren. Das hat zur Folge, daß die U n t e r n e h m e n , die auf der Suche nach den günstigsten F i nanzierungskonditionen sind und institutionelle Investoren überzeugen wollen, ihnen die dringend benötigten Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, die Beachtung eines standardisierten nationalen Corporate Governance K o d e x als die geeigneteste Lösung für dieses P r o b l e m ansehen. 7 1 D i e Kapitalmarktfunktion des Deutschen K o d e x ist eine Transparenz- und Kommunikationsfunktion. 7 2 Das schließt die Optimierungsfunktion jedoch nicht aus, sondern ein. D e r Deutsche K o d e x dient auch und gerade im Hinblick auf die Erfordernisse des K a pitalmarktes der Optimierung der Leitung und Überwachung in den U n t e r n e h men. D e r beste Beleg dafür ist, daß die Kritikpunkte an der deutschen U n t e r n e h mensverfassung und Unternehmensführung in dem Deutschen K o d e x aufgegriffen werden und dem Kapitalmarkt mit dem Deutschen K o d e x ein Beurteilungskatalog für gute Unternehmensführung an die H a n d gegeben wird. D e r Deutsche K o d e x hat mithin keine reine Kapitalmarktfunktion, sondern auch und gerade eine Optimierungsfunktion. D a m i t läuft er von der Zielsetzung her dem Z w e c k der § § 9 3 , 116 A k t G nicht nur nicht zuwider, er stimmt mit ihr überein. Das wird gelegentlich unter Hinweis darauf bestritten, daß es im R a h men der § § 9 3 , 116 A k t G nur u m Mindestvorgaben für die Unternehmensführung und damit letztlich nur u m die Verhinderung von Mißbräuchen gehe, nicht aber um eine optimale Unternehmensführung. 7 3 Diese Argumentation ist jedoch irreführend. D e n n im R a h m e n der § § 9 3 , 116 A k t G kann es wie im R a h m e n des Siehe dazu die Ausführungen von Cromme aaO. Siehe dazu: Schneider/Strenger AG 2000, S. 106,107; Davies ZGR 2001, S.268, 278f.; Wymeersch ZGR 2001, S. 294,314,316; Hommelhoff ZGR 2001, S.238,242f., 243f.; Seiht AG 2002, S. 249, 255; Seidel ZIP 2004, S. 285,290. Ob die Unternehmen dann auch einen höheren Aktienkurs ausweisen und entsprechend niedrigere Eigenkapitalkosten haben, ist umstritten; siehe dazu Schneider/Strenger AG 2000, S. 106,107 sowie Lutter ZHR 166 (2002), S. 523, 535 einerseits und Wymeersch ZGR 2001, S.294, 314 Fn.38 sowie Theisen RWZ 2001, S. 157,165 andererseits. Es liegen noch keine belastbaren empirischen Befunde dazu vor, ob die Befolgung von Corporate Governance Kodices den institutionellen Investoren höhere Erträge verschafft; siehe dazu Borges ZGR 2003, S.508, 537f. und Wymeersch ZGR 2001, S.294, 316. 72 Vgl. Rdn. 8 des Kommissionsberichts und Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002. 73 Vgl. dazu Theisen RWZ 2001,157,163, der andererseits aber auf S. 165 „die Adaption derartiger Überlegungen durch die Rechtswissenschaft" für denkbar hält. 70 71

B. Die gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre

285

§ 2 7 6 B G B weder um das schlechthin unverzichtbare M i n i m u m n o c h um das theoretisch denkbare O p t i m u m gehen, sondern nur u m den tatsächlich erreichbaren Standard im Sinne der von den betroffenen Verkehrskreisen im Durchschnitt erzielbaren „best practice". 7 4 Vor diesem Hintergrund stimmt die Zielsetzung des Deutschen K o d e x mit dem Z w e c k der § § 9 3 , 116 A k t G überein: D e r Deutsche K o d e x dient zwar (auch) einer Optimierung der Leitung und Ü b e r w a c h u n g in den Unternehmen, aber nur mit dem Ziel „guter" Unternehmensführung 7 5 und nicht etwa mit dem Ziel „optimaler" im Sinne bestmöglicher Unternehmensführung. 7 6 Diese Intention kam im Berliner K o d e x besonders deutlich z u m Ausdruck: „ D i e Kodexregelungen verstehen sich als Leitungs- und Überwachungsstandards, die sich nach heutigem Stand des Managementwissens vielfach bewähren (best practices)." 7 7 I m H i n b l i c k auf die Interpretation der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G stellt sich allerdings das Problem, daß der Deutsche K o d e x - gerade wegen seiner Kapitalmarktorientierung - nur bestimmte Kritikpunkte aufgreift. E r beinhaltet bereits aus diesem G r u n d keine abschließende Regelung guter Unternehmensführung. D i e K o n s e quenz lautet, daß die echten Corporate Governance Standards für die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 93 A k t G nur im H i n b l i c k auf die von ihnen erfaßten Themenbereiche relevant sein können. D i e Beachtung der echten C o r p o r a t e G o vernance Standards kann nicht implizieren, daß alle den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 9 3 A k t G erfüllt worden sind. bb)

Regelungstechnik

Anders als die Zielsetzung wirft die Regelungstechnik des Deutschen K o d e x ganz erhebliche Probleme auf, will man Stellung zu der Frage beziehen, ob das von der K o d e x k o m m i s s i o n für erforderlich und ausreichend angesehene unternehmerische Verhalten auch im Lichte der §§ 9 3 , 1 1 6 A k t G einerseits als erforderlich, andererseits als ausreichend anzusehen ist. (1) Empfehlungen

und

Anregungen

D e r Deutsche K o d e x differenziert mit Blick auf die echten C o r p o r a t e Governance Standards zwischen Empfehlungen, von denen abgewichen werden kann, was aber offenzulegen ist (sprachlich gekennzeichnet durch „soll"), und Anregungen,

Deutsch, Haftungsrecht, S.248f., 249ff., 259f. Ausführungen von Cramme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001. 76 Vgl. zu diesem Begriff nur Theisen RWZ 2001, 157, 163. 77 Präambel des Berliner Kodex. 74

75

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

von denen ohne Offenlegung abgewichen werden kann (sprachlich gekennzeichnet durch „sollte" oder „kann"). 7 8 D a h e r stellt sich die Frage, o b nur die ersteren oder auch die letzteren für die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G / d e r §§ 116, 93 A k t G herangezogen werden können. Sie führt zu der Frage nach dem G r u n d für diese Differenzierung. N i m m t man die zur Verfügung stehenden Quellen zur Hilfe, so werden in den Empfehlungen „international und national anerkannte" Corporate Governance Standards berücksichtigt und mit den „Anregungen für eine gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung und -Überwachung" 7 9 „weiche Verhaltensempfehlungen, die mehr Ermahnungen und D e n k a n s t ö ß e sind", gegeben. 8 0 Diese Regelungen sind nach Auffassung der K o d e x k o m m i s s i o n „ebenfalls Ausdruck guter U n t e r nehmensführung", sie hätten sich lediglich „noch nicht auf breiter F r o n t in der Praxis durchgesetzt" und sollten „proaktive A n s t ö ß e für die weitere E n t w i c k lung der C o r p o r a t e Governance in Deutschland geben, ohne die U n t e r n e h m e n bereits heute zu sehr zu binden." 8 1 D i e Differenzierung folgt mithin allein aus der Kapitalmarktfunktion des Deutschen Kodex. D i e institutionellen Investoren sehen es kritisch, wenn sich die U n t e r n e h m e n nicht einmal zur Beachtung der international und national anerkannten C o r p o r a t e Governance Standards äußern wollen. 8 2 Gerade deshalb ist nach § 161 A k t G jährlich zu erklären, daß den Empfehlungen der K o d e x k o m m i s sion entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden. 8 3 D i e Differenzierung berührt mithin nicht die O p t i m i e rungsfunktion des Deutschen K o d e x . Sie beruht insbesondere nicht darauf, daß die Anregungen im Verhältnis zu den Empfehlungen als weniger geeignet angesehen worden sind, eine gute Unternehmensführung zu gewährleisten. D a h e r sind die Empfehlungen und die Anregungen im Lichte des Zwecks der § § 9 3 , 116 A k t G in gleicher Weise für die Interpretation der den Vorständen/Auf sichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G / d e r §§ 116, 93 A k t G heranziehbar.

Präambel des Deutschen Kodex. Ausführungen von Cromme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001; siehe auch die Präambel des Deutschen Kodex 80 Bundesministerium der Justiz, Mitteilung für die Presse A 27/01. 81 Von Werder, Kodex-Kommentar, Präambel Rdn. 101. 82 Davies ZGR 2001, S.268, 278f.; Wymeersch ZGR 2001, S.294, 316. 83 Siehe zum eingeschränkten Anwendungsbereich der Compliance-Erklärung Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002 und zu den Problemen der Compliance-Erklärung Borges ZGR 2003, S. 508, 524ff. und Strieder DB 2004, S. 1325ff. 78

79

B. Die gesellschaftsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre (2)

287

Auslegungsfragen

D i e Formulierung der Empfehlungen des Deutschen K o d e x als Sollenssätze (Grundsätze) 8 4 wirft eine weit schwierigere Frage auf: Handelt es sich hier um das, was in der Rechtswissenschaft unter einer Regelreduzierung verstanden wird? D i e Konsequenz wäre eine Bindung für den Regelfall; eine Abweichung wäre nur in den Ausnahmefällen gestattet, in denen aufgrund besonderer angebbarer überwiegender G r ü n d e die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht gefordert wird. 8 5 In die Richtung eines solchen Regel-/Ausnahmeverhältnisses deuten folgende Formulierungen: D e r Deutsche K o d e x solle Empfehlungen enthalten, von denen „bei B e d a r f " abgewichen werden könne. Dies käme in Betracht, wenn „besondere Gegebenheiten ( G r ö ß e ; Anteilseignerstruktur; branchenbedingte Besonderheiten; internationale Anlegerschaft und Anforderungen ausländischer Kapitalmärkte u.a.m.) dies als wünschenswert oder geboten erscheinen lassen." 8 6 D i e U n t e r n e h m e n sollten „im Einzelfall" von den Empfehlungen abweichen k ö n nen. 8 7 D e n U n t e r n e h m e n werde „in Fällen, in denen sie es für sinnvoll oder geboten halten, die Möglichkeit gelassen, von den K o d e x - R e g e l n abzuweichen." 8 8 E i ne Ersetzung aktienrechtlicher Vorschriften durch Empfehlungen eines D e u t schen K o d e x könne sich nur „auf solche Vorschriften, etwa Verfahrens- und Verhaltensvorschriften beziehen, die einer flexiblen Anpassung an besondere Verhältnisse bedürfen." 8 9 Andere Formulierungen suggerieren jedoch, daß die Empfehlungen des D e u t schen K o d e x generalklauselartigen Charakter haben und daher in jedem Fall der unternehmensindividuellen Anpassung bedürfen. So heißt es etwa, es handele sich um Empfehlungen „zur unternehmensindividuellen U m s e t z u n g . " 9 0 Sie sollten „als Modellkatalog geeignet sein, damit die U n t e r n e h m e n ihre jeweils spezifischen Verhältnisse abbilden können." 9 1 Sie sollten es den U n t e r n e h m e n ermöglichen, „einen auf die unternehmensindividuellen Verhältnisse zugeschnittenen , C o d e of best Practice' zu entwickeln." 9 2 D i e „Darstellung unternehmensindividueller Modifikationen und Abweichungen" solle in einem gesonderten Bericht erfolgen, und es erscheine wünschenswert, wenn die „Darstellung der unterneh84 Siehe zu dieser Terminologie etwa Lutter ZGR 2001, S.224,225 und Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149,160,169,171 f., die auf S. 166 auch von „typischerweise erforderlich bzw. typischerweise ausreichend" sprechen. 85 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn.21, 21b. 86 Rdn. 7 des Kommissionsberichts. 87 Rdn. 8 des Kommissionsberichts. 88 Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002. 89 Rdn. 7 des Kommissionsberichts. 90 Rdn. 6 des Kommissionsberichts. 91 Rdn. 7 des Kommissionsberichts. 92 Rdn. 10 des Kommissionsberichts; ebenso Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG

2/2002.

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

mensindividuellen Praxis zu den betreffenden Empfehlungen des K o d e x in den Geschäftsbericht aufgenommen w ü r d e . " 9 3 D i e im Aktiengesetz zu verankernde Erklärungspflicht mache nicht die Empfehlungen ihrem Inhalt nach verbindlich, da „die U n t e r n e h m e n von diesen Empfehlungen ohne weiteres auch abweichen können sollen." 9 4 M i t dem „Optionsrecht in der Sache" eröffne der D e u t s c h e K o dex den U n t e r n e h m e n „den notwendigen Spielraum, u m Governancemodalitäten auf ihre individuellen Gegebenheiten hin zuzuschneiden." 9 5 Ein Blick in die Entstehungsgeschichte spricht für ein Regel-/Ausnahmeverhältnis. Das Ziel der C o r p o r a t e Governance Diskussion war, daß die „Befolgung" der echten C o r p o r a t e Governance Standards „zwar im Regelfall exkulpiert, jedoch nicht zwingend ist", 9 6 weil „im Einzelfall mit guter Begründung abgewichen werden k a n n . " 9 7 I m Berliner K o d e x heißt es: „Selbst bei einer K o n z e n t r a tion auf die P u b l i k u m s - A G k ö n n e n generelle Regeln nicht sämtlichen Eigenheiten eines Unternehmens R e c h n u n g tragen. I m Einzelfall kann daher von den Kodexempfehlungen auch abgewichen werden, wenn hierfür gute G r ü n d e vorlie«98 gen. D i e Intention des Deutschen K o d e x spricht ebenfalls dafür, daß die E m p f e h lungen einen Regel-/Ausnahmecharakter haben. D e n n der Deutsche K o d e x hat primär eine Kapitalmarktfunktion. D e r Gesetzgeber hat sich für einen Deutschen K o d e x entschieden, weil eine international nachvollziehbare Standardisierung der deutschen C o r p o r a t e Governance geeignet ist, den deutschen U n t e r n e h m e n die Einwerbung von Risikokapital zu erleichtern: „Ein solcher K o d e x bietet die Möglichkeit, die geltende Unternehmensverfassung für deutsche Aktiengesellschaften und die ... Verhaltensmaßstäbe für Unternehmensleitung und U n t e r n e h mensüberwachung in einer gerade auch für ausländische Investoren geeigneten F o r m zusammenfassend und übersichtlich darzustellen und die Besonderheiten und Vorzüge der dualistischen Unternehmensverfassung zu verdeutlichen. Gerade im H i n b l i c k auf die Information ausländischer Anleger erschien es unvermeid-

Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002. Rdn. 17 des Kommissionsberichts. 95 Von Werder, Kodex-Kommentar, Präambel Rdn. 97. 96 Von Werder zfbf Sonderheft 36.96, S. 1, 9. 97 Von Werder/Maly/Pohle DB 1998.S.1193,1193. Siehe dazu auch Seibt AG 2002, S. 249,251 („safe haven") und Ulmer ZHR166 (2002), S. 150,167. Vgl. dazu auch Hommelhoff/Schwah zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 166f.: „Sollte es der Betriebswirtschaftslehre gar gelingen, Standardsituationen unternehmerischer Entscheidung herauszuarbeiten, in denen ein bestimmtes Verhalten typischerweise erforderlich bzw. ausreichend ist, so wäre weitergehend zu erwägen, ob die Verletzung bzw. Einhaltung dieser Regeln nicht den Beweis des ersten Anscheins ermöglicht, daß ein Pflichtverletzung vorliege bzw. fehle. Die,Standardsituation' wäre der,typische Geschehensablauf', aus dem mangels gegenteiliger Anhaltspunkte geschlossen werden könnte, daß das beklagte Organ auch im konkreten Fall zu einem ganz bestimmten Verhalten verpflichtet war." 98 Präambel des Berliner Kodex. 93 94

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

289

lieh einen maßgebenden Corporate Governance K o d e x für Deutschland zu initi«99 leren. Soll vermittels des Deutschen K o d e x eine international nachvollziehbare Standardisierung der deutschen Corporate Governance erreicht werden, so liegt es in der Intention des Deutschen Kodex, daß möglichst wenige U n t e r n e h m e n in m ö g lichst wenigen Punkten von den Empfehlungen abweichen. D e n n der D e u t s c h e K o d e x wird sein Standardisierungsziel verfehlen, wenn eine Mehrzahl der U n t e r nehmen ihn überwiegend nicht übernimmt, sondern auf die unternehmensindividuellen Verhältnisse zugeschnittene eigene Corporate Governance Kodices entwickelt. M a n ist auch davon ausgegangen, daß die U n t e r n e h m e n den Deutschen K o d e x übernehmen werden. D i e Kapitalmarktteilnehmer würden ihn vielfach als „faktisch verbindlich" ansehen und sich die U n t e r n e h m e n infolgedessen „einem gewissen D r u c k des Marktes ausgesetzt sehen," sich an den Deutschen K o d e x zu halten. 1 0 0 E s würden „Sanktionen bei Nicht-Erfüllung ... über den M a r k t erfolgen," weil „man dann diese Aktien nicht k a u f t " 1 0 1 . Vor diesem Hintergrund spricht für einen Regel-/Ausnahmecharakter der Empfehlungen des weiteren, daß in den Materialien immer wieder betont wird, die Abweichungen von den Empfehlungen seien zu begründen 1 0 2 und der Kapitalmarkt müsse die „Gleichwertigkeit" der Abweichungen von den E m p f e h l u n gen bewerten. 1 0 3 D e n n dies ist für die Fälle der Regelreduzierung insofern t y pisch, als eine Abweichung nur in Fällen gestattet ist, in denen besondere angebbare überwiegende G r ü n d e für das Abgehen von der N o r m sprechen. 1 0 4 Schließlich läßt auch der Inhalt der Empfehlungen den Schluß zu, daß sie einen Regel-/Ausnahmecharakter haben. Sie beinhalten international und national anerkannte Corporate Governance Standards, und es gibt keinen vernünftigen Grund, warum sich nicht auch die deutschen U n t e r n e h m e n grundsätzlich an derartige Standards halten sollten. Sie sind teilweise sehr offen ausgestaltet (sie f o r dern nur, daß in einem bestimmten Bereich überhaupt etwas getan wird, aber nicht oder nur ansatzweise genau, was oder wie) 1 0 5 und verlangen dann ganz überwiegend nur, was heute schon selbstverständlich sein sollte (siehe etwa die Empfehlungen zu Informationsordnung, Geschäftsordnung und Ausschußbil99 Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002; ebenso Rdn. 8 des Kommissionsberichts. 100 Rdn. 17 des Kommissionsberichts. 101 So die Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin nach FAZ.NET vom 26. Februar 2002 „Ein Kodex für Spitzenmanager"; siehe auch Börsenzeitung 16. August 2005. 102 Rdn. 9, 10, 17 des Kommissionsberichts; Begründung zu Art. 1 Nr. 16 RegE TransPuG 2/2002; Ziff. 3.10 des Deutschen Kodex. 103 Rdn. 10, 12, 17 des Kommissionsberichts; von Werder, Kodex-Kommentar, Präambel Rdn. 97. 104 Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rdn. 21, 21b. 105 Lutter ZGR 2001, S. 224,229: „Die Formulierungen" zur Ausschußbildung „in den Papieren der Grundsatzkommission sind so weich, daß jeder doch wieder machen kann, was er will."

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3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

dung in Ziff. 3.4, 4.2.1, 5.1.3, 5.3.1 des Deutschen Kodex). Soweit die Empfehlungen detailliert ausgestaltet sind, beinhalten sie in der Sache überzeugende oder sogar der bestehenden Praxis entsprechende Regelungen 1 0 6 (siehe etwa die Empfehlungen zu Vergütung und Interessenkonflikten der Vorstände/Aufsichtsräte sowie zur Unabhängigkeit des Abschlußprüfers in Ziff. 4.2.2-4.2.4, 4.3.4, 4.3.5, 5.4.7, 5.5.2-5.5.4, 7.2.1 und die Empfehlungen zu Aufsichtsratsvorsitz, Prüfungsausschuß, Aufsichtsratsmitgliedern und Berichtspflicht des Abschlußprüfers in Ziff. 5.2, 5.3.2, 5.4.1, 5.4.2, 5.4.4, 7.2.3 des Deutschen Kodex). Demnach ist davon auszugehen, daß die Empfehlungen des Deutschen Kodex einen Regel-/Ausnahmecharakter haben: N u r bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten kann sich die Frage stellen, ob und gegebenenfalls welche Abweichungen von den Empfehlungen wegen dieser Umstände gerechtfertigt sind; fehlt es am Vorliegen atypischer Gegebenheiten, so ist die Einhaltung der Empfehlungen zwingend. Mit diesem Befund sind die Probleme, die die Formulierung der Empfehlungen im Hinblick auf die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 A k t G / d e r § § 1 1 6 , 9 3 A k t G aufwerfen, allerdings noch nicht gelöst. Die entscheidende Frage lautet nämlich: Wann liegen atypische Gegebenheiten vor? Die Antwort auf diese Frage birgt eine erhebliche G e fahr: Sie kann die Ausnahme zur Regel werden lassen, weil die individuellen Verhältnisse der einzelnen Unternehmen so verschieden und so vielgestaltig sind, daß ein großer Spielraum für die Annahme atypischer Gegebenheiten eröffnet ist. D a mit schließt sich in gewisser Weise der Kreis. Die Formulierungen in den Materialien zum Deutschen Kodex deuten zum Teil daraufhin, daß die Empfehlungen einen Regel-/Ausnahmecharakter haben, und sprechen zum Teil dafür, daß sie von generalklauselartiger Natur sind und daher in jedem Fall der unternehmensindividuellen Anpassung bedürfen. D e m entspricht es, daß die Antwort auf die Frage derzeit völlig offen ist, wie regelreduziert die Regelreduzierung wirklich ist, oder anders gewendet, ob im Gewand der Regelreduzierung nicht doch eine konkretisierungsbedürftige Generalklausel einherkommt. Die Formulierung der Anregungen als „Sollte"-/„Kann"- Bestimmungen wirft ganz ähnliche Fragen auf. Nimmt man die zur Verfügung stehenden Quellen zur Hilfe, so haben die Anregungen weniger Bindungskraft als die Empfehlungen. Ihnen ist kein Regel-/Ausnahmecharakter, sondern ein Ermessenscharakter zuzumessen, und zwar angesichts des Fehlens ermessensleitender Gesichtspunkte 106 Siehe dazu nur Theisen, Deutscher Corporate Governance Kodex: Regelungsinhalte, 2002 (unveröffentlicht), wonach die Ziff. 3.6.1, 5.1.3, 5.2.2.1 eine „Kenntnisnahme der bestehenden Praxis" darstellen, die Ziff. 3.2,3.4, 3.10,4.2.3,4.2.4, 4.3.4, 4.3.5, 5.1.2, 5.3.1, 5.3.2.1 eine „Erweiterung der bestehenden Praxis" beinhalten, die Ziff. 3.6.2, 5.1.1, 5.2.2.2, 5.3.2.2, 5.4.2, 5.4.3.2, 5.4.4,5.4.5,5.4.6,5.5.3,6.6, 7.1.3,7.1.5, 7.2.1 eine „Veränderung der bestehenden Praxis" bedeuten und die Ziff. 5.6, 7.2.3 des Deutschen Kodex idF. vom 26. Februar 2002 eine „Innovation" sind, die „bisher keine Praxis" ist.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

291

ein sehr diffuser Ermessenscharakter. 107 Die entscheidende Frage bleibt auch hier offen: Unter welchen Umständen ist die Übernahme welcher Anregungen geboten und unter welchen Umständen sind welche Abwandlungen der Anregungen gerechtfertigt? Die Antwort auf diese Frage birgt ebenfalls eine erhebliche Gefahr: Das Ermessen kann sich zur Regelreduzierung verdichten, aber sich auch in einem ganz weiten Ermessen und damit im Ungreifbaren verflüchtigen. cc) Defizitäre

Substantiierung

Die zum Teil defizitäre Substantiierung wirft wie die Regelungstechnik des Deutschen Kodex ganz erhebliche Probleme im Hinblick auf die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG/der §§116,93 AktG auf. Zentrale Fragen der Leitung und Überwachung in den Unternehmen werden nur rudimentär geregelt, was besonders deutlich wird, wenn man den Deutschen Kodex mit dem erheblich detaillierteren Berliner Kodex vergleicht. So gibt der Deutsche Kodex mit Blick auf die zustimmungspflichtigen Geschäfte lediglich die Interpretation des geltenden Rechts 108 wieder, 109 während der Berliner Kodex eine detaillierte Regelung enthält. 110 Der Deutsche Kodex macht kaum Vorgaben für die Geschäftsordnungen 111 und keine Vorgaben für die Informationsordnung, 112 während der Berliner Kodex detaillierte Regelungen zu den Geschäftsordnungen 113 und der Informationsordnung enthält. 114 Die offenen echten Corporate Governance Standards werfen im Lichte der §§ 93,116 AktG die Frage auf, ob es auch im Lichte der §§ 93,116 AktG einerseits als erforderlich, andererseits als ausreichend anzusehen ist, daß Geschäftsordnung, Zustimmungsvorbehalt und Informationsordnung überhaupt vorhanden sind und - nimmt man noch die Regelung über die Ausschußbildung in Ziff. 5.3.1-5.3.4 des Deutschen Kodex hinzu - zumindest ein Prüfungsausschuß eingesetzt ist. Dies hätte die Konsequenz, daß es für die Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds in Auslegung und Anwendung der §§93, 116 AktG weder auf den Inhalt von Geschäftsordnung, Zustimmungsvorbehalt und Informationsordnung noch auf die Bildung anderer Ausschüsse als des Prüfungsausschusses ankäme. 115 Diese Frage stellen, heißt sie verneinen. Der Deutsche Kodex greift - gerade wegen seiner Ka107 Vgl. dazu die Terminologie von HommelhoffXGK 2001, S.238,243, der im Hinblick etwa auf §171 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AktG von „der neuen Kategorie der .Anregungsnormen'" spricht, und zwar in diesem Fall „zur Einrichtung von Aufsichtsratsausschüssen." 108 Siehe dazu etwa Mertens, Kölner Kommentar, § 111 Rdn. 66. 109 Ziff. 3.3 des Deutschen Kodex. 110 Ziff. II.3.4 des Berliner Kodex. 111 Ziff. 4.2.1, 5.1.3 des Deutschen Kodex. 112 Ziff. 3.4 des Deutschen Kodex. 113 Ziff. III.3.2-111.3.5, IV.3.1, IV.5.1, IV.5.4, IV.5.5 des Berliner Kodex. 114 Ziff. II.2.2, II.2.3 des Berliner Kodex. 115 Siehe dazu Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 168ff., 171f.

292

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

pitalmarktorientierung - nicht nur lediglich bestimmte Kritikpunkte auf, sondern er regelt auch „nicht jedes Thema in allen Einzelheiten". 1 1 6 E r beinhaltet auch aus diesem Grund keine abschließende Regelung guter Unternehmensführung. Die Frage, ob die echten Corporate Governance Standards als rechtlich verbindlich anzusehen sind, weil sie in Auslegung und Anwendung der §§93, 116 AktG nunmehr als Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds anzusehen sind, 117 kann sich ernsthaft nur insoweit stellen, als diese Corporate Governance Standards bestimmte Themen in allen Einzelheiten regeln. 118 Vor diesem Hintergrund lautet die entscheidende Frage: Welche Relevanz können die offenen echten Corporate Governance Standards für die Interpretation der den Vorständen/Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 A k t G haben? Die Antwort liegt auf der Hand: Sie geben im Hinblick auf die von ihnen erfaßten Themenbereiche Anhaltspunkte dafür, worin die Mindestvorgaben für die Unternehmensführung bestehen, die im Rahmen der Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds in Auslegung und Anwendung der §§93, 116 A k t G überschritten werden müssen. Das hat zur Konsequenz, daß die Empfehlungen und Anregungen des Deutschen Kodex insoweit grundsätzlich zu befolgen sind und in diesem Sinne fast ausnahmslos zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. Es ist kaum vorstellbar, aus welchen Gründen ein Unternehmen etwa auf den Erlaß von Geschäftsordnung, Zustimmungsvorbehalt und Informationsordnung oder die Einsetzung eines Prüfungsausschusses im Lichte der §§ 93, 116 A k t G verzichten dürfen sollte. Die Frage, wie die den Vorständen/Auf sichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 A k t G im Hinblick etwa auf den Inhalt von Geschäftsordnung, Zustimmungsvorbehalt und Informationsordnung und die Bildung weiterer Ausschüsse als des Prüfungsausschusses zu konkretisieren sind, ist dann allerdings derzeit offen. d)

Ergebnis

Die Frage nach der Relevanz der echten Corporate Governance Standards für die Interpretation der Rechtsnormen und insbesondere der den Vorständen/Auf-

116 Ausführungen von Cromme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001. 117 Siehe dazu Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 172. 118 Siehe dazu Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 160, 171, 172, die ausgeformte und subsumtionsfähige Grundsätze sowie eine fachspezifische Begründung (im Sinne einer auf Plausibilität überprüfbaren und nachvollziehbaren Begründung mit spezifisch betriebswirtschaftlicher Argumentation) verlangen, um in Auslegung und Anwendung der §§93, 116 AktG rechtlich verbindliche Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung anerkennen zu können.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

293

sichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G führt nach alledem zu dem folgenden Befund: Die Rechtswissenschaft kann und w i r d die durch den Deutschen Kodex angestrebte Entwicklung allgemeingültiger Corporate Governance Regeln konstruktiv begleiten, indem sie Stellung zu der Frage bezieht, ob das von der Kodexkommission für erforderlich und ausreichend angesehene unternehmerische Verhalten auch im Lichte der §§93, 116 A k t G einerseits als erforderlich, andererseits als ausreichend anzusehen ist. Derzeit sind allerdings insbesondere die folgenden beiden Punkte als völlig offen anzusehen. - Die Formulierung der Empfehlungen als Regelreduzierung wirft die Frage auf, welche besonderen angebbaren gewichtigen Gründe dazu führen, daß geklärt werden muß, ob und gegebenenfalls welche Abweichungen von den Empfehlungen gerechtfertigt sind. In gleicher Weise wirft die Formulierung der Anregungen als diffuses Ermessen die Frage auf, unter welchen Umständen die Übernahme der Anregungen geboten ist und unter welchen Umständen welche A b w a n d l u n g e n der Anregungen gerechtfertigt sind. - Der Deutsche Kodex greift - gerade wegen seiner Kapitalmarktorientierung nur bestimmte Kritikpunkte (mangelhafte Ausrichtung auf Aktionärsinteressen, duale Unternehmensverfassung mit Vorstand und Aufsichtsrat, mangelnde Transparenz deutscher Unternehmensführung, mangelnde Unabhängigkeit deutscher Aufsichtsräte und eingeschränkte Unabhängigkeit des Abschlußprüfers) auf und regelt darüberhinaus auch nicht jedes Thema in allen Einzelheiten. Vor dem Hintergrund des begrenzten Regelungsbereichs und der defizitären Substantiierung bleibt die Frage unberührt, wie die den Vorständen/ Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G im übrigen bzw. insoweit zu konkretisieren sind. Als einigermaßen gesichert können nur drei Schlußfolgerungen gelten. - A u f g r u n d des begrenzten Regelungsbereichs und der defizitären Substantiierung kann die Beachtung der echten Corporate Governance Standards nicht implizieren, daß alle den Vorständen/Auf sichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des § 93 AktG/der §§116, 93 A k t G erfüllt worden sind. - Die Frage, ob die echten Corporate Governance Standards als rechtlich verbindlich anzusehen sind, weil sie in Auslegung u n d A n w e n d u n g der § § 9 3 , 1 1 6 A k t G nunmehr als Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds anzusehen sind, kann sich ernsthaft nur insoweit stellen, als diese Corporate Governance Standards bestimmte Themen in allen Einzelheiten regeln. - Die offen echten Corporate Governance Standards geben im Hinblick auf die von ihnen erfaßten Themenbereiche lediglich Anhaltspunkte dafür, w o r i n die Mindestvorgaben für die Unternehmensführung bestehen, die im Rahmen der Konkretisierung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Ge-

294

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

schäftsleiters/Aufsichtsratsmitglieds in Auslegung und Anwendung der §§ 93, 116 AktG überschritten werden müssen. Die Rechtswissenschaft verfügt mithin über erhebliche Spielräume, wenn sie die echten Corporate Governance Standards zur Interpretation der den Vorständen/ Aufsichtsräten obliegenden Rechtspflichten im Sinne des §93 AktG/der §§116, 93 AktG heranzieht. Sie wird zur Ausfüllung der Spielräume gerade auf den Berliner Kodex zurückgreifen können und dürfen. Der Deutsche Kodex bleibt zwar in Regelungstechnik, Regelungsbereich und Substantiierungsgrad hinter dem Berliner Kodex und damit hinter den Erkenntnissen der Betriebswirtschaftslehre weit zurück, dies dürfte aber nur an dem Kompromißcharakter und der vorläufigen Natur des Deutschen Kodex liegen.119 Der Berliner Kodex ist von einem hochkarätigen Expertenteam entwickelt worden, 120 und Peter Hommelhoff und Martin Schwab haben die methodischen Grundlagen für eine Rezeption des sich in Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung manifestierenden betriebswirtschaftlichen Sachverstandes gelegt.121 Es liegt geradezu im Wesen der Diskussion um Corporate Governance Standards, sich der Frage eines Rückgriffs auf die Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre stärker als bisher zu stellen.122

II. Überschreitung

und

Abwägungsmangel

Die Überschreitung als der einzige reine (inhaltliche) Ergebnisfehler (abstrakter Verhaltensfehler) und der Abwägungsmangel als der praktisch relevante (inhaltliche) Ergebnisfehler/inhaltliche Vorgangsfehler (konkreter Verhaltensfehler) sind nunmehr zu konkretisieren. Da es sich bei der Überschreitung um eine Überdehnung der Einschätzungs-/ Ermessensermächtigung handelt, ist sie in der Regel am Entscheidungstenor er119 Vgl. dazu die Ausführungen von Cromme anläßlich der Veröffentlichung des Entwurfs des Deutschen Kodex am 18. Dezember 2001: „Die Ergebnisse unserer Beratungen in der KodexKommission ... Zusätzlich sind die Corporate Governance Grundsätze der Frankfurter Grundsatzkommission Corporate Governance aus Juli 2000 und die Vorarbeiten des Berliner Initiativkreises zum,German Code of Corporate Governance' 2000 als wertvolle Vorarbeiten in die Diskussion einbezogen worden." 120 Siehe zu diesem Erfordernis Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149,160f., 167, 172ff., 174 f. 121 Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 154ff., 156ff., 161ff., 172ff. 122 Dagegen sprechen nicht die Feststellungen von Theisen RWZ 2001, S. 157ff., daß angesichts der unterschiedlichen Vorschläge im Rahmen der „Diskussion über Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensführung" noch nicht „von einem generellen Lösungsansatz" gesprochen werden kann. Denn - wie Hommelhoff/Schwab zfbf Sonderheft 36.96, S. 149, 164f., 166 zutreffend ausführen - einige Forderungen der Betriebswirtschaftslehre sind bereits als Rechtspflicht anerkannt, obwohl es der Betriebswirtschaftslehre noch nicht gelungen ist, „Standardsituationen unternehmerischer Entscheidung herauszuarbeiten, in denen ein bestimmtes Verhalten typischerweise erforderlich bzw. typischerweise ausreichend ist."

B. Die gesellschaftsrechtliche

295

Entscheidungsfehlerlehre

kennbar. Daher zielt die Frage nach ihrer Konkretisierung auf die Typisierung von Entscheidungen, die der Vorstand/Aufsichtsrat unter gar keinen Umständen treffen darf. Die Überschreitung umfaßt mithin insbesondere die Fälle, in denen eine Entscheidung schon ihrer Art nach und damit der zugehörige Entscheidungstenor (das Endergebnis des gesamten Entscheidungsprozesses) bereits

aufgrund

seines Typs im Lichte des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G zu beanstanden ist. Die Konkretisierung der Überschreitung erfolgt durch die Herausbildung von abwägungsfesten Vorgaben. D a es sich bei dem Abwägungsmangel um einen Fehlgebrauch der Einschätzungs-/Ermessensermächtigung handelt, ist er in den typischen Fällen (kein Mißverhältnis von Vorgang und Ergebnis; kein übergreifendes Mißverhältnis von Ergebnis und Vorgang) ebenfalls in der Regel am Entscheidungstenor erkennbar. Daher umfaßt er insbesondere die Fälle, in denen eine Entscheidung und damit der zugehörige Entscheidungstenor (das Endergebnis des gesamten Entscheidungsprozesses) lediglich

im konkreten

Fall im Lichte des § 93 AktG/der §§116,

93 A k t G zu beanstanden ist. Der Umstand, daß in diesen Fällen die Entscheidung nicht schon ihrer Art nach und damit der zugehörige Entscheidungstenor nicht bereits aufgrund seines Typs im Lichte des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G pflichtwidrig ist (also kein abstrakter Verhaltensfehler vorliegt), schließt es gerade nicht aus, daß die Entscheidung und damit der zugehörige Entscheidungstenor im konkreten Fall im Lichte des § 9 3 AktG/der §§116, 93 A k t G pflichtwidrig ist (also ein konkreter Verhaltensfehler vorliegt). Die Konkretisierung des Abwägungsmangels erfolgt durch die Herausbildung von (bloßen) Abwägungsgrundsätzen (Richtlinien, an denen sich eine sachgemäße Einschätzung/Ermessensausübung ausrichten muß) sowie durch die Ausformung des Rationalgebots. Während es auf der Hand liegt, daß es sich bei dem Rationalgebot um einen für jede Abwägung geltenden Maßstab handelt, ist bei den abwägungsfesten Vorgaben und den Abwägungsgrundsätzen zu differenzieren. Es gibt abwägungsfeste Vorgaben, an denen Entscheidungen unabhängig vom Entscheidungsgegenstand zu messen sind (generelle Entscheidungsgrenzen). 123 Es lassen sich daneben abwägungsfeste Vorgaben formulieren, an denen Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu messen sind. Sie legen fest, welche Entscheidungen der Vorstand/Aufsichtsrat gar nicht treffen darf 123 Diese Fälle entsprechen im Verwaltungsrecht der Überschreitung infolge einer Fehleinschätzung des Einschätzungsbegriffs bzw. der Ermessensermächtigung (etwa Uberdehnung des Gebührenrahmens oder Erteilung einer unbefristeten Sondernutzungserlaubnis entgegen § 8 Abs.2 Satz 1 FernStrG; siehe dazu Wolff/Bachof/Stoher, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.46 und Alexy J Z 1986, S.701, 702, 709) oder einer Verkennung/Fehleinschätzung normierter Beurteilungs-/Ermessensgrenzen (etwa Verletzung der Vorgaben des Flächennutzungsplans nach § 8 Abs. 2 BauGB oder Nichteinhaltung der denkbaren Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 9 BauGB). Sie fallen im U. S. amerikanischen Recht in den Anwendungsbereich der duty of care und damit (jedenfalls zunächst) unter die business judgment rule und (wenn es an deren Voraussetzungen fehlt) unter den entire (intrinsic) fairness test.

296

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des

Aufsichtsrats

(absolute Entscheidungsgrenzen)124 und welche Entscheidungen der Vorstand/ Aufsichtsrat nur unter bestimmten Voraussetzungen treffen darf (Ermessensg r e n z e n f ü r die i m L i c h t e d e r a b s o l u t e n E n t s c h e i d u n g s g r e n z e n

verbleibenden

oder anderweitig bestimmten Generierungs- und Evaluationsermessensspielräum e des V o r s t a n d s u n d die d a m i t g e g e b e n e n f a l l s k o r r e s p o n d i e r e n d e n E r m e s s e n s s p i e l r ä u m e des A u f s i c h t s r a t s / E r m e s s e n s g r e n z e n f ü r b e s t i m m t e A u s g e s t a l t u n g s ermessensspielräume des Aufsichtsrats).125 I n g l e i c h e r W e i s e g i b t es A b w ä g u n g s g r u n d s ä t z e , die f ü r E i n s c h ä t z u n g s - , E v a luations- und Auswahlfreiräume unabhängig von dem Gegenstand der zugehörigen E n t s c h e i d u n g gelten (allgemeine A b w ä g u n g s g r u n d s ä t z e ) . 1 2 6 D a n e b e n treten A b w ä g u n g s g r u n d s ä t z e , die f ü r e i n z e l n e E r m e s s e n s f r a g e n i m R a h m e n v o n E n t scheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand

gelten

(Ermes-

sensrichtlinien für bestimmte Generierungs- und Evaluationsermessensspielräum e des V o r s t a n d s u n d die d a m i t g e g e b e n e n f a l l s k o r r e s p o n d i e r e n d e n E r m e s s e n s 124 Diese Fälle entsprechen im Verwaltungsrecht der Überschreitung infolge einer Verkennung/Fehleinschätzung verfassungsrechtlicher Beurteilungs-/Ermessengrenzen (etwa Einkesselung von Demonstranten statt Auflösung der Demonstration; siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.46 und Alexy J Z 1986, S. 701, 702, 709f.). Sie fallen im U.S. amerikanischen Recht in den Anwendungsbereich der duty of care und damit (jedenfalls zunächst) unter die business judgment rule und (wenn es an deren Voraussetzungen fehlt) unter den entire (intrinsic) fairness test). Eine gewisse Parallele zu diesem Ansatz ist hier darin zu sehen, daß zum Teil zunächst spezifische Entscheidungs- und/oder Ermessensgrenzen und sodann spezifische Ermessensrichtlinien definiert werden. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, daß sie kumulativ zu beachten sind; es werden also gerade nicht zwei unterschiedlich weite rechtliche Kontrollmaßstäbe zugrundegelegt - und damit die Abgrenzungsfragen (fehlender rational business purpose/fehlender fair price) und Anwendungsprobleme (erhebliche interpretationsbedingte Entscheidungsfreiräume beim entire (intrinsic) fairness test statt vollinhaltlicher Uberprüfung) vermieden. 125 Diese Fälle entsprechen im Verwaltungsrecht der Überschreitung infolge einer Verkennung/Fehleinschätzung allgemein anerkannter Beurteilungs-/Ermessengrenzen (etwa Einsatz straßenrechtlicher Mittel zu verkehrsrechtlichen Zwecken; siehe dazu Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §31 Rdn.46). Sie fallen im U.S. amerikanischen Recht überwiegend in den Anwendungsbereich der duty of loyalty und damit - mangels eines disinterested judgments nicht unter die business judgment rule, sondern (jedenfalls zunächst) unter den entire (intrinsic) fairness test. Eine gewisse Parallele zu der Differenzierung zwischen der duty of care und der duty of loyalty ist hier darin zu sehen ist, daß zunächst spezifische (auf einen Vergleichstest oder auf ein Modell abstellende) Ermessensgrenzen und sodann spezifische Ermessensrichtlinien definiert werden. Siehe zu dem entscheidenden Unterschied soeben Fn. 124. 126 Diese Fälle finden eine gewisse Entsprechung im Planungsrecht, weil der „Bürger ... bei Plan- bzw. Planungsgenehmigungen (iwS) grundsätzlich Anspruch... auch darauf" hat, „ daß die Entscheidung... auf sorgfältig erstellten, realistischen Prognosen und einer sachgemäßen Abwägung aller Wahrscheinlichkeiten und möglichen Folgen beruht" (Kopp/Schenke, V w G O , § 114 Rdn. 36a). Sie finden auch eine gewisse Entsprechung im U.S. amerikanischen Recht, wenn und soweit man der Rechtsprechung zum informed judgment eine Differenzierung zwischen Einschätzung, Evaluation und Auswahl entnimmt, so daß die directors den Gegenstand des business judgments gründlich untersuchen, Lösungsalternativen in einem gut fundierten und abwägenden Prozeß entwickeln und bewerten und schließlich die gemessen an den gewonnenen Erkenntnissen überlegene Lösungsalternative abschließend auswählen müssen.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

297

Spielräume des Aufsichtsrats/Ermessensrichtlinien für bestimmte Evaluationsund Ausgestaltungsermessensspielräume des Aufsichtsrats). 127 Sie bauen zum Teil auf den Ermessensgrenzen für die im Lichte der absoluten Entscheidungsgrenzen verbleibenden oder anderweitig bestimmten Generierungs- und Evaluationsermessensspielräume des Vorstands und die damit korrespondierenden Ermessensspielräume des Aufsichtsrats bzw. auf den Ermessensgrenzen für bestimmte Ausgestaltungsermessensspielräume des Aufsichtsrats auf. 1. Generelle Entscheidungsgrenzen Die abwägungsfesten Vorgaben, an denen Entscheidungen unabhängig von dem Entscheidungsgegenstand zu messen sind, sind unproblematisch. Eine Uberschreitung infolge einer Verletzung von generellen Entscheidungsgrenzen liegt insbesondere bei Entscheidungen vor, die Gesetzesvorschriften oder rechtliche Grenzen verletzen, die sich aus der Satzung, aus dem Anstellungsvertrag, aus Verhaltensrichtlinien, aus Geschäftsordnungen, aus Beschlüssen der Hauptversammlung, im Falle des Vorstands aus Beschlüssen des Aufsichtsrats und im Falle eines Vertragskonzerns aus Beschlüssen des herrschenden Unternehmens ergeben. 128 2. Absolute Entscheidungsgrenzen, Ermessensgrenzen und Ermessensrichtlinien Wegen ihres zum Teil gegebenen inneren Zusammenhangs sollen zunächst die abwägungsfesten Vorgaben, an denen Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu messen sind (absolute Entscheidungsgrenzen und Ermessensgrenzen), und die Abwägungsgrundsätze für einzelne Ermessensfragen im Rahmen von Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand bestimmt werden (Ermessensrichtlinien). Dabei geht es im Kern um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Entscheidungstenor im Hinblick auf einen bestimmten Entscheidungsgegenstand (das Endergebnis der Ermessensausübung) im Lichte der §§93, 116 AktG zu beanstanden ist. a) Das Konzept von Manfred H. Kessler Es ist - soweit ersichtlich - allein Manfred H. Kessler, der ein umfassendes Konzept vorgelegt hat, um zu klären, an welchen Maßstäben sich Entscheidungen des 127 Diese Fälle fallen im U.S. amerikanischen Recht überwiegend in den Anwendungsbereich der duty of loyalty und damit - mangels eines disinterested judgments - nicht unter die business judgment rule, sondern (jedenfalls zunächst) unter den entire (intrinsic) fairness test. Zu einer gewissen Parallele des hier entwickelten Ansatzes siehe soeben Fn. 125. 128 Siehe dazu nur: Heermann ZIP 1998, S.761, 762f.; Semler, Überwachung, S. 108f.; Roth, Ermessen, S.72f.; Paefgen, Entscheidungen, S. 17ff.

298

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

Vorstands mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu orientieren haben. 1 2 9 Es beruht auf der These, daß die „Individualziele aller am U n t e r n e h m e n Interessierten ... den Vorstand via § § 7 6 Abs. 1, 93 ... stärker" verpflichten „als U n t e r nehmensziele dies k ö n n t e n . " D e n n sie seien geeignet, „den G r u n d für das Interesse am U n t e r n e h m e n und für die individuelle Teilnahmeentscheidung aufzudekken, ohne die das U n t e r n e h m e n nicht existent und der Vorstand nicht im A m t wäre." A u f dieser Grundlage lasse sich auch das Unternehmensinteresse f o r m u lieren. 1 3 0 E s beruht weiter auf der Annahme, daß „dem Vorstand aus betriebswirtschaftlicher Sicht die A u f g a b e " obliegt, „sich an den Zielsystemen der A n spruchsgruppen, die auf das U n t e r n e h m e n aufgrund seines speziellen Tätigkeitsbereiches in besonderem M a ß e Einfluß haben (Kapitaleigner, Arbeitnehmer, Gläubiger, Lieferanten, Kunden), zu orientieren und ihnen je nach Einschätzung der Geschäftslage und entsprechend den gesetzlichen Vorgaben durch eine optimale Unternehmenspolitik Rechnung zu tragen." A u f diese Weise lasse sich „die Leistungsfähigkeit des U n t e r n e h m e n dem Auftrag des Vorstands gemäß auf langfristige Sicht steigern." 1 3 1 Dieser Ansatz geht über die herkömmliche gesellschaftsrechtliche Auffassung hinaus. Danach hat der Vorstand für die Rentabilität des Unternehmens und damit für Bestand, Erfolg und Gewinn zu sorgen und das Unternehmensinteresse zu berücksichtigen. 1 3 2 E r hat aber inzwischen in das Aktienrecht Eingang gefunden. So heißt es in Ziff. 4.1.1 des Deutschen K o d e x , der Vorstand sei an das U n t e r nehmensinteresse gebunden und der Steigerung des nachhaltigen U n t e r n e h m e n s wertes verpflichtet. N a c h Ziff. 1.2 und 3 des Berliner K o d e x ist das Ziel der U n t e r nehmensführung die nachhaltige Steigerung des Unternehmenswertes, der sich nach dem Ausmaß seiner Fähigkeit bemißt, die Ansprüche seiner Bezugsgruppen zu erfüllen; die „Aufgabe des Unternehmensführung ist es folglich, die Wertschöpfungsaktivitäten des Unternehmens im Sinne einer ,multiplen Exzellenz' für sämtliche Bezugsgruppen so attraktiv zu gestalten, daß diese jeweils möglichst weitgehend zur Prosperität des Unternehmens beitragen." 1 3 3 In § 93 Abs. 1 Satz 2 A k t G idF. von A r t . l N r . l R e g E U M A G 1 1 / 2 0 0 4 wird auf ein Handeln z u m Wohle der Gesellschaft abgestellt, und nach der Begründung zu Art. 1 Nr. 1 R e g E U M A G 1 1 / 2 0 0 4 liegt ein Handeln zum Wohle der Gesellschaft jedenfalls dann vor, „wenn es der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen dient."

Kessler KG 1993, S.252ff. und AG 1995, S.61ff., 120ff. Kessler AG 1993, S.252, 272, 268. 131 Kessler AG 1993, S.252, 259, 258. 132 Siehe dazu nur: Semler, Überwachung, S. 23ff., 31 ff.; Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn.6ff., 10ff-, 16ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.36ff., 38ff. 133 Vgl. zum Diskussionsstand Kuhner ZGR 2004, S.244ff. 129

130

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

299

Manfred H. Kessler entwickelt ein „Prüfungsschema..., das es erlaubt, eine Leitungsmaßnahme ... daraufhin zu prüfen, ob sie noch von der dem Vorstand gemäß §76 Abs. 1 AktG eingeräumten Leitungskompetenz gedeckt ist oder ob der Vorstand zu ihrer Vornahme eines Hauptversammlungsbeschlusses bedarf, bzw. ob ihrer Vornahme rechtsnorminduzierte Restriktionen entgegenstehen." 134 Danach darf der Vorstand eine „Leitungsmaßnahme" treffen, wenn sie die folgenden vier Voraussetzungen erfüllt. Sie darf zunächst die wesentlichen Ziele der Unternehmensbeteiligten nicht verletzen. Das sind die Sicherheitsziele der Kapitaleigner (Auslegungsregel: Kl ist nicht tangiert, „wenn die beabsichtigte Maßnahme den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand der Aktiengesellschaft fördern würde") und die Beteiligungs- und Mitwirkungsinteressen der Kapitaleigner (Auslegungsregel: K3 ist nicht tangiert, „wenn die beabsichtigte Maßnahme nicht dazu geeignet ist, das eignerspezifische, mit dem Kapitalanteil verbundene Stimmrecht mindestens teilweise zu entwerten"). 135 Sie darf weiter den Wesenskern der sonstigen beachtlichen Ziele der Unternehmensbeteiligten nicht beeinträchtigen. Das sind die Erwerbsinteressen der Kapitaleigner (Auslegungsregel: K2 ist nicht tangiert, „wenn aufgrund einer beabsichtigten Maßnahme der Abnahme von Kapitalertrag/Dividende eine Zunahme von Kapitalzuwachs/Geldanlage/Kurs korrespondiert, und insbesondere, wenn einer Maßnahme, die eine Dividendenkürzung zur Folge hat," eine „Steigerung des Anteilswertes gegenübersteht"). 136 Sie muß dann „zugunsten des Zielsystems mindestens einer Anspruchsgruppe des sachzielspezifischen Umsystems beabsichtigt und dadurch mit einem der antizipierten Unternehmensziele positiv korreliert" sein. Die Anspruchsgruppen sind die Gläubiger einschließlich der Banken als Fremdkapitalgeber und der Lieferanten als Warenkreditgeber (Gl - Sicherheitsinteresse, G2 - Erwerbsinteresse, G3 - Unternehmens- und Betriebsinteresse), die Lieferanten (LI - Erwerbsinteresse, L2 - Allgemeine Geschäftsbeziehungen) und die Kunden (Kul - Produktinteresse, Ku2 - Allgemeine Geschäftsbeziehungen). 137 Die antizipierten Unternehmensziele sind die Sicherheitsziele (Ul), die Erfolgsziele (U2) und die Expansionsziele (U3). 138 Schließlich dürfen etwaige rechtsnorminduzierte Restriktionen ausnahmsweise nicht zu berücksichtigen sein. Die Auslegungsregel lautet: Wenn die beabsichtigte Maßnahme mit den Sicherheitszielen der Kapitaleigner (Kl), den antizipierten Unternehmenszielen (U1-U3), dem Sicherheitsin134

Kessler A G 1995, S.61, 64. Kessler A G 1993, S.252, 260,265, 266, 268 (unter Hinweis auf B G H B G H Z 83, S. 122ff. Holzmüller). 136 Kessler KG 1993, S.252,260,265f.,268f.,270-mit der Konsequenz: „Die Verfolgung von Arbeitnehmerzielen liegt - bis zur Überschreitung der vorstehend gezogenen Grenzen - im Ermessen des Vorstands" (siehe zu den Arbeitnehmerzielen auch S.260f., 266f.). 137 Kessler A G 1993, S.252, 261 f., 267, 269f. 138 Kessler A G 1993, S.252, 261, 262ff., 267f., 269f. 135

300

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

teresse der Gläubiger ( G l ) und den Arbeitnehmerzielbereichen „Existenzsicherung", „Betriebsklima/Soziale Beziehungen", „Verbesserung der Arbeitsbedingungen" ( A I , A 3 , A 5 ) „positiv korreliert ist, kann der Vorstand ... davon ausgehen, daß diese dann auch rechtlich zulässig ist; hinsichtlich der in diesem D i a grammkern enthaltenen Arbeitnehmerziele g e n ü g t . . . bereits Zielneutralität." 1 3 9 A u f dieser Grundlage geht Manfred

H. Kessler der Frage nach, welche „Lei-

tungsmaßnahmen" der Vorstand ergreifen darf. 1 4 0 E r k o m m t zu dem Ergebnis, sein „ K o n z e p t " sei „dazu angetan, juristisch vertretbare

Lösungsvorschläge

durch eine betriebswirtschaftliche K o m p o n e n t e zu untermauern, wodurch diesen ein höherer Erklärungswert und damit eine größere A k z e p t a n z durch die jeweiligen Zielgruppen zuteil w e r d e n " könne. 1 4 1 Das ist jedoch noch nicht alles. D e n n sein „ K o n z e p t " erlaubt auch die Herausbildung von abwägungsfesten Vorgaben, an denen Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu messen sind und die festlegen, welche Entscheidungen der Vorstand/ Aufsichtsrat gar nicht treffen darf und welche Entscheidungen der Vorstand/Aufsichtsrat nur unter bestimmten Voraussetzungen treffen darf, sowie von A b w ä gungsgrundsätzen für einzelne Ermessensfragen im R a h m e n von Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand. aa) Absolute

Entscheidungsgrenzen

E i n e Überschreitung infolge einer Verletzung von absoluten - aus dem U n t e r n e h mensgegenstand, den Unternehmenszielen und/oder dem U n t e r n e h m e n s w o h l folgenden 1 4 2 - Entscheidungsgrenzen liegt insbesondere bei folgenden Entscheidungen vor: - Bildung eines gemischten K o n z e r n s (Verletzung von K l ) ; Vornahme von Investitionen zwecks Diversifizierung durch internes Wachstum (Verletzung von K l ) ; Ü b e r n a h m e eines Wettbewerbers, bei der das herrschende U n t e r n e h m e n keine dem Kaufpreis entsprechende Stimmrechtsmacht erhält oder bei der mit dem Abfluß der zum Ankauf benötigten Mittel keine Wertzunahme auf Seiten des übernehmenden Unternehmens verbunden ist (Verletzung von K 2 und K 3 ) ; Ü b e r n a h m e eines vor- oder nachgelagerten Unternehmens, die nicht mit vertikalen Synergieeffekten einhergeht oder die dazu führt, daß der U m s a t z /

Kessler AG 1993, S.252, 259ff., 262ff., 270f. Kessler KG 1995, S.61, 65f., 66ff., 120ff. 141 Kessler AG 1995, S. 61, 66. 142 Kessler KG 1993, S. 252ff. und AG 1995, S. 61 ff., 120ff. sowie - insbesondere zu Unternehmensgegenstand, Unternehmenszielen und (neu definiertem) Unternehmensinteresse - AG 1993, S. 152, 268, 272. Unternehmensgegenstand, Unternehmensziele und (im herkömmlichen Sinn verstandenes) Unternehmensinteresse werden überwiegend von der Rechtswissenschaft als Kriterien akzeptiert. Siehe dazu: Semler, Überwachung, S.23ff., 31 ff.; Mertens, Kölner Kommentar, §76 Rdn.6ff., 10ff., 16ff.; Heermann ZIP 1998, S.761, 763; Kessler AG 1995, S.61, 66f., 67ff., 69, 69f., 70f., 71 ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.36ff., 38ff. 139

140

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

301

Gewinn des übernehmenden Unternehmens nicht mehr mindestens 5 0 % des Konzernumsatzes/Konzerngewinns beträgt (Verletzung von K l ) oder bei der das übernehmende U n t e r n e h m e n keine dem Kaufpreis entsprechende Stimmrechtsmacht erhält oder bei der mit dem Abfluß der zum A n k a u f benötigten Mittel keine Wertzunahme auf Seiten des übernehmenden U n t e r n e h m e n s verbunden ist (Verletzung von K 2 und K 3 ) . 1 4 3 - Vollabspaltung aller Tätigkeitsbereiche und deren Verwaltung durch eine zu diesem Z w e c k gegründete Holdinggesellschaft (keine positive Korrelation mit U 2 ) ; Ausgliederung eines Betriebsteils, bei der die Muttergesellschaft nach der Ausgliederung nicht zu 1 0 0 % Stimmrechts- und kapitalmäßig an der Tochtergesellschaft beteiligt wird bzw. keine dem Wert des ausgegliederten Betriebsteils entsprechende Beteiligung an dem Gemeinschaftsunternehmen

über-

nimmt (Verletzung von K 3 ) oder der Teil des Gewinns, der nicht für Investitionen in dem ausgegliederten Betriebsteil benötigt wird, nicht vollständig an die Muttergesellschaft abgeführt wird (Verletzung von K 2 ) oder die lediglich organisatorischen Charakter hat (keine positive Korrelation mit U 1 und/oder U2).144 - Kapitalerhöhung in einer Tochtergesellschaft, bei der sich die ursprüngliche Beteiligungssituation ändert (Verletzung von K 3 ) oder die nicht ausschließlich aus den freien Rücklagen oder durch teilweise oder gänzliche Auflösung stiller Rücklagen der Tochtergesellschaft oder der Muttergesellschaft finanziert wird (Verletzung von K 2 ) . 1 4 5 - B u y o u t unter Finanzierung durch die Zielgesellschaft (rechtsnorminduzierte Restriktionen durch die § § 7 1 a Abs. 1 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz 1 A k t G nach Sinn und Z w e c k nicht überwindbar). 1 4 6 - Auskauf eines opponierenden Aktionärs, dem keine Erpressung durch den opponierenden Aktionär zugrundeliegt und der keinem Ausgleich eines durch Hauptversammlungsbeschluß eintretenden oder eingetretenen Vermögensnachteils zugunsten des betroffenen opponierenden Aktionärs dient (rechtsnorminduzierte Restriktionen durch die §§ 57, 71 A k t G wegen K l nicht überwindbar). 1 4 7 - Spende (an einen externen Dritten 1 4 8 ), die nicht der Imagewerbung (Förderung der Akzeptanz der Produkte des Unternehmens) dient (Verletzung von K l insbesondere anonyme Spenden) oder die ein von der Hauptversammlung

Kessler AG 1995, S.61, 68, 73f. Kessler AG 1995, S.61, 68f., 74f. 145 Kessler AG 1995, S.61, 72, 76. 146 Kessler KG 1995, S.120, 120f., 129f. 147 Kessler KG 1995, S.120, 122ff., 130f. 148 Freiwillige Sozialleistungen an die Arbeitnehmer sind keine Spenden in diesem Sinne; siehe zu diesem Sonderproblem: Kessler AG 1995, S.120, 127; Fleischer AG 2001, S. 171, 172, 174; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.75ff., 195ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 143 144

302

3. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

nach §58 Abs. 3 Satz 2 AktG festgelegtes Werbebudget überschreitet und deshalb als Gewinnverwendung und nicht als Aufwand zu qualifizieren ist (Verletzung von K2) oder die nicht die Beziehungen zu Gläubigern, Lieferanten und/ oder Kunden verbessert (keine positive Korrelation mit U1-U3 - insbesondere Parteispenden). 149 - Schmiergeldzahlung (Verletzung von Kl). 150 bb)

Ermessensgrenzen

Eine Überschreitung infolge einer Verletzung von - aus dem Unternehmensgegenstand, den Unternehmenszielen und/oder dem Unternehmenswohl folgenden - Ermessensgrenzen für die im Lichte der absoluten Entscheidungsgrenzen verbleibenden Generierungs- und Evaluationsermessensspielräume des Vorstands und die damit gegebenenfalls korrespondierenden Ermessensspielräume des Aufsichtsrats liegt insbesondere bei folgender Entscheidung vor: - Spende, die zwar der Imagewerbung dient, ein von der Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG festgelegtes Werbebudget nicht überschreitet und die Beziehungen zu Gläubigern, Lieferanten und/oder Kunden verbessert, aber der Höhe nach mehr als 25% über der verkehrsüblichen Höhe von Spenden an diese Empfängergruppe durch vergleichbare Unternehmen dieser Branche liegt (Verletzung von Kl und K2).151 cc)

Ermessensrichtlinien

Ein Abwägungsmangel infolge einer Verletzung von - aus dem Unternehmensgegenstand, den Unternehmenszielen und/oder dem Unternehmenswohl folgenden - Ermessensrichtlinien für bestimmte Generierungs- und Evaluationsermessensspielräume des Vorstands und die damit gegebenenfalls korrespondierenden

149 Kessler A G 1995, S. 120, 126f., 131f. Siehe dazu auch: B G H A G 2002, S.347, 348f., 349; Laub A G 2002, S. 308, 308f., 309f.; Fleischer A G 2001, S. 171,175,176,177,179ff., der auf S. 173 zutreffend darauf hinweist, daß sich die Frage nach der „internen Statthaftigkeit unentgeltlicher Zuwendungen durch den Vorstand" nicht „in ihrer ganzen Zuspitzung" stellt, „wenn die Satzung eine Gemeinwohlkausel" enthält; Abeltshauser, Leitungshaftung, S. 75ff., 195ff. (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 150 Kessler A G 1995, S. 120, 127ff., 132; differenzierend dagegen Fleischer ZIP 2005, S. 141, 141, 148ff. 151 Kessler A G 1995, S. 120, 126f., 131f. („in vernünftiger Höhe"); siehe dazu auch Fleischer A G 2001, S. 171,178 („Darüberhinaus wird man auch den Gesichtspunkt des Verkehrsüblichen heranziehen können, weil Unternehmensspenden die Akzeptanz der Aktiengesellschaft innerhalb ihrer sozialen Gemeinschaft sichern sollen und deren Verhaltenserwartungen durch bisherige Gepflogenheiten maßgeblich vorgeprägt sind."). Das 25%-Erfordernis entstammt dem im Kartellrecht im Rahmen der Preishöhenkontrolle aufgrund des Vergleichsmarktkonzepts nach § 19 GWB anerkannten „Mißbrauchszuschlag"; siehe dazu Möschel, Immenga/Mestmäcker, § 19 Rdn. 159.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

303

Ermessensspielräume des Aufsichtsrats liegt insbesondere bei folgenden E n t scheidungen vor: - Auskauf eines opponierenden Aktionärs, dem zwar eine Erpressung durch den opponierenden A k t i o n ä r zugrundeliegt oder der zwar einem Ausgleich eines durch Hauptversammlungsbeschluß eintretenden oder eingetretenen Vermögensnachteils zugunsten des betroffenen opponierenden Aktionärs dient, bei

dem aber die Zahlung der Höhe nach unangemessen ist (rechtsnorminduzierte Restriktionen durch die § § 5 7 , 71 A k t G wegen K l nicht überwindbar), 1 5 2 und zwar gemessen an A r t und U m f a n g der durch die Verzögerung entstehenden Opportunitätskosten (einschließlich der P r o z e ß k o s t e n ) und des im Falle des Obsiegens des opponierenden Aktionärs entstehenden Schadens (in absoluter H ö h e und im relativen Verhältnis zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage, der wirtschaftlichen Lage, dem Erfolg und den Zukunftsaussichten, der G r ö ß e und Bedeutung sowie der Wertsteigerung des Unternehmens), an dem B ö r s e n kurs der Aktien des opponierenden Aktionärs, an der Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens des opponierenden Aktionärs, an dem Ausmaß der Nachahmungsgefahr sowie des Imageschadens im Erpressungsfall und an der H ö h e des eintretenden oder eingetretenen Vermögensnachteils im Ausgleichsfall. - Spende, die zwar der Imagewerbung dient, ein von der Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 Satz 2 A k t G festgelegtes Werbebudget nicht überschreitet, die Beziehungen zu Gläubigern, Lieferanten und/oder Kunden verbessert und der H ö h e nach nicht mehr als 2 5 % über der verkehrsüblichen H ö h e von Spenden an diese Empfängergruppe durch vergleichbare U n t e r n e h m e n dieser Branche liegt, aber der Höhe

nach unangemessen

ist, und zwar gemessen an der Vermö-

gens-, Finanz- und Ertragslage, der wirtschaftlichen Lage, dem Erfolg und den Zukunftsaussichten, der G r ö ß e und Bedeutung sowie der Wertsteigerung des Unternehmens, 1 5 3 der N ä h e zum Unternehmensgegenstand, 1 5 4 der Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Beziehungen zu Gläubigern, Lieferanten und/oder Kunden nach A r t (Bindung) und A u s m a ß (Gewinnsteigerung) 1 5 5 Kessler AG 1995, S. 120, 122ff., 130f. („der Höhe nach angemessene Zahlung"). Kessler AG 1995, S. 120,126f., 131 f. („in vernünftiger Höhe"); siehe dazu auch: BGH AG 2002, S. 347,349f.; Laub AG 2002, S. 308,312f.; Fleischer AG 2001, S. 171,178; Abeltshauser, Leitungshaftung, S.200 (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 154 Siehe dazu: BGH AG 2002, S.347, 349; Laub AG 2002, S.308, 312f.; Fleischer AG 2001, S. 171,178 („Die Förderung naturwissenschaftlicher Fakultäten durch ein Chemieunternehmen mit dem Fernziel verbesserter Nachwuchsrekrutierung... ist danach in größerem Umfange möglich als mildtätige Zuwendungen, denen jeder Bezug zur Förderung des Unternehmenserfolges fehlt."); Abeltshauser, Leitungshaftung, S.200 (auch zum U.S. amerikanischen Recht). 155 So kann insbesondere das Ausmaß der Imageförderung zweifelhaft sein, etwa bei einer Schockwerbung im Sinne der Benetton-Rechtsprechung (vgl. dazu: Kort WRP 1997, S. 526, 531; Hartwig WRP 1997, S. 825, 828, 834; Bülow ZIP 1995, S. 1289, 1290) oder bei Spenden mit eindeutigem Tendenzcharakter. Die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Beziehungen zu Gläubigern, Lieferanten und/oder Kunden kann sich auch aus einem Vergleich mit der hypothetischen Situation der Nichtvornahme der Spende ergeben, falls der öffentliche Druck oder das 152 153

304

J. Teil: Die Entscheidungsfreiräume

des Vorstands und des Aufsichtsrats

und der verkehrsüblichen H ö h e von Spenden an diese Empfängergruppe durch vergleichbare U n t e r n e h m e n dieser Branche. 1 5 6 b) Angemessenheit

von Leistung

und

Gegenleistung

Einen weiteren Ansatzpunkt zur Lösung der Frage, an welchen Maßstäben sich Entscheidungen des Vorstands/Aufsichtsrats mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu orientieren haben, liefert der folgende Befund: Bei Geschäften zwischen U n t e r n e h m e n / K o n z e r n u n t e r n e h m e n einerseits und Vorstands-/ Aufsichtsratsmitgliedern sowie ihnen nahestehenden

Personen/Unternehmen

andererseits, bei Geschäften und Maßnahmen im Verhältnis verbundener U n t e r nehmen zueinander, bei Kompensationsleistungen für Vorstandsmitglieder und der N u t z u n g von Gesellschaftsressourcen durch Vorstands-/Aufsichtsratsmitglieder wird auf die Angemessenheit insbesondere von Leistung und Gegenleistung und dabei auch auf einen Vergleichstest abgestellt. 1 5 7 Dies erlaubt die H e r ausbildung von abwägungsfesten Vorgaben, an denen Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand zu messen sind und die festlegen, welche Entscheidungen der Vorstand/Aufsichtsrat nur unter bestimmten Voraussetzungen treffen darf, sowie von Abwägungsgrundsätzen für einzelne Ermessensfragen im R a h m e n von Entscheidungen mit einem bestimmten Entscheidungsgegenstand. aa)

Ermessensgrenzen

E i n e Überschreitung infolge einer Verletzung von - aus dem Angemessenheitserfordernis folgenden - Ermessensgrenzen für bestimmte Generierungs- und Evaluationsermessensspielräume des Vorstands und die damit gegebenenfalls korrespondierenden Ermessensspielräume des Aufsichtsrats/Ermessensgrenzen

für

öffentliche Interesse besonders hoch ist (etwa im Hinblick auf die Entschädigung der Zwangsarbeiter oder der Opfer von Naturkatastrophen oder Terroranschlägen). 156 Fleischer AG 2001, S. 171, 178. 157 Siehe dazu vor allem - auch zum U.S. amerikanischen Recht - Aheltshauser, Leitungshaftung, S.281f., 344,290ff., 346f., 351f., 357f., 360, 318,384, 387f., 390ff. Siehe zum marktbezogenen Vergleichstest bei Geschäften zwischen dem Unternehmen/Konzernunternehmen einerseits und Vorstandsmitgliedern/Aufsichtsratsmitgliedern, ihnen nahestehenden Personen/Unternehmen andererseits auch: Ziff. 4.3.4 des Deutschen Kodex („branchenübliche Standards") und dazu Ringleb, Kodex-Kommentar, Ziff. 4.3.4 Rdn.586f.; Ziff. III.5.2 und IV.6.2 des Berliner Kodex („übliche Marktkonditionen"); Ziff. II.4.C und III.4.C des Frankfurter Kodex („branchenübliche Standards"). Siehe zum Angemessenheitserfordernis bei Kompensationsleistungen auch: Ziff. 4.2.2, 4.2.3 und 5.4.7 des Deutschen Kodex und dazu Ringleb, Kodex-Kommentar, Ziff. 4.2.2 Rdn.510ff., Ziff. 4.2.3 Rdn.541ff. sowie Kremer, Kodex-Kommentar, Ziff. 5.4.5 Rdn.746ff.; Ziff. III.6.1-6.3 und IV.7.1-7.3 des Berliner Kodex; Ziff. II.3 und Ill.l.d des Frankfurter Kodex. Siehe zum Angemessenheitserfordernis bei der Nutzung von Gesellschaftsressorcen nur Heermann ZIP 1998, S. 761, 764 und Mertens, Kölner Kommentar, §93 Rdn. 62ff.

B. Die gesellschaftsrechtliche

Entscheidungsfehlerlehre

305

bestimmte Ausgestaltungsermessensspielräume des Aufsichtsrats liegt insbesondere bei folgenden Entscheidungen vor: - Direktes oder indirektes 1 5 8 Geschäft zwischen dem Unternehmen/Konzernunternehmen einerseits und Vorstandsmitgliedern/Aufsichtsratsmitgliedern sowie ihnen nahestehenden natürlichen/juristischen Personen 1 5 9 andererseits (insbesondere nach den §§89, 114, 1 1 5 A k t G ) , dessen Konditionen nicht den üblichen Marktkonditionen entsprechen. 1 6 0 - Geschäft oder Maßnahme im Verhältnis verbundener Unternehmen zueinander ( § § 3 1 1 , 3 1 2 Abs. 1 und A b s . 3 A k t G ) , dessen/deren Konditionen nicht den üblichen Marktkonditionen/konzerninternen Bedingungen entsprechen oder dessen/deren Nachteile nicht vollständig ausgeglichen werden. 1 6 1 - Kompensationsleistungen f ü r Vorstandsmitglieder, die der Höhe nach mehr als 2 5 % über der durchschnittlichen Höhe v o n Kompensationsleistungen an Vorstandsmitglieder mit vergleichbarem Aufgabenbereich in vergleichbaren U n ternehmen dieser Branche liegen. 162 158 Dieses Erfordernis entspricht der Regelung in den §§89 Abs. 3 Satz 2, 115 Abs. 2 AktG, wonach auch Geschäfte mit Dritten, die für Rechnung der genannten Personen/Unternehmen handeln, erfaßt werden. 159 Dieses Erfordernis ist angesichts der Tragweite von Interessenkonflikten so weit zu interpretieren wie im U. S. amerikanischen Recht. Vgl. auch Ziff. 6 des DRS 11: „Dazu zählen die Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats des berichtenden Unternehmens sowie dessen Führungskräfte, die direkt an den Vorstand berichten und für die Planung, Leitung und Kontrolle des Konzerns zuständig und verantwortlich sind ... auch nahe Angehörige einer nahestehenden Person . . v o n denen angenommen werden kann, daß sie in Bezug auf Geschäftsvorfälle mit dem Unternehmen auf diese Person Einfluß ausüben oder von ihr beeinflußt werden können."; Ringleb, Kodex-Kommentar, Ziff. 4.3.4 Rdn. 601 ff. betont, daß der im Deutschen Kodex verwandte Begriff der nahestehenden Person seinem Inhalt nach nicht identisch sei mit dem Begriffsinhalt der Publizitätsvorschriften zu Related Party Transactions, weshalb in der englischen Fassung des Deutschen Kodex auch nicht von related parties, sondern von persons they are close to gesprochen werde; entscheidend sei, ob der berechtigte Eindruck entstehe, daß das betroffene Vorstandsmitglied auf diese Personen und Unternehmungen